Der einheitliche Parlamentsvorbehalt [1 ed.] 9783428501663, 9783428101665


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Der einheitliche Parlamentsvorbehalt [1 ed.]
 9783428501663, 9783428101665

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CHRISTIAN SEILER

Der einheitliche Parlamentsvorbehalt

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 825

Der einheitliche Parlamentsvorbehalt Von Christian Seiler

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Seiler, Christian: Der einheitliche Parlamentsvorbehalt / Christian Seiler. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 825) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10166-9

Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10166-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Frühjahr 1999 abgeschlossen und sodann von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Schrifttum konnten bis Ende 1998 berücksichtigt werden. Ergänzend wurden die durch Gesetz vom 24.3.1999 erfolgten Änderungen des §51 EStG einbezogen. Die thematisch verwandten Studien von Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, und von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, standen dem Verfasser zum Zeitpunkt der Erstellung der Druckvorlage noch nicht zur Verfugung. Mein besonderer Dank gilt meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Paul Kirchhof, auf dessen Anregung diese Arbeit zurückzuführen ist. Er hat mir als seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter die Möglichkeit eröffnet, diese Studie am Heidelberger Institut für Finanz- und Steuerrecht zu erstellen, hat sie mit wertvollem wissenschaftlichen Rat begleitet, meine Bemühungen stets menschlich einfühlsam unterstützt und ihr Ergebnis wohlwollend begutachtet. Dank sei auch Herrn Professor Dr. Eberhard Schmidt-Aßmann für sein freundliches Zweitgutachten ausgesprochen.

Heidelberg, im November 1999

Christian Seiler

Inhaltsübersicht

§ 1: Rechtsquellen und Grundgesetz

21

I. Rechtsidee und Rechtsquellen

21

II. Begrifflichkeiten

27

III. Die Bedeutung der Rechtsverordnung im Rechtsquellensystem des Grundgesetzes

29

IV. Die Lehre vom Parlamentsvorbehalt: Allgemeiner Vorbehaltsgrundsatz und Artikel 80 GG 32 V. Die Ermittlung der gebotenen Regelungsdichte

36

VI. Anwendungsfelder des Parlaments Vorbehaltes

39

Erster Teil Der einheitliche Parlamentsvorbehalt § 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt

40

I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt im geschichtlichen Überblick 40 II. Der Übergang von der Klausel von Freiheit und Eigentum zum Wesentlichkeitsvorbehalt 51 III. Überprüfung der Wesentlichkeitsformel IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" V. Zusammenfassung

73 103 144

§ 3: Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

147

I. Artikel 80 Absatz 1 GG als Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts . 147 II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

169

8

Inhaltsübersicht III. Das Verhältnis von allgemeinem Parlamentsvorbehalt und exekutiver Rechtsetzung

185

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

234

V. Zusammenfassung: Die Grundsätze der exekutiven Rechtsetzung

248

Zweiter Teil Der einheitliche Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht § 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

257

I. Steuerrecht und Individuum

257

II. Steuerrecht und Staatsganzes

284

III. Das Steuerverwaltungsverfahren

292

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen im Wege der Rechtsanwendung 295 V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung materieller Steuernormen 321 VI. Anhang: Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung 331 VII. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen § 5: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive im Einkommensteuerrecht I. Die Rechtsverordnung II. Die VerwaltungsVorschrift

353 356 356 .....371

III. Das Beispiel des § 51 EStG

374

IV. Vorschlag an den Gesetzgeber

407

V. Rechtsidee und Steuerrecht

412

Zusammenfassung in 50 Thesen

413

Literaturverzeichnis

420

Sachregister

435

Inhaltsverzeichnis

§ 1: Rechtsquellen und Grundgesetz

21

I. Rechtsidee und Rechtsquellen

21

II. Begrifflichkeiten

27

III. Die Bedeutung der Rechtsverordnung im Rechtsquellensystem des Grundgesetzes

29

IV. Die Lehre vom Parlamentsvorbehalt: Allgemeiner Vorbehaltsgrundsatz und Artikel 80 GG 32 V. Die Ermittlung der gebotenen Regelungsdichte VI. Anwendungsfelder des Parlamentsvorbehaltes

36 39

Erster Teil Der einheitliche Parlamentsvorbehalt § 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt

40

I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt im geschichtlichen Oberblick 40 1. Geistesgeschichtliche Vorbedingungen

40

2. Der Schutz von Freiheit und Eigentum

44

3. Die strafrechtliche Wurzel des Vorbehaltsgedankens

46

4. Die „steuerliche Herkunft" des Gesetzes Vorbehaltes

47

II. Der Übergang von der Klausel von Freiheit und Eigentum zum Wesentlichkeitsvorbehalt 51 1. Der Wandel des Gesetzesbegriffs als Ausdruck eines geänderten Verfassungsverständnisses

51

a) Der Gesetzesbegriff im (späten) Konstitutionalismus

51

b) Der Wandel zum modernen Gesetzesbegriff

56

nsverzeichnis

10

2. Die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

64

a) Die Entwicklung der Wesentlichkeitsrechtsprechung

64

b) Veränderungen gegenüber der Klausel von Freiheit und Eigentum

67

3. Ansatzpunkte des Schrifttums III. Überprüfung der Wesentlichkeitsformel 1. Das Rechtsstaatsprinzip

70 73 73

a) Der Gewaltenteilungsgrundsatz

74

b) Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

75

c) Der Grundsatz der Rechtssicherheit

75

d) Der Vertrauensschutzgrundsatz

76

e) Das Postulat materieller Gerechtigkeit im Einzelfall

77

f) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes

79

g) Schlußfolgerung

80

2. Das Demokratieprinzip

83

a) Die unmittelbare demokratische Legitimation des Parlaments

83

b) Die Möglichkeit öffentlicher Diskussionen im Parlament

85

c) Stärkung des Parlaments durch dessen Entlastung d) Schlußfolgerung 3. Die Grundrechte

87 88 89

a) Arten der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte

89

b) Die Grundrechte nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag

91

c) Gewährleistung von Eigentum und Freiheit gerade durch das Gesetz .. 94 d) Der Gleichheitssatz 4. Zwischenergebnis IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" 1. Gesetz und Individuum

98 101 103 104

a) Der Gesetzesvorbehalt im Rahmen der Eingriffsverwaltung

104

b) Der Gesetzesvorbehalt im Rahmen der Leistungsverwaltung

106

c) „Grenzformen" von Begünstigung und Belastung

112

(1) Normen mit Doppelwirkung

112

(2) Grenzen von Grundrechtsschranken oder Leistungen

112

(3) Gesetzestechnische Verbindung von Eingriffs- und Leistungsverwaltung 113

nsverzeichnis

11

d) Die Intensität der Auswirkungen der zu regelnden Materie

115

e) Artikel 103 Absatz 2 GG

116

f) Sonstige Maßstäbe der gebotenen Regelungsdichte

119

2. Gesetz und Staatsganzes

120

a) Gesetzesvorbehalt für „Akte der Staatsleitung"?

120

b) Besteht ein Vorbehaltsbereich der Exekutive?

122

c) Das Bundesstaatsprinzip

126

3. Das Verfahrens- und Organisationsrecht

127

4. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Normen im Wege der Rechtsanwendung 128 a) Der auslegungsfähige Inhalt des Gesetzes als Maßstab der Bestimmtheitsanforderungen 129 b) Rechtsfortbildung durch Analogieschluß und teleologische Reduktion 131 c) Die „Natur der Sache" als Instrument zur Ausfüllung „offener" Normen 5,. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung der Gesetze a) Der Tatbestand des Gesetzes

136 137 137

(1) Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln

137

(2) Die Einräumung von Beurteilungsspielräumen

138

b) Die Rechtsfolge des Gesetzes

141

c) Koppelungsvorschriften

142

d) Das Gesamtgefüge eines Normensystems

143

V. Zusammenfassung § 3: Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

144

147

I. Artikel 80 Absatz 1 GG als Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts . 147 1. Zur Entstehungsgeschichte von Artikel 80 Absatz 1 GG

147

a) Das Verordnungsrecht im Konstitutionalismus

147

b) Das Verordnungsrecht in der Weimarer Republik

156

c) Die Verordnung in rechtloser Zeit

158

d) Die Entstehung des Artikel 80 Absatz 1 GG e) Schlußfolgerungen aus der Geschichte des Verordnungsrechts 2. Artikel 80 Absatz 1 GG im Vergleich

159 163 165

nsverzeichnis a) Das Verordnungsrecht in rechtsvergleichender Sicht

165

(1) Das Beispiel Frankreichs

165

(2) Das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika

168

b) Das Verordnungsrecht in den deutschen Bundesländern

169

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

169

1. Inhalt, Zweck und Ausmaß

169

2. Das nach der Rechtsprechung gebotene Maß parlamentsgesetzlicher Regelungsdichte

171

3. Das Schrifttum zu Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG III. Das Verhältnis von allgemeinem Parlamentsvorbehalt und exekutiver Rechtsetzung 1. Das Verhältnis von Gesetz und Rechtsverordnung a) Vergleich des nach Artikel 80 Absatz 1 GG und nach allgemeinem Parlamentsvorbehalt gebotenen Regelungsinhaltes

179 185 186 187

(1) Verbietet Artikel 80 Absatz 1 GG Delegationen in „wesentlichen" Bereichen? 188 (2) Gilt Artikel 80 Absatz 1 GG auch in „unwesentlichen" Bereichen?

189

(3) Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG als Einschränkung der Bestimmtheitsanforderungen? 192 (4) Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG als Verschärfung der Bestimmtheitsanforderungen?

195

b) Vergleich der Ermächtigung zur Wahl der jeweiligen Handlungsform 196 c) Schlußfolgerungen aus diesem Vergleich

198

(1) Der einheitliche Parlamentsvorbehalt

198

(2) Parlamentsvorbehalt und schlichter Rechtssatzvorbehalt

199

2. Das Verhältnis von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift

202

a) Erscheinungsformen von Verwaltungsvorschriften

202

b) Der „konventionelle" Ansatz

203

(1) Grundsätze

203

(2) Die Behandlung der Verwaltungsvorschriften in der Rechtsprechung

205

c) Der „neue" Ansatz

210

d) Eigene Stellungnahme

216

(1) Grundlegung: Zum Innen- und Außenverhältnis

216

nsverzeichnis

13

(2) Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift unter der Herrschaft des gewandelten Gesetzesbegriffs

219

(3) Die „Lücke" im System

221

3. Die exekutive Rechtsetzung und der Funktionsbereich der Exekutive

223

a) Das Verhältnis der Funktionsbereiche von Legislative und Exekutive zu den Anwendungsbereichen von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift 223 b) Der Gleichlauf von exekutiver Rechtsetzung und Rechtsanwendung im einheitlichen Funktionsbereich der Exekutive

225

c) Kritik am Ansatz Ossenbühls

227

d) Kritik am Ansatz BöckenfÖrdes

229

4. Zwischenergebnis 5. Anhang: Zur Abgrenzung von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen 1. Rechtsverordnung und Individuum

232 232 234 234

a) Die Rechtsverordnung im Rahmen der Leistungsverwaltung

234

b) Ergänzung von Strafbestimmungen durch Rechtsverordnungen

235

2. Methodische Instrumente zur Ergänzung von Delegationsnormen

236

a) Die lückenfullende Funktion der Rechtsverordnung

236

b) Die verfassungskonforme Auslegung von Ermächtigungen

238

3. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Delegationsnormen 239 a) Übertragung eines Gestaltungsspielraumes an den Verordnungsgeber . 239 b) Das Gesamtgefüge eines Delegationssystems 4. Anhang: Die weiteren Anforderungen des Artikel 80 Absatz 1 GG

242 242

a) Die Adressatenregelung

242

b) Das Zitiergebot

243

c) Die Veröffentlichung von Rechtsverordnungen

243

d) Mitwirkung weiterer Stellen beim Verordnungserlaß

244

(1) Zustimmung des Bundesrates

244

(2) Mitwirkung des Bundestages

244

(3) Mitwirkung anderer Stellen

246

e) Die „Subdelegation" zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften

247

14

nsverzeichnis V. Zusammenfassung: Die Grundsätze der exekutiven Rechtsetzung

248

1. Die Rechtsverordnung

248

2. Die Verwaltungsvorschrift

251

Zweiter Teil Der einheitliche Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht § 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht I. Steuerrecht und Individuum 1. Der Schutz von Freiheit und Eigentum im Einkommensteuerrecht a) Die Rechtsfolge der Steuernorm: Die Zahlungspflicht

257 257 257 258

b) Der Tatbestand der Steuernorm: Mittelbare Auswirkungen auf Eigentumsgebrauch und Berufsfreiheit 259 c) Zur Rechtfertigung der Einkommensteuerpflicht

261

d) Folgerungen für die Regelungsdichte im Einkommensteuerrecht

263

e) Weitere berührte Freiheitsrechte

265

f) Andere verfassungsrechtliche Instrumente zum Schutz der Freiheit .... 267 2. Der Gleichheitssatz im Einkommensteuerrecht

268

3. Dem Steuerpflichtigen vorteilhafte Normen des Einkommensteuerrechts .. 272 a) Nicht der Belastung unterliegende Einkommensteile

272

b) Entlastung durch Ausnahmen von der Belastung

273

(1) Vergünstigungen als „negative" Eingriffsvoraussetzungen

273

(2) Gleichheitssatz und Steuervergünstigungen

278

4. Steuerrecht und Strafrecht

280

II. Steuerrecht und Staatsganzes

284

1. Demokratieprinzip

284

2. Bundesstaatsprinzip

288

III. Das Steuerverwaltungsverfahren

292

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen im Wege der Rechtsanwendung 295 1. Die Auslegung des Gesetzes im Einkommensteuerrecht

295

2. Rechtsfortbildung durch Analogieschluß und teleologische Reduktion

300

nsverzeichnis 3. Die „Natur der Sache" im Steuerrecht

15 307

a) Zum Vergleich: Das Polizei- und Ordnungsrecht

307

b) Die sachgesetzlichen Vorgaben des Steuerrechts

308

(1) Der Steuergegenstand

309

(2) Die Regelbildung im Steuerrecht

310

(3) Die Grenzen der Besteuerung

314

c) Folgerungen aus der „geringeren Sachgesetzlichkeit" des materiellen Steuerrechts 316 (1) Das sogenannte Tatbestandsmäßigkeitsprinzip

316

(2) Der zwingendförmliche Gesetzesvorbehalt nach Papier

317

(3) Das Gebot besonderer Bindung der Finanzverwaltung

319

V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung materieller Steuernormen 321 1. Der Tatbestand des Steuergesetzes

321

a) Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln

321

b) Die Einräumung von Beurteilungsspielräumen

323

c) Gesetzliche Typisierungen und Pauschalierungen

324

2. Die Rechtsfolge des Steuergesetzes

326

a) Die Leistungsfähigkeit ausgestaltende Normen

326

b) Verschonungssubventionen

328

3. Das Gesamtgefüge steuerlicher Eingriffsnormen

330

VI. Anhang: Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung 331 1. Problematik

331

2. Sogenannte „materielle" oder „kategorische" Typisierungen

336

3. Sogenannte „formelle" oder „hypothetische" Typisierungen

337

4. „Typisierende Betrachtungsweise" als Auslegungsregel des Steuerrechts? 340 5. Die „Kerngebiete der typisierenden Betrachtungsweise" nach Isensee

345

a) Rechtsverhältnisse zwischen Familienangehörigen

346

b) Die Feststellung innerseelischer Vorgänge

348

c) Die Abgrenzung von Beruf und Privatleben

348

d) Die Gemeinsamkeit der „Kerngebiete" der Typisierung

350

6. Pauschalierungen

350

nsverzeichnis

16

VII. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen § §: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive im Einkommensteuerrecht I. Die Rechtsverordnung

353 356 356

1. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

356

2. Eigener Ansatz

360

a) Allgemeiner Maßstab b) Einzelheiten

360 361

(1) Rechtsverordnung und Individuum

361

(2) Rechtsverordnungund Staatsganzes

362

(3) Methodische Instrumente zur Ergänzung von Delegationsnormen 364 (4) Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Delegationsnormen 365 (a) Übertragung eines Gestaltungsspielraumes an den Verordnungsgeber

365

(b) Das Gesamtgefüge des einkommensteuerlichen Delegationssystems 367 c) Rechtspolitischer Vorschlag

368

II. Die Verwaltungsvorschrift

371

III. Das Beispiel des § 51 EStG

374

1. §51 Absatz 1 Nr. 1 EStG a) § 51 Absatz 1 Nr. 1 a) EStG

374 376

(1) § 51 Absatz 1 Nr. 1 a) 1. Fall EStG

376

(2) § 51 Absatz 1 Nr. 1 a) 2. Fall EStG

378

(3) § 51 Absatz 1 Nr. 1 a) 3. Fall EStG

378

(4) § 51 Absatz 1 Nr. 1 a) 4. Fall EStG

379

b) § 51 Absatz 1 Nr. 1 b) EStG

380

c) § 51 Absatz 1 Nr. 1 c) EStG

382

d) § 51 Absatz 1 Nr. 1 d) EStG

383

(1) § 51 Absatz 1 Nr. 1 d) 1. Fall EStG

383

(2) § 51 Absatz 1 Nr. 1 d) 2. Fall EStG

384

(3) § 51 Absatz 1 Nr. 1 d) 3. Fall EStG

384

e) § 51 Absatz 1 Nr. 1 e) EStG

385

nsverzeichnis f) § 51 Absatz 1 Nr. I f ) EStG 2. §51 Absatz 1 Nr. 2 EStG

17 386 387

a) § 51 Absatz 1 Nr. 2 a) EStG

387

b) § 51 Absatz 1 Nr. 2 c) EStG

389

(1) § 51 Absatz 1 Nr. 2 c) 1. Fall EStG

390

(2) § 51 Absatz 1 Nr. 2 c) 2. Fall EStG

392

(3) § 51 Absatz 1 Nr. 2 c) 3. Fall EStG

393

c) § 51 Absatz 1 Nr. 2 d) EStG

395

d) § 51 Absatz 1 Nr. 2 n) EStG

396

e) § 51 Absatz 1 Nr. 2 p) EStG

397

f) § 51 Absatz 1 Nr. 2 q) EStG

398

g) § 51 Absatz 1 Nr. 2 r) EStG

399

h) § 51 Absatz 1 Nr. 2 s) EStG

400

i) § 51 Absatz 1 Nr. 2 u) EStG

402

j) § 51 Absatz 1 Nr. 2 w) EStG

402

k) § 51 Absatz 1 Nr. 2 x) EStG

403

1) § 51 Absatz 1 Nr. 2 y) EStG

403

3. § 51 Absatz 1 Nr. 3 EStG

403

4. §51 Absatz 2 EStG

404

5. §51 Absatz 3 EStG

405

6. §51 Absatz 4 EStG

406

7. Zwischenergebnis

407

IV. Vorschlag an den Gesetzgeber V. Rechtsidee und Steuerrecht

407 412

Zusammenfassung in 50 Thesen

413

Literaturverzeichnis

420

Sachregister

435

2 Seiler

Abkürzungsverzeichnis AO

Abgabenordnung vom 16.3.1976

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

AStG

Außensteuergesetz

BB

Betriebsberater

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BHO

Bundeshaushaltsordnung

BImSchG

Bundes-Immissionsschutzgesetz

BImSchV

Verordnung zur Durchführung des Bundes- Immissionsschutz gesetzes

BSHG

Bundessozialhilfegesetz

BT-Drucks.

Bundestagsdrucksache

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DStJG

Deutsche Steuequristische Gesellschaft

DStR

Deutsches Steuerrecht

DStZ

Deutsche Steuer-Zeitung

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt

DVStB

Verordnung zur Durchführung des Steuerberatungsgesetzes

EFG

Entscheidungen der Finanzgerichte

EStG

Einkommensteuergesetz

EStDV

Einkommensteuer-Durchführungsverordnung

EStR 1996

Einkommensteuerrichtlinien 1996

FGO

Finanzgerichtsordnung

FördG

Gesetz über Sonderabschreibungen und Abzugsbeträge im Fördergebiet (Fördergebietsgesetz)

FR

Finanz-Rundschau

GeschOBT

Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949

HdbFW

Handbuch der Finanzwissenschaft

HFR

Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung

HGB

Handelsgesetzbuch

HStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland

Jura

Juristische Ausbildung

Abkürzungsverzeichnis

19

JuS

Juristische Schulung

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (neue Folge)

JZ

Juristenzeitung

KapStDV

Kapitalertragsteuer-Durchfuhrungsverordnung

KO

Konkursordnung

KStG

Körperschaftsteuergesetz

KVStDV

Kapitalverkehrsteuer-Durchfuhrungsverordnung

KVStG

Kapitalverkehrsteuergesetz

LBO

Landesbauordnung fur Baden-Württemberg

LStDV

Lohnsteuer-Durchfuhrungsverordnung

LStR 1999

Lohnsteuerrichtlinien 1999

LV

Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.11.1953

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

RAO

Reichsabgabenordnung

SolZG

Solidaritätszuschlaggesetz

StabilitätsG

Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (Stabilitätsgesetz)

StAnpG

Steueranpassungsgesetz

StBerG

Steuerberatungsgesetz

StbJb

Steuerberater-Jahrbuch

StEK

Steuererlasse in Karteiform

StGB

Strafgesetzbuch

StuW

Steuer und Wirtschaft

VB1BW

Verwaltungsblätter fur Baden-Württemberg

VerwArch

Verwaltungsarchiv

WDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

WRV

Weimarer Reichs Verfassung vom 11.8.1919

ZG

Zeitschrift fur Gesetzgebung

ZRP

Zeitschrift fur Rechtspolitik

Im übrigen sei verwiesen auf Kirchner, Hildebert, Rechtssprache, 3. Auflage, Berlin und New York 1983.

Abkürzungsverzeichnis der

§ 1: Rechtsquellen und Grundgesetz

I. Rechtsidee und Rechtsquellen Die Frage nach dem idealen Inhalt von Recht ist stets zugleich eine solche nach demrichtigenVerhältnis von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit. Eine vollkommene Versöhnung dieser drei „Antinomien der Rechtsidee"1 wird kaum gelingen und doch muß in dem Bemühen, einen angemessenen Ausgleich zwischen diesen einander widersprechenden Prinzipien zufinden, eines der Hauptanliegen der Rechtswissenschaft gesehen werden. Dieses Vorhaben kann nicht ohne den Einsatz eines geeigneten rechtstechnischen Instrumentariums in Angriff genommen werden. Die Rechtsordnung des Grundgesetzes kennt zu diesem Zwecke verschiedene staatliche Handlungsmittel, die auf unterschiedliche Weise zur Rechtsfindung nutzbar gemacht werden können. Eine Rechtsregelung kann verallgemeinernd durch Parlamentsgesetz oder Rechtsverordnung oder im Einzelfall durch Verwaltungsakt getroffen werden. Diese rechtlichen Gestaltungsinstrumente sind zwar selbst nicht Ausdruck der Rechtsidee, jedoch dienen sie der Verwirklichung einzelner Ausprägungen von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit, weshalb mit der Wahl der jeweiligen rechtlichen Einkleidung immer bereits eine Entscheidung darüber verbunden ist, welchem der vorbezeichneten Ziele im gegebenen Fall der Vorrang eingeräumt wird. So eignet sich beispielsweise die allgemeinere Regelung eher, schematische Gleichbehandlung und Rechtssicherheit zu gewährleisten, erschwert hingegen häufig die gerechte und zweckmäßige Behandlung der Umstände des Einzelfalles.

1

Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 70 ff., ordnet die Gebote der Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit der „Rechtsidee" zu und stellt zu ihrem Verhältnis zueinander fest: „Die drei Bestandteile der Rechtsidee fordern einander - aber sie widersprechen zugleich einander." (S. 72).

22

§ 1 : Rechtsquellen und Grundgesetz

Es besteht somit eine untrennbare Wechselbeziehung von Inhalt und Form des Rechts, die Auswirkungen auf die Frage nach den Rechtsquellen haben muß. Bevor der Staat die von ihm gewählten Inhalte rechtlich niederlegen kann, muß zunächst das ihm zur Verfügung stehende Instrumentarium mit seinen Möglichkeiten und Grenzen bestimmt werden. Dieses ist jedoch gleichzeitig bereits mit Blick auf seine Eigenschaft als bloßes Hilfsmittel zur Gestaltung inhaltlicher Fragen festzulegen. Die Findung staatlicher Rechtsentscheidungen wird durch zwei Strukturgedanken angeleitet, die Auswirkungen auf Begriff und Einordnung der entsprechenden Handlungsinstrumente haben müssen. Zum einen weist die Gliederung der Staatsorganisation den Teilgewalten der Legislative, Exekutive und Judikative je besondere Aufgaben zu. Zum anderen sind verschiedene Funktionen der rechtlich erheblichen Staatstätigkeit zu unterschieden, die der Setzung von Recht und die der Anwendung des gesetzten Rechts im konkreten Fall. Versteht man hierbei im Einklang mit dem sprachlichen Ursprung dieser Bezeichnungen die Legislative als die rechtsetzende, die Exekutive hingegen als die das Recht vollziehende Gewalt, so tritt die Rechtsverordnung als systematischer Problemfall der Rechtsquellenlehre deutlich in Erscheinung. Mit ihrem Erlaß wird die soeben der Umsetzung allgemeinverbindlicher Regelungen im Einzelfall zugeordnete Verwaltung von der rechtsanwendenden zur ihrerseits rechtssatzschaffenden Staatsfunktion. Die rechtsetzende Exekutive befindet sich also im Spannungsfeld von Gesetzgeber und Rechtsanwender. Ihre Aufgaben wie auch die Grenzen ihrer Befugnisse sind folglich in beide Richtungen zu erhellen, um die Verknüpfung zwischen dem exekutiven Funktionsbereich und dem Anwendungsbereich des Handlungsmittels der Rechtsverordnung näher zu bestimmen. Wegen der beschriebenen untrennbaren Wechselwirkung von Inhalt und Form des Rechts darf sich eine Erforschung der Rechtsquellen nicht auf diese allgemeinen Strukturen beschränken. Sie muß zugleich die durch die Setzung von Recht zu verwirklichenden materiellen Vorgaben des Grundgesetzes einbeziehen. Liegt in der Rechtsetzung die primäre Aufgabe des Parlaments als dem unmittelbar vom Volke gewählten Zentralorgan des Staates, so fragt sich, welche Materien das Demokratieprinzip der Volksvertretung vorbehält und somit dem Verordnungserlaß entzieht. Auch das Rechtsstaatsprinzip stellt Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung des Rechts, die Rückschlüsse auf die gebotene Form zulassen. Schließlich bedürfen die Grundrechte besonderen Schutzes nicht nur vor der Staatsgewalt, sondern auch durch sie und werfen die Frage nach dem hierzu geeigneten Instrumentarium auf. Diese wie andere materielle Vorgaben der Verfassung binden alle staatliche Gewalt und fordern Beachtung bei der Wahl der jeweiligen Handlungsform. Die Frage nach den Rückschlüssen aus inhaltlichen Aussagen der Verfassung auf das statthafte

I. Rechtsidee und Rechtsquellen

23

Handlungsinstrument ist jedoch keine grundsätzlich andere als die vorherige nach der Einordnung der rechtsetzenden Aufgabenwahrnehmung der Exekutive in die strukturelle Unterscheidung von Legislative und Exekutive sowie von Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Sie beleuchtet die gleiche Problematik lediglich aus einem anderen Blickwinkel. Bei alledem ist die historische Bedingtheit des Staatsrechts zu bedenken. Jeder Staat lebt aus einer Rechtstradition, die ein gewisses Vorverständnis ihrer Begrifflichkeiten nahelegt. Dieses gilt es aufzudecken, da nur so die Gefahr gebannt werden kann, auf andere Grundbedingungen zugeschnittene Bezeichnungen unbewußt zu übernehmen, ohne zu hinterfragen, ob sie durch den Wandel der Verhältnisse einen geänderten Sinngehalt erlangt haben oder noch erhalten sollten. Zum besseren Verständnis der Rechtsverordnung wird aus diesem Grund der für das deutsche Staatsrecht bedeutsamen Entwicklung des Begriffs des materiellen Gesetzes Rechnung zu tragen sein. Bei überblickartiger Betrachtung des umfassenden Schrifttums zum Verordnungsrecht2 fällt auf, daß eine abschließende Einordnung der Rechtsverordnung in das Rechtsquellensystem des Grundgesetzes noch aussteht, welche sowohl das zwischen den geschilderten Strukturgedanken bestehende Spannungsfeld als auch die inhaltlichen Vorgaben der Verfassung zu ihrem gedanklichen Ausgangspunkt macht und dabei die Abhängigkeit der maßgeblichen Begrifflichkeiten von ihren jeweiligen geschichtlichen Bezügen berücksichtigt. Einen entsprechenden Versuch will die vorliegende Abhandlung wagen. Da der formelle Gesetzgeber das in erster Linie zur Rechtsetzung berufene staatliche Organ ist, muß diese Untersuchung vordringlich am Verhältnis der Rechtsverordnung zum mit Vorrang versehenen formellen Gesetz anknüpfen. Sie ist sowohl als Beitrag zur Diskussion um Artikel 80 GG als auch zur Bedeutung des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes3 gedacht, dessen Verständnis untrennbar

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Siehe nur Bryde, in: von Münch / Kunig, Artikel 80 GG; Busch, Das Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zum Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt; Cremer, AöR 122 (1997), S. 248 ff.; von Danwitz, Die Gestaltungsfreiheit des Verordnungsgebers; Hasskarl AöR 94 (1969), S. 85 ff.; Lepa, AöR 105 (1980), S. 337 ff.; Lücke, in: Sachs, Artikel 80 GG; Magiera, Der Staat 13 (1974), S. 1 ff.; Nierhaus, in: Dolzer / Vogel, Bonner Kommentar, Artikel 80 GG; derselbe, in: Festschrift für Stern, S. 717 ff.; Nolte , AöR 118, (1993), S. 378 ff.; Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 64; derselbe, DVB1. 1999, S. 1 ff.; Peine, ZG 1988, S. 121 ff.; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Artikel 80 GG; Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG; Schmidt-B leibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Artikel 80 GG; Schneider, Gesetzgebung, S. 151 ff.; Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis; Stern, Staatsrecht, Band II, S. 646 ff.; Wilke, AöR 98 (1973), S. 196 ff.; Wolff, Bernhard, AöR 78 (1952/53), S. 194 ff.

§ 1 : Rechtsquellen und Grundgesetz

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mit dem der Funktionen verschiedener Rechtsquellen und daher notwendig auch mit jenem der Rechtsverordnung verbunden ist. Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen soll demnach vornehmlich eine systematische Studie der zum Verordnungserlaß ermächtigenden Gesetze, daneben aber auch der Rechtsverordnungen selbst wie der Parlamentsgesetze im allgemeinen sein. Eine Theorie, deren Umsetzung in der Praxis scheitert, ist untauglich. Die gewonnenen Ergebnisse müssen folglich sogleich ihre Feuertaufe bestehen und sind beispielhaft auf ein Rechtsgebiet zu übertragen, in dem die „Antinomien der Rechtsidee" in gesteigertem Maße deutlich werden. Zu diesem Zwecke eignet sich das Einkommensteuerrecht ganz besonders, an dessen Inhalt Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit hohe Anforderungen stellen. Das Steuerrecht, insbesondere das Recht der Besteuerung des Einkommens, bestimmt die materielle Lebenssituation der Menschen entscheidend mit, weshalb die Frage nach der Berechtigung der Auferlegung staatlicher Steuerlasten starke Gerechtigkeitsanliegen betrifft, die Bedeutung sowohl für den einzelnen als auch für die Allgemeinheit haben. So fordert der Gleichheitssatz als Gebot der Steuergerechtigkeit eine gerechte Lastenverteilung, die alle Staatsbürger nach Maßgabe ihrer finanziellen Möglichkeiten gleichmäßig zur Finanzierung der Staatsausgaben heranzieht. Zugleich berührt der Steuerzugriff den einzelnen in seiner Freiheit wie kaum ein anderer Grundrechtseingriff. Im Gegensatz zu anderen belastenden Maßnahmen trifft die Steuerpflicht jeden Bürger dauerhaft und intensiv. Jeder, der Einkünfte erzielt und hierdurch seinen Lebensunterhalt verdient, ist grundsätzlich gehalten, einen Teil seines Einkommens zur staatlichen Mittelbeschaffung zur Verfügung zu stellen. Aber auch derjenige, der selbst keine Einnahmen erwirtschaftet, wird als Verbraucher durch die wirtschaftliche Belastung mit Verkehr- und Verbrauchsteuern zur Steuerzahlung herangezogen. Diese Last ist dauerhaft, sie begleitet den Bürger als Erwerbstätigen und als Konsumenten sein ganzes Leben lang. Angesichts der Höhe der derzeitigen Steuerbelastung mag man die Steuerpflicht als die nach dem Straf-

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Vgl. zum Gesetzesvorbehalt von Arnim, DVB1. 1987, S. 1241 ff.; Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt; Eberle , DÖV 1984, S. 485 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig i Herzog / Scholz, Artikel 20, VI. Abschnitt, RN 55 ff.; Jesch, Gesetz und Verwaltung; Kisker, NJW 1977, S. 1313 ff.; Kloepfer, JZ 1984, S. 685 ff.; derselbe, in: Hill, S. 187 ff.; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte; Lerche, DVB1. 1958, S. 524 ff.; Ossenbühl, in: Götz / Klein / Starck, S. 9 ff.; derselbe, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 62; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip; derselbe, in: Götz / Klein / Starck, Gesetzesbegriff, S. 36 ff; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre; Selmer, JuS 1968, S. 489 ff.; Vogel, VVDStRL 1965 (24), S. 125 ff.

I. Rechtsidee und Rechtsquellen

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Vollzug und der Wehrpflicht, die in die persönliche Freiheit des Bürgers eingreifen, intensivste Form der Grundrechtsbeschränkung ansehen, die in ihren Auswirkungen für die eigene Lebensgestaltung im Einzelfall folgenreicher sein kann als manche Zwangsmaßnahme des klassischen Polizeirechts. Dieser Befund, der noch durch die Straf- und Bußgeldbewehrung der Nichteinhaltung von Steuerpflichten verstärkt wird, legt es nahe, an das Steuerrecht zum Schutz des einzelnen gehobene rechtsstaatliche Anforderungen zu stellen. Steuern sind zudem von erhöhter Bedeutung für die Verwirklichung heute der Allgemeinheit zugewiesener Gerechtigkeitsanliegen. Nicht zuletzt um seine Aufgaben als Sozialstaat wahrnehmen zu können, bedarf der moderne Leistungsstaat einer ausreichenden Finanzausstattung. Erst diese gestattet es ihm, dem Bürger Schutz vor äußeren Gefahren zu gewähren, die zur Inanspruchnahme von Freiheit erforderliche staatliche Infrastruktur beispielsweise in Gestalt von Bildungseinrichtungen, Straßen oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur Verfügung zu stellen und auch dem Ärmsten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Des weiteren sind sowohl die inhaltliche Ausgestaltung des Steuerrechts als auch die Erhebung der Steuern mit Fragen der Zweckmäßigkeit verknüpft. Erstens lösen einkommensteuerrechtliche Entscheidungen erhebliche volkswirtschaftliche Folgen aus. So kann eine übermäßige Besteuerung die Leistungsbereitschaft der Steuerpflichtigen sinken lassen und der Gesamtwirtschaft dadurch Schaden zufügen, hingegen eine Senkung der Steuerlast Leistungsanreize bieten, die eine erhöhte Wertschöpfung und damit eine Steigerung des allgemeinen Wohlstandes bewirken. Letztlich kann gerade dies über ein gestiegenes Bruttosozialprodukt zu einem höheren Steueraufkommen führen. Der Gesetzgeber ist hier berufen, die sachgerechten Anknüpfungspunkte und das richtige Maß einer jeden Besteuerung festzulegen. Zweitens wird die so getroffene gesetzgeberische Entscheidung eine Umsetzung in der Wirklichkeit des täglichen Lebens nur erfahren, wenn das gesetzte Recht seine Akzeptanz in der Bevölkerung findet. Das als ungerecht oder unverständlich empfundene Gesetz ruft das Bestreben zur Umgehung desselben hervor. Die Folge sind Steuerhinterziehung und Steuerflucht in das Ausland sowie rechtliche Gestaltungen von Lebenssachverhalten, die ihre Ursache nur noch in dem Bemühen haben, die Anwendung des Steuergesetzes zu vermeiden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Erfordernis gerechter und verständlicher Normen, die eine maßvolle und gleichmäßige Besteuerung gewährleisten, und der Durchführbarkeit des Gesetzesvollzuges. Die von den Menschen mißbilligte Steuernorm ist unzweckmäßig. Drittens ist das Steuerrecht wie kaum ein anderer Regelungsbereich Gegenstand der Massenverwaltung, die einerseits einen großen Bedarf an Flexibilität und Rechtsvereinfachung mit sich bringt, andererseits aber nur noch zu bewältigen ist, wenn dem jeweiligen

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§ 1 : Rechtsquellen und Grundgesetz

Verwaltungsbeamten klare und eindeutige Weisungen zur Anwendung des Gesetzesrechts an die Hand gegeben werden. Die geltenden Steuergesetze sind also nicht nur zu vereinfachen, sondern zugleich durch untergesetzliche, das heißt exekutive Regelungen zu ergänzen. Auch die Rechtssicherheit spielt im Einkommensteuerrecht eine gewichtige Rolle. Der Steuerpflichtige, der größere Investitionen vorzunehmen erwägt, benötigt Planungssicherheit. Der Einkommensempfänger muß vorhersehen können, welche Steuerschuld auf ihn zukommt und welche Nachzahlungen er eventuell zu entrichten hat, um sich auf diese Zahlungspflicht einstellen und entsprechende Rücklagen bilden zu können. Die so zu fordernde Vorhersehbarkeit kann nur ein einfaches und verständliches Steuerrecht leisten, das, gegebenenfalls unter Verzicht auf ein gewisses Maß an Einzelfallgerechtigkeit, generellè Regeln an die Stelle einer Vielzahl von Ausnahmen setzt. Nach alledem ist der Gesetzgeber sowohl zum Schutze des einzelnen als auch zum Wohle der Allgemeinheit berufen, ein gerechtes, das heißt ein gleichmäßiges, maßvolles und verständliches Steuerrecht zu schaffen. Neben das Ziel, materielle Steuergerechtigkeit zu erlangen, treten die ebenfalls hochrangigen Gebote der Zweckmäßigkeit und der Rechtssicherheit, die unter Umständen anderslautende Ergebnisse nahelegen können. Es stellt sich nun aus rechtsstaatlicher, aber auch aus grundrechtlicher und demokratischer Perspektive die Frage, welche Regelungsdichte ein Steuergesetz erreichen muß, um den gebotenen Ausgleich zwischen diesen widerstreitenden Prinzipien zu schaffen. Dies ist verbunden mit der Frage, in welchem Umfang das Parlament selbst sachliche Vorgaben machen muß und in welchem Ausmaß die jeweilige Rechtsentscheidung der Exekutive überlassen werden darf, die ihrerseits im Verordnungswege rechtsetzend oder zur Konkretisierung des Staatswillens im Einzelfall rechtsanwendend tätig werden kann. Umgekehrt ergibt sich das Problem der Schranken jeder Rechtsetzung, die als allgemeinverbindliche Regelung einen verallgemeinerungsfähigen Lebenssachverhalt voraussetzt. Da das Steuerrecht auf eine Vielzahl unterschiedlichster Fallkonstellationen trifft, fragt es sich, welchen Abstraktionsgrad Steuernormen aufweisen müssen oder sollten. Anders formuliert bedeutet all dies die Frage nach den Rechtsquellen, aus denen ein den zuvor geschilderten Zielsetzungen gerecht werdendes Steuerrecht gespeist wird. Bei Durchsicht des einschlägigen steuerrechtlichen Schrifttums ist festzustellen, daß zwar die Problematik des steuerrechtlichen Gesetzesvorbehaltes von Papier4 und die Thematik der Gesetzesbindung der rechtsanwendenden 4

Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip.

II. Begrifflichkeiten

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Steuerverwaltung von Osterloh5 eingehend behandelt wurden. Eine allgemeine Untersuchung, in welchem Maße das Einkommensteuerrecht durch Rechtsverordnungen geregelt werden darf und welche Anforderungen an die gesetzliche Ermächtigung hierzu zu stellen sind, ist jedoch trotz umfangreicher Delegationen nicht auszumachen.6 Der fur die Rechtsverordnung generell beobachtete Klärungsbedarf setzt sich in diesem speziellen Anwendungsbereich fort. Ebenso wie nach einem allgemeinen Maßstab fur den Parlamentsvorbehalt gegenüber rechtsanwendender wie rechtsetzender Exekutive zu fragen ist (Teil 1), müssen dessen noch näher zu ergründende Aussagen beispielhaft auf das Einkommensteuerrecht übertragen werden (Teil 2).

II. Begrifflichkeiten Die Begriffe der Rechtsquelle als Erkenntnisgrund des Rechts und der Rechtsnorm als hieraus resultierender Regelung haben im Schrifttum verschiedene Deutungen erfahren. 7 Im weiteren Verlauf der Untersuchung sei von folgendem Sprachgebrauch ausgegangen. Als Gesetz im materiellen Sinn soll jede abstrakt-generelle hoheitliche Regelung des Außenrechts verstanden werden, wobei der Begriff des Abstrakten eine unbestimmte Vielzahl zu regelnder Fälle, der des Generellen eine ungewisse Anzahl von Normadressaten bezeichnet.8 Gesetz im (nur) formellen Sinn ist jede vom Parlament in Gesetzesform erlassene Regelung unabhängig von ihrem Inhalt. Als Rechtsverordnung ist das von der Exekutive erlassene Gesetz im materiellen Sinn anzusehen. Soweit im folgenden eine Norm ohne Hinweis auf ihren formellen und oder materiellen Charakter verkürzend als „Gesetz" bezeichnet wird, sei sie als Gesetz im formellen und materiellen Sinne verstanden.

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Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze. 6 Diese allgemeine, der Zulässigkeit einzelner Delegationen vorausliegende Frage wurde auch von Casser , Die Ermächtigungen des § 51 Abs. 1 EStG unter besonderer Berücksichtigung von Art. 80 GG, und Link, Die Bestimmtheit der Rechtsetzungsermächtigungen in der Steuergesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, nur punktuell berührt. 7 Vgl. statt vieler: Maurer, Verwaltungsrecht, S. 58 ff. m.w.N.; allgemein zur Rechtsquellenlehre: Kirchhof, Paul, in: Festgabe Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 50 ff. 8 Zum abstrakt-generellen Charakter materieller Gesetze: Hofmann, in: Starck, Allgemeinheit, S. 9 ff. (37 ff.).

§ 1 : Rechtsquellen und Grundgesetz

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Abzugrenzen sind die Verwaltungsvorschriften 9 (Richtlinien) als bloße Binnenrechtssätze10 der staatlichen Verwaltung ohne unmittelbare Außenwirkung. Sie haben zwar ebenfalls Rechtsqualität, binden aber unmittelbar nur die Verwaltung im Binnenbereich. Dennoch können sie gegebenenfalls, insbesondere kraft Selbstbindung der Verwaltung (Artikel 3 GG), mittelbar auch Rechtswirkungen im Verhältnis des Bürgers zum Staat erzeugen. Werden nachfolgend die Begriffe „Rechtsnorm" bzw. „Rechtssatz" verwandt, sind sie (je nach dogmatischem Standpunkt verkürzend) als Rechtssätze des Außenrechts zu verstehen, sofern nicht ausdrücklich von Binnenrechtssätzen die Rede ist. Weiterer Untersuchungsgegenstand ist der Umfang der Verantwortlichkeiten von Legislative und Exekutive. Die entsprechenden Begrifflichkeiten werden ebenfalls nicht einheitlich benutzt. Im Anschluß an einen häufig zu findenden Ansatz soll zwischen dem Begriff des einfachen Gesetzesvorbehaltes und dem des Parlamentsvorbehaltes unterschieden werden, wobei der bloße Gesetzesvorbehalt als schlichter Rechtssatzvorbehalt das allgemeine Erfordernis einer abstrakt-generellen (materiellen) Regelung festlegt, der Parlamentsvorbehalt hingegen verlangt, daß diese Rechtsetzung gerade durch einförmliches Gesetz erfolgt. Letzteres kann auch als Vorbehalt des formellen Gesetzes oder als förmlicher Gesetzesvorbehalt bezeichnet werden. Der einfache Gesetzesvorbehalt stellt sich somit als Oberbegriff dar, der Parlamentsvorbehalt beschreibt einen in jedem Fall vom Gesetzesvorbehalt umfaßten, möglicherweise jedoch engeren Bereich, dessen Entscheidung der Legislative strikt vorbehalten ist. 11 Angemerkt sei, daß der Begriff des Parlamentsvorbehaltes gelegentlich auch als Ausdruck des Gebotes einer formalisierten Entscheidung einer Frage durch das Parlament ohne Festlegung auf eine bestimmte Handlungsform (zum Beispiel durch schlichten Beschluß) angesehen wird. 12

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Vgl. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 588 ff. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 58 f., differenziert zwischen Rechtsnormen, die begrifflich eine unmittelbare Außenwirkung voraussetzen sollen, und Rechtssätzen, die im Außen- und im Innenrecht zu finden seien. 11 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 391 ff. (Zusammenfallen beider Bereiche); Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 62, RN 9 ff. (Stufenverhältnis; RN 10: „Der Vorbehalt des Gesetzes ist der weitere, eine Delegation von Rechtsetzungsmacht einschließende, der Parlamentsvorbehalt der engere, eine Delegation von Rechtsetzungsmacht ausschließende Begriff."). 12 Beispiele sind die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes nach Artikel 110 Absatz 2 GG als Gesetz im nur formellen Sinne sowie der konstitutiv wirkende Zustimmungsbeschluß des Bundestages zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte gemäß BVerfGE 90, 286 (381 ff.). 10

III. Die Bedeutung der Rechtsverordnung im Rechtsquellensystem des GG

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III. Die Bedeutung der Rechtsverordnung im Rechtsquellensystem des Grundgesetzes Die Rechtsverordnung hat erhebliche praktische Bedeutung. Die Zahl der erlassenen Rechtsverordnungen übertrifft die der ergangenen Gesetze um ein Vielfaches, weshalb die Rechtsverordnung als die „häufigste Fundstelle für geltende Rechtssätze"13 bezeichnet worden ist. So wurden in den ersten zwölf Wahlperioden des Deutschen Bundestages 4885 Bundesgesetze verabschiedet, während im gleichen Zeitraum 15664 Rechtsverordnungen in Kraft traten.14 Zahlenmäßig bedeutsamste Anwendungsbereiche der Verordnung sind das Finanz-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Sozialrecht, also allesamt Gebiete, die einem stetigen Wandel unterliegen und daher einer besonders flexiblen Handhabung des zur Verfügung stehenden Rechtsetzungsinstrumentariums bedürfen. 15 Die große Zahl hebt bereits den Stellenwert der Rechtsverordnung im Rechtsquellensystem des Grundgesetzes hervor. Dieser wird noch greifbarer, wenn man ihre praktische Bedeutung am Beispiel eines einzelnen Rechtsgebietes näher beleuchtet. Zu diesem Zweck eignet sich das Einkommensteuerrecht in besonderer Weise, das im Finanzverfassungsrecht (Artikel 104a ff. GG) und dem Grundrechtskatalog (Artikel 1 ff. GG) nur recht allgemeine grundgesetzliche Vorgaben findet, das einfachrechtlich im Einkommensteuergesetz (EStG), der Abgabenordnung (AO) sowie einzelnen Nebengesetzen16 geregelt ist und das im übrigen eine Vielfalt von Einzeldelegationen kennt. Diese Gesetzeslage wird durch zahlreiche Rechtsverordnungen ergänzt, unter denen der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) und der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) gesteigerte Bedeutung zukommt.17 Die weitere Handhabung des Steuerrechts bleibt Aufgabe der Rechtsanwendung, wozu die Exekutivspitze ausführliche Verwaltungsvorschriften und Einzelweisungen erlassen hat, insbesondere die Einkommensteuerrichtlinien und einzelne Problemkreise betreffende Schreiben des Bundesministers der Finanzen. Innerhalb dieses Rechtsquellensystems finden 13

Kirchhof I Paul, in: Festgabe Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 82. Statistische Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland 1960, S. 140; 1968, S. 122; 1976, S. 146; 1986, S. 92 und 1997, S. 95. 15 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 64, RN 4. 16 Solidaritätszuschlaggesetz, Fördergebietsgesetz, Außensteuergesetz, Kirchensteuergesetze der Länder etc. 17 Einzelheiten unten im zweiten Teil; daneben finden noch weitere Rechtsverordnungen Anwendung, die auch auf Grund anderer Gesetze ergangen sein können. Genannt seien die Sachbezugsverordnung (zum Sozialversicherungsrecht ergangen, aber auch im Steuerrecht anwendbar) und die Kleinbetragsverordnung (zur Abgabenordnung). 14

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sich, vor allem in § 51 EStG, verschiedenartige und umfangreiche Ermächtigungen zum Verordnungserlaß, die sich wie folgt skizzieren lassen. Einerseits wird in tatbestandlich weit gefaßten Normen der Erlaß von bloßen Durchfuhrungsvorschriften vorgesehen, die das Steuergesetz in Detailfragen ergänzen und das Veranlagungsverfahren im einzelnen näher ausgestalten sollen.18 Andererseits läßt § 51 EStG auch nicht unerhebliche materielle Abweichungen vom Gesetz durch Rechtsverordnung zu, liefert zu diesem Zwecke aber jeweils ausfuhrlichere Einzeldelegationen.19 Die Regelungsdichte der einschlägigen Rechtsgrundlagen ist mithin in Abhängigkeit von ihren Auswirkungen gewählt worden. Diese umfangmäßige und inhaltliche Bedeutung von Rechtsverordnungen ist historisch betrachtet keine Besonderheit heutiger Rechtspraxis. Auch dies mag das Einkommensteuerrecht verdeutlichen. Bereits unter der Geltung der Reichsverfassung von 1871 wurden steuerrechtliche Fragen in Form von Gesetzen und Rechtsverordnungen geregelt.20 Schon seinerzeit bedurfte die Steuerauflage als Eingriff der gesetzlichen Grundlage, die aber unbedenklich weit gefaßt werden durfte. 21 In der Weimarer Republik wurde das Verordnungsrecht, insbesondere als Folge des hohen Finanzbedarfs des Staates in den Zeiten der Inflation (1923)22 sowie der Weltwirtschaftskrise ( 1930/31)23, stark ausgedehnt. Verordnungen ergingen damals sowohl auf Grund besonderer gesetzlicher Ermächtigungen als auch auf der Grundlage des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten gemäß Artikel 48 WRV. 24 Diese Entwicklung bewirkte, daß das Steuerrecht während jener Zeit nicht allein vom Parlament, 18

Hingewiesen werden soll beispielhaft auf Absatz 1 Nr. 1 a),b),d)-f). Erwähnt seien exemplarisch die in Absatz 1 Nr. 2 n)-y) enthaltenen Steuervergünstigungen. 20 Vgl. Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 409 ff, der für das Zoll- und Steuerrecht feststellt, „... daß sowohl Rechtsregeln wie Verwaltungsregeln teils in der Form des Gesetzes, teils in der Form der Verordnung auf Grund gesetzlicher Ermächtigung sanktioniert worden sind." (S. 410) (Der Terminologie Labands liegt sein inzwischen überholter Ansatz zugrunde, Verwaltungsregelungen hätten keine Rechtsqualität, da sie nur den Innenbereich des Staates beträfen (Impermeabilität des Staates; vgl. Laband, Staatsrecht, Band 2, S. 85 ff.und 181 ff.). Aus heutiger Sicht sind die von ihm gemeinten, in der Form der Verordnung ergangenen Regeln Gesetze im materiellen Sinne). 21 Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, 3. Auflage 1924, S. 316 f.; das „allmächtige Gesetz" könne den ganzen Steuerrechtssatz der Verordnung übertragen, was in der Regel jedoch nicht geschehe. Mayer differenziert, wie sich aus den von ihm gewählten Beispielen ergibt, nicht zwischen der Rechtslage vor und nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs. 22 Vgl. Hensel, Steuerrecht, 1. Auflage, 1924, S. 27 ff., der von „völliger Regellosigkeit" spricht. 23 Vgl hierzu Hensel, Steuerrecht, 3. Auflage, 1933, S. 12 ff. 24 Beispiele bei Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, I. Band: Allgemeines Steuerrecht, S. 39 ff. 19

III. Die Bedeutung der Rechtsverordnung im Rechtsquellensystem des GG

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sondern weitgehend auch vom Verordnungsgeber gestaltet wurde.25 Im vom „Führerprinzip" beherrschten Nationalsozialismus wurde die rechtsstaatlich begründete Trennung zwischen Gesetzgebung und Verwaltung aufgegeben und das Verordnungsrecht nochmals erweitert. So wurde § 12 der Reichsabgabenordnung (RAO), der bisher im wesentlichen nur den Erlaß von Durchführungsbestimmungen gestattete, durch §21 Ziffer 3 Steueranpassungsgesetz vom 16.10.1934 6 geändert. Der Reichsfinanzminister wurde nun „zur Durchführung und zur Ergänzung ... der Steuergesetze" ermächtigt. Dies wurde ausdrücklich mit einer Anpassung an die „veränderten staatsrechtlichen Verhältnisse" begründet27 und änderte durch ein extensives Verständnis des Begriffes „Ergänzung" die Rechtslage grundlegend.28 Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes setzt Artikel 80 GG der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an die Exekutive Grenzen. Artikel 129 Absatz 3 GG erklärt vorherige Ermächtigungen zum Erlaß gesetzesändernder oder -ergänzender sowie an Stelle eines Gesetzes ergehender Rechtsverordnungen für erloschen.29 Der Umkehrschluß besagt, daß alle übrigen bisherigen Delegationen unabhängig von ihrer Vereinbarkeit mit Artikel 80 GG weiterhin Bestand haben.3 Ein anderes gilt für die bereits zuvor auf Grund früherer Ermächtigungen erlassenen Rechtsverordnungen. Deren Fortgeltung wird von Artikel 129 GG nicht geregelt, sie bleiben gemäß Artikel 123 GG auch im Falle des Erlöschens ihrer Rechtsgrundlage wirksam, sofern nicht andere Nichtigkeitsgründe eingreifen. 31 Die Problematik der Weitergeltung alter 25

Vgl. Schmitt, Carl, Der Hüter der Verfassung, S. 122 f. (zum Verordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Absatz 2 WRV): „Was die bisherige Praxis angeht, so sieht sie im finanzrechtlichen Vorbehalt des Gesetzes keineswegs den Vorbehalt eines formellen Gesetzes. Die Erhebung von Steuern und Abgaben, die Festsetzung der Zölle und andere abgabenrechtliche Normierungen sind heute längst nicht mehr auf Gesetze im formellen Sinne beschränkt; hier besteht eine langjährige Verordnungspraxis, die keines weiteren Beleges bedarf und deren Rechtsgültigkeit nicht ernsthaft bestritten werden kann, übrigens auch kaum bestritten worden ist." 26 RGBl. I 1934, S. 925 (929). 27 RStBl. 1934, S. 1398 (1413). 28 Vgl. Klein, Friedrich, StuW 1941, Sp. 195 (220 ff.). 29 § 12 RAO wurde dann auch durch Gesetz vom 11.7.1953 aufgehoben, BGBl. I 1953, S. 511. 30 Kirn, in: von Münch l Kunig, Artikel 129 GG, RN 2; für das Steuerrecht: Hofferberth, StuW 1956, Sp. 537 ff. 31 Kirn, RN 4; zum: Hofferberth, StuW 1956, Sp. 538; Klein, Friedrich / Paulick, StuW 1952, Sp. 433 (446 f.); ebenso die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; vgl. nur die Entscheidungen zu auf Grund von § 12 RAO erlassenen Verordnungen: BVerfGE 9, 3 (12) (Verordnung über die Bemessung des Nutzungswerts der Wohnung im eigenen Einfamilienhaus); BVerfGE 12, 341 (346 f.) (Umsatzsteuerdurchführungsbestimmungen 1938); BVerfGE 25, 216 (225 f.) (Durchführungsverordnung zum Reichsbewertungsgesetz).

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§ 1: Rechtsquellen und Grundgesetz

Ermächtigungen und Verordnungen dürfte sich mittlerweile regelmäßig durch Zeitablauf erledigt haben. Bedenkt man die eingangs bemerkte Häufung von Rechtsverordnungen in Rechtsbereichen, die in besonderem Maße einem stetigen Wandel der Verhältnisse unterworfen sind, so zeigt sich eine der Rechtsverordnung typischerweise eigene Kurzlebigkeit, auf Grund derer inzwischen wohl alle wesentlichen früheren Ermächtigungsgrundlagen und Verordnungsbestimmungen aufgehoben, geändert oder neu gefaßt sein dürften. 32 Dies gestattet es, den Fragenkreis des vorkonstitutionellen Verordnungsrechts fortan zu vernachlässigen.

IV. Die Lehre vom Parlamentsvorbehalt: Allgemeiner Vorbehaltsgrundsatz und Artikel 80 GG Der Textbefund des Grundgesetzes gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der verfassungsrechtlich gebotenen Regelungsdichte von zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigenden Normen. Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 enthält lediglich die abstrakte Aussage, das Ermächtigungsgesetz müsse „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung" bestimmen. Festgehalten werden kann allein, daß das Grundgesetz mit dieser Vorschrift einen besonderen Vorbehalt des formellen Gesetzes für die Ermächtigung zur exekutiven Rechtsetzung formuliert, der dem die Rechtsanwendung der Verwaltung beherrschenden allgemeinen Parlamentsvorbehalt in zweifacher Hinsicht verwandt erscheint. Zum einen grenzen beide Erscheinungsformen des Vorbehaltsprinzips die Verantwortlichkeit von Legislative und Exekutive gegeneinander ab, berühren 32 Auch dies belegt das Einkommensteuerrecht. So wurde der Vorläufer von § 51 Absatz 1 EStG durch Gesetz vom 29.4.1950 (BGBl. I 1950, S. 95 (100 f.); besprochen von Klein, Friedrich, Grenzen gesetzlicher Ermächtigungen) neu formuliert und unterlag seither zahllosen Änderungen. Ferner wurden § 51 Absatz 1 Nr. 2 s), Absätze 2 und 3 EStG erst durch das Stabilitätsgesetz vom 8.6.1967, BGBl. I 1967, S. 582 (587), eingefügt. Auch die einschlägigen Rechtsverordnungen wurden seit Inkrafttreten des Grundgesetzes häufig geändert. Insbesondere wurden die EStDV und die LStDV wiederholt vom Bundesministerium der Finanzen auf Grund von § 51 Absatz 4 Nr. 2 EStG neu bekanntgemacht (vgl. zuletzt BGBl. I 1997, S. 1558). Sollten in diesen Verordnungen noch Bestimmungen enthalten sein, die mit alten auf der Grundlage von § 12 RAO ergangenen Vorschriften inhaltsgleich sind, wird man wohl unterstellen dürfen, daß das Bundesministerium sich diese mit den Neubekanntmachungen zu eigen machen wollte. Es wird daher im folgenden angenommen, daß sämtliche Ermächtigungen des derzeitigen Einkommensteuerrechts und die entsprechenden Rechtsverordnungen nachkonstitutioneller Natur und somit am Maßstab des Artikel 80 GG zu überprüfen sind.

IV. Die Lehre vom Parlamentsvorbehalt

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also die Zuordnung von Kompetenzen im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes. Zum anderen betreffen beide Rechtsinstitute die inhaltliche Fragestellung, welche Themenbereiche in welcher Ausführlichkeit im formellen Gesetz geregelt werden müssen. Diese Problematik ist ihrerseits unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten, der Frage, ob eine formell-gesetzliche Regelung erforderlich ist, und dem untrennbar hiermit verbundenen33 Folgeproblem, wie bestimmt ein etwaiges formelles Gesetz sein muß, wobei unter Bestimmtheit in diesem Sinne die durch ihre Detailliertheit wie durch ihre Verständlichkeit, Klarheit, Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit festgelegte inhaltliche Genauigkeit der Norm verstanden sei. Beide Aspekte können nur theoretisch voneinander abgegrenzt werden, da sowohl die Frage, ob eine Materie parlamentsgesetzlich zu regeln ist, wie auch jene, welcher Maßstab an inhaltlicher Deutlichkeit dabei anzulegen ist, allein davon abhängen, wie man die jeweils maßgebliche Materie begrifflich umgrenzt.34 Dies sei am Beispiel einer einkommensteuerrechtlichen Regelung verdeutlicht. Wohl unbestritten muß eine Besteuerung von Zinseinkünften als Grundrechtseingriff auf einem formellen Gesetz beruhen. Dennoch läßt sich nicht eindeutig feststellen, ob sich dieses Ergebnis als Antwort auf die Frage nach dem grundsätzlichen Erfordernis eines Parlamentsgesetzes für dieses Rechtsgebiet oder als Folge des Gebotes hinreichender Bestimmtheit des Steuergesetzes ergibt. Definiert man die dem Parlamentsvorbehalt unterfallende Materie als „das Steuerrecht", sind sowohl die Entscheidung, Steuern auf das Einkommen zu erheben, als auch jene, Zinseinkünfte als Einkommen zu verstehen, dem Gesichtspunkt des Deutlichkeitsmaßstabes zuzuordnen. Bezieht man die Frage, „ob" ein Gesetz erforderlich ist, auf die „Einkommensteuer", gehört nur noch der Begriff des Einkommens zur Frage, „wie" dieses inhaltlich auszugestalten ist. Schließlich kann man auch die gesamte „Zinsbesteuerung" der Frage nach dem „ob" der gesetzlichen Regelung zuordnen. Das Beispiel zeigt, daß der Parlamentsvorbehalt sowohl das grundsätzliche Erfordernis einer gesetzlichen Regelung als auch das zugehörige (materiell zu verstehende) Gebot inhaltlicher Bestimmtheit umfaßt. Der Vorbehaltsgedanke beschreibt die gesetzgeberische Verantwortung nicht nur gegenständlich, sondern auch umfangmäßig. 35 Beide Gesichtspunkte betreffen im Kern die gleiche Fragestellung, weshalb sie im

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So auch Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 62, RN 23. Das übersehen jene Stimmen, die Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheit des Gesetzes (generell oder nur bei Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG) als zwei nebeneinander zu beachtende Erfordernisse einordnen; vgl. unten § 3 II. 3.) zum Schrifttum zu Artikel 80 GG sowie sogleich. 35 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 392. 34

3 Seiler

§ 1 : Rechtsquellen und Grundgesetz

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folgenden zusammenfassend unter dem Begriff der „Regelungsdichte" erörtert werden sollen.36 Hervorgehoben sei, daß die genannten, aus dem Vorbehaltsdenken folgenden Bestimmtheitsanforderungen, die sich auf die inhaltliche Dichte einer Regelung beziehen, von dem hier nicht thematisierten allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz abzugrenzen sind. Letzterer ist rein formal zu verstehen, da er keine Aussage zum Verantwortungsbereich der staatlichen Einzelgewalten trifft, sondern auch in nicht dem Gesetzesvorbehalt unterliegenden Bereichen für alle staatlichen Regelungen (durch Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung oder Verwaltungsakt) ein Mindestmaß an Bestimmtheit, insbesondere an Widerspruchsfreiheit verlangt. Aber auch diese Abgrenzung ist nur eine theoretische, da das Maß der Bestimmtheit durch die Vorgaben des Gesetzesvorbehaltes, soweit dieser gilt, determiniert wird. Vorbehaltsprinzip und Bestimmtheitsgrundsatz stehen in einer untrennbaren Wechselbeziehung. Angesichts dieser thematischen Verwandtschaft von allgemeinem förmlichem Gesetzesvorbehalt und speziellem Erfordernis einer formell-gesetzlichen Ermächtigung in Artikel 80 GG stellt sich die Frage nach dem rechtssystematischen Verhältnis beider Prinzipien zueinander. Nach einer insbesondere von Papier37 zum Steuerrecht entwickelten, jedoch verallgemeinerungsfahigen Ansicht handelt es sich um zwei isoliert voneinander zu betrachtende, kumulativ zu beachtende Voraussetzungen einer Delegation an den Verordnungsgeber. Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG enthalte nur eine begrenzte Delegationsbeschränkung, die den Gesetzgeber nicht hindere, bloße 36

Diese Grundkonzeption entspricht jener des Bundesverfassungsgerichts, das zum Beispiel in BVerfGE 49, 89 (Kalkar) (hierzu Erichsen, VerwArch 70 (1979), S. 249 ff.) zunächst den Vorbehalt des Gesetzes (S. 126 ff.) und dann das Gebot hinreichender Bestimmtheit (S. 133 ff.) untersucht, dabei aber betont, beide Fragen stünden „in unmittelbarem Zusammenhang" (S. 129). BVerfGE 56, 1 (12 f.) trennt beide Prinzipien begrifflich, prüft sie aber gemeinsam: „Insoweit berührt sich das Bestimmtheitsgebot mit dem Verfassungsgrundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes." Soweit der Gesetzesvorbehalt reicht, kann diesen wie anderen Urteilen hinsichtlich der gebotenen Regelungsdichte kein sachlicher Unterschied beider Grundsätze entnommen werden. Es wäre verfehlt, aus ihrer gelegentlich zu findenden aufbaumäßig getrennten Erörterung auf eine wesensmäßige Verschiedenheit zu schließen, da dies vom Gericht in der Sache nicht so gehandhabt wird und, wie gezeigt wurde, auch nicht werden könnte. Zutreffend BVerfGE 83, 130 (152) (Josefine Mutzenbacher): „Die Wesentlichkeitstheorie beantwortet nicht nur die Frage, ob überhaupt ein bestimmter Gegenstand gesetzlich geregelt sein muß, sie ist vielmehr auch dafür maßgeblich, wie weit diese Regelungen im einzelnen gehen müssen." 37 Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 67 ff., insbesondere S. 71 ff.; zuvor bereits Lerche, DVB1. 1958, S. 524 (530).

IV. Die Lehre vom Parlamentsvorbehalt

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Regelungsermächtigungen an die eigenes Ermessen ausübende Exekutive ohne eine Regelungspflicht zu schaffen. Für das Beispiel des Steuerrechts bedeute dies, daß die Entscheidung, ob und wie hoch eine Steuer erhoben wird, aus der Perspektive von Artikel 80 GG im Rahmen der gesetzlich gezogenen Grenzen der Rechtsverordnung überlassen werden könne, sofern eine entsprechend bestimmte Ermächtigung vorliege. Ein Gebot zur parlamentarischen Sachentscheidung könne sich hingegen nur aus dem allgemeinen Vorbehalt des formellen Gesetzes unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Steuerrechts ergeben.38 Diese Auffassung begegnet Bedenken, die sich auf den weitgehend übereinstimmenden Regelungsbereich beider Rechtsinstitute stützen lassen. Beide Prinzipien betreffen einerseits das Verhältnis der Aufgaben von Legislative und Exekutive und weisen andererseits dem Parlament die Hauptverantwortung zur Ordnung des Verhältnisses des Bürgers zum Staat zu, beide stellen jeweils Mindestanforderungen hinsichtlich der Frage, ob ein Parlamentsgesetz erforderlich ist, und des Folgeproblems, welchen Deutlichkeitsgrad dieses erreichen muß. Der Unterschied zwischen ihnen liegt allein darin, daß Artikel 80 GG den Sonderfall der gerade rechtsetzend tätigen Exekutive regelt. Es liegt daher nahe, Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG als spezielle Regelung des Parlamentsvorbehaltes anzusehen39, die dem allgemeinen förmlichen Gesetzesvorbehalt nach dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali vorgeht, so daß letzterer im Rahmen der Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen entgegen Papier nicht einschlägig wäre.

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Vgl. ferner Kloepfer, JZ 1984, S. 685 (693), der Artikel 80 GG nicht als Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes sieht, sondern meint, der Anwendungsbereich des Artikel 80 GG werde durch im Grundgesetz enthaltene Vorbehalte des förmlichen Gesetzes eingeengt. 39 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 393, bezeichnet Artikel 80 Absatz 1 GG als „positivrechtliche Feststellung" des Parlamentsvorbehaltes. Ebenso Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 29. Osterloh, Gesetzesbindung, S. 113 ff. (117), spricht von der „Integration der Bestimmtheitsanforderungen des Artikel 80 GG in das Prinzip des Vorbehalts des Parlamentsgesetzes". Dieser Gedanke liegt, teil ausdrücklich, teils der Sache nach, der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zugrunde. BVerfGE 49, 89 (126 f.) nennt Artikel 80 Absatz 1 GG eine „Ausprägung" des den Gesetzgeber zum Erlaß aller wesentlichen Entscheidungen verpflichtenden allgemeinen Gesetzesvorbehaltes. BVerfGE 58, 257 (278) qualifiziert das aus Artikel 80 GG folgende Gebot hinreichender Bestimmtheit als „notwendige Ergänzung und Konkretisierung des ... Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes". Aufschlußreich BVerfGE 13, 153 (160), wo jenseits des Anwendungsbereichs von Artikel 80 GG verlangt wird, ein formelles Steuergesetz müsse „nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt" sein. Wortgleich entschieden außerhalb des Steuerrechts BVerfGE 8, 274 (325); E 9, 137 (147); E 56, 1 (12).

§ 1: Rechtsquellen und Grundgesetz

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Eine abschließende Beurteilung dieser Frage setzt die noch zu leistende Analyse sowohl des allgemeinen Parlamentsvorbehaltes als auch des Artikel 80 GG voraus. Zur näheren Eingrenzung des Verlaufs der weiteren Erörterungen soll an dieser Stelle die zu erweisende These unterstellt werden, beide Prinzipien seien Ausdruck eines einheitlichen Vorbehaltsgrundsatzes, der, ohne tendenzielle Verschiebungen ihrer Aussagen zwingend auszuschließen, in Gestalt der allgemeinen Lehre vom Parlamentsvorbehalt das generelle Verhältnis von Parlament und Verwaltung sowie im Falle des als lex specialis angesehenen Artikel 80 GG das Verhältnis des formellen Gesetzgebers zur gerade als Rechtsetzungsorgan tätigen Exekutive beherrscht. Als Konsequenz dessen ist die Auslegung von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG zwei Gedankenschritten unterworfen. Zunächst sind am Maßstab des allgemeinen Vorbehaltsgrundsatzes generelle Anforderungen an Parlamentsgesetze aufzuzeigen. Anschließend müssen die verfassungsrechtlichen Vorgaben fur die nicht rechtsanwendend, sondern gerade rechtsetzend tätige Exekutive auf Auskünfte zur Bindung des formellen Gesetzgebers befragt werden. Erst der Vergleich beider Vorbehaltsarten kann die These, Artikel 80 GG sei ein Spezialfall des abstrakt formuliert einheitlichen Vorbehaltes des Parlamentsgesetzes, widerlegen oder bestätigen.

V. Die Ermittlung der gebotenen Regelungsdichte Das Vorbehaltsprinzip des Grundgesetzes ist sowohl hinsichtlich der Frage, ob eine gesetzliche Regelung geboten ist, als auch im Hinblick auf die zu fordernde Bestimmtheit einer etwaigen Rechtsnorm kein eigener Zweck der Verfassung, sondern bloßes Mittel zur Umsetzung materieller Vorgaben des Grundgesetzes.40 Zugleich hat der Vorbehaltsgedanke kompetenzbestimmende Wirkung 41, die aber mangels einer ausdrücklichen grundgesetzlichen Festlegung aus seiner Funktion abzuleiten ist, also ihrerseits in einer noch näher zu betrachtenden Abhängigkeit von den materiellen Entscheidungen der Verfassung steht. Eine gesetzliche Regelung und deren inhaltliche Deutlichkeit können demnach nur geboten sein, wenn und soweit die Verwirklichung der jeweils berührten materiellen Aussagen der Verfassung dies erfordert, bei40

So mit Recht Osterloh, Gesetzesbindung, S. 109 ff., zum allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz. Diese Aussage kann auf das gesamte Vorbehaltsprinzip ausgedehnt werden, dessen funktionales Verständnis noch zu ergründen sein wird. 41 Als Parlamentsvorbehalt begründet er die Zuständigkeit der Volksvertretung, als schlichter Rechtssatzvorbehalt die (abgeleitete) Verantwortung auch der Exekutivspitze. Nur soweit kein Vorbehalt greift, darf die Verwaltung aus eigener Initiative tätig werden.

V. Die Ermittlung der gebotenen Regelungsdichte

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spielsweise um einen erhöhten Grundrechtsschutz, ein verstärktes Maß an Rechtssicherheit oder eine demokratischere Entscheidungsfindung zu gewährleisten.42 Dies gilt grundsätzlich für alle Ausprägungen des Vorbehaltsgrundsatzes, also ungeachtet der weiteren Einordnung von einfachem Gesetzesvorbehalt, Parlamentsvorbehalt und Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG. Es ist an sich vorstellbar, daß das Grundgesetz zwingend gebietet, eine Frage vollständig formell oder jedenfalls materiell gesetzlich zu beantworten, oder daß es die Entscheidungsbefugnis unabdingbar der Verwaltung43 zuweist. Regelmäßig wird es hingegen kaum möglich sein, eine Materie in vollem Umfang der Verantwortung einer der Gewalten und ausschließlich der Rechtsetzung oder der Rechtsanwendung zuzuordnen. Zu fragen ist vielmehr nach dem Maß der zu fordernden Regelungsdichte. Dieses ist im konkreten Fall abhängig von den jeweiligen sachlichen und verfassungsrechtlichen Gegebenheiten, insbesondere den einschlägigen Grundrechten, und kann nicht für alle Rechtsgebiete einheitlich bestimmt werden. Zu beachten ist auch, daß eine rechtliche Regelung aller erdenklichen Einzelfalle nur rechtstheoretisch, nicht jedoch tatsächlich denkbar ist 44 und daß zwischen verschiedenen Bestimmtheitsgraden in erster Linie nur ein quantitativer, nicht aber ein qualitativer Unterschied45 besteht. Letztlich entscheidend ist, daß die zu verwirklichenden materiellen Aussagen der Verfassung in vielen Fällen widerstreitende Ziel42

Dies meint BVerfGE 47, 46 (79) (Sexualkunde) mit der Formulierung, „ob eine Maßnahme ... dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muß oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz". 43 BVerfGE 58, 257 (270) spricht in diesem Zusammenhang von der verfassungsrechtlich garantierten Eigenständigkeit der Verwaltung. 44 Vgl. BVerfGE 3, 225 (243). Entsprechende Versuche namentlich der Naturrechtslehre, alle Rechtsfragen in ihrer Gesamtheit abschließend zu kodifizieren, waren zum Scheitern verurteilt. So ging § 50 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts fur die Preußischen Staaten von 1794 (Pappermann, S. 47), von einer umfassenden gesetzlichen Regelung aus, da dort bestimmt wurde, der Richter (der im Sinne Montesquieu s nur „la bouche qui prononce les paroles de la loi" sein soll) müsse im Falle einer Gesetzeslücke diesen „vermeintlichen Mangel" sofort dem Chef der Justiz anzeigen. Laufs, S. 181 f., nennt dieses mit etwa 19.000 Paragraphen bewußt ausfuhrliche Gesetz ein „Lehrstück über die Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzgebung". Die Unmöglichkeit, alle denkbaren Einzelfälle zu regeln, diente daher in der Folgezeit als Argument gegen eine Kodifizierung des bürgerlichen Rechts. Vor allem von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (zitiert nach Stern, Thibaut und Savigny, S. 69 ff.), S. 84, vertrat, daß „dieses Unternehmen deshalb fruchtlos bleiben muß, weil es fur die Erzeugung der Verschiedenheiten wirklicher Fälle schlechthin keine Grenze gibt". 45 Papier, DStJG 12 (1989), S. 61 (67), spricht von einer „gleitenden Skala der Normbestimmtheit bzw. -Unbestimmtheit, wobei niemand sagen kann, bei welchem Grad der Unbestimmtheit der Verfassungsverstoß angenommen werden muß".

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§ 1: Rechtsquellen und Grundgesetz

Setzungen enthalten und sowohl für als auch gegen eine größere Regelungsdichte des Gesetzes angeführt werden können. So steht zum Beispiel die für das Parlamentsgesetz streitende stärkere demokratische Legitimation des Parlaments dem gegen eine Überregulierung sprechenden Bedürfnis nach Flexibilität und materieller Gerechtigkeit im Einzelfall entgegen. Vorbehaltlich näherer Betrachtung gestattet dieser Befund die Annahme, das Grundgesetz liefere keine allgemeingültigen abstrakten Abgrenzungskriterien, die abschließend und eindeutig erfassen, welche Fragestellungen im Parlamentsgesetz zu regeln sind. Je nach betroffener Materie mag es zwar im Einzelfall möglich sein, eine Frage vollumfanglich der Legislative oder der Exekutive, der Normsetzung oder der Normanwendung zuzuweisen, im Regelfall ist aber nur eine „hinreichende", nicht jedoch eine größtmögliche Bestimmtheit des Gesetzes zu fordern, wobei das erforderliche Maß der gesetzlichen Regelungsdichte jeweils regelungsbereichsspezifisch unter Berücksichtigung der konkreten Zwecke des Gesetzes und des verfassungsrechtlichen Zusammenhanges festzustellen ist. Demnach bedarf es zur Ermittlung der Kompetenzen von Parlament und Verordnungsgeber zweier, von dem jeweils zu regelnden Gegenstand abhängiger gedanklicher Schritte. Zum ersten sind die Fragen herauszuarbeiten, die zwingend vom formellen Gesetzgeber normiert werden müssen, so daß eine Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen unstatthaft wäre, oder die keinesfalls allgemeinverbindlich geregelt werden dürfen, weil sie der rechtsanwendenden Verwaltung vorbehalten sind, so daß die Rechtsverordnung als Handlungsinstrument der Exekutive ausscheiden müßte. Zum zweiten ist in allen übrigen Fällen ein regelungsbereichsspezifischer Ausgleich der für und wider eine förmliche gesetzliche Regelung sprechenden Gesichtspunkte zu suchen.46 Als problematisch mag sich dabei jener Bereich erweisen, in dem eine rechtssatzförmige Ausgestaltung zwar zulässig, aber nicht zwingend ist. Hier könnte ein Verordnungserlaß kaum ausgeschlossen werden, da dort, wo kein materielles Gesetz nötig ist, an sich auch kein Parlamentsgesetz geboten sein kann. Es fragt sich, welche Antwort Artikel 80 GG für Fälle dieser Art bereithält. Besagte fallbezogene Ermittlung des Grades parlamentarischer Verantwortung ist durch die Bildung allgemeiner Kriterien vorzuzeichnen. Zu diesem ^Ähnlich Osterloh, Gesetzesbindung, S. 132 ff., die das Gebot hinreichender Bestimmtheit angesichts der gegen eine übermäßige Regulierung angeführten Gründe auch als „Gebot hinreichend begründeter gesetzlicher Unbestimmtheit" bezeichnet, wobei eine offene Abwägung zur Ermittlung der Bestimmtheitsanforderungen zu erfolgen habe.

VI. Anwendungsfelder des Parlamentsvorbehaltes

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Zwecke sind die vom jeweiligen Sachzusammenhang abhängigen inhaltlichen Vorgaben des Grundgesetzes an den förmlichen Gesetzgeber zunächst verallgemeinernd, sodann beispielhaft bezüglich des Steuerzugriffs zu benennen, um den Rahmen zulässiger Delegationen und die Entscheidungskriterien für die Feststellung der jeweils erforderlichen Gesetzesdichte zu entwickeln. Liegt der Wesensunterschied von allgemeinem Vorbehalt und Artikel 80 GG darin, daß die Exekutive bei letzterem rechtssatzförmig tätig wird, muß das Handlungsmittel des materiellen Gesetzes näher betrachtet werden, dessen Begriff und Anwendungsbereich gegebenenfalls Folgerungen für das Verständnis beider Formen des Parlamentsvorbehaltes zulassen könnten. Soweit möglich sind aus den so ermittelten Maßstäben Lehren für eine systemgerechte Ausgestaltung des Gesetzes zu ziehen, die unter Umständen auch Auswirkungen auf die einzelnen Ermächtigungsgrundlagen als Teil des Systems haben könnten. Bei alledem fragt es sich, welchem Staatsorgan von Verfassungs wegen die Kompetenz zugewiesen ist, den nötigen Ausgleich zwischen den für und wider eine detaillierte gesetzliche Regelung sprechenden Zwecken des Grundgesetzes letztverbindlich vorzunehmen. Dies ist zugleich die Frage, inwiefern die Verfassung verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers mit der Folge einer nur eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit der Bestimmtheit einer Norm anerkennt.

VI. Anwendungsfelder des Parlamentsvorbehaltes Die These vom einheitlichen Parlamentsvorbehalt gegenüber rechtsanwendender und rechtsetzender Exekutive, dessen Aussagen sowohl allgemein als auch im Einkommensteuerrecht ermittelt werden sollen, läßt die hier einschlägigen Anwendungsfelder des Vorbehaltsprinzips von selbst deutlich werden. Zunächst muß zur Grundlegung der allgemeine formelle Gesetzesvorbehalt behandelt werden (§ 2). Anschließend sei der Schritt vom Allgemeinen zum Besonderen in zweifacher Hinsicht gewagt. Zum einen wird der Parlamentsvorbehalt auf Verschiebungen im Verhältnis von formellem Gesetzgeber und Verordnungsgeber zu befragen sein (§ 3). Zum anderen sind die Erkenntnisse zum allgemeinen Parlamentsvorbehalt im zweiten Teil speziell auf das Einkommensteuerrecht zu übertragen (§ 4). Die Summe der gewonnenen Ergebnisse liefert als Schlußstein denförmlichen Gesetzesvorbehalt gegenüber der gerade rechtsetzend tätigen Exekutive im Einkommensteuerrecht (§ 5).

Erster Teil

Der einheitliche Parlamentsvorbehalt § 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt im geschichtlichen Überblick 1. Geistesgeschichtliche

Vorbedingungen

Die geistesgeschichtlichen Vorbedingungen der Entwicklung des modernen Gesetzesbegriffs und damit auch der Lehre vom Gesetzesvorbehalt entstammen der Epoche des Vernunftrechts, in der die Lehre vom Gesellschaftsvertrag und der Gedanke der Gewaltenteilung entstanden.1 Nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag liegt der menschlichen Gesellschaft ein fiktiver staatloser Naturzustand voraus, aus dem heraus die Menschen sich kraft Vertragsschlusses zur staatlichen Gesellschaft zusammenschließen. Nachdem Hobbes2 zunächst vertreten hatte, dieser Vertrag werde aus Furcht vor dem sich im Naturzustand wegen der Natur des Menschen („homo homini lupus est") zwangsläufig ergebenden friedlosen Zustand („bellum omnium contra omnes") geschlossen, betont Locke, alle Menschen seien von Natur aus frei und gleich. Da die Menschen nur zur Erhaltung dieser stets bedrohten Rechte an der bürgerlichen Gesellschaft (civil society) teilnehmen, wird die Übertragung der ursprünglich dem Individuum zugeordneten Befugnisse begrenzt durch den Zweck der Gesellschaft, nämlich die Sicherung von Freiheit.4 Diese Beschränkung der Unterwerfung unter die staatliche Hoheitsgewalt, und damit unter das Gesetz, weist bereits auf die

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Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 20 ff. Hobbes, Vom Bürger (De Cive), 1. Kapitel. Locke, Two Treatises of Civil Government, Book II, Chapter II (S. 118). Locke, Book II, Chapter IX (S. 179 ff.).

I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt

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Grundrechte und deren Schutz durch die Rechtsordnung. Auch nach Rousseau muß die als vorausliegend gedachte Freiheit und Gleichheit des Menschen im Staat gewahrt bleiben, was durch den Gesellschaftsvertrag (contrat social) gewährleistet wird, in dem sich jeder der volonté générale unterwirft. 5 Diese setzt die Beteiligung aller an der Willensbildung und die Erstreckung des gefundenen Willens auf alle voraus.6 Alle Menschen sind demnach gleich, und jeder gehorcht letztlich nur seinem eigenen Willen.7 Kann folglich nur der so verstandene allgemeine Wille die Rechte des einzelnen begrenzen, deutet dies schon auf die noch näher auszuführende demokratische Komponente der Grundrechtsschranken hin. Wesentliche Grundlage heutigen rechtsstaatlichen Denkens ist des weiteren der insbesondere von Montesquieu entwickelte Gedanke der Gewaltenteilung, der zwischen der gesetzgebenden, der vollziehenden und der richterlichen Gewalt unterscheidet.8 Montesquieu gewann so als einer „der Väter des politischen Liberalismus und der konstitutionellen Bewegung"9 maßgeblichen Einfluß auf die Entstehung von Begriff und Vorbehalt des Gesetzes. Hervorzuheben sind ferner die für die Entwicklung des modernen Verständnisses von Recht und Gesetz wichtigen Schriften von Immanuel Kant.10 Für Kant war die Annahme von Recht konstituierend für den Begriff des Staates11, der auch nach seiner Vorstellung durch einen fiktiven Gesellschaftsvertrag begründet wurde. In diesem „ursprünglichen Kontrakt" geben die Menschen ihre angeborene Freiheit auf, um sie in einem rechtlichen Zustande als Teil eines Gemeinwesens sofort wieder aufzunehmen. 12 Die Idee des Staates bedinge die Existenz dreier Gewalten, der „Herrschergewalt des Gesetzgebers", der „vollziehenden Gewalt des Regierers" („zufolge dem Gesetz") und der „rechtsprechenden Gewalt des Richters".13 Wesensmerkmal der „herrschenden" Gesetzgebung, von der alles Recht ausgehen soll 14 , ist für Kant die 5 Rousseau, Du contrat social, Livre I, Chapitre VI. (Du pacte social); dieser allgemeine Wille setzt mithin das objektive Recht. 6 Rousseau, Livre II, Chapitre IV: „... elle doit partir de tous pour s'appliquer à tous." 7 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 41. 8 Montesquieu, De l'Esprit des lois, Livre XI, 6; die gesetzgebende Gewalt war fur Montesquieu „la volonté générale de l'État", die vollziehende Gewalt „l'exécution de cette volonté". 9 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 37. 10 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, §§ 43-52: Das Staatsrecht. 11 Kant, § 45 (S. 135): „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen." 12 Kant, § 47 (S. 138 f.). 13 Kant, § 45 (S. 135 f.). 14 Kant, § 46 (S. 136).

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Allgemeinheit des Gesetzes15, die sich in Geltungsgrund und Wirkung der Norm niederschlägt: „Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein."16 Die Allgemeinheit des Rechts auf Grund eines allgemeinen Volkswillens, der anders als noch bei Rousseau17 durch ein repräsentatives System ermittelt wird 18 , findet ihre tiefere Ursache in der bereits in Kants Definition des Rechts angelegten Gleichheit. Recht sei „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann."19 Die Freiheit des einen muß mit der des anderen vereinigt werden, da es sich um „gleiche Freiheit" handelt. Das dies regelnde Recht ist ein „allgemeines", da es die Freiheit abstrakt-generell für alle gleich, das heißt persönliche Privilegien verneinend, und um der Freiheit willen beschränkt.20 In der Allgemeinheit erscheint das, was allen Rechtsgenossen gemeinsam ist oder sein soll, das ist für Kant die notwendige Übereinstimmung aller Vernunftwesen. 21 Durch diese der Allgemeinheit eigene Struktur des Moralisch-Sittlichen überträgt Kant seinen am kategorischen Imperativ ausgerichteten moralischen Gesetzesbegriff in den Bereich des Staatsrechts.22 Leitgedanke der kantischen Staatstheorie ist 15 Der Gedanke der Allgemeinheit des Gesetzes ist kein neuer der Aufklärungsepoche. Die soweit ersichtlich erste Formulierung dieses Postulates findet sich bei Aristoteles, Rhetorik, Buch I Kapitel 1 Nr. 7 (zitiert nach Hofmann, in: Starck, Allgemeinheit, S. 13 f.): „Am zweckmäßigsten ist es also, daß richtig erlassene Gesetze, soweit es angeht, alles selbst genau festlegen und möglichst wenig denen überlassen, die das Urteil fallen... Das wichtigste von allem aber ist, daß das Urteil des Gesetzgebers nicht auf den Einzelfall, sondern auf das Künftige und Allgemeine zielt, während der Mann in der Versammlung oder der Richter bereits über Gegenwärtiges und Spezielles urteilt; bei ihnen kommen auch oft schon Liebe, Haß und der etwaige Vorteil unterstützend hinzu, so daß sie nicht mehr in der Lage sind, das Wahre hinreichend zu sehen." Hier kommt der Gedanke der Gleichheit als Grund für die zu fordernde Allgemeinheit des Gesetzes deutlich zum Ausdruck. 16 Kant, § 46 (S. 136); Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (137 ff.) hebt hervor, daß Kant dies nicht im Sinne einer tatsächlichen Übereinstimmung aller Bürger, sondern als Prinzip für die Gesetzgebung verstand. Erforderlich sei, daß das Volk in seiner Gesamtheit einem Gesetz zustimmen kann, worin für Kant eine Forderung nach materieller Gerechtigkeit liegt. 17 Hierauf weist Hofmann, S. 23 hin. "Kant, §52 (S. 170). 19 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre § B (S. 34 f.). 20 Hofmann, S. 26. 21 Hofmann, S. 34. 22 Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (139 ff.), der betont, dem „allgemeinen Gesetz" sei anders als unserem heutigen „formalisierten Gesetzesbegriff* ein eigener sittlicher Wert zuzuschreiben. In der Allgemeinheit des Gesetzes in diesem Sinne mag man daher zwei Nuancen erkennen, zum einen die in der gleichen Verbindlichkeit

I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt

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die Verwirklichung kategorialer Rechtsprinzipien um ihrer selbst willen.23 Das „Heil des Staats" sei deshalb „nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit ..., sondern der Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien,... nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht".24 Verwirklicht wurden diese Ideen, die wir heute als Fundament unserer Vorstellung von den Grundrechten, der Demokratie sowie vom Rechtsstaat bezeichnen können, in der politischen Realität zunächst in den noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika sowie in Frankreich. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Artikel IV bis VI der Déclaration des droits de l'homme et 25

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du citoyen von 1789. Gemäß Artikel IV dieser Erklärung ist die Freiheit des einzelnen unbegrenzt, solange er nicht anderen Schaden zufügt, in diesem Fall kann die Grenze der Freiheit nur durch das Gesetz gezogen werden. Nach Artikel V Satz 2 2 7 kann allein das Gesetz ein bestimmtes Verhalten ver- oder gebieten. Artikel VI Satz l 2 8 nimmt durch die Formulierung, das Gesetz sei Ausdruck des allgemeinen Willens, Bezug auf die Konzeption Rousseaus zum Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft (und damit zur Rechtsordnung). Schließlich stellt Artikel VI Satz 3 die gedankliche Verbindung von Gleichheit und Allgemeinheit des Gesetzes her. 29 Mit dieser Erklärung, die auch in die französische Verfassung vom 3.9.1791 Eingang fand, wurde ein umfassender Gesetzesvorbehalt postuliert, eine Idee, die in der Folgezeit Auswirkungen auf andere europäische Staaten haben sollte.

gegenüber Jedermann liegende „formale" Allgemeinheit, zum anderen die ebenfalls enthaltene moralische, das heißt „materielle" Allgemeinheit. 23 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 95. 24 Kant, § 49 (S. 141). 25 Déclaration des droits de l'homme et du citoyen vom 26.8.1789 (nach Altmann, S. 58 ff.). 26 Artikel IV: „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce, qui ne nuit pas à autrui: ainsi l'exercice des droits naturels de chaque homme n'a de bornes que celles, qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la loi." 27 Artikel V Satz 2: „Tout ce, qui n'est pas défendu par la loi, ne peut être empêché, et nul ne peut être contraint à faire ce, qu'elle n'ordonne pas." 28 Artikel VI Satz 1: „La loi est l'expression de la volonté générale." 29 Artikel VI Satz 3: „Elle (la loi) doit être la même pour tous, soit qu'elle protège, soit qu'elle punisse."

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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2. Der Schutz von Freiheit und Eigentum In Deutschland wurde der Vorbehaltsgrundsatz zuerst in der Epoche des vormärzlichen Frühkonstitutionalismus in einzelnen vorwiegend süddeutschen Landesverfassungen 30 niedergelegt. Das aufstrebende Bürgertum in Deutschland begehrte während der Befreiungskriege sowie in der Folgezeit neben der Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates vor allem eine stärkere Absicherung seiner Rechte gegen den bis dahin absolutistisch regierenden Landesherrn. Da man in der Sicherung des individuellen Lebensbereichs seit Locke den eigentlichen Rechtfertigungsgrund des Staates sah31, richtete sich dieses durch die vorangegangene Aufklärung 32 theoretisch fundierte Bestreben in erster Linie auf die Abwehr staatlicher Eingriffe. Die Gewährung von Vorteilen durch den "Staat war anders als im heutigen Leistungsstaat nicht Gegenstand der Diskussion, die Hauptforderung jener Zeit war vielmehr der Schutz von Freiheit und Eigentum vor dem Zugriff des Staates. Dieser Schutz sollte insbesondere durch das Erfordernis der formalisierten Zustimmung einer gewählten Volksvertretung zu jeder Freiheitsbeschränkung gewährleistet werden. Die Grundsätze der parlamentarischen Repräsentation, der Gewaltenteilung und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wurden so über die frühkonstitutionellen Verfassungen zur Grundlage des deutschen Verfassungsrechts. 33 Die liberale Bewegung war mit ihrer Forderung nach Begrenzung der Macht des Landesherrn, nach Schutz von Freiheit und Eigentum und nach Teilhabe der Bevölkerung an der staatlichen Willensbildung in den einzelnen deutschen Staaten unterschiedlich erfolgreich. 34 Während in den beiden großen Staaten 30

Die erste in Deutschland erlassene Verfassung war das Patent fur das Herzogtum Nassau vom 1./2.9.1814. Es folgten einzelne Verfassungen deutscher Kleinstaaten, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 317. 31 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 75 f.; siehe auch Isensee, JZ 1999, S. 265 (270 ff.). 32 Die Orientierung des deutschen staatsrechtlichen Denkens an französischen Vorbildern wurde durch den Einfluß Frankreichs auf die Rheinbundstaaten verstärkt. Die Gedanken führender englischer Theoretiker, insbesondere Lockes, fanden unter anderem durch die seit 1714 bestehende Personalunion von England und Hannover Eingang in die deutsche Rechtswissenschaft (vgl. Rosin, Gesetz und Verordnung nach badischem Staatsrecht, S. 34 ff.). 33 Vgl. Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (135). 34 Die Einführung von Landesverfassungen vollzog sich verallgemeinernd gesprochen in drei Etappen. Die erste folgte unmittelbar auf die Befreiungskriege und wurde maßgeblich angeregt durch Artikel 13 der Deutschen Bundesakte vom 8.6.1815, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 84 ff. (88): „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden." Auftrieb erhielt das konstitutionelle Begehren erneut durch die französische Julirevolution von 1830. Preußen schließlich er-

I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt

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Preußen und Österreich die nach dem Wiener Kongreß einsetzende Restauration diese Bemühungen behinderte, ergingen die ersten Verfassungen in den mittleren, überwiegend süddeutschen Staaten. In Süddeutschland wurde dies begünstigt durch das Interesse der Landesfürsten, zur Stärkung ihrer dynastischen Stellung eine zügige Integration der Bevölkerung in den ihnen während der napoleonischen Ära zugefallenen Gebieten35 zu erreichen. Der Übergang zur Repräsentatiwerfassung wurde dabei von den jeweiligen Landesfursten aus Gründen der Staatsräson bewußt als Mittel zur Bildung eines gemeinsamen Staatssinnes und damit einer einheitlichen Identität eingesetzt.36 Unter den zahlreichen in dieser Zeit ergangenen verfassungsmäßigen Ausgestaltungen des Vorbehaltsprinzips sind Titel VII § 2 der Verfassung des Königreichs Bayern vom 26.5.18183 und Artikel 65 der Verfassung fur das Großherzogtum Baden vom 22.8.181838 hervorzuheben. Mit diesen beiden frühen Formulierungen des Gesetzesvorbehaltes verwandten erstmals zwei der größeren deutschen Staaten39 in ihrer Verfassung die Klausel von „Freiheit und Eigentum", die in der Folgezeit zum Anknüpfungspunkt des Gesetzesvorbehaltes auch für diejenigen Landesverfassungen werden sollte, die sie nicht ausdrücklich in den Verfassungstext aufnahmen. Beispielsweise enthielten § 88 der Verfassung für das Königreich Württemberg vom 25.9.181940, Artikel 72 hielt trotz gegenteiliger Versprechen des Monarchen erst Ende 1848 eine (aufgezwungene) Verfassung, die dann durch die Verfassung vom 31.1.1850 revidiert wurde. 35 Zu den Einzelheiten der Gebietserweiterungen Bayerns, Württembergs und Badens durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 und in der Folgezeit: Huber, Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 47 ff., 67, 77. 36 Huber, Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 317, spricht von einer parlamentarischrepräsentativen Integration. 37 Titel VII § 2: „Ohne den Beyrath und die Zustimmung der Stände des Königreichs kann kein allgemeines neues Gesetz, welches die Freyheit der Person oder das Eigenthum des Staats-Angehörigen betrifft, erlassen, noch ein schon bestehendes abgeändert, authentisch erläutert oder aufgehoben werden.", abgedruckt in: Huber, Dokumente, Band 1, S. 155 ff. (166). 38 Artikel 65: „Zu allen anderen, die Freyheit der Personen oder das Eigenthum der Staatsangehörigen betreffenden allgemeinen neuen Landesgesetzen, oder zur Abänderung oder authentischen Erklärung der bestehenden, ist die Zustimmung der absoluten Mehrheit einer jeden der beyden Kammern erforderlich.", abgedruckt in: Huber, Dokumente, Band 1, S. 172 ff. (181). 39 Zuvor findet sich bereits in der unter Mitwirkung des Freiherrn vom Stein entstandenen Nassauischen Verfassung vom 1./2. 9.1814 folgende Passage: „...Überdies sollen wichtige, das Eigenthum, die persönliche Freiheit und die Verfassung betreffende neue Landesgesetze nicht ohne den Rath und die Zustimmung der Landstände eingeführt werden."; zitiert nach Rosin, S. 39. 40 § 88: „Ohne Beistimmung der Stände kann kein Gesetz gegeben, aufgehoben, abgeändert oder authentisch erläutert werden.", abgedruckt in: Huber, Dokumente, Band 1, S. 187 ff. (198).

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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Absatz 1 der Verfassung des Großherzogtums Hessen vom 17.12.182041, § 86 der Verfassung des Königreichs Sachsen vom 4.9.183142 und schließlich Artikel 62 der preußischen Verfassung vom 31.1.185043 ihrem Wortlaut nach zwar einen umfassenden Vorbehalt zugunsten der nunmehr periodisch gewählten Volksvertretung für alle Bereiche der Gesetzgebung. Im nachfolgenden Spätkonstitutionalismus wurde dieser weite Gesetzesvorbehalt jedoch wieder eingeschränkt, indem man den Gesetzesbegriff an der vorbezeichneten Klausel orientierte und unter Rechtssätzen „die allgemein-abstrakten Normen, welche in Freiheit und Eigentum der staatsunterworfenen Rechtssubjekte eingreifen", verstand 4 4 Ohne die Möglichkeit einer Delegation an den Verordnungsgeber auszuschließen, entwickelte sich so die Vorstellung, daß jede Eingriffe in Freiheit und Eigentum bewirkende Norm als formelles Gesetz ergehen müsse und jeder Einzeleingriff einerförmlichen gesetzlichen Ermächtigung bedürfe. 45 Diese im Anschluß an Otto Mayer 46 als Vorbehalt des Gesetzes bezeichnete, auf der Freiheits- und Eigentumsklausel aufbauende Konzeption prägte Theorie und Praxis der deutschen Rechtswissenschaft bis zur Frühzeit des Grundgesetzes und wurde erst durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgelöst.

3. Die strafrechtliche

Wurzel des Vorbehaltsgedankens

Die Entwicklung des Gesetzesvorbehaltes verlief nicht in allen Rechtsgebieten einheitlich. Eine eigenständige, geistig auf der Theorie vom Gesellschaftsvertrag fußende Wurzel hat der Vorbehaltsgedanke im Strafrecht, in dem sehr früh eine strikte Gesetzesbindung gefordert wurde. Grundlegend wirkte die 1764 erschienene Schrift „Dei delitti e delle pene" von Cesare Beccaria, der zum einen die grundsätzliche Verantwortlichkeit des Gesetzgebers betonte47, zum anderen bereits die verwandte Aufgabe der 41

Nachweis bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 221 ff. (230). Fundstelle: Huber, Dokumente, Band 1, S. 262 ff. (278). 43 abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 501 ff. (507). 44 Zum Beispiel Thoma, in: Anschütz / Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Band, § 76, S. 223, im Anschluß an die im 19. Jahrhundert entstandenen Begrifflichkeiten. 45 Thoma, S. 227 ff., zur Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. 46 Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, S. 69 ff. 47 Beccaria, Dei delitti e delle pene, Kapitel III (Alff, S. 61), verlangt „..., daß allein die Gesetze die Strafe für die Verbrechen bestimmen können, und diese Befugnis kann nur dem Gesetzgeber zustehen, der die gesamte durch einen Gesellschaftsvertrag vereinigte Gesellschaft repräsentiert." In Deutschland wurde diese Einsicht von Paul 42

I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt

47

Verdeutlichung der gesetzlichen Strafandrohung erkannte und so, indem er vor den Gefahren zu unbestimmter und deshalb auslegungsbedürftiger Strafgesetze warnte 48, das dem Vorbehaltsprinzip zugehörige Problem der Normdichte ansprach.49

4. Die „steuerliche Herkunft"

des Gesetzesvorbehaltes

Auch das Steuerrecht trug zur Entstehung des Vorbehaltsgedankens bei. 50 Zunächst konnte sich in Deutschland infolge der Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs keine einheitliche Steuerhoheit ausbilden, diese verblieb bei den einzelnen Landesfursten. Gelegentliche Versuche, eine allgemeine Reichssteuer einzuführen, waren zum Scheitern verurteilt. 51 In den Ländern wurde die staatliche Finanzgewalt bis in die Zeit des Absolutismus hinein geprägt durch den Dualismus von Landesherr und Landständen. Auf der einen Seite erzielte der Landesherr im Rahmen der sogenannten Kammerwirtschaft die ihm auf Grund eigenen Rechts zustehenden Einnahmen aus der Bewirtschaftung seiner auch als Domänen bezeichneten Kammergüter, aus den Regalien, zu denen insbesondere die Zölle, das Münzregal und die Finanzmonopole zählten, und aus den gewohnheitsrechtlich anerkannten sogenannten ordentlichen Steuern.52 Auf der anderen Seite stand das durch die Einführung zusätzlicher außerordentlicher Steuern gekennzeichnete ständische Steuerwesen, das aufkam, als der Kammerertrag den öffentlichen Finanzbedarf seit Beginn der Neuzeit, besonders seit der Einführung stehender Heere ab dem 17. Jahrhundert, nicht mehr decken konnte.53 Diese Steuern bedurften jeweils der Bewilligung der

Johann Anselm Ritter von Feuerbach durch dessen Formulierung „nulla poena sine lege" verbreitet und findet sich heute in Artikel 103 Absatz 2 GG. 48 Beccaria , Dei delitti e delle pene, Kapitel IV (Alff, S. 63 ff.). 49 Beccaria , Dei delitti e delle pene, Kapitel V (Alff, S. 66 f.), beklagt zudem, die Strafgesetze seien „in einer dem Volke fremden Sprache geschrieben", was zu einer erhöhten Zahl von Straftaten führe: „Je größer die Zahl jener sein wird, die das unantastbare Buch der Gesetze verstehen und es in Händen haben, desto weniger häufig werden die Verbrechen sein". 50 Grundlegend Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, S. 35 ff.; vgl. ferner Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: HdbFW, Band I, S. 3 ff. 51 Prominentestes Beispiel ist die Erhebung des 1495 auf dem Reichstag zu Worms unter dem Eindruck der Türkeneinfalle beschlossenen „gemeinen Pfennigs", die letztlich am Widerstand der Stände scheiterte; Einzelheiten bei Häuser, S. 31. 52 Mußgnug, Haushaltsplan, S. 40 ff.; Beispiele bei Häuser, S. 34 ff. 53 Mußgnug, Haushaltsplan, S. 48 ff.

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

48

Stände54 und waren zunächst nur im Einzelfall fur die Finanzierung konkreter Einzelvorhaben vorgesehen. Nach und nach entstand jedoch ein Katalog von regelmäßig wiederkehrenden Bewilligungspflichten der Stände, denen eine freie Entscheidung nur noch hinsichtlich der Höhe und der Erhebungsmodalitäten verblieb.55 Im Zuge der sich verstärkenden Ausbildung der Territorialherrschaft verbunden mit dem Ausbau der landesherrlichen Verwaltung verloren die Stände hierbei an Einfluß, was insbesondere auf ihre sich mangels eines entsprechenden Haushaltsrechts zunehmend verschlechternden Kontrollmöglichkeiten zurückzufuhren war. 56 Der Finanzdualismus wurde jedoch endgültig erst im Absolutismus durch die Einfuhrung einer einheitlichen Finanzverwaltung einschließlich eines Etatwesens überwunden. In Deutschland geschah dies zuerst in Preußen, das im Jahre 1722 das „General-Ober-FinanzKriegs- und Domänendirektorium" einrichtete.57 Diese Entwicklung wurde begleitet durch das Auftreten von im Dienste der Verwaltung stehenden finanzwirtschaftlichen Spezialisten, den sogenannten Kameralisten, die begannen, das Schatzwesen der Fürsten im Sinne des Rationalismus der Aufklärungsepoche zu systematisieren.58 In der Epoche des Frühkonstitutionalismus versuchte die aufkommende liberale Bewegung, die Rechte der Volksvertretung gegenüber der demokratisch nicht legitimierten monarchischen Exekutive zu stärken. Hierzu gehörte auch die Einwirkung auf die staatliche Finanzgewalt, die zuletzt weitgehend ohne Einflußmöglichkeiten der Landstände, die außerdem überwiegend von Angehörigen des Adels, nicht jedoch des aufstrebenden Bürgertums beherrscht wurden, vom absolutistischen Souverän ausgeübt wurde. Erforderlich war zu diesem Zwecke eine stärkere Mitwirkung eines gewählten Parlaments bei der Steuererhebung und bei der Planung der Mittelverwendung. In den vormärzlichen Verfassungen fanden sich als Ausdruck dieser Bestrebungen Regelungen sowohl der Steuerbewilligung als auch eines parlamentarischen Budgetrechts.

54

Ein sehr weitgehendes Bewilligungsrecht findet sich im zwischen dem Württemberger Herzog Ulrich und den Landständen geschlossenen Tübinger Vertrag vom 8.7.1514, abgedruckt bei Dürig, Gesetze des Landes Baden-Württemberg, Anhang 1. Gemäß diesem Vertrag durfte der Herzog keine „Schätzung" (von Häuser, S. 36, mit dem Begriff der direkten Besteuerung gleichgesetzt) ohne die Zustimmung der Stände vornehmen. 55 Mußgnug, Haushaltsplan, S. 49;finanziert wurden vor allem die Abgaben, die der Landesherr dem Reich schuldete, aber auch Militärlasten. Bemerkenswert ist die von Mußgnug in Fußnote 42 erwähnte „Prinzessinnensteuer", mit der die Stände die Mitgift der Töchter der regierenden Dynastie zu bezahlen hatten. 56 Mußgnug, Haushaltsplan, S. 58 ff. 57 Mußgnug, Haushaltsplan, S. 66 ff. 58 Häuser, S. 40 f.; vgl. hierzu von Justi, Staatswirtschaft, Teil II.

I. Die Entstehung der Lehre vom Gesetzesvorbehalt

49

Steuerpflichten wurden durch die Volksvertretung, insoweit noch in der Tradition des ständischen Steuerwesens stehend, durch periodische Steuerbewilligungen festgesetzt 59, die noch nicht in die ordentliche Gesetzgebung eingegliedert waren. Da die Entscheidung über die Begründung von Steuerpflichten damit erstmalig in den Händen gewählter Repräsentanten des Volkes lag, wird dieses Steuerbewilligungsrecht gelegentlich auch als „steuerliche Herkunft" des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes bezeichnet.60 Daneben wurde in den vormärzlichen Verfassungen erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte auch die Haushaltsplanung normiert 61, die jeweils in systematischem Zusammenhang mit dem Steuerbewilligungsrecht stand. Die Landesverfassungen schrieben den Regierungen vor, Budgets aufzustellen und sie den Parlamenten regelmäßig zur Einsicht und Prüfung 62, mitunter sogar schon zur Bestätigung6 vorzulegen. Diese frühkonstitutionellen Budgets unterschieden sich von heutigen Haushaltsgesetzen allerdings dadurch, daß sie nur die Grundlage der Steuerbewilligung darstellten, eine rechtliche Bindung der Exekutive an die gewählten Etatansätze mit Ausnahme Württembergs jedoch nicht eintrat.65 Immerhin bewirkten sie eine größere Transparenz der

59

Titel VII §§ 3,5 der Verfassung fur Bayern vom 26.8.1818 (Huber, Dokumente, Band 1, S. 166): Bewilligung fur sechs Jahre; §§ 53, 54 der badischen Verfassung vom 22.8.1818 CHuber, Dokumente, Band 1, S. 179): Bewilligung in der Regel fur zwei Jahre; § 109 der Verfassung für Württemberg vom 25.9.1819 {Huber, Dokumente, Band 1, S. 200); § 96 der sächsischen Verfassung vom 4.9.1831 (Huber, Dokumente, Band 1, S. 279). 60 Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 104 ff.; Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 15 f.; beide mit weiteren Nachweisen. 61 Mußgnug, Haushaltsplan, S. 79. 62 Titel VII § 4 der Verfassung Bayerns vom 26.8.1818 (Huber, Dokumente, Band 1, S. 166) sieht eine Vorlage und Prüfung des Budgets vor. § 55 der badischen Verfassung vom 22.8.1818 (Huber, Dokumente, Band 1, S. 179) verpflichtet die Regierung zur Übergabe des Etats. §§ 98, 99 der Verfassung Sachsens vom 4.9.1831 (Huber, Dokumente, Band 1, S. 279 f.) regeln die Mitteilung und Erläuterung des Budgets durch die Regierung, § 100 gewährt den Ständen hierzu ein Erklärungsrecht. 63 § 111 der württembergischen Verfassung vom 25.9.1819 (Huber, Dokumente, Band 1, S. 200) bestimmt eine Vorlage des Etats zur Prüfung durch die Stände sowie eine Erläuterungspflicht der Minister. § 112 sieht weiterhin eine Anerkennung und Annahme des Etats durch die Stände vor. 64 Vgl. Mußgnug, Haushaltsplan, S. 115 ff, der belegt, daß sich in Württemberg anders als in den übrigen deutschen Ländern im Anschluß an die Formulierung des §112 der Verfassung ein gewohnheitsrechtliches Ausgabenbewilligungsrecht entwickelte. 65 Mußgnug, Haushaltsplan, S. 95 ff., zu den Rechts Wirkungen des dem Parlament vorgelegten Budgets S. 117 ff. 4 Seiler

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

50

staatlichen Mittelverwendung, wurden die Haushaltsansätze im Absolutismus doch noch als Staatsgeheimnis angesehen.66 Der Durchbruch zum modernen System der Einordnung des Steuerrechts in die ordentliche Gesetzgebung und der verbindlichen Feststellung des Haushalts durch Gesetz erfolgte erst 1848/50 in Preußen. Gemäß Artikel 100 der revidierten Verfassung vom 31.1.185067 durften Steuern und Abgaben nur erhoben werden, „soweit sie in den Staatshaushalts-Etat aufgenommen oder durch besondere Gesetze angeordnet sinct\ Der letzte Halbsatz erlaubte es, Steuern unbefristet durch Gesetz ohne periodische Bewilligung festzulegen. Angesichts des gleichzeitig erlassenen Artikel 109, nach dem die bestehenden, den Adel begünstigenden Steuern und Abgaben bis zu einer Gesetzesänderung, zu der es nach Artikel 62 der Zustimmung des Königs und des vom Adel beherrschten Herrenhauses bedurfte, forterhoben wurden, und in Anbetracht der dem Parlament fehlenden Machtmittel, das ihm mehr Einfluß vermittelnde Steuerbewilligungsrecht durchzusetzen, bestand dieses nur noch zum Schein fort. 68 Von nun an war das Steuerrecht in die ordentliche Gesetzgebung eingegliedert und wurde folglich an der allgemeinen Klausel von Freiheit und Eigentum gemessen.69 Schwächte Artikel 100 somit die Stellung des (in Preußen allerdings erst neu geschaffenen) Parlaments im Vergleich zu den vormärzlichen Verfassungen, so bewirkte Artikel 99, nach dem der Haushalt jährlich durch ein Parlamentsgesetz festgestellt werden mußte, die Ausgaben des Staates also eigens zu bewilligen waren, einen (jedenfalls theoretischen70) Machtzuwachs der Volksvertretung. Diese Regelung wurde später in Artikel 69 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16.4.187171 sowie in Artikel 85 WRV 72 übernommen und findet sich heute in Artikel 110 Absatz 2 GG.

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So Mußgnug, Haushaltsplan, S. 76, zum Beispiel Preußens. Abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 501 ff. 68 Zu den Einzelheiten Mußgnug, Haushaltsplan, S. 155 f. 69 Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, S. 316. 70 Wie schwach dieser Machtzuwachs in der Praxis war, zeigte der preußische Verfassungskonflikt (1862-66), in dem die nach Artikel 62 für das Haushaltsgesetz erforderliche Einigung von König, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus nicht erreicht werden konnte. Näheres bei Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 275 ff.. Das Grundgesetz sieht für ähnliche Fälle in Artikel 111 GG die Möglichkeit eines Nothaushaltes vor (siehe hierzu BVerfGE 45, 1 (31 ff.)). 71 Abgedruckt in: Huber, Dokumente, Band 2, S. 384 ff. 72 Nachweis bei: Huber, Dokumente, Band 4, S. 151 ff. 67

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

51

II. Der Übergang von der Klausel von Freiheit und Eigentum zum Wesentlichkeitsvorbehalt Bis in die Frühzeit des Grundgesetzes wurde die Lehre vom Gesetzesvorbehalt durch die traditionelle Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum beherrscht.73 Unter der Geltung des Grundgesetzes, aber auch schon der Weimarer Reichsverfassung, hatte sich jedoch inzwischen ein Verfassungsverständnis entwickelt, das eine Neubewertung des Begriffs und damit auch des Vorbehaltes des Gesetzes erforderlich machte. Rechtsprechung und Schrifttum sind dabei verschiedene Wege gegangen.74

1. Der Wandel des Gesetzesbegriffs als Ausdruck eines geänderten Verfassungsverständnisses

a) Der Gesetzesbegriff im (späten) Konstitutionalismus Die Verfassungen des 19. Jahrhunderts, dem Zeitalter des Konstitutionalis75

76

mus, wurden durch das monarchische Prinzip geprägt. So lag der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16.4.1871 nach ihrer Präambel der „ewige Bund" unabhängiger Landesfursten zugrunde.77 Das Staatsvolk war nach damaliger Sichtweise noch nicht Träger der Souveränität78, sondern Begünstigter 73

Bereits BVerfGE 8, 155 (167) hielt die Formel vom „Eingriff in Freiheit und Eigentum" wegen der Hinwendung des Grundgesetzes „zu einer egalitär-sozialstaatlichen Denkweise" fur „zweifelhaft", sah die Frage einer Neubewertung des Gesetzesvorbehaltes dann aber nicht als entscheidungserheblich an. In BVerfGE 8, 274 (325 ff) knüpft der gleiche Senat hingegen kommentarlos an den Eingriffsgedanken an. 74 Eingehend hierzu Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 62, RN 7 ff. 75 Artikel 57 der Wiener Schlußakte vom 15.5.1820, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 91 ff. (99), verpflichtete alle deutschen Staaten, die Staatsgewalt in der Person des souveränen Fürsten zu vereinigen und hiervon nicht durch landständische Verfassungen abzuweichen. Der Begriff des „monarchischen Prinzips" entstammt der 1845 erschienenen gleichlautenden Schrift von Friedrich Julius Stahl. 76 Vgl. zum Nachfolgenden: Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 ff.; Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt; fur die Zeit vor der Reichsgründung Wahl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band I, § 1. 77 Nachweis bei Huber, Dokumente, Band 2, S. 385. 78 Insoweit blieb die Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts hinter den Forderungen der Aufklärung zurück. Weitergehende Bemühungen zur Demokratisierung konnten sich in Deutschland infolge der Restauration nach den Befreiungskriegen und auf Grund

52

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

der Verfassung, die „zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes" erging. Anschütz deutete dies in Abgrenzung zur demokratischen Richtung der Aufklärungsepoche als die monarchische Richtung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, nach welcher der Staat durch einen Unterwerfungsvertrag der freien und gleichen Individuen begründet wird, kraft dessen sich die Allgemeinheit ihrer Souveränität entäußert und sich dem den souveränen Gemeinwillen von nun an verkörpernden Herrscher unterworfen hat.79 Gaben die souveränen Herrscher der deutschen Staaten die Verfassung, so konnte diese folglich nur von den Fürsten selbst gesetzte Schranke monarchischer Machtvollkommenheit sein, nicht jedoch über diese Selbstbeschränkung hinausgehende Grundlage der gesamten Gesellschaftsordnung. Die Tendenz der damaligen Staatsrechtslehre ging, wie Carl Schmitt später kritisch anmerkte, auch nur „dahin, den Staat womöglich auf ein Minimum zu beschränken, ... ihn überhaupt gegenüber der Gesellschaft und ihren Interessengegensätzen möglichst zu neutralisieren" 80, ein Grundverständnis, das als Dualismus von Monarch und Volk, das heißt von „Staat" und „Gesellschaft", bezeichnet worden ist.81 Die Reichsverfassung von 1871 verzichtete daher weitgehend auf inhaltliche Vorgaben in Form von zu verwirklichenden materiellen Verfassungsprinzipien wie Staatszielen oder Wertentscheidungen der (nur in den Landesverfassungen, nicht jedoch in der Reichsverfassung erwähnten) Freiheitsrechte 82, sondern regelte als Organisationsnorm die Ordnung der staatlichen Institutionen zur Ermittlung des Staatswillens.83 Das Hauptanliegen der liberalen Bewegimg, der Schutz des einzelnen vor Eingriffen der monarchischen Exekutive in seine Rechte, daß heißt in Eigentum und Freiheit, wurde entsprechend den frühkonstitutionellen Verfassungen der Gesetzgebung anvertraut. Als Folge dessen richtete sich der Gesetzesvorbehalt allein an dieser Aufgabe aus. Da aber einzelne der zuvor ergangenen Landesverfassungen sprachdes Scheiterns der in der Frankfurter Paulskirche tagenden Nationalversammlung nicht durchsetzen. 79 Anschütz, Die gegenwärtigen Theorieen über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts, S. 160 ff. (162). Anschütz sieht diese beiden Richtungen als „verschieden geartete Kinder eines Geistes" an. Dieser Geist ist fur ihn „die Staatstheorie des Naturrechts" (S. 161 f.). 80 Schmitt, Carl, Der Hüter der Verfassung, S. 78. Dies nennt Hofmann , S. 31, „ein durch und durch defensives Konzept". 81 Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (131); Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 122 f., sieht in diesem Dualismus eine Abschwächung des an sich bestehenden monarchischen Prinzips durch „die Volkssouveränitätsidee, die sich anderswo schon völlig, in Deutschland vorerst nur zum Teil Bahn gebrochen hatte". 82 Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 ff. (142). 83 Vgl. hierzu Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 ff. (139).

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

53

lieh einen umfassenden Vorbehalt der Zustimmung der Landstände zu allen Gesetzen enthielten84, sich also ein ungewollter „Überschuß" an parlamentarischen Befugnissen ergab85, beschränkte man den Begriff des Gesetzes auf jene Regelungen, die der Verantwortung der Volksvertretung unterliegen sollten. Der Gesetzesvorbehalt zerteilte nicht mehr den Bereich der Gesetzgebung, sondern umschrieb ihn. Gesetzesbegriff und -vorbehält liefen so parallel und bezeichneten gleichermaßen die Grenze zwischen den Zuständigkeiten von Legislative und monarchischer Exekutive, der im übrigen die Organisationsgewalt und ein selbständiges Verordnungsrecht zustanden. 7 oo

Der „historisch-konventionelle" , nur in diesem geschichtlichen Zusammenhang zu verstehende Gesetzesbegriff des Spätkonstitutionalismus wurde beherrscht durch die von Laband89 begründete Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Gesetz90, die „maßgebliche Kraftlinie" 91 der damaligen staatsrechtlichen Dogmatik. Für das im Rahmen des Gesetzesvorbehaltes erhebliche materielle Gesetz forderte Laband einçn „Befehl, daß der in 92

dem Gesetz enthaltene Rechtssatz befolgt werden soll". Die materielle Bedeutung einer Rechtsvorschrift liege hiernach darin, „die durch das gesellige Zusammenleben der Menschen gebotenen Schranken und Grenzen der natür84

Dies galt namentlich fur Preußen, das größte Bundesland. Nachweise oben § 2 I. 2.). 85 Bezeichnender Ausdruck der damaligen Einstellung zum Parlamentarismus war der preußische Verfassungskonflikt (1862-66; vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 269 ff.), vor dessen Hintergrund die Labandsche Lehre vom „nur formellen Gesetz" zu sehen ist. 86 Für Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 75, verkannte dies die historischen Tatsachen, da man bei Einfuhrung der Freiheits- und Eigentumsklausel noch einen weiteren Gesetzesbegriff vorausgesetzt hatte. Auch die Entwürfe zu den späteren Landesverfassungen enthielten zunächst eine solche einschränkende Klausel, wurden aber jeweils auf Verlangen der Stände erweitert (S. 78). Alle Gesetze, nicht nur Eingriffsregelungen, sollten der Zustimmung der Volksvertretung unterliegen. Das Gesetz konnte sich jedoch auf das Grundsätzliche beschränken und die Einzelheiten der Verordnung überlassen (S. 79). 87 Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 ff. (137). 88 Thoma, in: Festgabe fur Otto Mayer, S. 176 ff., weist nach, daß dieser Begriff nicht logisch zu bestimmen sei, sondern „dem Geiste eines staatlich unreifen Geschlechts" entspringe, „das von seinem Landtagen lediglich Schutz gegen den Staat und gegen unbedachte Neuerungen erwartet". 89 Laband selbst wurde beeinflußt durch Carl Friedrich von Gerber. Hierzu Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 ff. (138); Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 211 ff. 90 Grundlegend Laband, Staatsrecht, Band 2, S. 1 ff.. Zur Labandschcn „Lehre vom doppelten Gesetzesbegriff' Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 226 ff. 91 Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (136). 92 Laband, Band 2, S. 4.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

liehen Handlungsfreiheit des Einzelnen zu bestimmen." Den Begriff des „Rechtssatzes" engte Laband ein, indem er jenen des „Rechts" in Anknüpfung an privatrechtliche Vorstellungen auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Rechtssubjekten als Willensträgern beschränkte und so wegen der Einheitlichkeit des Staates („Impermeabilität") dessen Innenbereich gänzlich ausnahm.94 Kein Wesensmerkmal des materiellen Gesetzes war fur Laband hingegen die Allgemeinheit95 des Gesetzes. Zwar habe das Gesetz „gewöhnlich einen allgemeinen Rechtssatz zum Inhalt", es sei jedoch „mit dem Begriff des Gesetzes vereinbar, daß dasselbe einen Rechtssatz aufstellt, der nur auf einen einzigen Tatbestand anwendbar ist oder nur ein einzelnes Rechtsverhältnis regelt". 96 Auch Georg Jellinek sah in der materiellen Wirkung eines Gesetzes „die bestimmende Einwirkung auf den Willen der dem Gesetze Unterworfenen" 97, einen Rechtssatz enthalte es nur, wenn es „der socialen Schrankenziehung wegen erlassen worden" ist 98 . Nicht erforderlich sei die Allgemeinheit des 99 Gesetzes. In diesen Formulierungen wird zwar die Klausel von Eigentum und Freiheit noch nicht als Wesensmerkmal des materiellen Gesetzes bezeichnet, die inhaltlichen Aussagen enthalten jedoch eine deutliche Verwandtschaft zum Begriff des Eingriffs. Dies wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, daß die durch formelles Gesetz erfolgende Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben sowie die Leistungsverwaltung vom Begriff des materiellen Gesetzes ausgenommen wurden.10 In der Folgezeit wurde der Gesetzesbegriff insbe" Laband, Band 2, S. 73. 94 Laband, Band 2, S. 181 f.: „Regeln dagegen, die sich innerhalb der Verwaltung selbst halten, die in keiner Richtung einem außerhalb derselben stehenden Subjekte Beschränkungen auferlegen oder Befugnisse einräumen, ihm nichts gewähren und nichts entziehen, ihm nichts gebieten und nichts verbieten, sind keine Rechtsvorschriften." Zur Kritik an Labands Staatsverständnis von Gierke, in: Schmollers Jahrbuch, 1883, S. 29 ff. 95 Der Begriff des Allgemeinen ist hier nicht im Sinne Kants zu verstehen, sondern bezieht sich ausschließlich auf die Zahl der geregelten Sachverhalte. 96 Laband, Band 2, S. 2. In Fußnote 2 merkt Laband an, daß dieses Verständnis auch zu seiner Zeit „sehr bestritten" war. Die Gegenposition, nach der Einzelverfügungen in Gesetzesform materiell keine Gesetzgebung darstellen, vertrat Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 11 f. 97 Jellinek, Georg, Gesetz und Verordnung, S. 250. 98 Jellinek, Georg, Gesetz und Verordnung, S. 240. 99 Jellinek, Georg, Gesetz und Verordnung, S. 236 ff. (Bestätigung der Ansicht Labands). 100 Jellinek, Georg, Gesetz und Verordnung, S. 240, nennt als Beispiele unter anderem die durch (formelles) Gesetz vorgenommene Anordnung der Aufnahme einer Staatsanleihe, den Verkauf von Staatsgütern, die Errichtung einer Universität, die Gewährung einer Unterstützung an die Opfer einer Überschwemmung, die Erteilung einer Eisenbahnkonzession sowie die Einbürgerung eines Ausländers, die jeweils kein materielles Gesetz darstellen sollen.

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

55

sondere von Anschütz weiterentwickelt, der den Rechtssatzbegriff zunächst noch ganz im Sinne der Lehren Labands und Jellineks bestimmt hatte101. Er definierte den Begriff des materiellen Gesetzes sowie die gleichbedeutende Bezeichnung des Rechtssatzes nun durch den damals noch auf das allgemeine Gewaltverhältnis102 beschränkten103 Begriff des Eingriffs in Freiheit und Eigentum.104 Diese Gleichsetzung von Rechtssatzbegriff und Freiheits- und Eigentumsklausel beeinflußte trotz aller Kritik 105 die deutsche Staatsrechtslehre bis in die Weimarer Republik106 und war maßgebliche Grundlage der damaligen Vorstellung vom Gesetzesvorbehalt. Die Verfassung von 1871 war somit nur Schranke der monarchischen Exekutive und bloße Organisationsnorm ohne materielle Vorgaben. Die Hauptaufgabe der Gesetzgebung wurde darin gesehen, die bürgerliche Gesellschaft, deren Interessen als dem Staat entgegengesetzt betrachtet wurden, gegen die grundsätzlich umfassend gedachte exekutive Macht zu schützen. Der Begriff des materiellen Gesetzes wurde folgerichtig durch die Klausel von Eigentum und Freiheit definiert und auf das staatliche Außenverhältnis beschränkt. Mangels materieller Wertentscheidungen der Verfassung unterlag der Gesetzgeber bei der Normierung von Eingriffen in Eigentum und Freiheit keinen inhaltlichen Beschränkungen, insbesondere war er selbst nicht an die Grundrechte gebunden. geschichtlichen 101

108

107

Dieses Verfassungsverständnis begründete einen die

und philosophischen

109

Bezüge bewußt ausklammernden

Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 253 ff. m.w.N. 102 Die Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Gewaltverhältnis geht (neben Laband) insbesondere auf Otto Mayer, Verwaltungsrecht, S. 101 f. (zum Verwaltungsakt) zurück. 103 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 273 ff. 104 Anschütz, Die gegenwärtigen Theorieen über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts, S. 169: „... die Formel „Gesetze, welche die Freiheit der Personen und das Eigentum betreffen" (schränkt) den materiellen Gesetzesbegriff nur scheinbar ein, in Wahrheit definiert sie diesen Begriff... in zutreffender und erschöpfender Weise. Denn es ist das Wesen jedes Gesetzes im materiellen Sinn, jeder Rechtsvorschrift, daß sie der persönlichen Freiheit im Allgemeinen und dem Privateigentum insbesondere Maß und Schranken setzt." 105 Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 282 ff. 106 Noch in Weimarer Zeit definierte zum Beispiel Thoma, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, 2. Band, § 76, S. 223, Rechtssätze als „allgemein-abstrakte Normen, welche in Freiheit und Eigentum ... eingreifen". 107 Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (144), spricht von der „Lehre von der Allmacht des Gesetzgebers". 108 Im Gegensatz hierzu sah die ältere historische Rechtsschule alles Recht als geschichtlich gewordenes Recht an; vgl. von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit fur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. 109 Noch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 2 (S. 19), betrachtete die Rechtswissenschaft als einen Teil der Philosophie.

56

§ 2: Der allgemeine Parlaments vorbehält

staatsrechtlichen Positivismus110, in dem das Gesetz seine „moralische Allge111

meinheit" verlor und der Gesetzesvorbehalt nur als Organisationsregel gesehen wurde. An die staatsrechtliche Dogmatik wurden in dieser Epoche, wie Laband anmerkte, keine anderen Aufgaben gestellt „als die gewissenhafte und vollständige Feststellung des positiven Rechtsstoffes und die logische Beherrschung desselben durch Begriffe". 112

b) Der Wandel zum modernen Gesetzesbegriff Erst durch die Weimarer Verfassung vom 11.8.1919 wurde das Volk zum Staatssouverän.113 Mit dem Übergang zur Demokratie gedieh die Verfassung zum Grundgesetz für die gesamte staatliche Ordnung und das gesellschaftliche Leben.114 Das Parlament wurde als Vertretung des Volkes zum Zentralorgan der Willensbildung des demokratischen und zunehmend auch gestaltend tätigen115 Staates, wodurch das Gesetz als parlamentarisches Handlungsinstrument eine rechtstheoretische Aufwertung erfuhr. Die Gesetzgebung war nicht mehr Schranke der Staatsgewalt, sondern Staatsfunktion, weshalb die auf das Außenverhältnis fixierte Impermeabilitätstheorie so keinen Bestand haben konnte.116 Gleichzeitig erhoben sich vermehrt Stimmen gegen den bislang herrschenden staatsrechtlichen Positivismus, die der Verfassung zunehmend auch materielle Vorgaben entnahmen, durch die alle staatlichen Organe ein-

110 In dieser Abkehr von einer geschichtlichen, philosophischen und auch soziologischen Betrachtungsweise, die das den Begriffen innewohnende Vorverständnis nicht erkennen läßt, liegt der methodische Hauptvorwurf von Labands prominentestem Gegenspieler von Gierke , in: Schmollers Jahrbuch, 1883, S. 18 ff. und 22 ff. 1,1 Vogel, VVDStRL 1965 (24), S. 125 (142). Auch soweit der Gesetzesbegriff im Positivismus entgegen Laband und Georg Jellinek wie beispielsweise bei Otto Mayer, S. 4, 11 f., durch das Merkmal der Allgemeinheit bestimmt wurde, lag hierin nach Vogel, S. 142, eine „lediglich formale Allgemeinheit". 112 Laband, Staatsrecht, Vorwort zur 2. Auflage, abgedruckt in Band 1 der 5. Auflage, S. IX. 1,3 Die Präambel der Weimarer Reichsverfassung besagt: „Das Deutsche Volk ... hat sich diese Verfassung gegeben". Artikel 1 Absatz 2 WRV lautet: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus" CHuber, Dokumente, Band 4, S. 151). 114 Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (144). 115 Ausdruck gestalterischer Staatstätigkeit ist die in Artikel 153 Absatz 3 WRV (Huber, Dokumente, Band 4, S. 174) erstmals festgelegte Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die vom reinen Eingriffsdenken abkehrt und auf eine Wohlfahrtsverantwortung des Inhalt und Schranken des Eigentums durch (materielle) Gesetze (Absatz 1 Satz 2) bestimmenden Staates hindeutet. 116 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 187 f.

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

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schließlich des Gesetzgebers gebunden sein sollten.117 Hauptvertreter eines solchen „materiellen" Verfassungsverständnisses waren Rudolf Smend118 und Carl Schmitt119. 120

Smend wandte sich gegen die „liberale Staatsfremdheit" und sah im Staat 121 122 einen „realen Willensverband" , der einem ständigen Integrationsprozeß unterliege. Legitimitätsbegründend seien die nicht positivistisch festzustellenden konkreten Werte, „die die Geltung einer bestimmten staatlichen Ordnung einerseits fordern und andererseits tragen". 123 Die Verfassung sei „die Rechtsordnung des Staates, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses".124 Maßgeblich sei nicht die Verfassung als das „ruhende, beharrende Moment im staatlichen Leben", sondern das „sich immerfort erneuernde Verfassungsleben". 125 Die geschriebene Verfassung könne nur „Anregung und Schranke" des Verfassungslebens sein.126 Nach Smend kommt der Gesetzgebung dabei als „Zentralfunktion des staatlichen Systems und des Rechtssystems"1 7 eine besondere Rolle zu. Er spricht von „der immanent legitimierenden Kraft des Gesetzes (deren großartigster Ausdruck immer die Theorie von der volonté générale bleibt), den Staat in die vom Naturrecht geforderte rechtfertigende Beziehung zur Welt der Werte zu setzen".128 Ausgangspunkt der Lehren Carl Schmitts ist sein „positiver Verfassungsbegriff'. 12 Die Verfassung sei die jeder Normierung vorausliegende „grundlegende politische Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt, das heißt in der Demokratie des Volkes" und müsse vom schriftlich niedergelegten „formalen" Verfassungsgesetz unterschieden werden. Das Verfassungsgesetz, dessen Gültigkeit sich von der Verfassung ableite131, enthalte 1,7

Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (141 ff., 143) spricht vom „Weimarer Methoden- und Richtungsstreit", in dem sich die „positivistische Schule" und die „geisteswissenschaftliche Richtung" gegenüberstanden. 118 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht. 119 Schmitt, Verfassungslehre. 120 Smend, S. 10. 121 Smend, S. 8 ff. 122 Smend, S. 18, verwendet unter Bezugnahme auf Renan das Bild des sich täglich wiederholenden Plebiszits. 123 Smend, S. 45 ff. (52); Smend benennt beispielsweise den Wohlfahrtszweck (S. 83). 124 Smend, S. 78. 125 Smend, S. 81. 126 Smend, S. 85. ni Smend, S. 101. 128 Smend, S. 102. 129 Schmitt, Verfassungslehre, S. 20 ff. 130 Schmitt, Verfassungslehre, S. 23. 131 Schmitt, Verfassungslehre, S. 76.

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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nicht notwendig die Grundaussagen der staatlichen Ordnung 132, sondern jene Entscheidungen, die von der Nationalversammlung mehrheitlich zum Verfassungsgesetz erklärt wurden und als Folge dessen nur erschwert abänderbar sind.13 Die Verfassung hingegen gebe die politischen Grundentscheidungen134 vor, die ihren Niederschlag im Verfassungstext finden können, aber nicht müssen und die auch durch Gewohnheitsrecht, andauernde Übung oder die Reaktion des Volkes in Präzedenzfällen getroffen werden können.135 Wichtigste Folgerung hieraus ist die Abgrenzung von vornormativer „Verfassunggebung" und auf die Veränderung des Verfassungsgesetzes beschränkter „Verfassungsänderung" 136. Letztere ist der verfaßten Staatsgewalt durch das Verfassungsgesetz zugewiesen und wie dieses von der Verfassung abhängig. Die politische Grundentscheidung ist damit anders als im Positivismus dem Zugriff der verfaßten Staatsgewalt und folglich auch dem Gesetzgeber entzogen.137 Demgemäß wurde das Bekenntnis der Weimarer Verfassung zum bürgerlichen Rechtsstaat138 einschließlich der Garantie der Grundrechte und der Gewaltenteilung für den Gesetzgeber unverfügbar. Wurden Eigentum und Freiheit im Konstitutionalismus noch allein durch das Gesetz geschützt, so lenkte Schmitt nun das Augenmerk auf die nötigen Garantien gegen einen Mißbrauch des Gesetzes. Zum einen löste er den Begriff des materiellen Gesetzes von der Klausel von Freiheit und Eigentum und postulierte einen „rechtsstaatlichen" Gesetzesbeeriff, dessen maßgebliches Kriterium die generelle Bindung an das Gesetz sei. 3 9 Dies verpflichte auch den Gesetzgeber und verbiete Einzelfall132

Schmitt, Verfassungslehre, S. 19, nennt als Beispiele nicht „fundamentaler" Bestimmungen des Verfassungsgesetzes das Einsichtsrecht des Beamten in seine Personalnachweise (Artikel 129 Absatz 3 WRV) oder die Lehrerausbildung nach den Grundsätzen höherer Bildung (Artikel 143 Absatz 2 WRV). 133 Für Schmitt, Verfassungslehre, S. 16, sind die gegenüber der Neufassung einfacher Gesetze erschwerten Änderungsbedingungen des Artikel 76 WRV „formales Kennzeichen des Verfassungsgesetzes". 134 Als grundlegende Entscheidungen der Weimarer Verfassung erachtet Schmitt, Verfassungslehre, S. 23 f., die Entscheidungen fur die parlamentarisch-repräsentative Demokratie, fur die Republik, für den Bundesstaat und für den bürgerlichen Rechtsstaat mit den Prinzipien der Grundrechte und der Gewaltenteilung. 135 Schmitt, Verfassungslehre, S. 29 f.; übertragen in heutige Zeit erscheint die letzte Wahl zur DDR-Volkskammer als eine Entscheidung für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes. 136 Unter Verfassungsänderung versteht Schmitt, Verfassungslehre, S. 25 f., S. 99, nur die nach Artikel 76 WRV mit qualifizierter Mehrheit mögliche Änderung des Verfassungsgesetzes, nicht der Verfassung selbst. 137 Die Einführung der Monarchie an Stelle der Republik wäre nach Schmitt, Verfassungslehre, S. 104, ein Akt der Verfassunggebung, nicht der Verfassungsänderung. 138 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 125 ff. 139 Schmitt, Verfassungslehre, S. 138 ff., fordert aus rechtsstaatlicher Perspektive „eine für alle gleiche, im voraus bestimmte generelle Norm" (S. 139).

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

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gesetze, um die fur einen Rechtsstaat erforderliche Trennung der Gewalten durch die Zuständigkeit von Exekutive und Judikative fur Einzelfallentscheidungen zu wahren. 140 Eingriffe in Freiheit und Eigentum erfolgten hiernach nicht durch Gesetz, sondern auf Grund eines Gesetzes, das generelle Voraussetzung, aber nicht Instrument des Eingriffs sei.141 Zum anderen nahm Schmitt eine inhaltliche Bindung des einfachen und des verfassungsändernden Gesetzgebers sowie aller übrigen staatlichen Stellen an die Grundrechte an. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber dürfe die Grundrechte nur modifizieren, eine Beseitigung derselben war für Schmitt als Akt der Verfassunggebung nur durch eine neue politische Grundentscheidung des deutschen Volkes denkbar.142 Dieses gewandelte, nicht mehr streng positivistische, sondern verstärkt an materiellen Sinngehalten und Wertvorstellungen ausgerichtete Verfassungsverständnis zeigt Auswirkungen bis in die Gegenwart. So wurde der Begriff des Gesetzes143 im materiellen144 Sinne von der gegenständlichen Begrenzung auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum gelöst145 und wird heute überwiegend als allgemeinverbindliche, abstrakt-generelle Regelung definiert. 146 Der Gesetzesbegriff wird also nicht mehr thematisch umschrieben, sondern durch seine allgemeine Struktur. Dies ist, zumal das formelle Gesetz regelmäßig ein materielles zum Inhalt hat, letztlich Ausdruck des dargelegten Verfassungs140

Schmitt, Verfassungslehre, S. 151 f.; das Verbot von Einzelfallgesetzen wird weiterhin auf das Gleichheitsgebot des Artikel 109 WRV und die Unabhängigkeit der Richter gestützt (S. 154 ff.). 141 Schmitt, Verfassungslehre, S. 152. Eingriffe „durch Gesetz" lasse das Verfassungsgesetz nur ausnahmsweise wie zum Beispiel bei der Vergesellschaftung nach Artikel 156 WRV zu. 142 Schmitt, Verfassungslehre, S. 162 f., S. 177 ff.; diese Bindung des Gesetzgebers wird durch weitere materielle Vorgaben des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung noch verstärkt. Als Beispiele nennt Schmitt die institutionellen Garantien des Berufsbeamtentums oder der Freiheit von Wissenschaft und Lehre (S. 170 ff.) sowie die Anerkennung des Prinzips des Eigentums (Institutsgarantie) (S. 172). 143 Zur Überwindung des formalistischen Gesetzesbegriffes trug auch das Referat von Heller, WDStRL 1927 (4), S. 98 ff., bei, der Gesetze als die „von der Volkslegislative gesetzten obersten Rechtsnormen" definierte (S. 118). 144 Geblieben ist als Erbe der positivistischen Methode die begriffliche Trennung von materiellem und formellem Gesetz, lediglich ihr möglicher Inhalt unterlag dem geschilderten Wandel. Anders Starck, Gesetzesbegriff, S. 153, fur den diese Unterscheidung in den Hintergrund tritt, das Gesetz vielmehr „im qualifizierten Verfahren erzeugter grundlegender und wichtiger Rechtssatz" ist. 145 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 378: „(Es) ... war weder die Definition des Rechtssatzes (und des materiellen Gesetzes) als Eingriff in Freiheit und Eigentum noch als Schrankenziehung zwischen Rechtssubjekten aufrechtzuerhalten; der Rechtssatz wurde schlicht zum Satz des (objektiven) Rechts." 146 Vgl. statt vieler: Maurer, Verwaltungsrecht, S. 58.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

wandels, nach dem der demokratische Rechtsstaat nicht nur zum Schutz des einzelnen gegen die monarchische Exekutive, sondern zur Erfassung grundsätzlich aller fur das Gemeinwesen bedeutsamen Lebensbereiche berufen ist und in diesen auch gestaltend tätig werden kann. Ist die Allgemeinheit des Gesetzes, das sich im Interesse materieller Gleichheit einer abstrakten, schematisch verallgemeinernden Rechtssprache 147 bedient, wichtiges Merkmal des heutigen Gesetzesbegriffs, müssen Einzelfallgesetze prinzipiell unzulässig sein. 148 Soweit ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt wird, folgt dies aus Artikel 19 Absatz 1 Satz 1 G G . 1 4 9 Im übrigen kann sich die Unzulässigkeit im konkreten Fall ergeben aus dem Gleichheitssatz 150 , der eine Gleichbehandlung aller gebietet, auf die der Beweggrund der Regelung zutrifft, aus dem Gedanken der Gewaltenteilung, der fordert, die grundsätzlich der Exekutive und der Judikative zugewiesenen Kompetenzen zur Entscheidung von Einzelfällen zu wahren, aus dem Bundesstaatsprinzip, soweit den Ländern die Ausführung von Bundesgesetzen vorbehalten ist, sowie für den Sonderfall der Gerichtsorganisation

147

Kirchhof, Paul, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 19; diese moderne Rechtssprache stellt Kirchhof den Sprachbildern der Entwicklungsphase des älteren deutschen Rechts gegenüber und betont die um der materiellen Gleichheit willen erfolgende Bildung abstrakter Begrifflichkeiten in der Gegenwart (S. 17 ff.). 148 Im Verhältnis zum auch seinerzeit nicht unbestrittenen Gesetzesbegriff von Laband und Georg Jellinek mag man hierin in formaler Hinsicht, angesichts der Bindung des Gesetzgebers an inhaltliche Werte der Verfassung womöglich auch in materieller Hinsicht, eine Rückkehr zur Allgemeinheit des Gesetzes im Sinne von Rousseau und Kant sehen. Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Band II, Artikel 20, VII. Abschnitt, RN 44 ff., bemerkt allerdings zutreffend, daß letztere durch die Allgemeinheit des Gesetzes eine überzeitliche Gerechtigkeitsidee in einer als prinzipiell unveränderlich gedachten Gesellschaft zu verwirklichen suchten, während die heutige Gesetzgebung auf ständig wechselnde gesellschaftliche Vorgaben zu reagieren hat. Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (142 ff.), sieht es demgegenüber als den gemeinsamen Grundzug unserer Zeit an, daß ein unmittelbarer sittlicher Wert nur noch einzelnen konkreten Entscheidungen, nicht aber generellen Prinzipien beigemessen wird, weshalb er die Verwirklichung der Gerechtigkeit in besonderem Maße der Rechtsprechung aufgibt. Dennoch soll hier der Allgemeinheit des Gesetzes der Appell an den Gesetzgeber entnommen werden, die Umsetzung von Gerechtigkeitsidealen anzustreben, wodurch der hehre Anspruch Kants erhalten bleibt, die Erkenntnis des Gerechten aber aus den Händen der Juristen genommen und in die Verantwortung des Parlaments gegeben wird. 149 Hierzu Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Band II, Artikel 19 Absatz 1, RN 25 ff. 150 Vgl. Kirchhof Paul, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band V, § 125, RN 9: „Die Allgemeinheit des Gesetzes ist Voraussetzung der Gleichheit. Ihre Generellität wirkt privilegienfeindlich, fordert in ihrer Abstraktheit die Distanz zum Betroffenen und damit die Objektivität, erreicht in ihrem Geltungsumfang den Jedermann und bietet damit die Grundlage des Jedermannsrechts auf Gleichheit vor dem Gesetz."

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

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aus Artikel 101 Absatz 1 GG. 151 Die künftige Diskussion zum Gesetzes152

begriff wird sich neben der oft schwierigen Feststellung, ob ein „Einzelfall" vorliegt 153, vor allem damit beschäftigen müssen, welche Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot von Einzelfallgesetzen zuzulassen sind 154 , so daß das Parlament oder der Verordnungsgeber die Entscheidung an sich ziehen können.155 151

Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 20, V. Abschnitt, RN 83, 111, sieht insbesondere im Gewaltenteilungsgrundsatz und in Artikel 3 GG eine „verfassungsrechtliche Grenze, die der Allmacht des Gesetzgebers im Wege stehe". 152 Zu den derzeitigen Auflösungserscheinungen des allgemeinen Gesetzesbegriffs jenseits von Artikel 19 GG Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 1, RN 4 ff. 153 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 1, RN 28 ff.; das Problem der Bestimmung, ob ein Einzelfall vorliegt, zeigt sich am Beispiel von BVerwGE 12, 87, wo das Verbot des Verkaufs von Endiviensalat anläßlich einer Typhusepidemie in einer bestimmten Region rechtssystematisch einzuordnen war. Stellte man auf die Vielzahl von untersagten Verkaufsvorgängen ab, so läge eine Rechtsnorm vor. Knüpft man hingegen wie das Bundesverwaltungsgericht an die konkrete Seuchengefahr an, so ist ein Verwaltungsakt anzunehmen. Dies ist aber keine grundsätzliche Frage des Gesetzesbegriffs, sondern lediglich der Feststellung seiner Voraussetzungen im jeweiligen Fall. Vgl. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 179 ff. 154 Die Diskussion wurde angeregt durch den die eingeschränkte Zulässigkeit auf ein konkretes Ziel gerichteter sogenannter Maßnahmegesetze behandelnden Beitrag von Forsthoff, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, S. 221 ff.. Dieser Begriff wurde von BVerfGE 25, 371 (396) (lex Rheinstahl) für verfassungsrechtlich irrelevant erklärt. Die Zulässigkeit von Einzelfallgesetzen werde nur durch Artikel 19 Absatz 1 GG beschränkt, einen Eingriff in die Funktionen von Verwaltung und Rechtsprechung verneinte das Gericht im konkreten Fall (S. 398). Ausdruck der hiesigen Auffassung von der Allgemeinheit als Kennzeichen des materiellen Gesetzes ist die Einordnung des vorbezeichneten Einzelfallgesetzes als nur formelles Gesetz durch Maurer, Verwaltungsrecht, S. 61. BVerfGE 74, 264 (297) (Boxberg) hebt die Möglichkeit eines auf ein Großprojekt beschränkten Enteignungsgesetzes hervor. 155 Die Fragestellung soll, um den gegebenen Rahmen nicht zu sprengen, im folgenden nicht vertieft werden. Gegebenenfalls wird auf sie zurückzukommen sein. Jedenfalls wäre, sofern die genannten Prinzipien ein Einzelfallgesetz verbieten, nicht nur ein Parlamentsgesetz, sondern auch eine Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung unzulässig, da beide den Begriff des materiellen Gesetzes teilen. Im hier beispielhaft zu untersuchenden Steuerrecht werden die Allgemeinheit des Gesetzes und das Verbot von Einzelfallgesetzen bereits durch die an § 1 RAO anknüpfende, vom Grundgesetz vorausgesetzte Definition der Steuer vorgegeben, die verlangt, daß die „Geldleistungen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft" (BVerfGE 3, 407 (435); E 7, 244 (251); E 29, 402 (408); E 36, 66 (70); E 38, 61 (79 f.); E 42, 223 (228); E 55, 274 (299); ständige Rechtsprechung). Das Steuerrecht ist also durch eine persönliche und sachliche Allgemeinheit gekennzeichnet und wirft insofern keine Probleme auf. Ein Einzelfallgesetz würde im Steuerrecht überdies regelmäßig gegen Artikel 3 GG verstoßen, so daß auch die abstrakt-gene-

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Geblieben ist dem materiellen Gesetzesbegriff des Grundgesetzes das Merkmal der Außenwirkung. 156 Versteht man den Staat weiterhin als einheitliche Rechtsperson, so sind dessen Außen- und Innenverhältnis zu unterscheiden. Das materielle Gesetz kann auf ersteres beschränkt werden. 157 Diese allgemeine Aussage ist aber in mehrfacher Hinsicht zu modifizieren. Zunächst ist heute im Gegensatz zur Impermeabilitätslehre Labands allgemein anerkannt, daß auch im staatlichen Innenverhältnis „Recht" gilt. 1 5 8 Auch kann ein an sich nicht notwendig dem Außenbereich zugehöriger Inhalt kraft Einbeziehung in ein materielles Gesetz unschädlich in den Rang von Außenrecht erhoben 159 werden. Des weiteren wurde der Außenbereich, vor allem durch die Anerkennung von Außenrecht im Rahmen der besonderen Gewaltverhältnisse 160 , begrifflich stark ausgedehnt. Schließlich sind zunehmend Tendenzen zur Auflösung der Trennlinie von Außen- und Innenrecht zu verzeichnen, zum Beispiel durch die Anerkennung von In-Sich-Prozessen wie der Organklage nach Artikel 93 Absatz 1 Nr. 1 GG oder dem Kommunalverfassungsstreit sowie durch im Außenverhältnis als verbindlich angesehene interne Organisationsregeln wie den für die Frage des gesetzlichen Richters entscheidenden gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan. Noch ungeklärt ist gegenwärtig die Frage, ob und in welchem Maße die jedenfalls grundsätzlich dem staatlichen Innenrelle Formulierung eines auf einen Einzelfall zielenden Gesetzes unzulässig wäre (Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 1, RN 37, nennt als historisches Beispiel die gesetzliche Steuerbefreiung des dem damaligen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gehörigen Gutes Neudeck, die unter dem Regime des Grundgesetzes verfassungswidrig wäre.). 156 Auswirkungen hat dies unter anderem auf die Rechtsnatur des Haushaltsgesetzes (Artikel 110 Absatz 2 GG), die lange Zeit zu den klassischen Problemstellungen des deutschen Staatsrechts gehörte. Mangels Außenwirkung (§ 3 Absatz 2 BHO) kann dem auf den organschaftlichen Rechtskreis begrenzten Haushaltsgesetz nicht die Eigenschaft eines Gesetzes im materiellen Sinn zugesprochen werden (ähnlich Maurer, Verwaltungsrecht, S. 61: Gesetz im nur formellen Sinne; vgl. auch BVerfGE 38, 121 (127)). Letztlich entscheidend sind jedoch die Rechtsfolgen des Haushaltsgesetzes, nicht seine Einordnung (vgl. Mußgnug, Haushaltsplan, S. 30 ff., 353 ff.). 157 Insoweit sei an der Labandschen Lehre festgehalten. Abzulehnen sind seine vom Pandektenrecht angeleiteten Folgerungen hieraus. Vgl. auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 378 ff. mit Hinweisen auf derzeitige Entwicklungstendenzen. 158 Grundlegend Rupp, Grundfragen, S. 19 ff.; BVerfGE 33, 1 (Strafvollzug). Folge dessen war die Annahme von „Binnenrechtssätzen", die Labandschc Gleichsetzung von Rechtssatz und materiellem Gesetz war in dieser Form nicht beizubehalten. 159 So kann dem materiellen Gesetzgeber nicht grundsätzlich verwehrt werden, an sich behördeninterne Zuständigkeitsregelungen in seine Norm aufzunehmen. Diese werden dann kraft Einbeziehung zu Außenrecht. 160 Auch dies folgt aus BVerfGE 33, 1. Die Grenze zwischen Innen- und Außenbereich wird häufig, wenn auch mit verschiedenen Formulierungen, im Anschluß an die zuvor von Ule, WDStRL 1956 (15), S. 133 (152), begründete Unterscheidung von Betriebs- und Grundverhältnis gezogen.

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

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bereich zuzuordnenden und daher hier im Gegensatz zum Außenrechtssatz des materiellen Gesetzes als „Binnenrechtssätze" definierten Verwaltungsvorschriften auch Außenwirkung haben.161 Weitere Folge des gewandelten Verfassungsverständnisses ist die stärkere Bindung aller Staatsorgane und damit auch des Gesetzgebers an die Vorgaben des Grundgesetzes. Als Konsequenz dessen ist der zulässige Inhalt des materiellen Gesetzes, dessen Begriff zuvor von der gegenständlichen Begrenzung auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum befreit wurde, durch die materiellen Wertungen der Verfassung zu beschränken. Gleichzeitig mit der Aufwertung der Gesetzgebung zur Staatsfunktion wird auf diese Weise die selbsttragende Geltungskraft des Gesetzes eingeschränkt.162 So wird der Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes heute neben seiner subjektivrechtlichen Ausrichtung auch als Ausdruck einer objektiven Wertordnung verstanden.163 Der Gesetzgeber wird durch Artikel 1 Absatz 3 GG an die Grundrechte und damit an das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie durch Artikel 20 Absatz 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung 164 gebunden. Die Menschenwürde ist nach Artikel 1 Absatz 1 GG und der Wesensgehalt der Grundrechte nach Artikel 19 Absatz 2 GG unantastbar. Um diese Grundordnung für die Zukunft abzusichern, werden Verfassungsdurchbrechungen durch Artikel 79 Absatz 1 GG ausgeschlossen und der verfassungsändernde Gesetzgeber durch Artikel 79 Absatz 3 GG gehindert, die Grundentscheidungen der Verfassung zu überwinden. Schlußstein dieses auf dem Fundament materieller Werte errichteten Gebäudes ist das in Artikel 93 GG zur Wahrung dieser Grundsätze vorgesehene Prüfungsrecht des Bundesverfassungsgerichts.

161

Befürworter einer begrenzten Außenwirkung ist vor allem Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz; derselbe, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 65. Die Fragestellung wird im Zusammenhang des Verhältnisses von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift nochmals aufzugreifen sein. 162 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 401 f. 163 Grundlegend BVerfGE 7, 198 (205) (Lüth); vgl. auch Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ff. 164 Daß die verfassungsmäßige Ordnung mehr beinhaltet als nur die Summe der Gesetze, folgt aus Artikel 20 Absatz 3 Halbsatz 2 GG, der gemäß BVerfGE 34, 269 (286 f.) (Soraya) mit der Formulierung „Gesetz und Recht" einen „engen Gesetzespositivismus" ablehnt und von einem gegenüber der Gesamtheit der Gesetze bestehenden „Mehr an Recht" ausgeht, „das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag".

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§ 2: Der allgemeine Parlaments vorbehält

2. Die Wesentlichkeitsrechtsprechung

des Bundesverfassungsgerichts

a) Die Entwicklung der Wesentlichkeitsrechtsprechung Mit Einfuhrung der Demokratie wurde die Verfassung von der Schranke monarchischer Machtfülle zum Grundgesetz der staatlichen Ordnung. Nicht zuletzt infolge des geänderten Gesetzesbegriffs war die Volksvertretung nicht mehr nur Hüter der Grundrechte, sondern zur politischen Staatsleitung und zur Umsetzung der materiellen Vorgaben der Verfassung berufenes Zentralorgan staatlicher Willensbildung, das grundsätzlich alle Fragen an sich ziehen kann, soweit diese einer abstrakt-generellen Regelung zugänglich sind oder soweit eine gesetzliche Einzelfallregelung ausnahmsweise zulässig ist. Als Folge der Trennung von Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt bedurfte nun auch die Frage, welche Entscheidungen gerade das Parlament treffen muß, das heißt die Frage nach dem Umfang des Parlamentsvorbehaltes, einer neuen Beantwortung. Dem trug das Bundesverfassungsgericht Rechnung, indem es den formellen Gesetzesvorbehalt durch seine im Schrifttum als „Wesentlichkeitstheorie" 165 betitelte Rechtsprechung von der Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum löste. Vorläufer dieser Rechtsprechung waren drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972, in denen der Anwendungsbereich des formlichen Gesetzesvorbehaltes deutlich ausgeweitet wurde. Zunächst entschied das Bundesverfassungsgericht, daß die Grundrechte auch in sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen Geltung beanspruchen, weshalb die Überwachung und Beanstandung von Briefen Strafgefangener einer gesetzlichen Grundlage bedürften. 166 Diese Entscheidung hatte Bedeutung auch für die übrigen besonderen Gewaltverhältnisse wie zum Beispiel das Beamtenverhältnis, den Wehrdienst und vor allem das Schulverhältnis. Im Anschluß hieran nahm das Bundesverfassungsgericht zum Satzungsrecht autonomer Selbstverwaltungskörperschaften Stellung und befand am Beispiel des Facharztwesens, daß „statusbildende" Bestimmungen der Facharztordnungen wegen Artikel 12 GG gesetzlich geregelt werden müssen.167 Zwar sei Artikel 80 GG auf den Erlaß autonomer Satzungen nicht anwendbar, jedoch 165 Die Bezeichnung als „Wesentlichkeitstheorie" stammt von Oppermann, Gutachten C, in: Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages, Band 1, S. C 51. Das Bundesverfassungsgericht selbst gebraucht sie nur selten, zum Beispiel in BVerfGE 83, 130 (152) (Josefine Mutzenbacher). 166 BVerfGE 33, 1 (9 ff.) (Strafvollzug). 167 BVerfGE 33, 125 (152 ff.) (Facharztbeschluß).

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

65

verlangten das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip sowie die Berufsfreiheit eine formell gesetzliche Regelung der Voraussetzungen der Berufswahl, hinsichtlich der Berufsausübungsregeln dürfe der Selbstverwaltungskörperschaft grundsätzlich ein eigener Entscheidungsspielraum belassen werden. Außerdem leitete das Gericht aus Artikel 12 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip ein unter dem Vorbehalt des Möglichen stehendes Recht auf Teilhabe an der im Monopol des Staates stehenden Hochschulausbildung ab, dessen grundsätzlich zulässige Beschränkung nur durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes statthaft sei. 168 Den Ansatz, einem Freiheitsrecht über dessen Funktion als Abwehrrecht (status negativus) hinaus einen (auf Teilhabe beschränkten) Anspruch des einzelnen (status positivus) zu entnehmen169, hat das Bundesverfassungsgericht nachfolgend allerdings nicht generell, sondern höchstens ausnahmsweise fortgefiihrt. Diese Entscheidungen dehnten den Grundrechtsschutz aus und folgerten einen erweiterten Regelungsbedarf des formellen Gesetzgebers für die grundlegenden Fragen, ohne die Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum zu bemühen. In der Sache unterschieden sie also nach der jeweiligen Wesentlichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Grundrechtserheblichkeit, auch wenn dies noch nicht ausdrücklich zum Differenzierungskriterium erklärt wurde. 170 In der Folgezeit ergingen zahlreiche Urteile des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere zum Gesetzesvorbehalt in den besonderen Gewaltverhältnissen 171

172

des Schulwesens und des Strafvollzugs , in denen das Gericht das Erfordernis einer formellen gesetzlichen Regelung am Begriff des „Wesentlichen", 168

BVerfGE 33, 303 (329 ff.) (Numerus clausus). Zur Unterscheidung von status negativus, status positivus und status activus: Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 94 ff., 114 ff., 136 ff.. Für Jellinek ist nur der status negativus (auch status libertatis genannt) Ausfluß der Freiheit, der status positivus (status civitatis) und der status activus werden dem Bürger hingegen erst vom Staat zuerkannt. Aus den nach Jellinek dem Staat vorausliegenden Freiheitsrechten kann also kein Anspruch folgen. 170 In BVerfGE 33, 303 heißt es in Leitsatz 4, der Gesetzgeber müsse die „wesentlichen Entscheidungen" treffen, ohne daß diese Formulierung in den entscheidenen Passagen des Urteils wiederholt wird. 171 BVerfGE 34, 165 (Hessische Förderstufe); E 41, 251 (Speyer-Kolleg); E 45, 400 (Oberstufenreform in Hessen); E 47, 46 (Sexualkunde); E 51, 268 (Schulauflösung); E 58, 257 (Schulausschluß); E 98, 218 (Rechtschreibreform); vgl. Oppermann, Gutachten 172 BVerfGE 40, 237 (Rechtsschutz im Strafvollzug); E 45, 187 (242 ff.) (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafen); E 64, 261 (286) (Hafturlaub). 169

5 Seiler

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

der als „heuristischer" 173, nicht als dogmatischer verstanden werden sollte, festmachte und die Klausel von Freiheit und Eigentum ausdrücklich für unanwendbar erklärte 174. Dieser ständigen175 Rechtsprechung Schloß sich das Bundesverwaltungsgericht an. 176 Trägt die Volksvertretung hiernach die Verantwortung für die Entscheidung der wesentlichen Fragen, wird der so verstandene Gesetzesvorbehalt als Parlamentsvorbehalt deutlich. Das Bundesverfassungsgericht hat dem bereits in der Frühphase seiner Wesentlichkeitsrechtsprechung Beachtung geschenkt und nicht nur die zum Gesetzesvollzug berufene Verwaltung, sondern auch den untergesetzlichen Normgeber als durch den Vorbehaltsgedanken beschränkt angesehen. So befaßten sich denn auch einige der grundlegenden Entscheidungen mit der Rechtsetzungsbefugnis des Satzung-177 oder Verordnungsgebers 178. Die Wurzel des zum Parlamentsvorbehalt erstarkten Gesetzesvorbehaltes sieht das Bundesverfassungsgericht überwiegend im Rechtsstaats-179, daneben häufig auch im Demokratieprinzip 180. Da der Begriff des Wesentlichen regelmäßig durch die Formulierung „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" 181 erläutert wird, sind diese sowohl in ihrer Funktion als Abwehrrechte als auch als objektiver Ausdruck grundlegender Wertentscheidungen weitere

173 So der damalige Bundesverfassungsrichter Simon, in: Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages, Band 2, S. M 108; ähnlich Oppermann, ebenda, S. M 115; Simon versteht dies „im Sinne eines Case-law", das vom Gesetzgeber die Verantwortung für „im Lichte des Rechtsstaates, des Demokratieprinzips oder der Grundrechte relevante" Entscheidungen verlangt. Der Ausdruck sei zugleich aber auch als „Bremse gegenüber einem Zuviel an Regelung" gedacht. BVerfGE 47, 46 (79) (Sexualkunde) nimmt hierauf Bezug. 174 BVerfGE 40, 237 (248 f.); E 47,46 (78 f.); E 49, 89 (126). 175 Vgl. aus jüngerer Zeit BVerfGE 83, 130 (142 ff.) (Josefine Mutzenbacher); E 98, 218 (250 ff.) (Rechtschreibreform). 176 BVerwGE 47, 194 (197 f.); E 47, 201 (203); E 56, 155 (157); E 57, 360 (363); E 64, 308 (310 f.) (allesamt zum Schulrecht); femer BVerwGE 65, 323 (325); E 68, 69 (72); 69, 162 (176). 177 BVerfGE 33, 125 (155 ff.) (Facharzt); E 57,295 (320 ff) (Rundfunk). 178 BVerfGE 34, 52 (58 ff.) und vor allem BVerfGE 58, 257 (268 ff.) (Schulausschluß). 179 BVerfGE 33, 125 (158); E 34, 165 (192 f.); E 40, 237 (248 ff.); E 41, 251 (259 f.); E 45, 187 (246); E 45, 400 (417 f.); E 47, 46 (78 f.); E 48, 210 (221); E 56, 1 (12 ff.); E 58, 257 (268 ff.); E 59, 36 (52); E 59, 104 (114); E 64, 261 (286). 180 BVerfGE 33, 125 (158); E 41, 251 (260); E 45, 400 (417 f.); E 47, 46 (78 f.); E 49, 89 (126) (ausdrückliche Betonung des demokratischen Ansatzes); E 57, 295 (320 f.); E 58, 257 (268 ff.). 181 BVerfGE 47,46 (79); seitdem ständige Rechtsprechung.

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

67

182

Quelle des Vorbehaltsgedankens. Diese dogmatische Abhängigkeit von materiellen Grundaussagen der Verfassung bedingt ein funktionales Verständnis des Vorbehaltsprinzips. 183

b) Veränderungen gegenüber der Klausel von Freiheit und Eigentum Die Wesentlichkeitsformel bestimmt den Parlamentsvorbehalt in dogmatischer Hinsicht neu. Dennoch halten sich die durch sie bewirkten sachlichen Veränderungen gegenüber der bisherigen Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum in Grenzen. Die genannten Urteile des Bundesverfassungsgerichts hätten überwiegend auch auf die alte Formulierung gestützt werden können.184 Insbesondere in den für die Entstehung der Wesentlichkeitsrechtsprechung bedeutsamen besonderen Gewaltverhältnissen ist in den jeweiligen Belastungen auch ein Eingriff in die einer erweiterten Geltung zugeführten Grundrechte der Gewaltunterworfenen zu sehen, der nach einer gesetzlichen Grundlage verlangt. Gleichwohl können aus dem veränderten dogmatischen Grundverständnis auch einzelne sachliche Unterschiede abgeleitet werden. Sind die Grundrechte nicht ausschließlich Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat, sondern enthalten sie auch den Gesetzgeber bindende objektiv-rechtliche Aussagen, insbesondere eine Wertordnung, so wirft deren Verwirklichung unabhängig vom Vorliegen eines Eingriffs grundrechtserhebliche und damit wesentliche Fragen auf. 1 5 Hervorzuheben ist der Verfassungsauftrag zur Ausgestaltung namentlich der normgeprägten Grundrechte und zur

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Der Sache nach wird der Gesetzesvorbehalt (auch) aus den Grundrechten abgeleitet in BVerfGE 33, 1 (9 ff.); E 33, 125 (158 ff.); E 33, 303 (329 ff.); E 34, 165 (192); E 40, 237 (248 f.); E 41, 251 (260 f.); E 47, 46 (79 f.); E 57, 295 (319 ff.); E 98, 218 (250 ff.). 183 BVerfGE 47, 46 (78 f.): „Als entscheidender Fortschritt dieser Rechtsauffassung ist es anzusehen, daß der Vorbehalt des Gesetzes von seiner Bindung an überholte Formeln (Eingriff in Freiheit und Eigentum) gelöst und von seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Funktion her auf ein neues Fundament gestellt wird." (Hervorhebung vom Verfasser). 184 Für Degenhart, DÖV 1981, S. 477 (479 f.) lagen der Entwicklung der „Wesentlichkeitstheorie" „eingriffsnahe Regelungen" zugrunde, das Gericht habe sich mit seiner Erweiterung des Gesetzesvorbehaltes auf „grundrechtswesentliche" Bereiche „nicht entscheidend vom Kriterium des Grundrechtseingriffs entfernt". 185 BVerfGE 57, 295 (319 ff.) (Privater Rundfunk). Zu den Grundrechten als Elementen einer objektiven Ordnung: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 133 ff.

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

68

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1Ä7

Beachtung objektiver Institutsgarantien oder institutioneller Garantien . Ferner begründen die Grundrechte staatliche Schutzpflichten, vor allem zugunsten von Leben und Gesundheit, auf Grund derer sich legislative Pflichten zur Regelung wesentlicher Fragen ergeben können. Schließlich ist der Gesetzgeber berufen, die Grundrechte durch eine entsprechende Ausgestaltung des Verfahrensrechts 188 abzusichern. Grundsätzlich steckt in der Wesentlichkeitsklausel auch die Tendenz zur Erstreckung des Gesetzesvorbehaltes auf die Leistungsverwaltung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich insoweit bislang eher zurückhaltend verhalten, indem es den Grundrechtsschutz nur ausnahmsweise auf den Leistungsbereich ausgedehnt und als Folge dessen auch keine durchgängige Wesentlichkeit angenommen hat. 189 Für den Spezialfall der Vergabe finanzieller Mittel hat das Bundesverwaltungsgericht deren Bereitstellung im Haushaltsplan, der durch das Haushaltsgesetz als Gesetz im (nur) formellen Sinne beschlossen wird, fur ausreichend erachtet.190 Ein anderes könnte sich ergeben, falls im konkreten Fall mit der Leistung die Gefahr der Einwirkung auf den geschützten Freiheitsbereich beispielsweise durch Verletzung der weltanschaulichreligiösen Neutralität des Staates oder durch Einflußnahme auf das Pressewesen191 verbunden ist. Selbst wenn man im Einzelfall eine Frage als „wesent186

Garantiert sind zum Beispiel die Rechtsinstitute Ehe und Familie sowie eine grundsätzlich privatnützig ausgestaltete Eigentumsordnung. Dies zwingt den Gesetzgeber zur Regelung. 187 So sind die Institutionen im Bereich von Forschung und Lehre auch gesetzlich zu schützen. 188 Freiheitsschutz durch gesetzliche Ausgestaltung des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens wird gefordert ftir Artikel 2 Absatz 2 GG durch BVerfGE 51, 324 (345 ff.); E 52, 214 (219 f.); E 53, 30 (65) (Mülheim-Kärlich), für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch BVerfGE 65, 1 (58 ff.) (Volkszählung), für Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 GG (Kunstfreiheit) durch BVerfGE 83, 130 (152) (Josefine Mutzenbacher), für Artikel 12 GG durch BVerfGE 39, 276 (294 f.); E 44, 105 (119 ff.); E 45, 422 (430); E 73, 280 (296), für Artikel 14 GG durch BVerfGE 37, 132 (140 f.); E 46, 325 (334 f.); E 49, 220 (225) und für Artikel 16 Absatz 2 GG a.F. durch BVerfGE 56, 216 (236); E 65, 76 (94). Nach BVerfGE 84, 239 (268 ff.) verlangt Artikel 3 GG, die tatsächliche Gleichheit der Steuerbelastung durch gesetzliche Regeln zur ihrer Durchsetzung zu sichern. 189 Ausnahmen enthalten neben BVerfGE 33, 303 (Numerus clausus) auch einige Entscheidungen zur Sicherung des Existenzminimums; vgl. zum Beispiel BVerfGE 40, 121 (133); E 82, 60 (80). 190 BVerwGE 18, 352 (353) (Honnefer Modell); E 58, 45 (48). Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Frage soweit ersichtlich noch nicht abschließend Stellung nehmen müssen. 191 OVG Berlin E 13, 108 (111 ff., 116 f.) vertritt, der objektive Gehalt der Pressefreiheit fordere eine gesetzliche Regelung aller Pressesubventionen. Differenzierender BVerfGE 80, 124 (132), wonach Entscheidungen über Pressesubventionen wesentlich

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

69

lieh" ansehen wollte, wäre jedenfalls das verfassungsrechtlich gebotene Maß der Regelungsdichte bei der Gewährung von Leistungen geringer als bei der Beschränkung von Grundrechten. Nach dem bloßen Wortlaut der Wesentlichkeitsformel könnte man vermuten, diese stelle anders als die Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum minimale, nicht weiter ins Gewicht fallende Eingriffe nicht mehr unter den 192

Parlamentsvorbehalt. Da die Wesentlichkeitsrechtsprechung aber nicht bezweckte, den Gesetzesvorbehalt einzuschränken, sondern ihn nur auf eine neue dogmatische Grundlage stellen und den Vorbehaltsbereich tendenziell ausdehnen wollte, wird man die Handhabung der Frage durch das Gericht wohl so verstehen dürfen, daß jeder Eingriff an sich bereits eine wesentliche Frage betrifft. Das Vorliegen eines Eingriffs ist hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung der Wesentlichkeit. Allerdings muß der Grad der Regelungsdichte bei minimalen Eingriffen nur sehr gering sein. Insofern scheint keine grundsätzliche Änderung gegenüber dem früheren Gesetzesvorbehalt und seiner Anwendung in der Staatspraxis des Konstitutionalismus und der Weimarer Republik vorzuliegen. Auch könnte man einen Gesetzesvorbehalt fur alle grundlegenden staatspolitischen Fragen wie zum Beispiel der grundsätzlichen wirtschafts-, außenoder verteidigungspolitischen Angelegenheiten erwägen. Dem hat sich das Bundesverfassungsgericht so nicht angeschlossen und entgegnet, das Grundgesetz kenne keine Kompetenzregel, die besagt, daß alle „objektiv wesentlichen" Entscheidungen vom Gesetzgeber zu treffen wären. 193 Schließlich umfaßt die Wesentlichkeitsklausel deutlicher als bisher neben der Frage, ob ein Gesetz geboten ist, auch jene, wie bestimmt dieses sein muß. 194 Sie versteht den Gesetzesvorbehalt also nicht mehr nur gegenständlich,

sein können, wenn eine Gefahr fur die Staatsfreiheit und Kritikbereitschaft der Presse besteht oder wenn ohne eine solche Leistung die Aufrechterhaltung eines freiheitlichen Pressewesens nicht mehr gewährleistet ist. Es seien jedoch auch Subventionen möglich, bei denen derartige Gefahren nicht bestehen. 192 Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 62, RN 40 und 46, nennt als Beispiel ein Bußgeld in Höhe von DM 5,~ wegen Verletzung einer straßenverkehrsrechtlichen Pflicht, bei dem es sich um eine „unwesentliche Angelegenheit" handele, das aber als Grundrechtseingriff dem „rechtsstaatlichen" „Eingriffs-" Gesetzesvorbehalt unterliege. Ossenbühl wendet sich nicht grundsätzlich gegen die „Wesentlichkeitstheorie", sondern will sie nur nicht als „Dogma" verstanden wissen. 193 BVerfGE 68, 1 (108 f.) (Pershing); ähnlich BVerfGE 98, 218 (251 f.) (Rechtschreibreform). 194 BVerfGE 49, 89 (127) (Kalkar) fragt zunächst, „in welchen Bereichen staatliches Handeln einer Rechtsgrundlage imförmlichen Gesetz bedarf 4. Anschließend wird „nach den gleichen Maßstäben beurteilt", „ob der Gesetzgeber, wie der verfassungsrechtliche

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70

1QC

sondern auch umfangmäßig. Diese Erkenntnis, die neben der Aufwertung des Gesetzes- zum Parlamentsvorbehalt und der verstärkt funktionalen Betrachtung die wichtigste Neuerung enthält, zeigt die Untrennbarkeit beider unter dem Begriff der Regelungsdichte gemeinsam zu behandelnden Ansätze.

3. Ansatzpunkte des Schrifttums Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes diskutierte die staatsrechtliche Literatur 196 eine Neuorientierung des Vorbehaltsgedankens197. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildeten die Hinwendung zur parlamentarischen Demokratie, die starke Ausweitung der vom Staat übernommenen Aufgaben 198, die rechtliche Erfassung weiterer Lebensbereiche wie der besonderen Gewaltverhält199

nisse sowie die Ausdehnung des Grundrechtsschutzes und der richterlichen Kontrolle durch die Anerkennung eines weiten Gewährleistungsumfanges 200 201 einzelner Freiheitsrechte und die Ausweitung des Eingriffsbegriffes . Eine Gemeinsamkeit all dieser Bemühungen, die darauf bedacht sind, den Vorbehalt auf ein neues dogmatisches Fundament zu stützen, und überwiegend auf seine Erweiterung abzielen, besteht darin, trotz der begrifflichen Abkehr vom Eingriffsdenken weiterhin eine förmliche gesetzliche Grundlage fur Eingriffe in Freiheit und Eigentum zu verlangen. Im Ergebnis ist demnach auch aus Sicht des Schrifttums das Vorliegen eines Eingriffs, jedenfalls im Regelfall, hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung des Parlamentsvorbehaltes.202

Gesetzesvorbehalt weiter fordert, mit der zur Prüfung vorgelegten Norm die wesentlichen normativen Grundlagen des zu regelnden Bereichs selbst festgelegt" hat. 195 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 392. 196 Übersicht bei Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 62, RN 15 ff. 197 Gegen ein allgemeines Vorbehaltsprinzip sprach sich Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (147 ff.), aus. Wegen des die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte mit ihren speziellen Vorbehalten umfassenden Vorranges des Gesetzes sei dieses entbehrlich, was Vogel unter anderem rechtsvergleichend zum französischen System begründete. 198 Kloepfer, JZ 1984, S. 685 (686), nennt als neue Staatsaufgaben die Sozialgestaltung, die Wirtschaftslenkung und die Umweltpflege. 199 BVerfGE 33, 1 (9 ff.) (Strafvollzug). 200 Genannt seien nur die Ausdehnung der allgemeinen Handlungsfreiheit durch BVerfGE 6, 32 (36 f.) (Elfes) und der weite Kunstbegriff in BVerfGE 30, 173 (188 f.) (Mephisto). 201 Dies folgt aus der Rechtsfigur des mittelbaren und faktischen Eingriffs. Vgl. BVerwGE 82, 76 (79); E 90, 112(118 ff.) (Warnungen vor Jugendsekten). 202 Hesse, S. 220, sieht Grundrechtsbeschränkungen „immer" als „wesentlich" an.

II. Der Übergang zum Wesentlichkeitsvorbehalt

71

Einige Ansätze knüpfen ausdrücklich an die verfassungsgerichtliche Judikatur an 2 0 3 , betonen aber, der allgemeine und für sich betrachtet höchst unbestimmte Begriff des „Wesentlichen" müsse durch griffigere Kriterien aufgefüllt werden. 204 Als solche werden die Grundrechtserheblichkeit 205, die politische 206

207

Umstrittenheit und die Intensität der zu regelnden Materie angeboten. Die Gegner der „Wesentlichkeitstheorie" bemängeln diesen Konkretisierungsbedarf und halten sie für nur eingeschränkt handhabbar. 208 Als Kompetenzregelung müsse der Gesetzesvorbehalt „auf präzisen, objektiv-feststehenden Leitlinien basieren". 209 Den weitestgehenden Versuch zur Neubestimmung macht die sogenannte Lehre vom „Totalvorbehalt", die dafür eintritt, den formlichen Gesetzesvor210

behalt auf die gesamte Leistungsverwaltung zu erstrecken. So argumentiert Jesch 211 aus der Perspektive des Demokratieprinzips, der Exekutive sei anders als im Konstitutionalismus nach der „Verfassungsstruktur" des Grundgesetzes, abgesehen von der Regierungsfunktion, kein eigener Zuständigkeitsbereich zugewiesen. Sie sei lediglich vollziehende 203

Beispielsweise von Arnim, DVB1. 1987, S. 1241 ff.; Eberle , DÖV 1984, S. 485 (487), Fußnote 23, bezeichnet die „Wesentlichkeitstheorie" als „herrschende Meinung". 204 So zum Beispiel Kisker, NJW 1977, S. 1313 (1317 ff.). 205 Kisker, NJW 1977, S. 1313 (1318). 206 Kisker, NJW 1977, S. 1313 (1318): „Das Wesentliche ist das politisch Kontroverse." 207 Kisker, NJW 1977, S. 1313 (1319), regt an, zur Ermittlung der Intensität bei Maßnahmen im besonderen Gewaltverhältnis auf die Kasuistik zur Unterscheidung von Grund- und Betriebsverhältnis zurückzugreifen. 208 Für Kloepfer, JZ 1984, S. 685 (689), stellt die Wesentlichkeitslehre mehr Fragen als sie löst. „Wesentlich ist, was das BVerfG dafür hält" (S. 692). Sein eigener Lösungsansatz, die Annahme eines auch Rechtsverordnungen und Satzungen umfassenden Rechtssatzvorbehaltes bei „substantiellen Veränderungen der Freiheits- und Gleichheitsentfaltung" (S. 693 f.) und eines verschiedene Formen parlamentarischer Entscheidung anerkennenden Parlamentsvorbehaltes für „substantielle Auswirkungen auf das politische System, insbesondere (für) essentielle parlamentarische Mitentscheidungsbefugnisse" (S. 694 f.), der nur im Überschneidungsbereich beider Vorbehalte ein förmliches Gesetz fordere (S. 695), zeigt die Schwierigkeit, griffigere Lösungen zu finden. 209 Papier, in: Götz / Klein / Sarck, S. 43; Papier lehnt einen ,Allgemeinvorbehalt" (S. 41 ff.) ab. Der Vorbehaltsbereich werde durch „explicit geregelte oder immanente Sondervorbehalte" und eine „spezifische Regelung für untergesetzliche Rechtssatzgebung im Artikel 80 Absatz 1 GG" anstelle einer „theoretischen Großformel" bestimmt (S. 67). Dies verlagert die Suche nach ergänzenden Kriterien auf die Ebene mehrerer Einzelprinzipien, liefert aber ebenfalls keine eindeutige Zuordnung der Kompetenzen. 210 Zum Beispiel Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 20, VI. Abschnitt, RN 69 ff. unter Berufung auf Jesch und Rupp\ ähnlich Starck, Gesetzesbegriff, S. 281 ff. (Ausnahmen für Notfälle). 211 Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 175 ff. (204 ff.).

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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Gewalt und damit fur alle Handlungsformen abhängig von einer Ermächtigung des Parlaments als höchstem Staatsorgan. Die Verwaltung dürfe daher Leistungen stets nur auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung gewähren. 212

Rupp folgert aus Artikel 80 GG einen umfassenden Gesetzesvorbehalt (im formellen Sinn) dergestalt, daß ,jede Rechtsregelung, die sich auf das Außenverhältnis Verwaltung - Bürger bezieht einschließlich des Organisationsrechts, notwendig vom Gesetz gedeckt sein muß". Ergebe sich bereits hieraus ein weitgehender (formlicher) Gesetzesvorbehalt, so dehnt Rupp 213 diesen auf den noch nicht erfaßten Bereich der nicht durch Außenrechtsnormen geregelten Leistungsverwaltung aus, indem er den Eingriffsvorbehalt aus rechtsstaatlichliberalen Gründen einer erweiterten Auslegung zufuhrt. 214 Hierzu deutet er die „Werte Eigentum und Freiheit" dahin um, daß sie auch die Gewährung von Leistungen umfassen. 215 Während die Freiheit in der liberalen Epoche einen „vom Staat unabhängigen Lebens- und Persönlichkeitskreis" bezeichnete, den zu schützen Aufgabe des Gesetzesvorbehaltes war, habe der einzelne diesen Eigenbereich seitdem weitgehend eingebüßt und sei heute auf die Hilfe des Staates angewiesen. Es bestehe eine „Situation der Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins", „in der der Freiheitsgedanke zwangsläufig neu erwachen müsse".216 Die in dieser Abhängigkeit liegende Unfreiheit des Bürgers sei dadurch zu überwinden, daß ihm ein Rechtsanspruch auf die erforderlichen Leistungen verfassungsrechtlich zugestanden werde. 217 Auf Grund dieses Freiheitsverständnisses fordert Rupp einen Gesetzesvorbehalt für die Eingriffsverwaltung wie die Leistungsverwaltung.218 219

Krebs deutet die Grundrechte im Lichte des Sozialstaatsprinzips. Sie enthielten ein weiterer Ausgestaltung bedürftiges „leistungsstaatlich zu erfüllendes Sozialprogramm" 220, dessen Konkretisierung im demokratischen Rechtsstaat dem Gesetzgeber aufgegeben sei. Hieraus folge ein grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt mit dem Verbot für die Exekutive, derartige grundrechtsrelevante leistungsstaatliche Aktivitäten aus eigener Initiative zu entfalten. 221 2,2

Rupp, Grundfragen, S. 113 ff. (116). Rupp, Grundfragen, S. 135 ff. 214 Ähnlich zuvor Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, S. 41 f., der Eingriff und Vergünstigung unter Bezugnahme auf eidgenössische und österreichische Ansätze für untrennbar hielt. 2,5 Rupp, Grundfragen, S. 142. 216 Rupp, DVB1. 1959, S. 81 (84 f.). 2.7 Rupp, DVB1. 1959, S. 81 (85). 2.8 Rupp, Grundfragen, S. 143. 219 Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, S. 119 ff. 220 Krebs, Vorbehalt, S. 122. 221 Krebs, Vorbehalt, S. 127. 213

III. Überprüfung der Wesentlichkeitsformel

73

III. Überprüfung der Wesentlichkeitsformel All diesen Auffassungen liegt die zutreffende, zumeist unausgesprochene Annahme zugrunde, daß der förmliche Gesetzesvorbehalt selbst kein eigener Zweck des Grundgesetzes, sondern lediglich Mittel zur Verwirklichung anderer verfassungsrechtlicher Zwecke ist. Ursache dessen ist die gewandelte Funktion der Gesetzgebung, die nicht mehr allein dem Schutz der Gesellschaft vor dem Staat zu dienen bestimmt ist, sondern zudem wichtigstes Handlungsmittel des Staates geworden ist. Als bloße Schranke der monarchischen Exekutive mußte der Gesetzesvorbehalt in erster Linie eine möglichst eindeutige Zuordnung von Befugnissen zu einem Kompetenzträger leisten, ein Anliegen das eine positivistische Sichtweise seiner Voraussetzungen begünstigte. Wird die Gesetzgebung zum zentralen Instrument der Staatstätigkeit, hängen der Parlamentsvorbehalt wie auch seine Anforderungen im einzelnen von jenen Gesichtspunkten ab, die das Staatshandeln bestimmen und begrenzen. Diese sind den materiellen Vorgaben der Verfassung zu entnehmen. Folglich ist der Vorbehaltsgedanke des Grundgesetzes, der Entscheidungen nicht mehr nur durch, sondern auch für das Volk verlangt, nicht formal, sondern funktional zu verstehen. Ein solcher funktionaler Parlamentsvorbehalt gebietet eine Regelung des Gesetzgebers nur, wenn und soweit hierdurch andere materielle Aussagen des Grundgesetzes abgesichert oder verstärkt werden können. Sowohl in seiner Entstehungsgeschichte wie auch in der aktuellen Rechtsprechung und Literatur findet sich im Zusammenhang mit der Begründung des Parlamentsvorbehaltes stets der Rückgriff auf den Rechtsstaatsgedanken, das Demokratieprinzip und die Grundrechte, die nicht als einzelne, sondern nur in ihrem Zusammenspiel eine Antwort auf die Frage nach dem Umfang der gesetzgeberischen Verantwortung geben können, dennoch zur Grundlegung zunächst für sich betrachtet Anknüpfungspunkt jeder weiteren Untersuchung sein müssen.

1. Das Rechtsstaatsprinzip 222

Das Rechtsstaatsprinzip ist ein vielschichtiger, zahlreiche Kerngedanken des Grundgesetzes umfassender Grundsatz des Verfassungsrechts, der nicht als

222

Hierzu Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof

HStR, Band I, § 24.

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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solcher, jedoch in Gestalt einzelner seiner Ausprägungen Aussagen zur gesetzlichen Regelungsdichte bereithält. 223

a) Der Gewaltenteilungsgrundsatz Maj> es auch zunächst naheliegend erscheinen, den Gewaltenteilungsgrundsatz22 als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips zur Klärung der Kompetenzen von Legislative und Exekutive zu befragen, so läßt sich diesem trotzdem kein eindeutiges Ergebnis abgewinnen. Die Trennung der Gewalten erfordert, die den einzelnen Gewalten von Verfassungs wegen zugewiesenen, vielfach verschränkten225 Kompetenzen zu wahren. Es wäre ein unzulässiger Zirkelschluß, wollte man aus der Pflicht zur Einhaltung der Zuständigkeiten den Umfang derselben herauslesen, besagt doch die Aussage, daß die Legislative zur Gesetzgebung berufen ist, noch nicht, welche Inhalte gesetzlich zu regeln sind.22 Ein anderes ergibt sich auch nicht aus vereinzelten Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, die aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz das Gebot „hinreichender Bestimmtheit" mit der Begründung ableiten, bei mangelnder Bestimmtheit führe die Exekutive nicht mehr das Gesetz nach den Richtlinien des Gesetzgebers aus, sondern entscheide an dessen Stelle, da das Gericht selbst keinerlei weitere Schlüsse auf das gebotene Maß der Bestimmtheit 227

zieht. Festgehalten werden kann lediglich, daß den einzelnen Gewalten, und damit auch der Exekutive, kraft ihrer verfassungsrechtlichen Anerkennung jeweils ein Kernbereich eigener Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse verbleiben muß. Einzelne Zuständigkeiten lassen sich dem nicht entnehmen, sondern müssen aus der Verfassung im übrigen ermittelt werden. 223

Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 91, erhebt mit Recht Bedenken, den Gesetzesvorbehalt aus einem „aus sich unklaren Allgemeinbegriff, wie es der Rechtsstaatsbegriff ist", zu bestimmen, da so „der Kundgabe von verfassungspolitischen Meinungen als geltendes Verfassungsrecht ein weites Tor" geöffnet werde. Ansatzpunkt seien zunächst dessen „dogmatisch faßbare Konkretisierungen". Diesen Weg zu beschreiten, soll hier versucht werden. Gleiches gilt fur die folgende Erörterung von Demokratieprinzip und Grundrechten. 224 Siehe Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 20, V. Abschnitt; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band I, § 24, RN 46 ff. 225 Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 20, V. Abschnitt, RN 8 ff., meint, man müsse besser von „Gewaltenverschränkung" als von Gewaltenteilung sprechen, und sieht hierfür „Dutzende von Beispielen". 226 Gegen Schlüsse aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz auf den Umfang des Gesetzesvorbehaltes auch Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 190; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 229. 227 BVerfGE 8, 274 (325); E 13, 153 (160 f.); E 52, 1 (41).

III. Überprüfung der Wesentlichkeitsformel

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b) Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung umfaßt die Grundsätze des Vorranges wie des Vorbehaltes des Gesetzes. Da der Umfang des letzteren Gegenstand und nicht Voraussetzung dieser Untersuchung ist, läge auch hier ein Zirkelschluß vor, wollte man aus der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung an sich auf das verfassungsrechtlich gebotene Ausmaß gesetzlicher Regelungen schließen.228

c) Der Grundsatz der Rechtssicherheit Das Rechtsstaatsprinzip gebietet ein größtmögliches Maß an Rechtsklarheit 229, da nur so die Möglichkeit für den Bürger besteht, sein Verhalten auf die jeweilige Rechtslage einzurichten und für die Zukunft zu planen.230 Zu diesem Zwecke muß die im Einzelfall zu treffende Rechtsentscheidung vorhersehbar231 in der sie anordnenden Norm angelegt sein. Dies gilt in besonderem Maße dort, wo sich Rechte und Pflichten des einzelnen nach dem Willen des Gesetzgebers unmittelbar aus dem Gesetz ergeben sollen, der Rechtszustand also nicht durch einen das Gesetz umsetzenden Verwaltungsakt näher bestimmt wird. Im übrigen wird das Recht seine Akzeptanz bei den Bürgern nur finden, wenn die Einsicht in seine Berechtigung besteht, was eine hinreichende Verständlichkeit erfordert. Dies verlangt eine stärkere Verdeutlichung des gesetzgeberischen Willens und spricht für ein größeres Maß an Bestimmtheit. Hieraus folgt zwar ein Argument gegen zu unbestimmte, abstrakte Rechts228 Diesen Schluß auf eine „hinreichende" Bestimmtheit ziehen begründungslos BVerfGE 8, 274 (325); E 13, 153 (160) ; E 21, 73 (79 f.); E 52, 1 (41). Wie hier Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 190, der Artikel 20 Absatz 3 GG nur als Beweis für die Geltung des Vorrangprinzips, nicht dagegen des Vorbehaltes des Gesetzes für bestimmte staatliche Akte ansieht. 229 BVerfGE 21, 73 (79); E 47, 239 (247); E 59, 36 (52); E 63, 312, (324); E 65, 1 (54): „Grundsatz der Normklarheit". 230 BVerfGE 21, 73 (79); E 52, 1 (41) betonen das rechtsstaatliche Gebot klarer gesetzlicher Formulierungen, um dem Bürger die Möglichkeit zu eröffnen, sein Verhalten danach einzurichten. 231 Vorhersehbarkeit in diesem Sinne bedeutet nicht, daß auch der juristische Laie die konkret auszusprechende Rechtsfolge unmittelbar aus dem Gesetz ablesen kann. Der Bürger muß vielmehr anhand der gesetzlichen Regelung mit einer entsprechenden Entscheidung rechnen und gegebenenfalls fachkundigen Rechtsrat einholen können. Weitergehende Erwartungen würden zum einen die Möglichkeiten der Gesetzgebung verkennen, zum anderen jede eigene Entscheidung der Verwaltung, insbesondere jegliche Ermessensausübung, ausschließen und so den Gesetzesvorbehalt überdehnen.

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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begriffe, nicht jedoch ein Gebot größtmöglicher Bestimmtheit, da eine Übernormierung ihrerseits zur Unverständlichkeit von Gesetzen fuhren kann.232 Hinzuweisen ist auf die Gefahren zu unbestimmter straf- und bußgeld233

bewehrter Normen . Diese enthalten Verhaltensanforderungen an die Bürger, die keine weitere Konkretisierung durch einen Verwaltungsakt erfahren, weshalb sie die Rechtslage für die Betroffenen deutlich erkennbar aufzeigen müssen. Aus diesem Grunde fordert Artikel 103 Absatz 2 GG eine besondere Bestimmtheit von Strafgesetzen und verbietet den Analogieschluß im Strafrecht. 234 Ein ähnlicher Gedanke greift, allerdings in abgeschwächter Form, dort Platz, wo ein gesetzliches Verhaltensgebot zwar nicht durch das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht verstärkt wird, die Durchsetzung des Staatswillens aber im Wege der Zwangsvollstreckung erreicht werden kann. Der Grundsatz der Rechtssicherheit streitet mithin dort in verstärktem Maße für eine größere Regelungsdichte des Gesetzes, wo die Nichtbeachtung der gesetzgeberischen Entscheidung mit Sanktionen verbunden ist.

d) Der Vertrauensschutzgrundsatz 235

Schutzwürdiges Vertrauen erfordert einen Vertrauenstatbestand. Der Gesetzgeber ist aber nicht verpflichtet, einen solchen Anknüpfungspunkt des Vertrauensschutzes gerade in Rechtssatzform zu schaffen. Der Vertrauensschutzgedanke mit seinen materiellen Inhalten, wie dem Rückwirkungsverbot, greift vielmehr erst ein, wenn ein solcher Tatbestand besteht. Man wird höchstens fordern können, daß keine mißverständlichen Gesetze erlassen werden, um so die Entstehung von Vertrauen in einen dem wahren Willen des Gesetzgebers widersprechenden Regelungsgehalt zu vermeiden. Über das Gebot der Rechtssicherheit hinausgehende Aussagen lassen sich dem nicht entnehmen.

232

BVerfGE 49, 89 (137) (Kalkar) gesteht außerdem zu, bei manchen notwendigerweise flexiblen Regelungen müsse eine „gewisse Rechtsunsicherheit" „in Kauf genommen" werden. 233 Unbestimmte Strafnormen bergen stets die Gefahr des Mißbrauchs von Macht und sind daher auch ein Zeichen totalitärer Regierungsformen. Als Beispiel sei die Bekanntmachung des provisorischen Revolutionären Zentralrates der bayerischen Räterepublik vom 9.4.1919 genannt: „1.-9.... 10. Jeder Verstoß gegen revolutionäre Grundsätze wird bestraft. 11. Die Art der Strafen steht im freien Ermessen des Richters." Fundstelle aus Huber, Dokumente, Band 4, S. 112 f. 234 Hierzu Hill, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band VI, § 156, RN 58 ff. 235 Maurer, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 60, RN 7.

III. Überprüfung der Wesentlichkeitsformel

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e) Das Postulat materieller Gerechtigkeit im Einzelfall Die materielle Rechtsstaatlichkeit gebietet, soweit möglich Einzelfallgerechtigkeit zu verwirklichen und die Besonderheiten des jeweiligen Falles zu berücksichtigen.236 Wesentliches Merkmal des materiellen Gesetzes ist jedoch sein allgemeiner Charakter. Jeder Versuch, alle denkbaren Fallkonstellationen durch eine auf abstrakte Begrifflichkeiten verzichtende, möglichst alle Details umfassende Regelung zu erreichen, ist zum Scheitern verurteilt. 237 Eine übermäßig bestimmte, an zahlreichen Spezialfällen ausgerichtete Gesetzgebung verstellt den Blick für die Gemeinsamkeiten dieser Normierungen und bewirkt, daß der reine Gesetzeswortlaut im Rahmen der Auslegung und Anwendung des Gesetzes eine beherrschende Rolle einnimmt, die zugrundeliegenden gesetzgeberischen Motive hingegen nicht hinreichend deutlich werden und in den Hintergrund treten. So kann infolge einer in diesem Sinne sprachlich schlecht gefaßten Regelung der Fall eintreten, daß einige Sachverhalte vom Gesetzestext erfaßt werden, obwohl sie vom Gesetzeszweck her nicht geregelt werden sollten, andere jedoch, auf die das Motiv der gesetzlichen Regelung an sich zuträfe, nicht unter die Norm subsumiert werden können. Auf diese Weise kann der Vollzug des Gesetzes zu Ergebnissen führen, die dem jeweiligen Einzelfall nicht gerecht werden, die sich aber oft auch nicht unter Einsatz der zur Umsetzung des gesetzgeberischen Willens zur Verfugung stehenden rechtstechnischen Instrumente der Gesetzesauslegung sowie der Rechtsfortbildung korrigieren lassen.238 Da der natürliche Wortsinn eines Rechtsbegriffes Grenze jeder Auslegung sein muß 239 , findet diese als Korrektiv zur Berücksichtigung des Gesetzeszwecks bei besonders detaillierten Formulierungen des Normtextes enge Schranken. Jenseits dieser Grenze kommt eine Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens nur im Wege der Rechtsfortbildung durch Analogieschluß oder teleologische Reduktion in Betracht. 240 Die Erstreckung des Gesetzes auf 236

Die Einzelfallgerechtigkeit ist kein Einfallstor für subjektives Wertempfmden. Gemeint ist das auch gleichheitsrechtlich motivierte Gebot je angemessener Behandlung andersartiger Fälle. 237 BVerfGE 8, 274 (326): „Die Vielheit der Verwaltungsaufgaben läßt sich nicht immer in klar umrissene Begriffe einfangen.44 (vgl. auch oben § 1, Fußnote 44). 238 Die Korrektur übermäßig detaillierter Gesetze zur Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit ist abzugrenzen vom umgekehrten Vorgang der Ergänzung bewußt „offen 44 gestalteter Normen im Wege der Rechtsanwendung. Hierzu unten § 2 IV. 4.). 239 Lorenz, Methodenlehre, S. 322: „Was jenseits des sprachlich möglichen Wortsinns liegt, durch ihn eindeutig ausgeschlossen wird, kann nicht mehr im Wege der Auslegung als die hier maßgebliche Bedeutung dieses Ausdrucks verstanden werden.44 Kritisch dazu Depenheuer, S. 9 ff. 240 Larenz, S. 322.

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nicht geregelte vergleichbare Fälle241 sowie die Beschränkung seiner Anwendung nach Maßgabe des Gesetzeszwecks242 erfordern jedoch dessen Verdeutlichung durch den Gesetzgeber. Gerade dies kann aber durch eine an Beispielsfallen orientierte Normierung zahlreicher Details, die das allgemeinere Motiv der Regelung nicht hinreichend deutlich erkennen läßt, erschwert werden. Im übrigen kann eine Rechtsfortbildung bedenklich sein, wenn sie sich zu Lasten des grundrechtlich geschützten Freiheitsbereichs des Bürgers auswirkt. Insbesondere gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit eine die Vorhersehbarkeit von Eingriffen gewährleistende Normierung. Da aber eine den Wortlaut überschreitende, bloß am Gesetzeszweck orientierte Rechtsanwendung um so weniger voraussehbar ist, je enger die Norm sprachlich gefaßt ist, erheben auch die Freiheitsrechte Bedenken gegen die Korrektur einer Übernormierung im Wege der Rechtsfortbildung, die sich noch verstärken, je umfangreicher der Gesetzgeber von Einzelregelungen an Stelle von abstrakten Grundsatzaussagen Gebrauch gemacht hat. Eine übermäßig detaillierte Regelung bewirkt demzufolge tendenziell einen statischen, am Gesetzeswortlaut und nicht am Gesetzeszweck ausgerichteten Rechtszustand243, verhindert eine flexible Gesetzesanwendung244 und läßt nicht genügend Raum, um Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. 245 Letztere ist nur zu erreichen, wenn die entsprechenden Normen hinreichend „offen" formuliert sind, um die im konkreten Fall erheblichen besonderen Umstände persönlicher, sachlicher, zeitlicher oder örtlicher Art beim Gesetzesvollzug unter Ausnutzung der besonderen Sachkunde der Verwaltung berücksichtigen zu können.246 Zu diesem Zwecke darf der Gesetzgeber auch Ab241

Zum Analogieschluß Larenz, S. 381 ff.; Dernburg, Pandekten, Erster Band, S. 85 f., definiert die Analogie als »Anwendung einer für bestimmte Verhältnisse bestimmten Rechtsnorm auf verwandte Verhältnisse - similia - wegen Gleichheit des Grundes". Dieser „innere Grund" ist die „ratio" der Norm. 242 Zur teleologischen Reduktion Larenz, S. 391 ff. 243 Der Einwand mangelnder Flexibilität zu detaillierter Gesetze greift besonders im Technikrecht, das einem ständigen Wandel unterliegt; vgl. BVerfGE 49, 89 (136 f.) (Kalkar). 244 Die flexible Handhabbarkeit des Gesetzes erscheint zudem als Gebot der Praktikabilität. Da aber der Zweck allein die Mittel nicht heiligen kann, die Zweckmäßigkeit im Radbruchschen Sinne vielmehr hinter der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zurücksteht, soll dieser Gedanke nicht im Rahmen der Begründung des Gesetzesvorbehaltes, sondern (nur) dort zur Korrektur fruchtbar gemacht werden, wo dies (wie im Steuerrecht) nötig erscheint, um einen von Gerechtigkeitsgesichtspunkten angeleiteten Gesetzesvollzug zu erlauben. 245 Vgl. auch Osterloh, Gesetzesbindung, S. 123 ff. 246 BVerfGE 13, 153 (164), E 48, 210 (222); E 59, 104 (114 f.) heben hervor, daß Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe es „ermöglichen, das Gebot der

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striche bei der Rechtssicherheit machen.247 Je nach verfassungsrechtlichem Zusammenhang kann sich in Ausnahmefällen sogar zwingend ergeben, daß der Gesetzgeber zur Verwirklichung anderer Wertentscheidungen des Grundgesetzes eine „offene" Normierung wählen muß, um außergewöhnlichen Sachverhalten und Härtefällen Rechnung tragen zu können.248 Fordert das Gebot materieller Gerechtigkeit im Einzelfall somit eine eher geringe Regelungsdichte, so kann dies gesetzestechnisch entweder durch ein Unterbleiben jeder Regelung oder durch die Verwendung auslegungsfähiger unbestimmter Rechtsbegriffe 249 und weit gefaßter Generalklauseln auf der Tatbestandsseite und die Eröffnung von Ermessensspielräumen auf der Rechtsfolgenseite geschehen.

f) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes Artikel 19 Absatz 4 GG garantiert effektiven Rechtsschutz. Deutliche Vorgaben im Gesetz erleichtern die gerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns.250 Das Bundesverfassungsgericht stellt daher einen „Grundsatz der Justitiabilität"251 als Bestimmtheitsmaßstab auf. Allerdings soll Artikel 19 Absatz 4 GG nur die Einhaltung des Rechts absichern. Was das Recht beinhaltet und vor allem wer die entsprechende Regelung trifft, das heißt die Legislative einerseits oder die rechtsetzende oder das Recht vollziehende Exekutive andererseits, bleibt vom Rechtsschutzgebot uninhaltlichen Richtigkeit und materiellen Gerechtigkeit der Entscheidung im Einzelfall zu verwirklichen." (E 59, 104 (115)). BVerfGE 47, 46 (79) sieht umgekehrt die „Gefahren einer zu weitgehenden Vergesetzlichung". 247 BVerfGE 3, 225 (237 f.): „Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Prinzip der Rechtssicherheit mit der Forderung nach materialer Gerechtigkeit häufig in Widerstreit liegt und daß es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers sein muß, bald nach der Seite der Rechtssicherheit, bald nach der Seite der materialen Gerechtigkeit hin zu entscheiden." Ähnlich BVerfGE 15, 313 (319 f.). 248 BVerfGE 55, 134 (141 ff.) (zu Artikel 6 GG); E 68, 155 (173 ff.) (zu Artikel 12 Absatz 1 GG i.V.m. Artikel 3 Absatz 1 GG); vgl. zum Zusammenhang von Gleichheitssatz und Härteklauseln BVerfGE 60, 16 (38 ff.). 249 Gegebenenfalls in Verbindung mit der Einräumung von Beurteilungsspielräumen. 250 BVerfGE 52, 1 (41) fordert, daß das Gesetz vollzugsfähige Rechtsmaßstäbe setzt, um eine Kontrolle durch die Gerichte zu ermöglichen. Ohne weitere Folgerungen hieraus ziehen BVerfGE 8, 274 (326); E 13, 153 (160 f.) die Rechtsschutzgarantie als Begründung der gebotenen Bestimmtheit heran. 251 BVerfGE 21, 73 (79); E 47, 239 (247); 59, 36 (52); E 63, 312 (324) (stets im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Normklarheit).

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berührt. Deshalb sind „offene" Gesetze aus der Perspektive von Artikel 19 Absatz 4 GG nicht zu beanstanden, soweit dies aus anderen Gründen geboten ist und sofern eine gerichtliche Kontrolle möglich bleibt. Überdies sieht das Bundesverfassungsgericht „Verfahren und gerichtliche Kontrolle" als geeignet an, „mögliche Nachteile der Unbestimmtheit der gesetzlichen Regelung bis zu einem gewissen Grade abzugleichen."252 Das Gebot effektiven Rechtsschutzes fordert also nicht nur ein Mindestmaß an Bestimmtheit, die Möglichkeit gerichtlichen Schutzes ist umgekehrt ebenso imstande, ein gewisses Maß an Unbestimmtheit zu kompensieren und damit verbundene Rechtssicherheitsverluste zu rechtfertigen. 5 3 Das Gebot effektiven Rechtsschutzes besagt deshalb nur, daß verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich gewährte Rechtspositionen entsprechend justitiabel auszugestalten sind. Welche Rechte gewährt werden, das heißt ob eine gesetzliche Regelung erforderlich ist, bleibt insoweit unbeantwortet. Artikel 19 Absatz 4 GG gestattet es dem Gesetzgeber demnach, auf der Tatbestandsseite der Norm unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln zu verwenden, falls sie hinreichend auslegungsfähig sind. Eine Konkretisierung durch Rechtsprechung und Literatur mag insofern genügen. Mangels entsprechender Möglichkeiten zur gerichtlichen Ausfüllung begegnet die Einräumung von Beurteilungsspielräumen indessen größeren Bedenken. Auf der Rechtsfolgenseite ist die Eröffnung von Ermessensspielräumen zulässig, soweit dies der Einzelfallgerechtigkeit dient und genügend ermessensleitende Gesichtspunkte aus dem Gesetz oder der Natur des zu regelnden Sachbereichs vorliegen, die eine willkürfreie Ermessensausübung gestatten.

g) Schlußfolgerung Die Aussagen der rechtsstaatlichen Einzelprinzipien zum gebotenen Maß gesetzlicher Regelungsdichte widersprechen einander. Streiten die Grundsätze der Rechtssicherheit und des effektiven Rechtsschutzes eher für eine bestimmtere und justitiable Gesetzesfassung, so fordern die Gedanken der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall sowie der sachgerechten und flexiblen 252

BVerfGE 49, 168 (182); hierzu Osterloh, Gesetzesbindung, S. 130 BVerfGE 33, 303 (341) (numerus clausus): „Ausfüllungsbedürfiige materiellrechtliche Normen, die in den Grundrechtsschutz eingreifen, erscheinen eher tragbar, wenn durch ein formalisiertes, gerichtlich kontrollierbares Verfahren dafür vorgesorgt wird, daß die wesentlichen Entscheidungsfaktoren geprüft und die mit der Norm angestrebten Ziele wirklich erreicht werden." BVerfGE 41,251 (265); E 44, 105 (116); E 49, 168 (182) nehmen hierauf Bezug. 253

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Aufgabenerfüllung der Verwaltung offenere Formulierungen. Zwischen diesen verschiedenen Zwecken ist ein Ausgleich herzustellen, der die Besonderheiten des jeweiligen Regelungsbereichs und des verfassungsrechtlichen Zusammenhanges bedenkt. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt darum keine größtmögliche, sondern nur eine hinreichende Normdichte. Der so bezeichnete Regelungsbedarf kann in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Begriff des „Wesentlichen" umschrieben werden. Eine genauere begriffliche Eingrenzung erscheint unmöglich, da der zwingend zu regelnde Bereich nicht für alle Rechtsgebiete einheitlich festgelegt werden kann. Wird die Kompetenzgrenze zwischen Gesetzgeber und Verwaltung aus rechtsstaatlicher Sicht durch den allgemeinen und ausfüllungsbedürftigen Begriff des „Wesentlichen" markiert, so stellt sich die Frage nach dem zuständigen staatlichen Organ für die letztverbindliche Entscheidung, welchen der widerstreitenden Zwecke bei der Ermittlung des „Wesentlichen" jeweils der Vorzug zu geben ist. Mit anderen Worten ist die Zuständigkeit zur verbindlichen Festlegung der Kompetenzen im Verfassungsgefüge zu bestimmen. Aus dem Blickwinkel des Rechtsstaatsprinzips ist insoweit vor allem auf den Gewaltenteilungsgrundsatz abzustellen, nach dem das Parlament primär zur Rechtsetzung berufen ist. Es ist in diesem Sinne Erstadressat255 der Verfassung und muß in eigener Verantwortung über den Inhalt der zu treffenden Regelung einer von ihm als „wesentlich" eingeschätzten Frage entscheiden und dabei auch zwischen verschiedenen materiellen Verfassungsaussagen abwägen. Zur Umsetzung der Befugnis zur inhaltlichen Gestaltung der Gesetze, durch die einer politischen Mehrheitsentscheidung allgemeinverbindliche hoheitliche Geltung verliehen wird, bedarf es eines entsprechenden Spielraumes zur Wahl des jeweils angemessenen Gestaltungsmittels, mit der untrennbar zugleich die sachliche Abwägung zwischen den genannten einander entgegengesetzten Zwecken verbunden ist. Dies bedeutet, daß es grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muß, ob und wie bestimmt er eine Regelung trifft. Die Exekutive ist an diese Entscheidung gebunden, die Judikative kann sie als Letztadressat des Grundgesetzes nur auf eine Verletzung der zu verwirk254

BVerfGE 40, 237 (249) führt zur Konkretisierung des rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehaltes aus: „Welche Bereiche das im einzelnen sind, läßt sich indessen aus Artikel 20 Absatz 3 GG nicht mehr unmittelbar erschließen. Insoweit ist vielmehr auf die betroffenen Lebensbereiche und Rechtspositionen des Bürgers und die Eigenart der Regelungsgegenstände insgesamt abzustellen. Die Grundrechte mit ihren speziellen Gesetzes vorbehalten und mit den in ihnen enthaltenen objektiven Wertentscheidungen geben dabei konkretisierende weiterführende Anhaltspunkte." 255 Zum Begriff des Adressaten eines Rechtssatzes Kirchhof, Paul, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 26 ff; derselbe, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band V, § 125, RN 24 ff. 6 Seiler

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lichenden Verfassungsprinzipien durch Überschreitung des gesetzgeberischen Gestaltungsrahmens überprüfen. 256 Die Rechtsprechung darf grundsätzlich nicht die bloße Zweckmäßigkeit einer politischen Entscheidung, sondern nur die Rechtmäßigkeit derselben kontrollieren. 257 Dieses Ergebnis ist durchaus vereinbar mit der obigen Aussage, dem Grundsatz der Gewaltenteilung sei nicht zu entnehmen, welche Gegenstände zwingend vom Gesetzgeber zu regeln sind, da dort gefragt wurde, ob eine Materie dem Gesetz zugewiesen ist, hier aber zu erörtern war, wer diese nach Maßgabe der sonstigen beachtlichen Umstände zu beurteilende Frage entscheiden soll. Eine gewisse gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit begünstigt dazu auch die Rechtssicherheit, die nicht nur verlangt, daß der Inhalt einer staatlichen Entscheidung .deutlich erkennbar wird, sondern auch, daß ihre Geltung unzweifelhaft feststeht. Im Falle unbegrenzter richterlicher Kontrolle der gebotenen Regelungsdichte ließe sich erst nach einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung feststellen, ob der Parlamentsgesetzgeber eine hinreichend bestimmte Gesetzesformulierung gefunden hat. Bis zu diesem Zeitpunkt bliebe unklar, ob die Norm Bestand haben kann. Der gesetzgeberische Gestaltungsrahmen begründet hingegen eine Regelvermutung für die Gültigkeit des nur ausnahmsweise aufzuhebenden förmlichen Gesetzes. Angemerkt sei, daß die für eine größere Regelungsdichte angeführten Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und des effektiven Rechtsschutzes durch einen exekutiven Rechtssatz an sich in gleichem Maße gewahrt werden. Sie streiten mithin in erster Linie nicht für den Parlamentsvorbehalt, sondern für einen im weiteren Sinne verstandenen, auch die Rechtsverordnung als untergesetzliche Rechtsnorm umfassenden Gesetzesvorbehalt.258 Dennoch haben die genannten Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips auch für den Vorbehalt des formellen Gesetzes Bedeutung. Falls eine förmliche Normierung aus anderen Gründen nötig ist oder wenn der Gesetz256

BVerfGE 21, 73 (79): „Ob der Gesetzgeber bei der Festlegung eines gesetzlichen Tatbestandes sich eines Begriffes bedient, der einen Kreis von Sachverhalten deckt, oder eng umschriebene Tatbestandsmerkmale aufstellt, liegt in seinem Ermessen. Das Bundesverfassungsgericht kann nur prüfen, ob er hierbei die ihm durch die Verfassung gesteckten Grenzen eingehalten hat." Ähnlich BVerfGE 49, 89 (136 f.); E 80, 103 (108); Ausdruck des eine bloße Grenzkontrolle gestattenden legislativen Spielraumes ist die gängige Formulierung, eine Gestaltung sei,»nicht zu beanstanden". 257 Dem widerspricht es nicht, daß das Bundesverfassungsgericht mit der Verhältnismäßigkeit von Gesetzen auch deren Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit hinterfragt, da erst eine offensichtlich fehlsame Entscheidung zur Rechtswidrigkeit des Gesetzes und damit zu dessen Aufhebung führt. 258 Eberle, DÖV 1984, S. 485 (489) meint, ein Parlamentsvorbehalt lasse sich aus rechtsstaatlichen Erfordernissen nicht herleiten.

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geber sich freiwillig entschieden hat, eine Angelegenheit selbst zu regeln, müssen diese Grundsätze im Rahmen des formellen Gesetzes verwirklicht werden. Dies kann jedoch keinen Parlamentsvorbehalt begründen, sondern nur Auswirkungen auf die gleichzeitig zu beantwortende Folgefrage nach dem gebotenen Grad der gesetzlichen Regelungsdichte haben. Inwieweit das Parlament sich darüber hinaus gerade im Hinblick auf eine rechtssatzformige Aufgabenwahrnehmung durch die Exekutive einer Regelung enthalten darf, wird im Zusammenhang von Artikel 80 GG zu erörtern sein.

2. Das Demokratieprinzip Weitere Wurzel des Parlamentsvorbehaltes ist das Demokratieprinzip 259, das allerdings wegen seiner Abstraktheit nicht als solches, sondern nur vermöge einiger Einzelaussagen Auskunft über die verfassungsrechtlich gebotene Normdichte formeller Gesetze geben kann.

a) Die unmittelbare demokratische Legitimation des Parlaments Die Volksvertretung ist im demokratischen Staat des Grundgesetzes das Repräsentativorgan des Staatsträgers, das heißt des Volkes. Ihr ist die nach dem Gesellschaftsvertrag gebotene Ermittlung des „allgemeinen Willens" aufgegeben, der den materiellen Gehalt des allgemeinen Gesetzes ausmacht. Infolgedessen ist das Parlament kraft seiner unmittelbaren und damit größtmöglichen demokratischen Legitimation zur Gesetzgebung berufen. Aus diesem Befund lassen sich indes nur geringe Rückschlüsse auf die gebotene Regelungsdichte parlamentarischer Gesetzgebung ziehen. Zwar begründet die besondere Stellung des Parlaments eine erhöhte Verantwortung der Volksvertretung, die tendenziell für eine Ausweitung des Gesetzesvorbehaltes spricht, jedoch bedarf diese Aussage sogleich einiger Einschränkungen. Die vollziehende Gewalt ist heute im Gegensatz zur monarchischen Exekutive des Frühkonstitutionalismus, der Zeit der ersten Niederlegungen des Vorbehaltsgrundsatzes in Deutschland, selbst demokratisch legitimiert. 260 Auch wenn diese Legitimation lediglich durch die Wahl des Bundeskanzlers

259 260

Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band I, § 22; Badura, ebenda, § 23. So ausdrücklich BVerfGE 49, 89 (125) (Kalkar).

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seitens des unmittelbar vom Volk gewählten Deutschen Bundestages261 vermittelt ist 262 , darf dennoch nicht übersehen werden, daß die Bundestagswahl trotz der anderslautenden verfassungsrechtlichen Theorie rein tatsächlich in ihrem Ausgang von der Entscheidung der Bevölkerung über die künftige Regierung abhängig ist 263 , die demokratische Legitimation der Exekutivspitze jener der Volksvertretung also insofern kaum nachsteht. Eine eindeutige Kompetenzzuweisung an die legislative Gewalt kann dem nicht entnommen ι

264

werden. Die an sich wesensgleiche, lediglich graduell abgestufte demokratische Legitimation aller Staatsorgane, die dem Parlament nur den Rang einer „höheren demokratischen Dignität" 265 zuweist, steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem bereits angedeuteten Funktionswandel des Gesetzesvorbehaltes, der letztlich auf einer Abschwächung des strengen konstitutionellen Dualismus beruht. Der Gesetzesvorbehalt wurde in seiner Frühzeit als Schranke der Exekutive, das heißt der Krone, angesehen. Die Befugnis zur parlamentarischen Normierung sollte die Gesellschaft vor Übergriffen des Staates schützen, denen sie nicht zuvor selbst zugestimmt hatte, eine Vorstellung, die von einem strikten Gegensatz von Legislative und Exekutive ausging. In der demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes besteht hingegen eine starke Verschränkung beider Gewalten, die sich vor allem darin äußert, daß der Bundeskanzler samt der von ihm gebildeten Bundesregierung als Exekutivspitze dem Bundestag verantwortlich ist. 266 Die eigentliche Trennlinie zwischen den verschiedenen politischen Kräften verläuft nicht mehr zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen den die Regierung stützenden Fraktionen, die im Regelfall den Gesetzesvorlagen der Regierung zustimmen, und den Oppositionsfraktionen. 267 Zwar begrenzt der Parlamentsvorbehalt noch immer das Handeln der vollziehenden Gewalt und insbesondere der nachgeordneten Behörden, deren auf eine Entscheidung des Volkes zurückzuführende Legitimation durch eine Vielzahl einzelner Legitimations261

Artikel 63 Absatz 1 GG. Diese Wahl ist nur ein Glied der Legitimationskette von Berufungsakten, auf die (oder auf die demokratische Legitimation in den Ländern) sich die Kompetenzen eines jeden Amtswalters zurückführen lassen müssen. 263 Bezeichnend ist die Wahlwerbung der Parteien, die Zweitstimme sei „Kanzlerstimme". 264 Nach Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band I, § 22, RN 15, schließt die ebenfalls bestehende demokratische Legitimation der Exekutive es aus, diese unter Berufung auf das Demokratieprinzip einem „allumfassenden Parlaments- oder Gesetzesvorbehalt" zu unterwerfen. 265 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band I, § 22, RN 16. 266 Wichtigstes Machtmittel des Parlaments ist das Mißtrauensvotum (Artikel 67 GG). 267 Kisker, NJW 1977, S. 1313 (1314). 262

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akte vermittelt werden und deswegen an Deutlichkeit verlieren muß, jedoch kann die Exekutive heute nicht mehr eindeutig als Gegenspieler der Volksvertretung ausgemacht werden. Der Parlamentsvorbehalt hat seine Funktion als Instrument zum Schutze der Gesellschaft insoweit teilweise eingebüßt. Steht die Gesetzgebung somit - rein bildlich gesprochen - nicht mehr „außerhalb" des durch den Monarchen verkörperten Staates, sondern wird sie zur zentralen Funktion „innerhalb" des demokratischen Staatswesens, so verlagert sich die Sichtweise des formellen Gesetzesvorbehaltes zugleich weg von einer reinen Befugnis zur Beschränkung exekutiver Machtvollkommenheit aus Gründen des Selbstschutzes der Gesellschaft hin zu einer Pflicht zur parlamentarischen Sachentscheidung. Dieser Gedanke erhöht die Verantwortlichkeit des formellen Gesetzgebers nicht generell, beschränkt ihn aber gerade in seiner Stellung als Delegationsgesetzgeber. Auch in einer anderen Hinsicht ist die Situation der gegenwärtigen Gesetzgebung nicht mit jener der Aufklärungsepoche, der Entstehungszeit des modernen Demokratiegedankens, oder der des Konstitutionalismus vergleichbar. Infolge der starken Ausweitung des Tätigkeitsfeldes des modernen Leistungsstaates sind heute fast alle Lebensbereiche gesetzlich geregelt. In früheren Zeiten waren nur die grundsätzlichen Fragen Gegenstand der Normierung. Die verfassungstheoretischen Betrachtungen jener Tage gingen daher auch nur von einer parlamentarischen Regelung des Grundsätzlichen aus. Der Gedanke der demokratischen Legitimation zwingt deshalb im geschichtlichen Vergleich nicht dazu, auf eine möglichst umfassende Regelungsdichte zu dringen. Folglich ist das Parlament zwar unmittelbar und damit zugleich intensiver, nicht aber qualitativ anders demokratisch legitimiert. Daraus kann kein eindeutiger Schluß auf ein bestimmtes Ausmaß der Kompetenzen der Volksvertretung gezogen werden. Man mag hierin lediglich ein tendenziell für eine stärkere Verantwortung des Parlaments sprechendes Indiz sehen.268

b) Die Möglichkeit öffentlicher Diskussionen im Parlament Waren die bisherigen Erwägungen eher demokratietheoretischer Natur, so sollte daneben auch der faktische Gesichtspunkt der Beteiligung der Bevölke268

Für Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 78 ff., ergibt sich aus der „höheren demokratischen Rangstufe" „noch keine Vermutung fur eine möglichst umfassende Kompetenz". Nach Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 214, vermag „die Spitzenstellung des Parlaments allenfalls den Vorrang parlamentarischer Willensakte zu begründen, nicht aber Anhaltspunkte für einen totalen Vorbehalt zu liefern".

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rung an der Entscheidungsfindung des Staates Beachtung finden. Die parlamentarische269 Befassung mit einer zu regelnden Materie ermöglicht eine öffentliche Diskussion270 und spricht so für ein erweitertes Verständnis des 271

Gesetzesvorbehaltes gerade aus Gründen des Demokratieprinzips. Das Gesetzgebungsverfahren 272 mit seinen drei Lesungen im Bundestag 7 3 und der Beteiligung des Bundesrates274 läßt die Allgemeinheit von den zur Entscheidung anstehenden Fragen und den Lösungsansätzen verschiedener politischer Strömungen Kenntnis nehmen. Dies erzeugt eine Rückkoppelung der Entschließungen der Volksvertretung an die Meinungsbildung in der Gesellschaft. Die Berichterstattung in den Medien über die Vorgänge im Parlament setzt Willensbildungsprozesse in der Bevölkerung in Gang. Als deren Folge kommt es zur Einwirkung auf die Abgeordneten durch Eingaben Betroffener, durch Gespräche in Wahlkreisen oder durch die Berichterstattung der Medien über Reaktionen der Bürger zum Beispiel in Form von Demonstrationen. Fördert es somit die allgemeine Diskussion, wenn von der Öffentlichkeit mit Interesse aufgenommene Fragen im Parlament behandelt werden, und verstärkt dies die Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung, so trifft dieser Umstand doch nicht auf alle Angelegenheiten gleichermaßen zu. Zum einen sind nur Grundsatzfragen einer öffentlichen Erörterung zugänglich. Details und technische Regelungen werden von der Allgemeinheit in der Regel nicht beachtet. Dieser Ansatz kann also nur eine gesetzliche Regelung des Grundsätzlichen fordern, nicht aber dessen Ausführung im einzelnen umfassen. Zum anderen wird die öffentliche Diskussion stark von den Interessenvertretern einzelner gesellschaftlicher Gruppen beeinflußt, die ihre Anliegen über den Druck der Öffentlichkeit durchzusetzen suchen. Andere Bevölkerungsteile, wie beispielsweise Kinder, verfügen nicht über eine lautstarke Interessenvertretung. Die öffentliche Beachtung einer Frage allein kann aus diesem Grund noch

269 Auf die Bedeutung der (öffentlichen) Erörterung streitiger Fragen weist bereits der sprachliche Sinn des Wortes „Parlament" hin. Zur Geschichte des Parlamentarismus und dieses Begriffes Badura, in: Isensee / Kirchhof,\ HStR, Band I, § 23, RN 20 ff. 270 Die Wesentlichkeitsjudikatur wurde vor allem im damals angesichts besonderer bildungspolitischer Polarisierung sehr kontrovers diskutierten Schulrecht entwickelt. 271 BVerfGE 40, 237 (249) betont das „höhere Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche" im Parlament. 272 Eberle , DÖV 1984, S. 485 (490), sieht gerade im parlamentarischen Verfahren die Begründung für das Erfordernis des Parlamentsvorbehaltes. Nach Starck, Gesetzesbegriff, S. 169 ff., „gewährleistet bereits das Gesetzgebungsverfahren eine gewisse inhaltliche Güte des Gesetzes". Dies gelte aber nur für grundlegende Regelungen. Auch von Arnim, DVB1. 1987, S. 1241 (1243 ff.), bringt das Verfahren der Entscheidungsfindung in Verbindung mit der Richtigkeit der Entscheidung selbst. 273 § 78 Absatz 1 GeschOBT. 274 Artikel 77 GG.

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nicht darüber Auskunft geben, ob der Gesetzgeber sich ihrer annehmen muß.275 Im übrigen kann die starke Einwirkung von Interessenverbänden auf die Abgeordneten die Rückkoppelung der von der Volksvertretung getroffenen Entscheidungen an den Volkswillen auch de facto einschränken, da sie gelegentlich zu einer Vorwegnahme politischer Entscheidungen auf „diplomatischem" Wege fuhren mag.2 6 Die an sich wünschenswerte öffentliche Auseinandersetzung leidet so an Schwächen, die ihre Wirkungskraft als Argument fur eine Ausdehnung des Parlamentsvorbehaltes verringern. Als Folge dessen kann man die Möglichkeit einer öffentlichen Erörterung von im Parlament behandelten Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung nur als zusätzliches Anzeichen für das Erfordernis einer förmlichen Regelung ansehen. Dessen Aussagekraft wird jedoch eher gering sein, da in der Praxis auch die bloße Ankündigung von Regierungsvorhaben eine ähnliche Wirkung haben kann.

c) Stärkung des Parlaments durch dessen Entlastung Das demokratische Prinzip kann zugleich auch gegen eine Ausweitung des Vorbehaltsgedankens angeführt werden. Eine Beschränkung des Parlaments auf Grundsatzentscheidungen erleichtert ihm die Wahrnehmung seiner Aufgaben und stärkt so seine Stellung. Die öffentliche Diskussion der gesetzgeberischen Vorhaben wird nur bei Fragen von allgemeiner Bedeutung gewährleistet sein und daher durch eine Beschränkung auf das „Wesentliche" erst ermöglicht. Die Bildung von Sachverstand im Parlament als Voraussetzung einer eigenverantwortlichen Entscheidung der Abgeordneten ist nur bei einer Konzentration auf das Grundsätzliche erreichbar. Bei einer Überlastung der Parlamentarier ist eine kritiklose Zustimmung jedenfalls der Mehrheitsfraktionen zu den Gesetzentwürfen der über einen sachkundigen

275 BVerfGE 49, 89 (126) (Kalkar): „Auch die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, vermag die von der Verfassung zugeordneten Entscheidungskompetenzen nicht zu verschieben." Anders Kisker, NJW 1977, S. 1313 (1318), der das „politisch Kontroverse" als das Wesentliche ansieht, diesen Ansatz aber im Hinblick auf „politische Modeströmungen" selbst wieder einschränken muß. Der Sache nach ist das öffentliche Interesse bei Kisker wohl ebenfalls nur ein Indiz für eine gesteigerte Regelungsbedürftigkeit. 276 Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (171 ff.), bezeichnet das Parlament als „unmittelbare Angriffsfläche der sachfremden Einflüsse der Verbände und Interessengruppen", schränkt dies aber dahingehend ein, daß auch die Exekutive derartigen Einflüssen ausgesetzt sei.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Expertenstab verfügenden Ministerialbürokratie zu befürchten. 277 Dies hätte zum Ergebnis, daß die „wesentliche" Konzeption des Gesetzes von der Regierung vorgegeben würde, das durch den Parlamentsvorbehalt zu wahrende Verhältnis von Legislative und Exekutive könnte sich der Sache nach gerade durch die Erstreckung des Vorbehaltes auf „Unwesentliches" umkehren und die parlamentarische Entscheidung zu einem sinnentleerten Formalismus verkommen lassen.278

d) Schlußfolgerung Das Demokratieprinzip hält nach alledem gegensätzliche Aussagen zum Umfang des Parlamentsvorbehaltes bereit. Sprechen die stärkere, unmittelbare demokratische Legitimation des Bundestages und die Veröffentlichungsfunktion des Gesetzgebungsverfahrens tendenziell für einen erweiterten Vorbehalt, so widerspricht dem die Forderung nach Entlastung des Parlaments zur Sicherung seiner demokratischen Funktion. Beide Seiten sind zu einem sachgerechten Ausgleich zu führen, dessen Ergebnis ein „hinreichendes" Maß an Regelungsdichte in Form der Entscheidung (nur) des „Wesentlichen" sein wird. Verbunden mit der Feststellung, welche Punkte in diesem Sinne „wesentlich" sind, stellt sich die Frage nach der Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung hierüber. Aus Sicht des demokratischen Gedankens wird man dem Parlament hier ein Recht des ersten Zugriffs zugestehen müssen. Dies ist einerseits die Konsequenz seiner unmittelbaren demokratischen Legitimation, kraft derer der Bundestag in erster Linie zur Wahrung des Demokratieprinzips berufen ist. Andererseits kann der Bedarf an Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung von ihr selbst am besten eingeschätzt werden. Hieraus folgt sowohl, daß die Legislative jederzeit zur Beschränkung der ohne gesetzliche Grundlage tätigen Exekutive von ihrem Gesetzgebungsrecht Gebrauch machen kann (Vorrang des Gesetzes)279, als auch, daß der Gesetzgeber über einen Gestaltungsspielraum verfügt, inwieweit er ein Tätigwerden der 277 Für Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (172), ist der Gesetzgeber „nicht selten ... auf die fachlichen Kenntnisse der Verwaltung und ihrer Experten schlechterdings angewiesen, ja von ihnen abhängig". 278 Kirchhof, Paul, in: Festgabe Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 81, fordert aus diesem Grunde, der Gesetzgeber habe sich darauf zu beschränken, „eine dauerhafte Ordnung im Grundsätzlichen herzustellen". 279 Zu diesem Zwecke sieht Artikel 76 Absatz 1 GG vor, daß Gesetzesinitiativen nicht nur von Bundesregierung und Bundesrat, sondern vor allem auch aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden können.

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III. Überprüfung der Wesentlichkeitsformel

vollziehenden Gewalt vom Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigung abhän280

gig machen will (Vorbehalt des Gesetzes) . Der Judikative obliegt auch aus demokratischer Perspektive nur die Kontrolle der Einhaltung der rechtlichen Grenzen dieses Gestaltungsrahmens, die, versteht man den Parlamentsvorbehalt nicht als Selbstzweck, sondern funktional zur Verwirklichung anderer Aussagen des Grundgesetzes, nicht dem Vorbehalt selbst zu entnehmen sind, sondern von den zu wahrenden Verfassungsprinzipien gebildet werden.

3. Die Grundrechte a) Arten der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte Der allgemeine Gesetzesvorbehalt ist abzugrenzen von den Gesetzesvorbehalten der Grundrechtsdogmatik, die jeweils fur ein bestimmtes Freiheitsrecht die Möglichkeit zulässiger Einschränkungen durch den Gesetzgeber regeln. Da beide Rechtsfiguren das Erfordernis einer gesetzlichen Rechtsgrundlage betreffen, das Bundesverfassungsgericht zudem den Parlamentsvorbehalt regelmäßig durch die Formulierung „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" 281 erläutert, handelt es sich bei diesen Einzel verbürgungen um „Spezialvorbehalte", die den allgemeinen Gesetzesvorbehalt für bestimmte Rechtsbereiche inhaltlich ausgestalten.282 Das Grundgesetz unterscheidet in der Art der Beschränkbarkeit der Grund283

rechte zwischen verschiedenen Typen des Gesetzesvorbehaltes. Einem „einfachen Gesetzes vorbehält" unterliegen jene Grundrechte, in die nach dem Wortlaut der Verfassung „durch Gesetz" oder „auf Grund eines Gesetzes" eingegriffen werden darf, ohne daß dafür weitere Voraussetzungen gemacht werden. 284 Von einem „qualifizierten Gesetzesvorbehalt" spricht man, wenn das Grundgesetz zusätzliche Anforderungen an das den Eingriff gestattende Gesetz stellt.285 Bei den „vorbehaltlosen Grundrechten" sieht die Verfassung ihrem Wortlaut nach keine Eingriffsmöglichkeit vor

286

, dennoch besteht inso-

280 Ein Beispiel für eine bewußte Begrenzung exekutiven Tätigwerdens enthält der einfachgesetzlich begründete Gesetzesvorbehalt des § 31 SGB I (Allgemeiner Teil). 281 BVerfGE 47, 46 (79); seitdem ständige Rechtsprechung. 282 Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 31 f. 283 Vgl. Pieroth / Schlink, Grundrechte, S. 60 f. 284 Zum Beispiel Artikel 8 Absatz 2 GG oder Artikel 10 Absatz 2 Satz 1 GG. 285 Beispielsweise Artikel 5 Absatz 2 GG und Artikel 11 Absatz 2 GG. 286 Genannt seien Artikel 4 GG sowie Artikel 5 Absatz 3 GG.

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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weit Einigkeit, daß auch diese Grundrechte zur Vermeidung eines wildwüchsigen Freiheitsgebrauchs durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden können, wozu ebenfalls (und erst recht) eine gesetzliche Regelung zu fordern ist. 287 Da die Grundrechte einschließlich ihrer Gesetzesvorbehalte den Gesetzgeber gemäß Artikel 1 Absatz 3 GG binden und die Verfassung nach Artikel 20 Absatz 3 GG Vorrang vor dem einfachen Gesetz hat, folgt bereits hieraus eine Regelungspflicht des Gesetzgebers für Grundrechtseingriffe. 288 Allerdings bleibt für das jeweilige Grundrecht noch zu ermitteln, ob es sich 289

um einen formellen , zwingend ein Parlamentsgesetz fordernden oder um einen materiellen 290, eine Regelung durch Rechtsverordnung auf Grund formell gesetzlicher Ermächtigung gestattenden Gesetzesvorbehalt handelt. Vorbehaltlich weiterer Untersuchungen kann dem Artikel 80 GG die Entscheidung der Verfassung entnommen werden, durch exekutive Rechtsetzung vorgesehene Grundrechtsbeschränkungen grundsätzlich nur unter der Mindestvoraussetzung einer förmlichen Ermächtigung zuzulassen. Als Folge dessen beantwortet sich die Frage, ob ein Parlamentsgesetz erforderlich ist, in beiden Fällen gleich. Das Vorliegen eines Eingriffs ist also stets hinreichende Bedingung des Parlamentsvorbehaltes. Unterschiede zum bloßen Gesetzesvorbehalt bleiben, was noch näher zu ergründen sein wird, nur für das Maß der gebotenen Bestimmtheit des ermächtigenden Parlamentsgesetzes denkbar. Jedenfalls mag die generelle Zulässigkeit einer gesetzlichen Delegation an den Verordnungsgeber als Indiz dafür dienen, daß bei diesen Grundrechten eine geringere Regelungsdichte des formellen Gesetzes als bei anderen unbeanstandet bleiben darf. Immer ist jedoch zumindest die grundsätzliche Entscheidung im förmlichen Gesetz zu treffen. Insbesondere bei den vorbehaltlos 287

Vgl. nur Pieroth / Schlink, S. 61. Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (151); der allgemeine Gesetzesvorbehalt gehe im Vorrang des Gesetzes auf und sei neben den einzelnen grundrechtlichen Vorbehalten verzichtbar (S. 156). 289 Artikel 104 GG postuliert einen formellen Gesetzesvorbehalt für die Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 GG). Gleiches fordern Pieroth / Schlink, S. 62, für Artikel 13 Absatz 2 GG. 290 BVerfGE 6, 32 (37 f.) (Elfes) billigt die Schrankenziehung durch materielles Gesetz auf Grund formeller Ermächtigung bei Artikel 2 Absatz 1 GG. Auch die „einfachen Gesetzesvorbehalte" gestatten Grundrechtsbeschränkungen durch materielles Gesetz „auf Grund eines (förmlichen) Gesetzes" (Pieroth / Schlink, S. 62). Weitere Beispiele (nach Pieroth / Schlink) für bloß materielle Vorbehalte sind das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (S. 92), wobei wegen der Intensität etwaiger Eingriffe regelmäßig eine wesentliche, förmlich zu regelnde Frage vorliege (anders VGH Mannheim DÖV 1979, S. 338 (339): stets formelles Gesetz) und Artikel 5 Absatz 2 GG (S. 141). Auch der Regelungsvorbehalt in Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG erlaubt Delegationen an den Verordnungsgeber (S. 207). Ebenso können materielle Gesetze Inhaltsund Schrankenbestimmung nach Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG sein (S. 229). 288

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gewährten Grundrechten wird dem Gesetzgeber die prinzipielle Abwägung zwischen zu beschränkendem Freiheitsrecht und dem zur Rechtfertigung herangezogenen kollidierenden Verfassungsrecht aufzuerlegen sein.291 Über den generellen Befund einer grundsätzlichen Entscheidungspflicht des Gesetzgebers hinausgehende Einzelaussagen lassen sich dem allgemein gehaltenen Wortlaut dieser speziellen Grundrechtsverbürgungen kaum entnehmen.

b) Die Grundrechte nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag Jeder Versuch, aus den Grundrechten Folgerungen für das Verhältnis des einzelnen zum Staat sowie für Aufgaben und Organisation des Staates zu ziehen, ist abhängig vom grundrechtstheoretischen Standpunkt des Verfassungsinterpreten. 292 Die vorliegende Studie sei auf ein in seinem Ausgangspunkt als liberalstaatlich zu bezeichnendes Grundrechtsverständnis gestützt, nach dem 293

die Grundrechte dem Staat vorausliegende Abwehrrechte des einzelnen zum Schutze seiner individuellen Freiheitssphäre 294 gegen den Staat darstellen.295 Kerngedanke dieser Grundrechtstheorie ist ein Verteilungsprinzip 296 zwischen grundsätzlich unbeschränkter, aber rechtsstaatlich beschränkbarer Individualsphäre und Staatsgewalt, dem letztlich die Lehre vom Gesellschaftsvertrag zugrunde liegt. Dennoch geht das Menschenbild des Grundgesetzes nicht von einem strikt isolierten Individuum aus, sondern sieht den einzelnen als in die 297

Gemeinschaft einbezogen. 291

Keinesfalls verkannt werden sollte ferner die

Ein Beispiel für eine solche praktische Konkordanz zwischen vorbehaltlosem Grundrecht und kollidierendem Verfassungsrecht findet sich zu Artikel 4 Absatz 3 GG für den Fall einer über eine bloß ausgestaltende Regelung hinausgehenden Beschränkung in BVerfGE 28, 243 (260 f.). 292 Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ff., betont angesichts der knappen Fassung der Grundrechte: „Teleologische Sinn- ebenso wie systematische Interpretation dieser Bestimmungen können letztlich nicht anders als aus einer bestimmten Grundrechtstheorie heraus erfolgen." (S. 1529). 293 Indiz für den hohen Rang des Individuums ist die vom Bundesverfassungsgericht (in wohl bewußter Abkehr von der bislang üblichen Schreibweise) gewählte Großschreibung als „der Einzelne", die im Rahmen der hier noch nicht berücksichtigten Rechtschreibreform allgemein gebräuchlich werden soll. 294 Der Begriff der „individuellen Freiheitssphäre" wird in Anlehnung an Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 94 ff, gebraucht. 295 Für Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1537), ist dies die „leitende Idee" der Grundrechte des Grundgesetzes. 296 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, S. 164 ff. 297 BVerfGE 4, 7 (15 f.) folgert aus einer „Gesamtsicht der Artikel 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG": „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum -

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt 298

„relative Blindheit" des auf die Selbständigkeit des Menschen vertrauenden liberalstaatlichen Ansatzes gegenüber den unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen der Freiheitsbetätigung und dem Bedürfnis nach Schutz des einzelnen gegen gesellschaftliche Macht. Die Grundrechte sind deswegen zu ihrer Absicherung und Verstärkung anzureichern durch das objektivrechtliche Verständnis als eine staatliche Schutzpflichten beinhaltende, Drittwirkung vermittelnde und den Gesetzgeber zur Ausgestaltung verpflichtende Wertordnung, die auch vorsichtig zu handhabende sozialstaatliche, institutionelle sowie demokratische Elemente umfaßt. Als dem Staat vorausliegende Individualrechte unterliegen die Grundrechte einer Beschränkung nur nach Maßgabe des fiktiven Gesellschaftsvertrages. Anders gesagt unterwirft sich der einzelne selbst dem Recht, was nicht als tatsächliche Unterwerfung, sondern im Sinne einer philosophische Idee zu verstehen ist. 299 Diese gedachte Selbstunterwerfung weist bei näherer Betrachtung zwei die zuvor aufgezeigten Wurzeln des Gesetzesvorbehaltes verdeutlichende Nuancen auf. Zu einen liegt in dem Satz, der einzelne unterwerfe sich selbst dem Recht, die demokratische Komponente des Vorbehaltsgedankens verankert. Die Aufklärer sahen in der Gesetzgebung die Niederlegung des allgemeinen Willens, wobei der Beteiligung aller an der Willensbildung und der Erstreckung des so ermittelten Willens auf alle besondere Bedeutung zukommt.300 Letztlich unter-

Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten." 298 Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1531 f.). 299 Eine bildhafte Schilderung dieses vielen aufklärerischen Schriften gemeinsamen Gedankens liefert Beccaria , Dei delitti e delle pene, Kapitel I: „Die Gesetze sind die Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in Gesellschaft zusammenfanden, Menschen, die es müde waren, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der Ungewißheit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und Ruhe sich zu erfreuen." (Zitat nach Alff, S. 58). 300 Allerdings bemerkt Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (142 ff.), einen „Substanzverlust" modemer Gesetzgebung. Noch für Kant enthielt die Allgemeinheit des Gesetzes gerade wegen der fiktiven Selbstunterwerfung der freien, das heißt zur sittlichen Selbstbestimmung fähigen Menschen einen auf materielle Gerechtigkeit zielenden moralisch-sittlichen Wesenszug, was eine überzeitliche Gerechtigkeitsidee voraussetzt. Vogel sieht heute einen Mangel an generellen Prinzipien mit unmittelbarem sittlichen Wert und gibt deshalb die Schaffung von Gerechtigkeit primär der Judikative auf. Folgt man dem, wird die Allgemeinheit des Gesetzes zu einer rein „formalen". Zugleich verliert der Gedanke der Selbstbindung seinen sittlichen Gehalt und damit die demokratische Legitimation von Freiheitsbeschränkungen einen Teil ihrer Aussagekraft. Entnimmt man der Allgemeinheit indes wie hier (§ 2, Fußnote 148) den Appell an die

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liegt ein jeder nach diesem theoretischen Modell nur seinem eigenen Willen. 301 Dieser Ansatz sollte jedoch nicht in einem „basisdemokratischen" Sinne mißdeutet werden, ist er doch sowohl für eine stärkere unmittelbare Beteiligung der Bevölkerung als auch für ein repräsentatives System der Entscheidung durch gewählte Vertreter des Volkes offen. Das Grundgesetz wählt letzteres im Anschluß an Kant 302 und in bewußter Abkehr von den Utopien Rousseaus. Die so verstandene Selbstbindung des einzelnen durch von seinen Vertretern beschlossene Gesetze verlangt eine parlamentarisch-demokratische Legitimation jeder Grundrechtsbeschränkung. 303 Ist die demokratische Rechtfertigung der Freiheitsbeeinträchtigung Anknüpfungspunkt der Frage nach dem Umfang des Gesetzesvorbehaltes, dann müssen die zuvor aus dem allgemeinen Demokratieprinzip gefolgerten für und wider eine gesetzliche Regelung sprechenden Umstände Berücksichtigung finden. Geboten ist deshalb auch aus diesem Blickwinkel nur eine Regelung des „Wesentlichen", wobei die jeweilige Grundrechtsintensität konkretisierendes Merkmal dieser noch recht unbestimmten Vorgabe ist. Des weiteren erhält die bisher vor allem aus rechtsstaatlichen Gründen geforderte Vorhersehbarkeit einer Grundrechtsbeschränkung eine ergänzende Begründung. Sie muß sich als „wesentliches" Element bereits aus dem (auslegungsfähigen) Gesetz ergeben, da sich der einzelne dem Recht nur unterwirft, soweit dieser Freiheitsverzicht für ihn oder jedenfalls für seinen Repräsentanten voraussehbar ist. Zum anderen enthält die Aussage, der einzelne unterwerfe sich selbst dem Recht, einen Hinweis auf die rechtsstaatliche Komponente der Vorbehaltslehre. Diese Unterwerfung unter das Recht bedeutet zugleich Schutz der Grundrechte durch das Recht304, sind doch Freiheitsbeeinträchtigungen nur zulässig, soweit das Recht es zuläßt, nicht jedoch auf Grund „eigenmächtigen" BehördenLegislative, die Umsetzung von Gerechtigkeitsidealen anzustreben, bleibt dem Gesetz ein Rest seines moralisch-sittlichen Eigenwertes. 301 „Volenti non fit iniuria"; Vogel, VVDStRL 1965 (24), S. 125 (137 ff.), betont, Kant verlange nicht die tatsächliche Übereinstimmung aller Bürger, sondern eine Gesetzgebung, der alle zustimmen können. 302 Kant, Metaphysik der Sitten, § 52 (S. 170): „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen." 303 Der Gedanke der Selbstunterwerfung durch gewählte Volksrepräsentanten spielte gerade im Steuerrecht eine wichtige historische Rolle, wehrten sich doch die britischen Überseekolonien zu Beginn der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen ihnen vom Mutterland ohne ihre Beteiligung auferlegte Steuerlasten. Der Satz „no taxation without representation" wurde so zum Ausgangspunkt der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, der ersten Demokratie der Neuzeit. Vgl. Brugger, S. 1 ff. 304 In diesem Schutz der Grundrechte ist seit Locke der eigentliche Grund des Gesellschaftsvertrages und damit auch der staatlichen Rechtsordnung zu sehen.

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handelns. Die Verwaltung ist daher rechtssatzförmig zu binden. Im übrigen ordnet sich der einzelne unter einem „Vorbehalt der Gegenseitigkeit" in die Rechtsordnung ein, er muß nur die Grundrechtsbeschränkungen hinnehmen, denen alle Bürger in vergleichbaren Situationen unterliegen. Die Grundrechtsschranken sind aus diesem Grunde gleichheitskonform auszugestalten. Weisen die Grundrechte als Begründungsansatz des Gesetzesvorbehaltes in Richtung auf den Rechtsstaatsgedanken, sind dessen widerstreitende Aussagen zu beachten. Erforderlich ist in dieser Hinsicht ebenfalls nur eine Normierung des „Wesentlichen", wobei auch insoweit angemerkt sei, daß ein formelles Gesetz nicht zwingend stärkeren rechtsstaatlichen Schutz gewährleistet als eine rechtssatzformige Exekutivregelung. Die unterschiedlichen Formulierungen der grundrechtlichen Spezialvorbehalte, die teils ein formelles Gesetz fordern, teils ein materielles Gesetz auf der Grundlage einer förmlichen Ermächtigung genügen lassen, zeigen so ihren vornehmlich rechtsstaatlichen Ursprung. 30

c) Gewährleistung von Eigentum und Freiheit gerade durch das Gesetz Die bisherigen Überlegungen knüpften an die Abwehrfunktion der Grundrechte gegen staatliches Handeln an, ihnen lag die in Fortfuhrung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag entwickelte Annahme einer Individualsphäre306 zugrunde. Diese zu schützen ist traditionell Aufgabe des Vorbehaltsprinzips, weshalb dem Gesetzgeber die alleinige Kompetenz zur Beschränkung von Eigentum und Freiheit zugewiesen und dem einzelnen ein Unterlassungsanspruch gegen nicht vom Parlament gestattete Grundrechtseingriffe zugebilligt wurde. Daneben bedarf die Grenzlinie zwischen individueller Freiheitssphäre und dem staatlichen Zugriff geöffnetem Bereich vielfach weiterer Konkretisierung durch den seinerseits an die Wertentscheidungen der Grundrechte gebundenen Gesetzgeber.307 Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt ist nicht nur die dem 305

Diese Spezialvorbehalte werden aber noch in Einklang mit Artikel 80 GG zu bringen sein. 306 Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 103 f., hält es für Juristisch nicht korrekt", von Freiheitsrechten zu sprechen, es gebe nur die „Freiheit im Singular". Dies entspricht dem Verständnis von „property" als Oberbegriff für das Recht auf Leben, Freiheit und Vermögen bei John Locke; vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 22. 307 Eine grundrechtliche Bindung auch des Gesetzgebers findet sich schon bei Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 96, der den Grundrechten sowohl das „Verbot an die Gesetzgebung, in den angegebenen Richtungen neue

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Gesetzgeber die Zuständigkeit zur Entscheidung über Grundrechtseingriffe zuweisende Kompetenznorm, sondern auch Instrument zur Gewährleistung von Freiheit und Eigentum. Der dem einzelnen nach Abschluß des Gesellschaftsvertrages verbleibende Individualbereich, der im System des Grundgesetzes umfassend durch die allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht 308, die speziellen Freiheitsrechte sowie die alle Vermögenswerten Rechtspositionen schützende Eigentumsgarantie verbürgt wird, ist zwar Ausfluß seiner a priori gegbenen Freiheit und in seinem Kerngehalt unantastbar, sein genaues Ausmaß wird jedoch erst durch die ihn ausgestaltende Rechtsordnung bestimmt. Will man die Idee vom Gesellschaftsvertrag beibehalten, so kann man die von den Grundrechten vermittelte objektive Wertordnung 309 als dessen Inhalt verstehen. Diese Vorgaben umzusetzen, obliegt den zur materiellen Gesetzgebung berufenen staatlichen Stellen, was die Sichtweise des Vorbehaltsgedankens von einer reinen Befugnis zur Schrankensetzung hin zu einem Regelungsauftrag verlagert. Mit den Worten Jeschs310 schaffen die Menschenrechte die Individualsphäre, der Gesetzesvorbehalt stellt sie unter die Kontrolle der Repräsentanten der Gesellschaft. Noch weitergehend kann man sagen, daß der Gesetzesvorbehalt den Freiheitsbereich ausgestaltet und ihn damit zum Teil erst gewährleistet.311 Deutlich wird dies bei den normgeprägten Grundrechten. Das beste Beispiel gibt Artikel 14 GG, dessen Absatz 1 Satz 2 GG eine gesetzliche InhaltsBestimmungen einzuführen", als auch das „Gebot an die gesetzgebenden Faktoren, bestimmte Prinzipien einer künftigen Gesetzgebung zugrunde zu legen" entnimmt. Die „dem Gesetzgeber zugewendete Seite" begründe aber keine Individualrechte, etwaige Vorteile hieraus seien „Reflexwirkung objektiven Rechts" (S. 97). Soweit der Gesetzgeber die Freiheit ausgestaltet hat, wirke sich dies auf die subjektivrechtliche Seite aus: „Alle Freiheit ist einfach Freiheit von gesetzwidrigem Zwange" (S. 103). 308 BVerfGE 6, 32 (36 f.) (Elfes). 309 Ausgangspunkt wertorientierten Grundrechtsdenkens ist nach Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1533), die Integrationslehre Rudolf Smends. Vgl. Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Band I, Artikel 1, RN 1 ff. zur Menschenwürde als Grundlage eines objektiven Wertsystems. 3,0 Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 125. 311 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 98 ff, unterteilt die „grundrechtsberührenden Gesetze" in grundrechtsprägende, grundrechtsverdeutlichende, grundrechtseingeifende, mißbrauchsabwehrende und konkurrenzlösende Normen. Vgl. femer Kirchhof Paul, Verwalten durch „mittelbares" Einwirken, S. 267 ff. 312 Grundlegend Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 107 ff., der neben Artikel 14 GG vor allem die Berufsausübungsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG) als unmittelbar normgeprägt sieht und betont, auch andere Grundrechte könnten mittelbar durch exteme Normengefüge geprägt werden. Zu nennen ist weiterhin Artikel 6 GG, da erst die Rechtsordnung aus dem dauerhaften Zusammenleben von Mann und Frau eine Ehe im Rechtssinne macht. Die Differenzierung zwischen normgeprägten und anderen Grundrechten erinnert an die von Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 166, im

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und Schrankenbestimmung voraussetzt. Der Inhalt des Eigentums entsteht regelmäßig erst dadurch, daß die Rechtsordnung ein vermögenswertes Recht anerkennt. So sind eine Forderung, ein Grundpfandrecht oder ein Nießbrauch ohne die Schaffung eines entsprechenden Rechtsinstitutes durch den Gesetzgeber undenkbar. Die Eigentumsgarantie enthält daher neben dem Schutz gegebener Rechtspositionen gegen staatliche Eingriffe auch eine objektive Institutsgarantie für das Rechtsinstitut des Eigentums und damit den Auftrag an den Staat, eine den verfassungsrechtlich geforderten Ausgleich von Privatnützigkeit und Sozialpflichtigkeit verwirklichende Eigentumsordnung zu schaffen. Aber auch bei jenen Grundrechten, deren Schutzgehalt nicht durch den Gesetzgeber bestimmt wird 313 , entscheidet der Gesetzgeber nicht nur durch eingreifende Normen über das Ausmaß der dem einzelnen verbleibenden Freiheitssphäre.' Daneben sind häufig unbestimmte Verfassungsbegriffe 314 oder verfassungsimmanente Schranken gesetzlich zu verdeutlichen.3 5 Erst diese Konkretisierung verwirklicht die objektiven Wertentscheidungen der Grundrechte, erleichtert und fördert den Grundrechtsgebrauch, macht dem Bürger seine Rechte bewußt und ermöglicht eine gerichtliche Überprüfung der Einhaltung derselben. Des weiteren ist der Individualbereich durch legislative Schutzmaßnahmen abzusichern, zu denen insbesondere eine gesetzliche Ausgestaltung des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens nach Maßgabe grundrechtlicher Wertvorgaben gehört 316, die eine Wahrnehmung der garantierten Rechte durch den Grundrechtsberechtigten erlaubt und verhindert, daß die Grundrechte de facto an Wirkungskraft verlieren. 317 Anschluß an Häntzschel gemachte Unterscheidung von absoluten und relativen Grundrechten. Der Inhalt absoluter Grundrechte ergebe sich nicht aus dem Gesetz, der gesetzliche Eingriff sei vielmehr die vom rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip gestattete Ausnahme von der a priori vorausgesetzten Freiheit. Die relativen Rechte, darunter das Eigentum, würden dagegen nur innerhalb gesetzlicher Schranken gewährleistet. 313 Beispielsweise liegen Religions- und Meinungsfreiheit den Gesetzen voraus. 3,4 Zum Beispiel gibt die Legaldefinition der Steuer in § 3 AO den vom Grundgesetz im Anschluß an § 1 RAO vorausgesetzten Begriff wieder (vgl. BVerfGE 3, 407 (435); E 7, 244 (251 f.); E 29, 402 (408); E 36, 66 (70); E 38, 61 (79 f.); E 42, 223 (228); E 55, 274 (299); ständige Rechtsprechung). Dem Gesetzgeber ist in diesem Fall kein Gestaltungsspielraum eingeräumt, es kann „nicht darauf ankommen, wie das Abgabengesetz selbst eine öffentlich-rechtliche Abgabe klassifiziert" (BVerfGE 7, 244 (252)). 315 Lerche, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band V, § 121, RN 40 ff.; diese Verdeutlichung unterliege voller gerichtlicher Kontrolle (RN 41). Ein Gestaltungsspielraum komme dem Gesetzgeber aber dort zu, wo er kraft Sonderermächtigung (zum Beispiel nach Artikel 4 Absatz 3 Satz 2 GG) „das Nähere regelt". 316 Nachweise zur Rechtsprechung oben § 2, Fußnote 188. 3,7 So verlangt Artikel 8 Absatz 2 GG für Spontandemonstrationen eine Ausnahme von der für Versammlungen unter freiem Himmel geltenden Anmeldepflicht; vgl. BVerfGE 69,315(350).

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Noch weitergehend ist eine Regelungspflicht als Folge objektiver Grundsatzentscheidungen über die Fälle der Grundrechtsausgestaltung hinaus auch ohne Berührung mit subjektiven Grundrechtspositionen denkbar. Dies gilt zum Beispiel fur die Erforschung der Gentechnologie, deren Normierung die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit noch ungeborener künftiger Generationen zum Gegenstand hat, mithin noch keinen Grundrechtsträger individuell betreffen kann. Als Ausdruck einer den Auftrag zur Gewährleistung und Sicherung von Freiheit enthaltenden objektiven Wertordnung verstanden lösen die Grundrechte den Parlamentsvorbehalt von der Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum. Von einem Eingriff kann nur gesprochen werden, wo zuvor der Schutzgehalt des Grundrechts, sei es durch gesetzliche Prägung, kraft Verfassungstradition oder aus der „Natur der Sache", bestimmt wurde. Unabhängig vom Eingriffsdenken obliegt auch die je nach Art des einzelnen Grundrechts erforderliche Ausgestaltung, Verdeutlichung oder Absicherung des Schutzumfanges dem Gesetzgeber, der insoweit die wesentlichen Entscheidungen vorzugeben hat. 318 Die soeben zur grundrechtlichen Abwehrfunktion getroffene Aussage, jeder Eingriff setze ein Parlamentsgesetz voraus, sei also hinreichende Bedingung des formellen Gesetzesvorbehaltes, muß jetzt dergestalt erweitert werden, daß hierin keine notwendige Bedingung des Parlamentsvorbehaltes liegen kann. Dies widerspricht keinesfalls dem liberalstaatlichen Ansatz der Verfassungsinterpretation, sondern ergänzt ihn lediglich um eine maßvoll ordnende Funktion der Grundrechte.3 9 Etwaige Konflikte zwischen beiden Denkmodellen hat wiederum der Gesetzgeber zu beheben. Der Parlamentsvorbehalt markiert demnach die Grenzlinie zwischen Staat und Individuum. Dieser Befund läßt allerdings kaum allgemeingültige Schlüsse auf den Grad der gebotenen Regelungsdichte zu, da es jeweils auf die maßgeblichen Bezüge des einschlägigen Sachbereichs ankommt, ob und wie bestimmt dieser formell gesetzlich zu regeln ist. So kann eine erhöhte Normdichte bei der Ausgestaltung der Freiheit die Individualsphäre sowohl erweitern als auch einschränken.320 Namentlich die durch rechtsgeprägte Grundrechte vermittelte Freiheit wird durch eine detailliertere Regelung nicht zwingend umfassender 318

BVerfGE 83, 130 (142) (Josefine Mutzenbacher). Ähnlich Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 239 ff., der vom bisherigen Eingriffsvorbehalt ausgehend zu einem „erweiterten klassischen Vorbehalt" kommt. 320 Kirchhof \ Paul, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 24 f., hebt hervor, daß einerseits offene Gesetze dem Freien mehr Freiheit belassen, andererseits ein hinreichend bestimmter, prägnant ausgedrückter Rechtssatz Freiheit vermittelt, da der Freie den Staat durch bloßes Berufen auf den Gesetzestext in seine Schranken weisen kann. 319

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gesichert, vielmehr kann gerade eine „offenere" Formulierung den Schutzgehalt des Grundrechts ausdehnen, da weitere Verhaltensweisen als geschützt angesehen werden können. Soweit der Gesetzgeber zur inhaltlichen Festlegung der Grenzen des Individualbereichs berufen ist, hat er gleichzeitig zu beurteilen, welcher Bereich individueller Entscheidung überlassen und welcher Freiheitsgebrauch strikt gesetzlich angeleitet werden muß.321 Inhaltliche und gesetzestechnische Gestaltungsbefugnisse gehen Hand in Hand. Die parlamentarische Verantwortung kann auch in dieser Hinsicht nur durch den weiten Begriff des „Wesentlichen" umschrieben werden.

d) Der Gleichheitssatz 322

Artikel 3 Absatz 1 GG verlangt, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Eine Verletzung dieser Verfassungsnorm ist dann anzunehmen, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normajiressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können".323 Sind somit aus gleichheitsrechtlicher Sicht die Feststellung des Vergleichsmaßstabes (tertium comparationis) zur Bildung der zu vergleichenden Gruppen und die Bestimmung der Unterschiede zwischen diesen Vergleichsgruppen maßgeblich für die verfassungsrechtliche Beurteilung einer Ungleichbehandlung, so stellt sich die Frage, inwieweit diese Differenzierungkriterien im formellen Gesetz angelegt sein müssen. Die Aussagekraft des Gleichheitssatzes ist in dieser Hinsicht sehr gering, da sein unmittelbarer Regelungsgehalt weder die Kompetenzordnung noch die Form staatlichen Handelns, sondern allein dessen Inhalt betrifft. Gemäß Artikel 1 Absatz 3 GG bindet Artikel 3 GG neben der Legislative324 auch Exekutive und Judikative. Dies gilt zwar ebenso für die Freiheitsrechte, anders 321

KirchhofI Paul, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 25, sieht hierin eine zentrale Aufgabe modemer Gesetzgebung. 322 in Vgl. Kirchhof,\ · Isensee / Kirchhof,\ HStR, Band V, § 124 mit ausführlicher Darstellung der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Gleichheitsverständnisses (RN 44 ff.). 323 BVerfGE 55, 72 (88); E 60, 123 (133 f.); E 65, 104 (112 f.); E 68, 287 (301); E 70, 278 (287 f.); ständige Rechtsprechung (sogenannte „neue Formel"). 324 Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz wie auch an die anderen Grundrechte war noch in Weimarer Zeit umstritten. Bejahend bereits Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 34 ff.; die Gegenansicht vertrat vor allem Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Artikel 109, S. 522 ff.

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als diese enthält der Gleichheitssatz aber weder einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt noch kann er als normgeprägtes Grundrecht verstanden werden. Auch bei verfassungsgeschichtlicher Argumentation ist als Ausgangspunkt heutiger Überlegungen vom überkommenen, allerdings erweiterungsfähigen Eingriffsvorbehalt auszugehen.325 Die Freiheit wird „durch Gesetz" geschützt und ermöglicht, die Gleichheit „vor dem Gesetz" garantiert. Anders als beim Schutz der Individualsphäre weist Artikel 3 GG die Verantwortung nicht in erster Linie einem bestimmten Staatsorgan zu, das durch die Art und Weise seiner Entscheidung Gewähr für die Beachtung der Grundrechte leisten soll, sondern verpflichtet alle staatlichen Stellen gleichermaßen unabhängig von der Wahl des Handlungsinstruments. Deshalb lassen sich aus dem Gleichheitsgebot weder eine generelle vorrangige Zuständigkeit der einen oder anderen Gewalt noch eine einzuhaltende Form ablesen. Welche Differenzierungskriterien vom formellen Gesetzgeber festzulegen sind, muß für den jeweiligen Regelungsbereich nach den für ihn maßgeblichen allgemeinen Gesichtspunkten, insbesondere nach seinen Auswirkungen auf die Freiheitsrechte beurteilt werden. Soweit eine gesetzliche Regelung nicht aus anderen Gründen geboten ist, zwingt auch der Gleichheitssatz nicht hierzu. Artikel 3 GG 326 greift in seiner Gestalt als Rechtsanwendungsgleichheit erst ein, wenn bereits zuvor ein Gesetz ergangen ist. Auch die Rechtsetzungsgleichheit verpflichtet nicht zur Normgebung, sondern findet Beachtung, wenn der Gesetzgeber einen bestimmten Bereich auf Grund eines anderweitig ausgelösten Gesetzesvorbehaltes oder freiwillig kraft seines Zugriffsrechts normiert. Sie begrenzt den zulässigen Inhalt zu erlassender Gesetze, zwingt aber nicht zu ihrem Erlaß. 327 Die jeweilige Regelung muß selbst inhaltlich gleichheitskonform 328, das heißt vor allem folgerichtig sein und im übrigen 325

Vgl. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 91 f. Vgl. Kirchhof, Paul, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band V, § 125, RN 5 ff., zur typischerweise der Rechtsetzung aufgegebenen Gestaltungsgleichheit sowie zur üblicherweise von der Rechtsanwendung zu beachtenden Entsprechungsgleichheit. 327 Ein ähnlicher Gedanke, wenn auch aus anderem Blickwinkel, findet sich bei Leibholz, S. 84. Hiemach gelte der Gleichheitssatz nur für staatliche Akte, die auf das Verhalten der Individuen Bezug nehmen. Als Beispiel nennt er den Fall der Delegation einer Entscheidung an den Verordnungsgeber, die nur geschaffen werde, um den Mitgliedern des Parlamentes nicht die wohlverdienten Ferien zu rauben. Dieses Verhalten sei „willkürlich und mit den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundgedanken nicht vereinbar", doch könne „von einer Verletzung der Gleichheitsgarantie durch das Parlament schlechterdings überhaupt nicht die Rede sein". Vielmehr könne erst das auf Grund einer solchen Delegation durch die Regierung zukünftig gesetzte Recht mit dem Gleichheitssatz kollidieren. Mithin kann das jeweils erlassene Recht inhaltlich gegen Artikel 3 GG verstoßen, die Gleichheit selbst aber kein Parlamentsgesetz fordern. 328 Artikel 3 GG fordert keine „formal-schematische Gleichstellung", sondern verhältnismäßige Gleichheit im Sinne eines Willkürverbotes. Leibholz, S. 72 ff., sieht die 326

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eine gleichmäßige Rechtsanwendung durch die Verwaltung sowie eine gerichtliche Überprüfung dieser wie der Rechtsetzungsgleichheit gestatten. Lediglich soweit dies nur bei gleichzeitiger Normierung weiterer Fragen gewährleistet ist, kann der Gleichheitssatz ausnahmsweise verlangen, daß auch diese in die entsprechende Regelung aufgenommen werden, der Gesetzgeber begründet dann gerade durch seine Entscheidung fur eine gesetzliche Regelung einen einfachgesetzlich ausgelösten Gesetzesvorbehalt für alle wesentlichen gleichheitsrechtlichen Folgeentscheidungen. Diese nur eingeschränkte gleichheitsrechtliche Begründung des Gesetzesvorbehaltes ist durchaus vereinbar mit der auch aus Gleichheitsgründen geforderten Allgemeinheit als einem der entscheidenden Wesensmerkmale des 329

Gesetzesbegriffs. Zwar beinhaltet die Allgemeinheit gerade durch ihre gleichheitswahrende Funktion ein besonderes Gerechtigkeitsanliegen, dessen privilegienfeindlicher Charakter zu einem nicht unerheblichen Grade Antrieb für die Entwicklung des Gesetzesvorbehaltes war 330 , jedoch lassen sich hieraus keine eindeutigen Schlußfolgerungen im Hinblick auf die gebotene Normdichte des Parlamentsgesetzes ziehen. So kann zum einen auch die abstrakt-generelle Formulierung untergesetzlicher Normen wie der Rechtsverordnung gleichheitssichernd wirken. Zum anderen gebietet der Gleichheitssatz ebenfalls, Ungleiches nicht ohne rechtfertigenden Grund gleich zu behandeln. Um ungewöhnliche abweichende Umstände berücksichtigen zu können, ist deswegen von einer übermäßig strengen Gesetzesbindung der Verwaltung abzusehen. Schließlich würde ein allgemeiner gleichheitsrechtlicher Gesetzesvorbehalt zu einem die übrige Kompetenzordnung des Grundgesetzes überspielenden Totalvorbehalt ausufern, da der Gleichheitssatz auch in jenen Bereichen Beachtung beansprucht, die nach den bisherigen Erörterungen als vorbehaltsfrei eingestuft

Willkür als den „gegensätzlichen Korrelatbegriff von Gerechtigkeit", das heißt als dessen „radikale, absolute Verneinung", an (S. 72), wobei der Gerechtigkeitsbegriff als Ausprägung der Rechtsidee notwendig einer „auf die zeitlich, örtlich, national bedingten Verhältnisse zugeschnittenen Fassung" bedarf (S. 57). Beide Begriffe sind somit wandelbar und werden vom jeweiligen Rechtsbewußtsein getragen (S. 73). Angesichts der erkenntnistheoretischen Schwierigkeit der Ermittlung dieses Rechtsbewußtseins (S. 77) kann das Gleichheitspostulat als Verfassungsmaßstab aber nicht jede unrichtige Rechtsentscheidung korrigieren, sondern ist auf die Gegenwehr gegen elementare Rechtsverstöße zu beschränken (S. 77 f.). Dieser Ansatz liegt, durch die „neue Formel" leicht abgewandelt, auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde. 329 Oben §21. 1.) und §2 II. l.)b). 330 Vgl. oben § 2 I. 4.) zur steuerrechtlichen Wurzel des Gesetzesvorbehaltes, deren Hintergrund immer auch das Ringen des Bürgertums um Abschaffung steuerlicher Adelsprivilegien bildete.

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werden können. Die auch gleichheitsrechtlich zu fordernde Allgemeinheit des Gesetzes kann daher nur Aussagen zu dessen Normsfrwfawr, nicht hingegen zu seinem zwingend erforderlichen Mindestgehalt machen.332 Der Gleichheitssatz liefert also grundsätzlich Maßstäbe für den Inhalt jeden staatlichen Handelns, nicht aber für dessen Form.

4. Zwischenergebnis Der Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes ist kein eigener Zweck der Verfassung, sondern bloßes Mittel zur Verwirklichung anderer Zwecke. Als solches sind seine konkreten Anforderungen funktional und in Abhängigkeit von den jeweils abzusichernden materiellen Prinzipien der Verfassung, das heißt vor allem den Freiheitsrechten, zu ermitteln. Diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe sind, obwohl sie aus Gründen der Veranschaulichung getrennt erörtert wurden, in einer Gesamtschau zu würdigen und zu einer einheitlichen Entscheidung über den gebotenen Umfang legislativer Tätigkeit zu bündeln. Der Gesetzgeber ist nur zur Regelung der in diesem Sinne „wesentlichen" Fragen verpflichtet, wozu lediglich eine hinreichende, nicht jedoch eine größtmögliche Regelungsdichte vonnöten ist. Dieser Wesentlichkeitsvorbehalt legt zugleich Mindestmaß und Grenzen des Parlamentsvorbehaltes fest. Eine genauere allgemeingültige Beschreibung seiner Aussagen ist wegen der sowohl gegenständlichen als auch umfangmäßigen Bestimmung der gesetzgeberischen Verantwortung kaum denkbar. Der Parlamentsvorbehalt ist gegenüber dem vormaligen reinen Eingriffsvorbehalt, der die von ihm erfaßten Rechtsmaterien deutlicher erkennen ließ, gegenständlich erweitert worden. Das Demokratieprinzip, die grundrechtlichen Schutzaufträge mit ihren auch verfahrensrechtlichen Geboten können ebenso wie der Sozialstaatsgedanke oder andere Verfassungsinhalte eine Beschäftigung der Volksvertretung mit einer Angelegenheit erforderlich machen, ohne daß eine abstrakte Formel diese Fälle eindeutig und zugleich abschließend bezeichnen könnte. Daneben schwankt der um331

Wegen des individualrechtlichen Charakters der Grundrechte wären nur Regelungen ohne Bezug zum einzelnen, wie beispielsweise staatsorganisationsrechtliche Fragen, ausgenommen. 332 Reduziert man wie hier (oben § 2, Fußnote 148) die materielle Allgemeinheit des Gesetzes angesichts der Uneinigkeit der Moderne über den Inhalt des „Gerechten" auf einen gerichtlich nicht überprüfbaren Appell an den Gesetzgeber, Gerechtigkeit zu verwirklichen, kann die Allgemeinheit auch aus diesem Grunde keinen über das Gesagte hinausgehenden Vorbehalt bedingen, der ja zwangsläufig justitiabel sein müßte. Das Gesetz wird so zu einem gerechtigkeitsschaffenden Instrument, dessen sich der Gesetzgeber bedienen sollte.

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fangmäßige Gehalt des Vorbehaltsprinzips. Erkennt man an, daß die Einführung einer langjährigen Haftstrafe größerer gesetzlicher Deutlichkeit bedarf als eine unbedeutende Verfahrensfrage mit geringer Grundrechtsrelevanz, so ist das Kernproblem des Parlamentsvorbehaltes benannt, die vom jeweiligen sachlichen Regelungsgehalt abhängige unterschiedlich intensive Verantwortlichkeit des Gesetzgebers. Diese läßt sich, ohne die vielfaltigen Aussagen der Verfassung zu ignorieren, sprachlich nicht deutlicher als durch das Kriterium des „Wesentlichen" verallgemeinern. Der für sich betrachtet höchst unbestimmte, eher beschreibend zu verstehende Rechtsbegriff des „Wesentlichen" ist folglich mangels eines fest umrissenen Begriffsgehaltes unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Regelungsbereichs näher zu bestimmen. Diese Aufgabe wird nicht ohne eine topische Argumentationsweise333 sowie eine entsprechende Kasuistik der Rechtsprechung zu erfüllen sein.334 Der förmliche Gesetzesvorbehalt kann zum einen als Kompetenzregelung betrachtet werden. Als solche bestimmt er den unantastbaren Kernbereich der Legislativfunktion und trägt daneben zur Abgrenzung der Funktionsbereiche von Exekutive und Judikative bei. Zum anderen ist der Parlamentsvorbehalt Gewährleistungsinstrument für die Verwirklichung materieller Inhalte des Grundgesetzes.335 In beiderlei Hinsicht steht dem Gesetzgeber grundsätzlich ein weiter Spielraum zur Verfügung, welchen der im Einzelfall widerstreitenden Vorgaben der Verfassung er den Vorzug geben will. Auch zu diesem Zwecke kommt seiner Wahl der Vorrang des Gesetzes zu, wobei jede Gestaltung der Regelungsdichte zugleich bereits eine inhaltliche Entscheidung enthält. Das gesetzgeberische Gestaltungsrecht hat Folgen für die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte der Bestimmtheitsanforderungen. Ist das Parlament von Verfassungs wegen beauftragt, das gebotene Maß gesetzlicher Regelungsdichte festzulegen, und steht ihm insoweit eine gewisse, jeweils unterschiedlich große Bandbreite verschiedener Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung, so darf gerichtlich nicht geprüft werden, ob die vom Gesetzgeber getroffene 333

Der Rückgriff auf juristische Topoi als Argumentationshilfen mag in diesem Zusammenhang ratsam sein, da ein abgeschlossenes System fehlt, aus dem der Umfang des Gesetzesvorbehaltes logisch-deduktiv abgeleitet werden könnte. Vgl. Lorenz, S. 145 ff. 334 Skeptisch gegenüber einer rein logischen Abgrenzung von (materieller) Gesetzgebung und übrigen Staatsfunktionen bereits Heller, WDStRL 1927 (4), S. 98 (121): „Was zum Vorbehalt des Gesetzes gehört, welche Gegenstände die Gesetzgebung ergreift, das bestimmt nicht die Logik und nicht eine theoretische Formel, sondern Tradition, Zweckmäßigkeit, Machtlage und Rechtsbewußtsein." 335 Gerade hierdurch überwindet die Wesentlichkeitstheorie den staatsrechtlichen Positivismus.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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Wahl richtig ist, sondern nur, ob sie das Grundgesetz mangels ausreichender Beachtung der vom Gesetzesvorbehalt abzusichernden Zwecke verletzt. Solange ein solcher Verstoß nicht ausgemacht werden kann, bleibt es bei der gesetzgeberischen Gestaltung. Es besteht mithin eine Vermutung für die hinreichende Bestimmtheit des Gesetzes, die nur durch die positive Feststellung übermäßiger Unbestimmtheit entkräftet werden kann. In Zweifelsfällen sollte jedoch die Entscheidung des Gesetzgebers Bestand haben. Wesentlichkeitstheorie und legislativer Gestaltungsspielraum widersprechen nicht der Einordnung des Gesetzesvorbehaltes als Kompetenzregel, die als solche eindeutig sein muß.336 Sofern eine Frage zwingend der Volksvertretung zugewiesen wird, herrscht Klarheit. Soweit dagegen die Grenzen des dem Parlament eingeräumten Rahmens überschritten werden, besteht keine Kompetenz der Legislative, sondern nur der Exekutive. Innerhalb des im konkreten Fall gegebenen Spielraumes steht dem formellen Gesetzgeber ein Recht des ersten Zugriffs zu, der insoweit entscheiden darf, ob und wie bestimmt er eine Regelung treffen will. Soweit er hiervon keinen Gebrauch macht, bleibt die Exekutive zur Ausfüllung der Rechtslage im Wege der Rechtsanwendung und eventuell auch der exekutiven Rechtsetzung zuständig. Eine genauere Festlegung der Kompetenzen, die zugleich die sowohl gegenständlich als auch umfangmäßig unterschiedlichen Aussagen des Vorbehaltsgedankens berücksichtigt, ist bislang nicht gefunden worden und wird, sofern man nicht zu einer wertneutralen Begriffsjurisprudenz zurückkehren will, auch nie zu erlangen sein.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" Der in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch das Gebot einer förmlichen Regelung des „Wesentlichen" umschriebene Parlamentsvorbehalt verlangt, um praktische Brauchbarkeit zu gewinnen und dem Vorwurf der Konturenlosigkeit zu begegnen, eine Konkretisierung seiner bisher sehr abstrakt formulierten Anforderungen. Zur ergänzenden Verdeutlichung der bisherigen Ergebnisse, aber auch zur Grundlegung der weiteren Untersuchungen bleibt zu fragen, ob sich Bereiche finden lassen, in denen der Parlamentsvorbehalt jedenfalls oder keinesfalls gilt. Zu prüfen ist, was der Gesetzgeber mindestens entscheiden muß, was er normieren darf und was ihm zu regeln untersagt ist. Nur soweit der Gesetz336 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, S. 102: „Im Rahmen einer verfassungsgesetzlichen Regelung kann es keine unbegrenzten Befugnisse geben und ist jede Zuständigkeit begrenzt. Auch eine Kompetenz-Kompetenz kann nichts Grenzenloses sein."

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geber eine Angelegenheit nicht regeln durfte oder wollte, stellt sich die Frage, ob die Exekutive eine eigenverantwortliche Regelung, sei sie abstrakt-generell oder konkret-individuell, treffen darf. Im übrigen sind, soweit eine bestimmte Sachfrage nicht zwingend der Legislative oder der Exekutive zugewiesen werden kann, das heißt soweit dem Gesetzgeber die Befugnis zur Wahl des sachgerechten Gestaltungsmittels zukommt, Kriterien für die jeweiligen Regelungsbereiche zu bilden, anhand derer die Legislative ihre Entscheidung treffen und die Judikative diese auf etwaige Überschreitungen des Rahmens zulässiger Gestaltung überprüfen kann.

7. Gesetz und Individuum

a) Der Gesetzesvorbehalt im Rahmen der Eingriffsverwaltung Jeder Eingriff 337 in Freiheit und Eigentum setzt eine parlamentsgesetzliche Ermächtigung voraus, die zumindest die „wesentlichen" Entscheidungen enthält. Der genaue Umfang dieses Eingriffsvorbehaltes hängt von der Weite des Schutzgehaltes des jeweils betroffenen Grundrechts sowie vom Begriff des Grundrechtseingriffs ab. Insbesondere letzterer hat in jüngster Zeit eine deutliche Erweiterung erfahren. War der „klassische" Eingriffsbegriff auf finale und unmittelbare Folgen eines zwangsweise durchsetzbaren hoheitlichen Rechtsakts begrenzt, so werden heute bei Zugrundelegung eines „modernen" 338 Eingriffsbegriffs auch faktische und mittelbare Freiheitsbeeinträchtigungen als

337

Vgl. aus jüngerer Zeit zum Eingriffsbegriff und seinen Folgen für den Gesetzesvorbehalt Bethge, VVDStRL 1998 (57), S. 7 ff. und Weber-Dürler, WDStRL 1998 (57), S. 57 ff. 338 Der „moderne" Eingriffsbegriff ist in manchen seiner Aussagen nicht so neu, wie sein Name andeutet. Verstand Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 103, den status libertatis als „Freiheit von gesetzwidrigem Zwange", so meinte dies nicht nur Rechtsakte, wie die sprachliche Unterscheidung von „Befehl" und „Zwang" (S. 105) veranschaulicht. Vgl. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, S. 134: „Ist es der gesetzgebenden Gewalt vorbehalten, die Freiheit zu beschränken, so kann jede andere Gewalt im Staate, insbesondere die vollziehende Gewalt, die Verwaltung, diese Machtbefugnis nur erlangen kraft Gesetzes, durch gesetzliche Ermächtigung, gleichviel ob sie die Beschränkungen in das Gewand abstrakter Vorschriften (Verordnungen) kleiden oder im konkreten Einzelfall durch Gebote, Verbote oder tatsächliche exekutivische Eingriffe geltend machen will." (Hervorhebung vom Verfasser).

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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Eingriffe angesehen, sofern sie dem Staat zurechenbar 339 sind. 340 Solche rechtfertigungsbedürftige Grundrechtseingriffe sind zum Beispiel staatliche Warnungen vor gesundheitsgefährdenden Produkten341 und vor sogenannten Jugendsekten3 2 . Der auf diese Weise ausgedehnte Eingriffsbegriff erweitert den Anwendungsbereich des Parlamentsvorbehaltes erheblich. 343 Zugleich stellt sich nun das Problem der eingeschränkten Normierbarkeit mittelbarer und faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen. Die rechtsstaatliche Begründung des Gesetzesvorbehaltes verlangt dem Gesetz eine hinreichende Rechtsklarheit ab, um dem Bürger die Möglichkeit zu geben, sein Verhalten auf die Rechtslage einzustellen. Der grundrechtliche Ansatz fordert zudem, das den Eingriff gestattende (auslegungsfähige) Parlamentsgesetz müsse die Freiheitsbeschränkung für den Grundrechtsberechtigten vorhersehbar festlegen. Bloß mittelbare, faktische Beeinträchtigungen von Freiheit und Eigentum sind jedoch umgekehrt für den Gesetzgeber selbst schwerer vorhersehbar als unmittelbare oder finale Eingriffe und können infolgedessen auch nur eingeschränkt normiert werden. Die Schutzfunktion des Gesetzesvorbehaltes ist insoweit nur bedingt erfüllbar. Diesem Befund wird man dadurch Rechnung tragen müssen, daß man entweder die Definition des Eingriffs dahingehend wieder einengt, daß atypische, nicht vorhersehbare Nebenfolgen staatlichen Handelns vom Eingriffsbegriff ausgenommen werden 344, oder daß man in ihnen zwar einen Eingriff sieht, aber eine Ausnahme vom Erfordernis einer

339

BVerfGE 66, 39 (60) nimmt eine grundrechtliche Verantwortlichkeit eines deutschen Hoheitsträgers an, wenn dessen Verhalten für die Grundrechtsbeeinträchtigung ursächlich und diese der öffentlichen Gewalt zurechenbar ist (Hervorhebungen im Original). Im konkreten Fall wurde diese Zurechenbarkeit verneint für etwaige militärische Reaktionen der damaligen Sowjetunion auf die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen im Bundesgebiet. 340 Vgl. zum „klassischen" wie zum „modernen" Eingriffsbegriff Pieroth / Schlink, S. 58 ff. 341 BVerwGE 87, 37 (Diethylenglykol); die Entscheidung zeigt dogmatische Schwächen, da sie zunächst (S. 41 ff.) einen mittelbaren Eingriff erörtert und eine „schwerwiegende Einschränkung" des grundsätzlich berührten Schutzbereichs sieht (S. 44), dann aber aus deren Rechtfertigung folgert, ein Eingriff liege nicht vor, weshalb der Vorbehalt des Gesetzes nicht eingreife (S. 50). Der Sache nach behandelt das Gericht Artikel 12 GG als normgeprägtes Grundrecht, verkennt aber, daß auch die Ausgestaltung des Schutzbereichs dem Regelungsvorbehalt des Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG unterliegt, der eine Normierung zumindest „auf Grund" eines das „Wesentliche" entscheidenden formellen Gesetzes fordert. Vgl. Schoch, DVB1. 1991, S. 667 ff. 342 BVerwGE 82, 76 (79) (Transzendentale Meditation); E 90, 112 (119 f.) (Osho); als dem Staat zurechenbar wird in der letztgenannten Entscheidung auch die Warnung durch einen privaten, aber vom Staat zu diesem Zwecke finanzierten Verein angesehen. 343 Vgl. Kirchhof, Paul, Verwalten durch „mittelbares" Einwirken, S. 251 ff. 344 Vgl. Bischer, JuS 1993, S. 463 ff.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

gesetzlichen Regelung macht.345 Das Grundgesetz verlangt vom Gesetzgeber nichts Unerfüllbares, weswegen der Gesetzesvorbehalt dort nicht zum Zuge kommen kann, wo seine Beachtung mangels Normierbarkeit unmöglich ist. 4 6 Weiterhin wird man, soweit hiernach von einem mittelbaren oder faktischen Eingriff auszugehen ist, auch im Rahmen der gebotenen Regelungsdichte Abstriche je nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit der Grundrechtseinbußen machen müssen. Der Umfang des „Wesentlichen" wird daher nicht nur durch die Intensität eines Eingriffs, sondern auch durch die Vorhersehbarkeit seiner Folgen bestimmt. Für finale und unmittelbare Eingriffe ist also grundsätzlich eine größere Regelungsdichte zu fordern als für faktische oder mittelbare.

b) Der Gesetzesvorbehalt im Rahmen der Leistungsverwaltung Nach der sogenannten Lehre vom „Totalvorbehalt" 347 sollen nicht nur belastende Maßnahmen, sondern vor allem auch Begünstigungen einer formlichen Rechtsgrundlage bedürfen, was mit dem Rechtsstaats- sowie dem Demokratieprinzip oder den zu Leistungsrechten aufgewerteten Grundrechten begründet wird. Da diese aber auch gegen eine übermäßige Normierung angeführt werden können, begegnet ein das Vorbehaltsprinzip gegenständlich erweiternder Totalvorbehalt Bedenken. So wird der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Gedanke der Rechtssicherheit bei einer Festlegung der Begünstigung durch Verwaltungsakt ebenso wie bei einer Normierung durch Parlamentsgesetz gewahrt, dieser schafft eine eindeutige Rechtslage und die nötige Planungssicherheit. Da dem Bürger günstige Regelungen nicht mit Sanktionen verbunden werden, muß er sein Verhalten nicht im voraus auf die Rechtslage einrichten. Auch der Vertrauensschutzgrundsatz zwingt nicht zu einer gesetzlichen Regelung, weil vor einer 345

Als Beispiel sei der dem Aufopferungsrecht entstammende „enteignende Eingriff 4 genannt, der eine Ausgleichspflicht für unbeabsichtigte und atypische Nebenfolgen rechtmäßigen Verwaltungshandelns auslöst. Die so begründete Verantwortlichkeit für staatliches Handeln wird einerseits tatbestandsmäßig durch das nicht begrifflich, sondern im Sinne wertender Zurechnung zu verstehende Kriterium der „Unmittelbarkeit" (vgl. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 719 ff.) begrenzt. Andererseits wird für diesen gesetzlicher Regelung unzugänglichen faktischen Grundrechtseingriff sinnvollerweise von keiner Seite ein Gesetzesvorbehalt erörtert. 346 BVerfGE 49, 89 (126) beschränkt den Gesetzesvorbehalt auf ihrer Natur nach normierbare Sachverhalte und fordert nur, daß der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen im Bereich der Grundrechtsausübung zu treffen hat, „soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist". 347 Siehe oben § 2 II. 3.).

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Bewilligung kein Vertrauenstatbestand gegeben ist. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes setzt stets ein bereits bestehendes subjektives Recht voraus, kann also keinen normierungspflichtigen Anspruch begründen. Artikel 19 Absatz 4 GG besagt nur, daß der Gesetzgeber, wenn er sich entschließt, ein subjektives Recht zu gewähren, dieses hinreichend justitiabel auszugestalten hat. Von den verschiedenen Einzelausprägungen des Rechtsstaatsprinzips verbleibt nur der Gedanke der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall. Die von diesem gebotene flexible Handhabung wird aber gerade ohne eine gesetzliche Regelung erleichtert, die eine kurzfristige, den Besonderheiten des jeweiligen Falles angemessene Verteilung von Leistungen behindern würde. Das Rechtsstaatsprinzip kann somit nicht als Begründimg eines Parlamentsvorbehaltes fur die Leistungsverwaltung dienen. Auch aus dem Demokratieprinzip folgt, insbesondere wegen der ebenfalls gegebenen demokratischen Legitimation der Exekutive, nur eine Regelungspflicht für grundsätzliche Fragen, zu denen die Leistungsverwaltung mangels Eingriffswirkung jedenfalls nicht generell gezählt werden sollte. Im übrigen besteht ein Gestaltungsrecht des Gesetzgebers, der ein Gesetz erlassen kann, aber nicht muß. Ein anderes ergibt sich auch nicht, wie Jesch348 behauptet, aus der demokratischen Struktur des Grundgesetzes. Ein solcher Rückschluß aus einer unterstellten verfassungsrechtlichen Struktur auf den Inhalt des Verfassungsprinzips des Gesetzesvorbehalts wäre ein unzulässiger Zirkelschluß, ist doch jene Verfassungsstruktur gerade zu ermitteln. 349 Das Grundgesetz geht vielmehr, ganz in der Tradition des deutschen Verfassungsrechts, einen anderen Weg, um die Dispositionsbefugnis der Volksvertretung über das Gemeinschaftsgut „öffentliche Mittel" zu wahren. Artikel 110 Absatz 2 GG 3 5 0 fordert eine parlamentarische Bewilligung der Gelder für die Leistungsverwaltung im Wege der Feststellung des Haushaltsplans durch das Haushaltsgesetz als Gesetz im formellen Sinn 351 und sichert der Volksvertretung so die letztverbindliche Entscheidung, für welche Zwecke staatliche Mittel eingesetzt werden. Damit ist der unmittelbaren demokratischen Legitimation des Paria352

ments genügend Rechnung getragen. 348

Auch ein Totalvorbehalt könnte den

Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 175 ff. (204 ff.). So bereits Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (148). 350 In den Ländern gelten ähnliche Regelungen (zum Beispiel Artikel 69 LV BadenWürttemberg). 351 Nach BVerfGE 38, 121 (126 f.) entfaltet der durch das Haushaltsgesetz festgestellte Haushaltsplan „keine Rechtswirkung außerhalb des Organbereichs" von Parlament und Regierung. Mangels Außenwirkung liegt daher kein materielles Gesetz vor. 352 BVerwGE 6, 282 (287) (ständige Rechtsprechung): „So mag man neben dem förmlichen Gesetz auch jede andere parlamentarische Willensäußerung, insbesondere etwa die etatmäßige Bereitstellung der zur Subventionierung erforderlichen Mittel als eine hinreichende Legitimation verwaltungsmäßigen Handelns ansehen können." Das 349

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gewählten Volksvertretern keine zusätzlichen Kompetenzen vermitteln, da ihnen ohnehin nicht verwehrt ist, einen Gegenstand der Leistungsverwaltung an sich zu ziehen und gesetzlich zu regeln. Überdies spricht das Demokratieprinzip in einer besonderen Hinsicht auch dagegen, den Gesetzesvorbehalt auf Begünstigungen zu erstrecken. Die Bereitstellung der erforderlichen Finanzmittel für die vom Parlament für sinnvoll erachteten staatlichen Leistungen im Haushaltsgesetz gilt nur für das jeweilige Haushaltsjahr, die Entscheidung hierüber ist also jährlich zu erneuern. Eine gesetzliche Regelung der zu gewährenden Leistungen gilt hingegen im Regelfall unbefristet und zwingt den Haushaltsgesetzgeber faktisch zu einer Bewilligung. Dies hat nicht nur Auswirkungen für die Entscheidung, daß geleistet werden soll, sondern auch für jene, entsprechende Leistungen nicht zu gewähren. Jede Entschließung über die staatliche Mittelverwendung dient aber der Verteilung begrenzter Finanzreserven und muß insofern zweischneidiger Natur sein, als sie sowohl die Förderung des einen Anliegens als auch die Nichtberücksichtigung des anderen umfaßt. Diesem doppelten Charakter der Leistungsvergabe wird die periodische Bewilligung in zweifacher Hinsicht besser gerecht. Zum einen erlaubt sie es, für das jeweilige Haushaltsjahr eine Abwägung zwischen verschiedenen grundsätzlich förderungswürdigen Gegenständen nach Maßgabe der konjunkturell bedingt schwankenden Finanzlage vorzunehmen und diese gegebenenfalls anteilig zu bezuschussen. Bei gesetzlich begründeten und damit gerichtlich durchsetzbaren Ansprüchen wäre die Finanzplanung vorweggenommen. Die Bewilligung bestimmter Aufwendungen bedeutete hier zwingend stets die Versagung anderer, ohne daß dieser Zusammenhang zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes derart konkret deutlich geworden wäre, daß er hätte bedacht werden können. Zum anderen erschwert eine gesetzliche Regelung der zu gewährenden Leistungen die Entscheidung, den Bürgern in der Vergangenheit zugebilligte Unterstützungen in der Zukunft vorzuenthalten, ist doch für die Nichtgewährung in der Folgezeit ein die bisherige Regelung aufhebendes Gesetz erforderlich. Dies fordert nicht nur die Einhaltung des umständlichen Gesetzgebungsverfahrens 353, sondern bringt auch das praktische Problem der Durchsetzung mit sich, da eine Einwirkung von Interessenverbänden auf das Parlament zu beobachten ist, die ein Gericht folgert dies aus dem Rechtsstaatsprinzip. Da dessen Aussagen aber bei untergesetzlicher Normierung grundsätzlich ebenso gewahrt sind wie bei einem förmlichen Gesetz, ist der Gedanke der Legitimation staatlicher Handlungen durch Beteiligung des Parlaments vor allem dem Demokratieprinzip zuzuordnen. Vgl. des weiteren BVerwGE 18, 352 (353) (Honnefer Modell); E 58, 45 (48). Auch zahlreiche Stimmen im Schrifttum lassen die haushaltsgesetzliche Bereitstellung von Finanzmitteln genügen; vgl. nur Ipsen, Hans Peter, WDStRL 1966 (25), S. 257 (296 f.). 353 Wegen Artikel 104a Absatz 3 Satz 3 GG muß häufig zusätzlich der Bundesrat zustimmen.

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beharrendes Element bewirkt. Eine Kürzung von Leistungen durch das Parlament durch bloße Nichtberücksichtigung im nächsten Haushaltsgesetz ist indessen leichter durchzusetzen. Ein Totalvorbehalt oder auch nur eine übermäßige gesetzliche Regelung brächten so einen statischen Rechtszustand und eine nicht unerhebliche faktische Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Parlaments. Das Demokratieprinzip zwingt den parlamentarischen Gesetzgeber mithin nicht zu einerförmlichen Regelung staatlicher Leistungen. Versteht man die Grundrechte wie hier grundsätzlich als subjektive Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat, nicht jedoch als Leistungsrechte, so sind die Freiheitsrechte bei lediglich begünstigenden Regelungen nicht berührt, eine gesetzliche Regelung ist nicht geboten.3 4 Ein anderes kann sich aber ergeben, wenn die objektiv-rechtliche Ausprägung der Grundrechte betroffen ist oder falls zugleich ein Eingriff in Rechte Dritter vorliegt, da dann aus diesem Grunde eine „wesentliche" Frage anzunehmen ist. Maßstab fur die Bejahung eines Eingriffs in die Rechte Dritter durch die Leistungsgewährung ist der auch faktische und mittelbare Beeinträchtigungen umfassende „moderne" Eingriffsbegriff. So wird beispielsweise eine Wettbewerbsbeeinflussung durch Subventionen dann als Regelung der Berufsausübungsfreiheit 355 anzusehen sein, wenn diese in einem „engen Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen und objektiv eine berufsregelnden Tendenz deutlich erkennen lassen".356 Nur ausnahmsweise kann ein Grundrecht auch Leistungsansprüche vermitteln. Eine Verweigerung der Begünstigung entspräche dann in ihrer Wirkung einem Eingriff in das Grundrecht. Die Rechtsprechung ist insoweit mit Recht sehr zurückhaltend. Aus dem Befund, daß heute Leistungen in weitem Umfang gewährt werden, folgt noch nicht, daß dies verfassungsrechtlich zwingend ist. Gegen eine generelle Ausweitung der Grundrechte zu 354

Für BVerfGE 8, 155 (167) liegen jedenfalls die Zuständigkeiten und das Verfahren der leistungsgewährenden Verwaltung „besonders weit von dem Bereich der Eingriffe in Freiheit und Eigentum entfernt", so daß Erwägungen zum Eingriffsvorbehalt keinesfalls angestellt werden könnten. Zwar betrifft dies das materielle Leistungsrecht nicht direkt, doch kann die Eingriffsnähe oder -ferne als Indiz für oder gegen eine Anwendung des Vorbehaltsgedankens dienen. 355 Es ist insoweit unerheblich, ob man die Berufsfreiheit als normgeprägtes Grundrecht ansieht oder am Eingriffsdenken festhält, da zum einen auch bei der Grundrechtskonkretisierung die wesentlichen Fragen förmlich zu regeln sind, zum anderen die Grenzlinie zwischen grundrechtserheblichen und grundrechtsneutralen Fragen in beiden Fällen identisch sein dürfte. 356 Vgl. zur objektiv berufsregelnden Tendenz BVerfGE 13, 181 (186); E 52, 42 (54); E 55, 7 (25); E 70, 191 (214); sowie speziell zu Subventionen BVerfGE 46, 120 (137 f.); E 82, 209 (223 f.); Breuer, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band VI, § 148, RN 75 ff. (76), fordert, die Subventionsvergabe zu normieren, wenn sie die Marktstruktur prägt, das heißt, wenn sie zu den wesentlichen Faktoren der Kalkulationsgrundlage des Unternehmers gehört.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Leistungsrechten spricht neben der traditionellen dogmatischen Struktur auch die Gefahr einer Relativierung der Grundrechte als nur noch unter dem Vorbehalt des Möglichen stehende Rechte, deren Gewährung von der jeweiligen Haushaltslage abhinge. Ferner hätte eine Anerkennung verfassungsrechtlicher Leistungsansprüche wegen Artikel 19 Absatz 4 GG eine stärkere Verlagerung der Entscheidungskompetenz über die staatliche Mittelverwendung von der Legislative auf die Judikative zur Konsequenz, ein Ergebnis, das der in Artikel 110 GG enthaltenen Grundsatzentscheidung fur das parlamentarische Budgetrecht widerspräche. Als Ausnahme anerkannt ist zum Beispiel ein aus Artikel 1 und 2 Absatz 2 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgender Anspruch auf staatliche Schaffung der materiellen Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins357, der einen zur legislativen Pflicht erstarkenden Regelungsauftrag mit sich bringt, dabei dem Gesetzgeber aber weite Gestaltungsfreiheiten beläßt. Darüber hinaus besteht kein genereller grundrechtlicher Anspruch auf staatliche Leistungen, der Gesetzesvorbehalt kann nicht auf diesen Ansatz gestützt werden. Des weiteren kann aus Artikel 3 GG in Verbindung mit den Freiheitsrechten im Einzelfall ein (derivatives) Teilhaberecht abzulesen sein, wenn der Staat Leistungen gewährt. Der Gesetzgeber muß dann bei Anerkennung eines weiten Gestaltungsrahmens die grundsätzlichen freiheitserheblichen Entscheidungen treffen. Ein solches Recht wurde vom Bundesverfassungsgericht angenommen für die Teilhabe am Leistungsangebot des staatlichen Hochschulwesens.358 Diese Entscheidung ist aber nur bedingt verallgemeinerungsfähig, da der Staat insoweit ein Monopol zur Schaffung der Zulassungsvoraussetzungen für bestimmte eine akademische Ausbildung erfordernde Berufe hat, die Freiheit der Berufswahl also ohne staatliche Unterstützung nicht wahrgenommen werden kann. Im übrigen ist die Rechtsprechung aus den gegen eine Ausweitung der Grundrechte zu Leistungsrechten angeführten Gründen sehr zurückhaltend. Ansonsten gebietet der Gleichheitssatz keine gesetzliche Regelung, bindet er doch sowohl den Gesetzgeber als auch die Verwaltung und knüpft an die jeweils gewählte staatliche Handlungsform an, fordert also nur deren gleichheitskonforme und folgerichtige Ausgestaltung. Artikel 3 GG betrifft nicht das 357

BVerfGE 40, 121 (133); E 82, 60 (80); daneben soll sich nach BVerfGE 90, 107 (115) aus Artikel 7 Absatz 4 GG ein Anspruch auf staatliche Förderung von Privatschulen ergeben können, da der Gebrauch der verbürgten Freiheit ohne diese Leistung kaum möglich sei. Auch Artikel 6 Absatz 4 GG gewährt einen Anspruch auf staatliche Fürsorge. 358 BVerfGE 33, 303 (330 f.) (Numerus clausus): „Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen."

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

111

„ob" einer gesetzlichen Regelung, sondern liefert inhaltliche Vorgaben, wenn der Gesetzgeber sich aus anderen Gründen zur Regelung entschließt. So kann sich ein Anspruch bei einer entsprechenden ständigen Verwaltungspraxis auch ohne Gesetz kraft Selbstbindung der Verwaltung ergeben, wodurch eine Willkürfreiheit der Leistungsvergabe sichergestellt und der Gleichheit Genüge getan wird. Als Konsequenz dessen gilt in den beiden wichtigsten Bereichen der Leistungsverwaltung, dem Sozialrecht und dem Subventionsrecht, kein allgemeiner verfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt. Die Verneinung grundrechtlicher Leistungsansprüche wirkt sich insbesondere im Sozialrecht aus, das neben dem einfachgesetzlich begründeten Gesetzesvorbehalt des § 31 SGB I (Allgemeiner Teil) keinen generellen grundrechtlichen Parlamentsvorbehalt für Sozialleistungen kennt. Überdies wäre ein solcher den hiermit angestrebten sozialstaatlichen Zielen eher abträglich als nützlich, spräche er doch ein Verbot an die Verwaltung aus, Leistungen ohne gesetzliche Grundlage zu erbringen. 359 Dies nähme dem Bürger angesichts der Aussichtslosigkeit einer auf eine rechtlich unmögliche Handlung gerichteten Leistungsklage die Möglichkeit, etwaige Leistungsansprüche gerichtlich durchzusetzen, sofern man an der grundsätzlichen Ablehnung von Rechtsansprüchen auf den Erlaß von Gesetzen festhalten will. 3 6 0 Der einfachgesetzlich begründete sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt läßt hingegen eine Durchbrechung in Form von gesetzlichen Öffnungsklauseln zu, die eine flexible Leistungsverteilung ermöglichen. Da staatliche Beihilfen regelmäßig nur im öffentlichen Interesse vergeben werden, fällt auch das Subventionsrecht in Ermangelung entsprechender grundrechtlicher Ansprüche grundsätzlich nicht unter den Gesetzesvorbehalt, sofern keine objektiv berufsregelnde Tendenz der Leistungsgewährung anzunehmen ist. Da andererseits auch keine ausschließliche Zuständigkeit der Exekutive gegeben ist, liegt hier ein Bereich vor, in dem der formelle Gesetzgeber eine Regelung treffen darf, aber, soweit nicht andere Umstände eingreifen, keinesfalls muß. 359

Bullinger, Vertrag und Verwaltungsakt, S. 96; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 217 f.; hier zeigt sich die traditionelle (aber nicht mehr ausschließliche) Schutzrichtung des Gesetzesvorbehaltes, der den Betätigungen der Exekutive zum Schutze des Individualbereichs eine Schranke setzen soll. Zur Erweiterung der Rechtsstellung des einzelnen um konkrete Leistungsansprüche gegen den Staat ist er ein untaugliches Mittel. 360 Ausdrücklich schließt wohl nur § 2 Absatz 3 BauGB einen Anspruch auf Normerlaß aus. Auch im übrigen werden Gesetze formeller oder materieller Art grundsätzlich allein im Interesse der Allgemeinheit, nicht aber eines individualisierbaren Kreises einzelner erlassen. Eine andere Entwicklung zeichnet sich für den Fall der Nichtumsetzung von EU-Richtlinien ab. Diese sanktioniert der EuGH (unter bestimmten Voraussetzungen) mit Schadensersatzansprüchen, setzt also ein subjektives Recht voraus; vgl. EuGH Sammlung 1991,1 S. 5357 ff. (Francovich) = NJW 1992, S. 165 ff.; ständige Rechtsprechung.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

c) „Grenzformen" von Begünstigung und Belastung (1) Normen mit Doppelwirkung Gelegentlich lassen sich Regelungen ausmachen, die zugleich sowohl belastenden als auch begünstigenden Charakter haben. So schränkt die im Schulrecht vorgesehene gesetzliche Schulpflicht zum einen die allgemeine Handlungsfreiheit des Schülers (Artikel 2 Absatz 1 GG) und das Erziehungsrecht der Eltern (Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 GG) ein, gewährt dem jungen Menschen zum anderen aber gleichzeitig kostenlos Bildung und Erziehung. Da man hier kaum zwischen Vor- und Nachteilen trennen kann 361 , haben die begünstigenden Einzelregelungen dieses Rechtsgebietes am Eingriffsvorbehalt teil, soweit die geschilderte untrennbare Verbindung zwischen ihnen besteht.362 Hinsichtlich des Grades der gebotenen Regelungsdichte des Gesetzes scheiden Differenzierungen zwischen belastenden und begünstigenden Auswirkungen derselben Vorschrift aus, zeigen sie sich doch nur als zwei Seiten einer Medaille.

(2) Grenzen von Grundrechtsschranken

oder Leistungen

Ähnlich zu beurteilen sind Rechtsbereiche, in denen zwar einzelnen Normen eine begünstigende Wirkung zugeschrieben werden kann, die aber insofern untrennbar mit nachteiligen Regelungen verbunden sind, als sie diese in ihrer Belastungswirkung eingrenzen sollen. Dies gilt zum Beispiel für Vorschriften, die einen Genehmigungsanspruch im Rahmen eines präventiven Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt 6 3 gewähren. Isoliert betrachtet scheinen diese Normen rein begünstigenden Charakter zu haben, ihr belastender Gehalt liegt jedoch in der mit ihnen verbundenen Genehmigungspflicht. Die Anspruchsgrundlage für die Erteilung der Erlaubnis begrenzt dabei die Grundrechtsbeeinträchtigung und 361

BVerfGE 41, 251 (259) zitiert Gerichtsurteile, die den Gesetzesvorbehalt im Schulrecht in Anlehnung an die verfassungsgerichtliche Judikatur ausdehnen, da „gerade hier die üblichen Abgrenzungsmerkmale von Eingriff und Begünstigung unentwirrbar ineinander übergingen". 362 Artikel 7 GG beauftragt den Gesetzgeber zudem objektivrechtlich, das Schulrecht zu gestalten. 363 Bedeutsamstes Beispiel ist der Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigimg, der in Baden-Württemberg aus § 58 LBO folgt. In den anderen Bundesländern gelten inhaltsgleiche Vorschriften. Zum Verbot mit Erlaubnisvorbehalt Maurer, Verwaltungsrecht, S. 205 ff.; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit BVerfGE 8, 71 (75 ff.); E 20, 150 (154 ff.).

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

113

bewirkt, daß lediglich eine Kontrolle 364 der Einhaltung der rechtlichen Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs stattfindet, weshalb eine solche gesetzliche Gestaltung aus Verhältnismäßigkeitsgründen anderen Regelungen wie beispielsweise einem repressiven Verbot mit dem Vorbehalt einer im Ermessen der Verwaltung stehenden Befreiung vorzuziehen ist, sofern das entsprechende Verhalten grundrechtlich geschützt ist und nicht als sozialschädlich eingestuft werden kann.365 Der Eingriffsvorbehalt erstreckt sich in vollem Umfang auf den eine Grundrechtsbeschränkung begrenzenden Genehmigungsanspruch, muß doch das Ausmaß jedes Eingriffs in Freiheit und Eigentum in seinen wesentlichen Zügen vom formellen Gesetzgeber geregelt werden. Es gelten keine reduzierten Anforderungen an die vom Gesetz zu liefernde Bestimmtheit, da es sich trotz des vermeintlich begünstigenden Charakters um Grundrechtsschranken handelt. Umgekehrt können die Bedingungen der Vergabe staatlicher Leistungen für sich betrachtet nachteilig erscheinen. Soweit nicht die Umstände des konkreten Falles ein anderes gebieten, bedürfen sie dennoch ebensowenig einer gesetzlichen Grundlage wie die Leistungsgewährung als solche.

(3) Gesetzestechnische Verbindung von Eingriffs-

und Leistungsverwaltung

Der Gesetzgeber kann begünstigende Einzelregelungen, die Gegenstand einer eigenen Regelungsmaterie sein könnten, gesetzestechnisch in ein Eingriffssystem eingliedern. Legt eine Vorschrift dem Bürger eine Belastung auf, die in ihrer Wirkung durch eine andere ihm günstige Bestimmung abgemildert wird, ergibt sich die Gesamtbelastung des Bürgers aus dem Zusammenspiel beider Regelungsteile. Beide müssen, um die Vorhersehbarkeit des Gesamteingriffs zu gewährleisten, vom Eingriffsvorbehalt umfaßt werden. Man kann ihr Verhältnis durch die Begriffe der „positiven" und „negativen" Eingriffsvoraussetzungen beschreiben. Sieht zum Beispiel eine Norm eine Zahlungspflicht in Höhe von DM 1.000,-- vor, legt sie die „positiven" Eingriffsvoraussetzungen fest. Bestimmt eine andere, daß sich diese Zahllast um DM 500,reduziert, ist hierin eine „negative" Eingriffsvoraussetzung zu sehen. Durch die gesetzgeberische Entscheidung, keine gesonderte Leistungsgewährung, sondern eine einheitliche, dafür aber abgeschwächte Belastung anzuordnen,

364

BVerfGE 20, 150 (155) spricht von einer „formellen Ausübungsschranke". BVerfGE 8, 71 (76): „Der Staatsbürger, dessen Grundrechte durch einen Genehmigungsvorbehalt berührt werden, muß daher einen Rechtsanspruch auf Genehmigung haben, wenn kein gesetzlich vorgesehener Versagungsgrund vorliegt." 365

8 Seiler

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

bilden beide Einzelregelungen zusammen den dem Gesetz vorbehaltenen Gesamteingriff (DM 500,--) 366 Trotz Einbeziehung solcher „negativen" Eingriffsvoraussetzungen in den Eingriffsvorbehalt ist nicht für alle Einzelheiten der Gesamtregelung die gleiche Regelungsdichte zu fordern. Im Unterschied zu den zuvor (2) betrachteten Grenzen eines Grundrechtseingriffes werden hier zwei Einzelregelungen miteinander verbunden, die auch isoliert voneinander mit je unterschiedlichen Anforderungen an die gesetzliche Regelungsdichte ergehen könnten, während dort das Ausmaß einer nicht aufteilbaren Belastung beschrieben wird, die als Einheit vorhersehbar und justitiabel - vor allem im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip - gesetzlich normiert werden muß. Bei der bloß gesetzestechnischen Verbindung von Belastungen und Begünstigungen müssen zunächst die nachteiligen Regelungen nach Maßgabe des Eingriffsvorbehaltes gesetzlich vorgesehen werden, da sie im Falle des Nichteingreifens einer Begünstigung das Höchstmaß des gesamten Eingriffs ausmachen, also den Eingriffsrahmen bestimmen. Erst anschließend ist die Verbindung mit den vorteilhaften Einzelnormen herzustellen, die für sich betrachtet regelmäßig keiner förmlichen Regelung bedürften, im konkreten Fall aber die Schwere des Eingriffs mildern können. Wegen ihrer größeren Grundrechtserheblichkeit sind die belastenden Auswirkungen daher - vorbehaltlich etwaiger Besonderheiten des konkreten Regelungsbereichs - tendenziell stärker zu verdeutlichen.367

366

Eine derartige untrennbare Wechselbeziehung zwischen Belastungen und Begünstigungen hatte BVerwGE 6, 282 (288 f.) (Ölmühle) zum Gegenstand. Zugrunde lag der Fall eines Verrechnungssystems von Abgaben und Vergütungen, bei dem der jeweilige Differenzbetrag an den Staat abzuführen oder von diesem einzufordern war. Das Gericht beurteilte die gesamte Regelung im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt einheitlich „unter entsprechender Anwendung des in § 139 BGB enthaltenen Grundgedankens". 367 Auch in einer anderen Hinsicht bedarf der „Gesamteingriff 4 (in obigem Beispiel DM 1.000,- abzüglich DM 500,--) besonderer gesetzlicher Verdeutlichung. Er ist nicht nur mit der Konstruktion eines „Maximaleingriffs" (DM 1.000,--) bei gleichzeitiger Leistungsgewährung (DM 500,-), sondern auch mit dem hypothetischen geringeren „Minimaleingriff 4 (DM 500,-) ohne Befreiungsmöglichkeit zu vergleichen. Trotz gleicher Gesamtbelastung entsteht dem Bürger beim „Gesamteingriff 4 ein entscheidender Nachteil in Gestalt ungünstigerer Beweislastregeln. Ausgehend von der im Regelfall üblichen objektiven Beweislastverteilung, nach der jeder Beteiligte die Folgen der Nichterweislichkeit der Voraussetzungen ihm günstiger Normen zu tragen hat, bliebe es bei Fehlen des Nachweises der tatsächlichen Gegebenheiten der „negativen44 Eingriffsvoraussetzungen (Ermäßigung um DM 500,-) im Falle des „Gesamteingriffes 44 bei einer Zahllast von DM 1.000,-. Bei abweichender gesetzlicher Gestaltung, die einen „Minimaleingriff 4 geringerer Intensität, aber ohne Ausnahmeregelung vorsähe, hätte der mangelnde Nachweis der Gegenausnahme dagegen keine nachteiligen Folgen für den Bürger.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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d) Die Intensität der Auswirkungen der zu regelnden Materie Der Vorbehaltsgedanke beantwortet neben der Frage, ob ein Gesetz notwendig ist, auch jene, welches Maß an Bestimmtheit dieses aufzuweisen hat. In der Rechtsprechung finden sich hierzu jeweils mit Blick auf den Grad der grundrechtlichen Intensität einige Entscheidungen, die Osterloh 368 wie folgt zusammengefaßt hat: „Je wesentlicher eine Regelung, um so mehr, ie unwesentlicher, um so weniger gesetzliche Bestimmtheit ist erforderlich." 36 Dem widerspricht Osterloh. 370 Wegen der widerstreitenden Folgerungen aus der parlamentarisch-demokratischen und der rechtsstaatlichen Komponente des Vorbehaltsprinzips könne die Intensität einer Regelung kein Kriterium zur Ermittlung des gebotenen Bestimmtheitsgrades sein. „Wesentlichere" Fragen bedürften keiner bestimmteren Regelung als andere. Osterloh verkennt, daß die fur eine gesetzliche Regelung sprechenden Gesichtspunkte bei Maßnahmen von erhöhter Grundrechts- oder sonstiger Intensität - je nach zu regelnder Materie - ein vergleichsweise größeres Gewicht erlangen, die Aussagekraft der entgegenstehenden Aspekte aber eher abnimmt. Aus rechtsstaatlicher Sicht besteht bei „wesentlicheren" Fragen ein erhöhter Bedarf an Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Effektivität des Rechtsschutzes, der bei unmaßgeblichen oder dem Bürger günstigen Regelungen geringer sein oder sogar ganz entfallen kann. Zur Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit können zwar grundsätzlich auch bei Fragen mit erheblichen Auswirkungen unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln und Ermessensspielräume zulässig sein, wegen der zuvor genannten gegenläufigen Ansatzpunkte verschiebt sich das gebotene Maß der Regelungsdichte jedoch tendenziell in Richtung einer bestimmteren Regelung, so daß das Gesetz mindestens zusätzliche Gesichtspunkte zur Ausfüllung solcher „offenen" Normen liefern muß. Die aus dem Demokratieprinzip abgeleiteten für eine erhöhte Regelungspflicht des formellen Gesetzgebers streitenden Argumente der stärkeren demokratischen Legitimation und der Möglichkeit einer öffentlichen Diskussion greifen erst recht bei besonders grundlegenden oder intensiv wirkenden Sachfragen. Der grundsätzlich gegen eine Befassung des Volksvertretung mit einer Problematik sprechende Punkt der Entlastung des Parlaments durch Be368

Osterloh, Gesetzesbindung, S. 121. Das Maß der gebotenen Bestimmtheit unterscheiden nach der Intensität der grundrechtlichen Wirkungen: BVerfGE 14, 245 (251); E 48, 210 (222); E 49, 89 (133); E 56, 1 (13); E 58, 257 (274, 277 f.); E 59, 104 (114); E 62, 203 (210); E 75, 329 (342); E 98, 218 (252); BVerwGE 69, 162 (176). 370 Osterloh, Gesetzesbindung, S. 121 ff. 369

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schränkung auf die wichtigen Fragen verliert indes an Bedeutung, je „wesentlicher" eine Frage wird. Ferner gelten höhere Anforderungen an die Vorhersehbarkeit von Beschränkungen der Individualsphäre, je intensiver diese ausfallen. Da das Ausmaß der jeweiligen Freiheitseinbuße maßgeblicher Gesichtspunkt für die Zustimmung der durch ihre Repräsentanten vertretenen Bürger zur fiktiven Selbstunterwerfung im Sinne der Lehre vom Gesellschaftsvertrag ist, verlangt der parlamentarisch-demokratische Ansatz der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte eine stärkere gesetzliche Verdeutlichung erheblicher Freiheitsbeeinträchtigungen. Gleiches gilt für die rechtsstaatlich begründete Funktion des Grundrechtsschutzes. Die Intensität einer Maßnahme und ihre Auswirkungen auf die Grundrechte beeinflussen mithin den Grad gesetzlicher Regelungsdichte.371

e) Artikel 103 Absatz 2 GG 372

Das Grundgesetz kennt mit Artikel 103 Absatz 2 GG einen speziellen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt, der besonders strikte Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit stellt und Analogieschlüsse verbietet. 373 Dennoch verlangt auch dieser strenge Parlamentsvorbehalt keine größtmögliche Gesetzesdichte.374 Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe dürfen auch in Straftatbeständen Verwendung finden. 375 Daneben stellt das formelle 371

Nach Kirchhof \ Paul, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 24, gelten „um so strengere Anforderungen, je mehr die Rechtsfolge den Adressaten beschwert". 372 Zu Artikel 103 Absatz 2 GG Hill, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band VI, § 156, RN 58 ff; Artikel 103 Absatz 2 GG gilt nicht nur für Strafnormen im eigentlichen Sinne, sondern auch für andere Sanktionen, insbesondere für Bußgeldtatbestände; vgl. BVerfGE 71, 108(114). 373 Beispiele für die sich aus Artikel 103 Absatz 2 GG ergebenden Bestimmtheitsanforderungen finden sich in BVerfGE 14, 174 (185 ff.); E 14, 245 (251 ff.); E 22, 21 (25 ff.); E 23, 265 (269 f.); E 25, 269 (285); E 28, 175 (183); E 37, 201 (206 f.); E 45, 346 (351); E 45, 363 (371 f.); E 47, 109 (120 f.); E 50, 142 (164 f.); E 51, 60 (70 ff.); E 75, 329 (340 ff.); E 78, 374 (381 ff.). 374 So ausdrücklich zum Strafrecht BVerfGE 45, 363 (371): „Das Gebot der Bestimmtheit darf nicht übersteigert werden; die Gesetze würden sonst zu starr und kasuistisch und könnten der Vielgestaltigkeit des Lebens, dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden." Ähnlich BVerfGE 14, 245 (251); E 75, 329 (342 f.) 375 BVerfGE 26, 41 (42 ff.) („grober Unfug"); E 28, 175 (183 ff.); E 41, 314 (319 f.); E 45, 363 (370 ff.) („besonders schwerer Fall")

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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Gesetz die zu verhängende Strafe regelmäßig in das Ermessen des Gerichts, überläßt also die Konkretisierung der gesetzlichen Rechtsfolge dem Rechtsanwender. Zu fragen bleibt des weiteren, ob dem Artikel 103 Absatz 2 GG Folgerungen auch für jene Rechtsmaterien entnommen werden können, die zwar selbst anderen als strafrechtlichen Regelungszwecken dienen, in denen aber die Einhaltung der festgelegten Verhaltenspflichten strafrechtlich abgesichert wird. Rechtstechnisch geschieht dies üblicherweise durch eine Blankettstrafnorm 376, die durch das jeweilige Rechtsgebiet ausgefüllt wird. Betrachtet man allein den Wortlaut von Artikel 103 Absatz 2 GG, so scheint dessen Aussagekraft auf die eigentlichen Strafbestimmungen beschränkt.377 Gleichwohl muß der Grundgedanke378 dieses speziellen Gesetzesvorbehaltes auf jene Normen ausgedehnt werden, welche die Voraussetzungen der Strafbarkeit abseits des Strafgesetzes festlegen, da nur so eine Umgehung seiner Schutzfunktion, die den Bürger zu rechtstreuem Verhalten anregen und ihn vor nachteiligen Folgen warnen soll, vermieden werden kann.379 Hieraus kann ein Gebot gesteigerter Bestimmtheit für alle strafbewehrten Verhaltenspflichten abgelesen werden, ohne daß sämtliche Vorschriften, deren Nichtbeachtung strafrechtliche Folgen auslösen kann, in vollem Umfang von den Anforderungen des Grundsatzes „nulla poena sine lege" erfaßt werden müßten. Es ist für jede das Strafrecht ergänzende Norm zu fragen, inwieweit der Schutzzweck dieses strengen Vorbehaltes auf ihren Anwendungsbereich zu übertragen ist. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf die zahlreichen 376

Zur Problematik der Blankettstrafgesetze Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Band IV, Artikel 103, RN 198 ff. 377 Nach BVerfGE 7, 89 (95) (Hundesteuer) gilt 103 Absatz 2 GG - allerdings bezogen auf das in dieser Norm ebenfalls enthaltene Rückwirkungsverbot - ausdrücklich nur für Strafgesetze und ist nicht „auf eine verhältnismäßig belanglose steuerrechtliche Bestimmung... anzuwenden". 378 Das Bundesverfassungsgericht betont den doppelten Zweck von Artikel 103 Absatz 2 GG. Zum einen sei abzusichern, daß der formelle Gesetzgeber über die Strafbarkeit befindet, zum anderen soll der Bürger das strafrechtlich Verbotene vorhersehen und sein Verhalten darauf einrichten können. Vgl. BVerfGE 26, 41 (42); E 28, 175 (183); E 37, 201 (207 ff.); E 45, 363 (370); E 47, 109 (120 f.); E 48, 48 (56); E 50, 142 (164 f.); E 64, 389 (393 f.); E 71, 108 (114); E 73, 206 (234); E 75, 329 (341); E 78, 374 (382); E 85, 69 (72 f.); E 87, 363 (391 f.); E 87, 399 (411). 379 BVerfGE 41, 314 (319) fordert für eine Blankettstrafnorm, statt ihrer müsse die „ausfüllende Norm dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit genügen", was auch für Bußgeldtatbestände gelte. Die Entscheidung betraf den Fall, daß die ausfüllende Norm dem gleichen Gesetz angehört, kann aber auf andere Verweisungen auf Regelungen gleicher Urheberschaft übertragen werden. Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Band IV, Artikel 103, RN 201.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Rechtsbereiche, in denen die Technik der Ausfüllung von Strafnormen durch Verweisung auf außerhalb des Strafgesetzes geregelte Bestimmungen trotz jeweils weit gefaßter Rechtsregeln anerkannt ist. 3 8 0 Beispielsweise setzen die unechten Unterlassungsdelikte im Sinne von § 13 Absatz 1 StGB eine Garantenstellung voraus, das heißt eine Verantwortlichkeit für den Nichteintritt des Erfolges, die sich nach allgemeiner Meinung unter anderem „aus Gesetz" 381 ergeben kann. 382 Bezug auf außerstrafrechtliche, insbesondere verwaltungsrechtliche 383 Vorschriften nehmen neben anderen 3 8 4 auch das Umweltstrafrecht (§§ 324 ff. StGB) 3 8 5 , das Straßenverkehrsrecht 386 ebenso wie der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO). Diese allgemein gebilligten Verweisungen verdeutlichen, daß Artikel 103 Absatz 2 GG nicht für jede eine Blankettstrafnorm ausfüllende Vorschrift die gleiche Bestimmtheit verlangen kann, da die verschiedenen Einzelregelungen des jeweiligen Rechtsgebietes die Strafbarkeit in ganz unterschiedlichem Maße beeinflussen. Die Aussagen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes sind 380 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang stets die Problematik einer dynamischen Verweisung auf Vorschriften eines anderen Normgebers. 381 Zum Beispiel sind Eltern allein auf Grund der allgemeinen familienrechtlichen Bestimmungen über das elterliche Sorgerecht (§§ 1626 ff. BGB) für ihre in Gefahr geratenen Kinder verantwortlich, ohne daß eine entsprechende Strafbarkeit ausdrücklich vorgesehen werden müßte. 382 Zu dieser gesetzlich nur angedeuteten Strafbarkeit Wessels, Allgemeiner Teil, S. 215 ff., der Garantenpflichten unter anderem aus Gesetz, Amts- oder Verkehrssicherungspflichten, besonderen Lebens- und Gefahrengemeinschaften, der freiwilligen Übernahme von Beistandspflichten oder pflichtwidrigem Vorverhalten ableitet. 383 Diese Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts umfaßt eine bloß begriffliche Bezugnahme, die Abhängigkeit von verwaltungsrechtlichen Normen (Verwaltungsrechtsakzessorietät) sowie von einzelnen Verwaltungsakten (Verwaltungsaktakzessorietät); vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 103, RN 202. Umstritten ist heute vor allem die strafrechtliche Anknüpfung an (rechtswidrige, aber in den Grenzen von § 44 VwVfG wirksame, jedoch mit Wirkung ex tunc aufhebbare) Verwaltungsakte. Hierzu Schmidt-Aßmann, ebenda, RN 216 ff. 384 BVerfGE 48, 48 (55 ff.) hat die Bestrafung wegen einfachen Bankrotts in § 240 Absatz 1 Nr. 4 KO a.F. (entspricht § 283 Absatz 1 Nr. 7 lit b StGB) bei Nichterstellung einer Bilanz „gegen die Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs" gebilligt. Nach BVerfGE 50, 142 (164 f.) ist die Strafbarkeit gemäß § 170b StGB wegen Verletzung einer „gesetzlichen Unterhaltspflicht" (§§ 1601 ff. BGB) verfassungskonform. 385 Insbesondere §§ 324a, 325, 325a StGB („Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" im Sinne von § 330d Nr.4 StGB) und §§ 324, 326 StGB („unbefugt"); die Verweisung auf umweltverwaltungsrechtliche Normen hat BVerfGE 75, 329 (342) (sogar für den Fall einer Ausfüllung durch Rechtsverordnung) gebilligt. Im Anschluß hieran hält Otto, Jura 1991, S. 308 (310 f.) Bedenken gegen diese Gesetzestechnik für „weithin überwunden". 386 § 315c Absatz 1 Nr. 2 StGB bestraft denjenigen, der „grob verkehrswidrig und rücksichtslos" einen der dort genannten Verstöße gegen die Regeln des Straßenverkehrs begeht. Dieser Tatbestand wird durch das Straßenverkehrsrecht ergänzt.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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vielmehr je nach betroffenem Regellingsbereich und dessen Auswirkungen auf den Schutzzweck des Grundsatzes „nulla poena sine lege" differenzierend zu 3Ä7

ermitteln. Verallgemeinernd gesprochen müssen Gesetze, deren Mißachtung strafrechtliche Konsequenzen mit sich bringt, stets eine tendenziell größere Regelungsdichte aufweisen. Der Bürger muß jedenfalls in der Lage sein, vor einer Handlung oder Unterlassung deren strafrechtliche Folgen einschätzen zu können. Die Appell- und Warnfunktion des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes ist unabhängig von der Form der gesetzestechnischen Ausgestaltung eines Rechtsbereichs zu wahren.

f) Sonstige Maßstäbe der gebotenen Regelungsdichte Im übrigen ist, soweit nicht ausnahmsweise ein spezieller Gesetzesvorbehalt 388

einschlägig ist , die gebotene Bestimmtheit nach Maßgabe der Besonderheiten der konkret zu regelnden Materie und ihrer verfassungsrechtlichen Bezüge zu ermitteln. Wegen der Untrennbarkeit der gegenständlichen und umfangmäßigen Aussagen des Vorbehaltsgedankens können alle für oder gegen ein grundsätzliches Eingreifen des allgemeinen Gesetzes- wie des Parlamentsvorbehaltes sprechenden Umstände auch als Indizien für oder wider eine größere Bestimmtheit dienen. Insbesondere darf die Regelungsdichte dort geringer ausfallen, wo vielgestaltige Lebenssachverhalte eine an Details ausgerichtete Einzelregelung unmöglich und verallgemeinernde Formulierungen erforderlich machen389 oder wo eine konkretere Regelung wegen einer zu erwartenden raschen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse390 in kürzester Zeit zwangsläufig veraltet wäre. Auch darf der Gesetzgeber einen Maßstab funk-

387 Nicht genügen soll die Bezugnahme auf Standesrichtlinien ohne normativen Charakter zur näheren Bestimmung allgemeiner Berufspflichten; so BVerfGE 76, 171 (186 ff.); E 76, 196 (205 ff.) zu § 43 BRAO; anders noch BVerfGE 26, 186 (203 f.); E 66, 337 (355 f.). 388 Beispielsweise ein qualifizierter grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt. 389 In diesem Sinne BVerfGE 11, 234 (237) (jugendgefährdende Schriften") E 21, 1 (3 f.) („außergewöhnliche Belastungen" i.S.v. § 33 EStG); dieser Gedanke wird in BVerfGE 28, 175 (183) als ständige Rechtsprechung bezeichnet. 390 BVerfGE 8, 274 (326 f.) (Preisfestsetzung); BVerfGE 14, 245 (251) fordert, das Gesetz müsse „dem Wandel der Verhältnisse gerecht werden." Besondere Bedeutung hat dieser Gedanke im Technikrecht. BVerfGE 49, 89 (133 ff.) (Kalkar) läßt daher hier unbestimmte Rechtsbegriffe („Stand von Wissenschaft und Technik") zu.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

tioneller Richtigkeit anlegen391 und besonderen Sachverstand der Exekutive oder externer Stellen berücksichtigen, was je nach berührtem Fachgebiet sogar unerläßlich sein kann.392

2. Gesetz und Staatsganzes

a) Gesetzesvorbehalt für „Akte der Staatsleitung"? Nach Ansicht von Papier gilt jedenfalls für das Steuerrecht ein „zwingender Parlamentsvorbehalt für Akte der Staatsleitung".393 Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die wegen der stärksten demokratischen Legitimation des Parlaments unterstellte politische Führungsrolle der Volksvertretung. 394 Die Verfassung sehe daher in Artikel 59 Absatz 2, 115a Absatz 1, 1151 Absatz 3 GG sowie in Artikel 110 GG eine Beteiligung des Parlaments auch außerhalb der 395

materiellen Rechtsetzung vor. Insbesondere der Haushaltsplan sei unter der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr wie noch bei Laband396 bloßer Verwaltungsakt in Form eines nur formellen Gesetzes, sondern analogiefähiger Ausdruck eines allgemeinen Prinzips 397, nach dem der Parlamentsvorbehalt zugleich die Teilnahme der Volksvertretung an der Staatsleitung zu garantieren habe.398 Artikel 110 Absatz 2 GG fordere zur Durchsetzung der politischen Führungsrolle des Parlaments unabdingbar, den Haushalt durch ein förmliches Gesetz festzustellen 399, woraus Papier einen zwingenden, das heißt jede Dele391

BVerfGE 98, 218 (251 f.) (Rechtschreibreform): Die organisatorische und funktionelle Trennung der Gewalten ziele darauf, „daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen". 392 Vor allem im Umwelt- und Technikrecht sind sachverständige Gremien einzubeziehen. Dies begründet keine „umgekehrte Wesentlichkeitstheorie" (Wahl, VB1BW 1988, S. 387 (391)), die das Wesentliche der Exekutive überläßt, sondern reduziert das im hiesigen Sinne „Wesentliche". 393 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 93 ff. 394 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 94; im Anschluß an Quaritsch, S. 7, betont Papier, S. 32 f., die Staatsgewalt des Volkes sei im Parlamentsgesetz nur „einfach", in exekutiven Rechtsakten wie der Rechts Verordnung jedoch „doppelt mediatisiert". 395 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 96 f. 396 Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 522 ff. 397 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 99. 398 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 95. 399 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 100 f.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

121

gation verbietenden „finanzrechtlichen Parlamentsvorbehalt" sowohl für staatliche Ausgaben (Artikel 110 Absatz 2 GG direkt) als auch für staatliche Einnahmen durch Kreditermächtigungen (Artikel 115 GG) und Steuererhebungen (Artikel 110 Absatz 2 GG analog) folgert, seien doch Einnahmen und Ausgaben gleichermaßen bedeutsam für die gesamte Staatspolitik.400 Die Konsequenz hieraus wäre, was von Papier jedoch nicht ausgeführt, sondern nur angedeutet401 wird, ein umfassender Parlamentsvorbehalt für alle Fragen mit Einfluß auf die Staatsleitung, namentlich für alle finanziell folgenreichen Angelegenheiten. Entgegen der soeben geäußerten Kritik an einem „Totalvorbehalt" müßte der Parlamentsvorbehalt folglich auch auf die Leistungsverwaltung, einschließlich des Subventionsrechts, ausgedehnt werden. Ein aus Gründen parlamentarischer Wahrnehmung der Staatsleitung derart erweiterter Vorbehalt wäre jedenfalls in dieser Allgemeinheit402 abzulehnen, da die Grundannahme Papiers, dem Parlament sei die politische Führungsrolle zugewiesen, in dieser Eindeutigkeit nicht im Grundgesetz angelegt ist. Das Ausgangsargument von der stärksten demokratischen Legitimation des Parlaments führt nicht zu einer zwingenden Aufgabenzuweisung an die Volksvertretung, da die einzelnen Folgerungen hieraus, wie gezeigt wurde, sowohl für als auch gegen eine Ausweitung der Verantwortung des Gesetzgebers sprechen. Das Grundgesetz geht vielmehr von einer Verschränkung der Gewalten von Exekutive und Legislative aus. Zwar ist nur der direkt vom Volk gewählte Bundestag unmittelbar demokratisch legitimiert, die demokratische Legitimation der Regierung hingegen nur abgeleitet, jedoch anerkennt die Verfassung auch eine eigenständige Verantwortlichkeit der Exekutive in Fragen der Staatsleitung. Als Gegenstücke zu den von Papier genannten staatsleitenden Aufgaben des Bundestages seien vor allem die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nach Artikel 61 GG, die grundsätzliche Zuständigkeit der Exekutive für außenpolitische Entscheidungen sowie die Vorschriften über den Gesetzgebungsnotstand in Artikel 81 GG erwähnt, die Ausdruck eines Prinzips der „Staatsleitung zur gesamten Hand" 403 sind, nicht einer eindeutigen Zuweisung dieser Aufgabe an ein Staatsorgan. Außerdem sind, soweit das Parlament zur Teilhabe an der Staatsleitung berufen ist, verschiedene Arten seiner Mitwirkung denkbar. Die Volksvertretung kann ihrer Verantwortung auch ohne einen umfassenden 400

Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 101 ff. Vgl. Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 101; das Erfordernis, das Parlament auch außerhalb der materiellen Rechtssatzgebung an der politischen Staatsleitung zu beteiligen, sei eine „sich immer stärker durchsetzende Erkenntnis". Papier untersucht dies aber nur für das Steuerrecht. 402 Auf die Folgerungen für das Steuerrecht wird im zweiten Teil einzugehen sein. 403 Friesenhahn, VVDStRL 1957 (16), S. 9 (38). 401

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Gesetzesvorbehalt gerecht werden, wofür als Beispiel die Zustimmung des Bundestages zu Auslandseinsätzen bewaffneter deutscher Streitkräfte durch schlichten Parlamentsbeschluß404 oder gerade auch die Billigung des Haushaltsplans durch das Haushaltsgesetz als Gesetz im nur formellen Sinne dienen mögen. Somit besteht, abgesehen von einigen Spezialvorbehalten405, kein genereller Parlamentsvorbehalt für alle politisch bedeutsamen oder „staatsleitenden" Akte. 406 Gleichwohl kann der demokratische Ansatz der „Wesentlichkeitslehre" im Einzelfall doch als Argument dafür angeführt werden, daß eine Angelegenheit von grundlegender Bedeutung für das Gemeinwesen vom Gesetzgeber geregelt wird. 407 Die staatspolitische Tragweite einer Entscheidung, einschließlich ihrer finanziellen Folgen, wird dabei zu einem von mehreren Indizien für die Ermittlung des „Wesentlichen". Dies begründet aber noch keinen Totalvorbehalt für die Leistungsverwaltung, das Haushaltsrecht beteiligt das Parlament grundsätzlich in ausreichendem Maße an der Entscheidungsfindung.

b) Besteht ein Vorbehaltsbereich der Exekutive? Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG anerkennt die vollziehende Gewalt als eigenständige Staatsfunktion. Die Erwähnung an herausragender, von Artikel 79 Absatz 3 GG umfaßter Stelle spricht dafür, ihre Bedeutung nicht nur in der bloßen Ausführung der Gesetze zu sehen. Andererseits bindet Artikel 20 Absatz 3 GG die Exekutive sogleich an das Gesetz, sie scheint mithin der Legislative gegenüber grundsätzlich nachrangig zu sein. Aber auch dies kann nur für Bereiche gelten, in denen der Gesetzgeber zu einer Regelung befugt ist. 404

BVerfGE 90, 286 (381 ff.) (AWACS). Artikel 28 Absatz 2 GG garantiert die kommunale Selbstverwaltung „im Rahmen der Gesetze". Artikel 59 Absatz 2 GG enthält einen Vorbehalt für völkerrechtliche Verträge. Artikel 110 Absatz 2, 115 GG formulieren finanzrechtliche Vorbehalte. Gemeint sind - unabhängig von ihrer Eigenschaft als materielles Gesetz - jeweils formelle Gesetze. 406 BVerfGE 49, 89 (124 f.) (Kalkar): „Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht ... darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden." BVerfGE 68, 1 (108 ff.) (Pershing) lehnt einen Totalvorbehalt wie auch einen Gesetzesvorbehalt für alle „«objektiv wesentlichen" Entscheidungen ab (Hervorhebung vom Verfasser). Ähnlich BVerfGE 98, 218 (251 f.) (Rechtschreibreform). 407 So zieht BVerwGE 64, 308 (315 f.) (Pflichtfremdsprache) die bildungspolitische Bedeutung neben der Grundrechtserheblichkeit zur Begründung des Gesetzesvorbehaltes heran. 405

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

123

Somit kann dem Textbefund des Artikel 20 GG keine eindeutige Antwort auf die Frage nach einem der Exekutive vorbehaltenen, dem Gesetz gänzlich unzugänglichen Bereich, der zugleich die äußerste Grenze des Parlamentsvorbehaltes beschriebe, abgewonnen werden. 408 Vielmehr sind die beiden Tätigkeitsfelder der Exekutive näher zu betrachten, das Gebiet der Regierung einschließlich der militärischen Kommandogewalt und jenes der Verwaltung. 409 Die Regierungsfunktion 410 umfaßt einen dem Parlament verschlossenen Kernbereich 411 der Exekutive. In jedem Einbruch in diesen läge eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips 4 1 2 Die Wahrnehmung ihrer Aufgaben in eigener Verantwortung erfordert, der Regierung eine selbständige Entscheidungsgewalt zuzubilligen, wozu Artikel 65 Satz 1 GG dem Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz, Artikel 65 Satz 4 GG der Regierung die Befugnis zur Selbstorganisation413 und Artikel 65a GG dem Verteidigungsminister die Befehlsgewalt über die Streitkräfte zuweist.414 Ferner ist der Bereich der Personalangelegenheiten zu nennen, dem erhebliches politisches Gewicht415 zukommt, da durch die Auswahl der leitenden Beamten häufig auch Sachfragen beeinflußt werden. Auch der Vorgang der Willensbildung innerhalb der Exekutive ist Teil ihrer Kompetenzen, es besteht ein Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich, der nur begrenzter parlamentarischer Kontrolle unterliegt. 416 Soweit dieser Kernbereich der Regierungsfunktion unangetastet bleibt, ist der Gesetzgeber jedoch grundsätzlich4 nicht gehindert, eine Sachfrage an 408

Die Frage nach einem Exekutiworbehalt wurde lange Zeit nicht gestellt. Die konstitutionelle Epoche war allein darauf bedacht, die monarchische Staatsgewalt durch Gesetzes- und Richtervorbehalte zu bändigen. Der heute ebenfalls demokratisch legitimierten Exekutive können aber - durchaus im Einklang mit dem Demokratieprinzip grundsätzlich eigene Kompetenzen zur letztverbindlichen Entscheidung zugewiesen werden. Zugleich läßt sich eine Tendenz zur Übernormierung bemerken, die nach den Grenzen gesetzgeberischer Tätigkeit fragen läßt. 409 Zum Vorbehalt der Exekutive Maurer, WDStRL 1984 (43), S. 135 ff.; Mußgnug, Haushaltsplan, S. 268 ff.; Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 62, RN 53 ff. 410 Grundlegend Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung; siehe auch Maurer, WDStRL 1984 (43), S. 135 (151 ff.). 411 BVerfGE 9, 268 (280) (Bremische Personalvertretung); E 67, 100 (139) (Flick); kritisch Maurer, WDStRL 1984 (43), S. 135 (147 ff.). 412 So ausdrücklich BVerfGE 9, 268 (280). 4,3 Zur Selbstorganisation der Regierung gehört der Erlaß einer Geschäftsordnung, die nach Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 124 f., dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen ist. 414 Starck, Gesetzesbegriff, S. 199 f., sieht hierin ein Verbot entsprechender Gesetzgebung. 415 BVerfGE 9, 268 (282). 416 BVerfGE 67, 100(139). 417 Eine der seltenen Schranken jenseits des Kernbereichs setzt Artikel 113 GG.

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§ 2: Der allgemeine Parlaments vorbehält

sich zu ziehen und abstrakt-generell zu regeln. Ein Beispiel aus dem Bereich der Organisation der Exekutive findet sich in Artikel 86 Satz 2 GG 418 , der dem Gesetzgeber ein Zugriffsrecht 419 fur die Regelung der Behördeneinrichtung im Rahmen der bundeseigenen Verwaltung, einschließlich der Regelung der Aufgabenbereiche einzelner Ministerien als Oberbehörden, zuspricht. 420 Eine Untersuchung der Verwaltungsfunktion 421 begegnet zunächst der hier nicht abschließend zu klärenden Schwierigkeit ihrer begrifflichen Umgrenzung. Negativ läßt sich die Verwaltung beschreiben als „Tätigkeit des Staates, die nicht Gesetzgebung oder Justiz ist". 422 Umgekehrt ist versucht worden, das Verwaltungshandeln positiv als einzelfallbezogene Verwirklichung der Staatszwecke zu charakterisieren. 423 Bedeutsamster Unterfall der Realisation des Staatswillens ist der Gesetzesvollzug. Insoweit ist das Handeln der Exekutive vom Gesetz abhängig, was dagegen spricht, der Verwaltung im Rahmen der Anwendung des materiellen Rechts einen jeder Gesetzgebung entzogenen Vorbehaltsbereich zuzugestehen. Wegen des Vorranges der Gesetzes muß dies auch in jenen Bereichen gelten, in denen der Gesetzesvorbehalt nicht eingreift. Die Befugnis des Gesetzgebers, hier in Ausübung seiner Gestaltungsfreiheit von einer gesetzlichen Regelung abzusehen, kann deren grundsätzliche Zulässigkeit nicht aufheben. Eine andere Frage ist die nach den Gesetzgebungsbefugnissen für Verwaltungsverfahren und Behördenorganisation. Das Grundgesetz gibt hierzu kaum Auskunft, da Bundesgesetze nach Artikel 83 ff. GG überwiegend durch die Länder ausgeführt werden. Für den Ausnahmefall der bundeseigenen Verwal418

Vgl. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 130 ff.und 286 ff. Der Begriff des Zugriffsrechts wird in Anlehnung an Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 103 ff., benutzt. Seine besondere Bedeutung erhält es durch den Vorrang des Gesetzes (S. 104). 420 Artikel 86 Satz 2 GG umfaßt, wie Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 133 ff., entstehungsgeschichtlich belegt, nicht nur die Einrichtung der nachgeordneten Behörden, sondern auch die der Oberbehörden und damit die Aufgabenzuweisung an einzelne Ministerien. Das gesetzgeberische Zugriffsrecht erstreckt sich insoweit grundsätzlich auch auf die Regierungs- und Ministerialorganisation und wird nur durch den Kernbereich der Exekutive begrenzt (S. 286 ff.). 421 Hierzu Maurer, WDStRL 1984 (43), S. 135 (154 ff.). 422 Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, S. 7; ergänzend ist die Regierungsfunktion auszunehmen. Diese Negativdefinition in Abgrenzung von der Gesetzgebung wird herkömmlich durch den Begriff des materiellen Gesetzes beherrscht. Dessen Bedeutung für die Funktionenordnung des Grundgesetzes wird noch zu überdenken sein. 423 Sinngemäß Peters, S. 3 ff. (5); der Begriff mag an dieser Stelle tauglich sein. Er umfaßt aber nur die rechtsanwendende, nicht die rechtsetzende Funktion der Verwaltung. 4,9

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

125

tung bestimmt Artikel 86 GG, daß der Gesetzgeber die Regelung des Verfahrens und der Organisation der die Gesetze anwendenden unteren Verwaltungsbehörden an sich ziehen darf, aber nicht zwingend muß. Ähnliches gilt nach Artikel 108 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 5 Satz 2 GG für das Steuerrecht. Diese Vorschriften eröffnen eine grundsätzliche Regelungskompetenz des Parlaments, ohne sie thematisch zu beschränken. Sofern die Gesetze wie regelmäßig von den Länder ausgeführt werden, bietet die Bundesverfassung keinen Anlaß, einen exekutiven Vorbehaltsbereich anzunehmen. Zwar bleibt es dem jeweiligen Landesverfassungsrecht überlassen, wahlweise einen Verwaltungsvorbehalt oder ein Zugriffsrecht des Landtages jenseits des Parlamentsvorbehaltes vorzusehen, jedoch läßt sich auch landesverfassungsrechtlich kein generelles Bedürfnis ausmachen, die Ausführung der Gesetze einer gesetzlichen Anleitung zu entziehen.424 Somit besteht je nach Gesetzgebungskompetenz ein auf die Ausführung der Gesetze bezogenes Zugriffsrecht des Bundes- oder Landesgesetzgebers, nicht aber ein jeder Gesetzgebung von vorneherein unzugänglicher425 genereller Vorbehaltsbereich der Exekutive.426 Dies gilt jedoch nicht grenzenlos. Die Organisationshoheit der Verwaltung umfaßt auch einen dem Gesetzgeber entzogenen Kernbereich der Selbstorganisation, zu dem beispielsweise einzelne Personalentscheidungen gehören, dessen Grenzen allerdings enger bemessen sein dürften als im Rahmen der Regierungsfunktion. 427 424

Zum Beispiel enthält Artikel 70 LV Baden-Württemberg einen Gesetzesvorbehalt für die grundlegenden Fragen der Verwaltungsorganisation. Im übrigen sieht Artikel 61 Absatz 2 LV Baden-Württemberg vor, daß die zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften nur erlassen werden dürfen, „soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen", und betont so den Vorrang des Gesetzes. Da der zulässige Umfang der Gesetzgebung andererseits nicht begrenzt wird, anerkennt dies ein parlamentarisches Zugriffsrecht. 425 Der beklagten Übernormierung kann daher nicht durch einen Exekutiworbehalt begegnet werden, da dies die Befugnisse des parlamentarischen Gesetzgebers unzulässigerweise beschneiden würde. Als Lösungsansatz bliebe, die Gesetzgebungstec/w/£ zu überdenken; ebenso Maurer, WDStRL 1984 (43), S. 135 (166). Zu erwägen wäre eine reduzierte Gesetzesdichte verbunden mit ergänzenden Exekutivregelungen. 426 Friesenhahn, WDStRL 1957 (16), S. 9 (38), bejaht ein Mitwirkungsrecht des Parlaments, soweit dies nicht absolut eindeutig durch eine spezielle Verfassungsvorschrift ausgeschlossen ist. Gegen einen „Vorbehalt der Verwaltung" Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (166 ff., 175). 427 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 107, betont, der Kompetenzbereich der Exekutive dürfe nicht praktisch aufgehoben werden. Die Grenzen des Kernbereichs lägen aber bei der Organisation der Regierung anders als bei jener der Verwaltung. Bullinger, Vertrag und Verwaltungsakt, S. 93 ff., lehnt unter Berufung auf die zum Umfang der /teg/erwigskompetenzen ergangene Entscheidung BVerfGE 9, 268 einen Totalvorbehalt gerade im Hinblick auf einen in seinem Kembereich gegen gesetzgeberische Eingriffe geschützten allgemeinen Verwaltungsauftrag der Verfassung ab, ohne diesen genauer zu bezeichnen. Auch Ossenbiihl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III,

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Jenseits dieses Kernbereichs der Exekutive kann sich die Unzulässigkeit einer die Verwaltungstätigkeit betreffenden gesetzlichen Regelung ergeben, ohne daß hieraus ein allgemeiner Vorbehaltsbereich der Exekutive abgeleitet werden könnte, wenn ein Gesetz in die laufende Verwaltungsarbeit eingreift, da dies der verfassungsrechtlichen Entscheidung für die Gewaltenteilung428 widerspräche. 429 Ferner bedürfte jeder Eingriff in die Landesverwaltung durch Bundesgesetz einer Rechtfertigung am Maßstabe des Bundestaatsprinzips. Schließlich könnte ein die Behandlung eines konkreten Falles durch die Verwaltung anleitendes Gesetz als Einzelfallgesetz Artikel 19 Absatz 1 Satz 1 GG oder Artikel 3 GG verletzen.430

c) Das Bundesstaatsprinzip Das Grundgesetz nennt verschiedene Wege, auf denen die Länderexekutiven431 über ihre Mitwirkung im Bundesrat Einfluß auf die Bundesgesetzgebung nehmen können. Neben dem Initiativrecht des Bundesrates nach Artikel 76 Absatz 1 GG und der Möglichkeit, den Vermittlungsausschuß nach Artikel 77 Absatz 2 GG anzurufen oder unter den Voraussetzungen von Artikel 77 Absatz 3 GG Einspruch gegen ein Bundesgesetz einzulegen, ist das an zahlreichen Stellen der Verfassung 432 vorgesehene Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrates als wirksames Machtmittel hervorzuheben.

§ 62, RN 59, anerkennt den Kernbereich der Verwaltung grundsätzlich, hält ihn aber „per saldo" nicht für „nennenswert". 428 Vgl. Friesenhahn, WDStRL 1957 (16), S. 9 (37) (Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip). 429 Daneben können andere Verfassungsaussagen eine gesetzliche Regelung untersagen. So schottet Artikel 28 Absatz 2 GG den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung gegen legislative Übergriffe ab. Gleiches gilt für die Selbstverwaltung der Universitäten. 430 Vgl. Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (167), für den der Gesetzgeber insoweit keiner allgemeinen formellen Begrenzung seiner Rechtsetzungsbefugnis unterliegt, falls die Unzulässigkeit einer Einzelfallnorm nicht aus konkreten Verfassungsaussagen folgt. 431 Die Mitwirkung des gemäß Artikel 51 Absatz 1 GG aus Mitgliedern der Landesregierungen bestehenden Bundesrates bei der Gesetzgebung beteiligt die Exekutive am Erlaß formeller Gesetze. Diese an sich systemfremde Kompetenzverteilung ist nur aus der Tradition der Reichsverfassung von 1871 zu verstehen, in die sie damals als Ausdruck des monarchischen Prinzips aufgenommen wurde; vgl. Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (137). 432 Die Zustimmung des Bundesrates zum Erlaß von Bundesgesetzen ist vorgesehen in Artikel 16a Absätze 2 und 3, 23 Absätze 1 und 7, 29 Absatz 7, 74 Absatz 2, 74a Absätze 2 und 3, 79 Absatz 2, 84 Absätze 1 und 5, 85 Absatz 1, 87b Absätze 1 und 2,

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

127

Im gegebenen Zusammenhang fragt es sich, inwieweit ein Gesetzesvorbehalt aus bundesstaatlichen Gründen zum Schutze der Interessen der Länder angenommen werden muß. Ein solcher Vorbehalt wäre zu bejahen, falls die im konkreten Fall von Verfassungs wegen gebotene Mitwirkung der Länder nur über eine Beteiligung des Bundesrates am Gesetzgebungsverfahren, insbesondere über das Zustimmungserfordernis, abgesichert werden könnte. Diese Feststellung wird sich jedoch nicht einheitlich fur alle eine Zustimmung des Bundesrates fordernden Materien treffen lassen. Neben den je nach einschlägigem Rechtsgebiet unterschiedlichen Länderinteressen muß auch bedacht werden, ob und inwieweit die das foderale System berührenden Regelungen ohnehin schon aus anderen Gründen vom allgemeinen Gesetzesvorbehalt erfaßt werden, so daß ein zusätzlicher bundesstaatlicher Vorbehalt ohne Auswirkungen bliebe. Maßgeblich ist auch, ob die Ausführung des entsprechenden Bundesgesetzes dem Bund oder wie im Regelfall des Artikel 83 GG den Ländern obliegt. Im zweiten Fall hätte die Regelung insofern stärkere Auswirkungen auf die Länder, als deren Verwaltungskapazitäten in Anspruch genommen würden. Außerdem könnte eine erhöhte Regelungsdichte die bei einer „offeneren" Gesetzesformulierung noch verbleibenden Gestaltungsmöglichkeiten der Landesbehörden einschränken, was gegen die bundesstaatliche Begründung eines Gesetzesvorbehaltes spräche. Folglich kann das Bundesstaatsprinzip nicht generell zur Annahme eines Vorbehaltes des Bundesgesetzes führen, was nicht ausschließt, daß dieser Gesichtspunkt bei einzelnen Regelungsbereichen erheblich sein kann.433

3. Das Verfahrens-

und Organisationsrecht

Hinsichtlich des Verfahrens- und Organisationsrechts ist zu unterscheiden zwischen der Anleitung der Gerichtstätigkeit und jener des Behördenhandelns. Das Gerichtsverfahrensrecht wird beherrscht von der Rechtsweggarantie des Artikel 19 Absatz 4 GG, dem durch Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG verbürgten Recht auf den gesetzlichen Richter und dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 103 Absatz 1 GG. Vermöge dieser vom parlamentarischen 87c, 87d Absatz 2, 87e Absatz 5, 87f Absatz 1, 91a Absatz 2, 96 Absatz 5, 104a Absätze 3, 4 und 5, 105 Absatz 3, 106 Absätze 3, 4, 5, 5a und 6, 106a, 107, 108 Absätze 2, 4 und 5, 109 Absätze 3 und 4, 115c Absätze 1 und 3, 115k Absatz 3, 120a Absatz 1, 134 Absatz 4, 135 Absatz 5, 143a Absatz 3, 143b Absatz 2 GG. 433 Dem Bundesstaatsprinzip kommt im Finanzverfassungsrecht besondere Bedeutung zu, was im Rahmen des Einkommensteuerrechts erneut zu bedenken sein wird.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Gesetzgeber abzusichernden Verfassungsprinzipien unterliegen die äußere Organisation, die Zuständigkeitsabgrenzung sowie das Verfahren der Gerichte als „wesentliche" Fragen einem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt.434 Vielschichtiger erweist sich die Einordnung des Verwaltungsverfahrens und der behördlichen Organisation, die nicht durch spezielle Aussagen des Grundgesetzes bestimmt werden, sondern im Hinblick auf ihre jeweiligen Wirkungen beurteilt werden müssen. Soweit mit einer verfahrensrechtlichen Maßnahme ein eigener Grundrechtseingriff verbunden ist, muß sie aus diesem Grund als „wesentlich" eingestuft werden. Noch weitergehend kann eine verfahrensrechtliche Regelung Bedeutung für die Ausgestaltung der Individualsphäre haben, falls sie zur Absicherung der Grundrechte des einzelnen geboten ist, und dadurch dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterfallen. 435 Beispielsweise kann auch im Verwaltungsverfahren, für das Artikel 103 Absatz 1 GG nicht gilt, eine Anhörung notwendig werden. Daneben mag eine Frage der Staatsorganisation im Einzelfall ausnahmsweise, auch wegen ihrer Auswirkungen auf die Staatsleitung, derartige Bedeutung für das Demokratieprinzip oder andere verfassungsrechtliche Grundsätze436 haben, daß diese ihre Regelung durch das Parlament gebieten. Im übrigen geht das Grundgesetz nicht von einem umfassenden Parlamentsvorbehalt des Verfahrens- und Organisationsrechts aus. Dies zeigen Artikel 84 Absatz 2, 85 Absatz 2, 86 Satz 1 und 108 Absatz 7 GG, indem sie die grundsätzliche Zulässigkeit der Regelung des Behördenaufbaus und des Verwaltungsverfahrens durch Verwaltungsvorschriften voraussetzen. Diese Fragen gehören zum exekutiven Eigenbereich, in dem ein durch den Kernbereich der Exekutive begrenztes Zugriffsrecht des Gesetzgebers besteht.

4. Methodische Instrumente zur Ergänzung „ offener " Normen im Wege der Rechtsanwendung Die Anforderungen an die Detailliertheit des Gesetzestextes werden beeinflußt durch die den rechtsanwendenden Organen eröffneten Möglichkeiten, den 434

Nach Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 94 f., ist dieser Vorbehalt dem rechtsstaatlichen System auch ohne ausdrückliche verfassungsgesetzliche Niederlegung immanent. Er gehöre zu den „Grundforderungen jeder rechtsstaatlichen Verfassung". 435 Nachweise oben § 2, Fußnote 188. 436 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 95 ff., nennt die institutionellen Gesetzesvorbehalte, die vor allem die Ausgliederung von Selbstverwaltungs- oder Autonomiebereichen aus der Verwaltungshierarchie sowie die Organisation der Gemeinden und Gemeindeverbände betreffen. Eine generelle Neuordnung des Gemeindewesens wäre demnach (auch wegen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nach Artikel 28 Absatz 2 GG) nur dem Gesetzgeber gestattet.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

129

hierin niedergelegten objektivierten Willen des Gesetzgebers unter Einsatz der juristischen Methodik zu ermitteln. 437 Läßt sich der Inhalt des Gesetzes unter Zuhilfenahme der einschlägigen methodischen Instrumente verdeutlichen, rechtfertigt dies eine „offenere", ihrem bloßen Wortlaut nach unbestimmtere Fassung des Gesetzes, soweit die Funktion des Gesetzesvorbehaltes auf diesem Wege gewahrt werden kann. Versagt indessen die juristische Methodik angesichts der Besonderheiten eines Regelungsbereichs, ist das Gesetz sprachlich enger abzufassen. Zunächst haben Verwaltung und Justiz im Wege der Auslegung zu ermitteln, was der Gesetzgeber geregelt hat. Falls der gesetzgeberische Wille im Gesetzeswortlaut nur unzureichend Ausdruck gefunden hat, mag eine Rechtsfortbildung nach Maßgabe des Gesetzeszwecks mittels Analogie und teleologischer Reduktion zu erwägen sein. Zusätzlich kann die Rechtsfigur der „Natur der Sache" sachlogisch zwingende, die gesetzliche Regelung ergänzende und hierdurch Auslegung und Rechtsfortbildung erleichternde Vorgaben liefern.

a) Der auslegungsfähige Inhalt des Gesetzes als Maßstab der Bestimmtheitsanforderungen Der im Vergleich zur bildhaften Sprache niedrigerer Entwicklungsstufen der Rechtsgeschichte typische Wesenszug moderner Gesetzestechnik ist der Gedanke der Abstraktion. Demgemäß war das materielle Gesetz als „abstraktgenerelle Regelung mit Außenwirkung" zu definieren. Ursache des Bestrebens nach Verallgemeinerung ist die Unmöglichkeit, alle denkbaren Fälle im Gesetzeswortlaut zu erfassen. Als Konsequenz dessen muß beim Vollzug des Gesetzes durch Verwaltung und Rechtsprechung ein umgekehrter Prozeß 437 Zugrunde liegt der Ansatz, die Ermittlung des - objektivierten - Gesetzeswillens sei entgegen dem Subsumtionsideal des Positivismus nicht allein eine Frage der Erkenntnis, sondern enthalte auch einen Akt der Rechtsschöpfung, der aber nicht im Sinne der „Freirechtsschule", sondern als Ausdruck der „Wertungsjurisprudenz" zu verstehen ist. Zur Geschichte der Rechtstheorie Larenz, S. 11 ff.; heute sei die „Wertungsjurisprudenz" „nahezu unbestritten" (S. 120). Dennoch bleibt ein Wesensunterschied von Rechtsetzung und Rechtsanwendung, da erstere auf die Erzeugimg allgemeingültiger Regeln abzielt, letztere aber Einzelfälle betrifft, höchstens faktisch als Präjudiz für künftige Fälle wirken und erst ab einer allgemein anerkannten Übung gewohnheitsrechtlichen Charakter annehmen kann. In Erinnerung gerufen sei, daß hier nur das Verhältnis der parlamentarischen Rechtsetzung zur Rechtsanwendung (Exekutive und Judikative) behandelt wird. Ob und in welchem Maße die Exekutive das Recht letztverantwortlich konkretisiert oder der Kontrolle der Judikative unterliegt, ist eine Frage von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen, eines exekutiven Verordnungsrechts oder der Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften. Hierauf wird noch einzugehen sein. 9 Seiler

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§ 2: Der allgemeine Parlaments vorbehält

durchlaufen werden, durch den der allgemein formulierte Wille des Gesetzgebers für den Einzelfall verdeutlicht und auf diesen angewandt wird. Rechtstechnische Mittel hierzu sind die in erster Linie erkennende, zur Konkretisierung des objektiven Gesetzeswillens in nicht vorherbedachten Fragestellungen aber auch originär schöpferische Elemente438 enthaltende Auslegung des Gesetzes nach den anerkannten Interpretationsmethoden439 und die Subsumtion440 des Sachverhaltes unter den so ermittelten Rechtssatz.441 Erkennt das Rechtsstaatsprinzip mithin die rechtliche Abstraktion und den rechtstechnischen Vorgang der Verdeutlichung des gesetzgeberischen Willens durch Auslegung an, kann auch der Vorbehaltsgedanke nur fordern, daß sich die „wesentlichen" Entscheidungen durch Interpretation des Gesetzes ausfindig machen lassen. Eine wörtliche Regelung aller Einzelheiten ist nicht geboten. Insbesondere ist die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln auch in „wesentlichen" Bereichen nicht ausgeschlossen, sofern genügend Anhaltspunkte zur konkretisierenden Ausfüllung solcher „offenen" Normen im Wege der Auslegung vorhanden sind.442 Maßstab der gesetzlichen Bestimmtheitsanforderungen ist daher nicht der Wortlaut einer Vorschrift, sondern ihr in den Grenzen des natürlichen Wortsinnes443 auslegungsfähiger Inhalt.444

438

Dies gilt besonders für die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln, deren geringerer normativer Gehalt den Rechtsanwender zur Konkretisierung auffordert; vgl. Ipsen, Jörn, DVB1. 1984, S. 1102 ff. 439 Siehe Larenz, S. 312 ff.; Auslegungskriterien sind der Wortsinn, der systematische Zusammenhang, die Entstehungsgeschichte sowie der Zweck der Norm, ergänzt um das Gebot verfassungskonformer Auslegung. Ebenso kommt eine richtlinienkonforme Auslegung in Betracht, soweit der Gesetzgeber eine EG-Richtlinie umsetzen wollte. 440 Zum logischen Schema der Gesetzesanwendung vgl. Larenz, S. 271 ff. 441 Anders die frühere begriffsjuristische Sicht der Rechtsanwendung; vgl. Laband, Staatsrecht, Band 2, S. 178: „Der Richter (hat) nicht seinen Willen, sondern denjenigen des objektiven Rechts zur Geltung zu bringen; er ist die viva vox legis, er schafft sich nicht den Obersatz, sondern er nimmt ihn hin als von einer über ihm stehenden Macht gegeben." Gemäß der Wertungsjurisprudenz wirkt der Rechtsanwender zwar an der Bildung des Obersatzes mit, verwirklicht aber nur die Wertsetzungen des Gesetzgebers. 442 Insoweit setzt dieser Ansatz Gesetzesauslegung und Normkonkretisierung gleich. Die strikt zu trennende Frage, inwieweit der Verwaltung normativ Spielräume zur letztverbindlichen Konkretisierung offener Gesetze zugewiesen werden, wird dadurch nicht präjudiziert, weil nach hier gewähltem Sprachgebrauch der Ausdruck „Konkretisierung" nicht zwingend gleichbedeutend sein soll mit der Bejahung eines solchen Spielraumes. 443 Larenz, S. 322. 444 BVerfGE 45, 400 (420): „Die Notwendigkeit der Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift nimmt ihr noch nicht die Bestimmtheit, die das Rechtsstaatsprinzip von einem Gesetz fordert." Ebenso BVerfGE 21, 245 (261); E 31, 255 (264); E 37, 132

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

131

Auf diese Weise kann der Gesetzgeber selbst das gebotene Maß der gesetzlichen Regelungsdichte beeinflussen, indem er seiner Normierung eine erkennbare systematische Struktur beilegt oder einzelne Auslegungsregeln schafft, welche die Interpretation des übrigen Gesetzes unterstützen. Dies kann den rechtsanwendenden Organen die Umsetzung des gesetzgeberischen Willen auch bei ansonsten „offen" formulierten Gesetzen erleichtern, die zu treffende Entscheidung vorhersehbarer machen und so die Funktion des Gesetzesvorbehaltes wahren helfen.

b) Rechtsfortbildung durch Analogieschluß und teleologische Reduktion Zu fragen bleibt, ob es der exekutiven wie judikativen Rechtsanwendung gestattet ist, an sich dem Parlamentsvorbehalt unterfallende Entscheidungen im Wege einer gesetzesimmanenten, am Normzweck orientierten Rechtsfortbildung (praeter legem) durch Analogieschluß oder teleologische Reduktion zu treffen , wobei diese methodischen Instrumente als Fortsetzung der Auslegung446 jenseits der vom natürlichen Wortsinn gezogenen Grenzlinie verstanden seien.447 Nicht zu erörtern ist an dieser Stelle jede Form der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung (extra legem), die sich der Findung einer Rechtsentscheidung jenseits der Grenze des Gesetzeszwecks einer bestehenden Norm oder unabhängig vom Vorliegen einer gesetzlichen Regelung widmet.448 Eine solche Rechtsfortbildung über die Grenze des bisher Normierten hinaus, aber innerhalb des Rahmens und der leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung ist zwar in manchen Rechtsbereichen wie beispielsweise dem Zivilrecht anzuerkennen, kann aber die Funktion des Gesetzesvorbehaltes keinesfalls erfüllen, da es an der zu fordernden parlamentarischen Rückbindung der getroffenen Entscheidung fehlt 449 und die rechtsstaatlich gebotene Vorhersehbarkeit der Regelung nicht gegeben wäre. Aus diesem Grunde ginge es nicht an, eine Ein(142); dieses Verständnis liegt unausgesprochen auch in BVerfGE 8, 274 (325 ff.) und E 21, 73 (79 ff.) zugrunde. 445 Vgl. Larenz, S. 370 ff.; Canaris , Die Feststellung von Lücken im Gesetz. 446 Canaris, S. 19 ff.: Rechtsfindung secundum legem. 447 Larenz, S. 366 ff. 448 Hierzu Larenz, S. 413 ff.; Canaris, S. 31 ff. 449 Ipsen, Jörn, DVB1. 1984, S. 1102 (1104 f.), merkt an, die richterliche Rechtsfortbildung unterliege der öffentlichen Kontrolle nicht in vergleichbarem Maße wie das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren, weshalb im Wege der Rechtsfortbildung Regelungen gefunden werden könnten, die als Gesetz am Widerstand der öffentlichen Meinung gescheitert wären.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

griffsgrundlage im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu begründen. 450 Allein erheblich ist hier deshalb, ob der Parlamentsvorbehalt den rechtsanwendenden Organen erlaubt, einzelne planwidrige 451 Gesetzeslücken in einem gegebenen Regelungssystem im Wege der Analogiebildung 452 nach Maßgabe des Normzweckes auszufüllen oder bestehende Regelungen entgegen ihrem Wortlaut, aber im Sinne der gesetzlichen Wertung teleologisch zu redu• 4 5 3 454

zieren . Eine abschließende Untersuchung der Vereinbarkeit von gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung und formellem Gesetzesvorbehalt ist nicht ersichtlich. Dies hat seinen Grund darin, daß diese methodischen Instrumente zwar der gesamten Rechtsordnung gemein sind, ihren rechtsgeschichtlichen Ursprung aber im römischen Recht und damit im Zivilrecht haben, in dem sie auch heute noch ihren hauptsächlichen Anwendungsbereich 455 finden. 456 Das bürgerliche Recht ist kein Eingriffsrecht

450

Unzulässig wäre die Schaffung polizeilicher Eingriffsbefugnisse im Wege der entsprechenden Anwendung der zivilrechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag. Gleiches gilt für die gelegentlich erwogene Begründung des finalen Rettungsschusses durch eine Analogie zu § 32 StGB (streitig; zu strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen als Eingriffsgrundlage vgl. Gusy, Polizeirecht, S. 91 ff.). Siehe auch BVerfG, DVB1. 1997, S. 351 ff., mit Anmerkung von Schwabe. 451 Der Begriff der planwidrigen Lücke soll im Anschluß an Larenz, S. 370 ff., als an seinem Regelungsplan, das heißt seiner ratio legis, gemessene Unvollständigkeit eines Gesetzes verstanden werden und ist vom „beredten Schweigen" des Gesetzes abzugrenzen, das eine abschließende, jede Rechtsfortbildung (contra legem) ausschließende Regelung bedeutet. Eine planwidrige Lücke kann unbewußt entstehen oder vom Gesetzgeber bewußt vorgesehen worden sein, um die Rechtsfindung durch Rechtsprechung und Literatur zu ermöglichen. 452 Larenz, S. 381 ff. 453 Larenz, S. 391 ff.; die teleologische Reduktion ist der Analogie wesensverwandt, wenn man wie Larenz die planwidrige (verdeckte) Lücke im Fehlen einer Einschränkungsnorm sieht. 454 Anschaulich gesprochen fügt diese Form der Rechtsfortbildung nur einen einzelnen Mosaikstein in ein bestehendes Kunstwerk ein, schafft aber kein neues Bildnis. 455 Die Grundsatzentscheidung BVerfGE 34, 269 (286 ff.) (Soraya) beschäftigte sich allein mit der Rechtsfortbildung im Privatrecht (Ersatz immaterieller Schäden wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts). Das Gericht beschränkt seine Ausführungen ausdrücklich auf diese Rechtsmaterie und betont, die rechtsstaatlichen Grenzen einer solchen schöpferischen Rechtsfindung ließen sich nicht für alle Rechtsgebiete gleichermaßen festlegen (S. 288). Engere Grenzen der zivilrechtlichen Rechtsfortbildung setzen BVerfGE 49, 304 (318 f.) (Unzulässige Versagung von Schadensersatz) und BVerfGE 65, 182 (190 ff.) (Privilegierung von Sozialplanabfindungen im Konkurs mangels Regelungslücke unzulässig). 456 Larenz betont im Vorwort zur ersten Ausgabe seiner Methodenlehre, das Bedürfnis nach methodischer Klärung sei im Zivilrecht, in dem sich der Positivismus länger als

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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und unterliegt dem Parlamentsvorbehalt nur, soweit dies für die grundsätzlichen Fragen aus objektivem Recht, insbesondere aus der Institutsgarantie des Artikel 14 GG geboten ist. Deshalb besteht die genannte Problematik dort regelmäßig nicht. Auch im öffentlichen Recht stellt sich die aufgeworfene Frage angesichts einer weitgehenden Durchnormierung aller für regelungswürdig erachteten Lebensbereiche und der tatbestandlichen Weite zahlreicher Ermächtigungsgrundlagen, wie beispielsweise der polizeilichen Generalklausel, nur selten.457 Um den gegebenen Rahmen nicht zu überschreiten, sei im folgenden nur ein kurzer Lösungsvorschlag skizziert, was ausschließlich im Hinblick auf die hier allein maßgebliche Frage geschehen soll, inwiefern eine „offenere" Gesetzesfassung gerade wegen der Wahrung der Funktion des Gesetzesvorbehaltes durch die rechtsanwendenden Organe zu rechtfertigen ist. Der Wortlaut des Grundgesetzes hält insoweit keine unmißverständlichen Aussagen bereit. Als einzig denkbarer Anknüpfungspunkt käme das in Artikel 103 Absatz 2 GG ausgesprochene Analogieverbot in Betracht. Mit der gleichen Berechtigung, mit der man im Umkehrschluß aus dieser Norm ein Analogieverbot in anderen Rechtsbereichen bestreiten könnte458, mag man sie auch als Ausdruck eines allgemeinen Prinzips 459 des Gesetzesvorbehaltes sehen, das im Strafrecht eine ausdrückliche Hervorhebung und sehr strenge Ausgestaltung gefunden hat, aber generelle Geltung beansprucht. Angesichts dieses mehrdeutigen Textbefundes muß die Antwort auf die hiesige Frage aus der Funktion des Parlamentsvorbehaltes, der ja nur Mittel zum Zweck ist, gewonnen werden.

anderenorts gehalten habe, besonders dringlich, und orientiert seine Darstellung an diesem Rechtsgebiet. Auch andere methodische Studien verfahren ähnlich. 457 In den Verwaltungsrechtslehrbüchern wird dies kaum erörtert. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 71, behandelt die „verfassungsrechtlichen Probleme" des Richterrechts ausdrücklich nicht. Ossenbühl, in: Erichs en, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 159 f., sieht vor allem die verwaltungsrechtliche Analogie zu zivilrechtlichen Vorschriften als „problematisch" an, diskutiert das Verhältnis zum Gesetzesvorbehalt aber nicht. Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht I, S. 326 ff., halten die Lückenfüllung im Verwaltungsrecht für unvermeidlich (S. 326), schränken die Anwendung der Analogie aber sofort wieder ein, da „teilweise ein Gesetzesvorbehalt besteht" (S. 334). Die Zulässigkeit der Analogie im Verwaltungsrecht bejahten Jellinek, Walter, Verwaltungsrecht, S. 151 f., und Forsthoff, Lehrbuch, S. 167. Für ein Analogieverbot im Rahmen des Gesetzesvorbehaltes Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 33. Die Äußerungen zum besonderen Verwaltungsrecht und die einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts beziehen sich fast ausnahmslos auf das Steuerrecht und sollen in dessen Zusammenhang behandelt werden. 458 Herzog, StbJb 1985/86, S. 27 (43 f.), der betont, keines der zuständigen obersten Gerichte habe sich einem solchen Analogieverbot jemals angeschlossen. 459 So ausdrücklich Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 33.

134

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Die gesetzesimmanente Lückenfüllung hält sich an den vom Gesetzgeber vorgezeichneten Sinn und Zweck des Gesetzes und bringt nur dessen im Gesetzestext sprachlich unvollkommen zum Ausdruck gelangten Willen zur Anwendung. Rechtsanwendende Behörden und Gerichte ordnen sich mit anderen Worten dem Telos der vom Parlament getroffenen Regelung unter. Daher ist dem Demokratieprinzip bei einer ein bestehendes, aber ergänzungsbedürftiges Regelungssystem ausfüllenden Rechtsfortbildung Genüge getan. Der qualitative Unterschied zwischen am Gesetzeszweck orientierter Rechtsfortbildung und Auslegung liegt im Überschreiten der Wortlautgrenze, was sich in erster Linie auf die aus Gründen der Rechtssicherheit und des Schutzes der Individualsphäre geforderte Vorhersehbarkeit der Rechtsentscheidung auswirkt. Es ist also nach deren jeweils unterschiedlicher Bedeutung für die rechtsstaatliche und freiheitsschützende Funktion des Gesetzesvorbehaltes zu differenzieren. Bei begünstigenden oder allein objektivrechtlichen Entscheidungen erscheint eine geringere Vorhersehbarkeit unbedenklich, da der einzelne sich nicht auf eine bestimmte Rechtslage einrichten muß, um Sanktionen zu vermeiden. Anders verhält es sich bei dem Bürger nachteiligen Rechtsfortbildungen. Gerade Grundrechtsschranken sind erkennbar zu bestimmen, was jenseits der Wortlautgrenze in nur geringerem Maße gesichert ist. Allerdings ist die Trennlinie des natürlichen Wortsinnes unscharf und häufig schwierig zu ermitteln 460, sie eignet sich nur eingeschränkt als handhabbares Kriterium zur Abgrenzung der Kompetenzen der rechtsanwendenden Organe. Es erschiene daher stark formalistisch und nicht von der Funktion des Gesetzesvorbehaltes her gedacht, die Verdeutlichung des objektiven Gesetzesinhaltes an der Wortlautgrenze enden lassen zu wollen. Vielmehr sollten einzelne Lücken einer bestehenden Eingriffsregelung geschlossen werden können, wenn und soweit die rechtsstaatliche Funktion des Gesetzesvorbehaltes durch ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit gewahrt bleibt. Der anzulegende Deutlichkeitsmaßstab wird dabei durch die Bedeutung der Rechtsfrage für die Verwirklichung der Grundrechte mitbestimmt.461 Die Regelung hat für den Bürger zumindest ebenso erkennbar zu sein wie eine im konkreten Fall zulässige Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Eine solche Vergleichbarkeit könnte man zum Beispiel annehmen bei Bestehen einer Parallelwertung in der Laiensphäre462 oder einer 460

Canaris , S. 23. BVerfGE 98, 49 (59 ff.) (Sozietätsverbot für Anwaltsnotare): Eine die Berufsausübung einschränkende Rechtsfortbildung müsse zwar nicht notwendig den Anforderungen von Artikel 12 Absatz 1 Satz2GG widersprechen, jedoch könne die konkret aufgeworfene Frage wegen ihrer Grundrechtsbedeutung nicht mehr durch Richterrecht beantwortet werden. 462 Ähnlich Gern, DÖV 1985, S. 558 (563). 461

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

135

entsprechenden Verkehrsauffassung der beteiligten Kreise, die den einzelnen auch jenseits des Wortsinnes der Gesetzestextes mit der fur ihn nachteiligen Regelung rechnen lassen mußte.463 Ebenso können unter Umständen Grenzfälle der Vereinbarkeit mit dem Wortlaut der Norm noch vorhersehbar sein, wobei der gebotene Begründungsaufwand ansteigt, je weiter sich die gefundene Entscheidung vom unbefangenen sprachlichen Verständnis des Gesetzestextes entfernt. Eine solche an der Funktion des Gesetzesvorbehaltes ausgerichtete, eingeschränkt zulässige gesetzesimmanente Rechtsfortbildung wird in erster Linie zur Heilung sprachlich schlecht gefaßter Normen fruchtbar gemacht werden können. Keinesfalls gestattet wäre hingegen eine zwar vom ungeschriebenen Normzweck erfaßte, angesichts eines eindeutigen Wortlautes464 fur den Gesetzesunterworfenen aber überraschend wirkende Erstreckung des gesetzgeberischen Willens, weshalb eine Analogiebildung oder teleologische Reduktion bei sehr eng gefaßten Gesetzesformulierungen regelmäßig scheitern wird. 465 Demnach kann die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung, soweit der Parlamentsvorbehalt eingreift, nur eingeschränkt als Mittel zur Konkretisierung weit gefaßter Gesetze eingesetzt werden. Insbesondere bei Grundrechtseingriffen muß das Kriterium der Vorhersehbarkeit Schranke dieser methodischen Instrumente sein, um so die Funktion des Gesetzesvorbehaltes zu wahren. Eine Herabsenkung der Anforderungen an die gesetzliche Regelungsdichte gerade 463 Ein (seltenes) Beispiel für eine zulässige Rechtsfortbildung im Eingriffsrecht bietet die sofortige Vollziehbarkeit der in Verkehrsschildem enthaltenen Regelungen analog § 80 Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO (Anordnungen von Polizeivollzugsbeamten). Diese Entsprechung schafft keine Eingriffsbefugnis, sondern schließt eine einzelne Lücke eines bestehenden Normensystems. Trotz Überschreitens der Wortlautgrenze wird kaum ein Bürger mit der Möglichkeit, die Rechtswirkungen von Straßenverkehrszeichen durch einen Widerspruch aufschieben zu können, gerechnet haben, der Sofortvollzug ist also keineswegs überraschend. Im Gegenteil müßte ein umgekehrtes Ergebnis allein auf Grund dogmatischer Erwägungen übertrieben formalistisch und fur den Laien befremdlich wirken. 464 So wäre eine ausdrücklich auf den Zeitraum bis zum Jahre 2000 beschränkte Regelung in den Folgejahren nicht mehr zum Nachteil des Bürgers anzuwenden, auch wenn dies dem Rechtsanwender „sinnvoll" erschiene. In den meisten Fällen dieser Art wird es aber bereits eine Regelungslücke fehlen, da der eindeutige Gesetzestext eine bewußte Nichtregelung nahelegt. 465 Etwaigen Einwänden, dieser auf ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit beschränkte Ansatz beschneide die vom Gesetz zu leistende Erkennbarkeit nachteiliger Regelungen über Gebühr, ist zu erwidern, daß auch anderweitige rechtliche Belastungen nur begrenzt voraussehbar sind. Dies zeigt ein Vergleich zur Rückwirkungsproblematik. Häufig kann der Bürger die nachteiligen Folgen der tatbestandlichen Rückanknüpfung sowie vor allem der Rückbewirkung von Rechtsfolgen nicht genau erkennen. Dennoch sind solche Gesetzesänderungen innerhalb der Grenzen des dem Gedanken der Vorhersehbarkeit verwandten Vertrauensschutzprinzips zulässig.

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

im Hinblick auf eine Kompensation im Wege der Rechtsanwendung kann daher keinesfalls als generelles Prinzip für ein geringeres Maß an gesetzlicher Bestimmtheit angeführt werden. Der Gesetzgeber muß weiterhin bemüht bleiben, seinem Willen im Wortlaut des Gesetzes Ausdruck zu verleihen.

c) Die „Natur der Sache" als Instrument zur Ausfüllung „offener" Normen Die rechtliche Beurteilung einer Frage wird in verschiedenen Rechtsbereichen in unterschiedlicher Weise durch gegebene Sachstrukturen und Verfassungsprinzipien wie beispielsweise den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorgezeichnet. Soweit entsprechende sachgesetzliche Maßstäbe vorliegen, kann der objektive Wille des Gesetzgebers gegebenenfalls auch bei Normen mit geringerer Regelungsdichte durch die Rechtsfigur der „Natur der Sache" verdeutlicht werden, eine ihrem Wortlaut nach unbestimmtere oder eine der Verwaltung einen weiten Ermessensspielraum gewährende gesetzliche Regelung kann daher aus diesem Grunde tendenziell eher zu rechtfertigen sein.466 Der Gedanke der „Natur der Sache" soll hierbei in Anlehnung an Radbruch als Instrument zur Ergänzung „offener" Gesetzesformulierungen fruchtbar gemacht werden. 467 Radbruch4 8 legt der Untersuchung der „Natur der Sache" seinerseits die folgende klassische Formulierung von Dernburg 469 zugrunde: „Die Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich." Diese „den Dingen innewohnende Ordnung" ist die „Natur der Sache", die Dernburg zur Ergänzung des Rechtssystems heranzieht. Nach Radbruch ist die „Natur der Sache", die das Wesen, das heißt den objektiven Sinn, nicht nur von Naturtatsachen, sondern auch von Gewohnheiten und rechtlich geregelten Lebensverhältnissen erfaßt 470, Mittel der Auslegung und Lückenfüllung 471, soweit eine Rechtsquelle ihr ausdrücklich oder stillschweigend Raum gewährt 472, und zugleich Leitgedanke für den Gesetz-

466

BVerfGE 40, 237 (251) sieht die Details einer Verfahrensfrage nicht als normierungsbedürftig an, da sich die Maßstäbe hierfür „zwanglos aus der Natur der zu regelnden Materie" ergäben. 467 Radbruch, in: Festschrift für Laun, S. 157 ff. 468 Radbruch, in: Festschrift für Laun, S. 159. 469 Dernburg, Pandekten, Erster Band, S. 87. 470 Radbruch, in: Festschrift für Laun, S. 159 ff. 471 Die Rechtsfigur der „Natur der Sache" tritt nicht an die Stelle der Ermittlung des objektivierten Gesetzesinhaltes durch Auslegung und Rechtsfortbildung, sondern dient ihrer Unterstützung. 472 Radbruch, in: Festschrift für Laun, S. 162.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

137

geber 473. Die „Natur der Sache" darf aber nicht als naturrechtliche Denkform mißverstanden werden 474, sondern ist verschiedenen rechtstheoretischen Ansätzen gemein475, ausgenommen einem reinen, von der Allmacht des gesetzten Rechtes ausgehenden Gesetzespositivismus, der jedoch als durch das Grundgesetz überwunden angesehen werden kann. Das so verstandene methodische Instrument der „Natur der Sache" kann dazu beitragen, die Funktion des Gesetzesvorbehaltes, das heißt vor allem die Bindung der Verwaltung, zu wahren, sofern die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers und der konkrete Handlungsrahmen des Rechtsanwenders bereits weitgehend durch sachgesetzliche Vorgaben, die den zu regelnden Lebensverhältnissen zu entnehmen sind, eingeengt werden. Eine geringere Normdichte in Gestalt einer „offeneren" Gesetzesformulierung ist in Fällen dieser Art unschädlich.476

5. Rechtstechnische Anforderungen

an die Gestaltung der Gesetze

a) Der Tatbestand des Gesetzes (1) Unbestimmte Rechtsbegriffe

und Generalklauseln

Der Gesetzgeber hat alle „wesentlichen" Fragen zu regeln, muß aber keine größtmögliche, sondern nur eine hinreichende Normdichte schaffen. Er darf die ihm zustehende Gestaltungsfreiheit nutzen und „offene" Gesetzesformulierungen wählen, soweit das Gebot der Einzelfallgerechtigkeit und der Gedanke der flexiblen Handhabung der Gesetze dies erfordern, falls die jeweils entgegenstehenden Prinzipien wie insbesondere das Gebot der Rechtssicherheit dies gestatten und sofern eine Wahrung der Funktion des Gesetzesvorbehaltes bei der Konkretisierung der gesetzgeberischen Leitentscheidung durch die Rechtsanwendung gesichert ist. Vor allem der letztgenannte Gesichtspunkt

473

Radbruch, in: Festschrift fur Laun, S. 163. Radbruch, in: Festschrift für Laun, S. 158. 475 Vgl. die Darstellung bei Radbruch, in: Festschrift fur Laun, S. 157 ff. 476 Das eigentliche Problem der Denkfigur der „Natur der Sache" liegt in der Feststellung der das jeweilige Lebensverhältnis bestimmenden Eigengesetzlichkeiten. Eine zu großzügige Handhabung könnte dem Einfluß des subjektiven Rechtsgefuhls des Rechtsanwenders Tür und Tor öffnen und so der Rechtssicherheit abträglich sein, weshalb hier strenge Maßstäbe anzulegen sind. 474

138

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

kann die Ausfüllung des Gesetzes ermöglichende Strukturelemente voraussetzen, sei es in Form von Eigengesetzlichkeiten der zu regelnden Lebensverhältnisse, sei es in Gestalt von gesetzlich mitgelieferten Auslegungsregeln. Entscheidet sich der Gesetzgeber nach Maßgabe dieser Vorgaben für eine „offenere" Gesetzesfassung, kann er sich auf der Tatbestandsseite der Norm zur „hinreichend unbestimmten", das heißt nicht übermäßig bestimmten Gestaltung des Gesetzes des rechtstechnischen Mittels der Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln bedienen.

(2) Die Einräumung von Beurteilungsspielräumen Weisen unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetzestatbestand der Rechtsanwendung die Aufgabe zu, die legislativen Leitlinien im konkreten Fall umzusetzen, so folgt hieraus noch nicht, welchem der rechtsanwendenden Organe Verwaltung und Rechtsprechung die Kompetenz zur letztverbindlichen Konkretisierung des Gesetzes zukommt. Die geringere gesetzliche Regelungsdichte besagt für sich betrachtet nichts über die jeweilige richterliche Kontrolldichte. Das Verhältnis von Exekutive und Judikative wird insoweit maßgeblich bestimmt durch sogenannte Beurteilungsspielräume 477, die einen nicht justitiablen Bereich der Tatbestandsermittlung mit der Konsequenz der Letztentscheidungsbefugnis der Verwaltungsbehörden beschreiben.478 Der rechtstheoretische Wesensunterschied zwischen solchen Ermächtigungen zur verbindlichen Feststellung der Voraussetzungen einer gesetzlichen Regelung und der Einräumung von Ermessensspielräumen auf der Rechtsfolgenseite liegt darin, daß erstere vorwiegend einen Erkenntnisakt479, letztere eine Gerechtig477

Die Lehre vom Beurteilungsspielraum geht zurück auf Bachof JZ 1955, S. 97 ff.; zum heutigen Meinungsstand Maurer, Verwaltungsrecht, S. 131 ff; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Band II, Artikel 19 Absatz 4, RN 180 ff. (184 ff.) mit zahlreichen Nachweisen. 478 Beurteilungsspielräume lassen die Gesetzesdichte unverändert, berühren den Gesetzesvorbehalt also nicht unmittelbar. Dennoch sind sie in dessen Zusammenhang zu nennen, da sie ebenfalls die von Legislative, Exekutive und Judikative arbeitsteilig zu bewältigende Rechtsfindung betreffen. Welcher Teilgewalt hierbei die Letztentscheidung zusteht, bestimmt, soweit das Grundgesetz keine konkreten Vorgaben macht, der Gesetzgeber. Da jeder Beurteilungsspielraum somit eine gesetzliche Ermächtigung erfordert, handelt es sich primär um eine Frage des Gesetzesinhalts, die daneben auch indizielle Bedeutung für die noch zu erörternde Befugnis der Exekutive zur eigenverantwortlichen Rechtsetzung hat, die gleichfalls die Judikative zu binden vermag. 479 Aus diesem Grund wurde die Befugnis der Verwaltung zur letztverbindlichen Tatbestandsermittlungfrüher auch als „kognitives Ermessen" im Gegensatz zum „volitiven Ermessen" der Rechtsfolgenseite bezeichnet; vgl. Bachof, JZ 1955, S. 97 (98).

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

139

keits- wie Zweckmäßigkeitserwäguneen berücksichtigende Willensfindung bei bereits erkannter Sachlage betreffen. 0 Es fragt sich nun, in welchen Fällen und in welchem Umfang das Gesetz der Verwaltung durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Tatbestand der Norm einen solchen Spielraum zur verbindlichen Gesetzesinterpretation und Sachverhaltsbeurteilung überläßt.481 Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen sind Artikel 20 Absatz 3 GG und Artikel 19 Absatz 4 GG. Die erstgenannte Bestimmung eröffnet der vollziehenden Gewalt eine eigenständige Zuständigkeit zur Konkretisierung des Gesetzes, die Verwaltung ist insoweit in eigener Verantwortung Erstadressat482 des Gesetzes. Die Rechtsweggarantie des Artikel 19 Absatz 4 GG unterwirft die von den Behörden getroffenen Einzelentscheidungen derrichterlichen Kontrolle, die Judikative ist mithin Letztadressat jeder Rechtsnorm. Hieraus zwingend einen ausnahmslosen gerichtlichen Rechtsschutz zu fordern, käme jedoch einem unzulässigen Zirkelschluß gleich, da die Rechtsprechung nur zur Überprüfung der Einhaltung des Rechts berufen ist. Soweit das Recht der Verwaltung die Letztentscheidungsbefugnis zuweist, wird es gerade durch eine abschließende Behandlung der entsprechenden Frage durch die Behörde gewahrt. Eine richterliche Kontrolle verstieße in diesen Fällen mithin gegen die grundgesetzliche Kompetenzordnung und damit gegen das Recht. Andererseits kann es dem das einfache Recht gestaltenden, selbst an die Verfassung gebundenen Gesetzgeber nicht gestattet sein, die Rechtsweggarantie wirkungslos werden zu lassen, indem er weitgehende Letztentscheidungskompetenzen der Verwaltung einfuhrt. Artikel 19 Absatz 4 GG enthält daher eine Grundsatzentscheidung der Verfassung fur eine möglichst umfassende gerichtliche Nachprüfung exekutiver Maßnahmen, die den Gesetzgeber beauftragt, Gesetze prinzipiell justitiabel abzufassen. 483 Es gilt die Regel, daß Hoheitsakte in rechtlicher und tat480

Diese theoretische Unterscheidung wird vom Gesetzgeber nicht uneingeschränkt durchgehalten. Ein Beispiel für die untrennbare Verbindung von Erkenntnis- und Willenselementen bilden die sogleich erörterten Koppelungsvorschriften. 481 Unberücksichtigt bleiben soll der von Maurer, Verwaltungsrecht, S. 133, erwähnte Meinungsstreit darüber, ob sich der Beurteilungsspielraum auf die Sachverhaltsfeststellung und seine Subsumtion unter das Gesetz beschränkt oder ob er weitergehend auch die Auslegung des Gesetzes erfaßt, da diese Unterscheidung in der Praxis der Rechtsanwendung verschwimmt, die durch ein „Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen dem durch Auslegung zu ermittelnden Obersatz und dem maßgeblichen Lebenssachverhalt gekennzeichnet ist (Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15). Gesetzesauslegung, Tatsachenfeststellung und Subsumtion des festgestellten Sachverhaltes unter das Gesetz bilden den einheitlichen Vorgang der Rechtsanwendung, ein etwaiger, nur auf die Einhaltung seiner Grenzen kontrollierbarer Beurteilungsspielraum muß grundsätzlich alle diese Schritte zur Tatbestandsermittlung umfassen. 482 Vgl. Kirchhof Paul, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 26 ff. 483 Vergleiche die ähnliche Argumentation in BVerfGE 15, 275 (281 f.).

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

sächlicher Hinsicht vollständiger richterlicher Rechtskontrolle zu unterziehen sind 4 8 4 Dieser Satz gilt nicht ausnahmslos. Es ist dem Gesetzgeber nicht verwehrt, im Falle besonderer Umstände eine Einschränkung der gerichtlichen Überprüfung anzuordnen. Dies wird im Schrifttum 485 als „normative Ermächtigungslehre" bezeichnet und dem Grundsatz nach auch von der Rechtsprechung486 anerkannt. Wegen der Auswirkungen auf den Rechtsschutz des Bürgers ist die Entscheidung, daß und inwieweit ein Beurteilungsspielraum gewährt wird, „wesentlicher" Natur, also auslegungsfähig im förmlichen Gesetz zu treffen. Als Ausnahme von der regelmäßig eröffneten vollständigen gerichtlichen Kontrolle bedarf es stets besonderer Anhaltspunkte fur eine solche Gesetzesauslegung. Im Zweifel spricht eine Vermutung gegen eine derartige Ermächtigung.48 Zudem ist stets eine Rechtfertigung für diese Abweichung von der Regel erforderlich. Der Sache nach entspricht dies dem Standpunkt der Rechtsprechung, die Beurteilungsspielräume trotz grundsätzlicher Anerkennung dieser Rechtsfigur nur in seltenen Fällen annimmt488, in denen jeweils besondere Gründe hierfür sprechen. Bejaht wurde eine behördliche Kompetenz zur Letztentscheidung unter anderem bei wertenden Entscheidungen sachverständiger pluralistisch besetzter Gremien 489, bei nicht wiederholbaren Prüfungs- 490, 484

Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 4 GG, RN 183. 485 Vgl. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 132; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 4 GG, RN 185 ff. 486 BVerfGE 61, 82 (111) (Sasbach) verneint eine generelle Bindung der Gerichte an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen anderer Gewalten „unbeschadet normativ eröffneter Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume sowie der Tatbestandswirkung von Hoheitsakten". 487 So bereits Bachof, JZ 1955, S. 97 (100). 488 Abgelehnt wurde ein Beurteilungsspielraum von BVerfGE 11, 168 (191 f.) („Interessen des öffentlichen Verkehrs") und BVerfGE 64, 261 (279) („Schwere der Schuld" bei Hafturlaub). Ebenso verneinend BVerwGE 15, 207 (212) („wichtiger Grund"); E 24, 60 (63 f.) („Denkmalswürdigkeit"); E 45, 162 (164 ff.) („besonderer Einzelfall" und „öffentliches Gesundheitsinteresse"); E 81, 12 (17) („nicht vertretbare Auswirkungen auf den Naturhaushalt"); E 88, 35 (37 ff.) („erforderlich" i.S.v. § 37 Absatz 1 Baugesetzbuch); E 94, 307 (308 ff.) (Weinprädikat „Auslese"). 489 BVerwGE 39, 197 (203 ff.); E 77, 75 (77 f.) (jeweils jugendgefährdende Schriften"); im konkreten Fall restriktiv hingegen BVerfGE 83, 130 (148) (Josefine Mutzenbacher); vergleichbar auch BVerwGE 59, 213 (215 ff.) (Sachverständigenausschuß für Architektenzulassung) und BVerwGE 72, 195 (197) (Zulassung zur Börse durch Börsenvorstand). 490 Die Grenzen des Beurteilungsspielraumes wurden für berufsbezogene Prüfungen allerdings weitgehend eingeschränkt durch BVerfGE 84, 34 (49) (juristische Staatsprüfung); E 84, 59 (77) (medizinische Prüfung); vgl. auch BVerwGE 99,74 (77) (juristische Staatsprüfung).

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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prüfungsähnlichen 491 und beamtenrechtlichen492 Beurteilungsentscheidungen mit subjektivem Charakter sowie bei Prognoseentscheidungen493, insbesondere im Umwelt- 494 und Wirtschaftsverwaltungsrecht 495. Ähnlich zu beurteilen sind diejenigen Fälle, in denen ein besonderer Sachverstand der Behörde 496 oder anderer gesetzlich vorgesehener Stellen fruchtbar gemacht werden soll, wofür die Rezeption technischer Regelwerke497 ein gutes Beispiel bietet. Soweit hiernach in Einzelfallen ein Beurteilungsspielraum der Verwaltung gegeben ist, bleibt dieser dennoch auf die Einhaltung seiner rechtlichen Grenzen hin überprüfbar. 498 Insbesondere ist je nach den Besonderheiten der entsprechenden Rechtsmaterie zu untersuchen, ob die Behörde das anzuwendende Verfahren beachtet hat. Auch darf sie nicht von einem falschen Sachverhalt ausgegangen sein und keine sachfremden Erwägungen angestellt haben. Schließlich kann das Ergebnis der behördlichen Sachverhaltsermittlung nicht binden, wenn es offensichtlich unzutreffend ist.

b) Die Rechtsfolge des Gesetzes Auf der Rechtsfolgenseite kann der Gesetzgeber der Verwaltung entweder eine gebundene Entscheidung vorgeben oder ihr einen eigenen, nur auf die Überschreitung seiner Grenzen hin überprüfbaren Spielraum durch die Gewäh491

BVerwGE 8, 272 (274 f.) (Nichtversetzung in nächsthöhere Schulklasse). BVerwGE 21, 127 (130); E 60, 245; E 80, 224 (225 f.) (ständige Rechtsprechung); gleichgestellt wird der Fall der Ablehnung eines Beamtenbewerbers mangels Verfassungstreue durch BVerfGE 39, 334 (354); ebenso BVerwGE 61, 176 (185 f.). 493 Der Begriff des ,3eurteilungsspielraumes" wird im Schrifttum unterschiedlich definiert und sei hier vereinfachend in einem weiteren, auch „Einschätzungsprärogativen" und „Prognoseermächtigungen" umfassenden Sinn verstanden. Enger insoweit SchmidtAßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 4 GG, RN 191 ff., der zwischen auf Prüflings- und Leistungsurteile sowie ähnliche Begutachtungen beschränkten Beurteilungsermächtigungen und anderen administrativen Letztentscheidungsermächtigungen differenziert. 494 BVerwGE 72, 300 (316 f.) (Wyhl); E 81, 185 (190 ff.) (jeweils Risikovorsorge bei Kernkraftwerken). 495 BVerwGE 79, 208 (213 ff.); E 82, 295 (299 ff.) (jeweils „Funktionsfähigkeit des örtlichen Taxengewerbes"). 496 Beispielsweise erkennt BVerwGE 75, 275 (276 ff.) („besonderes pädagogisches Interesse an der Zulassung einer privaten Grundschule") einen Beurteilungsspielraum der Schulverwaltung wegen deren fachlicher Kompetenz an. 497 Hierzu Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig 1 Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 4 GG, RN 203 ff. mit weiteren Nachweisen. 498 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog l Scholz, Artikel 19 Absatz 4 GG, RN 192. 492

§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

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rung behördlichen Ermessens oder in eingeschränktem Maß durch die Regelung als Soll-Vorschrift einräumen, sofern die wesentlichen Entscheidungen bereits parlamentsgesetzlich jetroffen werden, die Ermessensbetätigung also insoweit vorgezeichnet wird. 9 9 Ein solcher Ermessensspielraum erlaubt der Behörde, eigene einzelfallbezogene Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen nach Maßgabe des Gesetzeszwecks umzusetzen. Die bewirkte Einschränkung der Justitiabilität läßt sich rechtfertigen, wenn und weil der Gesetzgeber eine strukturelle Offenheit fur eine wertende Berücksichtigung der Umstände individueller Sachverhalte schaffen will, die als solche durch eine abstrakt-generelle Regelung nicht geleistet werden kann oder soll. Sie muß als „wesentliche" Entscheidung auslegungsfähig im formellen Gesetz niedergelegt sein. Eine entsprechende Interpretation wird aus zwei Gründen häufiger gelingen als bei den Beurteilungsspielräumen. Zum einen wird das behördliche Ermessen üblicherweise vom Wortlaut der einschlägigen Gesetze angeordnet. Zum anderen ist die wertende Setzung von Rechtsfolgen anders als die vorwiegend auf bloße Erkenntnis gerichtete Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen ihrer Natur nach nur begrenzt objektivierbar, das heißt gerichtlich überprüfbar. Die äußerste Grenze der Zulässigkeit von Ermessensspielräumen ist überschritten, falls generell keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, die eine sachgerechte Ermessensausübung gestatten, da in diesem Fall keine willkürfreie Ausfüllung dieser Spielräume denkbar wäre. 500 Unterhalb dieser Schwelle bildet § 40 VwVfG 1 für das materielle Recht den einfachgesetzlichen Rahmen dieser Befugnis. An dieser Vorschrift ist auch die in § 114 VwGO

502

niedergelegte begrenzterichterliche Kontrolle orientiert.

c) Koppelungsvorschriften Von Koppelungsvorschriften spricht man bei Rechtsnormen, die auf der Tatbestandsseite einen unbestimmten Rechtsbegriff und auf der Rechtsfolgen499 Mit dieser Maßgabe liegt es nicht, wie Ule, VerwArch 76 (1985), S. 1 (12 f.), behauptet, „in der Konsequenz der Wesentlichkeitstheorie, gesetzliche Ermessensermächtigungen zum Erlaß belastender Verwaltungsakte jedenfalls in für die Grundrechte wesentlichen Fragen für verfassungswidrig zu erklären". Der Gesetzesvorbehalt verbietet lediglich übermäßig weite, das heißt zu unbestimmte Ermächtigungen, schließt aber eine eigenverantwortliche Ausfüllung des gesetzlichen Rahmens durch die Behörde keinesfalls aus. 500 Falls das Gesetz dennoch einen Ermessensspielraum vorsieht, ist diesem Mangel durch eine im Wege der verfassungskonformen Auslegung vorzunehmende generelle „Ermessensreduzierung auf Null" abzuhelfen. 501 Für das Steuerrecht gilt der inhaltsgleiche § 5 AO. 502 Dies entspricht § 102 FGO.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen"

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seite eine Ermessensermächtigung enthalten. Diese weisen an sich keine Besonderheiten auf, da beide Seiten nach den jeweils für sie geltenden Regeln zu beurteilen sind.503 Problematisch erscheinen hingegen die Fälle, in denen beide Bereiche nicht voneinander getrennt werden können. Ein Beispiel bildet der Beschluß des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu § 131 Absatz 1 RAO 504 , der im Falle der Unbilligkeit der Einziehung von Steuern deren Erlaß in das Ermessen der Finanzbehörden stellte.505 Unter Berufung auf ihre Entstehungsgeschichte sah der Gemeinsame Senat diese Vorschrift als einheitliche Ermessensnorm an, da der Begriff „unbillig" unlösbar mit der Ermessensausübung verbunden sei und somit lediglich deren Inhalt und Grenzen bestimme. Diesem im Schrifttum 506 kritisierten Beschluß ist ungeachtet der dogmatischen Einordnung zuzugeben, daß die letztverbindliche Entscheidung über den Steuererlaß nach dem Willen des Gesetzgebers von der Behörde getroffen werden sollte. Im übrigen erscheint eine Verallgemeinerung dieses Gedankens jedoch nicht angezeigt, da im Regelfall eine logische Trennung zwischen Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolge einer Norm möglich ist. Ein weiteres Beispiel für eine untrennbare Verbindung von Erkenntnis- und Willensakt mag man im sogenannten Planungsermessen sehen, das einerseits sachliche Prognosen, andererseits gestalterische Konzeptionen umfaßt. 507

d) Das Gesamtgefüge eines Normensystems Die bisherigen Erörterungen bezogen sich jeweils auf einzelne Vorschriften. Rechtsnormen entfalten ihre Wirkung jedoch regelmäßig im Zusammenspiel mit anderen Bestimmungen. Gesetzliche Verweisungen, Legaldefinitionen und Ausnahmevorschriften 50 führen dazu, daß die Anforderungen an die gesetzliche Niederlegung des „Wesentlichen" nicht nur an Einzelregelungen, sondern

503

Maurer, Verwaltungsrecht, S. 139. Die Vorschrift entspricht dem heutigen § 227 AO. 505 BVerwGE 39, 355 (361 ff.) = BStBl. II 1972, S. 603 (605 ff.) = BFHE 105, 101 (106 ff.). 506 So zum Beispiel Maurer, Verwaltungsrecht, S. 141, der die Entscheidung für „dogmatisch schwerlich haltbar" hält. 507 Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Artikel 19 Absatz 4 GG, RN 208 ff. 508 Bei häufig geänderten Gesetzen kommt auch den Anwendungs- und Übergangsvorschriften eine gesteigerte Bedeutung zu, da nur diese erkennen lassen, welche Fassung jeweils gilt. 504

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

an das Gesamtgefüge eines Normensystems gestellt werden müssen.509 Dies gilt vor allem für den Vorhersehbarkeit und Justitiabilität sichernden Grundsatz der Normklarheit, der die Gesamtheit aller eine bestimmte Rechtsfolge beeinflussenden Vorschriften betrifft. Allerdings besteht insoweit eine weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die nur einer Vertretbarkeitskontrolle unterliegen darf. Des weiteren sind die an die Ausgestaltung eines Normengefüges zu stellenden Anforderungen je nach Regelungsbereich unterschiedlich. Verallgemeinernd gesprochen ist die Notwendigkeit einer folgerichtigen und verständlichen Abstimmung einzelner Bestimmungen dann größer, wenn der entsprechende Regelungsgegenstand besonders komplexer Natur ist oder wenn der Gesetzgeber sich entschieden hat, verschiedene an sich unabhängig voneinander normierungsfahige Rechtsbereiche gesetzestechnisch zu einer Einheit zu verbinden.

V. Zusammenfassung Der Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes ist ein funktional zu verstehender Vorbehalt hinreichend bestimmter formlicher Normierung des „Wesentlichen". Er umfaßt sowohl die Frage, ob eine gesetzliche Regelung erforderlich ist, als auch jene, wie bestimmt eine solche sein muß. Die genauen Einzelaussagen des nicht streng dogmatisch, sondern eher beschreibend aufzufassenden Kriteriums des „Wesentlichen" sind nicht dem Vorbehaltsgedanken selbst, sondern einer Gesamtschau der durch ihn abgesicherten materiellen Zwecke zu entnehmen. Die vom Gesetzgeber getroffene Auswahl dieser Zwecke und ihre Gewichtung untereinander darf vom Bundesverfassungsgericht nur auf eine Überschreitung des legislativen Gestaltungsspielraumes, die nicht bereits bei nur eingeschränkter Verwirklichung, sondern erst bei Verletzung eines Verfassungsprinzips eintreten kann, überprüft werden. Der Parlamentsvorbehalt schützt in erster Linie die Freiheitsrechte. Das Vorliegen eines Grundrechtseingriffs ist hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung der gesetzgeberischen Normierungspflicht, wobei die gesetzliche Regelungsdichte bei bloß mittelbaren und faktischen Freiheitsbeschränkungen geringer ausfallen darf. Des weiteren können die objektivrechtlichen Aussagen der Grundrechte sowie legislative Schutzpflichten für die Freiheit das Parlament zur Regelung beauftragen. Soweit der Gesetzgeber Begünstigungen und 509 Dies meint keine dogmatische Systemgerechtigkeit, die zwar rechtspolitisch wünschenswert, verfassungsrechtlich aber nicht zwingend ist, sondern eine an der Funktion des Gesetzesvorbehaltes orientierte Folgerichtigkeit und Verständlichkeit legislativer Entscheidungen.

V. Zusammenfassung

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Belastungen gesetzestechnisch miteinander verbindet, haben beide am Eingriffsvorbehalt teil, der jeweils erforderliche Grad gesetzlicher Bestimmtheit kann aber unterschiedlich sein. Sofern einzelne Verhaltenspflichten strafrechtlich abgesichert sind, ist die Appell- und Warnfunktion des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes (Artikel 103 Absatz 2 GG) zu wahren. Auch die Intensität einer grundrechtserheblichen Maßnahme, die Vielgestaltigkeit der zu regelnden Lebensverhältnisse und der rasche Wandel der tatsächlichen Verhältnisse haben Einfluß auf die zu fordernde Normdichte. Eine geringere Gesetzesdichte kann gerechtfertigt sein, falls besonderer exekutiver Sachverstand genutzt werden soll. Der Gleichheitssatz ist Maßstab des Inhaltes staatlicher Entscheidungen, liefert aber an sich keine Kompetenzregeln oder Formvorgaben. Er zwingt grundsätzlich nicht zu einer gerade gesetzlichen Regelung, kann jedoch ausnahmsweise gesetzliche Folgeentscheidungen notwendig machen, falls das Gesetz ohne diese inhaltlich gleichheitswidrig wäre. Das Grundgesetz kennt keinen Totalvorbehalt. Insbesondere muß die Leistungsverwaltung nicht gesetzlich geregelt werden. Dem Demokratieprinzip wird insoweit durch eine Mittelbereitstellung im Haushaltsgesetz ausreichend Rechnung getragen, im übrigen hat der Gesetzgeber ein Zugriffsrecht, kraft dessen er eine Materie an sich ziehen darf. Die staatspolitische Bedeutung einer Angelegenheit kann fur sich betrachtet keinen generellen Gesetzesvorbehalt auslösen, sie ist jedoch einer von mehreren Gesichtspunkten bei der gesetzgeberischen Entscheidung. Im Tätigkeitsbereich der vollziehenden Gewalt besteht kein allgemeiner Vorbehalt der Exekutive. Lediglich ein Kernbereich ist dem gesetzgeberischen Zugriff entzogen. Das Bundesstaatsprinzip hält jedenfalls keine allgemeingültigen Aussagen zum Gesetzesvorbehalt bereit. Das Verfahrens- und Organisationsrecht muß nicht vollständig vom Parlamentsgesetzgeber normiert werden. Der Gesetzesvorbehalt greift hier insbesondere ein, soweit eine verfahrensrechtliche Maßnahme selbst in die Freiheitsrechte eingreift oder sofern der Grundrechtsschutz eine Absicherung durch eine entsprechende Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens verlangt. Weitergehende Anforderungen sind an die Regelung der Gerichtsorganisation und des prozessualen Verfahrens zu stellen, die im wesentlichen vom Gesetzgeber bestimmt werden müssen. Das „Wesentliche" muß nur auslegungsfähig im Gesetz niedergelegt werden. Die Gesetzesformulierung darf hierbei „offener" ausfallen, wenn der Gesetzgeber Auslegungsregeln mitliefert, welche die Norminterpretation erleichtern oder falls der zu regelnde Lebenssachverhalt Grundstrukturen aus der „Natur der Sache" aufweist, die den Entscheidungsspielraum von Gesetzgeber und 10 Seiler

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§ 2: Der allgemeine Parlamentsvorbehlt

Rechtsanwender einengen und das jeweils sachgerechte Ergebnis vorzeichnen. Die Möglichkeit der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung ist jedenfalls nicht generell geeignet, Mängel der gesetzlichen Regelung abzugleichen. Auf der Tatbestandsseite des Gesetzes dürfen unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln grundsätzlich Verwendung finden. Nur ausnahmsweise zulässig sind indessen Beurteilungsspielräume der Verwaltung. Als Rechtsfolge können neben gebundenen Entscheidungen auch Soll- oder Ermessensentscheidungen zugelassen werden, sofern ausreichend Gesichtspunkte für einen willkürfreien Gesetzesvollzug vorhanden sind. Zu bedenken ist schließlich, daß die Funktion des Gesetzesvorbehaltes je nach gesetzlicher Ausgestaltung des jeweiligen Regelungsbereiches nicht nur durch einzelne Vorschriften, sondern auch durch ein gesamtes Normengefüge gewahrt werden muß.

§ 3: Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive I. Artikel 80 Absatz 1 GG als Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts 1. Zur Entstehungsgeschichte von Artikel 80 Absatz 1 GG Artikel 80 Absatz 1 GG setzt der Delegation von Rechtsetzungsaufgaben an die Exekutive Grenzen, was zunächst überraschend erscheint, da der Umfang der stillschweigend vorausgesetzten parlamentarischen Normierungspflichten selbst keine Festlegung im Wortlaut der Verfassung erfahren hat. Das Grundgesetz bestimmt mithin nicht positiv, was der formelle Gesetzgeber selbst regeln muß, sondern nur negativ, inwiefern er sich seiner Verpflichtung nicht entledigen darf. Dieser ungewöhnliche Befund läßt sich nur aus der Geschichte des Verordnungsrechts erklären, wurde Artikel 80 Absatz 1 GG doch nicht geschaffen, um eine zusätzliche Handlungsform staatlicher Rechtsetzung einzuführen, sondern um eine zukünftige Wiederholung des in früherer Zeit eingetretenen rechtsstaatswidrigen Mißbrauchs dieses als vorausgesetzt gedachten Instruments hoheitlicher Normgebung auszuschließen. Jede Untersuchung des Artikel 80 Absatz 1 GG muß daher mit einer Bestandsaufnahme der vor seinem Erlaß gegebenen Verordnungspraxis in Deutschland beginnen. a) Das Verordnungsrecht im Konstitutionalismus Das Verhältnis von Gesetz und Rechtsverordnung wurde erst mit dem Aufkommen der Gewaltenteilungsidee und der Ablösung des landesherrlichen Rechtsetzungsmonopols des Absolutismus Gegenstand des Staatsrechts. Parallel hierzu entstand im Frühkonstitutionalismus die Lehre vom Gesetzesvorbehalt. Als Folge dessen erhielten diese Begriffe ihre heutige Bedeutung in Deutschland erst im Zeitalter der konstitutionellen Monarchie und des frühen Liberalismus.1 1

Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, Verwaltung, S. 141.

HStR, Band III, § 64, RN 8; Jesch, Gesetz und

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Anders als in Frankreich konnte sich in Deutschland das Prinzip der Volkssouveränität zunächst nicht durchsetzen. Die frühkonstitutionellen Verfassungen wie auch später die deutsche Reichsverfassung blieben dem monarchischen Prinzip verhaftet. Dies bedingte eine grundsätzlich umfassende Machtbefugnis der Exekutive, die aber durch die Einfuhrung legislativer Mitwirkungsrechte begrenzt wurde. Verallgemeinernd gesprochen bestand eine nur durch die Einschaltung der Landstände bei der Gesetzgebung2 durchbrochene Vermutung für die Zuständigkeit der Krone. 3 Begriff und Funktion des Gesetzes wurden an ihrem Zweck, der Begrenzung exekutiver Machtvollkommenheit zum Schutze der Individualsphäre, ausgerichtet. Sie markierten unter Berücksichtigung der Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum im dualistischen Konzept des Konstitutionalismus die maßgebliche Trennlinie von Monarch und Volk, das heißt von Staat und Gesellschaft. 4 Im Umkehrschluß aus der Bedeutung des Gesetzes als Machtmittel des Parlaments ergibt sich der Umfang des damaligen Verordnungsrechts. 5 Versucht man, die zahlreichen Stimmen der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, dem Zeitalter des deutschen Konstitutionalismus, verall-

2

Weitere anfangs noch begrifflich von der Gesetzgebung unterschiedene landständische Machtmittel waren die Steuerbewilligung und (später) das Etatrecht. Siehe oben § 2 I. 4.). 3 Anschütz, Die gegenwärtigen Theorieen über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts, S. 2 ff., begründet diese „Präsumtion für die Unbeschränktheit der Krone und gegen die Kompetenz der Volksvertretung" mit der rechtlichen Kontinuität zur vorkonstitutionellen (absolutistischen) Ordnung. Der Monarch habe sich nur in der Ausübung seiner Staatsgewalt selbst beschränkt, soweit dies in der Verfassung vorgesehen sei. Soweit indessen ein positiver verfassungsrechtlicher Kompetenztitel der Volksvertretung fehlt, verbleibe es beim alten Rechtszustand. Diese Argumentation versagt für das Deutsche Reich, das auf einer Newgründung des Norddeutschen Bundes beruhte. Dennoch mag man dessen Einordnung als „ewiger Bund" der Landesfürsten, nicht des Staatsvolkes, in der Präambel der Reichsverfassung als Ausdruck einer ähnlichen Sichtweise einordnen. 4 Vgl. oben § 2 I. und § 2 II. 1.) zur Geschichte von Vorbehalt und Begriff des Gesetzes. 5 Die gedankliche Vorgehensweise war somit eine etwas andere als die zuvor geschilderte des Artikel 80 GG. Die Staatslehre beschäftigte sich nicht ili erster Linie mit der Frage, welche Grenzen dem Verordnungsrecht zu setzen sind, sondern mit der des notwendigen Inhaltes des Gesetzes. Sie behielt deswegen die nach liberalem Verständnis wesentlichen Eingriffe in Freiheit und Eigentum dem Gesetz vor. Die Antwort auf die Folgefrage des zulässigen Regelungsbereichs der Verordnung ergab sich hiemach von selbst, weshalb ein Unterschied zwischem allgemeinem Gesetzesvorbehalt und Ermächtigung zur Rechtsetzung nicht gesehen wurde.

I. Art. 80 GG als Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts

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gemeinernd und damit notwendigerweise vergröbernd 6 zusammenzufassen7, so erscheint es, daß die Befugnis des Monarchen zum Erlaß von Verordnungen in dreierlei Weise begründet sein konnte. Erstens war, soweit die Landesverfassungen einen Vorbehalt zugunsten der Landstände vorsahen, eine exekutive Rechtsetzung auf Grund einer entsprechenden Ermächtigung durch das Parlament denkbar. Zweitens wurde ein „selbständiges Verordnungsrecht" 8 der Regierung erwogen, soweit eine Mitwirkung der Volksvertretung an der Rechtsetzung nicht erforderlich war.9 Drittens wurde dem Landesherren auch in dem der Gesetzgebung vorbehaltenen Bereich ein in seinem genauen Ausmaß stets umstrittenes Notverordnungsrecht 10 zugestanden, das hier angesichts seiner systematischen Ausnahmestellung nicht weiter untersucht werden soll. Bei näherer Betrachtung sind die verschiedenen Beiträge zum Umfang des exekutiven Verordnungsrechts in erster Linie nach ihrer Prägung durch den im Spätkonstitutionalismus vorherrschend gewordenen Positivismus zu unterscheiden. Standen frühere Untersuchungen größtenteils noch unter dem Einfluß von naturrechtlichen Denkweisen oder dem geschichtlichen Bewußtsein der historischen Rechtsschule, die ihnen die Berücksichtigung außerrechtlicher Elemente ermöglichten, so wurden zahlreiche der späteren Abhandlungen von 6 Der nachfolgende Versuch, das exekutive Verordnungsrecht im Konstitutionalismus überblickartig und nach verschiedenen inhaltlichen Kriterien geordnet darzustellen, bedingt naturgemäß eine verkürzende Behandlung, die begriffliche Ungenauigkeiten mit sich bringt und zugleich die zeitliche Abfolge der verschiedenen Beiträge nicht hinreichend erkennen läßt. Dies kann an dieser Stelle jedoch in Kauf genommen werden, da es im Hinblick auf den Gang der weiteren Untersuchung vor allem darauf ankommt, ob und weshalb der Exekutive bestimmte Befugnisse, gegebenenfalls sogar ein „selbständiges Verordnungsrecht", zustanden, die genaue Ermittlung ihres Umfanges ist hingegen von geringerer Bedeutung fur das heutige Staatsrecht. 7 Eingehend geschildert werden das Verhältnis von Gesetz und Verordnung und das darin jeweils zum Ausdruck kommende Verfassungsverständnis bei Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Die vorliegende Darstellung hat dieser Untersuchung zahlreiche Anregungen entnommen. 8 Der Begriff des „selbständigen Verordnungsrechts" soll nachfolgend im Sinne einer Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen ohne gesetzliche Ermächtigung gebraucht werden, unabhängig davon, ob es sich um bestehende Gesetze umsetzende Ausführungsverordnungen oder um Verordnungen in nicht dem Gesetzesvorbehalt unterfallenden Bereichen handelt. 9 Vgl. Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (137 f.). 10 Ein Notverordnungsrecht der Exekutive ergab sich beispielsweise aus § 66 der Verfassung fur das Großherzogtum Baden vom 22.8.1818 (Huber, Dokumente, Band 1, S. 172 ff. (181)), aus § 89 der Verfassung fur das Königreich Württemberg vom 25.9.1819 (Huber, S. 187 ff. (198)), Artikel 73 der Verfassung fur das Großherzogtum Hessen vom 17.12.1820 (Huber, S. 221 ff. (230)), § 88 der Verfassung fur das Königreich Sachsen vom 4.9.1831 (Huber, S. 263 ff. (278)) und schließlich Artikel 63 der preußischen Verfassung vom 31.1.1850 (Huber, S. 501 ff. (507)).

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

der formal-juristischen Methodik der Begriffsjurisprudenz beeinflußt und somit zwangsläufig zu „Gefangenen" der von ihnen vorausgesetzten Begrifflichkeiten, die es streng logisch weiterzudenken galt. Die in den Landesverfassungen des früheren Konstitutionalismus niedergelegten Gesetzesvorbehalte können unterteilt werden in diejenigen, die sich an der Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum orientierten und hierdurch den Bereich der Gesetzgebung in zustimmungsbedürftige und vom Monarchen alleinverantwortlich vorzunehmende Rechtsetzung zerteilten, und in jene, die nicht nach der Eingriffswirkung einer Regelung trennten, also weitergehende Mitwirkungsbefugnisse der Volksvertretung vorsahen.11 Dennoch blieb bei beiden Erscheinungsformen ein weiter Spielraum exekutiver Normsetzung, der keiner Zustimmung der Landstände bedurfte, bestand doch weitgehende Einigkeit darüber, daß dem Landesherren auch ohne gesetzliche Ermächtigung die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen zum Zwecke des Gesetzesvollzuges zustand. Die wichtigsten frühkonstitutionellen Verfassungen sahen deshalb neben der Notkompetenz des Regenten eine entsprechende Zuständigkeit vor. 12 Im übrigen ergab sich auch ohne verfassungsrechtliche Niederlegung ein Verordnungsrecht des Monarchen, soweit eine Materie nicht der Gesetzgebung unterworfen war. Dies folgte unmittelbar aus dem monarchischen Prinzip, das eine Festlegung nur der Beschränkungen des Herrschers erforderlich machte. So stand dem König von Bayern ein eigenes selbständiges Verordnungsrecht zu, soweit der Gesetzesvorbehalt nicht eingriff, ohne daß ein solches in der Landesverfassung auch nur erwähnt werden mußte.13 Bereits das auf den Gesetzesvollzug beschränkte Verordnungsrecht begründete eine rege Verordnungspraxis, da hierunter begrifflich auch die Ergänzung generell gehaltener Gesetze gefaßt werden konnte. Dies wurde noch verstärkt durch das enge Verständnis einiger Autoren von den Begriffen des Gesetzes und des Eingriffs 14, 11

Nachweise oben § 2 I. 2.). Beispielhaft sei § 89 der Verfassung ftir Württemberg zitiert: „Der König hat aber das Recht, ohne die Mitwirkung der Stände die zu Vollstreckung und Handhabung der Gesetze erforderlichen Verordnungen und Anstalten zu treffen und in dringenden Fällen zur Sicherheit des Staates das Nötige vorzukehren." (Huber, Dokumente, Band 1, S. 187 ff. (198)). Auch andere Landesverfassungen enthielten entsprechende Regelungen, zum Beispiel § 66 der badischen Verfassung, Artikel 73 der Verfassung fur Hessen, § 87 der sächsischen Verfassung sowie Artikel 45 der revidierten preußischen Verfassung von 1850 (Nachweise allesamt bei Huber). 13 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 74. 14 Die genaue Zuordnung der Problematik zum Begriff des Gesetzes oder des Eingriffs ist oft schwierig. Vor allem die nachfolgend geschilderte Begrenzung des Gesetzesbegriffs auf das „Wichtige" ist eng verbunden mit dem Verständnis von Freiheit und Eigentum und wird häufig unter diesem Gesichtspunkt behandelt. Angesichts der inhaltlichen Verwandtschaft und teilweise sogar Gleichsetzung beider Aspekte mag an dieser Stelle eine verkürzte Darstellung genügen. 12

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was den Umfang des Gesetzesvorbehaltes weitgehend einschränken mußte. So fanden sich maßgebliche Stimmen, die dem Gesetz nur die „wichtigen" Entscheidungen, das heißt die bleibenden allgemeinen Grundsätze, vorbehielten, während die Verordnung das „seiner Natur nach Veränderliche" bestimmen sollte.15 Andere beschränkten die Verantwortung des Gesetzgebers gegenständlich, etwa indem sie ihm hauptsächlich die das Zivil-, Straf- und Prozeßrecht betreffenden Rechtsnormen überantworteten. 16 Die hiervon nicht erfaßten Detailfragen sowie bei den Landesverfassungen, deren Gesetzesvorbehalt durch die Eingriffsklausel begrenzt wurde, alle nicht dem Eingriffsbereich zuzuordnenden Angelegenheiten verblieben mithin zwangsläufig zur Entscheidung der Exekutive, wobei eine Abhängigkeit der Verordnung von einer formlichen gesetzlichen Ermächtigung nicht diskutiert wurde. Blieb die Grenze 15

Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, nennt zahlreiche Beispiele. Hervorgehoben seien die Schriften von Heinrich Zoepfl (S. 119 ff.) und Karl Theodor Welcher (S. 188 ff.), die das Unterscheidungskriterium des „Wichtigen" einführten, dessen Ähnlichkeit zur heutigen Wesentlichkeitsformel nicht zu übersehen ist. Erstmals zu finden ist das Prinzip der Wichtigkeit als Scheidelinie von Gesetz und Verordnung in einem Redebeitrag von Nebenius im badischen Landtag 1831 (vgl. Rosin, S. 90 ff.). Böckenförde erwähnt femer die Unterscheidung Hegels, ftir den das Gesetz seinem Inhalt nach das „Allgemeine" zu regeln hat, die Verordnung indessen das „Besondere" und die Art und Weise der Vollziehung bestimmen soll (S. 132 ff, 143 f.). Von Hegel geprägt sieht von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, Erster Theil, S. 102 (im folgenden: Handbuch), in der Regelung der „für die ganze Gemeinschaft gleichmäßig gültigen Prinzipien" das „Wesen des Gesetzes". Ein eher weiter Gesetzesbegriff lag dagegen vor allem für Anhänger der liberalen Rechtsstaatstheorie nahe, sicherte dies doch dem Parlament stärkere Mitwirkungsbefugnisse. Hervorhebung verdient Robert von Mohl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 179 ff, schildert die Wandlung der Auffassung von Mohls, der zunächst der Exekutive jede Rechtsetzung vorenthielt, begrifflich jedoch den auch von ihm anerkannten Erlaß von Ausführungsverordnungen und ergänzenden Detailvorschriften (intra legem) ausnahm, für die er keine besondere gesetzliche Ermächtigung verlangte. Später vertrat von Mohl, vor allem zum Polizeirecht, eine eingeschränkte Zulässigkeit von ohne Anlehnung an ein Gesetz ergehenden Verordnungen. Kennzeichnend hierfür ist die in seiner (späteren) Schrift, von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Zweiter Band, Teil I, S. 405 ff., zu den Rechtsquellen gewählte Vorgehensweise, welche die Untersuchung des der Gesetzgebung vorbehaltenen Bereichs in den Mittelpunkt rückt und sodann (S. 418) feststellt: „Ist für die ordentlichen Gesetze die richtigste Behandlung gefunden, so schließt sich daran leicht und ohne Wiederholung an ... die eigenthümliche Behandlung ... der blossen Verordnungen." Daraus folgt eine inhaltliche Abhängigkeit der Verordnung vom Gesetz, ohne daß sie einer Ermächtigungsgrundlage bedürfte. 16 Beispielsweise unterwarf von Gneist (zu dessen Lehren sogleich) nur gewisse Bereiche wie das Strafrecht, das Privatrecht, das Steuerrecht, das Recht der Gerichtsverfassung und die obersten Grundsätze des Verwaltungsrechts dem Gesetz. Diese Abgrenzung stellt nach Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 166 f., eine Interpretation der Freiheits- und Eigentumsklausel dar, ohne daß dies ausdrücklich so bezeichnet wird.

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zwischen beiden Zuständigkeiten folglich insoweit offen, als das Gesetz sich selbst auf die Regelung von Grundzügen beschränken und das weitere der Verordnung überlassen konnte17, so wies all dies der Krone angesichts noch geringer gesetzlicher Durchnormierung umfassende Befugnisse zu. In diesem Sinne bestand ein „selbständiges Verordnungsrecht". Die Rechtsentwicklung im Staatsrecht des Kaiserreichs wurde maßgeblich bestimmt durch die herrschend gewordene formal-juristische Methode und ihre Abhängigkeit von einmal gewählten Begrifflichkeiten. Aus diesem Grunde ist der hauptsächlich von Paul Laband, Georg Jellinek und Gerhard Anschütz geprägte Rechtssatzbegriff 18, der mit dem des materiellen Gesetzes gleichgesetzt wurde, die entscheidende Trennlinie der Kompetenzen von Legislative und Exekutive. So nahm der vor allem von Anschütz im Sinne der Eingriffsklausel reduzierte Gesetzesbegriff den gesamten Bereich der gewährenden Verwaltung19 von der Gesetzgebung aus. Beachtung verdient auch die den Begriff des Rechts auf Beziehungen zwischen verschiedenen Rechtssubjekten beschränkende Labandsche Impermeabilitätstheorie, durch die wegen der Einheit des Staates vor allem Verwaltungsorganisations- und Verfahrensvorschriften und nicht zuletzt generelle Anordnungen in besonderen Gewaltverhältnissen20 vom Rechtssatzbegriff unterschieden wurden. Die genannten Bereiche wurden durch die konsequente Handhabung dieser Begriffe einer Regelung im (materiellen21) Verordnungswege zugänglich, ohne daß der formelle Gesetzgeber hierüber zu befinden hatte. In diesem Sinne ist auch die zu jener Zeit überwiegend vertretene Ansicht, jede „Rechtsverordnung" bedürfe einer förmlichen gesetzlichen Ermächtigung, zu verstehen, die nur scheinbar zu einem Ausschluß eines eigenständigen Verordnungsrechts führte, da die Definition der „Rechtsverordnung" nur einen Ausschnitt der diesem Begriff

X1 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 79 (zu den Vormärzverfassungen). 18 Zum Nachfolgenden oben § 2 II. l.)a). 19 Die Leistungsverwaltung war angesichts einer strikt liberal ausgerichteten Wirtschaftspolitik und des fehlenden Sozialstaatsgedankens kaum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Zumeist unausgesprochene Einigkeit bestand aber darüber, daß die Exekutive insoweit ohne gesetzliche Ermächtigung tätig werden durfte. 20 Hierzu Böckenförde / Gr awert, AöR 95 (1970), S. 1 ff. 21 Der materielle Verordnungsbegriff ist für Laband, Staatsrecht, Band 2, S. 85 ff, der Gegenbegriff zum materiellen Gesetz und zeichnet sich diesem gegenüber durch das Fehlen eines Rechtssatzes aus. An die Form ihres Erlasses knüpft indessen die formelle Verordnung an, die materielle Rechtssätze enthalten kann („Rechtsverordnung") oder nicht („Verwaltungsverordnung"), wobei Laband (S. 86) betont, letztere schafften zwar kein Recht, seien aber dennoch „Ausfluß eigener Willensbestimmung".

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nach heutigem Verständnis zugeordneten Normen umfaßte. 22 Allerdings bedingte die genannte Lehre, daß für das Gesetz detaillierende Verordnungen mit Rechtssatzcharakter nun anders als zuvor überwiegend eine gesetzliche Delegation gefordert 23, das eigenständige Verordnungsrecht der Exekutive insoweit also eingeschränkt wurde. Auch wurde die Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum als Definition des Gesetzesbegriffs zunehmend weit im Sinne eines Schutzes der Handlungsfreiheit und des Vermögens verstanden, was den Umfang der gesetzgeberischen Verantwortlichkeit ebenfalls erweiterte. 24 Im übrigen gab es während der gesamten Epoche des Konstitutionalismus durchgehend Versuche, weitergehende „selbständige" Normierungsbefugnisse der Exekutive zu begründen. 25 Diese Ansätze stehen nicht unbedingt im Widerspruch zur Abgrenzung der Kompetenzen nach Maßgabe des Gesetzesvorbehaltes, ihr gemeinsamer Zug liegt vielmehr darin, daß sie bei unterschiedlicher dogmatischer Argumentation allesamt bestrebt waren, zur Stärkung der monarchischen Stellung beizutragen. Bereits vor der Hinwendung der Staatsrechtslehre zum spätkonstitutionellen Positivismus bemühten sich einige Vertreter

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Keinesfalls mißverstanden werden darf die Aussage Labands, Staatsrecht, Band 2, S. 97: „Jede Verordnung, welche Rechtsvorschriften enthält, kann nur gültig erlassen werden auf Grund einer speziellen reichsgesetzlichen Delegation." Sind Rechtssätze, das heißt für ihn materielle Gesetze, definiert als Schrankenziehung zwischen selbständigen Rechtssubjekten, so sind die von Laband so bezeichneten Verwaltungsverordnungen hiervon nicht umfaßt. Es besteht ein eigenständiges Verordnungsrecht im hier vertretenen Sinne, dem angesichts Labands Rechtsbegriff ein weiter Umfang zukommen muß. Entsprechendes gilt auch für zahlreiche andere Stellungnahmen, so zum Beispiel für Anschütz, in: Meyer, Georg / Anschütz, Lehrbuch, Band 2, S. 672, für den der Begriff „Rechtsverordnungen" durch den des Eingriffs in Freiheit und Eigentum im Bereich des allgemeinen Gewaltverhältnisses definiert wird. Daneben bleibt der Exekutive jedoch die Möglichkeit, selbständig „Verwaltungsverordnungen" zu erlassen. 23 So sah Laband, Staatsrecht, Band 2, S. 88 f., das Gesetz ergänzende und detaillierende „Ausführungsverordnungen" als „Rechtsverordnungen" in seinem Sinne an, die einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürften. Dies galt jedoch nicht für Regelungen des Verfahrensrechts. 24 So Anschütz, in: Meyer / Anschütz, Band 2, S. 657, Anmerkung c; vgl. auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 272; Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 131 f. 25 Das in den nachfolgenden Anmerkungen geschilderte Verordnungsrecht praeter legem wird gelegentlich auch als „selbständiges Verordnungsrecht" bezeichnet. Dieser Terminologie ist an sich nicht zu widersprechen, es sei allerdings daran erinnert, daß dieser Ausdruck hier in einem weiteren, allgemein die Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen ohne gesetzliche Ermächtigung bezeichnenden Sinne definiert wurde.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

des damaligen staatsrechtlichen Schrifttums, namentlich Lorenz von Stein26, daneben aber insbesondere auch Rudolf von Gneist27 sowie vor allem Friedrich 26

Lorenz von Stein unterteilte die Verordnungen in drei Arten (Handbuch, S. 100 ff.), die bloßen Vollzugsverordnungen (S. 104 f.), die bei Fehlen oder Unvollständigkeit des Gesetzes ergehenden Verwaltungsverordnungen (S. 105 f.) sowie die Notverordnungen (S. 106 f.), die „viel häufiger (seien) als man glaubt". Er verlagerte den Schwerpunkt seiner Studien weg von der gegenständlichen Trennung der Zuständigkeiten nach der Freiheits- und Eigentumsklausel hin zu einem „organischen Verhältnis" von Gesetz und Verordnung (von Stein, Die Verwaltungslehre, Teil 1, Abteilung 1, S. 72 ff., nachfolgend: Verwaltungslehre). Diese sind für von Stein „zwei, und zwar an sich gleichberechtigte Willensformen der Persönlichkeit des Staats" (Handbuch, S. 101). Die vollziehende Gewalt sei eine „zweite Gesetzgebung neben der ersten", ein „zweites Gebiet des selbsttätigen Staatslebens" (Verwaltungslehre, S. 84). Dennoch enthalte das Gesetz vermöge der in ihm aufgenommenen Selbstbestimmung der Staatsbürger ein „sittliches Prinzip", die Verordnung beruhe indes auf einer „wesentlich praktischen Forderung". Dieses „Prinzip der staatsbürgerlichen Freiheit" bedinge die „Herrschaft des Gesetzes über die Verordnung", das heißt die Begrenzung der Verordnungsgewalt (Verwaltungslehre, S. 86 f.) durch den Vorrang des Gesetzes. Die Verordnung wird so zur zwingend erforderlichen „Kraft und Funktion im Staate, welche die Gesetzgebung da ersetzt, wo sie nicht vorhanden oder nicht vollständig ist" (Verwaltungslehre, S. 76). Die Thematik des Eingriffs in Freiheit und Eigentum liegt fur von Stein nicht im Mittelpunkt des Interesses. In seiner Verwaltungslehre behandelt er sie nicht, sondern erwähnt lediglich in einer geschichtlichen Darstellung ihr Vorkommen in den frühkonstitutionellen Verfassungen (Verwaltungslehre, S. 118). Im übrigen findet sich die Bemerkung, es handele sich „nicht mehr um den hauptsächlich ... historisch entstandenen Streit zwischen Gesetzgebung und Vollziehung und nicht mehr um die Tradition, daß die „Freiheit" in der Unterwerfung der vollziehenden Gewalt unter die gesetzgebende bestehe" (Verwaltungslehre, S. 77). Von Stein geht es nicht primär um die Grenzen exekutiver Machtbefugnisse, sein auf die soziologischen Gegebenheiten der Zeit ausgerichteter Ansatz sucht vielmehr der auf die bloße Verwirklichung von Individualinteressen abzielenden Gesellschaft eine auf das Gemeinwohl bezogene Ordnung entgegenzusetzen, die den sozialen Ausgleich zur Verringerung realer Ungleichheit anstrebt und die auf einem von der Gesellschaft und ihren Sonderinteressen unabhängigen „organischen Königthum" (Verwaltungslehre, S. 143) beruht. Vgl. zu den Lehren von Steins Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 170 ff.; zum Verhältnis von Gesetz und Verordnung: derselbe, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 145 ff. 27 Rudolf von Gneist (vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 158 ff.) begründete seine Lehren zum Verordnungsrecht rechtsgeschichtlich mit Blick auf die deutsche Entwicklung seit karolingischer Zeit und rechtsvergleichend durch Übertragung als gemeingermanisch gedachter englischer Verfassungsformen. Zum Zwecke der staatlichen Ordnung der Gesellschaft und zur Abwehr radikaldemokratischer Positionen im Sinne Rousseaus vertrat von Gneist ein weitgehendes Verordnungsrecht (praeter legem). Lediglich einige besonders bedeutsame Bereiche (siehe oben § 3, Fußnote 16) blieben dem Gesetz vorbehalten. Im übrigen, insbesondere im Verwaltungsrecht, konnte die Exekutive abgesehen von der durch Gesetz vorzunehmenden Normierung oberster Grundsätze selbständig Verordnungen neben dem Gesetz oder ohne Gesetz erlassen, die ihre Grenze nur im Vorrang des Gesetzes fanden.

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Julius Stahl28, den Anwendungsbereich exekutiver Normsetzung zu erweitern, indem sie ein konkurrierendes Verhältnis von Gesetz und Rechtsverordnung entwickelten, das der Exekutive weitreichende Befugnisse in Gestalt eines Verordnungsrechts praeter legem zubilligte. In späterer Zeit versuchte hauptsächlich Adolf Arndt, ein umfassendes selbständiges Verordnungsrecht der Krone nachzuweisen.29 Auch wenn sich diese Bemühungen letztlich nicht durchsetzen konnten, bringen sie doch zum Ausdruck, daß die allgemeine Tendenz der konstitutionellen Staatslehre eher in Richtung auf ein weites Verordnungsrecht denn auf eine Beschränkung desselben wies. Das bisher Gesagte betraf die Frage, ob eine Delegation erforderlich war. Auch soweit dies im Spätkonstitutionalismus bejaht wurde, fand die sich anschließende Frage, wie detailliert eine solche Ermächtigung sein müsse, kaum Beachtung, was letztlich auf dem damaligen Staatsverständnis beruhte, das von einem strikten Dualismus von bürgerlicher Gesellschaft und in der Person des Monarchen verkörpertem Staat ausging. Gemeinsamer Zug der konstitutionellen Bemühungen war das Bestreben, die Macht der Krone zu beschränken und die Sphäre des einzelnen gegen staatliche Übergriffe zu schützen. Weniger Interesse zeigte das Bürgertum an der politischen Gestaltung des Gemeinwesens. Zudem war das Volk noch nicht Souverän und damit in theoretischer Hinsicht anders als im demokratischen Staat, in dem alle Staatstätigkeit eine auf eine Entscheidung des Volkes als Staatsträger zurückfuhrbare demokratische Legitimation verlangt, noch nicht umfassend verantwortlich für jede Ausübung der Staatsgewalt. Folgerichtig mußte ein der Volksvertretung als Repräsentantin der Gesellschaft eingeräumter Vorbehalt der Zustimmung zu Freiheitsbeschränkungen nur als verzichtbare Befugnis zur Mitbestimmung, aber noch nicht als das Parlament verpflichtende Aufgabe verstanden werden. Als Konsequenz dessen konnte das damalige Staatsrecht keine dem Artikel 80 GG vergleichbare Beschränkung der Delegation von Rechtsetzungskompetenzen kennen. Das „allmächtige Gesetz" durfte, um es mit Otto Mayer zu sagen, den ganzen Rechtssatz der Verordnung übertragen.30 Der deutsche Konstitutionalismus kannte also zu allen Zeiten weitreichende Verordnungsbefugnisse der Krone, sei es mit oder ohne gesetzliche Ermächtigung zu ihrem Erlaß. Alle Stimmen haben bei ansonsten großen Unterschieden in Begründung und Ergebnis gemeinsam, daß stets Bereiche anerkannt wurden, in denen keine gesetzliche Delegation erforderlich war, und daß, 28 Friedrich Julius Stahl machte den umfassendsten Versuch der Begründung eines eigenständigen Verordnungsrechts und folgerte aus Begriff und Funktion der Regierung eine weitgehende Befugnis zum Verordnungserlaß ohne gesetzliche Ermächtigung. Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 169 ff. 29 Vgl. die Darstellung bei Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 310 ff. 30 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, S. 316 f. (zum Steuerrecht).

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soweit eine Ermächtigung zum exekutiven Normerlaß geboten war, an diese keine gesteigerten, dem heutigen Artikel 80 GG vergleichbaren Anforderungen gestellt wurden. Dies war Ausdruck eines auf dem monarchischen Prinzip aufbauenden dualistischen Konzepts, das Staat und Gesellschaft als unvereinbare Gegensätze begriff. Innerhalb dieses Gedankengebäudes waren alle Bestrebungen, die Rechte des Parlaments auszudehnen, als demokratisch motiviert anzusehen. Die Bemühungen hingegen, der Exekutive Entscheidungsbefugnisse zu wahren, mußten zwangsläufig als monarchistisch erscheinen, eine Vorstellung, die mit dem dualistischen Konzept jener Tage steht und fallt.

b) Das Verordnungsrecht in der Weimarer Republik Der Übergang zur Weimarer Verfassung entzog dem monarchischen Prinzip die Grundlage. Der Dualismus des Kaiserreichs war in seiner Eindeutigkeit durchbrochen31, der Staat wurde zur „Selbstorganisation der Gesellschaft" 32. Auch in der Staatsrechtstheorie zeichnete sich im „Weimarer Methoden- und Richtungsstreit" ein Wandel ab.33 Dem noch immer herrschenden Positivismus wurde ein eher „geisteswissenschaftlich" ausgerichtetes Verfassungsverständnis entgegnet, das die Entwicklung hin zum Grundgesetz beeinflußen sollte. Dennoch vollzog sich der Neubeginn nur langsam. Praxis und überwiegende Lehre waren trotz mancher Ansätze zur Neubewertung des Gesetzesbegriffs 34 noch den überkommenen Methoden und Begrifflichkeiten verhaftet. 35 So ergab sich unter Zugrundelegung der spätkonstitutionellen Definition des Rechts31

Manche sahen sogar einen vollständigen Bruch, so Thoma, in: Anschütz / Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Band, § 71, S. 118: „An Stelle des konstitutionellen Dualismus ... wird planmäßig ein Gewaltenmonismus gesetzt." 32 Schmitt, Carl, Der Hüter der Verfassung, S. 78. 33 Zum „Weimarer Methoden- und Richtungsstreit" oben § 2 II. 1 .)b). 34 Heller, WDStRL 1927 (4), S. 98, nannte in seinem auf eine Erneuerung des Gesetzesbegriffs abzielenden Beitrag die bisherige Dogmatik eine „herrschende Lehre von seltener Einmütigkeit". 35 Der subjektive Verfassungsgesetzgeber setzte die hergebrachte Dogmatik voraus. In den Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung 1919 wurde erörtert, auf wen das Verordnungsrecht des Kaisers wie des Bundesrates übergegangen ist (Stenographische Berichte, S. 42 f., 79, 166 ff., 427 f.). Dabei wurden die Begriffe Rechts-, Verwaltungs- und Ausführungsverordnung benutzt. Aus der Erklärung des maßgeblich beteiligten Reichsministers des Innern, Dr. Preuß (S. 167 f.), folgt, daß der „wissenschaftliche Unterschied" zwischen ihnen gemeint war. Dies bezog sich zwar auf Artikel 13 des Verfassungsentwurfs, dessen angenommene Fassung (S. 428) entsprach aber wörtlich dem späteren Artikel 77 WRV. Auch die meisten Staatsrechtslehrer hielten an den bisherigen Begriffen fest; vgl. Thoma, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, 2. Band, § 71, S. 125; Jacobi, ebenda, § 77, S. 237.

von

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satzes die Kompetenz der Verwaltungsspitze zur eigenständigen Regelung der Behördenorganisation, des Verwaltungsverfahrens, der Leistungsverwaltung und der besonderen Gewaltverhältnisse. 36 Für begrifflich dem Bereich der Rechtsetzung zugeordnete Verordnungen war weiterhin eine gesetzliche Delegation erforderlich, eine Möglichkeit, von der vor allem in den Notzeiten der ersten Nachkriegsjahre und der Weltwirtschaftskrise weitgehend Gebrauch gemacht wurde. Dies war insofern von erhöhter Bedeutung, als zum einen trotz mancher gegenläufiger Tendenzen37 nur geringe Anforderungen an die Regelungsdichte derartiger Ermächtigungsgesetze gestellt38 und sogar konkludente Ermächtigungen anerkannt wurden 39 , zum anderen gesetzesaufhebende oder -ändernde Verordnungen statthaft waren 40 und zum dritten nach damaligem Verständnis Verfassungsdurchbrechungen in Form von mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossenen, stillschweigend von der Verfassung abweichenden Gesetzen zulässig waren, was auch für Ermächtigungsgrundlagen zum Verordnungserlaß galt. 41 Außerdem ist das weitgehend ausgenutzte und politisch höchst bedeutsame, aus Artikel 48 Absatz 2 W R V 4 2 abgeleitete Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten zu nennen, das die Befugnis zum Erlaß gesetzesvertretender Rechtsverordnungen einschließlich der Einführung 36

Artikel 77 WRV berechtigte die Reichsregierung, „allgemeine Verwaltungsvorschriften" zu erlassen, die den „Verwaltungsverordnungen" entsprachen. Der neue Begriff wurde zur deutlicheren Abgrenzung von den Rechtsverordnungen gewählt; vgl. Stenographische Berichte, S. 428. Exekutive Befugnisse begründeten auch Artikel 15, 88 Absatz 3, 91, 176, 179 Absatz 2 WRV (Huber, Dokumente, Band 4, S. 151 ff.). 37 Aufmerksamkeit fand der Bericht von Triepel, in: Verhandlungen des 32. Deutschen Juristentages, S. 11 ff; der Gesetzgeber dürfe Ermächtigungen zum Verordnungserlaß nicht mehr „schrankenlos, nach Gutdünken" (S. 23), sondern „nur im Dienste begrenzter Zwecke für ein bestimmtes Lebensverhältnis" (S. 17) erteilen. Allerdings riet er davon ab, eine entsprechende Begrenzung in den Verfassungstext aufzunehmen, da es kaum möglich sei, den Umfang zulässiger Ermächtigungen abstrakt zu formulieren (S. 25). Triepel betrachtete es zwar als „eines der dringendsten Anliegen unserer Zeit, gegen die Anmaßungen des Verordnungsrechts vorzugehen" (S. 31), jedoch konnte er die Praxis jener Tage nicht beeinflussen. Dennoch regte sein Beitrag die öffentliche Diskussion stark an und ebnete so den Weg für den späteren Artikel 80 GG. 38 Die tatbestandliche Weite derartiger Delegationen zeigt beispielhaft das Ermächtigungsgesetz vom 8.12.1923 (RGBl. I 1923, S. 1179), in dem es lapidar heißt: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet." 39 Jacobi, in: Anschütz I Thoma, Handbuch, 2. Band, § 77, S. 244. 40 Jacobi, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, 2. Band, § 77, S. 240. 41 So lautete die Ermächtigung vom 13.10.1923 (RGBl. I 1923, S. 943) wie folgt: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete für erforderlich und dringend erachtet. Dabei kann von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen werden." Vgl. auch Jacobi, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, 2. Band, § 77, S. 240 ff. 42 Nachweis (auch für folgende Zitate): Huber, Dokumente, Band 4, S. 151 ff. (159).

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von Strafbestimmungen 43 umfaßte. 44 Da der Reichspräsident nach dem Wortlaut des Artikel 48 WRV hierbei die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 114 WRV), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 115 WRV), des Briefgeheimnisses (Artikel 117 WRV), der Meinungsfreiheit (Artikel 118 WRV), der Versammlungs- (Artikel 123 WRV) und Vereinigungsfreiheit (Artikel 124 WRV) und des Eigentums (Artikel 153 WRV) vorübergehend außer Kraft setzen durfte 45 und weil seinen Verordnungen kraft ihrer Gesetzeskraft Rechtsschutz ausschließende Wirkung zukam46, lag der Schutz von Eigentum und Freiheit nun in nicht unerheblichem Umfang in den Händen der Exekutive. Aus alledem folgte eine umfangreiche Befugnis der Exekutive zur Normsetzung und eine ausgedehnte Verordnungspraxis 47, ein Befund, den Carl Schmitt gegen Ende der Weimarer Republik als „Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates" kennzeichnete.48 Auch wenn das exekutive und vor allem präsidiale Verordnungsrecht in der Gestalt, die es im Laufe der Weimarer Zeit erhielt, die Schwäche der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie ausdrückte, lagen diesem Denken nicht nur demokratiekritische Motive voraus. Vielmehr sahen zahlreiche Stimmen in der Endphase der Weimarer Demokratie angesichts einer Parlamentsmehrheit der verfassungsfeindlichen Parteien unterschiedlicher politischer Färbung gerade in der „unbegrenzten Auslegung der Verfassung" das letzte Mittel zur „Verfassungsrettung". 49

c) Die Verordnung in rechtloser Zeit Das Unrechtssystem des Nationalsozialismus machte sich alsbald nach Ergreifen der Macht das Instrument der Verordnung zunutze, um alle parla43

Vgl. nur RGSt 57, 384 sowie RGSt 58, 269. Zum Notverordnungsrecht Schmitt, Carl, Der Hüter der Verfassung, S. 115 ff. 45 Schmitt, Carl, WDStRL 1924 (1), S. 63 (64) sah sogar die Möglichkeit, über den Wortlaut hinaus andere Verfassungsnormen zu „durchbrechen", da sonst ein „wirksamer Ausnahmezustand unmöglich" wäre. Ähnlich Jacobi, WDStRL 1924 (1), S. 105 ff. 46 Eine der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vergleichbare Überprüfung der Gesetzgebung kannte die Weimarer Verfassung nicht. 47 Ein weites Anwendungsfeld fand die Rechtsverordnung in Weimarer Zeit vor allem im Steuerrecht. Vgl. oben § 1 III. 48 Schmitt, Carl, Legalität und Legitimität, S. 7; weniger dramatisch, aber inhaltlich entsprechend formuliert Jacobi, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, 2. Band, § 77, S. 239: „Die neuzeitliche Entwicklung hat... ein Überhandnehmen der Rechtsverordnungen mit sich gebracht, die das förmliche Gesetz fast zur Ausnahmeerscheinung gegenüber der Rechtsverordnung macht und damit das Verfassungsprinzip der Trennung von Gesetzgebung und Verwaltung in die Gefahr bringt, leere Formel zu werden." 49 Siehe hierzu Kurz, in: Festschrift fur Böckenforde, S. 395 ff. 44

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mentarischen Fesseln abzustreifen. Damit griff es auf das in den krisenhaften letzten Jahren der Demokratie gerade auch zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung immer weiter ausgedehnte exekutive Verordnungsrecht zurück, dessen Mißbrauch nun zum Hebel zur Überwindung des Rechtsstaates wurde. Bereits am 24.3.1933 erging das verfassungsdurchbrechende Ermächtigungsgesetz „zur Behebung der Not von Volk und Reich".50 Am 30.1.1934 folgte das „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs", das sämtliche Schranken exekutiver Rechtsetzung aufhob und der Regierung die Befugnis zur Verfassungsgesetzgebung übertrug. 51 Diese Entwicklung ließ die gesamte rechtsstaatliche Kontinuität der vorangegangenen Jahrhunderte hinter sich. Die Idee der Gewaltenteilung wurde wegen der „Auseinanderreißung der Führungsgewalt" als „mit der nationalsozialistischen Rechtsidee nicht vereinbar" abgetan; nachdem der Nationalsozialismus „den Gegensatz von Staat und Gesellschaft überwunden" zu haben glaubte, verkam das Gesetz zum „im formgebundenen Verfahren zum Volksrecht obersten Ranges erklärten hoheitlichen Rechtsgebot des Führers". 52 Der Unterschied von Gesetz und Verordnung wurde so zu einem beliebigen, wodurch jeder erdenkliche politische Wille dank bloß formaler Legalität zum Norminhalt werden konnte.

d) Die Entstehung des Artikel 80 Absatz 1 GG Angesichts des Mißbrauchs der Verordnung als Mittel zur Zerstörung von Rechtsstaat und parlamentarischer Demokratie lag es gerade in der historischen Situation der Einfuhrung des Grundgesetzes nahe, diesem Instrument exekutiver Rechtsetzung mit Skepsis zu begegnen. Zum besseren Verständnis der Delegationsbeschränkung des Artikel 80 Absatz 1 GG muß deshalb mehr noch als bei anderen Bestimmungen des Grundgesetzes auf die Einzelheiten der Entstehungsgeschichte eingegangen werden. Aus der Erfahrung des Ermäch50

RGBl. I 1933, S. 141; bedeutsam waren vor allem folgende Passagen: Artikel 1 Satz 1 : „Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden." Artikel 2 Satz 1 : „Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben." 51 RGBl. 1 1934, S. 75; die wichtigsten Bestimmungen lauteten wie folgt: Artikel 1 : „Die Volksvertretungen der Länder werden aufgehoben." Artikel 2: „Die Hoheitsrechte der Länder gehen auf das Reich über. Die Landesregierungen unterstehen der Reichsregierung." Artikel 4: „Die Reichsregierung kann neues Verfassungsrecht setzen." 52 Vgl. Stratenwerth, Verordnung und Verordnungsrecht im Deutschen Reich, S. 129, 137, 146.

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tigungsgesetzes von 1933 heraus stellte sich der neuen deutschen Verfassung in erster Linie die Aufgabe, unbegrenzte Delegationen an den Verordnungsgeber zu verhindern, um künftigen Revolutionsversuchen den Schein formaler Verfassungsmäßigkeit vorzuenthalten. Daneben war die Erinnerung an die auf Artikel 48 Absatz 2 WRV gestützte „Präsidialdiktatur" der letzten Jahre der Weimarer Republik, insbesondere zur Zeit der Reichsregierung Brüning, noch wach, die nach umstrittener Ansicht mancher Teilnehmer der damaligen Diskussion den Umsturz vorbereitete. 53 Dennoch sahen die verschiedenen Entwürfe zum Grundgesetz weiterhin ein Verordnungsrecht der Exekutive vor. Zu keinem Zeitpunkt wurde ein gänzlicher Ausschluß dieses Handlungsinstrumentes erwogen. Den ersten Vorläufer von Artikel 80 GG enthielt Artikel 64 des Bayerischen Entwurfs 54 eines Grundgesetzes, wobei dieser, wie sich aus dem die Verwaltungsverordnung betreffenden Artikel 70 ergibt, weiterhin die konstitutionell geprägten Begrifflichkeiten verwandte. Der hiernach vom Verfassungskonvent erarbeitete Herrenchiemsee-Entwurf 55 ging ebenfalls wie selbstverständlich vom her-

53

Vgl. den Diskussionsbeitrag in der Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates von Hans Nawiasky, abgedruckt in: Wernicke , Der Parlamentarische Rat, Band 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 421. Dagegen Fritz Baade (S. 421); weniger Bedeutung maß auch Carlo Schmid der hieraus resultierenden Gefahr bei (S. 422 f.). 54 Wernicke , Band 2, S. 1 ff. (25, 27); die wichtigsten Bestimmungen lauteten: Artikel 64 Absatz 3 Satz 2: „Unberührt hiervon bleibt die Ermächtigung der Bundesregierung zum Erlaß von Rechtsverordnungen auf Grund eines Bundesgesetzes; Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Verordnungsgewalt muß jedoch durch in der Ermächtigung selbst getroffene Bestimmung hinreichend genau festgelegt und begrenzt sein." Artikel 70 Absatz 1: „Der Bundesregierung und den einzelnen Bundesministerien obliegt der Vollzug der Bundesgesetze. Zu diesem Zweck können von ihnen die erforderlichen Ausführungs- und Verwaltungsverordnungen ... erlassen werden. Rechtsverordnungen bedürfen einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung (Artikel 64 Absatz 3 Satz 2)." 55 Wernicke , Band 2, S. 579 ff. (601, 604 f.); hervorzuheben sind besonders: Artikel 102 Absatz 2 Satz 2: „Die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen können jedoch durch Gesetz ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, sofern Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung ausreichend im Gesetz bestimmt sind." Artikel 111 Absatz 1: „Bei drohender Gefahr fur die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Bundesgebiet kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats (Senats) im Rahmen der Bundeszuständigkeit Notverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Die Artikel 105 bis 108 bleiben unberührt. Die Verordnungen treten außer Kraft, wenn sie nicht binnen vier Wochen vom Bundestag oder seinem ständigen Ausschuß bestätigt werden." (Nach Absatz 3 waren hierbei unter Umständen Beschränkungen einzelner Grundrechte möglich.). Artikel 112 - 114 sahen jeweils den Erlaß von Durchführungsverordnungen (ohne Zustimmung des Parlaments) vor.

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kömmlichen Begriffsverständnis aus56 und forderte fur die Rechtsverordnung eine nach „Inhalt, Zweck und Ausmaß" „ausreichend bestimmte" Ermächtigung, anerkannte daneben aber auch die aus eigener Kompetenz der Exekutive ergangene Verwaltungsverordnung. Weitergehend als das heutige Grundgesetz kannte Artikel 111 des Entwurfes zusätzlich ein gegenüber Artikel 48 Absatz 2 WRV abgeschwächtes Notverordnungsrecht ohne gesetzliche Ermächtigung, aber mit zwingender nachfolgender parlamentarischer Bestätigung. Der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates57 griff die bisherigen Erörterungen auf und bezweckte gleichfalls, das Verordnungsrecht einzuschränken. Zwar wollte man der Bundesregierung den Erlaß von Rechtsverordnungen mit gesetzesvertretender Kraft gestatten, bezeichnete diese aber zugleich als „prinzipiell unerwünscht", weshalb sie keineswegs zu einer „Ersatzgesetzgebung" fuhren durften. 58 Um die Delegationsbefugnis des Parlaments zu begrenzen, wurde eine nach „Inhalt, Zweck und Ausmaß" bestimmte Ermächtigung gefordert.59 Anders als in den früheren Entwürfen wurde diese Aussage nicht im Sinne einer „hinreichenden" oder „ausreichenden" Bestimmtheit relativiert, ohne daß dies zu einer Änderung in der Sache führen sollte.60 Ferner erwog der Parlamentarische Rat ein im Vergleich zu Artikel 48 Absatz 2 WRV restriktives Notverordnungsrecht 61, lehnte es aber im Ergebnis ab.62 Statt dessen sieht das Grundgesetz nun in Artikel 81 GG einen Gesetzgebungsnotstand vor. Die Begriffe „Gesetz", „Rechtsverordnung" und „Verwaltungsvorschrift" wurden in den Beratungen des Hauptausschusses nicht eigens definiert. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gingen offensichtlich von einer vorausliegenden und unstreitigen Bestimmung dieser Rechtsbegriffe aus. Es scheint 56

Die traditionellen Begriffe wurden in den Plenarsitzungen ohne weiteres benutzt. Laut Füßlein, in: von Doemming l Füßlein, / Matz, JöR 1 (1951), S. 1 (453), liegt dem Herrenchiemsee-Entwurf die aus Artikel 77 WRV übernommene Differenzierung von Rechtsverordnungen und „Allgemeinen Verwaltungsvorschriften, also Verwaltungsverordnungen, die Gesetze weder im formellen noch im materiellen Sinne sind", zugrunde. 57 Der Parlamentarische Rat nahm seine Aufgaben durch das Plenum, einen Hauptausschuß und mehrere Fachausschüsse wahr. Die maßgeblichen Vorentscheidungen traf der Hauptausschuß; vgl. Carlo Schmid , in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses 1948/49 (nachfolgend: Hauptausschuß), S. 1. 58 Süsterhenn, Adolf in: Hauptausschuß, S. 149. 59 Diese Beschränkung der Delegationsbefugnis fand einhellige Zustimmung in den Erörterungen des Hauptausschusses und war infolgedessen nicht Gegenstand umfassender Diskussionen; vgl. nur Hauptausschuß, S. 148 f., 455 ff., 656. 60 Vgl. Füßlein, in: von Doemming / Füßlein, / Matz, JöR 1 (1951), S. 1 (587 ff., 588) mit weiteren Nachweisen, der darlegt, daß das Wort „ausreichend" vom Organisationsauschuß als „nichtssagender Kautschukbegriff' gestrichen wurde. Eine Verschärfung der Bestimmtheitsanforderungen wurde hierbei nicht erwogen. 61 Vgl. die Diskussionsbeiträge, in: Hauptausschuß, S. 151 ff., 189,455 ff., 656 ff. 62 Hauptausschuß, S. 755. 11 Seiler

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sich dabei um das in Weimarer Zeit herrschende, aus dem Konstitutionalismus übernommene Verständnis des Rechtssatzes im Sinne der Lehren von Laband, Georg Jellinek und Anschütz gehandelt zu haben, da einerseits die nach dem ersten Weltkrieg aufgekommene Diskussion um eine Neubewertung des Gesetzesbegriffs durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus zu einem jähen Ende kommen mußte und in der ersten Zeit nach dem zweiten Kriege wohl nicht als vordringlich angesehen werden konnte 63 , andererseits die „Väter des Grundgesetzes" 64 ihre juristische Ausbildung und damit ihr begriffliches Vorverständnis noch in der Epoche der Herrschaft der alten Terminologie erhalten haben. Auch wenn der Parlamentarische Rat diese Frage nicht ausdrücklich behandelt hat, lassen manche Ausführungen doch eine entsprechende Vermutung zu. Bezeichnend ist folgende Äußerung von Höpker-Aschoff 65 zur systematischen Stellung der Ausführungsvorschriften: „Es ist ein Unterschied zu machen. Es gibt Rechtsverordnungen, die keine Ausfuhrungsverordnungen sind, und es gibt Ausführungsverordnungen, die keine Rechtsverordnungen sind; denn die Ausführungsverordnungen können sowohl Rechtsverordnungen wie Verwaltungsvorschriften sein." 66 Die weiteren Stellungnahmen in dieser Debatte lassen das gleiche Vorverständnis erahnen. 67 Es ist daher zu ver63

Bemerkenswert ist, daß die Labandschc Impermeabilitätstheorie in ihren Folgen für das besondere Gewaltverhältnis endgültig erst 1972 (!) durch BVerfGE 33, 1 (Strafvollzug) überwunden wurde, wobei wohl auch das Gericht (S. 12) annahm, der subjektive Verfassungsgesetzgeber habe den Rechtssatz traditionell verstanden: „Der Verfassunggeber hatte bei Erlaß des Grundgesetzes ... das überkommene Bild des Strafvollzuges vor Augen, und es fehlt jedes Anzeichen dafür, daß er davon ausging, der Gesetzgeber müsse sofort nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ein Strafvollzugsgesetz erlassen." 64 Ein Verzeichnis der Mitglieder des Parlamentarischen Rates findet sich bei Wernicke , Der Parlamentarische Rat, Band 1: Vorgeschichte, S. 429 ff.; von den dort genannten 72 stimmberechtigten Mitgliedern waren (je nach Zählweise) 48 zuvor (auch) leitende Angehörige der Exekutive, davon 17 Minister. 65 Hermann Höpker-Aschoff, war von 1925 bis 1931 Preußischer Finanzminister, das heißt selbst Angehöriger der Exekutive. 66 Hauptausschuß, S. 431; auf S. 432 spricht Höpker-Aschoff von „Rechtsverordnungen und Verwaltungsverordnungen" und meint damit verschiedene Formen der „Ausführungsvorschriften". 67 Hauptausschuß, S. 432 f.; hervorzuheben sind folgende Diskussionsbeiträge: Wilhelm Laforet, Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht, stimmte HöpkerAschoff zu und sprach von ,Ausführungsvorschriften - einerlei, ob sie Rechtsvorschriften und allgemeine Verwaltungsvorschriften sind". Hermann von Mangoldt, Professor für öffentliches Recht, wollte die Rechtsverordnungen systematisch nicht in die Ausführungsvorschriften einordnen, da erstere „Rechtsnormen" seien und daher zur Gesetzgebung gehörten. Carlo Schmid , selbst Wissenschaftler, nannte die allgemeinen Verwaltungsvorschriften „Rechtsnormen". Laforet widersprach: „Soweit sie Rechtsnormen sind!" Schmid kam es aber nur darauf an, daß Verwaltungsvorschriften die Länder binden. Laforet antwortete unwidersprochen: „In dieser Begrenzung bin ich damit einverstanden."

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muten 68 , daß die Erschaffer des Grundgesetzes bei der Formulierung des Verfassungstextes den Begriffen Gesetz, Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift trotz der mit dem demokratischen Prinzip verbundenen Absage an den strengen Dualismus vergangener Tage eine konstitutionelle Bedeutung beimaßen, eine Vermutung, die in einigen frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts andeutungsweise eine Stütze findet. 69

e) Schlußfolgerungen aus der Geschichte des Verordnungsrechts Artikel 80 GG sollte den mißbräuchlichen Einsatz des Verordnungsrechts in bewußter Abkehr von der Weimarer Praxis 70 ausschließen. Aus diesem Grund 68

Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 102 f., sieht mangels ausdrücklicher Erklärung der Verfassungsschöpfer über die Bedeutung der überkommenen, mit einem bestimmten Inhalt angefüllten Begriffe von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift eine „starke Vermutung fur deren inhaltliche Kontinuität". Starck, Gesetzesbegriff, S. 21 f., stellte noch 1970 (!) fest, allgemein werde „der dem Rechtssatzbegriff zugrunde liegende Rechtsbegriff als Abgrenzung der Willensphären von Rechssubjekten oder als Eingriff in Freiheit und Eigentum verstanden". Ähnlich Stern, Staatsrecht, Band II, S. 652. 69 Nach BVerfGE 1, 396 (410) ist es fur die Normenkontrolle „ohne Bedeutung, ob das zu prüfende Gesetz materielle Rechtssätze enthält. Auch ein Gesetz, das keine Rechte oder Pflichten fur den Staatsbürger begründet, ist der Normenkontrolle zugänglich." Hier klingt noch die Labandsche Definition des Rechtssatzes anhand der Abgrenzung der Willenssphären selbständiger Rechtspersonen an. Diese Entscheidung zitiert BVerfGE 2, 307 (312) und betont, es komme für die Normenkontrolle nicht darauf an, ob ein formelles Gesetz „Rechtssätze im überkommenen Sinne" enthalte. Gleiches gelte fur die Rechtsverordnung, die sich nur ihrer äußeren Form nach als solche darstellen müsse, um der Normenkontrolle zu unterliegen. Das Gericht anerkennt damit die Rechtsverordnung im (nur) formellen Sinn. Diese Gleichsetzung von Rechts- und Verwaltungsverordnung gilt aber nur für die Frage, ob eine Normenkontrolle zulässig ist, hinsichtlich der inhaltlichen Prüfung differenziert das Gericht (S. 321) und entscheidet, fur eine in der Form der Verordnung ergangene Vorschrift, die keinen Rechtssatz enthält, stelle sich die Frage einer inhaltlich genügenden Ermächtigung nicht\ Schließlich (S. 329) wird ausgeführt: „... jede Rechtsverordnung ergeht insoweit an Stelle eines Gesetzes, als sie in einer grundsätzlich demförmlichen Gesetz vorbehaltenen Weise in die Rechtssphäre des einzelnen Staatsbürgers eingreift (Hervorhebungen vom Verfasser). Nach BVerfGE 8, 71 (75) ist eine Anordnung „ihrem Wesen nach Rechtsnorm, denn sie verpflichtet unmittelbar den Staatsbürger". BVerfGE 10, 20 (50) stuft Vorschriften, die sich ,glicht in verwaltungsinternen Anordnungen, die als Verwaltungsvorschriften qualifiziert werden könnten, erschöpfen" sollten, sondern „darüber hinaus auch Rechte und Pflichten (der Länder) selbst begründen", als Rechtsverordnung ein. Das Gericht setzt also einen materiellen Begriff der Rechtsverordnung voraus. 70 BVerfGE 1, 14 (59 f.).

164

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

können aus den geschichtlichen Ursprüngen dieser Bestimmung nur begrenzt Schlüsse für jenen Gebrauch exekutiver Rechtsetzungskompetenzen gezogen werden, der im historischen Sinne nicht als Mißbrauch angesehen werden kann. Die Entstehungsgeschichte der Norm liefert also nur schwache Vorgaben für die genaue Zuordnung der Normierungsbefugnisse von Volksvertretung und Verwaltungsspitze. Insbesondere kann einer genetischen Verfassungsauslegung, die im übrigen rechtsmethodisch nur zur Bestätigung des unter Zuhilfenahme der weiteren Auslegungsmethoden gefundenen objektivierten Willens des Verfassungsgesetzgebers dienen sollte71, kein Gebot größtmöglicher parlamentsgesetzlicher Regelungsdichte abgewonnen werden. Dies folgt zunächst daraus, daß die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes wie auch zuvor das Staatsrecht in Kaiserreich und Weimarer Republik Bereiche anerkannten, in denen die Exekutive eigenverantwortlich abstraktgenerelle Regelungen erlassen durfte, die allerdings vermöge des konstitutionellen Rechtssatzbegriffes streng von der materiellen Gesetzgebung geschieden wurden. Infolge der veränderten Definition des materiellen Gesetzes können Rechtsverordnungen heute die Organisation und das Verfahren der Verwaltung regeln, Leistungen gewähren und Vorschriften im besonderen Gewaltverhältnis einführen, ohne daß der subjektive Verfassungsgesetzgeber die Frage einer Rechtsgrundlage für solche Verordnungen bedacht haben könnte. Die Sprengwirkung des die Demokratie zerstörenden Ermächtigungsgesetzes von 1933 lag zudem nicht in erster Linie in seiner Unbestimmtheit, sondern in seiner verfassungsdurchbrechenden Kraft. Das Grundgesetz begegnet der Gefahr einer wiederholten Entmachtung des Parlaments vor allen Dingen durch erschwerte Voraussetzungen an Verfassungsänderungen im Sinne von Artikel 79 GG, der durch das Gebot der Änderung des Verfassungswortlautes (Absatz 1 Satz 1) verlangt, jede Abweichung von der bisherigen Verfassungsrechtslage aufzudecken, und zugleich in Absatz 3 eine (jedenfalls in der Theorie) unverbrüchliche Grenze gegen eine Änderung der Grundstrukturen des Grundgesetzes setzt. Daneben beschränkt auch die inhaltliche Bindung an materielle Werte der Verfassung den Delegationsgesetzgeber. Artikel 80 GG rundet diesen Schutz ab, ist aber keineswegs die wichtigste Sperrvorrichtung gegen einen Machtverlust der Volksvertretung. 71

Die „Schwäche der genetischen Verfassungsauslegung" geht von den gleichen Gedanken aus, die auch das Verhältnis von verfassunggebender Gewalt (pouvoir constituant) und verfaßter Gewalt (pouvoir constitué) bestimmen. Zwar liegt dem Grundgesetz ein Akt der Verfassunggebung zugrunde, jedoch waren die Mitglieder des Parlamentarischen Rates nur Vertreter der verfassunggebenden Gewalt, des Volkes. Maßgeblich sind nicht ihre persönlichen Überzeugungen, sondern die in diesen zum Ausdruck gekommenen objektiven Prinzipien. Vgl. § 2 II. l.)b) zum Verfassungsbegriff bei Carl Schmitt; zur historischen Auslegung einfacher Gesetze BVerfGE 1,299 (312).

I. Art. 80 GG als Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts

165

Schließlich enthält Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG zum ersten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte Anforderungen an die Bestimmtheit der ermächtigenden Norm. Soweit Artikel 80 Absatz 1 GG eingreift, sollte die Verantwortlichkeit des Parlaments gesteigert werden, was aber mangels historischer Vorläufer noch nicht besagt, welches Maß sie erreichen muß. Als Ergebnis kann der Entstehungsgeschichte des Artikel 80 Absatz 1 GG nur eine gewisse Skepsis des subjektiven Verfassungsgesetzgebers gegenüber einem allzu weitgehenden Verordnungsrecht entnommen werden. Das genaue Verhältnis von Gesetz, Rechtsverordnung und auch Verwaltungsvorschrift ist mit dem heutigen Gesetzesbegriff abzustimmen. Hierbei wird zu beachten sein, daß dessen Neubewertung das monarchische Prinzip und den damit verbundenen strikten Dualismus von Staat und Gesellschaft endgültig überwunden hat, ein Wandel, der auch die Exekutive zum demokratisch legitimierten Staatsorgan machte.72

2. Artikel 80 Absatz 1 GG im Vergleich

a) Das Verordnungsrecht in rechtsvergleichender Sicht73 (1) Das Beispiel Frankreichs Frankreich, das Land Rousseaus, in dem die absolutistische Herrschaft des Monarchen als Gegenreaktion die Vorstellung des Gesetzes als eines Zentralbegriffs einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung hervorrief, kennt in der Verfassung der V. Republik von 195874 weit umfangreichere Befugnisse der Exekutive zum Normerlaß als die Staatspraxis in Deutschland.75

72 In diesem Sinne ist Süsterhenn, Hauptausschuß, S. 124, zu verstehen, das Grundgesetz solle ,»nicht eine Verfassung à la Rousseau, also eine Konzentration der totalen Kompetenzfulle bei dem Parlament" sein, sondern „auch mit Montesquieu den Gedanken der Gewaltenteilung berücksichtigen", da ,jede Konzentration der Machtmittel bei einer Instanz vom Bösen ist". 73 Vgl. zum Verordnungsrecht in Großbritannien, Frankreich und Italien Schneider, Gesetzgebung, S. 152 ff.; gemeinsamer Zug dieser wie der nachfolgend zitierten Untersuchungen ist die Feststellung vergleichsweise strenger Anforderungen an den deutschen Parlamentsgesetzgeber.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Ursache dieses Wandels ist die historische Erfahrung einer den Staat lähmenden übermäßigen Gesetzgebung, die während der französischen Revolution zu einem „unvorstellbaren Gesetzeskult"76 ausuferte, aber auch in späteren Zeiten nach einer praktikableren Handhabung verlangte. Heute geht die französische Verfassung von einem Gesetzesverständnis aus, daß als dem herrschenden deutschen „diametral entgegengesetzt"77 bezeichnet worden ist. Das Gesetz soll in Frankreich nur die wichtigsten, enumerativ78 festgelegten Materien regeln (Article 34), wobei zum Teil nur eine Rahmenkompetenz besteht, und alles Übrige der Rechtsverordnung überlassen (Article 37). Die Regierung kann auf Grund einer gesetzgeberischen Delegation (Article 38) oder, soweit kein Gesetzesvorbehalt eingreift, aus eigenem Recht zur Rechtsetzung befugt sein.79 Noch weitergehend können innerhalb des Bereichs des eigenständigen Verordnungsrechts der Exekutive ergangene Gesetze von dieser durch Verordnungen aufgehoben oder geändert werden (Article 37). Darüber hinaus kann sie Versuche des Gesetzgebers zur Regelung von Verordnungsmaterien durch eine Unzulässigkeitsrüge (exception d'irrecevabilité) verhindern (Article 41)80. Die Verordnung ist daher im vorbehaltsfreien Bereich in weitem Umfang auch dem Vorrang des Gesetzes entzogen. Zwar hat die nach 1958 folgende Verfassungspraxis die starke Stellung

74

Die einschlägigen Bestimmungen der französischen Verfassung von 1958 zum Verhältnis von Gesetz (loi) und autonomen Verordnungen (règlements autonomes) zitiert Klisch, S. 84 ff.: Article 34: „La loi est votée par le Parlement. La loi fixe les règles concernant: ..." (Es folgt eine Aufzählung der gesetzgeberischen Zuständigkeiten.). Article 37: „Les matières autres que celles qui sont du domaine de la loi ont un caractère réglementaire. Les textes de forme législative intervenus en ces matières peuvent être modifiés par décrets pris après avis du Conseil d'Etat...." Article 38: „Le Gouvernement peut, pour l'exécution de son programme, demander au Parlement Γ autorisation de prendre par ordonnances, pendant un délai limité, des mesures qui sont normalement du domaine de la loi...". Article 41: „S'il apparaît au cours de la procédure législative qu'une proposition ou un amendement n'est pas du domaine de la loi ou est contraire à une délégation accordée en vertu de l'article 38, le Gouvernement peut opposer l'irrecevabilité...." 75 Vgl. zur Verfassungsentwicklung in Frankreich Klisch', femer Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 93 ff.; Schiette , JöR 33 (1984), S. 279 ff. 76 Schiette, JöR 33 (1984), S. 279 (281), unter Berufung auf J.-M. Cotteret; ähnlich Grote, S. 93. 77 Schiette, JöR 33 (1984), S. 279. 78 Klisch, S. 60. 79 Im übrigen sieht Artide 16 im Fall des Notstands eigene Rechtsetzungsbefugnisse des Staatspräsidenten vor; hierzu Klisch, S. 162 ff. 80 Klisch, S. 87 f., 97 ff.

I. Art. 80 GG als Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts

167

des Verordnungsgebers mehr und mehr zugunsten des Gesetzgebers abgeschwächt81, dennoch bleibt auch heute ein vom deutschen System gänzlich verschiedener Ansatz, dem unser Mißtrauen gegenüber der staatsleitenden wie gesetzesvollziehenden Gewalt eher fremd ist. Das französische Staatsrecht kennt mithin weitreichende Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive82 und sogar ein selbständiges Verordnungsrecht der Regierung, ohne daß dem französischen Staat der Charakter eines demokratischen, die Grundrechte seiner Bürger achtenden Rechtsstaates abgesprochen werden könnte oder sollte. Wenngleich auch das deutsche Staatsrecht die dogmatischen Wurzeln des Parlamentsvorbehaltes im Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten sieht, belegt der Vergleich zu unserem Nachbarland doch, daß das herrschende deutsche Verständnis des Verhältnisses von Volksvertretung und Verwaltung keinesfalls die einzig zwingende Verwirklichung dieser Grundsätze ist. Artikel 80 Absatz 1 GG in der Gestalt, die er in der verfassungsrechtlichen Dogmatik erhalten hat, muß demnach als Besonderheit unseres Staatsrechts eingeordnet werden, ohne zum Kernbestand von Demokratie und Rechtsstaat gezählt werden zu können. Jede anderweitige Sicht enthielte zugleich den soeben verworfenen Vorwurf an die französische Verfassungspraxis und ist abzulehnen.83

81

Vgl. Grote, S. 102 ff.; ähnlich Schiette , JöR 33 (1984), S. 279 (291 ff.); die dort genannten Urteile des Conseil constitutionnel sind überwiegend jünger als die Abhandlung Klischs. 82 Klischy S. 216, beurteilte die Bedeutung der Exekutive in Frankreich 1971 zusammenfassend als „der Stellung des parlamentarischen Gesetzgebers stark angenähert". 83 Bezeichnend ist die von dem französischen Juristen M. Frontoni auf deutsche Kritik am französischen Rechtsstaat gegebene Antwort, der sich Klisch , S. 227, zum Abschluß seiner Untersuchung anschließt: „Après la dure expérience des années 1933 à 1945, les Allemands ont voulu rétablir et même renforcer la protection des individus contre l'Etat. ... Tout naturellement, les juristes allemands ont tendance à juger les expériences politiques étrangères ... en se référant à leur régime qui exalte les notions de suprématie de la Constitution, suprématie de la loi et d'équilibre des pouvoirs. Apprécier le régime français en se référant à de tels critères, c'est évidemment le condamner. En effet, c'est seulement en tenant compte de l'histoire politique française, des traditions françaises, qui sont faites à la fois d'autoritarisme et de liberté, que l'on peut juger un système, qui pour avoir été instauré en réaction aux pratiques de la IVe République, n'est pas nécessairement un régime purement réactionnaire. Pour remédier à cette incomprehension, qui est dans une large mesure réciproque, il n'existe pas d'autre remède que d'accroître les échanges intellectuels entre la France et l'Allemagne."

168

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

(2) Das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika Die amerikanische84 Verfassungspraxis 85 räumt der Exekutive großzügigere Befugnisse zur Rechtsetzung ein als das deutsche Grundgesetz.86 Ebenso wie in Deutschland und Frankreich liegt dem eine geschichtliche Erfahrung zugrunde. Die verfassungsrechtliche Skepsis richtet sich aber anders als in Deutschland nicht gegen die Exekutive und nicht wie in Frankreich gegen den Gesetzgeber, sondern bezweckt, die höchstrichterliche Autorität zu schonen. Zwar besteht in der Theorie ein grundsätzliches Delegationsverbot, dieses wird von den Gerichten jedoch nur sehr zurückhaltend umgesetzt. In der NewDeal-Krise von 193787 entstand ein Konflikt zwischen dem bis dahin stark wirtschaftsliberal ausgerichteten Supreme Court und einer sozialpolitisch motivierten, wirtschaftslenkenden Gesetzgebung unter der Präsidentschaft Roosevelts. Seitdem wird die Gefahr betont, das Gericht könne in die politische Auseinandersetzung hineingezogen werden. Dies könnte das Ansehen des Supreme Courts durch den Verdacht beschädigen, Richter könnten das Delegationsverbot dazu benutzen, um eine von ihnen aus persönlichen oder weltanschaulichen Gründen abgelehnte Gesetzgebung zu verwerfen. 88 Als Folge dessen wird die richterliche Kontrolldichte weit zurückgenommen, was in deutsche Begrifflichkeiten übertragen die Anerkennung eines weitreichenden gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes bedeutet.89

84 Nach Mößle, S. 39 ff. wurde die Entstehung der Formel von „Inhalt, Zweck und Ausmaß" durch die Einflußnahme der amerikanischen Militärregierung mitgeprägt. Kamen so amerikanische Ideen nach Deutschland, gewinnt der obige Befund, daß die Entstehungsgeschichte von Artikel 80 GG keine größtmögliche Bestimmtheit gebietet, durch folgenden Vergleich besondere Bedeutung. 85 Zum Verordnungserlaß nach amerikanischem Recht Brugger, Einfuhrung in das öffentliche Recht der USA, S. 174 ff.; Nolte , AöR 118 (1993), S. 378 (380 ff.); Pünder, Exekutive Normsetzung in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland. 86 Nach Brugger, S. 175 ff., hat der Supreme Court nur in drei Fällen Delegationen als verfassungswidrig angesehen. Nolte , AöR 118 (1993), S. 378 (399), merkt an, das Gericht habe sich zwischen 1948 und 1989 nicht ein einziges Mal mit dem Delegationsverbot auseinandergesetzt. 87 Hierzu Nolte , AöR 118 (1993), S. 378 (384 ff.). 88 Nolte , AöR 118 (1993), S. 378 (392 f.). 89 Nolte, AöR 118 (1993), S. 378 (410), folgert aus dem Vergleich zum amerikanischen Recht, die deutsche Rechtsprechung sollte sich nicht länger am Ausnahmefall des Scheitems der Weimarer Republik orientieren.

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

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b) Das Verordnungsrecht in den deutschen Bundesländern Artikel 80 Absatz 1 GG bindet nur den Bundesgesetzgeber, nicht die Legislative auf Länderebene.90 Vorbehaltlich strengeren Landesverfassungsrechts gelten jedoch aus Gründen des Homogenitätsprinzips des Artikel 28 Absatz 1 Satz 1 GG als Mindestanforderung die Grundsätze des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips einschließlich des Grundsatzes der Gewaltenteilung auch in den Ländern. Den Landesgesetzgebern sind daher ebenfalls Grenzen bei der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an die Exekutive gesetzt.91 Diese Schranken müssen aber nicht notwendig jenen auf Bundesebene entsprechen92, das Bundesverfassungsgericht billigt durchaus abweichende Konkretisierungen dieser Verfassungsprinzipien. 93 Auch dies mag ein Indiz dafür sein, daß die gegenwärtige Handhabung der Verordnungsermächtigung in Theorie und Praxis des Bundesverfassungsrechts nicht die einzige denkbare Verwirklichung von Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip ist.94

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion 1. Inhalt, Zweck und Ausmaß Das den Erlaß einer Rechtsverordnung erlaubende Gesetz soll nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermäch90

BVerfGE 12, 319 (325); E 19, 253 (266); E 26, 228 (237); E 32, 346 (360); E 34, 52 (58 f.); E 41, 88 (116); E 55, 207 (226); E 58, 257 (277); ständige Rechtsprechung. 91 BVerfGE 34, 52 (58); E 41, 251 (266); E 55, 207 (226); E 58, 257 (277); ständige Rechtsprechung. 92 Bryde , in: von Münch / Kunig, Band 3, Artikel 80 GG, RN 2a, sieht die Länder nur an das Homogenitätsgebot, nicht an das Modell des Artikel 80 GG gebunden. 93 So ausdrücklich BVerfGE 34, 52 (58 f.) (zur Hessischen Verfassung): „Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG ist eine Möglichkeit der Konkretisierung dieses Verfassungsprinzips; ... Artkel 107 und 118 HV enthalten eine andere dem genannten Verfassungsprinzip genügende Konkretisierung." (Hervorhebung im Original); ähnlich BVerfGE 41, 251 (266); weniger differenziert BVerfGE 55, 207 (226), wo bei Betonung der Nichtanwendbarkeit von Artikel 80 GG (nur) dessen Grundsätze auf Landesermächtigungen übertragen werden, dann aber ohne weitere Begründung ebenso wie bei Bundesdelegationen verfahren wird; vergleichbar BVerfGE 58, 257 (277). 94 Im einzelnen ist sehr umstritten, inwieweit sich die Landesverfassung auf Grund des Homogenitätsprinzips an Artikel 80 GG ausrichten muß; vgl. Ramsauer, in: Alternativkommentar, Band 2, Artikel 80 GG, RN 23; Bryde, in: von Münch / Kunig, Band 3, Artikel 80 GG, RN 2a.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

tigung" bestimmen. Obwohl dies die entscheidende Schranke der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen zu sein scheint, werden diese Begriffe in zahlreichen der nachfolgend zitierten Gerichtsentscheidungen und Abhandlungen nicht eigens definiert, sondern in ihrer Gesamtheit als Ausdruck der Anforderungen an die gesetzliche Regelungsdichte behandelt. Ursache dieser Zusammenfassung ist die Schwierigkeit, eine bestimmte Frage einem der drei Begriffe eindeutig zuzuordnen.95 Beauftragt der Gesetzgeber beispielsweise den Verordnungsgeber, das Verfahren zur Ausführung eines Gesetzes zu normieren, so kann dies bei wörtlichem Verständnis von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG zugleich als Umschreibung des Inhaltes (verfahrensrechtliche Regelungen), des Ausmaßes (nur Verfahrensrecht) und des Zweckes (zur Durchführung des Verfahrens) der Ermächtigung angesehen werden, ohne daß bei einer etwaigen Unbestimmtheit festzustellen wäre, welcher Gesichtspunkt nicht ausreichend bedacht wurde. Dennoch soll hier versucht werden, die drei Kriterien im Anschluß an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung96 näher einzugrenzen, was allerdings keine trennscharfe, abschließende Definition liefern kann, sondern nur eine Beschreibung der bei einer Gesamtbetrachtung zu beachtenden Gesichtspunkte. Unter dem „Inhalt" der erteilten Ermächtigung seien die vom Verordnungsgeber zu regelnden Fragen verstanden. Das „ A u s m a ß " bezeichnet die der exekutiven Regelungsbefugnis gesetzten sachlichen Grenzen. Der „Zweck" der Ermächtigung schließlich gibt die Zielrichtung der Regelung vor, das heißt die mit der Verordnung umzusetzende Absicht des Gesetzgebers.97 Da eine genaue Abgrenzung dieser Kriterien, insbesondere von „Inhalt" und ,»Ausmaß", häufig nicht gelingen und vom Bundesverfassungsgericht auch nicht vorgenommen wird, „Inhalt" und „Ausmaß" zudem bei teleologischer Auslegung durch den „Zweck" mitbestimmt werden, können diese Anforderungen zusammenfassend auch mit der häufig zu findenden Umschreibung gleichgesetzt werden, der 95

Zur Untrennbarkeit von Inhalt, Zweck und Ausmaß siehe BVerfGE 38, 348 (357 f.) Siehe sogleich. 97 Geringfügig anders definierte Wolff, Bernhard, AöR 78 (1952/53), S. 194 (196 f.) die drei Kriterien in seiner grundlegenden Studie zu Artikel 80 Absatz 1 GG. Hiemach soll der „Inhalt" nicht das zu regelnde Gebiet, sondern die in ihren Grundzügen vorzugebende Regelung selbst umschreiben. Anderenfalls wäre die Bestimmung des „Ausmaßes" sinnlos, die eine Umgrenzung des zu regelnden Gebietes fordere. Der Zweck der Ermächtigung wird wie hier verstanden. Diesem Sprachgebrauch soll nicht gefolgt werden, da Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG vom „Inhalt der Ermächtigung", nicht vom „Inhalt der Verordnung" spricht. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Terminologie nicht angeschlossen und handhabt Artikel 80 GG in der Sache ähnlich wie hier, indem es die Umgrenzung des zu regelnden Gebietes dem „Inhalt", die sachliche Begrenzung des Entscheidungsspielraumes und damit die grundsätzliche Vorwegnahme der zu treffenden Regelung dem „Ausmaß" der Ermächtigung zuschreibt. Letztlich zeigt dies nur die Schwierigkeit der Abgrenzung von „Inhalt" und „Ausmaß". 96

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

171

Gesetzgeber müsse dem Verordnungsgeber ein „Programm" an die Hand geben, das dieser umzusetzen habe. Wie gering der Bedeutungsgehalt dieser Definition ist, zeigt sich daran, daß einige verfassungsgerichtliche Entscheidungen98 auch den allgemeinen Gesetzesvorbehalt mit genau diesen Kriterien umschreiben, ohne daß ihnen dort weitere Aufschlüsse über das gebotene Maß gesetzlicher Regelungsdichte entnommen worden sind oder werden könnten. Dieser Vergleich deutet bereits an, daß der bloße Wortlaut des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG nur wenig Auskunft über seine Tragweite gibt. Anzuknüpfen ist vielmehr an die Funktion dieser Verfassungsbestimmung.

2. Das nach der Rechtsprechung gebotene Maß parlamentsgesetzlicher Regelungsdichte Ohne den von der Verfassung vorausgesetzten Rechtssatzbegriff zu klären99, betont das Bundesverfassungsgericht 100, die nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG geforderte Bestimmtheit lasse sich nicht nach allgemeinen Regeln eindeutig festlegen, sondern müsse von Fall zu Fall beurteilt werden.101 Zu diesem Zwecke stellt das Gericht seit Beginn seiner Rechtsprechung die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage näher umschreibende generelle Formulierungen zur Verfugung, welche nicht isoliert voneinander, sondern in einer Gesamtschau zu sehen sind und die Problematik bei sachlichen Überschneidungen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten.102 Bei Hervorhebung des rechtsstaatlichen Gebotes der Rechtssicherheit wie auch des Freiheitsschutzes soll es nach Ansicht des Gerichts an der nötigen Beschränkung der Delegation fehlen, „wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, daß nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt 98

BVerfGE 8, 274 (325); E 9, 137 (147); E 13, 153 (160); E 48, 210 (221); E 56, 1 (12) verlangen auch vom sich an die rechtsanwendende VerwaltungrichtendenGesetzgeber, das Gesetz müsse „nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt" sein. 99 Andeutungen finden sich nur in einigen frühen Entscheidungen (siehe § 3, Fußnote 69). 100 Vgl. Cremer, AöR 122 (1997), S. 248 ff.; Hasskarl, AöR 94 (1969), S. 85 ff.; Nierhaus, in: Festschrift fur Stem, S. 717 ff. (720 ff.); Wilke, AöR 98 (1973), S. 196 ff. 101 BVerfGE 1, 14 (60). 102 Vgl. Hasskarl, AöR 94 (1969), S. 85 (111).

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können".103 Die Ermächtigung muß „so genau bestimmt sein, daß schon aus ihr und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung erkennbar und vorhersehbar sein muß, was von dem Bürger gefordert werden kann".104 Gesteigerte Anforderungen gelten daher bei Eingriffsregelungen 105 und insbesondere bei Strafnormen106, deren Delegation jedoch grundsätzlich mit Artikel 103 Absatz 2 GG vereinbar ist. Unter Betonung der Aufgabenverteilung von Legislative und Exekutive, das heißt (unausgesprochen) aus der Perspektive des Demokratieprinzips, wendet sich das Gericht an den Gesetzgeber und fordert, dieser müsse „selbst die Entscheidung treffen, daß bestimmte Fragen geregelt werden sollen, er muß die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und angeben, welchem Ziel die Regelung dienen soll". 107 Das Parlament dürfe sich seiner Verantwortung nicht durch Übertragimg von Gesetzgebungsmacht entledigen, ohne die Grenzen der Delegation genau bedacht und bestimmt zu haben.108 Betrachtet man dies umgekehrt vom Standpunkt der Exekutive, so benötigt diese zur Vermeidung rechtsfehlerhafter Verordnungen deutliche Vorgaben, welche Regelungen von ihr gefordert werden. Artikel 80 Absatz 1 GG soll in dieser Hinsicht Genüge getan sein, wenn das Gesetz erkennen läßt, „welches vom Gesetzgeber gesetzte „Programm" durch die Verordnung erreicht werden soll". 109 Die genannten Formulierungen bedingen strenge Anforderungen an die Regelungsdichte förmlicher Ermächtigungen.110 Das Bundesverfassungsgericht hat demgemäß in der Frühzeit seiner Rechtsprechung zahlreiche Delegationen 103 BVerfGE 1, 14 (60); E 2, 307 (334); E 4, 7 (21); E 5, 71 (76); E 7, 267 (274 f.); E 7, 282 (302 f.); E 10, 20 (53); E 15, 153 (160); E 19, 354 (361); E 23, 62 (72); E 29, 198 (210); ständige Rechtsprechung. 104 BVerfGE 7, 282 (302); E 10, 251 (258); E 18, 52 (61); ständige Rechtsprechung. 105 BVerfGE 7, 282 (302); E 23, 62 (73). 106 BVerfGE 14, 174 (185); vgl. auch E 14, 245 (252). 107 BVerfGE 2, 307 (334) (Bezugnahme auf Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 198); E 5, 71 (76 f.); E 7, 282 (304); E 19, 354 (361 f.); E 20, 283 (291); ähnlich E 15, 153 (160); E 18, 52 (62); E 23, 62 (72); E 58, 257 (277). 108 BVerfGE 1, 14 (60); seitdem ständige Rechtsprechung; siehe nur BVerfGE 23, 62 (73); E 41,251 (265 f.); E 55,207 (225 f.); E 58,257 (277); E 78,249 (272). 109 BVerfGE 5, 71 (77) (Hinweis auf Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 197); E 10, 20 (53); E 19, 354 (362). 1,0 Widersprochen werden soll der Ansicht Cremers, AöR 122 (1997), S. 248 (255 f.), das Bundesverfassungsgericht habe in den Anfangsjahren nur formale Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermächtigung gestellt. Gerade die Forderung, der Gesetzgeber müsse selbst bestimmte Vorgaben hinsichtlich von Inhalt, Zweck und Ausmaß machen, bewirkte eine inhaltliche Bindung des Gesetzgebers, die von Fall zu Fall (BVerfGE 1, 14 (60)), das heißt abhängig vom jeweiligen Regelungsgegenstand, unterschiedlich sein sollte.

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

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für unvereinbar mit Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG erklärt. 111 Mit der Zeit scheint es die Bestimmtheitsanforderungen jedoch tendenziell etwas großzügiger zu handhaben. Zum einen konnten einige Ermächtigungen im Wege verfassungskonformer Auslegung hinreichend bestimmt werden.112 Zum anderen ging das Gericht von seiner ursprünglichen Forderung ab, Ermächtigungsinhalt, -zweck und -ausmaß müßten im Gesetz „ausdrücklich, jedenfalls aber mit einwandfreier Deutlichkeit" angegeben sein.113 Statt dessen betonte man nun, Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG besage „nicht, daß Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Text des Gesetzes ausdrücklich bestimmt sein müssen". „Vielmehr gelten auch für die Interpretation von Ermächtigungsnormen die allgemeinen Auslegungsgrundsätze."114 Maßgebend ist somit der dem gesamten Gesetz zu entnehmende objektive Wille des Gesetzgebers unter Berücksichtigung von Wortlaut, Sinn und Zweck, Systematik und Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Das vom Delegationsgesetzgeber Gewollte kann auch durch andere Rechtsvorschriften außerhalb des Ermächtigungsgesetzes, auf die sich dieses bezieht, erläutert werden.115 Im übrigen verlangte das Gericht nun keine größtmögliche, sondern nur noch eine „hinreichende" Bestimmtheit116, ohne auf die Erörterung dieser Einschränkung im Parlamentarischen Rat einzugehen. Als Folge dieser Entwicklung und der sich gleichzeitig ständig erhöhenden Normdichte formeller Gesetze hat das Bundesverfasungsgericht, nachdem es in den Anfangsjahren häufiger Ermächtigungen nach Artikel 80 Absatz 1 GG für zu unbestimmt hielt, im weiteren Verlauf seiner Rechtsprechung immer seltener eine mangelnde gesetzliche Regelungsdichte feststellen können. Auch die Argumentationsweise des Bundesverfassungsgerichts veränderte sich im Laufe der Jahre leicht. Vor allem zu Beginn seiner Rechtsprechung war das Gericht sehr bemüht, Inhalt („welche Fragen"), Zweck („Tendenz" oder „Programm") und Ausmaß („Grenzen" oder „Schranken") einzeln zu unter1,1

Nach Hasskarl, AöR 94 (1969), S. 85 (86, 108), hat das Bundesverfassungsgericht in den ersten 17 Jahren seiner Rechtsprechung ungefähr zwei Drittel der von ihm geprüften Ermächtigungsnormen für nichtig erklärt. 112 BVerfGE 4, 7 (22); E 7, 267 (272 f.); E 8, 274 (324). 113 BVerfGE 2, 307 (334 f.); E 4, 7 (21); E 5, 71 (77); E 7, 282 (303). 1,4 BVerfGE 8, 274 (307) (Hervorhebung im Original; Verweis auf Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 199 f.); E 10, 20 (51); E 15, 153 (160 f.); E 19, 354 (362); E 24, 1 (15); E 26, 16 (27); seitdem ständige Rechtsprechung, die in nahezu jeder Entscheidung bestätigt wird. 115 Nach BVerfGE 29, 198 (210) kann eine im nationalen Gesetz ausgesprochene Ermächtigung durch Verweisung auf eine EG-Verordnung konkretisiert werden. 116 BVerfGE 8, 274 (312); seitdem ständige Rechtsprechung; vgl. nur BVerfGE 24, 155 (167); E 26, 228 (241); E 35, 179 (183); E 36, 224 (228); E 42, 191 (200); E 55, 207 (226); E 62, 203 (209 f.).

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

suchen.117 Mit der Zeit neigte man dazu, die drei Kriterien zu verbinden oder jedenfalls der Sache nach gleich zu behandeln. So Schloß das Gericht häufig vom Zweck auf das Ausmaß118 und auch auf den Inhalt119 der Ermächtigung, vereinzelt auch von ihrem Inhalt auf das Ausmaß120 und sogar von Inhalt und Ausmaß auf den Zweck121. Die gesonderte Betrachtung der drei Einzelkriterien verlor auf diese Weise an Bedeutung, was seinen Grund wohl in der Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung der jeweiligen Fragestellung zu einem von ihnen haben wird. Inhaltlich entwickelte sich dadurch eine einheitliche Delegationsschranke, deren Beachtung bevorzugt unter Einsatz der teleologischen Auslegung überprüft wurde. Dem trug das Gericht schließlich Rechnung, indem es die voneinander isolierte Betrachtung der drei Gesichtspunkte ausdrücklich verwarf 122. Soweit Entscheidungen des Gerichts Inhalt, Zweck und Ausmaß auch hiernach noch je für sich erörtern 123, dient dies mithin stillschweigend - nur der Ermittlung eines einheitlichen Erfordernisses hinreichender Bestimmtheit. Dieses kann verallgemeinernd gesprochen als das dem Verordnungsgeber anvertraute „Programm" bezeichnet werden, ein Gesichtspunkt, der zwar zunächst überwiegend allein auf den Zweck der Ermächtigung bezogen war 124, nun aber zunehmend undifferenziert im 117

BVerfGE 2, 307 (335); E 4, 7 (22); E 5, 71 (77); E 7, 267 (274); E 8, 274 (307 ff.); E 10, 20 (51 ff.), E 10, 251 (255 ff.); E 15, 153 (161 ff.); E 19, 354 (362 ff.); E 19, 370 (376); E 20, 296 (304 ff.); E 24, 1 (15 ff.) E 26, 16 (27 ff.); E 26, 228 (241 ff.); E 29, 198 (209 ff); E 36, 224 (228 fï); E 38, 61 (83 f.). Der Sache nach überschneiden sich die Untersuchungen regelmäßig. 118 BVerfGE 4, 7 (22); E 8, 274 (318); E 10, 20 (53); E 24, 1 (18 ff.); E 26, 16 (31); E 26, 228 (242); E 28, 66 (86); E 33, 358 (366); E 35, 179 (183 f.); E 36, 224 (229); E 38, 61 (84). 119 BVerfGE 8, 274 (314 ff.); E 29, 198 (211); ähnlich E 10, 20 (53). 120 BVerfGE 18, 52 (61 f.). 121 BVerfGE 27, 18(35). 122 BVerfGE 38, 348 (357 f.): „Bei der Prüfung der Frage, ob eine Ermächtigungsnorm den Anforderungen des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG genügt, können die Begriffe „Inhalt", „Zweck" und „Ausmaß" nicht jeweils voneinander isoliert betrachtet werden. Abgesehen davon, daß sich die Begriffsinhalte teilweise überschneiden („Inhalt" und „Ausmaß", „Inhalt" und „Zweck") und schon deshalb nicht exakt gegeneinander abgegrenzt werden können, ergänzen, durchdringen und erläutern sich bei einer konkreten Ermächtigungsnorm deren Inhalt, Zweck und Ausmaß gegenseitig und ergeben erst so ihren vollen Sinngehalt." 123 BVerfGE 38, 348 (357 ff.); E 42, 191 (200 ff.); E 45, 142 (165 f.); E 55, 144 (149 f.); E 58, 283 (290 ff.); E 68, 319 (332 f.); E 80, 1 (20 ff.); E 91, 148 (163); keine allgemeinen Folgerungen sollten aus BVerfGE 65, 248 (259 ff.) gezogen werden, da dort nur eine frühe Entscheidung (BVerfGE 8, 274) bestätigt wird. 124 Vgl. nur BVerfGE 5, 71 (77) (Bezugnahme auf Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 197); E 8, 274 (307 ff.); E 19, 17 (31); E 20, 296 (305); allerdings diskutierten bereits BVerfGE 26, 16 (30); E 29, 198 (212) das „Programm" des Gesetzes im Zusammenhang des „Ausmaßes".

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

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Zusammenhang von Inhalt, Zweck und Ausmaß erwähnt wird. 1 2 5 Im weiteren Verlauf der Entwicklung finden sich denn auch vermehrt Urteile, die nicht mehr zwischen den drei Einzelkriterien unterscheiden. 126 Letztlich verstärkte dies die Gesetzesauslegung nach Sinn und Zweck der Norm, wodurch die Verabschiedung der ursprünglichen Forderung nach einer ausdrücklichen Bestimmung besonderes Gewicht erhielt. Die aufgezeigte Entwicklung mündete in die „Wesentlichkeitsrechtsprechung" 127 des Bundesverfassungsgerichts ein, nach der das Gericht seit dem Jahre 1972 die Anforderungen an den parlamentarischen Gesetzgeber und damit auch an die Bestimmtheit 128 von Ermächtigungen nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes des „Wesentlichen" 129 beurteilt. 130 Diese Rechtsprechung wurde gerade auch in einigen Entscheidungen entwickelt, die sich unmittelbar mit der Übertragung von 125

Ohne Differenzierung, welchem Kriterium der Ausdruck des „Programmes" zuzuordnen ist, BVerfGE 36, 224 (228); E 51, 166 (174); E 53, 135 (144); E 78, 249 (276); E 91, 148(163). 126 BVerfGE 41, 88 (116 ff.); E 42, 374 (385 ff.); E 51, 60 (70 ff.); E 51, 166 (173 ff.); E 53, 135 (144); E 55, 207 (227 ff.; anders S. 235 ff. fur eine zweite Ermächtigungsnorm); E 58, 257 (264 ff.); E 62, 203 (209 ff.); E 75, 329 (344 f.); E 76, 130 (142 f.); E 78, 249 (272 ff.); E 85, 97 (104 f.); E 89, 69 (84 f.). 127 Vgl. oben § 2 II. 2.). 128 Cremer, AöR 122 (1997), S. 248 (259 ff.), versteht einige Urteile des Verfassungsgerichts anders. Er entnimmt der parallelen Erwähnung von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot und der gelegentlichen (zuletzt BVerfGE 91, 148 (162 ff.)) aufbaumäßigen Trennung ihrer Erörterung die Aussage des Gerichts, beide Erfordernisse stünden nebeneinander. Zunächst werde gefragt, ob das Gesetz die wesentlichen Entscheidungen selbst getroffen habe, anschließend, wie bestimmt dies geschehen sei. Da beide Fragen aber untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. oben § 1 IV.), wären diese Urteile in der Sache ebenso ergangen, wenn das Gericht von einem einheitlichen Erfordernis der gesetzlichen Regelungsdichte gesprochen hätte. Zudem nennt Cremer ebenfalls Entscheidungen, die nur eine einstufige Prüfung vornehmen. Aus dem bloßen Prüfungsaufbau sollten daher keine dogmatischen Folgerungen gezogen werden. 129 Das Kriterium des „Wesentlichen" findet sich im Zusammenhang von Artikel 80 GG schon lange vor der sogenannten Wesentlichkeitsrechtsprechung in BVerfGE 7, 282 (302): „Ohne Verstoß gegen das Gebot der Rechtsstaatlichkeit war es ... nicht möglich, ...es dem Verordnungsgeber zu überlassen, das ... Wesentliche zu bestimmen." (Hervorhebung im Original); vgl. femer BVerfGE 10,251 (258); E 18, 52 (61). 130 Dies ist kein Bruch mit der bisherigen Judikatur, sondern die konsequente Weiterfuhrung derselben durch die fortwährende Betonung materieller anstatt formaler Gesichtspunkte, das Abstellen auf die Besonderheiten der jeweiligen Rechtsmaterie und eine vorwiegend teleologische Argumentationsweise. Demgemäß konnte Starck, Gesetzesbegriff, S. 40 ff. (45) bereits vor der Wesentlichkeitsrechtsprechung feststellen, die Behandlung des Ermächtigungsproblems durch das Bundesverfassungsgericht unterscheide sich „nur noch in der Art der Begründung" von einer Differenzierung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Akten.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Rechtsetzungsbefugnissen beschäftigten 131 oder jedenfalls eine Parallele von Artikel 80 GG und allgemeinem Parlamentsvorbehalt132 betonten. Konkludent lehnt das Gericht eine allgemeinverbindliche, strikt an Inhalt, Zweck und Ausmaß ausgerichtete Beurteilung des nötigen Bestimmtheitsgrades ab, indem es fordert, die konkret gebotene Gesetzesdichte regelungsbereichsspezifisch zu ermitteln.133 Unausgesprochen liegt darin die Absage an ein formales Ver131

Bereits BVerfGE 34, 52 (59) (Hessisches Richtergesetz) behielt dem Parlament die „demokratische Legitimation zur politischen Leitentscheidung" vor und zog zudem das Rechtsstaatsprinzip zur Beurteilung der landesrechtlichen Delegation heran. Grundlegend wirkte BVerfGE 58, 257 (264 ff.) (Schulausschluß). Die Entscheidung diskutiert zunächst den Parlamentsvorbehalt für wesentliche Entscheidungen, läßt dabei aber noch Raum für Ermächtigungen an den Verordnungsgeber. Anschließend erörtert das Gericht, allerdings ohne von „Wesentlichkeit" zu sprechen, die Anforderungen des Artikel 80 Absatz 1 GG, die vom jeweiligen Regelungsgegenstand sowie der Intensität der Maßnahme abhängig seien (S. 277 f.). Auch sei „zu berücksichtigen, daß das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit die notwendige Ergänzung und Konkretisierung des aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes des Vorbehaltes des Gesetzes darstellt. Es muß deshalb im Lichte dieses Verfassungsprinzips und seiner Auslegung durch die Rechtsprechung interpretiert werden" (S. 278). Bezogen auf den konkreten Fall (S. 279 f.) differenziert das Gericht nicht zwischen Parlamentsvorbehalt und Delegationsbeschränkung, beide erscheinen als einheitliches Erfordernis förmlicher Regelung des Wesentlichen. Ein Unterschied zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt, der ebenfalls eine hinreichend bestimmte parlamentarische Normierung aller wesentlichen Punkte gebietet, kann dem nicht entnommen werden! 132 BVerfGE 40, 237 (249 f.) (Rechtsschutz im Strafvollzug) zog fur den allgemeinen Gesetzesvorbehalt eine Parallele zur Verordnungsermächtigung: „Auch außerhalb des Bereichs des Artikel 80 GG hat der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst zu treffen und zu verantworten." BVerlGE 41, 251 (265 f.) (Speyer-Kolleg) erwähnt im Anschluß an die Erarbeitung der wesentlichen, förmlich zu regelnden Fragen (S. 259 ff.) die Möglichkeit, eine Erstarrung des Rechts durch den ergänzenden Erlaß von Rechtsverordnungen zu vermeiden (obiter dictum), fuhrt aber nicht weiter aus, inwieweit das Merkmal des „Wesentlichen" auch bei Artikel 80 GG Geltung beansprucht. Einen Zusammenhang von Wesentlichkeit und Delegation sieht auch BVerfGE 47, 46 (79) (Sexualkunde): „Ob eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muß oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz." BVerfGE 49, 89 (126 f.) (Kalkar): Der Gesetzgeber ist verpflichtet, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit dieser staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Die Artikel 80 Absatz 1 und 59 Absatz 2 Satz 1, 2. Halbsatz GG sowie die besonderen Gesetzesvorbehalte sind Ausprägungen dieses allgemeinen Gesetzesvorbehaltes". 133 Vgl. BVerfGE 62, 203 (210) (Steuerberaterprüfung): „Welche Bestimmtheitsanforderungen im einzelnen erfüllt sein müssen, ist von den Besonderheiten des jeweiligen Sachbereichs sowie von Gewicht und Wirkung der zu regelnden Maßnahmen abhängig. Die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm muß der Grundrechtsrelevanz der Regelung entsprechen, zu der ermächtigt wird. Greift die Regelung erheblich in die Rechtsstellung

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

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ständnis von Artikel 80 GG, die Vorschrift wird vielmehr als materielle Aufgabenzuweisung an das Parlament gesehen. Dies schließt nicht aus, die drei dem Verfassungswortlaut zu entnehmenden Anknüpfungspunkte ebenfalls zur näheren Eingrenzung der erforderlichen „hinreichenden" Gesetzesbestimmtheit heranzuziehen, ihre Bedeutung wird allerdings durch die Abhängigkeit der gebotenen Normdichte vom jeweiligen Regelungsbereich relativiert. Inhalt, Zweck und Ausmaß werden so zwar nicht ausdrücklich, jedoch der Sache nach zu Hilfskriterien fur die Ermittlung des „Wesentlichen". 134 Auch das Bundesverwaltungsgericht scheint die Trennlinie der Rechtsetzungskompetenzen von Legislative und Exekutive im Kriterium des „Wesentlichen" zu sehen.135 Das Bundesverfassungsgericht verfährt somit auch bei der Ermächtigung zur exekutiven Rechtsetzung nach den Grundsätzen der Wesentlichkeitsrechtsprechung. 136 Dies geschieht zwar nicht immer ausdrücklich, dennoch zieht das des Betroffenen ein, so müssen höhere Anforderungen an den Bestimmtheitsgrad der Ermächtigung gestellt werden, als wenn es sich um einen Regelungsbereich handelt, der die Grundrechtsausübung weniger tangiert." Die anschließende Umsetzung dieser Leitlinie auf den konkreten Fall beginnt das Gericht mit den Worten: „Welcher Prüfungsstoff für die Steuerberaterprüfung in Betracht kommt, ist durch das Steuerberatergesetz in wesentlichen Konturen vorgegeben" (Hervorhebung vom Verfasser). 134 In diesem Sinne ist die gelegentlich auch weiterhin zu findende Untersuchung der „hinreichenden" Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß zu verstehen; vgl. die (allesamt nach Erlaß der grundlegenden Entscheidungen des 33. Bandes einzuordnenden) Nachweise in § 3, Fußnote 123, einerseits und in § 3, Fußnote 126, andererseits. 135 BVerwGE 47, 194 (197 ff., 199) fordert vom Gesetzgeber die Normierung der „wesentlichen Entscheidungen", merkt aber an: „Zur Ausfüllung des in den Grundzügen durch Gesetz zu regelnden Schulverhältnisses wird man auf - unter Umständen auch generalklauselartige - Ermächtigungen für den Erlaß von Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften nicht verzichten können." Wortgleich urteilt BVerwGE 47, 201 (203 ff.). Für einen Wesentlichkeitsvorbehalt bei ergänzendem Verordnungserlaß auch BVerwGE 57, 360 (362 ff.); E 65, 323 (325); E 68, 69 (72); 69, 162 (176). Daneben finden sich - vor allem im Schulrecht - gelegentlich Formulierungen, die eher auf einen bloßen Rechtssatzvorbehalt als auf einen förmlichen Gesetzesvorbehalt deuten, also eine Reduzierung der parlamentsgesetzlichen Regelungsdichte im Vergleich zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt nahelegen. So behält BVerwGE 56, 155 (157) zwar die „wesentlichen Entscheidungen" dem Gesetzgeber vor, billigt aber zugleich deren Regelung „in ihren Grundzügen durch Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Ermächtigung durch Rechtsverordnung". Da dies aus Rechtsstaats- und Demokratieprinzip hergeleitet und mit Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt belegt wird, läßt sich dennoch vermuten, daß auch nach Ansicht des Senates eine Vorgabe der wesentlichen Punkte im formellen Gesetz erforderlich sein, die Rechtsverordnung diese hingegen nur ergänzen und zur unmittelbaren Anwendung bringen soll. 136 Nach Nierhaus, in: Festschrift für Stem, S. 725, behandelt das Bundesverfassungsgericht Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG als „Unterfall" der Wesentlichkeitstheorie. 12 Seiler

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Gericht inhaltlich die gleichen Gesichtspunkte heran. Es ist eine Parallelität von allgemeinem Parlamentsvorbehalt und Artikel 80 Absatz 1 GG auszumachen137, wobei der Begriff des „Wesentlichen" hier wie dort als „heuristischer" 138, nicht als dogmatischer verstanden werden sollte. Inhalt, Zweck und Ausmaß stehen nicht im Mittelpunkt des Interesses, sondern werden nur unterstützend zur näheren Bestimmung des „Wesentlichen" herangezogen. Auffallend ist, daß nur gefragt wird, wie bestimmt eine Ermächtigung sein muß. Die verwandte Frage, ob ein Gesetz erforderlich ist, wird regelmäßig nicht gestellt. Erörtert wird mithin allein die umfangmäßige, nicht die gegenständliche Reichweite dieses speziellen Vorbehaltes. Lediglich einige frühe Entscheidungen wandten Artikel 80 GG ohne Begründung auf die an sich vorbehaltsfreie Leistungsverwaltung an, unterstellten also konkludent einen Totalvorbehalt gegenüber der exekutiven Rechtsetzung.139 Seit der Wesentlichkeitsrechtsprechung stand diese Frage nicht mehr zur Entscheidung, vermutlich weil die Rechtsverordnung in diesen Bereichen an Attraktivität verloren hat.140 Maßgeblich für die Verfassungsmäßigkeit einer Ermächtigung ist stets die Frage, inwieweit eine Auslegung des Gesetzes gelingen kann. Das in der Mehrzahl der Fälle entscheidende Auslegungskriterium ist der Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Das Gericht bevorzugt erkennbar die teleologische Auslegung, mit deren Hilfe es in den letzten Jahren den Regelungsgehalt fast 137

Siehe aus jüngerer Zeit BVerfGE 80, 1 (20) (Medizinerprüfung): „Nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG müssen Gesetze, die zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigen, Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung bestimmen. Der Gesetzgeber soll im Bereich der Grundrechtsausübung die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen..." BVerfGE 83, 130 (151) (J. Mutzenbacher) bemängelt, der parlamentarische Gesetzgeber habe „wesentliche Fragen ... nicht selbst geregelt, auch nicht durch eine den Anforderungen des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG genügende Verordnungsermächtigung". 138 Simon, in: Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages, Band 2, S. M 108. 139 BVerfGE 5, 71 (75 ff.) (Entschädigung Kriegsgefangener); E 19, 354 (361 ff.) (Lastenausgleich); E 22, 180 (214 ff.) (Jugendwohlfahrt) E 26, 16 (27 ff.) (Versorgung von Kriegsopfern) prüfen Artikel 80 GG, ohne zu fragen, ob diese Materien bei einzelfallbezogenem Handeln auch ohne Gesetz (nach Maßgabe von Richtlinien) hätten geregelt werden können. Auch bei BVerfGE 10, 20 (51 ff.) (Stiftung „Preußischer Kulturbesitz") ist fraglich, ob der allgemeine Gesetzesvorbehalt einschlägig wäre. 140 Bezeichnend ist BVerfGE 8, 155 (163 ff.). Das Gericht legte eine Ermächtigung zur Regelung von Verfahrensfragen der Leistungsverwaltung als Ermächtigung zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften aus. Dies sei unbedenklich, da auf diesem Gebiet kein Gesetzesvorbehalt greife, also keine an Artikel 80 GG zu messende Rechtsverordnung erforderlich sei. Abgesehen davon, daß im konkreten Fall eine nicht in Artikel 80 Absatz 1 Satz 1 GG genannte Stelle ermächtigt werden sollte, sich also die Frage einer Weiterdelegation gestellt hätte, zeigt die Entscheidung, die bereits eine Loslösung des Gesetzesvorbehaltes von der Eingriffsklausel andeutet (S. 167), die bisherige Praxis, einerseits in allen Bereichen eine Ermächtigung zum Verordnungserlaß zu fordern, andererseits dieses Ergebnis zu vermeiden, indem man eine Richtlinie wählt.

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

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jedes Delegationsgesetzes „hinreichend" bestimmen konnte141, was angesichts der weitreichenden gesetzlichen Durchnormierung aller Lebensbereiche nicht überrascht. 142 Formuliert der spezielle Parlamentsvorbehalt aus Artikel 80 Absatz 1 GG somit abstrakt gesprochen die gleichen Anforderungen an die gesetzliche Regelungsdichte wie der allgemeine förmliche Gesetzesvorbehalt, so läßt dies theoretisch dennoch Raum für eine flexible Handhabung im konkreten Fall, die den Inhalt des „Wesentlichen" verschieben und somit Unterschiede der Bindung von rechtsetzender und rechtsanwendender Exekutive hervorrufen kann.143 Ansätze für eine derartige Differenzierung bei der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes des „Wesentlichen" sind den hier analysierten Entscheidungen jedoch nicht zu entnehmen.

3. Das Schrifttum

zu Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG

Die wissenschaftliche Diskussion zu Artikel 80 GG wurde maßgeblich beeinflußt durch eine 1952/53 erschienene grundlegende Studie von Bernhard Wolff. 144 Diese erlangte ihre besondere Bedeutung für die Rechtsentwicklung nicht nur, weil sie zu den frühesten 145 Erörterungen der durch das Grundgesetz erstmals eingeführten, seinerzeit noch neuartigen Delegationsbeschränkung 141

Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 64, RN 18, faßt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht wie folgt zusammen: „Letztlich wirkt Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG lediglich als Sperre für Pauschalermächtigungen, die keinerlei weitere Eingrenzungen enthalten und sich damit als Blanko-Ermächtigungen erweisen." 142 Nachdem in den Vorjahren bereits kaum noch Ermächtigungen zu beanstanden waren, hatte sich das Gericht vom 92. bis zum 98. Band der amtlichen Entscheidungssammlung überhaupt nicht mehr mit Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG zu beschäftigen. Dies mag zum einen auf einen Bedeutungsverlust der Verordnung in der Rechtsetzungspraxis deuten, zum anderen Indiz dafür sein, daß die rechtsstaatlichen Gefahren der Gegenwart nicht von einer zu geringen Gesetzesdichte drohen. Das Augenmerk hat sich heute auf die Problematik der Übernormierung zu richten. 143 Dies kann am Beispiel des Satzungsrechts erläutert werden. Obwohl Artikel 80 GG dort nicht anwendbar ist, fordert das Bundesverfassungsgericht dennoch eine Normierung der „wesentlichen" Fragen im förmlichen Gesetz, wobei der dem Satzungsgeber eingeräumte Entscheidungsspielraum angesichts der ihm zur Wahrnehmung eigener Aufgaben eingeräumten Eigenständigkeit tendenziell großzügiger bemessen sein darf als der eines Verordnungsgebers. Vgl. BVerfGE 33, 125 (157 ff.) (Facharzt); E 57, 295 (320 ff.) (Rundfunk); ähnlich BVerfGE 97, 332 (343 f.) (Kindergartengebühr). 144 Wolff, Bernhard, AöR 78 (1952/53), S. 194 ff. 145 Bereits 1951 erschien Klein, Friedrich, Grenzen gesetzlicher Ermächtigungen zum Erlaß steuerlicher Rechtsverordnungen.

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zählte, sondern auch durch die Mitwirkung des damaligen Bundesverfassungsrichters Wolff an den in jenen frühen Jahren vom höchsten deutschen Gericht vorgenommenen Weichenstellungen.146 In dieser Abhandlung finden sich teilweise wortwörtlich die gleichen Formulierungen wie in den bis zur Wesentlichkeitsrechtsprechung und zum Teil auch danach ergangenen Entscheidungen des Gerichts.147 Wolff unterschied die Rechtsverordnungen ganz in Weimarer Tradition nach ihrem Verhältnis zum formellen Gesetz.148 Keinesfalls zulässig sei die Ermächtigung, ein ganzes Gebiet zu regeln.149 Grundsätzlich möglich seien hingegen Verordnungen, die Gesetze ändern oder ergänzen, soweit sie auf einer nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmten Ermächtigungsgrundlage beruhen.150 Genau genommen ändere der Verordnungsgeber in diesem Fall das Gesetz gar nicht, dies habe „das ermächtigende Gesetz selbst bereits getan" und hierdurch seine „formelle Gesetzeskraft zerstört". 151 Keine Folgerungen für die Auslegung des Artikel 80 Absatz 1 GG könnten dem nur für vorkonstitutionelle Ermächtigungen geltenden Artikel 129 Absatz 3 GG entnommen werden.152 Wolff definierte den Rechtssatzbegriff nicht, setzte aber einen Unterschied von Rechtsnormen enthaltender (materieller) Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift voraus, da es nicht erforderlich sei, daß die Rechtsverordnung als solche bezeichnet werde. So sei es denkbar, „daß ein Gesetz zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt, während es sich in Wahrheit um Verwaltungsvorschriften handelt, oder umgekehrt, daß ein Gesetz zu Verwaltungsvorschriften ermächtigt, obwohl das zu Regelnde nur Gegenstand einer Rechtsverordnung sein könnte".153 Wolff differenzierte beide Regelungsformen offensichtlich nicht allein nach ihrer Geltungswirkung nur im Innen- oder auch im Außenverhältnis, sondern ging von unterschiedlichen materiellen Regelungsgehalten aus. Dies läßt vermuten, daß auch hier noch der spätkonstitutionelle Rechtssatzbegriff die Trennlinie von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift bildete, wobei eine Ermächtigung nach Artikel 80 Absatz 1 GG nur für Rechtsverordnungen gefordert wurde. 154 146

Dieser Zusammenhang wird von Hasskarl, AöR 94 (1969), S. 85 (102 f.), betont. Vgl. die bei den oben zitierten Urteilen jeweils hervorgehobenen Verweise auf den Beitrag Wolff\s; auch im übrigen entschied das Gericht inhaltlich zumeist übereinstimmend. 148 Wolff, ; AöR 78 (1952/53), S. 194 (200 ff.). 149 Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 194 (202 f.). 150 Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 194 (203). 151 Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 194 (201). 152 Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 194 (209 ff.). 153 Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 194 (218 f.). 154 Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 194 (219). 147

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

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Die Abhandlung Wolffs prägte die Deutung des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG in der Frühphase des Bonner Grundgesetzes, die noch stark unter dem begrifflichen Einfluß der Weimarer Zeit stand, zeitigte aber über die Standardformeln des Bundesverfassungsgerichts, nach denen Artikel 80 GG „mehr als eine bloße Formvorschrift" 155 sein soll und auf die sich noch heute zahlreiche Literaturmeinungen berufen, zugleich Auswirkungen bis in die Gegenwart. In der Folgezeit kam es zu der unter Geltung des Grundgesetzes erforderlichen Neubestimmung des Vorbehaltsgedankens. Zeitgleich zur Entwicklung beim allgemeinen Gesetzesvorbehalt156 fanden sich Stimmen, die noch über die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts hinausgehende Anforderungen aufstellten und die besondere Verantwortung des Delegationsgesetzgebers betonten. Beispielsweise wurde die vom Bundesverfassungsgericht zugelassene Bestimmung einer Ermächtigungsnorm im Wege der Auslegung des ganzen Gesetzes, zu deren Ergänzung auch durch Verweis einbezogene andere Normen herangezogen werden, kritisiert und verlangt, die Vorschrift müsse fur sich betrachtet diesen Anforderungen genügen.157 Ganz einhellig vertreten, allerdings kaum begründet, wird heute die Ansicht, Artikel 80 GG gelte für alle Arten von Rechtsverordnungen, wobei nicht unterschieden wird zwischen dem Gesetzgeber allgemein vorbehaltenen und vorbehaltsfreien Bereichen.158 Die Frage, ob die Verwaltung bei einer einzelfallbezogenen Entscheidung derselben Angelegenheit einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfte, wird also überhaupt nicht nicht gestellt. Im übrigen war das Bundesverfassungsgericht ebenso wie beim allgemeinen Gesetzesvorbehalt Vorreiter der weiteren Entwicklung. Die Diskussion im Schrifttum wurde angeregt durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung, die eine Einebnung der Unterschiede von allgemeinem Parlamentsvorbehalt und Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG mit sich brachte. Die Reaktionen auf diese 155

Wolff, AöR 78 (1952/53), S. 194 (196). Siehe oben § 2 II. 3.). 157 Wilke, AöR 98 (1973), S. 196 (230). 158 Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG ist nach bislang wohl unbestrittener Ansicht auf alle Rechtsverordnungen anzuwenden, auch auf jene außerhalb des Vorbehaltsbereichs. Vgl. (neben den Anhängern eines Totalvorbehaltes) nur Bryde, in: von Münch / Kunig, Band 3, Artikel 80 GG, RN 3; von Danwitz, S. 86 f.; Geitmann, S. 87; Hermes, S. 126 ff.; Lücke, in: Sachs, Grundgesetz, Artikel 80 GG, RN 5; Nierhaus, in: Festschrift fur Stem, S. 728; Ossenbühl, DVB1. 1999, S. 1 (6); Ramsauer, in: Alternativkommentar, Band 2, Artikel 80 GG, RN 18; Selmer, JuS 1968, S. 489 (494 f.) (alle ohne Begründung); Kloepfer, JZ 1984, S. 685 (693) (Artikel 80 GG knüpfe an die Form, nicht an den Inhalt an); Stern, Staatsrecht, Band I, S. 815 ff. (Artikel 80 GG sei unabhängig vom Inhalt der Verordnung anwendbar, da das Gewaltenteilungsprinzip durchbrochen werde); Busch, S. 138 ff. (Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG und der Parlamentsvorbehalt seien „wesensverschieden"). 156

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

verfassungsgerichtliche Judikatur können verallgemeinernd gesprochen in zwei große Gruppen eingeteilt werden, jene, die von einem einheitlichen, aber jeweils regelungsabhängigen Delegationserfordernis ausgehen159, und solche, die zwischen Artikel 80 GG und dem Parlamentsvorbehalt unterscheiden160. Diejenigen Stimmen, die ein einheitliches Erfordernis formlich gesetzlicher Regelung annehmen, ziehen überwiegend ebenfalls das Wesentlichkeitskriterium als Trennlinie von Gesetz und Verordnung heran.161 Sollen hiernach Artikel 80 Absatz 1 GG als „positivrechtliche Feststellung" des Parlamentsvorbehaltes und die Wesentlichkeitstheorie „im wesentlichen auf das gleiche hinauslaufen" 162, so ist die nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG jeweils zu fordernde Bestimmtheit einer Ermächtigung aus dessen Funktion im Verfassungsgefüge abzuleiten, was einen von der jeweiligen Materie abhängigen Grad der inhaltlichen Genauigkeit bedingt.163 Artikel 80 GG zeigt sich so als materielle Zuweisung von Verantwortlichkeiten. Einen einheitlichen Maßstab an gesetzliche Delegationen legt auch jener Ansatz an, der Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG als eine „Ausprägung" des Parlamentsvorbehaltes ansieht, die diesen „verdränge", zur Wahrung der Entlastungsfunktion der Rechtsverordnung aber nur eine unterhalb der Schwelle des „Wesentlichen" liegende Regelungsdichte fordere. 164 Daneben wird erwogen, die Grenzen der Verordnungsgewalt allein aus Artikel 80 GG zu gewinnen.165 Manche Autoren lehnen den einheitlichen Vorbehalt gegenüber der rechtsetzenden Exekutive sowie die Gleichsetzung von Parlamentsvorbehalt und Artikel 80 GG mit teilweise unterschiedlicher Argumentation ab, da es sich bei diesen um zwei kumulativ zu beachtende Anforderungen an gesetzliche Dele159

Dies nennen manche die „Identitätstheorie". Vgl. Nierhaus, in: Festschrift für Stem, S. 725 f. 160 Gelegentlich wird dies als ^liud-Theorie" bezeichnet. Vgl. Nierhaus, in: Festschrift für Stem, S. 726 ff. 161 Zustimmend Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 393 ff.; Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 29; Osterloh, Gesetzesbindung, S. 113 ff; vergleichbar Bryde, in: von Münch / Kunig,, Artikel 80 GG, RN 20 ff. (21) (allerdings seien die Entscheidungen des BVerfG „schlechterdings nicht vorhersehbar", RN 23); zuvor bereits ähnlich Starck, Gesetzesbegriff, S. 172 f., 288 ff.; Geitmann, S. 65 ff.; siehe auch von Danwitz, S. 86 ff. (die gegenwärtige Praxis der Bestimmtheitsprüfung sei jedoch „zu niedrig angesiedelt"). 162 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 393. 163 Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 57; Bryde, in: von Münch / Kunig, Artikel 80 GG, RN 21: Entscheidung „von Fall zu Fall"; ähnlich von Danwitz, S. 104 f. 164 Busch, S. 124 ff. (132 f.). 165 Wilke, JZ 1982, S. 758 (759 f.); demnach müßte man wohl in erster Linie auf die herkömmlichen Standardformeln des Gerichtes zurückgreifen.

II. Der gegenwärtige Stand der Diskussion

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gationen handele.166 Dem liegt teils ausdrücklich167, teils unausgesprochen ein auf die Form, nicht auf den Inhalt staatlichen Handelns bezogenes Verständnis von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG zugrunde, das stillschweigend unterschiedliche Anwendungsbereiche beider Rechtsinstitute voraussetzt. Artikel 80 GG greife einerseits weiter als der Parlamentsvorbehalt, da er thematisch nicht begrenzt sei, andererseits seien seine Aussagen aber auch insofern enger, als er dem Parlament nicht bestimmte Sachfragen vorbehalte.168 Dies fuhrt zu einer zweistufigen Prüfung jeder Ermächtigungsgrundlage. Zunächst sei auf der Ebene des Parlamentsvorbehaltes zu fragen, „ob" eine sachliche Entscheidung des Gesetzgebers gefordert sei oder eine Übertragung derselben zugelassen werden könne.169 Sobald eine Delegation auf dieser Stufe gestattet werden könne, müsse anhand von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG geprüft werden, „wie" diese auszusehen habe.170 Dies versteht Artikel 80 GG als eine rein formale Vorschrift, die unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Regelung zu beachten ist, ein Gedanke, der in Übereinstimmung mit der Anwendung von Artikel 80 GG im vorbehaltsfreien Bereich steht, bei Wegfall dieser Prämisse, aber nur noch schwerlich zu erklären wäre. Weitgehende Übereinstimmimg besteht heute allerdings darüber, daß „Inhalt", „Zweck" und „Ausmaß" keine isoliert nachprüfbaren Anforderungen an die Bestimmtheit aufstellen. 171 Die Regelungsdichte einer Verordnungs166

Vor allem Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 67 ff. (71 ff.), unterscheidet zwischen einem Gebot parlamentarischer Sachentscheidung und einem (formal zu verstehenden) Bestimmtheitsgebot aus Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG. Ähnlich Kloepfer, JZ 1984, S. 685 (692 f.), der Artikel 80 GG nicht als Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes ansieht, sondern vertritt, der Anwendungsbereich von Artikel 80 GG werde durch im Grundgesetz enthaltene Vorbehalte desförmlichen Gesetzes eingeengt. Lücke, in: Sachs, Artikel 80 GG, RN 19 ff., entnimmt dem Parlamentsvorbehalt eine logisch vorrangige „Delegationssperre", um dann einen aus Inhalt, Zweck und Ausmaß gebildeten, von der jeweiligen „Wesentlichkeit" abhängigen „Delegationsfilter" anzuwenden. Ähnlich Staupe, S. 142 ff. (gegen eine „Identitätsthese"). Zwei wesensverschiedene Prinzipien sehen ferner Eberle , DÖV 1984, S. 485 (487), Ehmke, S. 77; Hermes, S. 126 ff.; vgl. aus dem älteren Schrifttum Lerche, DVB1. 1958, S. 524 (530). 167 Eberle , DÖV 1984, S. 485 (487); Kloepfer, JZ 1984, S. 685 (693). 168 So sinngemäß Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 71 ff., zum Beispiel des Steuerrechts; Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG hindere den Gesetzgeber nicht, die Steuerbelastung in das Ermessen der Verwaltung zu stellen, sofern die Ermächtigung nur bestimmt genug ist. Verbieten könne dies allein ein „zwingend förmlicher Gesetzesvorbehalt". Diesen Unterschied habe das Bundesverfassungsgericht (noch vor der Wesentlichkeitsrechtsprechung) „nicht klar erkannt". 169 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 72 f.; Staupe, S. 144. 170 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 73 f.; Staupe, S. 144. 171 Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 55; Magiera, Der Staat 13 (1974), S. 1 (23) spricht von der Schrankentrias als einem „einheitlichen Komplex" und schlägt vor, sie zu streichen. Geitmann, S. 114 ff., betont zutreffend, daß diese

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

ermächtigung kann vielmehr nur einheitlich beurteilt werden, wobei die drei von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG genannten Kriterien unterstützend heranzuziehen sind. Die Argumentationsweise zahlreicher Beiträge zeigt zwei Gemeinsamkeiten. Zum einen richten sich die meisten Abhandlungen sehr stark an der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und den von ihr geprägten Formeln aus.172 Da diese die dogmatischen Grundstrukturen ihrer Urteile wegen ihres Auftrages zur Entscheidung konkreter Fälle nicht immer aufzudecken hat, bewirkt ein solches Vorgehen, daß die Funktion des Artikel 80 Absatz 1 GG und damit auch der rechtsetzenden Exekutive nicht stets den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Erörterung bildet.173 Zum anderen ist die bisherige Diskussion auf die Frage der Delegationsbeschränkung zugeschnitten, ein Umstand, der seine Ursache wohl in der nur historisch zu verstehenden Formulierung von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG findet. Die an sich vorausgelagerte Betrachtung der Rechtsnatur der Rechtsverordnung sowie ihres Verhältnisses zum formellen Gesetz und auch zur Verwaltungsvorschrift als verwandter Handlungsform der Exekutive tritt hingegen in den Hintergrund. Insbesondere mangelt es soweit ersichtlich noch immer an einer grundlegenden Untersuchung der Auswirkungen des veränderten Rechtssatzbegriffes auf das Verständnis der Rechtsverordnung und als Folge dessen auf Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG.174 Formel nur bei einem formalen Verständnis von Artikel 80 GG eigenständige Bedeutung haben kann. 172 Cremer, AöR 122 (1997), S. 248 (249), sieht hierin die Ursache vieler Unklarheiten. Für Nierhaus, in: Festschrift fur Stem, S. 725, sind die von ihm genannten Literaturmeinungen „sämtlich nur zu begreifen als Reaktion auf die (unbefriedigende) Rechtsprechung des BVerfG". 173 So bewertet Cremer, AöR 122 (1997), S. 248 (255 ff.), formale Gesichtspunkte wie den Prüfungsaufbau zu hoch und gelangt gerade dadurch zu seinem Urteil, die Rechtsprechung enthalte dogmatische Unstimmigkeiten. Vor allem seine Frage, ob das Bundesverfassungsgericht eine ein- oder zweistufige Prüfung („ob" und „wie" einer Delegation) bevorzugt, geht fehl, da die Rechtsprechung beide Fragen der Sache nach auch bei zweistufiger Anordnung verbindet und die von ihm zitierten Entscheidungen wegen der Untrennbarkeit beider Fragen (oben § 1 IV.) auch bei jeweils anderem Aufbau zum gleichen Ergebnis gekommen wären. 174 Ansatzweise behandelt dies neuerdings Busch, S. 80 ff, der die Unterscheidung von Innen- und Außenverhältnis als Trennlinie von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift kritisiert und vertritt, erstere könne auch im reinen Innen-, letztere im Außenverhältnis ergehen. Ausdrücklich keine Folgerungen zieht er aus der Entstehungsgeschichte von Artikel 80 GG (S. 106). Auch definiert er die Rechtsverordnung nicht mehr über das Vorliegen eines materiellen Gesetzes, sondern allein nach Form und Verfahren ihres Erlasses (S. 102 ff), Voraussetzung der auf den Funktionsbereich des Gesetzgebers beschränkten Rechtsverordnung sei ihre erkennbare Ableitung vom Gesetz (S. 111). Als Folge dessen vernachlässigt er, daß sich der zulässige Inhalt der Rechtsverordnung seit der Lösung vom historisch-konventionellen Rechtssatzbegriff

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

185

Bislang wurden diese Gesichtspunkte vorwiegend im Zusammenhang der Verwaltungsvorschrift erörtert, was wohl durch die grundlegende Neubewertung des besonderen Gewaltverhältnisses als deren Hauptanwendungsbereich angeregt worden sein dürfte. Besonders weit in diese Richtung ist (neben anderen 175) Ossenbühl gegangen, der zum einen für eine restriktive Handhabung von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG eintritt 176, zum anderen der Exekutive die Befugnis zur autonomen Rechtsetzung ohne gesetzliche Ermächtigung für solche Bereiche, die nicht dem Kriterium der Wesentlichkeit unterfallen, zubilligt. 177 „Damit ist der Weg frei zur Begründung eines aus der Verwaltungsfunktion resultierenden unmittelbaren administrativen Verordnungsrechts." 178 Da er diese von der Verwaltung in eigener Zuständigkeit gesetzten Rechtsregeln begrifflich nicht den Rechtsverordnungen, sondern den Verwaltungsvorschriften zuordnet, denen im Einzelfall unmittelbare Außenwirkung zukommen könne, soll dieser Ansatz jedoch erst im Rahmen eines Vergleichs der beiden verwandten Handlungsformen exekutiver Regelbildung untersucht werden.

III. Das Verhältnis von allgemeinem Parlamentsvorbehalt und exekutiver Rechtsetzung Voraussetzungen und Reichweite der exekutiven Rechtsetzungsbefugnisse lassen sich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Zunächst liegt es nahe, Funktion und Anforderungen von Artikel 80 GG isoliert, das heißt ungeachtet seiner Einordnung in das Verfassungsganze zu erörtern, ein Ansatz der ausschließlich auf das Verhältnis von Parlamentsgesetz und Rechtsverordnung (1.) abzielt. Alsdann drängt sich ein Vergleich zur zweiten Form exekutiver abstrakt-genereller Regelbildung179, der Verwaltungsvorschrift (2.), auf. Schließ-

geändert hat und nun jenem der Verwaltungsvorschrift entspricht. Die Ergebnisse Büschs ähneln denen Ossenbühls, der diese Frage zuvor aus der Perspektive der Verwaltungsvorschrift erörtert hat. 175 Vor allem Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 391 ff. 176 Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof,\ HStR, Band III, § 64, RN 17 ff. 177 Grundlegend Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz; derselbe, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 65. 178 Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 65, RN 12. 179 Unberücksichtigt bleiben soll der Satzungserlaß als weitere Form exekutiver Regelungsgewalt. Dies hat zwei Gründe. Zum einen wird die Zulässigkeit der Satzung als autonome Rechtsetzung selbständiger Verwaltungsträger durch den von den jeweiligen Selbstverwaltungsaufgaben abhängigen Umfang der Satzungsautonomie bestimmt, was eine Verallgemeinerung mit Blick auf andere Formen exekutiver Normierung erschwert. Zum anderen hängt das Verständnis der Rechtsverordnung angesichts der Entwicklung

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

lieh werden die so gewonnenen Ergebnisse in das gesamte Verfassungsgefuge einzubetten sein (3.), wobei schwerpunktmäßig auf die den einzelnen Teilgewalten von Verfassungs wegen zugewiesenen Funktionsbereiche und die zu ihrer Wahrnehmung erforderlichen Handlungsmittel abzustellen sein wird.

7. Das Verhältnis von Gesetz und Rechtsverordnung Ausgangspunkt dieser Abhandlung war die These, Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG sei eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Vorbehaltsprinzips. 180 Diese Behauptung wurde auf den weitgehend übereinstimmenden Regelungsgehalt von Delegationsbeschränkung und allgemeinem Vorbehaltsgedanken gestützt. Beide Prinzipien beherrschen das Verhältnis der Aufgaben von Legislative und Exekutive und weisen hierbei jeweils dem Parlament die Hauptverantwortung zu, beide ordnen das Verhältnis von Staat und Bürger und beide regeln schließlich sowohl, ob ein Gesetz erforderlich ist, als auch, wie bestimmt dies sein muß. Lediglich hinsichtlich des Adressaten des geforderten formellen Gesetzes unterscheiden sich beide Spielarten des Parlamentsvorbehaltes. Der allgemeine Vorbehaltsgrundsatz hat die rechtsanwendende Verwaltung vor Augen, Artikel 80 Absatz 1 GG wendet sich hingegen an die gerade rechtsetzend tätige Exekutive. Als Folge dieser Grundannahme kann das Erfordernis einer formlichen Ermächtigung zum Verordnungserlaß ebenso wie der Vorbehalt gegenüber der rechtsanwendenden Behörde kein Selbstzweck der Verfassung sein, sondern nur der Absicherung anderer Aussagen des Grundgesetzes dienen. Artikel 80 GG ist also funktional zu verstehen, er unterstützt in erster Linie, aber nicht nur, Rechtsstaats- und Demokratieprinzip sowie die Grundrechte. 181 Ein Parlamentsvorbehalt, der nicht durch andere Verfassungsprinzipien gefordert wird, sondern allein um seiner selbst willen besteht, wäre eine „leere Förmelei", die bei methodischer Einordnung eher in ein streng positivistisches, das heißt vor allem auch formales Staatsrecht denn in ein von materiellen Vorgaben geprägtes Verfassungssystem wie das des Grundgesetzes passen würde. Es stellt sich daher ebenso wie beim allgemeinen Vorbehalt die Frage, inwieweit die einschlägigen Verfassungsaussagen eine parlamentsgesetzliche Delegation verlangen, sowie die Folgefrage, welche staatliche Stelle hierüber des Rechtssatzbegriffs von ihrem dogmatischen Gegenstück, der Verwaltungsvorschrifl, ab. Eine solche Beziehung zur Satzung besteht nicht. 180 Siehe oben § 1 IV. 181 Vgl. Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 24.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

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letztverbindlich zu befinden hat. Angeleitet durch die geschilderte Ausgangsthese, zugleich aber auch zu deren Überprüfung, soll zur Beantwortung dieser Fragen ein Vergleich beider Ausprägungen des Parlamentsvorbehaltes angestellt werden.

a) Vergleich des nach Artikel 80 Absatz 1 GG und nach allgemeinem Parlamentsvorbehalt gebotenen Regelungsinhaltes Ein Vergleich des jeweils gebotenen Inhaltes des Parlamentsgesetzes182 muß die beiden vom Vorbehaltsgrundsatz umfaßten, untrennbar miteinander verbundenen Erscheinungsformen gesetzlicher Regelungsdichte beachten, das heißt die Frage, „ob" ein Gesetz erforderlich ist, und jene, „wie bestimmt" ein solches sein müßte.183 Da sich das nach Artikel 80 Absatz 1 Satz2GG gebotene Maß der Normdichte gegenüber dem allgemeinen Parlamentsvorbehalt sowohl verstärken als auch abschwächen könnte, ergeben sich vier Vergleichsfragen, deren Beantwortung durch eine vorwiegend an seiner Funktion orientierte Auslegung184 des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG Aufschluß über dessen Rechtsnatur geben könnte. So wäre denkbar, daß Artikel 80 Absatz 1 GG in Bereichen, die thematisch grundsätzlich dem Wesentlichkeitsvorbehalt unterfallen, jedes Delegationsrecht ausschließt (1). Umgekehrt fragt es sich, ob Artikel 80 GG auch für „unwesentliche" Themengebiete gilt (2). Hiernach ist zu prüfen, ob Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG, soweit er anwendbar ist, die aus 182 Besagter Vergleich muß sich auf der Grundlage des bisher Gesagten am höchst unbestimmten, nicht streng dogmatisch, sondern eher beschreibend zu deutenden Kriterium des „Wesentlichen" ausrichten. Auch wenn dieser Begriff regelungsbereichsspezifisch aufzufüllen und im konkreten Fall unterschiedlich zu verstehen ist, erscheint es möglich, ihn an dieser Stelle als abstrakte Kategorie zu verwenden, wissend, daß hinsichtlich der Folgerungen hieraus Rücksicht auf seinen besonderen Charakter zu nehmen ist. 183 Die hiermit unterstellte Trennung von gegenständlichen und umfangmäßigen Aussagen des Parlamentsvorbehaltes ist eine rein theoretische. Praktisch brauchbar werden die so gewonnenen Erkenntnisse nur, falls beide Fragen zum gleichen Ergebnis fuhren sollten. 184 Die Ergebnisse einer solchen Interpretation werden beeinflußt durch die angewandte Methodik, deren Auswahl es aufzudecken gilt. Ausgangspunkt sei die von Böckenförde, NJW 1976, S. 2089 (2090 f.), als klassisch-hermeneutisch bezeichnete Methode der Verfassungsauslegung. Deren Hauptproblem, der Offenheit des Verfassungsgesetzes als einer bloßen Rahmenordnung (S. 2091), soll durch den nachfolgenden Versuch der Einordnung des Verordnungsrechts in die übrige Verfassungsordnung begegnet werden. Soweit auch dies keine Klärung liefert, ist der Offenheit der Verfassung durch eine nur begrenzte Justitiabilität gesetzlicher Entscheidungen, mithin durch einen legislativen Gestaltungsspielraum, Rechnung zu tragen.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

dem allgemeinen Vorbehalt folgenden Bestimmtheitsanforderungen einschränkt (3) oder verschärft (4).

(1) Verbietet Artikel 80 Absatz 1 GG Delegationen in „ wesentlichen " Bereichen? Zuerst sei gefragt, ob auf einer formlichen Delegation beruhende abstraktgenerelle Detailregelungen der Exekutive in Bereichen zulässig sind, die ihrer Thematik nach als an sich „wesentlich" eingestuft werden können, oder ob diese allein vom Parlament zu regeln sind. Im zweiten Fall wäre jedes Delegationsrecht ausgeschlossen, die Exekutive wäre nur zur Rechtsanwendung befugt. Die Rechtsverordnung bliebe auf „unwesentliche" Gebiete verwiesen. Dies entspräche einer Erstreckung des von Papier185 zum Steuerrecht entwickelten „zwingend formlichen Gesetzesvorbehaltes" auf alle „wesentlichen" Rechtsmaterien. Jede Auslegung von Artikel 80 GG hat mit dessen Wortlaut zu beginnen, der aber keinen Anlaß zu einer an thematischen Gesichtspunkten orientierten generellen Einschränkung des Delegationsrechts gibt. Auch nach Sinn und Zweck der exekutiven Rechtsetzung scheidet eine allgemeine gegenständliche Begrenzung der Rechtsverordnung aus. Die Regelung von Einzelheiten durch Verordnungserlaß bewirkt die gerade aus Gründen des Demokratieprinzips gebotene Entlastung des Parlaments von einer öffentlichen Diskussion unzugänglichen Details. Zudem gewährleistet die Überlassung von Randfragen an die Exekutive bei grundsätzlicher Konstanz im Allgemeinen eine flexiblere Anpassung des Rechts an veränderte Rahmenbedingungen, da die Verordnung leichter zu ändern ist. Die systematische Stellung von Artikel 80 GG im Abschnitt über die Gesetzgebung bekräftigt, daß die Rechtsverordnung kein nur ausnahmsweise zulässiges Instrument der Rechtsetzung sein soll. Artikel 82 Absatz 1 Satz 2 GG nennt sie unmittelbar nach dem formellen Gesetz und weist so auf ihre nicht unerhebliche Bedeutung. Die ähnliche Ausgestaltung von Ausfertigung, Verkündung und Inkrafttreten von Gesetz und Rechtsverordnung in Artikel 82 GG anerkennt letztere als zwar rangniedrigere, jedoch vollwertige Rechtsquelle. Außerdem erwähnen Artikel 80 Absatz 2, 109 Absatz 4 Satz 2, 115k und 119 GG, die allesamt wichtige Fragestellungen betreffen, die Rechtsverordnung. Einzelne Grundrechte gestatten schließlich Beschränkungen „auf Grund eines Gesetzes" (Artikel 19 Absatz 1 Satz 1 GG), also durch bloß materielle Gesetze. Diesem Befund widerspräche es, die Ver185

Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 93 ff.; vgl. § 2 IV. 2.)a) sowie § 4 II., § 4 IV. 3.)c)(2).

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1 8

Ordnung gegenständlich auf den durch den weiten Wesentlichkeitsgedanken stark eingeengten Bereich „unwesentlicher" Themen zu beschränken. Auch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt dies. Ein derart weitreichender Ausschluß des Verordnungsrechts wurde zu keinem Zeitpunkt erwogen. Im Gegenteil, die Rechtsverordnung war als Folge des überkommenen Rechtssatzbegriffs gerade auf die Ergänzung des formellen Gesetzesrechts im Rahmen der Eingriffsverwaltung zugeschnitten. „Unwesentliche" Einzelheiten an sich „wesentlicher" Materien bleiben demnach einer ergänzenden Regelung im Verordnungswege zugänglich, ein genereller „zwingend förmlicher Gesetzesvorbehalt" ist abzulehnen.

(2) Gilt Artikel 80 Absatz 1 GG auch in „ unwesentlichen " Bereichen? Schwieriger gestaltet sich die Beantwortung der umgekehrten Frage nach dem Erfordernis einer dem Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG genügenden Ermächtigung »jenseits" des allgemeinen Vorbehaltsprinzips. Anders gesagt stellt sich die Frage nach dem „selbständigen Verordnungsrecht" der Exekutive in „unwesentlichen" Themenbereichen. Lehnt man wie hier einen „Totalvorbehalt" ab, so betrifft dies vor allem das Gebiet der Leistungsverwaltung, aber auch weite Teile des Verwaltungsverfahrensrechts wie der Behördenorganisation. Da der Vorbehaltsgedanke insoweit kein Gesetz verlangt, ist zu fragen, ob Artikel 80 GG ein solches weitergehendes Gebot allein wegen der rechtsetzenden Tätigkeit der Exekutive begründet. In diesem Fall wäre Artikel 80 GG keine bloße Ausprägung des allgemeinen Vorbehaltsprinzips, sondern ein eigener neben diesem stehender Verfassungsgrundsatz. 186 Die These vom einheitlichen Parlamentsvorbehalt wäre widerlegt. Der Wortlaut von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG läßt keine gegenständliche Differenzierung erahnen. Dies bedeutet allerdings nicht zwingend, daß jede exekutive Außenrechtsetzung eine Delegation voraussetzt. Satz 1 der Vorschrift, auf den sich Satz 2 bezieht („dabei"), besagt, daß bestimmte Stellen der Exekutive ermächtigt werden können, nicht daß sie stets berechtigt werden müssen. Die systematische Stellung von Artikel 80 GG verhilft ebenfalls nicht zu eindeutigen Erkenntnissen, da die soeben bemerkte Bedeutung der Verordnung im Rechtsquellensystem des Grundgesetzes keine Schlüsse auf den Umfang ihrer Abhängigkeit vom Gesetz als höherrangiger Rechtsquelle erlaubt. Somit muß der Sinn und Zweck von Artikel 80 Absatz 1 GG maßgeblich sein, der ebenso wie beim allgemeinen Parlamentsvorbehalt nicht darin liegen kann, 186

Vgl. die entsprechenden Stimmen im Schrifttum oben § 3 II. 3.).

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

ein formales Gebot um seiner selbst willen aufzustellen. Hier wie dort können nur die abzusichernden Verfassungsprinzipien ein Parlamentsgesetz erzwingen. Artikel 80 Absatz 1 GG ist in erster Linie am Demokratieprinzip zu messen.187 Da Parlamentsgesetz und Rechtsverordnung im Regelfall beide ein materielles Gesetz zum Inhalt haben, unterscheiden sie sich vor allem hinsichtlich ihres Normurhebers, der unmittelbar demokratisch legitimierten Volksvertretung oder der nur mittelbar legitimierten Exekutive. Der gleiche Unterschied besteht beim allgemeinen Parlamentsvorbehalt. Beide Vorbehalte sollten deshalb die für und wider ein formliches Gesetz sprechenden Aussagen des Demokratieprinzips berücksichtigen. Aus diesem Grunde anerkennt Artikel 80 Absatz 1 GG einerseits mit der Delegation nach Satz 1 die Entlastung des parlamentarischen Gesetzgebers durch exekutive Rechtsetzung als verfassungsmäßig vorausgesetzten Zweck. Andererseits soll Satz 2 verhindern, daß sich das Parlament durch Blankoübertragungen seiner Verantwortung entledigt.188 Diese Funktionen blieben auch im Falle eines „selbständigen Verordnungsrechts" im hiesigen Sinne gewahrt. Zum einen wäre das erste Anliegen von Artikel 80 Absatz 1 GG, die Entlastung des Parlaments, in mindestens gleichem, eher noch weitgehenderem Maße gesichert. Zum anderen kann das Parlament sich seiner Verantwortung dort nicht entziehen, wo es nicht verantwortlich ist. In thematisch „unwesentlichen" Bereichen besteht nur eine Regelungsbefugnis des Gesetzgebers, keine entsprechende Verpflichtung. Ein gegenständlicher Unterschied der parlamentarischen Verantwortung je nach rechtsetzender oder rechtsanwendender Tätigkeit der Verwaltung kann nicht ausgemacht werden. Die Wahrung der Funktion des demokratischen Gesetzgebers gibt keinen Anlaß, die Exekutive beim Erlaß von Rechtsverordnungen zu disziplinieren, wenn sie die gleiche Rechtsmaterie ebenso gänzlich ohne gesetzliche Grundlage auf Verwaltungsebene handhaben dürfte. Zudem beruht das rechtsanwendende Handeln unterer Verwaltungsbehörden auf einer mehrgliedrigen Legitimationskette. Verordnungen werden indessen von der Verwaltungsspitze erlassen, deren demokratische Legitimation nur zweifach, durch Parlaments- und Regierungswahl, vermittelt wird und die der Volksvertretung unmittelbar verantwortlich ist. Alle zur demokratischen Legitimation der Exekutive als solcher gemachten Aussagen gelten deshalb erst recht für die Exekutivspitze. Wohlgemerkt, das gesetzgeberische Zugriffsrecht, das es dem Parlament erlaubt, vermittels des Vorranges des Gesetzes von ihm abgelehnte Rechtsverordnungen durch eine „überholende Gesetzgebung" außer Kraft zu setzen, bliebe auch bei einem solchen Verständnis unberührt. 187

So zutreffend Quaritsch, Das parlamentslose Parlamentsgesetz, S. 7 ff. Diesen Zweck des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung. Vgl. nur BVerfGE 1, 14 (60); E 23, 62 (73); E 41, 251 (265 f.); E 55, 207 (225 f.); E 58, 257 (277); E 78, 249 (272). 188

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

Das Rechtsstaatsprinzip fordert ebenfalls nicht, „unwesentliche" Angelegenheiten formlich zu normieren. Die für eine abstrakt-generelle Regelung sprechenden Gesichtspunkte der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und des effektiven Rechtsschutzes werden durch eine Verordnung in gleichem Maße gewahrt wie durch ein formelles Gesetz. Außerdem haben diese Grundsätze in den hier behandelten Bereichen nur geringere Aussagekraft, weshalb ein Totalvorbehalt für die Leistungsverwaltung sowie ein umfassender Gesetzesvorbehalt des Verfahrens- und Organisationsrechts abgelehnt wurden. Die dort angeführten Argumente behalten ausnahmslos ihre Gültigkeit, wenn die Exekutive rechtsetzend statt rechtsanwendend tätig wird, und können auch an dieser Stelle fruchtbar gemacht werden. Da alle für die Verwirklichung der Grundrechte erheblichen Fragen „wesentlich" sind, hier aber nur „Unwesentliches" erörtert wird, fordern auch die Grundrechte kein Parlamentsgesetz. Diese teleologische Auslegung, nach der Artikel 80 Absatz 1 GG, soweit der allgemeine Parlamentsvorbehalt nicht eingreift, keine gesetzliche Ermächtigung verlangt, wird von der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung gestützt, da nur solche abstrakt-generellen exekutiv hervorgebrachten Rechtsregeln vom Ermächtigungsvorbehalt erfaßt werden sollten, die dem überkommenen Rechtssatzbegriff unterfallen. Da dieser zugleich den allgemeinen Gesetzesvorbehalt umschrieb, waren die Trennlinie von Gesetz und vorbehaltsfreier Rechtsanwendung sowie die Grenze des Anwendungsbereichs von Artikel 80 Absatz 1 GG in thematischer Hinsicht identisch. Dies entspricht der damals gewollten Reaktion auf den rechtsstaatswidrigen Mißbrauch des Verordnungsrechts in nationalsozialistischer Zeit, bleiben die grundlegenden Entscheidungen doch weiterhin der Volksvertretung vorbehalten. Die Überlassung „unwichtiger" Randbereiche an die Exekutive zur eigenverantwortlichen Regelung birgt keine Gefahren vergleichbarer Art. Es sprechen also gute Gründe dafür, den Anwendungsbereich von Artikel 80 Absatz 1 GG auf „wesentliche" Rechtsmaterien zu beschränken. Die rechtssatzförmige Aufgabenwahrnehmung seitens der Exekutive begründet keinen „Totalvorbehält"189. Der mögliche Haupteinwand gegen einen einheitlichen Parlamentsvorbehalt, die Annahme einer zweiten neben diesem zu beachtenden Beschränkung des Delegationsgesetzgebers, scheint entkräftet. Diese angesichts des bisherigen Meinungsstandes190 überraschende Schlußfolgerung kann jedoch nur vorbehaltlich einer Untersuchung des Verhältnisses der Rechtsverordnung zur Verwaltungsvorschrift Bestand haben, da letztere jene Regeln betrifft, die nach dem Willen der „Väter des Grundgesetzes" in vorbehaltsfreien Bereichen zulässig sein sollten. Rechts- und Verwaltungsverordnung 189

Ausdrücklich für einen auf den Verordnungserlaß beschränkten Totalvorbehalt ist Lücke, in: Sachs, Grundgesetz, Artikel 80 GG, RN 5. 190 Nachweise oben § 3 II. 3.) mit Fußnote 158.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

waren Komplementärbegriffe, deren jeweiliges Verständnis voneinander abhing. Hat sich seit Einfuhrung des Grundgesetzes der Rechtssatzbegriff als Trennlinie beider Handlungsformen der Exekutive gewandelt, so bedarf ihr Verhältnis zueinander einer erneuten Überprüfung und damit zwangsläufig auch der Artikel 80 Absatz 1 GG.

(3) Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG als Einschränkung der Bestimmtheitsanforderungen? Die bisherigen Erwägungen waren beherrscht vom gegenständlichen Denken, indem gefragt wurde, welche Rechtsgebiete unter der Herrschaft von Artikel 80 Absatz 1 GG stehen. Dort, wo die Vorschrift gilt, bleibt des weiteren zu ermitteln, welchen Grad der Regelungsdichte eine Ermächtigungsgrundlage zum Erlaß von Rechtsverordnungen erreichen muß. Da die übertragene Aufgabe von der Exekutive gerade rechtssatzförmig, das heißt dem Gesetz in eingeschränkter Weise vergleichbar, wahrgenommen wird, könnte man meinen, Artikel 80 Absatz 1 GG gestatte einen teilweisen Verzicht der Legislative auf die ihr nach dem allgemeinen Parlamentsvorbehalt zugewiesene Rechtsetzungsbefugnis durch eine zwar nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmte Delegationsnorm, die aber unterhalb der Schwelle der Regelung aller „wesentlichen" Fragen verbleibt. Parlaments- und bloßer Gesetzesvorbehalt fielen dann insoweit auseinander. Der Wortlaut des Artikel 80 Absatz 1 GG bietet jedoch keinerlei Stütze für eine derartige Auslegung. „Inhalt, Zweck und Ausmaß" können bereits wegen der Schwierigkeit ihrer genauen begrifflichen Unterscheidung nur geringe Hilfestellung bei der Ermittlung der gebotenen Regelungsdichte leisten. Daß das Bundesverfassungsgericht ihnen ebendiese Aufgabe zum Teil auch beim nicht ausdrücklich geregelten allgemeinen Parlamentsvorbehalt zuweist191, spricht im Gegenteil sogar dafür, keine Unterschiede hinsichtlich des Grades der Bestimmtheit zu machen. Auch die Systematik der grundgesetzlichen Vorschriften zur Normsetzung liefert keine Antwort auf diese Frage. Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG ist seinem Sinn und Zweck nach, bestätigt durch die Entstehungsgeschichte der Norm, der Wahrung der parlamentarischen Verantwortung zu dienen bestimmt. Hierin liegt eine Besonderheit des demokratischen Staates. Noch im strengen Dualismus des Kaiserreichs verengte sich der Gesetzesvorbehalt auf eine Befugnis zur Beschränkung der 191

(12).

BVerfGE 8, 274 (325); E 9, 137 (147); E 13, 153 (160); E 48, 210 (221); E 56, 1

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

monarchischen Exekutive zum Schutze der Gesellschaft, weshalb es unbedenklich zugelassen werden konnte, daß das Parlament sich dieser Kompetenz durch eine unbeschränkte Delegation freiwillig entäußerte. Heute enthält die Kompetenz zur Gesetzgebung zugleich eine entsprechende Aufgabenzuweisung an das Parlament als Zentralorgan des demokratischen Staates, die als solche unverzichtbar ist. Die so begründete Sachentscheidungspflicht der Volksvertretung besteht unabhängig davon, ob die Exekutive rechtsanwendend oder rechtsetzend handelt. Zur Vermeidung von Blankoermächtigungen muß der Gesetzgeber der Verwaltung folglich ein das „Wesentliche" umfassendes „Programm" vorgeben, ohne daß Unterschiede zum allgemeinen Parlamentsvorbehalt erkennbar wären. Auch Artikel 80 GG verlangt mithin, alle fur und wider eine parlamentsgesetzliche Regelung streitenden Gesichtspunkte nach Maßgabe des jeweiligen Regelungsbereichs zu gewichten. Zu fragen bleibt allein, ob einzelnen von ihnen eine größere oder geringere Bedeutung gerade wegen der Rechtssatzform der Rechtsverordnung zukommt, so daß sich der Sinngehalt des „Wesentlichen" konkret verschieben könnte und die dem Gesetzgeber zugewiesene Verantwortung aus diesem Grunde geringer wäre. Eine vergleichsweise unbestimmtere Delegation beinhaltete dann keinen Aufgabenverzicht, sondern verwirklichte den „Wesentlichkeitsvorbehalt". Die rechtsstaatlichen Forderungen nach Rechtssicherheit und Vertrauensschutz werden durch eine Rechtsverordnung ebenso verbürgt wie durch ein formelles Gesetz, jedoch besser als durch die Rechtsanwendung. Zu erwägen wäre daher eine Reduzierung der gebotenen parlamentsgesetzlichen Regelungsdichte. Allerdings enthält das Rechtsstaatsprinzip auch anderslautende Aussagen. So greift der Gedanke der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall bei einer Regelung im Verordnungswege nur eingeschränkt, die Argumentation zum allgemeinen Parlamentsvorbehalt, aus diesem Grund „offenere" Formulierungen des Gesetzes zu befürworten, kann so nicht auf Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG übertragen werden. Des weiteren gewährt die Rechtsverordnung zwar größere Flexibilität als das Gesetz, da sie leichter zu ändern ist, dennoch erreicht sie nicht diejenige der Gesetzesanwendung. Das Rechtsstaatsprinzip spricht somit von Fall zu Fall, nicht aber generell für oder gegen eine geringere Gesetzesbestimmtheit. Die von der Exekutive gewählte Handlungsform allein kann keine prinzipiellen Unterschiede der demokratischen Legitimation begründen. Auch ermangeln beide Arten exekutiver Tätigkeit in gleicher Weise des Gesetzgebungsverfahrens mit seiner Öffentlichkeitswirkung. Lediglich die Entlastung des Parlaments könnte durch geringere Bestimmtheitsanforderungen an die Delegation gefördert werden, da die Rechtsverordnung angesichts ihres abstrakt-generellen Charakters in zahlreichen Fällen als zur Erfüllung dieser 13 Seiler

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Aufgabe besser geeignet erscheinen mag als die schlichte Gesetzesanwendung. Dies gilt jedoch nicht schlechthin, dem Grundsatz nach kann das Parlament auch durch erweiterte Handlungsspielräume des Rechtsanwenders entlastet werden, weshalb hierin trotz etwaiger Verschiebungen im konkreten Fall kein allgemeingültiger Wesensunterschied gesehen werden darf. Das Demokratieprinzip verlangt sicherlich nicht durchgängig, die parlamentarische Verantwortung herabzusetzen. Ein verbesserter Schutz der Freiheitsrechte durch den Verordnungserlaß ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil, die Gesetzesvorbehalte der einzelnen Grundrechte deuten auf ein aus der Entstehungsgeschichte der Grundrechtsverbürgungen übernommenes Mißtrauen gegenüber exekutiven Freiheitsbeschränkungen hin, erscheinen also eher als Indiz gegen verminderte Bestimmtheitsanforderungen. Hingegen wäre zu überlegen, inwieweit der Gleichheitssatz eine geringere Bestimmtheit rechtfertigt. Die rechtssatzförmige Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben liefert dem jeweils handelnden Verwaltungsbeamten verbindliche Maßstäbe und gewährleistet de facto eine gleichmäßigere Handhabung des Gesetzes. Man könnte deshalb meinen, das Gesetz könne sich mit einer geringeren Regelungsdichte begnügen, da ihm diese Aufgabe durch die Verordnung abgenommen werde. Dieser Schluß wäre jedoch unzulässig, da dem alle staatliche Gewalt bindenden Artikel 3 GG, wie gezeigt wurde, nicht zu entnehmen ist, welche Stelle in welcher Form zu entscheiden hat. Im übrigen können die jeweils handelnden Beamten auch durch VerwaltungsVorschriften unabhängig von deren genauer Rechtsnatur gebunden werden. Die zusätzliche Bindung der Gerichte an die Rechtsverordnung bedingt eine stärkere Ermächtigung als die bloße Überlassung des Gesetzes zum Vollzug und kann jedenfalls keine geringeren Anforderungen an die Ermächtigung begründen. Die einschlägigen materiellen Zwecke des Grundgesetzes lassen somit keine generelle Wesensverschiedenheit von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG und allgemeinem Parlamentsvorbehalt erkennen. Auch wenn sich die einzelnen Aussagen der genannten Prinzipien im konkreten Fall tendenziell gegeneinander verschieben mögen, ist kein Unterschied der abstrakt zu formulierenden Anforderungen zu verzeichnen. Erforderlich ist jeweils die gleiche regelungsbereichsspezifische Ermittlung des gebotenen Maßes gesetzlicher Regelungsdichte, deren Ergebnis durch das Kriterium des „Wesentlichen" umrissen werden kann. Hier wie dort besteht ein nur auf die Einhaltung seiner Grenzen überprüfbarer Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

„Inhalt, Zweck und Ausmaß" bezeichnen demnach unterstützend einzusetzende Kriterien, ohne den Bestimmtheitswa/fctaò selbst vorzugeben.192 Dieser Maßstab, den die Wesentlichkeitsformel nur umschreibt, ist aus den die staatliche Funktionenordnung konstituierenden materiellen Vorgaben des Grundgesetzes zu entwickeln, ohne daß insoweit grundsätzliche Unterschiede dadurch entstehen, daß die Legislative der rechtsetzenden und nicht der rechtsanwendenden Exekutive gegenübertritt.

(4) Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG als Verschärfung der Bestimmtheitsanforderungen? Zur Beantwortung dieser Frage sei auf die vorstehenden Erwägungen verwiesen. Zusätzlich ist zu beachten, daß die Verwaltungsspitze ermächtigt wird, die Gerichtsbarkeit bindende Normen zu erlassen. Dieser grundlegende Unterschied zwischen rechtsverordnender und rechtsanwendender Verwaltungstätigkeit betrifft in erster Linie nicht das Verhältnis von Legislative und Exekutive, sondern verlagert Entscheidungsbefugnisse von der Judikative zur Exekutive. Mangels andersartiger Betroffenheit der Volksvertretung gebietet der parlamentarisch-demokratische Ansatz des Vorbehaltsgedankens insoweit keine Differenzierung. Berührt wird jedoch der Rechtsstaatsgedanke in seiner konkreten, in Artikel 19 Absatz 4 GG verankerten Ausprägung als Prinzip des effektiven Rechtsschutzes. Es fragt sich mithin, ob die Rechtsschutzgarantie verlangt, den Regelungsinhalt einer Rechtsverordnung gerade wegen der Bindung der Gerichte an die von der Verwaltungsspitze getroffenen Entscheidungen als „wesentlich" zu beurteilen. Konsequenz dessen wäre ein umfassender Zwang zur formlichen gesetzlichen Regelung. Hierin läge jedoch ein Zirkelschluß. Voraussetzung jeden Rechtsschutzes ist das Bestehen einer Rechtsverletzung, das Recht umfaßt aber formelle und materielle Gesetze, das heißt auch Rechtsverordnungen. Aus dem Anspruch auf Einhaltung subjektiver Rechte kann über das allgemeine Gebot hinreichend justitiabler Normierung hinaus nicht auf die vorausliegende Frage ihrer Ausgestaltung geschlossen werden. Der Rechtsschutz an sich wird durch die Verordnungsermächtigung nicht beschränkt, sondern in seinem Bezugsobjekt verändert. Die entsprechende exekutive Entscheidung wird vom Gegenstand zum Maßstab gerichtlicher Kontrolle. So bleibt auch gegen Rechtsverordnungen hinreichender Rechtsschutz möglich. Soweit das (nachkonstitutionelle) Ermächtigungsgesetz nicht alle 192

Ebenso Ramsauer, in: Alternativkommentar,

Artikel 80 GG, RN 29.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

„wesentlichen" Fragen regelt, ist es nichtig, die ausschließliche Verwerfungskompetenz liegt nach Artikel 100 Absatz 1 GG beim Bundesverfassungsgericht.193 Ein größeres Maß an Bestimmtheit könnte hier keinen zusätzlichen Rechtsschutz bieten. Gleiches gilt, soweit das Gesetz aus anderen Gründen verfassungswidrig ist. Soweit die Rechtsverordnung innerhalb des Anwendungsbereiches von Artikel 80 Absatz 1 GG nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt wird, ist die Verordnung mangels Normierungsbefugnis der Exekutive verfassungswidrig und damit unwirksam. Sie kann von jedem Fachgericht verworfen werden, so daß sich kein Rechtsschutzproblem stellt. Ebenso sind andere Verstöße gegen die Verfassung oder zwingende Vorschriften des Gesetzes zu beurteilen. Problematisch sein könnte allein der Fall der bewußten Ermächtigung zur Abweichung vom Gesetz in „unwesentlichen" Fragen oder der trotz Normierung des „Wesentlichen" im übrigen gewollt „offenen" Gesetzesformulierung. Da diese legislative Selbstbeschränkung dem Verordnungsgeber bewußt die Detailregelung überträgt, ist es der Gesetzgeber selbst, der die Rechtsprechung an die Entscheidungen der Verwaltung bindet, die von dieser nur noch inhaltlich konkretisiert werden müssen. Eine gesteigerte Verdeutlichung des der Exekutive vorzugebenden Normprogrammes hätte auf diese Bindungswirkung keinen Einfluß, ihr Unterbleiben kann insoweit auch keine Rechtsverletzung auslösen und keinen Rechtsschutzbedarf begründen.

b) Vergleich der Ermächtigung zur Wahl der jeweiligen Handlungsform Wurde soeben eine erhöhte Bestimmtheit des RegelungsInhaltes der Delegation gerade wegen der bewirkten Bindung der Gerichte abgelehnt, so stellt sich nun die abzugrenzende Frage, wie deutlich festzulegen ist, daß die Gerichte überhaupt durch die Exekutive gebunden werden dürfen. Es handelt sich also um die Ermächtigung zur Wahl der Handlungs/orm der Rechtsverordnung, nicht zur sachlichen Entscheidung. Diese Frage zielt von ihrem Ausgangspunkt her nicht auf den Inhalt subjektiver Rechte ab, sondern berührt die dem objektiven Recht zugehörige Verteilung der Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung. Da die Legislative in „wesentlichen" Bereichen in dieser Hinsicht Erstadressat der Verfassung ist und der Exekutive insoweit nur abgeleitete Befugnisse zustehen, muß der Gesetzgeber entscheiden, ob der Verordnungserlaß zulässig sein soll. Dies entspricht der bei den Beurteilungs- und

193

Das Bundesverfassungsgericht wird in derartigen Fällen häufig nur die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes aussprechen, um einen regelungslosen Zustand bis zum Neuerlaß zu vermeiden.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1 7

Ermessensspielräumen der rechtsanwendenden Verwaltung geforderten normativen Ermächtigung. Anders als bei der Ermächtigung zur Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen oder zur Setzung einzelfallbezogener Rechtsfolgen nach eigenem behördlichen Ermessen verlangt Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG, die Befugnis zur Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung ausdrücklich im Wortlaut der Delegationsnorm auszusprechen. Dies besagt nicht nur der Verfassungstext. Auch die Rechtssicherheit verbietet bloß auslegungsfahig erteilte Ermächtigungen, da sonst nicht eindeutig feststünde, ob die Verwaltung das Instrument der Rechtsverordnung einsetzen durfte. Dies ist von gesteigerter Bedeutung, da eine etwaige Rechtsunsicherheit bei Rechtsnormen schwerwiegendere Folgen nach sich zieht als beim Gesetzesvollzug. Eine ohne die erforderliche Ermächtigung ergangene Rechtsverordnung wäre nichtig, der Bürger also nicht gebunden. Ein irrig angenommener oder verkannter Beurteilungsoder Ermessensspielraum führte hingegen fast ausnahmslos194 zu wirksamen und damit bindenden Verwaltungsakten, die regelmäßig allein im Falle eines Verstoßes gegen den Gesetzesinhalt195 und nur innerhalb der Rechtsmittelfristen anfechtbar wären. Die Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung muß deshalb unzweifelhaft, das heißt nicht nur auslegungsfähig, sondern ausdrücklich gestattet werden. Ansonsten wäre für den Bürger oft kaum ersichtlich, ob er durch die Verordnung gebunden ist. Dem stehen auch die zum allgemeinen Parlamentsvorbehalt angeführten Gründe für eine „offene" Gesetzesfassung nicht entgegen, da sie entweder wie das Gebot der Einzelfallgerechtigkeit nicht oder wie der Gedanke der Entlastung des Parlaments angesichts des geringen Aufwandes einer wörtlichen Regelung der Handlungsform nur eingeschränkt berührt werden. Diese Argumentation kann so nicht auf vorbehaltsfreie Bereiche übertragen werden. Da es im eigenen Funktionsbereich der Verwaltung grundsätzlich keiner Delegation bedarf, kann der Parlamentsvorbehalt auch nicht deren Ausdrücklichkeit gebieten. Allerdings greift hier der Vorrang des Gesetzes ein, soweit der Gesetzgeber eine bestimmte Thematik abschließend regeln wollte. Da jede untergesetzliche Ergänzung eine· Norm diese immer auch in Detailfragen modifiziert, muß der Gesetzgeber selbst entscheiden, ob dies im Einzel194

Nur in äußerst seltenen Fällen kommt es zur Nichtigkeit des Verwaltungsaktes (§ 44 VwVfG). 195 Gebundene Entscheidungen können trotz irriger Annahme eines behördeneigenen Spielraumes nicht angefochten werden, falls sie inhaltlich gesetzeskonform sind, da die Verwaltung zu ihrem Erlaß verpflichtet war (vgl. § 46 VwVfG). Auch bei Unkenntnis oder Irrtümern über den Umfang bestehender Spielräume ist ein (formeller oder materieller) Rechtsverstoß Bedingung der Aufhebung (§113 Absatz 1 Satz 1 VwGO). Sogar ein Nachschieben von Gründen ist denkbar (vgl. § 114 Satz 2 VwGO).

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

fall durch die rechtsanwendende Behörde ohne oder generell durch die rechtsetzende Exekutivspitze mit Bindungswirkung für die Gerichte geschehen soll. Insoweit gelten für vom Gesetzgeber kraft seines Zugriffsrechts abschließend geregelte Rechtsfragen dieselben Gesichtspunkte der Rechtssicherheit wie im Vorbehaltsbereich. Die Frage, ob eine solche abschließende Kodifikation vorliegt, kann nach den gleichen Kriterien ermittelt werden wie bei der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern. Im gesetzlich nicht geregelten vorbehaltsfreien Bereich ist keine ausdrückliche Ermächtigung zur Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung notwendig, da keine Rechtsunsicherheit gegeben ist, ob neben dem Gesetz auch die exekutive Regelung für den Bürger verbindlich sein soll. Die Verwaltung wird aus eigenem Recht tätig, was ohnehin nur in „unwesentlichen" Bereichen, vor allem der Leistungsverwaltung, in Betracht kommt, in denen die Rechtssicherheit eine im Vergleich zur Eingriffsverwaltung geringere Bedeutung hat. Die Verwaltung benötigt mithin in allen gesetzesabhängigen Bereichen, aber auch nur dort, eine ausdrückliche Ermächtigung zur Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung.

c) Schlußfolgerungen aus diesem Vergleich

(1) Der einheitliche Parlamentsvorbehalt Vorbehaltlich weiterer Untersuchung ist festzuhalten, daß grundsätzlich keine Besonderheiten aus der gerade rechtssatzformigen Aufgabenwahrnehmung der Exekutive folgen. Sowohl die Frage, ob ein formelles Gesetz geboten ist, als auch jene, wie detailliert dieses sein muß, sind ebenso zu beantworten wie beim allgemeinen Vorbehalt. Auch nach Artikel 80 Absatz 1 GG sind die je nach Regelungsbereich „wesentlichen", insbesondere grundrechtserheblichen Fragen förmlich zu regeln. Wegen der Einzelheiten hierzu kann jedenfalls grundsätzlich auf die Erörterungen zum allgemeinen Vorbehaltsprinzip verwiesen werden. Diese Auslegung spricht dafür, Parlamentsvorbehalt und Artikel 80 GG nicht als wesensverschiedene, kumulativ zu beachtende Rechtsinstitute anzusehen, sondern im Einklang mit der Ausgangsthese dieser Abhandlung einen einheitlichen Parlamentsvorbehalt anzunehmen. Die je nach gegebenem Zusammenhang unterschiedlichen gegenständlichen wie umfangmäßigen Aussagen von Artikel 80 GG lassen die Vorschrift als ein funktional zu verstehendes, nicht bloß formal zu handhabendes Erfordernis

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

gesetzgeberischer Verantwortung deutlich werden.196 Als solches zeigt sie sich als klarstellende Spezialausprägung des allgemeinen Parlamentsvorbehaltes. Daß die Norm anders als der allgemeine Vorbehaltsgedanke in den Wortlaut des Grundgesetzes aufgenommen wurde, verdankt sie dem historisch begründeten Mißtrauen gegenüber zu weitgehenden Delegationen, nicht einem wesensmäßigen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten der Übertragung von Handlungsmöglichkeiten an die Exekutive. Obwohl Artikel 80 GG und der Parlamentsvorbehalt demnach abstrakt gesprochen gleich zu beurteilen sind, kann es im Einzelfall dennoch nicht zu beanstanden sein, wenn der Gesetzgeber innerhalb seines Gestaltungsspielraumes den wider eine zu detaillierte gesetzliche Regelung sprechenden Gesichtspunkten gerade im Hinblick auf die rechtssatzformige Handlungsweise des Verordnungsgebers den Vorzug gibt, was insbesondere zur Entlastung des Parlaments häufig sachdienlich sein mag.197 Hierdurch kann sich die konkret gewählte Regelungsdichte in der Praxis nicht unerheblich verschieben. Die wichtigste strukturelle Eigenart der Delegation nach Artikel 80 Absatz 1 GG liegt in der Ermächtigung, die Gerichte durch die Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung zu binden. Aus Gründen der Rechtssicherheit ist diese Befugnis anders als beim allgemeinen Vorbehalt stets ausdrücklich zu erteilen.

(2) Parlamentsvorbehalt

und schlichter Rechtssatzvorbehalt

Der einheitliche Parlamentsvorbehalt läßt die Unterscheidung zwischen dem Parlamentsvorbehalt und einem als schlichten Rechtssatzvorbehalt verstandenen materiellen Gesetzesvorbehalt an Bedeutung verlieren. Alles, was die 196

Erinnert sei jedoch an die obige (§ 1 IV.) Abgrenzung vom hier nicht behandelten allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot, das für alle Rechtsakte, mithin auch für Delegationsnormen und Verordnungen, ein Mindestmaß an Deutlichkeit und Widerspruchsfreiheit verlangt. 197 Ein Beispiel für die Umstände, die eine exekutive Rechtsetzung gegenüber der parlamentarischen vorteilhaft erscheinen lassen, bildet die Polizeirechtsverordnung. Diese kann als materielles Gesetz erforderlich sein, um abstrakten Gefahren bereits im Vorfeld ihrer Konkretisierung begegnen zu können. Wegen des hierbei typischerweise gegebenen örtlichen Bezuges ist die zuständige Behörde mit den jeweiligen sachlichen Problemen besser vertraut als das Landesparlament, was eine Delegation der Rechtsetzung rechtfertigt, die im Hinblick auf die Vielzahl der denkbaren Fallkonstellationen zwangsläufig „offen" ausgestaltet sein muß. Die Rechtsverordnung erscheint so kraft landesverfassungsrechtlich abweichender Adressatenregelung (oder mittels Subdelegation) auch als ein Instrument zur Dezentralisierung der Rechtsetzung.

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Volksvertretung nicht regeln muß, darf der vollziehenden Gewalt überlassen werden, die grundsätzlich sowohl rechtsetzend als auch rechtsanwendend tätig werden darf. Werden beide Handlungsformen in dieser Hinsicht gleichgesetzt, fehlt ein genereller Bereich, der zwingend rechtssatzförmig, aber nicht parlamentsgesetzlich geregelt werden muß. Umgekehrt wird alles, was im materiellen Gesetz geregelt werden muß, der Legislative zugewiesen. Der Begriff des bloßen Gesetzesvorbehaltes hat seine eigenständige Aussagekraft eingebüßt. Er umschreibt nur noch negativ jenen Bereich, in dem kein zwingend förmlicher, das heißt jede Delegation verbietender Parlamentsvorbehalt gilt. 198 Als Gegenbegriff zu diesem anerkennt der bloße Vorbehalt des materiellen Gesetzes die Verordnung als unmittelbare Rechtsgrundlage einer staatlichen Maßnahme bei mittelbarer Berufung auf ein Parlamentsgesetz, weist der Rechtsetzung aber keine Fragen zu, die nicht bereits auf Grund des „Wesentlichkeitsvorbehaltes" förmlich zu entscheiden sind. Mit dieser Maßgabe können Parlamentsvorbehalt und einfacher Gesetzesvorbehalt als Ausprägungen eines einheitlichen Vorbehaltsgedankens bezeichnet werden.199 Dies widerspricht nur scheinbar der sprachlichen Fassung mancher spezieller grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte, die Eingriffe „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes" gestatten200 oder einen gleichlautenden Regelungsvorbehalt vorsehen201, also zwei an sich eigenständige Formen des Vorbehaltes andeuten.202 Diese Formulierungen wurzeln im konstitutionalistischen Denken, das den Vorbehaltsgrundsatz ausschließlich rechtsstaatlich als Mittel zum Selbstschutz der Gesellschaft gegen den monarchischen Staat ansah. Dem198

Ein (seltenes) Beispiel für einen zwingend förmlichen Gesetzesvorbehalt enthält Artikel 104 Absatz 1 GG. 199 Ähnlich Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 392 ff.: „Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt fallen inhaltlich zusammen." Der Gesetzesvorbehalt wird „umfangmäßig im Grunde auf den Parlamentsvorbehalt zurückgenommen". Anders Kloepfer, in: Hill, Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, S. 187 ff. (214); Rechtssatzvorbehalt und Parlamentsvorbehalt (einschließlich des Parlamentsbeschlusses) seien „zwei sich überschneidende Kreise". Überträgt man dieses Bild auf die hier gewählte engere Definition des Parlamentsvorbehaltes als Vorbehalt des förmlichen Gesetzes, so beschreibt dieser im Sinne Kloepfers einen Ausschnitt aus dem Vorbehalt des materiellen Gesetzes. Ebenso Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 62, RN 9 ff.: Parlamentsvorbehalt als Teilbereich des Gesetzesvorbehaltes; Erichsen, DVB1. 1985, S. 22 (26 f.): Stufenverhältnis. 200 Zum Beispiel Artikel 8 Absatz 2 GG oder Artikel 10 Absatz 2 Satz 1 GG („einfacher Gesetzesvorbehalt"). 201 So Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG. 202 Papier, in: Götz / Klein / Starck, S. 50 ff., differenziert gerade wegen dieser speziellen Vorbehalte zwischen Rechtssatz- und Parlamentsvorbehalt. Die Frage, was, ohne dem Parlamentsvorbehalt zu unterfallen, dennoch zwingend rechtssatzförmig geregelt werden muß, bleibt jedoch unbeantwortet.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

zufolge ging man seinerzeit von einer bloßen Befugnis der Legislative zur Beschränkung exekutiver Kompetenzen ohne entsprechende Verpflichtung des Parlaments aus, ließ mithin Raum für umfassende freiwillige Delegationen kraft pauschaler Ermächtigung. Folglich gab es damals Fragen, die zwar rechtssatzförmig geregelt werden mußten, aber zulässigerweise vom Gesetzgeber unbeantwortet bleiben durften. Rechtssatzvorbehalt und Vorbehalt des formellen Gesetzes mußten zweierlei sein. Der moderne Parlamentsvorbehalt sieht die Gesetzgebung hingegen als Funktion der Staatstätigkeit und weist der Volksvertretung zu diesem Zwecke unverzichtbare Aufgaben zu. Es besteht eine Pflicht zur parlamentarischen Sachentscheidung, die dem Gesetzgeber untersagt, das „Wesentliche" der Verordnung zu übertragen. Der den grundrechtlichen Spezialvorbehalten verbleibende Aussagegehalt erschöpft sich darin, Freiheitsbeschränkungen zu erlauben, die nicht unmittelbar auf einem formellen Gesetz beruhen, sondern auf einer Rechtsverordnung, die „Unwesentliches" regeln darf, ohne dies zu müssen, deren „wesentlicher" Gehalt jedoch parlamentsgesetzlich vorgegeben ist. Letztlich verneinen sie nur ein Delegationsverbot. Hintergrund dessen ist das seit dem Konstitutionalismus gewandelte Staatsverständnis. Geblieben ist aus jenen Tagen das rechtsstaatliche Denken, das den Gesetzesvorbehalt zum Schutze der Individualsphäre hervorgebracht hat. Hinzu treten das Demokratieprinzip sowie die Vorstellung eines gestalterisch tätigen Staates, die zum Teil, aber nicht nur 203, sozialstaatlich motiviert ist. Ersteres macht das Parlament zum Zentralorgan im Staate, letztere das Gesetz zum Handlungsmittel zur Umsetzung des repräsentativ ermittelten Volkswillens. Die Verfassungsordnung der Gegenwart verbindet all dies untrennbar miteinander. Jede Grundrechtsschranke muß vor dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip bestehen. Jede gestalterische Maßnahme ist demokratisch zu legitimieren und berührt nicht selten auch die Individualsphäre. Das Grundgesetz gelangt so zu einem einheitlichen Parlaments- und Gesetzesvorbehalt.

203

Beispielsweise wird der Staat auch im Umweltschutz gestaltend tätig.

202

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

2. Das Verhältnis von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift a) Erscheinungsformen von Verwaltungsvorschriften Unabhängig von ihrer höchst umstrittenen204 rechtlichen Einordnung läßt sich feststellen, daß sich der Anwendungsbereich der Verwaltungsvorschrift auch gegenwärtig noch weitgehend auf solche Rechtsgebiete erstreckt, die vormals nicht vom spätkonstitutionellen Rechtssatzbegriff erfaßt wurden.205 Dazu zählen die zahlreichen Organisations - und Dienstvorschriften, die sich auf behördeninterne Fragestellungen beziehen. Daneben finden sich Richtlinien, die von der Verwaltungsspitze zum Zwecke der gleichmäßigen Handhabung des materiellen Rechts an die nachgeordneten Behörden gerichtet werden und die nach ihrem Verhältnis zum Gesetz, dessen Anwendung sie erleichtern sollen, unterschieden werden können. Auf der Tatbestandsseite der Norm können zur Wahrung einer einheitlichen Auslegung insbesondere von unbestimmten Rechtsbegriffen gesetzesauslegende oder norminterpretierende Verwaltungsvorschriften (Auslegungsrichtlinien) ergehen. Neuerdings werden von ihnen „normkonkretisierende" Verwaltungsvorschriften abgegrenzt, die auf der Grundlage einer ausdrücklichen, gegebenenfalls sogar konkludenten Ermächtigung unbestimmte Rechtsbegriffe oder bewußt „offen" formulierte gesetzliche Tatbestände rechtssatzmäßig konkretisieren sollen. Da letztere nicht mit dem überkommenen Verständnis der Verwaltungsvorschrift in Einklang zu bringen sind, scheint ihre dogmatische Einordnung noch ungeklärt. Auf der Rechtsfolgenseite des Gesetzes kann die Wahrnehmung eigener Entscheidungsbefugnisse der Behörde durch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften (Ermessensrichtlinien) gleichheitskonform angeleitet werden. Schließlich werden, soweit kein Gesetzesvorbehalt eingreift, in gesetzesfreien Bereichen gesetzesunabhängige 206 Verwaltungsvorschriften anerkannt. Dies gilt vor allem für die Leistungsverwaltung, namentlich für die Vergabe von Subventionen. Die früher in den besonderen Gewaltverhältnissen gängigen Sonderverordnungen haben, da diese Rechtsfigur in die allgemeine Systematik eingebettet wurde 207, ihre eigenständige dogmatische Bedeutung eingebüßt.

204

Bezeichnend Rupp, JZ 1991, S. 1034: „rechtswissenschaftlicher Nebel". Zu den Arten der Verwaltungsvorschrift Maurer, Verwaltungsrecht, S. 591 ff; maßgeblichen Einfluß auf die Systematisierung hatten die Lehren Ossenbühh. 206 Statt der verbreiteten Bezeichnung als „gesetzesvertretende" Verwaltungsvorschrift (vgl. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 593) wird hier der Begriff „gesetzesunabhängig" gebraucht, um zu verdeutlichen, daß diese das Gesetz anders als die „gesetzesvertretende Verordnung" Weimarer Prägung keinesfalls ersetzen kann. 207 Grundlegend BVerfGE 33, 1 (Strafvollzug). 205

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

b) Der „konventionelle" Ansatz (1) Grundsätze Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes setzte sich allgemein die Einsicht in die Notwendigkeit durch, die Begriffe des materiellen Gesetzes wie des Rechtssatzes neu zu bewerten.208 Die Trennlinie zwischen Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift wurde nun nicht mehr durch den Eingriffsbegriff markiert. Dennoch behielt der Rechtssatzbegriff, der als allgemeinverbindliche Regelung des ^w/fe/iverhältnisses verstanden wurde, durch die Gegenüberstellung des staatlichen /wwewbereichs seine Eigenschaft als Abgrenzungskriterium beider Handlungsformen (zunächst) bei.209 Die Verwaltungsvorschrift beansprucht hiernach eine Verbindlichkeit grundsätzlich nur gegenüber nachgeordneten Verwaltungsbehörden, nicht aber gegenüber Bürgern und Gerichten.210 Allerdings verschob sich im Zuge der Neubestimmung des Gesetzesbegriffes die Grenzlinie von Außen- und Innenbereich vor allem, aber nicht nur im Rahmen der besonderen Gewaltverhältnisse sehr weitgehend.211 Ein weiterer Meilenstein in Richtung auf ein erneuertes Verständnis der Verwaltungsvorschriften war die Anerkennung ihrer Qualität als Recht. 212 Diese vor allem im Steuerrecht213 aufgekommene Ansicht gewann, nachdem sich zunächst noch zahlreiche Stimmen fanden, die sich wegen des Binnencharakters der Richtlinien gegen ihre Einordnung als rechtliche Regelung ausgesprochen hatten214, angesichts der unstreitig bestehenden Bindung von 208

Vgl. oben § 2 II. l.)b). Bachof, in: Festschrift fur Wilhelm Laforet, S. 285 ff. (296 ff.); Forsthoff.\ Verwaltungsrecht, S. 126 ff., 131 ff., 139 ff. 210 Maurer, Verwaltungsrecht, S. 596. 211 So bezog Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 133, den Bereich der Leistungsverwaltung in Abkehr von der Weimarer Praxis ausdrücklich in den Rechtssatzbegriff ein. Bachof; in: Festschrift fur Wilhelm Laforet, S. 298 f., betont die Möglichkeit der „Doppelnatur der Interna", die zugleich die Rechtssphäre berühren könnten. 212 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 70 ff. (74 f.); Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 231 ff. (233); Rupp, Grundfragen, S. 19 ff.; Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (157). 213 Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, I. Band, S. 42 ff., sah schon 1927 in den Ausfuhrungsbestimmungen zum Steuerrecht zum Teil auch Rechtsvorschriften, ohne hieraus grundlegende Folgerungen für ihre Einordnung zu ziehen. Später bezeichnete Bühler, Steuerrecht, Band I, S. 41, die Verwaltungsvorschriften sogar als im Range hinter Gesetz und Verordnung zurückstehendes außenwirksames „Ergänzungsrecht". Als Begründung führte er allerdings nur eine Jahrzehntelange Praxis" an. 214 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 134; grundsätzlich ebenso Bachof, in: Festschrift fur Wilhelm Laforet, S. 297 ff, unter Betonung der Frage der Grenzziehung. 209

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Behörden und Bediensteten215 schließlich die Oberhand und kann heute, nachdem sie auch vom Bundesverfassungsgericht 216 bestätigt wurde, als allgemeine Meinung bezeichnet werden.217 Diese Erkenntnis, die insofern bedeutsam war, als sie auch in gesetzlich nicht geregelten Bereichen Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnete, führt in einem gedanklich ersten Schritt zur Unterscheidung von Innen- und Außenrecht218, zwingt aber noch nicht dazu, die Trennung beider Bereiche zu überwinden. Trotz einiger Gegenstimmen219 wird daher (zunächst) überwiegend von Binnenrechtssätzen220 ohne unmittelbare Außenwirkung ausgegangen.221 Weitgehend unbestritten222 ist heute indes, daß Verwaltungsvorschriften, soweit der Verwaltung eigene Entscheidungsspielräume zustehen, jedenfalls mittelbar Rechtswirkungen im Außenverhältnis erzeugen können.223 Dies folgt aus dem auf Artikel 3 GG gestützten Gedanken der Selbstbindung der Verwaltung. Da sich die Behörden bei jedem Verwaltungsvorgang an die Richtlinien halten (müssen), beschreiben diese eine ständige Verwaltungspraxis, von der ohne rechtfertigenden Grund abzuweichen der Behörde gleichheitsrechtlich untersagt ist. Angesichts der in der Verwaltungsvorschrift niedergelegten Absicht, das Gesetz auch in Zukunft so handhaben zu wollen, soll dies als „antizipierte Verwaltungspraxis" sogar beim ersten Anwendungsfall gelten.224 Die 215

Bereits Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 560 f., hielt die Unterscheidung von Rechtssätzen und staatlichen „Normen", die, ohne Rechtssätze zu sein, dennoch Pflichten begründen, für „unsinnig". 216 Auch hierzu grundlegend BVerfGE 33, 1 (Strafvollzug). 217 Vgl. nur Maurer, Verwaltungsrecht, S. 589. 218 Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 378 f. 219 Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 231 ff., nahm eine Bindung nicht nur der Behörden, sondern auch der Gerichte an Ermessensrichtlinien, nicht aber an Auslegungsrichtlinien an. 220 Sofern man den Binnenrechtssatz in den Begriff des Rechtssatzes aufnehmen will, ist dessen spätkonstitutionelle Gleichsetzung mit dem des materiellen Gesetzes aufzugeben. 221 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 74 ff. (76 f.), sieht, da Gesetz und Rechtsverordnung „aus sich rechtssatzschaffende Kraft" aufwiesen, in der Wahl der Rechtsform das rechtliche Mittel, um den Bereich des allgemeinverbindlichen Rechts inhaltlich zu umgrenzen. Auch Rupp, Grundfragen, unterscheidet weiterhin zwischen Innenund Außenrechtsverhältnis (S. 34) und behandelt die Verwaltungsvorschriften grundsätzlich als Normen des Innenrechts (S. 43 ff.). 222 Kritisch Rupp, Grundfragen, S. 113 ff. (122); die Selbstbindung schaffe ein verfassungswidriges „selbständiges Rechtsverordnungsrecht" und „ignoriere" so Artikel 80 GG. 223 Nach Maurer, Verwaltungsrecht, S. 595 ff., ist die Zuordnung der Verwaltungsvorschrift zum Innenbereich bei unter Umständen mittelbarer Außenwirkung noch heute herrschende Lehre. 224 Maurer, Verwaltungsrecht, S. 599 mit Nachweisen zur Rechtsprechung.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

Reichweite einer solchen Selbstbindung ist jedoch begrenzt. Mit unmittelbarer Außenwirkung versehene Rechtsnormen gelten generell, der Gleichheitssatz kann hingegen gestatten und gegebenenfalls sogar gebieten, in atypischen Fällen von der Richtlinie abzuweichen. Zudem setzt der Vorrang des Gesetzes in zweifacher Hinsicht Grenzen. Zum einen muß die Verwaltungsvorschrift ebenso wie eine Rechtsverordnung inhaltlich gesetzeskonform sein. Zum anderen können Verwaltungsvorschriften nur dann mittelbare Außenwirkung erlangen, wenn das Gesetz der Behörde eine eigene Entscheidungsmöglichkeit beläßt, das heißt sofern es ihr einen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum einräumt oder falls eine gesetzliche Regelung im vorbehaltsfreien Bereich fehlt. Daher kann den bloßen Auslegungsrichtlinien regelmäßig keine Außenverbindlichkeit beigemessen werden, sie stellen lediglich einen Auslegungsversuch der Behörde dar, ohne die Gerichte binden zu können. Schwierigkeiten bereitet es vom Boden des herkömmlichen Ansatzes ausgehend, die Außenwirkung normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften anzuerkennen, da dies eine nicht an Artikel 80 Absatz 1 GG zu messende Ermächtigung zur eigenverantwortlichen untergesetzlichen Rechtsetzung voraussetzt.

(2) Die Behandlung der Verwaltungsvorschriften

in der Rechtsprechung

Die einschlägigen Urteile zur Verwaltungsvorschrift weisen ein uneinheitliches Bild auf und lassen ihren dogmatischen Standpunkt nicht immer genau erkennen. Gleichwohl scheint der „konventionelle" Ansatz auch heute noch die gemeinsame Leitlinie der meisten Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts wie der übrigen obersten Gerichtshöfe des Bundes zu sein. Abweichend hiervon greifen die Gerichte gelegentlich unmittelbar, zum Teil ohne jede Begründung, auf eine Verwaltungsvorschrift zurück. Insoweit bleibt stets zu fragen, ob es sich, wie Maurer 225 meint, in der Regel nur um eine verkürzte Ausdrucksweise, nicht aber um einen Verzicht auf das Zwischenglied der Selbstbindung handelt oder ob die Richtlinien zu eigenständigen Rechtsquellen des Außenrechts aufgewertet werden. Einen Überblick über den Stand der Rechtsprechung verschaffen an den Erscheinungsformen der Verwaltungsvorschrift ausgerichtete Fallgruppen. Ureigenster Bereich der Exekutive ist ihre Organisationshoheit. Daher wird es fur zulässig erachtet, die Verwaltungsorganisation und das Verwaltungsver-

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Maurer, Verwaltungsrecht, S. 601.

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive fahren durch Richtlinien zu regeln, soweit der Gesetzesvorbehalt nicht eingreift. 226 Bloße Auslegungsrichtlinien sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts „keine Gesetze im Sinne von Artikel 20 Absatz 3 GG", sie binden die Gerichte nicht. 227 Auch Bundesverwaltungsgericht 228 und Bundesfinanzhof 229 sehen kein Außenrecht. Schwieriger zu überschauen ist die Judikatur zu den normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, die bewußt „offen" gestaltete gesetzliche Tatbestände im Wege des Richtlinienerlasses ausfüllen sollen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Rechtsfigur für einen Spezialfall des Technikrechts gebilligt. 230 Gegenstand der Entscheidung war allerdings der 226

BVerfGE 40, 237 (246 ff., 254 f.) (nicht vom Gesetzesvorbehalt erfaßte Verfahrensregelung im Strafvollzug): Das Gericht ließ die allgemeine Frage der Außenwirkung ausdrücklich offen, bejahte aber im konkreten Fall den „materiellen Rechtssatzcharakter" der Regelung des VerwaltungsVerfahrens (Hervorhebung im Original), da ihre Bindungswirkung durch das bewußt „unvollständige" Gesetz „intendiert" sei. Bereits BVerfGE 8, 155 (163 ff.) ließ eine Regelung des Verfahrens der Leistungsverwaltung durch Verwaltungsvorschriften zu, ohne deren Rechtsnatur weiter zu erörtern. Vgl. auch BVerwGE 36, 327 (328 ff.) (Zuständigkeit des Kreiswehrersatzamtes zur Musterung im Falle kurzfristigen Wechsels des Aufenthaltsortes; ohne Begründung). 227 BVerfGE 78, 214 (226 ff) (durch eine Steuerrichtlinie vorgesehene Beschränkung des Abzugs außergewöhnlicher Aufwendungen gemäß §§ 33, 33a EStG bei Unterhaltsleistungen an ausländische Empfanger nach Maßgabe der Lebensverhältnisse im Empfängerland): Die Annahme „materiellen Rechts" wird verneint, da nur eine „verwaltungsinterne" Regelung vorliege. Die „gewisse Bindung der Gerichte", die BVerfGE 40, 237 Regelungen der Behördenzuständigkeit oder des Verfahrens zugesprochen hat, wird für „Verwaltungsvorschriften mit materiell-rechtlichem Inhalt" grundsätzlich abgelehnt! Dies hindere den Richter nicht, sich „iaus eigener Überzeugung" der Gesetzesauslegung der Verwaltung anzuschließen (Hervorhebung im Original). 228 BVerwGE 34, 278 (280 ff.) („weitgehend geförderter Ausbildungsabschnitt" bei Einberufung zum Wehrdienst): Verwaltungsvorschriften vermögen „über die ihnen zunächst nur innewohnende inteme Bindung der Behörden" hinaus „im Wege der Selbstbindung der Verwaltung" eine Außenwirkung zu begründen. Dies gelte aber nur, soweit der Behörde ein „Ermessensspielraum" eingeräumt worden sei, was wegen der Befugnis der Gerichte zur letztverbindlichen Auslegung bei norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften „ihrer Natur nach" ausscheide. Ihre Wirkung bleibe „auf den internen Bereich beschränkt". Ebenso BVerwGE 36, 313 (314 ff.) (Einberufung). 229 Der BFH verneint in ständiger Rechtsprechung eine Bindung an norminterpretierende Steuerrichtlinien, die nur anzuwenden seien, falls sie das Gesetz zutreffend auslegen. Vgl. nur BFH BStBl. II 1976, S. 795 (796) = BFHE 119, 561 (563 f.) (Übergangszeit bei doppelter Haushaltsführung); BFH BStBl. II 1984, S. 522 (525) = BFHE 140, 261 (266 f.) (Opfergrenze bei § 33a EStG); BFH BStBl. II 1986, S. 852 (853) = BFHE 147, 231 (234) (Opfergrenze bei § 33a EStG). 230 BVerwGE 72, 300 (320 f.) (Wyhl); die Vorinstanz wertete die Richtlinie im Anschluß an BVerwGE 55, 250 (256) (TA Luft) noch als „antizipiertes Sachverständigengutachten", das als solches keine rechtliche Bindung der Gerichte hervorrufen kann. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte dies ab, bezeichnete die Richtlinie als „normkonkreti-

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 7 ungewöhnliche Fall einer Vorschrift, die den unbestimmten Rechtsbegriff des „Standes von Wissenschaft und Technik" im Sinne des Atomgesetzes durch Festlegung von Grenzwerten für die radioaktive Belastung näher bestimmen und so deren Einhaltung fur die Übergangszeit bis zum vorgesehenen Erlaß einer Rechtsverordnung absichern sollte. Das Bundesverfassungsgericht begegnet dem mit einer gewissen Skepsis, hat es doch die genannte Entscheidung ausdrücklich als einen „Sonderfall" bezeichnet und von ihrer Verallgemeinerung bewußt abgesehen.231 Auch das Bundesverwaltungsgericht selbst entscheidet im übrigen zurückhaltender. 232 Lediglich vereinzelt finden sich Urteile, die eine verbindliche Normkonkretisierung annehmen.233 Von den

sierend" und wies ihr im Gegensatz zu den norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften eine fur die Gerichte in den Grenzen einer Willkürprüfung verbindliche Wirkung zu, ohne deren dogmatische Grundlage zu erörtern. Das Gericht stellt seine Ansicht kommentarlos fest und nennt auch keinerlei Fundstellen für vergleichbare Auffassungen in Rechtsprechung und Schrifttum, was verwundert, da es, wie Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 65, RN 60, anmerkt, hier einen im Vergleich zu seiner bisherigen Rechtsprechung „radikal anderen Weg" eingeschlagen hat. 231 BVerfGE 78, 214 (227): „Sonderfall der atomrechtlichen Genehmigung"; BVerfGE 80, 257 (265 f.) mußte der Frage, ob die Wyhl-Entscheidung „verfassungsrechtlich haltbar" ist, nicht nachgehen, stellte allerdings fest, die untersuchte Richtlinie habe „nicht die für Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG erforderliche Rechtsnormqualität". 232 BVerwGE 77, 285 (290) wendet durch Verwaltungsvorschrift eingeführte Grenzwerte für Verkehrslärm nicht an, sondern legt von der Rechtsprechung entwickelte niedrigere Werte zugrunde. Die Richtlinie enthalte nur die im Gesetzgebungsverfahren zum später aus anderen Gründen nicht erlassenen Verkehrslärmschutzgesetz gewonnenen Erkenntnisse. Unausgesprochen wird der Exekutive die Befugnis abgesprochen, den Begriff der „Zumutbarkeit" zu konkretisieren. Bezeichnend ist, daß das Gericht zwar dahingestellt läßt, ob Richtlinien wie in BVerwGE 55, 250 als „antizipierte Sachverständigengutachten" zu behandeln sind, zugleich aber das kurz zuvor ergangene WyhlUrteil, das ein solches Verständnis ablehnte, nicht einmal erwähnt. Beiläufig nennt das Gericht femer die bisher nicht in Anspruch genommene Möglichkeit, Grenzwerte durch Rechtsverordnung gemäß § 43 BImSchG festzusetzen (S. 287 f.). BVerwGE 25, 307 (317 f.) (Durch Richtlinie nach Maßgabe einer Rechtsverordnung festgesetzte Regelsätze zum „notwendigen Lebensunterhalt" im Sinne des Sozialhilfegesetzes; alte Rechtslage) überprüft die Regelsätze am Maßstab des Gesetzes und unterstellt so, nicht an die Richtlinie gebunden zu sein. 233 BVerwGE 94, 326 (329 ff.) (Regelsätze nach BSHG) geht von einer grundsätzlichenrichterlichen Kontrolle aus, beschränkt diese jedoch. Das Gesetz ermächtige die Verwaltung zur Generalisierung, Typisierung und Pauschalierung, die nur auf die Zugrundelegung ausreichender Erfahrungswerte sowie auf die Vertretbarkeit der getroffenen Wertungen zu überprüfen sei. Dies wird nicht näher begründet. BVerwGE 94, 335 (Regelsätze nach BSHG) läßt eine Normenkontrolle nach § 47 VwGO zu und mißt den Verwaltungsvorschriften unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers Außenwirkung bei, läßt aber dahinstehen, „ob an der Unterscheidung zwischen (außenwirksamen) Rechts- und (innenwirksamen) Verwaltungsvorschriften festzuhalten ist" (Hervorhebung

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

anderen obersten Gerichtshöfen hatte vor allem der Bundesfinanzhof nach den Rechtswirkungen von Steuerrichtlinien zu fragen, die an Durchschnittswerten orientierte Typisierungen und Pauschalierungen steuerrechtlich erheblicher Umstände anordnen. Die einzelnen Urteile weichen in Begründung und Ergebnis zum Teil erheblich voneinander ab. In jüngerer Zeit scheint sich die Tendenz abzuzeichnen, derartigen Vorschriften vorbehaltlich einer Willkürprüfung eine gewisse Verbindlichkeit zuzusprechen, ohne daß bereits von einem einheitlichen dogmatischen Konzept des Bundesfinanzhofes gesprochen werden könnte.234 Zu beachten sind zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, durch welche die Bundesrepublik Deutschland wegen mangelhafter Umsetzung von EG-Luftreinhaltungsrichtlinien verurteilt wurde. Anlaß der Kritik des Gerichts war gerade die Wahl der Handlungsform der Verwaltungsvorschrift (Technische Anleitung Luft), die nach nationalem Recht keinen hinreichend zwingenden Charakter habe, also keine genügende Rechtssicherheit gewährleiste.235 Als Folge dessen wird man, soweit eine Verpflichtung zur Umsetzung von EG-Richtlinien reicht, eine europarechtskonforme Auslegung des deut-

im Original). Seit 1996 behält § 22 BSHG die Festsetzung der Regelsätze der Rechtsverordnung vor! 234 Der BFH anerkennt ausnahmsweise eine auf Artikel 3 GG beruhende, mit Vereinfachungszwecken begründete oder kommentarlos gebilligte begrenzte Bindungswirkung, falls die Richtlinie eine nicht „offensichtlich unzutreffende" „Tatsachengrundlage" oder eine pauschale „Sachverhaltsschätzung" enthält; vgl. BFH BStBl. II 1980, S. 455 (456) = BFHE 130, 307 (310); BFH BStBl. II 1982, S. 24 (26 f.) = BFHE 134, 139 (142 ff.) (Vertrauensschutz); BFH BStBl. II 1982, S. 302 (303) = BFHE 135, 57 (59 f.); BFH BStBl. II 1982, S. 498 (499) = BFHE 135, 509 (510); BFH BStBl. II 1982, S. 500 (501) = BFHE 135, 515 (517 f.); BFH BStBl. II 1986, S. 200 (204 f.) = BFHE 145, 181 (188 ff.); BFH BStBl. II 1986, S. 824 (827 f.) = BFHE 147, 247 (252 ff.); BFH BStBl. II 1988, S. 780 (781) = BFHE 153, 359 (361); BFH BStBl. II 1990, S. 777 (779) = BFHE 160, 546 (548 f.); BFH BStBl. II 1992, S. 1000 (1002 f.) = BFHE 165, 378 (382 f.). Die dogmatische Konzeption dieser Urteile bleibt offen, da der BFH vom Ergebnis her argumentiert (Näheres unten im zweiten Teil). Zu beachten ist erneut BVerfGE 78, 214 (226 ff.) (§§ 33, 33a EStG). Dort wurde die typisierende Konkretisierung des Gesetzes als Vorgang der Auslegung gesehen und eine Bindung der Gerichte ausdrücklich abgelehnt. 235 EuGH Sammlung 1991,1 S. 2596 ff. und I S. 2626 ff. (auszugsweise in JZ 1991, S. 1031 f., S. 1032 ff. = NVwZ 1991, S. 866 ff., S. 868 f.) beanstandeten den auf der ausdrücklichen Ermächtigung des § 48 BImSchG beruhenden Erlaß der Technischen Anleitung Luft als Richtlinie, gerade weil den Verwaltungsvorschriften von der Rechtsprechung in Deutschland bisher keine zwingende Bindungswirkung zuerkannt wurde. Die nationale Regelung habe folglich „nicht den zwingenden Charakter, der notwendig ist, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen" (S. 2605 und 2635).

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

sehen Rechts vornehmen müssen, nach der die Ausfüllung „offener" Tatbestände durch normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften unzulässig ist. 236 Einen Sonderfall betrifft die Rechtsprechung zur Amtshaftung. Da Artikel 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB den Anspruch auf Schadensersatz an die Verletzung einer Amtspflicht, das heißt einer verwaltungsinternen Obliegenheit, knüpft, kann die Nichtbeachtung einer Verwaltungsvorschrift indirekt Rechtsfolgen im Außenverhältnis erzeugen.237 Diese Außenwirkung läßt sich jedoch nicht verallgemeinern, da der Tatbestand der Haftungsnorm rechtsgeschichtlich238 bedingt nicht staatliches Unrecht voraussetzt, sondern ein persönliches Fehlverhalten des Amtswalters, der als solcher in erster Linie an innerdienstliche Weisungen gebunden ist. So entstand eine an sich systemwidrige Konstruktion, die keinen Anspruch auf Einhaltung der Richtlinien gewährt, aber dennoch deren Verletzung sanktioniert. Die der Rechtsfolgenseite des Gesetzes zugeordneten Ermessensrichtlinien sollen keine unmittelbare Außenwirkung haben, aber eine auf dem Gleichheitssatz beruhende Selbstbindung der Verwaltung bewirken, von der abzuweichen den Behörden bei Fehlen rechtfertigender Umstände versagt ist. 239 In einem besonders gelagerten Ausnahmefall nahm das Bundesverwaltungsgericht eine Ermessensreduzierung auf Grund bestehenden Vertrauensschutzes an.240 Ähnlich behandelt wie die Ermessensrichtlinien werden die gesetzesunabhängigen Verwaltungsvorschriften, wobei die begriffliche Unterscheidung nicht immer einheitlich ist. In der Sache wird auch hier eine durch den Gleichheitssatz vermittelte Selbstbindung angenommen.241 Gemeinsamer Wesenszug dieser Entscheidungen scheint es zu sein, daß sich die Rechtsprechung, namentlich des Bundesverfassungsgerichts, überwiegend 236

Der Gesetzgeber hat deswegen in §§ 39, 48a BImSchG die Umsetzung von EGRecht durch Rechtsverordnung vorgesehen. Ähnliches gilt nach §§ 6a, 7a WHG. 237 Ständige Rechtsprechung; vgl. nur BGHZ 10, 389 (390); BGHZ 27, 278 (282). 238 Vgl. Maurer, Verwaltungsrecht, S. 616 f., 623 ff. zur „Mandatstheorie" sowie BVerfGE 61, 149 (178). Maßgeblich war vor allem, daß die vom BGB nur übernommene Amtshaftung vor der Einordnung des Staates als juristische Person und der dadurch bedingten Trennung von Außen- und Innenbereich entwickelt wurde, was einer Zurechnung persönlichen Fehlverhaltens im Wege stand. Statt dessen erteilte der Monarch als zum Unrecht nicht fähiger Staatsträger dem Beamten ein Mandat zu rechtmäßigem Handeln, bei dessen Überschreitung er persönlich haften mußte. 239 Grundlegend BVerwGE 2, 163 (166 ff.) (Lastenausgleichsleistungen); BVerwGE 44, 72 (74 f.) bezeichnet dies bereits als „ständige höchstrichterliche Rechtsprechung". 240 BVerwGE 35, 159 (161 ff.); nach Maurer, Verwaltungsrecht, S. 600, ist diese Entscheidung nicht verallgemeinerungsfähig. 241 Charakteristisch BVerwGE 71, 342 (347) (Vergabe einer nicht durch Außenrechtsnorm vorgesehenen Beihilfe durch „ermessensbindende Verwaltungsvorschrift"). 14 Seiler

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

noch immer in „konventionellen" Bahnen bewegt und nur ausnahmsweise eine unmittelbare Außenwirkung von Verwaltungsrichtlinien anerkennt. Dennoch läßt sich auch eine vorsichtige Tendenz zur Aufwertung der Verwaltungsvorschrift ausmachen, die auf den nachfolgend geschilderten „neuen" Ansatz deuten könnte.

c) Der „neue" Ansatz Die Beschränkung der Verwaltungsvorschrift auf das staatliche Innenverhältnis wird im Schrifttum zunehmend angezweifelt. 242 Grundlegend wirkte der Beitrag Ossenbühls243, der die Bezeichnung als „Innenrechtssatz" ablehnt, da Innen- und Außenverhältnis vielfach ineinander 242

So Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (156 ff.), der, die Praxis des Steuerrechts vor Augen, den „gekünstelten Umweg über den Gleichheitssatz" aufgeben will und der Verwaltung unter Ablehnung eines über den Vorrang des Gesetzes hinausgehenden allgemeinen Vorbehaltsprinzips eine „eigene Regelungsgewalt" zum Erlaß unmittelbar außenwirksamer Richtlinien zugesteht. Artikel 80 GG werde nicht umgangen, da dieser im wesentlichen (lediglich) Gleiches fordere wie eine Ermächtigung zum Erlaß von Ermessensakten. Die Rechtsverordnung ergehe nach Vogel im Zweifel dort, wo der Gesetzgeber die Verwaltung nur zur Setzung genereller Normen ermächtigt, die Verwaltungsvorschrift hingegen dort, wo das Gesetz der Verwaltung die Wahl zwischen einer Entscheidung im Einzelfall und einer generell typisierenden Regelung durch Richtlinien überläßt. Die strengeren Anforderungen an Form und Publikation der Rechtsverordnung erklärten sich, da diese anders als die Verwaltungsverordnung auch im Grundrechtsbereich in Betracht komme. Sogleich fordert Vogel aber auch für die Richtlinie eine, wenn auch formlose, Veröffentlichung. Abgesehen davon, daß am Vorbehaltsgedanken festgehalten werden sollte, ist einzuwenden, daß gerade die von Vogel zur Konkretisierung des Steuerrechts befürworteten außenwirksamen Verwaltungsvorschriften Grundrechtsrelevanz haben, da sie die Zahlungspflicht des Bürgers beeinflussen. Sein Ansatz verrät daher noch nicht, welche Regelungen der Rechts Verordnung vorbehalten bleiben müssen. Ablehnend auch Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 240, da Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift auf eine Stufe gestellt würden und der essentielle Unterschied von Gesetzgebung und Verwaltung ungeachtet bleibe. Für Starck, Gesetzesbegriff, S. 306 ff., können Verwaltungsvorschriften den Richter binden. Der Unterschied von Rechtsverordnung und Richtlinie liege darin, daß erstere dort ergehe, wo das Gesetz noch nicht so bestimmt ist, daß auf Grund dessen Einzelentscheide getroffen werden könnten, letztere hingegen, wo das Gesetz auch ohne sie ausführbar ist. Dies ist nicht praktikabel, da der Grad der Offenheit von Gesetzen ein fließender ist, eine klare Trennung beider Handlungsinstrumente somit kaum möglich wäre. 243 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz; derselbe, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 65.

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verzahnt seien.244 Die Verwaltungsvorschrift unterscheide sich von anderen Rechtsnormen nicht durch den Rechtssatzbegriff, sondern durch ihre Eigenschaften, deren Abgrenzung anhand der Funktionsbereiche der verschiedenen Gewalten das vordringliche Problem sei.245 So gelangt er zur Definition der Verwaltungsvorschriften als „alle abstrakt-generelle Regelungen, die die Verwaltung in dem ihr originär zustehenden Funktionsbereich erläßt". 246 Der Umkehrschluß verweist die Rechtsverordnung auf den Funktionsbereich der Gesetzgebung, in dem sie im Wege der Delegation abgeleitete Befugnisse ausüben kann. Da der frühere Antagonismus zwischen Parlament und Exekutive" überwunden und beide heute demokratisch legitimiert seien, ferner die durch den Wandel vom „liberalen Sicherheitsstaat" zum modernen Sozialstaat entstandenen zusätzlichen Aufgaben der Lenkung, Leitung, Verteilung und Planung beiden Gewalten gemeinsam zugewiesen seien, habe sich die Gewaltenteilung zu einer Gewalten Verbindung im Sinne eines kooperativen Zusammenwirkens entwickelt.247 Ossenbühls Grundverständnis der Verwaltung ist das einer Komplementärfunktion zu Gesetzgebung und Rechtsprechung, weshalb der Umfang des Gesetzesvorbehaltes wie des parlamentarischen Zugriffsrechts den Funktionsbereich der Exekutive näher bestimmen.248 Da die Innenwirkung der von Ossenbühl aus verschiedenen Blickwinkeln249 betrachteten Verwaltungsvorschriften „niemals kontrovers gewesen" sei250,

244 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 163 f.; dennoch sind Innen- und Außenwirkung der Verwaltungsvorschriften fur Ossenbühl nicht bedeutungslos, nimmt er sie doch zum Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen ihrer Wirkungsweise (S. 484 ff.). 245 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 166 ff. 246 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 181 (Hervorhebung im Original). 247 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 200 ff. 248 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 208 ff; Ossenbühl befürwortet einen dem hiesigen allgemeinen Vorbehalt vergleichbaren „erweiterten klassischen Gesetzesvorbehalt". 249 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, untersucht die Verwaltungsrichtlinien unter den Gesichtspunkten der in ihnen enthaltenen Organisationsvorschriften (S. 250 ff.; für diese bestehe jenseits des Gesetzesvorbehaltes für grundlegende Fragen eine verfassungsunmittelbare Regelungsgewalt.), der Anleitung des Entscheidungsvorganges der rechtsanwendenden Behörde im Verhältnis zum Bürger (S. 282 ff; diese verhaltenslenkenden Verwaltungsvorschriften werden in gesetzesakzessorische und gesetzesunabhängige unterteilt. Zu ersteren zählen die Auslegungs-, Ermessens-, und Beurteilungsrichtlinien, die Vorschriften zur Sachverhaltsermittlung sowie die gesetzeskonkretisierenden Verwaltungsvorschriften.) sowie der jeweils adressierten staatlichen Stelle (S. 362 ff.: intersubjektive, interbehördliche und intrabehördliche Verwaltungsvorschriften). 250 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 485.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

richtet sich sein Augenmerk vornehmlich auf ihre „direkte" Außenwirkung.251 Diese könne „kraft Inhalt und Funktion" der Richtlinie entstehen, soweit die Verwaltung im ihr grundgesetzlich zugewiesenen Funktionsbereich Verwaltungsvorschriften erläßt. Ossenbühl hebt die Organisationsvorschriften hervor, die „eine Ergänzung der allgemeinen ... Rechtsordnung bezwecken" 252, wobei er sich „die nicht einfache Frage" stellt, wann und inwieweit diese Ergänzungsfunktion eintreten soll.253 Gleiches gelte grundsätzlich für die allgemeinen Verfahrensvorschriften. 254 Soweit weder Vorbehalt noch Vorrang des Gesetzes eingreifen, könnten auch im Bereich des materiellen Rechts gesetzesunabhängig Verwaltungsvorschriften kraft originärer Zuständigkeit der Verwaltung ergehen, was in erster Linie für den gesetzlich nicht geregelten Teil der Subventionsverwaltung gelte.255 Solche Verwaltungsvorschriften mit Ergänzungsfunktion hätten „im Prozeß dieselbe Bedeutung wie ein formliches Gesetz oder eine Rechtsverordnung". 256 Auch bei der Anwendung der Gesetze anerkennt Ossenbühl eine Außenwirkung „kraft Selbstbindung der Verwaltung" 257, also eine durch den Gleichheitssatz258 vermittelte „Bindung an selbst gesetzte Entscheidungsmaßstäbe im originären exekutiven Funktionsbereich" unter der Voraussetzung einer

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Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 502 ff. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 502 ff. (503 f.) (im Original kursiv). 253 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 512 ff., bejaht eine ergänzende Wirkung, wenn und soweit die Rechtsordnung unvollständig ist. Bei Organisationsregeln sei dies gegeben, falls das Gesetz selbst die Ausfüllung einer bewußt offen gelassenen Gesetzeslücke durch Verwaltungsvorschriften vorsieht. Zuständigkeitsregelungen ergänzten die Rechtsordnung, soweit es um die Behördenzuständigkeit geht, nicht bei innerbehördlichen Zuständigkeiten. Ausdrücklich ausgenommen werden Auslegungs-, Ermessens- und Beurteilungsrichtlinien, da sie kein unvollständiges Gesetz ergänzten. Hier bedürfe es weiterhin der Selbstbindungskonstruktion. 254 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 344 ff.; mangels eines umfassenden Gesetzesvorbehaltes für das Verfahrensrecht sollen diese „in die Sphäre des Bürgers ausstrahlen" können (S. 345 f.). Die Außenwirkung begründende Ergänzungsfunktion sei gegeben, wenn die Verfahrensvorschriften rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze (wie das Recht auf Gehör) konkretisieren, nicht aber wenn sie nur einem reibungslosen Verwaltungsablauf dienen (S. 513). 255 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 357 ff, 550 ff., allerdings müsse das Parlament seiner vorrangigen „Ordnungsaufgabe" nachkommen. Nur bei Fehlen einer gesetzlichen Regelung sollen Subventionsrichtlinien „prinzipiell ausnahmslos" binden (S. 552). 256 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 557. 257 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 514 ff. 258 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 542 f., erörtert daneben das Rechtsstaatsprinzip, den Vertrauensschutzgedanken und andere Grundsätze. 252

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

behördlichen „Letzterkenntnisbefugnis". 259 Eine Bindungswirkung norminterpretierender Richtlinien scheide daher „von vorneherein aus".260 Eine administrative Selbstbindung trete vor allem bei bei den ermessensleitenden Richtlinien ein.261 Ähnliches gelte für Beurteilungsrichtlinien, die der internen Steuerung der Ausfüllung von Beurteilungsspielräumen dienen.262 Bedenken erhebt Ossenbühl gegen eine Selbstbindung bei den vor allem im Steuerrecht heimischen Vereinfachungsrichtlinien zur Sachverhaltsermittlung.263 259

Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 522. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 283 ff. (285 f.), 522, 544 f.; Auslegungsrichtlinien binden mithin nachgeordnete Behörden und Organwalter, nicht aber Bürger und Gerichte. „Die Verwaltung hat keine Befugnis zur authentischen Interpretation." (S. 544). 261 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 311 ff, 523 ff., 546 f.; Ermessensrichtlinien erlaubten der Exekutivspitze, den Organwalter an von ihr gewählte Maßstäbe bei der Ermessensausübung zu binden, forderten aber auch, Ausnahmefälle zu berücksichtigen, und ermöglichten so „mit dem Gleichheitssatz harmonierende Verwaltungsentscheidungen". Die „interne Ermessenslenkung" erzeuge bei gleichheitswidrigen Handlungen „eine Gesetzwidrigkeit, die sich unmittelbar den nach außen wirksamen Verhaltungsmaßnahmen mitteilt" (S. 324 ff.). Diese Gesetzgebungstechnik dürfe aber nicht zu einem „apokryphen Verordnungsrecht" unter Umgehung von Artikel 80 GG führen (S. 327 mit Fußnote 202). 262 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 328 ff, 547 ff.; dieser Spielraum sei nur auf die Subsumtion, nicht auf die Gesetzesauslegung oder die Tatbestandsfeststellung bezogen, er gewähre somit „eine gewisse Freiheit der Verwaltung bei der rechtlichen Beurteilung und Würdigung eines bestimmten Sachverhalts" (S. 329 f.; Hervorhebung im Original). Angesichts der restriktiven Anerkennung von Beurteilungsspielräumen durch die Rechtsprechung komme den meisten Beurteilungsrichtlinien nur der Charakter norminterpretierender Verwaltungsvorschriften ohne Selbstbindung zu. Ein anderes gelte bei „Direktiven für höchstpersönliche Werturteile" (S. 548). 263 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 346 ff, nennt als erste Gruppe Pauschalierungen, typisierende Unterstellungen bestimmter Sachverhalte, Schätzungen und Bagatellgrenzen. Zwar seien bloße Schätzungen durch § 217 AO (alte Fassung, heute § 162 AO) gedeckt. Dies gelte mangels des dafür geforderten Erforschungsnotstandes aber nicht für die übrigen Vereinfachungsregeln, die rechtsstaatlich bedenklich seien. Wegen des Vorranges des Gesetzes, das die betreffenden Materien abschließend regele, sollen sie nur insoweit zulässig sein, als sie der Anwendung des Beweises des ersten Anscheins dienende Erfahrungssätze registrieren. Als solche sei ihr „Selbstbindungswert" „naturgemäß gering" (S. 549 f.). Zwar seien sie „rechtlich unverbindlich", dennoch dürfe sich der Richter des „administrativen Sachverstandes" als „Erkenntnishilfe" bedienen (S. 558 f.). Die zweite Gruppe der die Sachverhaltsermittlung im Steuerrecht erleichternden Richtlinien bildeten die Bewertungsrichtlinien, die eine sachverständige und gleichmäßige Wertermittlung bezweckten (S. 348 f.). Eine Selbstbindung trete nicht ein. Der Richter könne eine eigene Bewertung vornehmen, wobei Ossenbühl das Problem der ausdrücklich gebilligten Abweichung von der bisherigen Bewertungspraxis und der so gegebenen Gefahrdung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sieht, ohne es zu lösen (S. 549 f. mit Fußnote 321). 260

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Diese Aussagen überschneiden sich mit jenen zu den normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, die vorhandene gesetzliche Regelungen ergänzen sollen.264 Sie seien nur im originären Funktionsbereich der Exekutive anzuerkennen, dem in den Grenzen von Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes vor allem die Organisationsvorschriften zuzurechnen seien. Bei dem Gesetzgeber vorbehaltenen Gegenständen bestehe, soweit dieser sich auf eine Normierung des Grundsätzlichen beschränken und das Nähere einer administrativen Regelung überlassen möchte, nur die Möglichkeit der Delegation nach Artikel 80 GG.265 Bei originären Verwaltungsbefugnissen genüge hingegen eine bloße Untätigkeit des Gesetzgebers. Dies führe dazu, daß in gesetzesabhängigen Bereichen Richtlinien nur zulässig sind, soweit die originäre exekutive Kompetenz zur Ausföhrung der Gesetze reicht. VerwaltungsVorschriften zur Durchführung ergänzungsbedürftiger Gesetze (Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe) seien mangels originärer Kompetenz den norminterpretierenden Richtlinien zuzuweisen. Sie konkretisierten das Gesetz „nur mit Wirkung für die Verwaltung". Die Bezeichnung als normkonkretisierend sei „verwirrend, weil dadurch der Anschein erweckt würde, als ob sie allgemeinverbindlich wirkten". 266 Ossenbühl fordert als Wirksamkeitsvoraussetzung jeder Richtlinie ihre Bekanntgabe, fragt aber, inwieweit sie veröffentlicht werden muß.267 Genügte es nach bisheriger Praxis, die Richtlinie dem jeweiligen Amtswalter mitzuteilen, so verlangt er eine Bekanntmachung an die jeweils Betroffenen, deren nähere Bestimmung „abhängig von der Wirkung der Norm" sei.268 Daraus kann eine Parallele von Außenwirkung und Publikationserfordernis gefolgert werden. Die Ergebnisse Ossenbühls bewegen sich weitgehend in herkömmlichen Bahnen. Neu ist der Verzicht auf die Konstruktion der bloß „mittelbaren" Außenwirkung. Soweit der entsprechende Entscheidungsspielraum der Verwaltung reicht, soll die Selbstbindung unmittelbar „kraft administrativen Willensaktes" eintreten.269 Ossenbühl liefert also in erster Linie eine dogmatische Neubestimmung. Er nimmt die begriffliche Unterscheidung von Innenund Außenbereich nicht mehr zum Ausgangspunkt, sondern grenzt die Befug264

Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 349 ff. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 353; für den Vorbehaltsbereich heißt es wörtlich: „Die Verwaltungsvorschrift scheidet als Regelungsinstrument aus." 266 So ausdrücklich Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 356 f. 267 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 462 ff. 268 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 464. 269 So jetzt Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof \ HStR, Band III, § 65, RN 48 ff.; die Grenzen der Bindungswirkung entsprechen aber dennoch in etwa dem bisher Angenommenen. „Ob und inwieweit" hiemach noch individuelle Abweichungen zulässig sind, hänge „von dem Charakter und Inhalt der Verwaltungsvorschriften ab" (RN 52). 265

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

nisse von Parlament und Exekutive nach Verantwortungsbereichen ab. Dies wirkt sich auf die von der Verwaltung jeweils zu wählenden Handlungsinstrumente aus. So wird die stets an eine gesetzliche Ermächtigung gebundene Rechtsverordnung auf den legislativen Bereich beschränkt, in gesetzesfreien Bereichen erstarkt die Verwaltungsvorschrift zum eigenständigen Rechtsetzungsinstrument, dem, soweit die originäre Kompetenz der Administrative reicht, unmittelbare Verbindlichkeit zuerkannt wird. Auf die gesetzesunabhängige Verwaltungstätigkeit bezogen deckt sich diese Befugnis zum Normerlaß ohne gesetzliche Delegation grundsätzlich mit dem hier dem Artikel 80 GG durch Auslegung entnommenen selbständigen Verordnungsrecht der Verwaltung.270 Der Unterschied liegt allein in der Wahl des Handlungsmittels, der Rechtsverordnung oder der Verwaltungsvorschrift. Beachtung beanspruchen auch die auf den Lehren Ossenbühls aufbauenden Ausführungen Böckenfordes zur administrativen Rechtsetzung, die ebenfalls auf den Umfang des exekutiven Funktionsbereichs abstellen und desgleichen die Verwaltungsvorschrift unausgesprochen als das in diesem statthafte Handlungsinstrument der vollziehenden Gewalt sehen.271 Böckenförde betont, die Wesentlichkeitstheorie bestimme den Gesetzesvorbehalt nicht nur gegenständlich, sondern auch umfangmäßig, was zugleich die nicht wesentlichen, aber gleichwohl außenwirksamen normativen Regelungen von der Verantwortung der Volksvertretung ausnehme.272 Als Kehrseite der Wesentlichkeitstheorie falle das nicht dem Parlamentsvorbehalt unterliegende „Unwesentliche" in den Funktionsbereich der Exekutive, weshalb auch eine gesetzesabhängige konkretisierende Rechtsetzung keiner Delegation, die eine gesetzgeberische Zuständigkeit voraussetze, bedürfe. 273 Böckenförde gelangt so zu einer allgemeinen verfassungsrechtlichen Befugnis, gesetzesabhängige außenwirksame Normen unwesentlichen Inhaltes zu erlassen, mithin zu einem verfassungsunmittelbaren originären administrativen Verordnungsrecht. Eine besondere Ermächtigung nach Artikel 80 GG sei nur erforderlich, wenn die Frage der Wesentlichkeit 270

Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 510 (im Kontext der Organisationsvorschriften): „Artikel 80 GG erfaßt nur die Regelung der dem Gesetzesvorbehalt unterfallenden Materien, mit anderen Worten: die delegierte Rechtssetzung. Da aber der Gesetzesvorbehalt kein totaler, sondern (nur) ein partieller ist, bleiben immer noch Regelungsmaterien, die in den originären Funktionsbereich der Verwaltung fallen und trotzdem auf die Bürgerposition ausstrahlen. Diese Materien kann die Verwaltung selbständig regeln. Insoweit hat sie in der Tat eine originäre Regelungsgewalt, ein „selbständiges Verordnungsrecht". Die entscheidenden Weichen werden also allein bei der Auffassung vom Gesetzesvorbehalt gestellt." (Hervorhebungen im Original). 271 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 391 ff. 272 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 392; dies sei „bislang nicht deutlich erkannt". 273 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 394.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

nicht klar zutage liegt oder der Gesetzgeber die Verwaltung in Ausübung seines Zugriffsrechts durch detaillierte Ermächtigungen binden will. 274

d) Eigene Stellungnahme (1) Grundlegung: Zum Innen- und Außenverhältnis Ob die Verwaltungsvorschriften weiterhin als bloße Binnenrechtssätze anzusehen sind, hängt maßgeblich vom vorausgesetzten Staatsverständnis ab. Notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung einer eindeutigen Zuordnung bestimmter Handlungsinstrumente zum staatlichen Innen- oder Außenbereich ist die vorherige Feststellung, daß die im Spätkonstitutionalismus auf der Grundlage des monarchischen Prinzips entwickelte Unterscheidung beider Bereiche im demokratischen Staate Bestand haben kann.275 Tragender Grundgedanke des spätkonstitutionellen Rechtssatzbegriffs 276 war die Abgrenzung der Beziehungen selbständiger Rechtsträger. Dem Leitbild des materiellen Gesetzes Labandscher Prägung schwebte vor, daß der Staat als juristische Person durch den Rechtssatz einer natürlichen Person Schranken setzt. Unter bewußter Zuspitzung der seinerzeitigen Denkart kann man sagen, daß allein dieser Umstand das Interesse der liberalen Gesellschaft erweckte, die auf bloßes Abwehren staatlicher Übergriffe in ihre Sphäre ausgerichtet war, mithin nur das Außenverhältnis in den Blick nahm. So gesehen beruhte die geschichtliche Entstehung der Trennung von staatlichem Innen- und Außenbereich auf dem Dualismus von Staat und Gesellschaft. Dieses allein auf die Begrenzung monarchischer Machtvollkommenheit ausgerichtete Staatsverständnis wurde in der Theorie überwunden durch die Weimarer Reichsverfassung, seinen eigentlichen Durchbruch erfuhr das gewandelte Bild des Staates dann unter der Geltung des Grundgesetzes. Die Frage, ob dies eine Neubewertung von staatlichem Innen- und Außenbereich mit sich bringen muß oder jedenfalls sollte, läßt sich nur anhand einer Untersuchung der beiden wesentlichen Besonderheiten unserer Verfassung im Ver-

274

Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 395. Auf die Beziehung zwischen Rechtssatzbegriff und Staatsverständnis weist Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 333 f., 376 f., hin. Er schlägt vor, die Fiktion des Staates als juristische Person aufzugeben und ihn als Ordnungs- und Wirkeinheit zu verstehen. Der Staat wird so vom Subjekt zur Funktion (vgl. S. 377). 276 Vgl. oben § 2 II. l.)a) sowie § 3 I. l.)a). 275

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1 7

gleich zum spätkonstitutionellen Rechtszustand, dem Demokratie- und dem Sozialstaatsprinzip, sowie der großen Gemeinsamkeit, dem auch heute noch grundsätzlich auf Abwehr des Staates gerichteten Grundrechtsschutz, klären. Mit dem Übergang zur Demokratie wurde der Staat zur „Selbstorganisation der Gesellschaft" 277. Das materielle Gesetz war nun nicht mehr bloße Schranke staatlicher Machtausübung, sondern Mittel zur Durchsetzung der in der Gesellschaft gebildeten und im staatlichen Entscheidungsfindungsprozeß konkretisierten Vorstellungen des Staatsvolkes. Daneben wurde der Rechtssatz zum staatlichen Gestaltungsmittel zur Einwirkung auf die Gesellschaft. Dies entspricht dem sozialstaatlichen278 Anliegen des Grundgesetzes, dessen geistesgeschichtliche Grundlagen gerade auf eine Überwindung des Dualismus in seiner strengsten Form des reinen Liberalismus abzielten.279 Auch wenn Staat und Gesellschaft nicht mehr im strikten Gegensatz zueinander stehen, sind sie doch nicht gleichzusetzen. Die bewußte Absage des Grundgesetzes an jede Form des Totalitarismus und die Anerkennung staatsfreier Wirkungsfelder des einzelnen als Glied der Gesellschaft verbieten die Annahme ihrer Identität.280 Das Grundgesetz muß bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Demokratie- und Sozialstaatsprinzip vor allem auch in der Tradition des liberalen Rechtsstaates gesehen werden.281 Wichtigste Konsequenz dessen ist das dogmatische Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte. Zwar wird dieser Ansatz heute vervollständigt durch weitere Aussagen der Grundrechte, insbesondere durch die von ihnen gebildete objektive Weitordnung, jedoch bleibt es dabei, daß der einzelne als Freiheitsberechtigter der freiheitsverpflichteten Staatsgewalt ebenso begegnet wie die aus vielen einzelnen bestehende Gesellschaft dem Staat. Insoweit hat unsere Verfassung nicht mit der Geschichte gebrochen, sondern die rechtsstaatliche Überlieferung

277

Schmitt, Carl, Der Hüter der Verfassung, S. 78. In die Richtung auf ein Verständnis des Staates als das einer gestaltend tätigen Einheit weisen auch die zunehmend diskutierten Staatsziele (vgl. Artikel 20a GG), deren inhaltliche Konturenlosigkeit in erster Linie den Gesetzgeber in die Pflicht nimmt. 279 Erinnert sei an die Lehren Lorenz von Steins zum Verordnungsrecht (oben § 3, Fußnote 26), die gerade auf einen sozialen Ausgleich zur Verringerung realer Ungleichheit gerichtet waren und so zur Versöhnung von Staat und Gesellschaft beitragen sollten. Hierzu Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 170 ff. 280 Auf diesen Zusammenhang weist Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 221, hin. 281 Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 225 ff., bemerkt mit Recht, die Freiheit gegenüber dem Staat verneine zugleich eine Allzuständigkeit des demokratischen Staates und begrenze so das demokratische Prinzip. Diefreiheitliche Demokratie ist keine totale Demokratie. Gleiches muß für das Sozialstaatsprinzip gelten, das Freiheit und Eigenverantwortung nicht ausschließen darf. 278

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

einschließlich des spätkonstitutionellen Gedankengutes282 fortgeführt, was bedingt, daß Staat und Gesellschaft auch heute noch nicht eins sind. Der klassische Dualismus besteht fort 283, er hat aber im Vergleich zum 19. Jahrhundert an Schärfe verloren. Gleichwohl sind Wechselwirkungen zwischen Staat und Gesellschaft auszumachen. Der Staat wirkt gestaltend auf die Gesellschaft ein, geht aber zugleich von der Mitwirkung des engagierten Bürgers im Staate aus. Dennoch bleibt der Staat gerade wegen der Gegenüberstellung zur Gesellschaft mehr als ein bloßes Geflecht unzähliger Rechtsbeziehungen284 einzelner Rechtsträger. Es ist an der Idee der Einheit des Staates festzuhalten, die sich am überzeugendsten durch dessen Sicht als einheitliche Rechtspersönlichkeit erklären läßt. Hieraus folgt aber auch zwingend die Unterscheidung von staatlichem Innenbereich und der Gesellschaft zugewandtem Außenverhältnis, ohne daß das Staatsrecht dadurch in einer dem Positivismus vergleichbaren Weise formalisiert und inhaltlich entleert werden müßte, besagt doch die Anerkennung als juristische Person noch nichts über deren Wesen. Insofern sind zwei grundlegende Unterschiede zur spätkonstitutionellen Dogmatik zu nennen. Zum einen ist dieses Staatsverständnis nicht blind gegenüber den historischen, philosophischen und soziologischen Bezügen des Verfassungsrechts. Die Einwände Otto von Gierkes gegen die Labandsche Begriffsjurisprudenz 285 hatten ihre damalige Berechtigung, treffen aber auf den Staat der Bundesrepublik mit seiner wertorientierten Verfassungsordnung nicht zu. Zum anderen zwingt die Fiktion des Staates als juristische Person nicht zur Aufrechterhaltung des Impermeabilitätsgedankens. „Impermeabel" ist nur die natürliche Person, der Mensch.286 Im Innenbereich des Rechtsstaates ist staatliches „Recht"287 gegeben und Rechtsschutz288 möglich. Ein anderes ergibt sich auch nicht, wenn man wie

282

Für Badura, Der Staat, Beiheft 11, S. 133 (134), steht Paul Laband neben anderen „in einer dogmengeschichtlichen Kontinuität mit dem heutigen Staatsrecht". 283 Ebenso Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 209 ff.; anders Hesse, S. 8, mit der Begründung, „gesellschaftliches" Leben sei heute ohne die organisierende, planende, verantwortliche Gestaltung durch den Staat nicht mehr möglich. Dem sei jedoch die hier vertretene Anerkennung staatsfreier Betätigungsfelder des einzelnen entgegengehalten. 284 Dieses Problem sieht auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 377, löst es aber, indem er die „Handlungseinheit der Organisation" an die Stelle der „Zurechnungseinheit der juristischen Person" setzt. 285 Siehe oben § 2 II. l.)a), Fußnote 110. 286 So bereits Bachof in: Festschrift für Wilhelm Laforet, S. 297. 287 Spätestens seit BVerfGE 33, 1 ist jeder rechtsfreie Binnenbereich abzulehnen. 288 Denkbar sind mehrere Rechtsschutzsituationen. Neben einer Inzidenzprüfung des Innenrechts aus Anlaß einer behördlichen Selbstbindung kommt eine Feststellungsklage des Organwalters bei Grundrechtsverletzungen in Betracht. Vereinzelt wird auch eine abstrakte Normenkontrolle von Verwaltungsrichtlinien notwendig sein, für deren Zuläs-

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

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Laband, der „von Hause aus" Handelsrechtler war 289, zivilrechtliche Vorstellungen auf das Staatsrecht übertragen will, denn auch die juristische Person des Privatrechts kennt interne Rechtsbeziehungen zwischen ihr und den fur sie handelnden Menschen, unabhängig davon, ob sich diese auf das Außenverhältnis auswirken.290 Die Idee einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit des Staates beizubehalten, entspricht auch einem beachtlichen praktischen Bedürfnis. Nur sie ermöglicht, die Zurechnung des Handelns einzelner Staatsorgane zu erklären, was am Beispiel der Amtshaftung besonders deutlich wird. Allerdings lassen sich staatlicher Innen- und Außenbereich nicht stets genau voneinander trennen.291 Teilweise bestehen sogar Überschneidungen. Bestes Beispiel sind die Sonderstatusverhältnisse292, in denen der einzelne dem Staat sowohl als Teil der behördlichen Organisation wie als Bürger begegnet. Die damit verbundenen Schwierigkeiten der Abgrenzung beider Rechtsbereiche sind aber noch kein Anlaß, ihre Unterscheidung gänzlich aufzugeben, sondern Auftrag, handhabbare Kriterien hierfür zu entwickeln. Es ist daher keinesfalls zwingend, die Definition der Verwaltungsvorschrift als Innenrechtssatz allein wegen der Verzahnung von Innen- und Außenbereich aufzugeben.

(2) Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift des gewandelten Gesetzesbegriffs

unter der Herrschaft

Die Lösung des überkommenen (materiellen) Gesetzesbegriffs vom Eingriff in Freiheit und Eigentum293 bedeutete dessen inhaltliche Entleerung, er büßte sigkeit sich Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Band 1, Artikel 19 Absatz 4 GG, RN 70 ff., ausspricht. 289 Zum Werdegang von Paul Laband vgl. Stolleis, S. 364 f. 290 Zum Beispiel können organisatorische Regelungen der Satzung eines rechtsfähigen Vereines bloß inteme Wirkung, aber dennoch Rechtscharakter haben. 291 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 379, wendet zutreffend ein, die „dogmatische Verwendbarkeit" eines auf das Außenverhältnis beschränkten Begriffes des materiellen Gesetzes leide unter der Schwierigkeit der vom juristischen Staatsbegriff abhängigen Abgrenzung von Außen- und Innensphäre. Diese erübrigt sich aber auch dann nicht, wenn man wie Ossenbühl auf eine derartige begriffliche Trennung verzichtet, da sich die Problematik in diesem Fall auf die Ermittlung der Rechtswirkungen einer Regelung verlagert. 292 Die Leiturteile der „Wesentlichkeitsrechtsprechung" betrafen nicht zufällig die „besonderen Gewaltverhältnisse". Hier zeigt sich deutlich der Zusammenhang von Gesetzesbegriff, Gesetzes vorbehält und gewandeltem Staats Verständnis. 293 Siehe oben § 2 II. 1.) und § 3 I. 1.).

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

seine Unterscheidungskraft für die Funktionsbestimmung der gesetzgebenden Gewalt ein.294 Materielles Gesetz kann nun grundsätzlich jede abstrakt-generelle Regelung unabhängig von ihrem Inhalt sein. Als tauglicher Regelungsgehalt kommen neben der Eingriffs- auch die Leistungsverwaltung sowie alle Organisations- und Verfahrensregeln in Betracht, die früher als Nichtrecht der Verwaltungsverordnung zugewiesen wurden. Folglich ist auch die Rechtsverordnung als von der Exekutive erlassenes materielles Gesetz nicht mehr auf bestimmte Materien festgelegt, sondern an sich überall dort ein geeignetes Handlungsmittel, wo auch ein Parlamentsgesetz zulässig wäre. 295 Umgekehrt ist die Verwaltungsvorschrift unabhängig von ihrer Wirkungsweise nicht gegenständlich auf bestimmte Rechtsgebiete beschränkt, wie ein Blick auf ihre hauptsächlichen Einsatzfelder formeller und materieller Art zeigt. Dies sind neben dem Organisations- und Verfahrensrecht das Steuerrecht als klassisches Eingriffsrecht sowie das Sozialrecht als gesetzesabhängiges und das Subventionsrecht als weitgehend gesetzesfreies Leistungsrecht. Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift können also vorbehaltlich zwingender Parlamentsvorbehalte grundsätzlich in jedem Rechtsgebiet ergehen. Ihr Anwendungsbereich verläuft heute parallel. 296 Dieser Befund wirft die Frage nach dem Verhältnis beider Instrumente zueinander auf. Ihr möglicher Inhalt, ihre abstrakt-generelle Struktur sowie ihr Normurheber scheiden als Abgrenzungskriterien zwangsläufig aus. Eine rein formale Differenzierung bei identischem materiellen Gehalt könnte zudem kaum die Berechtigung zweier Arten exekutiver Rechtsetzung erklären. Als einzig verbleibendes materielles Unterscheidungsmerkmal bietet sich ihre Rechtswirkung im staatlichen Innen- und Außenbereich an. In beiden Bereichen besteht ein Bedarf an untergesetzlichen generellen Regelungen, die verbindliche Maßstäbe für ihre jeweiligen Adressaten setzen. Da das Grundgesetz in der Tradition des liberalen Rechtsstaates steht, der durch Demokratieund Sozialstaatsprinzip lediglich ergänzt und auf ein neues Fundament gestellt wurde, liegt es nahe, die dem Konstitutionalismus entstammenden Begrifflichkeiten nur dort zu ändern, wo die gewandelten Grundbedingungen dies fordern, und im übrigen, das heißt soweit die bestehende Tradition fortgeführt wird, am herkömmlichen Begriffsverständnis festzuhalten. Umgesetzt auf die Definition des materiellen Gesetzes bedeutet dies, einerseits den Eingriff in Freiheit und Eigentum als dessen Wesensmerkmal zu verabschieden und andererseits die 294

So ausdrücklich Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 377 ff. Mit der Aufgabe der gegenständlichen Begrenzung des materiellen Gesetzes wird die Labandsche Trennung von formeller und materieller Rechtsverordnung hinfällig. Allein der Unterschied von Innen- und Außenrechtsverhältnis kann fortbestehen. 296 Die Parallelität der Handlungsmittel Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift zeigt sich besonders deutlich im derzeitigen Einkommensteuerrecht, in dem beiden die Klärung sowohl materieller als auch verfahrensrechtlicher Fragen zugewiesen wird. 295

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

Eigenschaft der Außenwirkung beizubehalten. Dies bedingt, Gesetz und Rechtsverordnung in Einklang mit der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes dem Außenverhältnis zuzuordnen. Die Verwaltungsvorschrift war gemäß dem Willen der „Verfassungsväter" der Gegenpol zum materiellen Gesetz. Dessen Neubewertung zwingt nicht dazu, diese Gegenüberstellung gänzlich aufzugeben, sondern verlangt nur, sie vom gegenständlichen Denken zu befreien und am heute maßgeblichen Charakteristikum des Gesetzesbegriffs, der Außenwirkung, auszurichten. Die Verwaltungsvorschrift enthält als bloßer Binnenrechtssatz297 grundsätzlich nur Innenrecht der Verwaltung.

(3) Die „Lücke" im System Die Exekutive kann in vorbehaltsfreien, gesetzlich nicht geregelten Bereichen Verwaltungsvorschriften erlassen, durch diese je nach dogmatischem Standpunkt kraft mittelbarer oder unmittelbarer Außenwirkung subjektive Rechte des Bürgers begründen und die Gerichte an ihren Willen binden, ohne hierzu vom Gesetzgeber ermächtigt zu sein. Versucht sie, ebendies durch eine Rechtsverordnung zu bewirken, bedarf es nach bisher einhelliger Meinung298 einer an Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG zu messenden förmlichen Ermächtigung. So entsteht das fragwürdige Ergebnis, daß die Verwaltung durch den Erlaß von Richtlinien (unabhängig von deren Rechtsnatur) autonom Recht setzen kann, nicht aber mittels inhaltsgleicher299 Rechtsverordnungen. Dies verwundert in gegenständlicher wie umfangmäßiger Hinsicht. Zum einen wird allein durch die Handlungsform der Verordnung ein Totalvorbehalt fur bislang vorbehaltsfreie Materien begründet. Zum anderen ist es zwingende Folge der Anwendbarkeit von Artikel 80 GG, daß dieser ein, wie auch immer zu bestimmendes, Mindestmaß an Regelungsintensität vorschreibt. Dem Parlamentsgesetzgeber bliebe so nur die Wahl, eine solche (,Alles") oder keine Ermächtigung („Nichts") zu schaffen. Der Mittelweg einer groben Vorzeichnung des Normzieles unterhalb dieser Schwelle wäre stets verfassungswidrig, das Gesetz, das „an sich" nicht erforderlich wäre, immer wegen zu geringer Regelungsdichte nichtig.300 297

Durch die Betonung des materiellen Gesetzes verliert der Rechtssatzbegùff an Bedeutung. 298 Nachweise oben § 3 II. 2.), Fußnoten 139, 140, und § 3 II. 3.), Fußnote 158. 299 Bezeichnend Selmer, JuS 1968, S. 489 (492): „Diese (Richtlinien) unterscheiden sich in ihrem Inhalt zum großen Teil durch nichts von Rechtsverordnungen." 300 Die zweite (umfangmäßige) Konsequenz hat schon Geitmann, S. 85 ff., erkannt. Deshalb will er die »Anforderungen des Art. 801 2 GG und des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes zur Kongruenz" bringen, ohne den (gegenständlichen) Anwendungs-

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Diese „Lücke" im System der Rechtsetzungsinstrumente301 läßt sich ohne Wertungswidersprüche zu Artikel 80 GG nur schließen, wenn man der obigen302 Auslegung dieser Verfassungsbestimmung folgt und den Parlamentsvorbehalt gegenüber rechtsetzender und rechtsanwendender Exekutive gegenständlich und umfangmäßig einheitlich bestimmt. Neben den dort aus der Funktion des Parlamentsgesetzes gefolgerten Argumenten können für diese Lösung alle von Ossenbühl zum eigenständigen Funktionsbereich der Exekutive vorgebrachten Gründe angeführt werden, allein sollte das der Verwaltung zugestandene „selbständige Verordnungsrecht" 303 durch den Erlaß von Verordnungen ausgeübt werden. Nur dieses Ergebnis wird dem gewandelten Begriff des materiellen Gesetzes und damit auch der Rechtsverordnung gerecht, die heute nicht mehr gegenständlich auf den Vorbehaltsbereich beschränkt ist, sondern auch in jenen Bereichen ergehen kann, in denen Ossenbühl der Verwaltung zutreffend originäre Rechtsetzungsbefugnisse zubilligt. Allerdings wird die Rechtsverordnung so vom Funktionsbereich des Gesetzgebers losgelöst und in jenen der Exekutive übertragen, ein Gedanke, der noch aufzugreifen sein wird. Für ein solches Ergebnis spricht auch die Systematik des Grundgesetzes, das der Exekutive zur Rechtsetzung im Abschnitt über die Gesetzgebung (VII. Abschnitt: Artikel 70 ff. GG) das Handlungsinstrument der Rechtsverordnung zur Verfügung stellt.304 Die Verwaltungsvorschrift wird indessen allein im Abschnitt über die Ausföhrung der Gesetze (VIII. Abschnitt: Artikel 83 ff. GG) erwähnt.305 Diese unterschiedliche Behandlung ist keinesfalls zufällig, sondern bereich von Artikel 80 GG zu beschränken. Dies ist eine Scheinlösung. Der erste, von ihm nicht benannte Widerspruch läßt sich so nicht beheben. Die zweite Unstimmigkeit ist zwingende Folge der ersten, da jeder Gesetzes vorbehält ein Minimum an gesetzlicher Regelung verlangt, also stets eine noch allgemeinere Regelung verbietet. Geitmann kann das Problem durch herabgesetzte Bestimmtheitsanforderungen nur entschärfen, nicht lösen. Dies kann nur ein gegenständlich und umfangmäßig einheitlicher Parlamentsvorbehalt. 301 Vgl. Krebs, VerwArch 70 (1979), S. 259 (265 ff.), für den die Lösung dieser Frage erfordert, entweder die Erstreckung des Artikel 80 GG auf alle Rechtsverordnungen aufzugeben oder eine Rechtsetzung durch Verwaltungsvorschriften anzuerkennen. Im folgenden erörtert Krebs nur den zweiten Weg und entscheidet sich für die Außenwirksamkeit gesetzeskonkretisierender Verwaltungsvorschriften im exekutiven Funktionsbereich. Artikel 80 GG gerät so aus dem Blick. 302 Oben §3111.1.). 303 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 510. 304 Das Grundgesetz nennt die Rechtsverordnung im Abschnitt über die Gesetzgebung in Artikel 80 und 82 GG, daneben aber auch in den Sonderfällen der Artikel 109 Absatz 4 Sätze 2 und 3 GG (Haushaltswirtschaft), Artikel 115k Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 GG (Verteidigungsfall) und Artikel 129 Absatz 1 Satz 1 GG (Übergangsvorschrift). 305 Der Verfassungstext spricht die Verwaltungsvorschrift in den Artikeln 84 Absatz 2, 85 Absatz 2 Satz 1, 86 Satz 1, 87b Absatz 2 Satz 2, 108 Absatz 7 GG (alle-

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

spiegelt das bei Schaffung des Grundgesetzes als selbstverständlich vorausgesetzte Verständnis der Rechtsverordnung als einzig vorgesehenes Mittel zur außenwirksamen exekutiven Rechtsetzung wider. Hieran ist festzuhalten. Demnach bestätigt das einem Vergleich von Richtlinie und Rechtsverordnung abgewonnene, dem eigenen Funktionsbereich der Exekutive zuzuordnende selbständige Verordnungsrecht die Auslegung des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG, nach der dieser nur anzuwenden ist, soweit der allgemeine Parlamentsvorbehalt reicht, das heißt nur in „wesentlichen" Bereichen, in denen er jeweils eine Ermächtigung zur untergesetzlichen Rechtsetzung verlangt. Auch gegenüber der rechtsetzenden Exekutive gilt kein „Totalvorbehalt". Zugleich wird das etwaige Hauptargument gegen einen einheitlichen Parlamentsvorbehalt, Artikel 80 GG gelte auch in vorbehaltsfreien Bereichen, entkräftet. Daneben wird die Verwaltungsvorschrift auf ihre konventionelle Bedeutung verwiesen. Die unmittelbar außenwirksame untergesetzliche Rechtsetzung ist der Rechtsverordnung vorbehalten, sei es als selbständiges Verordnungsrecht in nicht förmlich geregelten vorbehaltsfreien Bereichen oder als gesetzesabhängiges Ergänzungsrecht auf Grund gesetzlicher Ermächtigung. Der Verwaltungsrichtlinie verbleibt die staatliche Innensteuerung, die über den Gedanken der Selbstbindung mittelbar außenwirksam werden kann, soweit der Exekutive verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich ein Spielraum zur letztverbindlichen Entscheidung zusteht.

3. Die exekutive Rechtsetzung und der Funktionsbereich

der Exekutive

a) Das Verhältnis der Funktionsbereiche von Legislative und Exekutive zu den Anwendungsbereichen von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift Namentlich Ossenbühl306 und Böckenförde 307 setzen den Anwendungsbereich der Rechtsverordnung mit dem Funktionsbereich der Legislative, den

samt zur Ausführung der Gesetze) und in Artikel 129 Absatz 1 Satz 1 GG (Übergangsregelung) an. 306 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 168: „Die Abgrenzung der Verwaltungsvorschriften von den Rechtssätzen herkömmlicher Art ... betrifft die Grenze zwischen den Funktionsbereichen der Legislative und der Exekutive." Die Rechtsverordnung wird so auf den Funktionsbereich des Gesetzgebers beschränkt. 307 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 393 ff., entnimmt der umfangmäßigen Beschränkung des Gesetzesvorbehaltes durch die Wesentlichkeitstheorie zugleich, daß eine gesetzesabhängige, spezifizierende und konkretisierende Recht-

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

der Verwaltungsvorschrift mit jenem der Exekutive gleich. Die den Teilgewalten von Verfassungs wegen zugewiesenen Funktionsbereiche zu betonen, beruht auf dem an sich zutreffenden Ansatz, daß die Kompetenzen der einzelnen Staatsorgane unter der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr rein formal, sondern abhängig von ihrer jeweiligen Funktion im Verfassungsgefüge zu ermitteln sind. Aus diesem Grunde konnte der Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes zuvor als ein funktionaler bezeichnet werden.308 Förmlicher Gesetzesvorbehalt und Funktionenlehre sind untrennbar miteinander verbunden, da die Wesentlichkeit einer Angelegenheit entscheidet, welche Gewalt die Verantwortung für sie trägt. Die Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung anstelle der Verwaltungsvorschrift läßt dagegen die grundgesetzliche Kompetenzverteilung unberührt. Stets ist die Exekutive zuständig. Beide Formen abstrakt-genereller Regelungen der Administrative können daher kaum verschiedenen Funktionsbereichen zugeordnet werden. Diese herkömmliche Einteilung beruht vielmehr auf dem konstitutionellen Rechtssatzbegriff, ebenso wie dieser ist sie eine „historisch-konventionelle". Solange der Begriff des materiellen Gesetzes durch Eingriffsdenken und Impermeabilitätstheorie beherrscht wurde, konnten der Vorbehaltsbereich als Funktionsbereich der Legislative und der Anwendungsbereich der Rechtsverordnung nicht auseinanderfallen. Die Verwaltungsverordnung war zwingend auf den übrigen Bereich exekutiver Tätigkeit verwiesen. Heute bestimmen die Wesentlichkeit sowie das ausgeübte gesetzgeberische Zugriffsrecht den legislativen Funktionsbereich. Der denkbare Inhalt einer Rechtsverordnung reicht aber weiter, zugleich unterscheidet er sich nicht mehr von dem einer Verwaltungsvorschrift. Der beiden grundsätzlich eröffnete Anwendungsbereich wird anders als früher nicht durch ihre innere Abhängigkeit vom Rechtssatzbegriff zerteilt, sondern verläuft nun parallel. Dies rechtfertigt nicht nur die Unterscheidung beider Handlungsmittel nach dem einzig noch verbleibenden Differenzierungskriterium der Außenwirkung, sondern auch ihre Gleichbehandlung hinsichtlich der Zuordnung zu einem bestimmten Funktionsbereich. Dies ist jener der Exekutive. Folglich ist die Frage nach dem zu wählenden Handlungsmittel exekutiver Rechtsetzung nicht mehr eine solche des jeweiligen Funktionsbereiches. Umgekehrt wird der exekutive Funktionsbereich nicht durch das konkret gewählte Instrument definiert, sondern in erster Linie negativ durch den Wesentlichkeitsvorbehalt und die Ausübung des gesetzgeberischen Zugriffsrechts bestimmt. Innerhalb dieser Schranken wird die vollziehende Gewalt tätig. Die Setzung ohne gesetzliche Delegation zum Funktionsbereich der Exekutive gehört. Diese Regelungen unterscheidet er von den Rechtsverordnungen, es kann sich also nur um Verwaltungsvorschriften handeln. 308 Siehe oben § 2 III. am Anfang.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

ihr zu diesem Zwecke zur Verfugung stehenden Handlungsinstrumente Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift können in ihrem Funktionsbereich unter Berücksichtigung von dessen Grenzen, die vor allem gesetzlich gezogen werden, zum Einsatz kommen, nicht aber das Ausmaß exekutiver Befugnisse im Verhältnis zu den anderen Gewalten verschieben. Genau betrachtet ist eine Ermächtigung im Sinne von Artikel 80 GG demnach keine „Delegation" der Rechtsetzung im herkömmlichen Sinne mehr. Der Gesetzgeber überträgt nicht Teile seines Tätigkeitsfeldes, sondern legt in Ausübung seines Gestaltungsspielraumes die Grenzen des legislativen und als Folge dessen auch des exekutiven Funktionsbereiches fest. 309 In diesem Sinne wird der administrative Normerlaß zum Gesetzesvollzug.310

b) Der Gleichlauf von exekutiver Rechtsetzung und Rechtsanwendung im einheitlichen Funktionsbereich der Exekutive Die Verwaltung trifft innerhalb ihres Funktionsbereichs die ihr gesetzlich überlassenen oder die keines Gesetzes bedürftigen Entscheidungen. Zu diesem Zwecke stehen ihr verschiedene Instrumente konkret-individuellen oder abstrakt-generellen Entscheidens zur Verfugung. Die Auswahl des jeweils einzusetzenden Handlungsmittels steht jedoch nicht im Belieben der Verwaltung, sondern wird beschränkt durch den Umfang der exekutiven Befugnisse. Keinesfalls darf die Exekutive ihren Funktionsbereich eigenmächtig zu Lasten desjenigen einer der beiden anderen Gewalten verschieben. Dies gilt vor allem auch gegenüber der Judikative, die zur Kontrolle der Einhaltung der Gesetze berufen ist. Ein unterschiedliches Maß anrichterlicher Kontrolldichte ist deshalb nur denkbar, wenn dies bereits im Gesetz angelegt ist. Als Folge dessen sind einzelfallbezogenes und rechtsetzendes, das heißt eine Vielzahl von Einzelfällen generalisierend behandelndes Verwaltungshandeln nach Art und Umfang ihrer Gesetzesbindung gleichzusetzen, da ansonsten die Exekutive selbst und nicht das Gesetz über den Umfang ihres Funktions309 Dennoch ist die Bezeichnung als „Delegation" nur sprachlich ungenau, nicht jedoch völlig verfehlt, da der Gesetzgeber sein eigenes Tätigkeitsfeld häufig gerade im Hinblick auf die rechtsetzende Aufgabenwahrnehmung durch die Verwaltung bewußt einengen wird. Insofern „überträgt" er keine eigenen Befugnisse, sondern begründet neue, aber gesetzesabgeleitete Kompetenzen der Verwaltung. So verstanden kann der Begriff der „Delegation" im Anschluß an den allgemeinen (herkömmlichen) Sprachgebrauch weiterhin Verwendung finden. 310 Vgl. oben § 3 I. l.)a) zum /rw/zkonstitutionellen Verordnungsrecht (vor dem Positivismus). 15 Seiler

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bereiches entscheiden und auf diese Weise die gerichtliche Kontrolldichte mitbestimmen könnte. Abstrakt gesprochen entsteht so ein Gleichlauf von Rechtsanwendung und exekutiver Rechtsetzung, der nur durchbrochen werden kann, wenn das Gesetz dies im konkreten Fall selbst anordnet. Insbesondere soweit Einzelfallentscheidungen wie regelmäßig in vollem Umfang überprüfbar bleiben, der exekutive Normerlaß hingegen fur die Gerichte verbindlich sein soll, bedarf es einer legislativen Ermächtigung, die sich ausschließlich auf letzteres beschränkt. Für die Verwaltungsvorschriften, die im Funktionsbereich der Exekutive ohne Ermächtigung ergehen, bedeutet dies, daß sie im Außenverhältnis keine unmittelbaren Rechtswirkungen erzeugen können, wenn ein entsprechendes einzelfallbezogenes Handeln voll überprüfbar wäre. Als zwingende Mindestaussage kann dem entnommen werden, daß den Verwaltungsvorschriften unabhängig von ihrer dogmatischen Einordnung insoweit nur Innenwirkung zukommen kann. Eine exekutive außenwirksame Rechtsetzung hätte hier eine ausschließlich auf den Normerlaß bezogene Ermächtigung zur Voraussetzung, die den Funktionsbereich der Exekutive derart differenzierend ausgestalten würde. Genau dies besagt Artikel 80 GG. Besagte Parallelität von Einzelfall und Regel hat unterschiedliche Konsequenzen in den beiden Teilbereichen des administrativen Funktionsbereiches, dem der gesetzesabhängigen und jenem der gesetzesunabhängigen Verwaltungstätigkeit. Die Anwendung der Gesetze im Einzelfall ist gerichtlich voll überprüfbar, es sei denn, dieser Grundsatz wird durch die Einräumung eines Beurteilungs- oder Ermessensspielraumes ausnahmsweise gesetzlich durchbrochen. Die Verwaltung darf diese Kontrolle nicht durch eine außenwirksame Rechtsetzung umgehen und auf diese Weise aus eigener Kompetenz entscheiden, in welchem Umfange die Gerichte über die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu wachen haben, da sie ansonsten ihren Machtbereich um die Möglichkeit der tez/verbindlichen Entscheidung erweiterte, der einheitliche exekutive Funktionsbereich mithin auseinanderbräche.311 Ein anderes gilt nur, soweit ihre Einzelfallentscheidungen ebenfalls binden oder falls der Gesetz311

Die Einheit des exekutiven Funktionsbereiches ließe sich auf anderem Wege nur gewährleisten, wenn man der Verwaltung auch beim einzelfallbezogenen Handeln generell umfassende Spielräume zur letztverbindlichen Rechtskonkretisierung zubilligen wollte. Dies widerspräche nach hiesiger Ansicht der Rechtsschutzgarantie. Auch könnten die obersten Gerichtshöfe die Gesetzesauslegung insoweit nicht mehr vereinheitlichen, was erhebliche Ungleichbehandlungen mit sich brächte. Schließlich bliebe die durch die gerichtliche Kontrolle erreichte Disziplinierung einzelner Beamter aus, die Gefahr willkürlichen Behördenhandelns vergrößerte sich. Ein deckungsgleicher exekutiver Funktionsbereich bleibt mithin nur dann erhalten, wenn man konkret-individuelles und abstrakt-generelles Handeln gleichermaßen der vollen richterlichen Kontrolle unterwirft und Abweichungen hiervon einheitlich dem Gesetzgeber vorbehält.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 7

geber sie gerade zur Rechtsetzung ermächtigt hat. Bei der gesetzesunabhängigen Verwaltungstätigkeit ist die Exekutive freier in der Wahl ihrer Handlungsformen. Da auch eine Einzelfallentscheidung nur auf ihre Vereinbarkeit mit höherrrangigem Recht zu überprüfen wäre, die Gerichte also weitgehend bände, dürfte sie Rechtsnormen erlassen, die im Ergebnis die gleiche Bindungswirkung erzeugen könnten, ohne daß ihr Funktionsbereich hierdurch beeinflußt würde. Dogmatisch folgerichtig läßt sich dieser aus der Funktionenlehre abgeleitete Gleichlauf von exekutiver Rechtsetzung und Rechtsanwendung nur unter zwei Voraussetzungen erreichen. Zum einen muß die Trennlinie der sachlichen Befugnisse von Legislative und Exekutive einheitlich bestimmt werden. Zu diesem Zwecke bindet der Wesentlichkeitsvorbehalt als einheitlicher Parlamentsvorbehalt beide Arten exekutiver Handlungsweise gleichermaßen inhaltlich. Zum anderen müssen die Handlungs/ör/wew ein abstrakt gesprochen gleiches Verhältnis von Exekutive und Judikative nach Maßgabe der jeweiligen Gesetzeslage wahren. Dies ist gegeben, wenn man die Verwaltungsverordnung auf das staatliche Innenverhältnis beschränkt und ihr lediglich dort, wo eine Einzelfallentscheidung für die Gerichte bindend ist, (mittelbare) Außenwirkung zuspricht. Eine unmittelbar außenverbindliche Rechtsetzung kann hingegen nur mittels der Rechtsverordnung erreicht werden. In gesetzesabhängigen Bereichen verlangt dies eine gesetzliche Regelung, die selbst das „Wesentliche" regelt und zudem eine ausschließlich auf die Rechtsetzung beschränkte Ermächtigung zur Bindung der Gerichte ausspricht, mithin eine Rechtsgrundlage nach Artikel 80 GG. In gesetzesunabhängigen Bereichen kann die Verwaltung Rechtsverordnungen aus eigener Machtbefugnis erlassen. Die Funktionsbereiche von Legislative, Exekutive und Judikative bestätigen also die obige Auslegung von Artikel 80 GG sowie die aus dem Vergleich von Verordnung und Verwaltungsvorschrift gezogenen Schlüsse in jeder Hinsicht.

c) Kritik am Ansatz Ossenbühls Dieses Konzept weist zahlreiche Gemeinsamkeiten mit jenem Ossenbühls auf, zu denen die Annahme verschiedener Funktionsbereiche zählt. Hauptkritikpunkt an seinen Lehren ist, daß er zwar die Funktionsbereiche von Legislative und Exekutive zutreffend vom spätkonstitutionellen Denken befreit, jedoch unbeachtet läßt, daß das Handlungsmittel der Rechtsverordnung seither ebenfalls vom Funktionsbereich des Gesetzgebers loszulösen ist. Da die Verordnung durch den gewandelten Begriff des materiellen Gesetzes thematisch nicht mehr auf den Vorbehaltsbereich beschränkt ist, verkennt die zwin-

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gende Gleichsetzung des Einsatzfeldes der Verordnung mit dem legislativen Aufgabengebiet die an heutige Begrifflichkeiten angepaßte Bedeutung der Rechtsverordnung. Erst dadurch entstand die vermeintliche „Lücke" im System der Rechtsetzungsinstrumente, die von einem der Exekutive zur eigenständigen Regelung überlassenen Funktionsbereich ausgehend nach einem tauglichen Werkzeug verlangt, um sie zu schließen. Diese Lücke konnte bislang nur über den „Kunstgriff 4 der Erhöhung der Verwaltungsvorschriften zu Außenrechtssätzen aufgefüllt werden, eine Argumentation, die auf der Basis von Ossenbühls Grundannahme zwar folgerichtig ist, aber mit ihr steht und fällt. Deren Schwäche zeigt sich dort, wo sich die unterschiedliche Entwicklung von legislativen Aufgaben und Gesetzesbegriff bemerkbar macht, also in gesetzlich nicht erfaßten vorbehaltsfreien Bereichen, die an sich der Rechtsverordnung zugänglich wären, ohne dem Funktionsbereich des Gesetzgebers anzugehören. Der bisherige Ansatz macht einen Verordnungserlaß durch die Exekutive erst dann möglich, wenn die Legislative ihren Funktionsbereich kraft ihres Zugriffsrechtes ausweitet und der Exekutive diejenigen Befugnisse zurücküberträgt, die ihr ansonsten ohnehin zuständen, zu deren Ausübung ihr aber nur das Hilfsmittel der Richtlinie zugebilligt wird. Die Rechtsverordnung wird hier praktisch unbrauchbar und faktisch ausgeschaltet, obwohl dem Sinn und Zweck des Artikel 80 GG keinesfalls zu entnehmen ist, daß Rechtsverordnungen nur im Vorbehaltsbereich ergehen sollen.312 Deshalb ist die Rechtsverordnung nicht mehr auf den Funktionsbereich des Parlaments zu beschränken. Statt dessen muß die Verordnung als eigenes Handlungsinstrument der Verwaltung zur Rechtsetzung verstanden werden, das dann gesetzesabhängig ist, wenn jedes andere entsprechende Verwaltungshandeln es ebenfalls wäre. Die Verwaltungsvorschrift wird dem Grundsatz nach auf die Innensteuerung der Rechtsanwendung verwiesen, kann aber kraft Selbstbindung dennoch mittelbar Außenwirkungen erzielen. Ossenbühls Frage nach dem originären Funktionsbereich der Exekutive ist nicht mehr Ausgangspunkt der Überlegung und tritt als solche in den Hintergrund, obwohl sie in der Sache kraft Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes weiterhin aktuell bleibt. Dies verdeutlicht nicht nur den fortbestehenden Unterschied von Außen- und Innenrecht, sondern bringt zudem einen erheblichen Gewinn an Rechtssicherheit. Nach Ossenbühl muß bei der Rechtsetzung der Exekutive im eigenen Funktionsbereich durch Verwaltungsvorschriften stets gefragt werden, ob und inwieweit die Richtlinie im Verhältnis zum Bürger wie zu den Gerichten Bindungswirkungen erzeugen soll.313 Neben die immer erforderliche Auslegung des Inhaltes einer Norm tritt daher noch die Frage, welche Regelung 312 313

Vgl. oben § 3 III. l.)a) zur Auslegung von Artikel 80 Absatz 1 GG. Ossenbühl in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 65, RN 52.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

jeweils anwendbar ist. Der hier gewählte Ansatz verpflichtet die Verwaltung aus Gründen der Rechtssicherheit zu einer Formenklarheit, die sie zwingt, durch die Wahl des Handlungsmittels Rechtsverordnung oder Verwaltungsvorschrift zu erkennen zu geben, wer Adressat ihrer Regelung sein soll.314

d) Kritik am Ansatz Böckenfördes Das von Böckenförde 315 der Wesentlichkeitstheorie als Kehrseite entnommene verfassungsunmittelbare originäre, aber inhaltlich gesetzesabhängige administrative Verordnungsrecht für nicht wesentliche Fragen ist abzulehnen. Die Aussage, die Wesentlichkeitstheorie bestimme den Gesetzesvorbehalt nicht nur gegenständlich, sondern begrenze ihn zugleich umfangmäßig, ist zwar zutreffend, weist jedoch die Kompetenz zur Rechtsfindung im übrigen nicht zwingend allein dem Funktionsbereich der Exekutive zu. Der Umkehrschluß aus der Wesentlichkeitslehre besagt nur, daß die vom Gesetzgeber nicht zu beantwortenden Fragen in den aus exekutivem und judikativem Funktionsbereich zusammen gebildeten Rahmen nichtgesetzgeberischer Staatstätigkeit fallen, entscheidet aber noch nicht über die Aufgabenverteilung zwischen vollziehender und rechtsprechender Gewalt. Da die Gerichte die Einhaltung der Gesetze durch die Verwaltung kontrollieren, ist die gesetzesabhängige Verwaltungstätigkeit derrichterlichen Überprüfung nur entzogen, wenn und soweit gerade das Gesetz dies anordnet. Ohne diese Anordnung bleibt es bei der durch die Weitentscheidung des Artikel 19 Absatz 4 GG gebotenen umfassenden Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Im Normalfall der Anwendung der Gesetze, dem einzelfallbezogenen Handeln, darf die Exekutive, obwohl der Gesetzesvollzug zu ihrem Funktionsbereich gehört, letztverbindlich nur entscheiden, wenn sie hierzu durch einen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum gesetzlich ermächtigt wurde. Auch wenn die Exekutive eine Vielzahl von Einzelfallen abstrakt-generell anleiten will, kann sie ihre Befugnisse nicht allein dadurch eigenmächtig zu Lasten der Judikative ausdehnen. Nähme man ein verfassungsunmittelbares gesetzesabhängiges Verordnungsrecht der Verwaltung an, bliebe zwar der legislative Aufgabenbereich unverändert, jedoch verschöbe sich die Grenze zwischen den Funktionsbereichen der beiden übrigen Gewalten, Exekutive und Judikative, je nach und allein auf Grund der Wahl 314

Femer sind Rechtsverordnungen nach Artikel 82 Absatz 1 Satz 2 GG immer zu verkünden. Diesfördert die Rechtssicherheit im Vergleich zum Ansatz Ossenbühls, der das Publikationserfordernis von der jeweiligen Wirkung der Verwaltungsvorschrift abhängig macht. 315 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 391 ff.; vgl. 3 III. 2.)c) am Ende.

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des Handlungsmittels. Dies widerspräche besagtem Gleichlauf der exekutiven Kompetenzen bei einzelfallbezogenem und generalisierendem Verwaltungshandeln und ließe die Parallelität der beiden Handlungsinstrumente des exekutiven Funktionsbereichs, Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift, in gesetzesabhängigen und in vorbehaltsfreien Bereichen außer Betracht. Die gesetzesvollziehende kann die rechtsprechende Gewalt nur binden, wenn dies im Vollzug der Gesetze angelegt ist, also im Falle einer gesetzlichen Ermächtigung nach Artikel 80 GG.316 Des weiteren enthält jede untergesetzliche Rechtskonkretisierung, sei es durch Auslegung317 oder durch ergänzende Rechtsetzung, einen eigenen schöpferischen Gestaltungsakt. Gerade in Grenzfällen der Erkenntnis des gesetzgeberisch Gewollten wird der Gesetzesinhalt und damit der Gegenstand richterlicher Kontrolle modifiziert. Soweit der Gesetzgeber die Exekutive hierzu ermächtigt, stellt er den Gesetzesinhalt zu ihrer Disposition. Soweit er dies unterläßt, bleiben die Gerichte in vollem Umfang zur Wahrnehmung ihrer ureigenen Aufgabe, der Auslegung der Gesetze, berufen, ohne durch vorherige Auslegungsversuche der Verwaltung zu einer bestimmten Interpretation gezwungen zu werden. Ein verfassungsunmittelbares Verordnungsrecht zur Gesetzesergänzung begegnete zudem Bedenken aus Gründen der Rechtssicherheit. Kaum anzunehmen ist, daß die Exekutive jeder Richtlinie Außenwirkung zukommen lassen will, da ein ebenfalls nicht unerheblicher Bedarf an Innensteuerung des Verwaltungshandelns auszumachen ist. Ohne eine ausdrückliche Ermächtigung zum Verordnungserlaß bestünde bei jeder Verwaltungsvorschrift die Unsicherheit fur Bürger und Gerichte, inwieweit sie dieser zu folgen haben. Böckenfordes Ansicht schränkt die praktische Bedeutung von Artikel 80 GG erheblich ein. Nur in Grenzfallen, in denen die Wesentlichkeit zweifelhaft ist, oder als Ausübung des Zugriffsrechts, um die Exekutive durch detaillierte Ermächtigungen zu binden, sollen Delegationen notwendig bleiben318, was das 3,6 Zutreffend kritisiert Papier, in: Götz / Klein / Starck, S. 45, die Ansicht Böckenförde s „vernachlässige" Artikel 80 GG. Entgegen Papier sollte man als Folge dessen jedoch nicht die Wesentlichkeitstheorie aufgeben, sondern versuchen, beide Verfassungsprinzipien miteinander in Einklang zu bringen. Dies kann nur ein einheitlicher Parlamentsvorbehalt leisten. 317 Vgl. oben § 2 IV. 4.)a). 318 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 395; genau betrachtet bedürfte es von seinem Standpunkt aus in beiden Fällen keiner Delegation. Zweifelsfälle der Wesentlichkeit könnte der Gesetzgeber allein durch eine erhöhte Regelungsdichte beheben, die zugleich die gewünschte sachliche Bindung der Exekutive auslösen würde. Wenn man wie Böckenförde - mit Recht - annimmt, Parlamentsvorbehalt und Gesetzesvorbehalt der Wesentlichkeitstheorie liefen ohnehin „im wesentlichen auf das

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive R e c h t s e t z u n g 1

traditionelle Verhältnis von Rechtsverordnung und Richtlinie umkehren müßte. So verkäme Artikel 80 GG zu einer unbedeutenden Verfassungsbestimmung, die Verordnung zur Ausnahmeerscheinung. Ursprünglich war die Rechtsverordnung das exekutive Instrument zur Rechtsetzung, ihr Gebrauch war selbst durch Artikel 80 GG zu beschränken. Nun soll zu ihrem Erlaß ermächtigt werden, um die ansonsten umfassenden administrativen Rechtsetzungsbefugnisse zu begrenzen. Herkömmlich konnten in Vorbehaltsbereichen (Eingriffe in Freiheit und Eigentum) nur von einer Delegation abhängige Rechtsverordnungen ergehen, Verwaltungsverordnungen waren hier undenkbar. Jetzt soll eine verfassungsunmittelbare Befugnis zum autonomen Erlaß von Vorschriften bestehen, die, das zeigt die Unanwendbarkeit von Artikel 80 GG, von den Rechtsverordnungen geschieden werden. Entstehungsgeschichte, Systematik und Wortlaut des Grundgesetzes besagen ein anderes. Die Berufung auf die Funktionsbereiche der einzelnen Gewalten sollte die Verwaltungsvorschrift deshalb nicht zum einzig zweckmäßigen exekutiven Instrument der Setzung formellen und materiellen Rechts machen. Die gesetzesergänzende Rechtsetzung bleibt weiterhin in erster Linie Aufgabe der Rechtsverordnung. Auch besteht kein praktisches Bedürfnis fur ein verfassungsunmittelbares Verordnungsrecht in Vorbehaltsbereichen.319 Bei richtigem Verständnis von Artikel 80 GG kann auf diese der verfassungsgeschichtlichen Kontinuität320 widersprechende Konstruktion verzichtet werden, deren Ursache überhöhte Anforderungen an Artikel 80 GG auf Grund wohlgemeinter, aber überfordernder rechtsstaatlicher oder demokratischer Bestrebungen sind, die sich auf diese Weise in ihr Gegenteil verkehren. Insbesondere das Erfordernis einer je besonderen Ermächtigung engt die Verwaltung nicht übermäßig ein 321 , da der gleiche hinaus" (S. 393), verbleibt als Aussage von Artikel 80 GG - auch insofern zutreffend - nur das „Erfordernis je besonderer gesetzlicher Ermächtigung" (S. 395) zur Wahl der Handlungsart der Rechtsverordnung. Eine solche beseitigt weder Zweifel über das „Wesentliche" noch bindet sie die Verwaltung inhaltlich. 319 Der Gesetzgeber hat in jüngster Zeit einige Ermächtigungen zum Verordnungserlaß in Rechtsbereichen geschaffen, die zuvor Anwendungsbereich von Richtlinien waren oder gewesen wären (zum Beispiel § 22 BSHG, §§ 39, 48a BImSchG, §§ 6a, 7a WHG). Soweit ersichtlich wird nirgends vertreten, daß die Funktion untergesetzlicher Rechtsetzung hierunter gelitten hätte. 320 Im Ergebnis nähert sich Böckenförde frühkonstitutionellen Ansätzen, die das Gesetz auf das „Wichtige" beschränkten und daneben ein selbständiges Verordnungsrecht anerkannten; vgl. oben §31.1 .)a). Dies überspringt die spätkonstitutionelle Epoche, in deren Kontinuität Artikel 80 GG steht. Angesichts dessen eindeutiger Verankerung im Grundgesetz sollte dieser Zusammenhang nicht übergangen, sondern nur von der positivistischen Methode und ihren Folgen befreit werden. 321 Gerade dieses Erfordernis will Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 395, ausschalten. Reduziert man wie hier die Anforderungen des Artikel 80 GG, so unterscheiden sich beide Ansichten im praktischen Ergebnis nur geringfügig.

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Gesetzgeber nur deutlich machen muß, welche Gesichtspunkte seiner Regelung im „Unwesentlichen" ergänzt werden dürfen. Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG verbietet deshalb nicht, einen bestimmten Aufgabenkreis in einer Ermächtigung zusammenzufassen oder dem Verordnungsgeber die Regelung des „Näheren" zur Ergänzung des ganzen Gesetzes zu übertragen.

4. Zwischenergebnis Die verschiedenen Ansätze zur Ermittlung der Aussagen von Artikel 80 GG, die Analyse der Funktion des Parlamentsvorbehaltes gegenüber rechtsanwendender und rechtsetzender Exekutive, der Vergleich von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift sowie die Untersuchung des exekutiven Funktionsbereichs, kommen allesamt zum nämlichen Ergebnis und bestätigen den einheitlichen Parlamentsvorbehalt des „Wesentlichen".

5. Anhang: Zur Abgrenzung von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift Noch unbeantwortet blieb die infolge ihrer heute grundsätzlich parallelen Einsetzbarkeit erhebliche Frage der Erkenntnis, ob die Verwaltung im konkreten Fall eine Rechtsverordnung, das heißt ein von der Exekutive erlassenes Gesetz im materiellen Sinn als abstrakt-generelle Regelung des Außenrechts, oder eine Verwaltungsvorschrift als bloßen Binnenrechtssatz erlassen wollte. Diese Begrifflichkeiten lassen wegen der zahlreichen Gemeinsamkeiten von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift allein noch keine trennscharfe Abgrenzung zu. So ist die Verwaltungsspitze möglicher Urheber beider Regelungsformen, die Frage, ob jeweils die Bundesregierung als Kollegialorgan oder der einzelne Fachminister gehandelt hat, ist an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung. Weiterhin weisen beide Regelungsinstrumente neben ihrem parallelen Anwendungsbereich auch eine vergleichbare abstraktgenerelle Normstruktur auf, eine Einzelfallentscheidung wäre als Verwaltungsakt oder als Einzelweisung nicht von ihnen umfaßt. 322 Als mögliche Unterschiede zwischen beiden Handlungsformen, die zur Ermittlung des maßgeblichen Willens des Normurhebers herangezogen werden könnten, verbleiben somit nur die formellen Kriterien des Verfahrens wie der Form sowie materiellrechtlich die Absicht, unmittelbare Außenwirkung zu begründen. 322

Ebenso Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 32 f.

III. Allgemeiner Parlamentsvorbehalt und exekutive Rechtsetzung

Letztere kann unabhängig von der Rechtsnatur der Verwaltungsvorschrift kaum zur Erkenntnis des Verwaltungswillens beitragen. Unterstellt man ihre (teilweise) unmittelbare Außenwirkung, hätte dies zur Folge, daß (insoweit) kein materieller Unterschied zwischen Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift bestünde, eine Abgrenzung also nicht möglich wäre. Lehnt man umgekehrt die unmittelbare Außenwirkung der Verwaltungsvorschrift ab, sollte dieses Merkmal dennoch nicht vorrangig bemüht werden, um festzustellen, ob eine Rechtsverordnung beabsichtigt war. Auch hier greift das Gebot der Rechtssicherheit ein. So wie die Ermächtigung zur gesetzesabhängigen exekutiven Rechtsetzung eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers verlangt, ob die Verwaltung befugt sein soll, Bürger und Richter zu binden, muß auch bei der Ausübung exekutiver Normierungsbefugnisse Klarheit herrschen, wen die Verwaltung als Adressaten der Regelung ansprechen wollte.323 Insoweit besteht kein Unterschied zwischen gesetzesabhängiger und eigenständiger Regelungsmacht. Diesem Gebot der Formenklarheit wäre es abträglich, zunächst die Außenwirkung einer Norm durch eine bloße Auslegung ohne gesteigerte Anforderungen zu ermitteln, um sie dann dem Begriff der Rechtsverordnung zu- und gegebenenfalls der Herrschaft des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG unterzuordnen.324 Die materielle Wirkung der Regelung im Außenverhältnis sollte daher als Kriterium der Erkenntnis, ob eine Rechtsverordnung vorliegt, ausscheiden, soweit nicht die Absicht der Exekutive, eine solche Wirkung hervorzurufen, unzweideutig in Erscheinung tritt. 325 Der Wille der Verwaltung, im jeweiligen Fall eine Rechtsverordnung und keine Verwaltungsvorschrift zu erlassen, ist mithin regelmäßig nur nach äußeren Merkmalen zu ermitteln. In Betracht kommen vor allem die Bezeichnung als Rechtsverordnung sowie ihre Ausfertigung und Verkündung nach 323

Vgl. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 76 f., der förmlichem Gesetz und Rechtsverordnung „rechtssatzschaffende Kraft" zuspricht und folgert: „Die Wahl der Rechtsform ist insoweit das rechtliche Mittel, um den Bereich des gemeinverbindenden, allgemein zu beachtenden Rechts inhaltlich zu erstrecken und zu umgrenzen." Diese Wahl muß eindeutig getroffen werden. 324 Insoweit wird die Parallele von einzelfallbezogenem und rechtsetzendem Verwaltungshandeln modifiziert. Bei ersterem ist durch Auslegung zu ermitteln, ob ein (objektiv) auf Außenwirkung gerichteter Verwaltungsakt vorliegt. Gleiches gilt dem Grundsatz nach bei der Rechtsverordnung, der Verwaltungswille ist aber wegen der besonderen Bindungswirkung durch eine eindeutige Formenwahl stärker zu verdeutlichen. 325 Noch von der fehlenden Rechtsqualität der Verwaltungsvorschrift ausgehend stellte Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 139 ff., auf die Außenwirkung ab, um den gebotenen Rechtsschutz zu sichern. Eine Rechtsverordnung sollte vorliegen, wenn der Betroffene ansonsten „einer von der Rechtsordnung nach ihrer auf Rechtsschutz hin tendierenden Gesamtstruktur mißbilligten Benachteiligung" ausgesetzt wäre (S. 141). Dies belegt die Schwierigkeit, materiell nach der Außenwirkung abzugrenzen, ohne das Ergebnis voranzustellen.

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Artikel 82 Absatz 1 Satz 2 GG. Ergänzend können als weitere Indizien für den Willen des Normgebers das Vorliegen einer Ermächtigung nach Artikel 80 Absatz 1 GG und die Beachtung des Zitiergebotes nach dessen Satz 3 herangezogen werden.326

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen 7. Rechtsverordnung und Individuum a) Die Rechtsverordnung im Rahmen der Leistungsverwaltung Die Leistungsverwaltung gehört zum originären Funktionsbereich der Exekutive und unterliegt grundsätzlich keinem Parlamentsvorbehalt.327 Die Verwaltung darf bei Fehlen einer vorrangigen gesetzlichen Entscheidung aus eigener Kompetenz Vergünstigungen gewähren und zum Zwecke ihrer gleichmäßigen Verteilung mittelbar außenwirksame Verwaltungsvorschriften oder unmittelbar Rechte des Bürgers begründende Rechtsverordnungen erlassen. Der demokratischen Wurzel des Vorbehaltsgedankens ist Genüge getan, sofern die entsprechenden finanziellen Mittel im Haushaltsplan angesetzt sind. Konflikte könnten entstehen, falls die Exekutive eine anspruchsbegründende Verordnung erläßt, ohne daß die Finanzierung derselben vom Parlament gesichert wurde. 328 Hier kann der Vorrang des Gesetzes Abhilfe schaffen. Ebenso wie die Volksvertretung eine in der Vergangenheit förmlich begründete Verpflichtung aufheben kann, darf sie der Exekutive die Leistungsgewährung gesetzlich untersagen. Der Problemfall tritt ein, wenn die Leistungsver-

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Anders Maurer, Verwaltungsrecht, S. 609; diese formalen Aspekte seien Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit, nicht Qualifikationsmerkmaie. Dieser Gegensatz ist kein ausschließlicher. Die Auslegung öffentlich-rechtlicher Willensakte fragt stets nach dem objektiven, auf rechtmäßiges Handeln gerichteten Staatswillen. Daher ist zu vermuten, daß der Urheber exekutiver Regelungen jeweils die rechtmäßige Handlungsform gewollt hat. Im Ergebnis ähnelt dies der Ansicht Maurers (S. 610), wegen eines Verstoßes gegen Formalvorschriften rechtswidrige Rechtsverordnungen in Verwaltungsvorschriften umzudeuten, erfordert eine Umdeutung rechtsmethodisch doch eine Vereinbarkeit mit dem (hypothetischen) Behördenwillen. 327 Oben § 2 IV .l.)b). 328 Diese Problematik bestünde auch bei unmittelbar außenwirkungsamen Verwaltungsrichtlinien.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

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pflichtung vom Parlament unbemerkt bleibt oder falls ein entsprechendes Gesetz wegen zu großen politischen Drucks der Öffentlichkeit parlamentarisch nicht durchsetzbar ist. Hier könnte die Exekutive faktisch über die an sich dem Haushaltsgesetzgeber vorbehaltene Verteilung staatlicher Gelder entscheiden. Deswegen muß jede Anspruchsbegründung in autonom erlassenen Rechtsverordnungen unter den Vorbehalt parlamentarischer Mittelbewilligung gestellt werden. Fehlt eine solche Bestimmung, wird die Rechtsverordnung nichtig und verpflichtet den Staat nicht. Bewilligt die Volksvertretung dennoch für das jeweilige Haushaltsjahr entsprechende Mittel und werden diese von der Verwaltung weitergegeben, so begründet dies eine ständige Verwaltungspraxis, die nur über den Gleichheitssatz Ansprüche auslöst. Diese mittelbare Wirkung ist, da keine Gleichheit im Unrecht besteht, nur bei rechtmäßigem Verwaltungshandeln denkbar, so daß bei einer Mittelversagung im Folgejahr keine Gefährdung des Haushaltsrechts eintreten kann.

b) Ergänzung von Strafbestimmungen durch Rechtsverordnungen Die „wesentlichen" Züge der Individualsphäre auszugestalten, ist Aufgabe des Parlamentsgesetzgebers. Einzelfragen dürfen ergänzend im Verordnungswege entschieden werden. Auf diese Weise können Rechtsverordnungen dazu beitragen, ein Rechtssystem zu schaffen, dessen Verhaltenspflichten strafrechtlich abgesichert sind. Wird der Tatbestand einer Blankettstrafnorm durch ein ganzes Rechtsgebiet ausgefüllt, können auch die dort ergangenen Rechtsverordnungen strafrechtliche Folgen auslösen. Dies ist am Maßstab des Artikel 103 Absatz 2 GG zu hinterfragen, der die Strafbarkeit von einer Entscheidung des formellen Gesetzgebers abhängig macht. Bereits zuvor konnte festgestellt werden, daß diese Verfassungsbestimmung in erster Linie nur die eigentlichen StrafVorschriften vor Augen hat, daneben aber die Schutzfunktion des strengen Gesetzesvorbehaltes auch bei der Ergänzung von Blankettstrafgesetzen zu wahren ist.329 Liegt der Grundgedanke des Satzes „nulla poena sine lege" in seiner Appell- und Warnfunktion, so bedeutet dies, daß Strafnormen zwar durch Rechtsverordnungen vervollständigt werden dürfen 330, die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe aber 329

Oben §2IV. l.)e). Grundlegend BVerfGE 14, 174 (185): „Gesetz im Sinne des Artikel 103 Absatz 2 GG" sei nicht nur das formelle Gesetz, sondern auch die im Rahmen einer Ermächtigung nach Artikel 80 Absatz 1 GG ergangene Rechtsverordnung. Die Spezifizierung des Straftatbestandes durch Rechtsverordnung erlauben ferner alle in der folgenden Anmerkung zitierten Entscheidungen. 330

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

schon auf Grund des Gesetzes, nicht erst auf Grund der darauf gestützten Verordnung vorhersehbar sein müssen.331 Die Stellung des Gesetzgebers gegenüber vollziehender und rechtsprechender Gewalt verändert sich insoweit nicht wesensmäßig, wenn er eine Delegationsnorm schafft, anstatt zum Erlaß von Verwaltungsakten zu ermächtigen, die ihrerseits den Strafrechtstatbestand näher spezifizieren. In beiden Fällen gilt daher grundsätzlich das gleiche, im Vergleich zum allgemeinen Parlamentsvorbehalt gesteigerte Maß an gesetzlicher Bestimmtheit.332 Artikel 103 Absatz 2 GG verbietet also nur die Delegation der Strafandrohung selbst, nicht deren Ergänzung durch eine Rechtsverordnung. Das formelle Gesetz muß jedoch die Vorhersehbarkeit der strafrechtlichen Konsequenzen durch eine erhöhte Regelungsdichte garantieren, wobei auch die Festlegung strafbewehrter Pflichten dem allgemein verzeichneten Gleichklang des Parlamentsvorbehaltes gegenüber rechtsetzender und gesetzesvollziehender Exekutive unterliegt.

2. Methodische Instrumente zur Ergänzung von Delegationsnormen

a) Die lückenfüllende Funktion der Rechtsverordnung Als Spezialfall des einheitlichen Parlamentsvorbehaltes überantwortet Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG ebenso wie jener nur das „Wesentliche" dem formellen Gesetz, dessen Inhalt folglich hier wie dort nicht ausdrücklich in der ermächtigenden Vorschrift selbst, sondern lediglich auslegungsföhig im gesamten Gesetz niedergelegt sein muß.333 Dies begünstigt weitreichende Delegationen. Für Geringfügiges genügen Generalermächtigungen, sofern ersichtlich bleibt, auf welche Materie sie sich erstrecken. Inwieweit ein Gesetz auslegungsfähig ist, wird durch die Interpretationsmethode mitbestimmt. Dies läßt nach der Bedeutung der Wortlautgrenze als 331 BVerfGE 14, 174 (185 f.) (Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung); E 14, 245 (251 ff.) (Rechtsverordnung zur Erhaltung der „Sicherheit und Ordnung im Straßenverkehr"); E 22, 21 (25 ff.) (Straßenverkehrsordnung); E 23, 265 (269 f.) (Polizeiverordnungen); E 51, 60 (70 f.) (Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung); E 75, 329 (340 ff.) (Umweltstrafrecht); E 78, 374 (382) (Fernmeldeanlagengesetz). 332 BVerfGE 78, 374 (382) (Fernmeldeanlagengesetz). 333 Zur Konkretisierung „offener Gesetze" durch Auslegung, (im Vorbehaltsbereich nur bedingt zulässige) gesetzesimmanente Rechtsfortbildung und „Natur der Sache" oben § 2 IV. 4.).

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

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methodische Schranke der Auslegung fragen 334, die bei der einzelfallbezogenen Anwendung der Gesetze die Trennlinie von Auslegung und Analogiebildung markiert. Erstere ist unbedenklich mit dem Gesetzesvorbehalt vereinbar, letztere nur, sofern die Vorhersehbarkeit der vom Rechtsanwender zu treffenden Entscheidung gewahrt bleibt. Bei der Ermächtigung zum Verordnungserlaß stellt sich diese Frage jedoch nicht in vergleichbarer Weise, weil sich der parlamentarische Gesetzgeber nicht an die rechtsanwendende, sondern an die rechtsetzende Exekutive wendet, die ihrerseits erst die vom Rechtsanwender wie vom Bürger zu beachtende endgültige Regelung trifft. Das Wesen der Rechtsverordnung liegt gerade darin, bewußt noch unvollständig formulierte Gesetze zu ergänzen, sie hat ihrer Natur nach eine der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung ähnliche lückenfüllende Funktion.335 Da zudem die Wortlautgrenze beim allgemeinen Vorbehalt nicht aus demokratischen, sondern allein aus rechtsstaatlichen Gründen gefordert wurde und weil eine administrative Norm die Vorhersehbarkeit der den Bürger treffenden Einzelfallentscheidung ebenso gewährleistet wie eine parlamentarische 336, umfaßt die Interpretation des GesetzeswAato337 bei Delegationen nach Artikel 80 GG alle jene Befugnisse, die auch der Rechtsanwendung unter Einsatz ihrer verschiedenen methodischen Instrumente (Auslegung und gesetzesimmanente Rechtsfortbildung) zur Verfügung stehen. Die Funktion der Auslegung ist hier eine andere, weshalb auch ihre methodischen Grenzen weiter zu ziehen sind. Der natürliche Wortsinn des ermächtigenden Gesetzes bildet daher keine strikte Grenze gegenüber dem Verordnungsgeber. 338 Der gesetzgeberische Wille muß nur durch eine Interpretation ermittelt werden können, die alle Auslegungskriterien, insbesondere den Sinn und Zweck der Norm, aber auch etwaige sachgesetzliche Vorgaben berücksichtigt und die Vorhersehbarkeit der zu treffenden Rechtsentscheidimg wahrt. Eine solche Auslegung wird allerdings tendenziell schwieriger zu bewerkstelligen sein, je weiter sich eine Verordnung 334 335

Hierzu Jesch, JZ 1963, S. 241 ff.

Die lückenfüllende Funktion von gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung und Verordnungserlaß unterscheidet sich allerdings darin, daß der Verordnung ein Teil der beim allgemeinen Vorbehalt den Gerichten zustehenden Befugnis zur Rechtsfortbildung kraft gesetzlicher, das heißt für die Gerichte verbindlicher Entscheidung zugewiesen wird. Insofern läuft sie parallel zur Auslegung. 336 Siehe § 2 III. l.)g) zum Rechtsstaatsprinzip. 337 Die Ermächtigung zur Wahl der Handlungsform muß allerdings ausdrücklich erteilt werden. Die Delegationsnorm muß den Kreis zulässiger Gegenstände des Verordnungsrechts thematisch eindeutig umgrenzen. Nur der sachliche Gehalt des exekutiven Rechts darf im ganzen Gesetz auslegungsfähig niedergelegt werden. 338 Anders Jesch, JZ 1963, S. 241 ff., der dies als Entscheidung contra legem sieht, die höchstens im Rahmenrichterlicher Rechtsfortbildungskompetenz anerkannt werden könnte. Sogar bei „wirtschaftlich unsinnigen" Ergebnissen dürfe nicht vom Gesetzeswortlaut abgewichen werden.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

vom Wortlaut des Gesetzes entfernt. Letztlich zeigt sich auch hier der einheitliche Parlamentsvorbehalt gegenüber rechtsetzender wie rechtsanwendender Exekutive. Im Ergebnis entspricht dies weitgehend der in erster Linie teleologisch argumentierenden jüngeren Rechtsprechung zu Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG.339

b) Die verfassungskonforme Auslegung von Ermächtigungen Die herkömmlichen Auslegungskriterien können oft mehrere Interpretationen einer Delegationsnorm gestatten. Verordnungsgeber und Gerichte müssen bei ihrer Entscheidung aber jeweils von einer Auslegung ausgehen. Schwierigkeiten kann die Ermächtigung zur Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung bereiten, falls sie sich auf einen ganzen Kreis zu regelnder Fragen bezieht, also beispielsweise erlaubt, das „Nähere" eines Rechtsgebietes zu regeln. Gelegentlich mag der Befund, eine Verordnung beruhe nicht auf einer wirksamen Ermächtigung, zwei denkbare Ursachen haben. Entweder ist die eigentliche Ermächtigungsnorm so weit auszulegen, daß die Verordnung von ihr gedeckt ist, obwohl das Gesetz in seiner Gesamtheit das „Wesentliche" nicht auslegungsfähig entscheidet. Das Gesetz wäre dann nicht mit dem Parlamentsvorbehalt vereinbar, die Verordnung aus diesem Grunde nichtig. Oder man legt ein derart enges Verständnis der Delegation zugrunde, daß nur diejenigen Fragen umfaßt sind, die das ganze Gesetz hinreichend bestimmt vorzeichnet, muß dann aber feststellen, daß die Verordnung nicht mehr auf der Ermächtigung beruht. In Fällen dieser Art ist wie folgt zu verfahren. Die Auslegung des höherrangigen Gesetzes geht jener der Verordnung logisch vor. Die parlamentsgesetzliche Delegation ist verfassungskonform, also normerhaltend eng auzulegen, sofern dies methodisch zulässig ist. Erst danach ist die Rechtsverordnung in den Blick zu nehmen. Soweit ihr Regelungsinhalt in Anlehnung an das Gesetz ebenfalls eng verstanden werden kann, ist sie wirksam. Scheitert eine solche Interpretation, beruht die Vorschrift nicht auf ihrer an sich wirksamen Ermächtigung. Diese geltungserhaltende Auslegung von Delegationen hat praktische Vorzüge. Zunächst können etwaige Rechtsmängel oft einfacher behoben werden, da nur eine angepaßte Verordnung, nicht aber ein aufwen339

Vgl. § 3 II. 2.); der Wortlaut wird in keinem dieser Urteile als Grenze der Auslegung auch nur erwogen. Differenzierter zu betrachten sind die vor allem, aber nicht nur in der Frühzeit der verfassungsgerichtlichen Judikatur üblichen Standardformeln, nach denen die Ermächtigung selbst vorhersehbar festlegen muß, was vom Bürger gefordert werden kann. Dies ist zwar an sich zutreffend, muß aber dergestalt ergänzt werden, daß die Erkennbarkeit nicht durch den Wortlaut verbürgt zu werden braucht, sondern durch das Gesetz in seiner auslegungsfähigen Gesamtheit.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

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diges Gesetzgebungsverfahren notwendig ist. Auch wären, soweit eine Delegation einen Kreis von Fragen umfaßt, von denen nur eine im Gesetz undeutlich vorgezeichnet ist, im Falle der Nichtigkeit der Ermächtigung auch andere Verordnungsbestimmungen hinfällig, obwohl sie für sich betrachtet Bestand haben könnten. Die Verwerfungskompetenz läge bei den Instanzgerichten, das Bundesverfassungsgericht würde entlastet. Zwar hätten deren Urteile mit Ausnahme der Normenkontrolle (§ 47 VwGO) nur Wirkung inter partes, keinesfalls aber Gesetzeskraft wie jene des Verfassungsgerichts (§ 31 Absatz 2 Satz 1 BVerfGG). Jedoch hätten Entscheidungen der jeweils zuständigen obersten Bundesgerichte de facto ähnliche Wirkung auf die Exekutive, die sich rechtstreu zeigen würde. Den Gerichten bliebe unbenommen, das Gesetz in Grenzfällen nach Artikel 100 Absatz 1 GG vorzulegen.

3. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Delegationsnormen a) Übertragung eines Gestaltungsspielraumes an den Verordnungsgeber Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG gestattet, dem Urheber der Verordnung einen mit der Befugnis zur Rechtsetzung wesensnotwendig340 verbundenen Raum eigener Gestaltungsfreiheit zu eröffnen, um das „Unwesentliche" ergänzend festzulegen. 341 Der Gesetzgeber muß der Verwaltung als Mindestanforderung einen das Grundsätzliche vorgebenden Entscheidungsrahmen342 übertragen, kann der Exekutive aber im übrigen die Wahl lassen, ob sie eine Rechtsverordnung erläßt343 oder gegebenenfalls wieder aufhebt sowie welchen Inhalt diese haben soll. Das Vorbehaltsprinzip erhebt keine Bedenken gegen eine solche auf Detailfragen bezogene, eigenverantwortliche Rechtsetzung der Verwaltung, da 340

Badura, in: Gedächtnisschrift Martens, S. 25 ff. (26). Anders als Beurteilungs- und Ermessensspielräume, die eigene exekutive Befugnisse durch die Rechtsetzung eröffnen und deswegen an die übliche Normstruktur mit ihrer Unterscheidung von Tatbestand und Rechtsfolge anknüpfen, beruht die hier in Rede stehende Gestaltungsfreiheit auf einer Delegation der legislativen Kompetenz zur Rechtsetzung. Ermächtigungen nach Artikel 80 GG teilen daher diese Struktur regelmäßig nicht. 342 Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 64, RN 33 ff., spricht von „Verordnungsermessen". Diese Bezeichnung soll nicht übernommen werden, der Ausdruck „Ermessen" auf die einzelfallbezogene Rechtsanwendung beschränkt bleiben. Dennoch ist der Unterschied zur hiesigen Lösung ein rein begrifflicher. 343 BVerfGE 78, 249 (272) (Fehlbelegungsabgabe): „Solche Kann-Ermächtigungen sind regelmäßig unbedenklich." Ähnlich Peine ZG 1988, S. 121 (128 ff.). 341

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

die Kompetenzen des Gesetzgebers unbeschnitten bleiben, der eine erteilte Ermächtigung jederzeit aufheben oder ändern kann oder selbst eine mit dem Vorrang des Gesetzes versehene eigene Entscheidung treffen darf. Der eigene exekutive Gestaltungsspielraum verwirklicht den Sinn und Zweck gesetzlicher Delegationen, der darin liegt, den sich auf das Wesentliche beschränkenden Gesetzgeber zu unterstützen und zugleich ein flexibles Handlungsinstrument zur Reaktion auf besondere Umstände zu schaffen. Wollte man der Exekutive eine eigene Entscheidung über die Normsetzung verwehren, hätte eine Ermächtigung zum Verordnungserlaß keinerlei Vorteil gegenüber einer Regelung durch den Parlamentsgesetzgeber. Gerade die eigenständige, aber gesetzesabhängige verbindliche Bestimmung des Näheren versetzt die Verordnung in die Lage, die von anderen Autoren 344 der Verwaltungsvorschrift zugewiesene normkonkretisierende Funktion zu erfüllen. So entsteht die Möglichkeit, die Exekutive zur „delegierten authentischen Interpretation" 345 des Gesetzes zu ermächtigen, was dem Gesetzgeber erlaubt, das Allgemeine und Dauerhafte unter Beachtung des Wesentlichkeitsvorbehaltes selbst zu regeln, das Besondere und Wechselhafte hingegen der Exekutivspitze zu überlassen.346 Ebenso wie bei den Beurteilungs- und Ermessensspielräumen der rechtsanwendenden Verwaltung bleibt auch bei der Ermächtigung zur Rechtsetzung zu fragen, welche sachlichen Grenzen der Einräumung eines solchen Entscheidungsrahmens an die Exekutive gesetzt sind. Ausgehend vom einheitlichen Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes gelten hier grundsätzlich alle für die Behandlung von Einzelfällen angestellten Erwägungen sinngemäß.347 Im Gegensatz zur Ermächtigung zum Gesetzesvollzug sind bei Artikel 80 GG exekutive Befugnisse zur gerichtsverbindlichen Erkenntnis der Voraussetzungen des Gesetzes nicht nur ausnahmsweise zuzulassen.348 Da es gerade Aufgabe des Verordnungsgebers ist, „offene" Gesetzesformulierungen in eigener Verantwortung letztverbindlich auszufüllen, zu welchem Zwecke er ausdrücklich zur Wahl dieser Handlungsform ermächtigt wurde, obliegt es ihm grundsätzlich zugleich, die für sein Tätigwerden erforderliche Gesetzesauslegung wie auch etwaige Einschätzungen und Prognosen vorzunehmen. Die gesetzliche Ermächtigung ist daher regelmäßig dahingehend auszulegen, daß der Exekutive ein entsprechender Entscheidungsspielraum eingeräumt werden 344

Vgl. oben § 3 III. 2.)c) mit Fußnote 242. Vgl. Jesch, JZ 1963, S. 241 (245). 346 De lege ferenda scheint es wünschenswert, diese Regelungstechnik verstärkt nutzbar zu machen, um eine Rückbesinnung des Gesetzgebers auf seinen Auftrag zur Schaffung „allgemeiner", auf die Verwirklichung von Gerechtigkeitsidealen abzielender Gesetze im zuvor (§ 2 II. l.)b) mit Fußnote 148) geschilderten Sinne zu erreichen. 347 Siehe oben § 2 IV. 5.). 348 Ebenso Zuleeg, DVB1. 1970, S. 157 (160 f.). 345

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

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soll, der nur einer gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle 349 unterliegt.350 Die dem Artikel 19 Absatz 4 GG zum allgemeinem Parlamentsvorbehalt entnommene Wertung, das Gesetz jeweils im Sinne möglichst umfassenden Rechtsschutzes auszulegen, greift nicht ein, da anders als beim tatbestandlichen Beurteilungsspielraum des Rechtsanwenders ein vollständiger gerichtlicher Rechtsschutz möglich bleibt. Lediglich der Maßstab gerichtlicher Prüfung verschiebt sich, neben das Gesetz tritt nun die Rechtsverordnung. Gerade dies ist Gegenstand der gesetzlichen Ermächtigung. Hier zeigt sich der vielleicht wichtigste Unterschied von rechtsetzender und rechtsanwendender Verwaltung. Beide Formen des Parlamentsvorbehaltes unterscheiden sich ferner dadurch, daß an den Rechtsanwender gerichtete Gesetze derart vollständig formuliert sein müssen und im Regelfall auch sind, daß sie bereits zum einzelfallbezogenen Vollzug geeignet sind. Bei der Ermächtigung zur ergänzenden Rechtsetzung kann die Vollzugsfahigkeit noch fehlen. Hängt die Anwendung des Gesetzes vom Erlaß der Rechtsverordnung ab, ist das ermächtigende Gesetz so abzufassen oder jedenfalls verfassungskonform auszulegen, daß die Exekutive zum Normerlaß verpflichtet ist. Anderenfalls fehlte es an einem anwendbaren Gesetz, der Gesetzgeber hätte folglich seine Regelungskompetenz noch nicht in Anspruch genommen und damit auch keine dem Artikel 80 GG genügende Entscheidung getroffen. 351 Die Entschließungsfreiheit der Verwaltungsspitze, ob sie tätig werden will, verengt sich in diesen Fällen vergleichbar einer gebundenen Entscheidung oder einer Ermessensreduzierung auf Null. 352 Soweit das Gesetz bereits vollzugsfähig formuliert ist, also auch im Wege schlichter Rechtsanwendung konkretisiert werden könnte, darf der Exekutive die eigenverantwortlich nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit zu treffende Ent349

Zu den denkbaren Maßstäben der Kontrolldichte von Danwitz, S. 202 ff.; in Betracht kommen je nach Regelungsbereich eine (beschränkte) Evidenzkontrolle, eine (weitergehende) Vertretbarkeitskontrolle oder eine (nur geringe Spielräume belassende) Inhaltskontrolle. Maßgeblich ist die jeweils durch Auslegung zu ermittelnde gesetzgeberische Entscheidung. Für den Regelfall der das Gesetz eigenverantwortlich ergänzenden Verordnung wird man wohl auf eine Vertretbarkeitskontrolle schließen dürfen. 350 Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 72. 351 Nach BVerfGE 78, 249 (272 f.) ist eine „Kann-Ermächtigung", welche die Anwendbarkeit des Gesetzes vom zur Disposition der Exekutive stehenden Erlaß einer Rechtsverordnung abhängig macht, nicht hinreichend bestimmt im Sinne von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG, da der originäre politische Gestaltungswillen des Gesetzgebers (Hervorhebung im Original) unzulässigerweise der Verwaltung übertragen werde. Dem ist mit der Maßgabe zuzustimmen, zunächst zu erwägen, den Verordnungsgeber im Wege der verfassungskonformen Auslegung (ähnlich BVerfGE 78, 249 (274 ff.)) des Gesetzes zu verpflichten. Dies verhindert eine anfängliche Nichtigkeit des Gesetzes und gestattet, durch den Verordnungserlaß nachträglich rechtmäßige Zustände zu schaffen. 352 Weitere Beispiele einer Pflicht zum Verordnungserlaß bei Peine, ZG 1988, S. 121 (131 ff.). 16 Seiler

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Scheidung verbleiben, eine Materie verallgemeinernd auf der Ebene der Rechtsetzung oder einzelfallbezogen auf der Ebene der Rechtsanwendung zu regeln. Kriterien der Entscheidungsfindung können insoweit die Eignung des Sachgebietes zur Verallgemeinerung, der konkret gegebene Bedarf an Flexibilität oder auch das Interesse an Vereinfachungsregeln sein.

b) Das Gesamtgefüge eines Delegationssystems Ebenso wie sich der allgemeine Parlamentsvorbehalt auf das Gesamtgefüge eines Normensystems beziehen kann353, sind auch die Anforderungen von Artikel 80 Absatz 1 GG im Lichte des normativen Umfeldes zu sehen, in das der Gesetzgeber die jeweilige Delegationsnorm eingebettet hat und in dessen Zusammenhang sie auszulegen ist. Hieraus können aber kaum aussagekräftige Schlußfolgerungen für die Ausgestaltung eines gesetzlichen Systems gezogen werden, da dem Gesetzgeber insoweit ein weiter Spielraum zuzugestehen ist. De lege ferenda sollte jedoch bedacht werden, daß eine Vielzahl von Einzelermächtigungen, die zwar alle für sich betrachtet nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt sind, die aber in ihrer Gesamtheit ein „unübersichtliches Geflecht" 354 bilden, die vom Parlamentsvorbehalt geforderte Entscheidung des „Wesentlichen" oftmals schlechter verdeutlichen als allgemeiner gehaltenere Delegationen, die es dem Verordnungsgeber erlauben, ein im Grundsätzlichen geregeltes Rechtsgebiet ergänzend auszugestalten. Dieser Hinweis ist jedoch in erster Linie rechtspolitischer Natur, verfassungswidrig wird die in der heutigen Praxis übliche Verwendung unzähliger Einzeldelegationen erst, wenn diese gesetzgeberische Gestaltung nicht mehr vertretbar ist.

4. Anhang: Die weiteren Anforderungen

des Artikel 80 Absatz 1 GG

a) Die Adressatenregelung Nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 1 GG kann das Gesetz die Bundesregierung, einen Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigen, Rechtsverord-

353

Oben § 2 IV. 5.)d). Schneider, Gesetzgebung, S. 157, nennt dies die „Kehrseite des Bestimmtheitsgebotes". 354

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

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nungen zu erlassen.355 Andere exekutive Stellen bedürfen einer Subdelegation nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 4 GG.356 Dies beschränkt die Überlassung legislativer Kompetenzen und kann daher nur gelten, soweit der Gesetzgeber zuständig ist, das heißt soweit der Parlamentsvorbehalt und das ausgeübte Zugriffsrecht reichen. In Vorbehalts- und gesetzesfreien Bereichen ist Artikel 80 GG unanwendbar, das dortige selbständige Verordnungsrecht kann nicht nur durch die genannten Adressaten ausgeübt werden. Da jede Verordnung allgemeinverbindlich wirkt und nachgeordnete Stellen ihre Vorgesetzten grundsätzlich nicht binden können, kommt ein Verordnungserlaß aber stets nur durch die im konkreten Instanzenzug zuständige Verwaltungsspitze in Betracht.

b) Das Zitiergebot Gemäß Artikel 80 Absatz 1 Satz 3 GG muß die Verordnung ihre Rechtsgrundlage angeben. Dies bestätigt die obige357 Auslegung, Artikel 80 GG fordere eine ausdrückliche Ermächtigung zur Wahl der Handlungsform der Rechtsverordnung.

c) Die Veröffentlichung von Rechtsverordnungen Rechtsnormen sind auszufertigen und zu verkünden. Zu diesem Zwecke gestattet Artikel 82 Absatz 1 Satz 2 GG, die Bekanntmachung der Rechtsverordnung gesetzlich zu regeln. Derzeit sieht § 1 Absatz 1 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen die Veröffentlichung im

355

In jüngerer Zeit ermächtigt der Gesetzgeber die Exekutive häufig nicht nur zur Rechtsetzung, sondern erläßt oder ändert durch ein Artikelgesetz zugleich selbst die Verordnung. Dies belegt das Steuerrecht. Die Neubekanntmachung der Einkommensteuer-Durchfuhrungsverordnung, BGBl. I 1997, S. 1558, berücksichtigte acht Änderungen seit der letzten Bekanntmachung, die allesamt durch Gesetz eingeführt wurden. Diese Praxis durchbricht die rechtsstaatlich wünschenswerte Formenstrenge der Rechtsetzung. Dennoch wird sie überwiegend fur zulässig gehalten. Vgl. Bundesministerium der Justiz, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, RN 456 ff.; Jekewitz, NVwZ 1994, S. 956 (957); Lippold, ZRP 1991, S. 254 (255 f.); Schneider, Gesetzgebung, S. 358. 356 Subdelegationen haben keine große praktische Bedeutung. Beispielsweise wendet sich § 51 EStG nur an die Bundesregierung (und den Bundesfinanzminister), die übrigens auch die Steuerrichtlinien erläßt (Artikel 108 Absatz 7 GG). 357 Siehe oben § 3 III. l.)b).

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Bundesgesetzblatt oder im Bundesanzeiger vor. Der Gesetzgeber dürfte auch andere Publikationsorgane wählen.358

d) Mitwirkung weiterer Stellen beim Verordnungserlaß (1) Zustimmung des Bundesrates Artikel 80 Absatz 2 GG verlangt fur bestimmte Rechtsverordnungen vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung359 eine Zustimmung des Bundesrates. Zu ihnen zählen diejenigen Verordnungen, die auf Grund eines selbst zustimmungsbedürftigen oder von den Ländern auszuführenden Bundesgesetzes ergehen. Auf diese Weise unterliegt der größte Teil aller Rechtsverordnungen des Bundes dem Zustimmungserfordernis, ohne daß dies grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen könnte. Die notwendige Beteiligung des Bundesrates wäre deshalb gleichermaßen gewahrt, falls die Rechtsverordnung künftig verstärkt zum Einsatz käme und die Verwaltungsvorschrift wieder auf ihre herkömmliche Funktion beschränkt würde. 360

(2) Mitwirkung

des Bundestages

Ungewöhnlicher sind Gestaltungen, die den Erlaß der Rechtsverordnung von einer Mitwirkung des Bundestages abhängig machen.361 Erwähnenswert sind neben anderen Erscheinungsformen parlamentarischer Beteiligung362 jene

358

Zum Beispiel könnten Steuerrechtsverordnungen im Bundessteuerblatt verkündet werden, in dem gegenwärtig nur die Steuerrichtlinien veröffentlicht werden. 359 Ein solches Gesetz ist nach BVerfGE 28, 66 (76 ff.) selbst zustimmungsbedürftig. 360 Beispielsweise kennt das Einkommensteuerrecht in Artikel 105 Absatz 3 GG ein generelles Zustimmungserfordernis. Gleiches gilt nach Artikel 108 Absätze 2, 7 GG für die Steuerrichtlinien, so daß sich die Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrates nicht verschieben können. 361 Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band III, § 64, RN 50, zählt zwischen 1949 und 1984 52 derartige Ermächtigungen. 362 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band III, § 64, RN 51 f.; neben einem Zustimmungsvorbehalt kann die Exekutive verpflichtet werden, dem Parlament Kenntnis vom Verordnungserlaß zu geben oder diesen zu begründen. Femer kann ein Aufhebungsrecht des Bundestages bestehen, wie dies zum Beispiel Artikel 109 Absatz 4 Satz 4 GG für einen nicht verallgemeinerungsfähigen Sonderfall vorsieht. Neuerdings

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

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Delegationen, die der Volksvertretung ein Zustimmungsrecht vorbehalten, wobei die Zustimmung teils ausdrücklich zu erteilen ist, teils bei Verstreichen einer bestimmten Frist fingiert wird. Diese Konstruktion ist mit dem Parlamentsvorbehalt vereinbar, da die legislative Kompetenz zur unbedingten Delegation als „wesensgleiches Minus" auch die Überlassung von Rechtsetzungsbefugnissen unter dem Vorbehalt parlamentarischer Mitwirkung umfaßt. 363 Sinn und Zweck des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG ist es, den Gesetzgeber daran zu hindern, sich seiner Verantwortung zu entledigen. Dem wird erst recht genügt, wenn sich die Volksvertretung durch einen Zustimmungsvorbehalt noch gewisse Befugnisse vorbehält. Allerdings weicht dieses Verfahren vom im Wortlaut des Grundgesetzes vorgesehenen Weg der Normerzeugung ab. Als Ausnahme von der verfassungsrechtlichen Regel, die eine Rechtsetzung entweder durch die gesetzgebende oder durch die vollziehende Gewalt vorsieht, nicht jedoch durch beide gemeinsam, ist zur Rechtfertigung dieser Vorgehensweise zumindest ein „legitimes Interesse" der Legislative zu fordern, „zwar einerseits die Rechtsetzung auf die Exekutive zu delegieren, sich aber andererseits entscheidenden Einfluß auf Erlaß und Inhalt der Verordnungen vorzubehalten".364 Gegeben ist dies zum Beispiel bei Regelungen von erheblicher Tragweite, die zugleich einer besonders flexiblen Handhabung bedürfen. Umstritten ist, ob ein Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Parlaments eine etwaige geringere Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm kompensieren kann, der Gesetzgeber sich also gerade wegen der späteren Befassung des Bundestages mit einer Normierung unterhalb der Schwelle des „Wesentlichen" begnügen darf. 365 Der Wortlaut von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG unterscheidet jedoch nicht zwischen „Zustimmungsverordnungen" und anderen Rechtsverordnungen.366 Bedenkt man die Funktion dieser Verfassungsnorm, eine Selbstentäußerung des Parlaments zu verhindern, und berücksichtigt man, daß eine bloße Zustimmung wegen des nicht eingehaltenen Gesetzgebungsverfahrens mit seinen drei Lesungen und mit der Befugnis jedes Abgeordneten, Änderungen zu allen Einzelfragen zu beantragen, der Volksvertretung schwächere Einwirkungsmöglichkeiten verschafft als ein Gesetz, so fordert auch der Zweck finden sich Ermächtigungen, die eine Änderung von Rechtsverordnungen durch schlichten Beschluß des Bundestages gestatten; hiergegen mit Recht Rupp, NVwZ 1993, S. 756 ff.; Sommermann, JZ 1997, S. 434 ff. (jeweils mit weiteren Nachweisen). 363 BVerfGE 8, 274 (321). 364 BVerfGE 8, 274 (321). 365 Bejahend Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof,\ HStR, Band III, § 64, RN 56; Bryde, in: von Münch / Kunig, Artikel 80 GG, RN 5; Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 61; dagegen BVerfGE 8, 274 (322 f.); Rupp, NVwZ 1993, S. 756 (758). 366 Den unveränderten Charakter der „Zustimmungsverordnung" als Rechtsverordnung betont BVerfGE 8, 274 (322 f.).

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

dieses speziellen Gesetzesvorbehaltes, die notwendige Regelungsdichte des Ermächtigungsgesetzes gleich zu bemessen. Die Systematik des Grundgesetzes kennt als Rechtsetzungsinstrumente nur das Gesetz und die Rechtsverordnung, nicht aber eine zwischen ihnen stehende dritte, aus beiden Rechtsetzungsformen gemischte Möglichkeit des Normerlasses.367 Auch der Entstehungsgeschichte läßt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Somit muß der Gesetzgeber auch bei dieser Form der Ermächtigung selbst das „Wesentliche" regeln, es besteht allgemein gesprochen kein Unterschied zu anderen Fällen des Parlamentsvorbehaltes.368 Allerdings kann sich der Umfang des „Wesentlichen" im konkreten Fall durchaus verschieben und so eine geringere Regelungsdichte gestatten. Genau diejenigen Umstände, die das für den Zustimmungsvorbehalt geforderte legitime Interesse des Gesetzgebers begründen, können es im Einzelfall unbedenklich erscheinen lassen, wenn dieser seine Gestaltungsfreiheit ausnutzt und eine „offenere" Gesetzesfassung wählt. Dennoch kompensiert der Zustimmungsvorbehalt keine geringere gesetzliche Bestimmtheit, beide Formen der Gestaltung können lediglich gleichzeitig, eventuell sogar aus den gleichen Gründen zulässig sein, ohne daß zwischen ihnen eine ursächliche Beziehung bestünde.

(3) Mitwirkung

anderer Stellen

Gelegentlich finden sich Ermächtigungen, die andere staatliche369 oder private370 Stellen am Verfahren der Verordnungsgebung beteiligen.371 Ihre Zulässigkeit läßt sich wegen des uneinheitlichen Bildes verschiedener Formen der Mitwirkung nicht allgemein, sondern nur im konkreten Fall beurteilen. Im Regelfall werden sie jedoch zulässig sein, wenn und soweit die parlamenta367

BVerfGE 8, 274 (323); Rupp, NVwZ 1993, S. 756 (758); für eine „dritte Form der Rechtsetzung" Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof,\ HStR, Band III, § 64, RN 56. 368 BVerfGE 8, 274 (323): Die Bestimmtheit der Ermächtigung muß sich „unabhängig von den Voraussetzungen ergeben, unter denen die Verordnimg der Zustimmung bedarf*. „Die Notwendigkeit der Zustimmung des Bundestages erschwert lediglich ihre Ausübung." 369 Die Erscheinungsformen der Mitwirkung sind vielgestaltig. In einigen Bundesländern werden Parlamentsausschüsse am Verfahren beteiligt (Nachweise bei Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof \ HStR, Band III, § 64, RN 57 f.). Gelegentlich werden auch außerparlamentarische Stellen einbezogen wie zum Beispiel die Deutsche Bundesbank nach § 22 Kreditwesengesetz. 370 So sind nach § 22 Kreditwesengesetz die Spitzenverbände der Kreditwirtschaft anzuhören. 371 Siehe Schneider, Gesetzgebung, S. 171 ff.

IV. Zur Ermittlung des „Wesentlichen" bei Delegationsnormen

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lische Verantwortung nicht geschmälert, gleichzeitig aber zusätzlicher Sachverstand zur Beantwortung der jeweils erheblichen Fragen gewonnen wird. 372

e) Die „Subdelegation" zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften Artikel 80 Absatz 1 Satz 4 GG ermöglicht ausdrücklich, eine Weiterleitung der Rechtsetzungsbefugnis an einen anderen Normurheber zuzulassen. Systematische Grundsatzfragen wirft indessen die gelegentlich ausgeübte Praxis auf, nach der die Rechtsverordnung weitere Einzelheiten der Verwaltungsvorschrift überläßt, ohne hierzu im formellen Gesetz ermächtigt zu sein.373 Genau betrachtet handelt es sich nicht um eine Subdelegation im Sinne von Artikel 80 Absatz 1 Satz 4 GG, sondern um einen Wechsel der Handlungsinstrumente, der als solcher fragwürdig erscheint. Zum einen setzt die exekutive Rechtsetzung in gesetzesabhängigen Bereichen jeweils eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Wahl der entsprechenden Handlungsform voraus. Gleiches sollte aus Gründen der Rechtssicherheit für einen Austausch verschiedener Handlungsmittel gelten. Zum anderen gehört die Verwaltungsvorschrift weiterhin dem staatlichen Binnenrecht an, kann also aus eigener Kraft nicht die von der Exekutive gewollte Rechtswirkung, das heißt die verbindliche Festlegung von Details im Außenverhältnis, erzeugen. Hierzu müßte sie in den Rang von Außenrecht erhoben werden, was nur der Gesetzgeber leisten könnte, sei es durch eine entsprechende Ermächtigung oder durch eine kraft gesetzlicher Verweisung bewirkte Tatbestandsfunktion. Allerdings wäre der Gesetzgeber insofern selbst gebunden, als er, um eine Umgehung von Artikel 80 GG zu vermeiden, eine besondere Rechtfertigung für die Wahl dieser rechtlichen Konstruktion benötigte.374 Im übrigen besteht kein praktisches Bedürfnis, der Verwaltung zu gestatten, ihre Richtlinien aus eigenem Recht zu Außenrecht aufzuwerten, da sie die gleichen Ergebnisse im Verordnungswege erreichen kann. Jedenfalls können einer abstrakt-generellen Regelung nur schwer zugängliche Einzelheiten in den Anhang einer Rechtsverordnung, gegebenenfalls

372

Vgl. BVerfGE 42, 191 (205) (Personenbeförderung): „Es ist Sache der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob er für den Erlaß von Verordnungen Anhörverfahren anordnet und wie er den Kreis der Anzuhörenden abgrenzt." 373 Zum Beispiel sollen gemäß § 48 Absätze 2 und 4 EStDV abzugsfähige Aufwendungen im Sinne von § 10b EStG (Spendenabzug) nach Maßgabe einer Verwaltungsvorschrift anzuerkennen sein. Weder die einschlägige gesetzliche Regelung (§ 10b EStG) noch die Delegationsnorm (§ 51 Absatz 1 Nr. 2 c) EStG) ermächtigen zur Wahl der Handlungsform der Verwaltungsvorschrift. 374 Vgl. auch sogleich § 3 V. 2.).

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

auch tabellarisch, aufgenommen werden.375 Der Verordnungsgeber darf mithin nicht ohne gesetzliche Ermächtigung auf ergänzende Verwaltungsvorschriften weiterverweisen.

V. Zusammenfassung: Die Grundsätze der exekutiven Rechtsetzung 1. Die Rechtsverordnung Die Rechtsverordnung ist gegenständlich nicht auf bestimmte Rechtsmaterien beschränkt, sondern kann als abstrakt-generelle Regelung des Außenrechts prinzipiell in allen Bereichen ergehen, in denen auch ein Gesetz zulässig wäre. Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG bezweckt, den Gesetzgeber daran zu hindern, sich seiner Verantwortung zu entledigen. Da die parlamentarische Verantwortung unverändert bleibt, falls die Exekutive ihre Aufgaben rechtssatzförmig und nicht schlicht rechtsanwendend wahrnimmt, verlangt Artikel 80 GG ebenso wie der allgemeine Parlamentsvorbehalt nur, das „Wesentliche" 376 des jeweiligen Regelungsbereichs förmlich zu normieren. Diesen weiten Begriff näher zu bestimmen, ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, dem hierzu ein gewisser Gestaltungsspielraum zuzuerkennen ist. Im übrigen darf das Gesetzesrecht im Verordnungswege ergänzt werden.377 Das formelle Gesetz muß die ihm zugewiesenen Fragen auslegungsfähig, nicht aber ausdrücklich beantworten. „Inhalt, Zweck und Ausmaß" beschreiben diese Anforderungen, haben aber keinen weitergehenden eigenen Aussagegehalt. Es gilt mithin ein einheitlicher Parlamentsvorbehalt. Daß dieser im Verhältnis zur rechtsetzenden Exekutive im Wortlaut der Verfassung, gegenüber der rechtsanwendenden Verwaltung dagegen nicht ausdrücklich normiert wurde, läßt sich nur geschichtlich verstehen. Artikel 80 GG wurde geschaffen, um zu

375

Diesen Weg hat man beispielsweise im Immissionsschutzrecht weitgehend beschritten. Als Muster kann die Festlegung der genehmigungspflichtigen Anlagen nach § 4 Absatz 1 BImSchG in Verbindung mit der zugehörigen Durchfuhrungsverordnung (4. BImSchV) dienen, die in ihrem Anhang die Genehmigungspflicht unterschiedlichster Anlagenarten vorsieht. 376 Der Begriff des „Wesentlichen" darf nicht überbewertet werden. Er umschreibt nur den dem Gesetzgeber durch andere Verfassungsaussagen zugewiesenen und von ihm im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes näher zu konkretisierenden Bereich des Allgemeinen und Grundlegenden. 377 Diese Ergänzungsfunktion macht die unmittelbare Außenwirkung der Verwaltungsvorschriften rechtspolitisch überflüssig; ebenso Schneider, Gesetzgebung, S. 179.

V. Zusammenfassung: Die Grundsätze der exekutiven Rechtsetzung

249

verhindern, daß ein „Ermächtigungsgesetz" erneut das Parlament entmachtet. Der bloße Gesetzesvollzug ist nicht mit einer ähnlichen historischen Erfahrung belastet. Auch ist dort die Gefahr, ein Mißbrauch des Vorbehaltsprinzips könnte das Demokratieprinzip aushöhlen, wegen des Einzelfallbezuges der Rechtsanwendung nicht in vergleichbarer Weise gegeben.378 Der einheitliche Parlamentsvorbehalt macht eine Ermächtigung nach Artikel 80 Absatz 1 GG in thematisch „unwesentlichen" Bereichen entbehrlich und gesteht der Exekutive insofern ein selbständiges Verordnungsrecht" zu. Ein anderes gilt, soweit der Gesetzgeber von seinem Zugriffsrecht abschließend Gebrauch gemacht hat. Die Verordnung gerät dann kraft des Vorranges des Gesetzes in eine inhaltliche Abhängigkeit von diesem, die ihr nur im Falle einer ausdrücklichen Ermächtigung zur Rechtsetzung gestattet, den Gesetzeswillen zu modifizieren. Dieses überraschende Ergebnis erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte von Artikel 80 GG. Damals hatte man den spätkonstitutionellen, an der Klausel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum orientierten Gesetzesbegriff vor Augen und setzte fur alle übrigen Fragen eine autonome Regelungsbefugnis der Exekutive voraus, die durch begrifflich vom Rechtssatz unterschiedene Verwaltungsvorschriften auszuüben war. Der moderne Gesetzesbegriff befreit die Rechtsverordnung vom gegenständlichen Denken und läßt ihren Einsatz nunmehr parallel zur Verwaltungsvorschrift zu. Wollte man Artikel 80 GG auf vorbehaltsfreie Bereiche erstrecken, hätte dies zur Folge, daß bei Fehlen einer Ermächtigung der gleiche Regelungsinhalt nicht durch Rechtsverordnung, wohl aber durch Verwaltungsvorschrift festgelegt werden könnte, wobei letzterer unabhängig von ihrer dogmatischen Einordnung kraft Selbstbindung (Artikel 3 GG) in jedem Fall Außenwirkung zukäme. Da das Grundgesetz als Handlungsinstrument exekutiver Rechtsetzung aber (primär) die Rechtsverordnung vorsieht, wäre dieses Ergebnis sinnwidrig. Auch eine unterhalb der vermeintlich von Artikel 80 GG geforderten Regelungsdichte verbleibende Delegation wäre mangels hinreichender parlamentarischer Entscheidung nichtig, obwohl an sich kein Gesetz erforderlich wäre. Dies kann nicht überzeugen. Artikel 80 GG setzt daher den allgemeinen Gesetzesvorbehalt voraus und ist nur anwendbar, soweit dieser gilt. 379 In Bereichen, die grundsätzlich dem Gesetzesvorbehalt unterfallen, muß das Gesetz nur den „wesentlichen" Regelungsgehalt des zu setzenden Rechts selbst bestimmen und darf Einzelheiten dem Verordnungsgeber überlassen. Bei dieser 378

Daneben bildet die Verankerung dieses speziellen Parlamentsvorbehaltes im Wortlaut der Verfassung als Auslegungshilfe eine Sperre gegenüber einem zukünftigen Verfassungswandel, der dem Parlament die Verantwortung über Gebühr entziehen könnte. Insoweit besteht ein historisch begründeter besonderer Schutz der Legislative gegen die rechtsetzende Exekutive. 379 Vgl. insoweit auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 395 ff.

§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Delegation ist es, soweit der legislative Gestaltungsspielraum reicht, nicht zu beanstanden, wenn dieser die gesetzlichen Vorgaben gerade im Hinblick auf die in einer dem Gesetz vergleichbaren Weise Rechtssicherheit schaffende rechtssatzförmige Aufgabenwahrnehmung der Exekuive „offener" formuliert. Aus Gründen der Rechtssicherheit muß der Gesetzgeber den Verordnungsgeber in allen gesetzesabhängigen, das heißt in thematisch „wesentlichen" wie in „unwesentlichen", jedoch kraft gesetzgeberischen Zugriffsrechts freiwillig normierten Bereichen ausdrücklich zur Wahl der Handlungs/ônw der Rechtsverordnung ermächtigen und ihn so bevollmächtigen, die gesetzliche Regelung durch Ergänzungsrecht zu konkretisieren. Nur so ist eindeutig erkenntlich, ob die Verwaltung zur Bindung der Gerichte befugt sein soll und ob der Bürger sich an die exekutive Regelung halten muß. Die Befugnis zum Verordnungserlaß kann nicht konkludent erteilt werden. Parlamentsvorbehalt und bloßer Vorbehalt des materiellen Gesetzes haben grundsätzlich den gleichen gegenständlichen wie umfangmäßigen Gehalt. Sie sind Ausprägungen eines einheitlichen Vorbehaltsprinzips, das nur in seltenen Fällen zwingend eine Regelung im förmlichen Gesetz verlangt 38°, regelmäßig aber die Rechtsverordnung als unmittelbare Rechtsgrundlage einer staatlichen Maßnahme anerkennt, wobei die Entscheidung des „Wesentlichen" mittelbar auf ein Parlamentsgesetz zurückzufuhren sein muß. „Unwesentliches" muß nicht, kann aber rechtssatzförmig geregelt werden. Die begriffliche Unterscheidung beider vermeintlicher Vorbehaltsarten verliert so ihre eigenständige Bedeutung. All dies spiegelt den Wandel von Staatsverständnis und Gesetzesbegriff wider. Im Dualismus des 19. Jahrhunderts bedeutete jede Einschränkung der Befugnisse des Verordnungsgebers zugunsten des parlamentarischen Gesetzgebers einen weiteren Schritt in Richtung auf die angestrebte Volkssouveränität. Im demokratischen Staat des Grundgesetzes hat sich diese Fragestellung überholt.381 Die Exekutive wurde durch die Überwindung des monarchischen Prinzips nicht nur geschwächt, sondern zugleich auch aufgewertet, da sie nun ebenfalls, wenn auch nur mittelbar, demokratisch legitimiert ist.382

380

Zum Beispiel Artikel 104 Absatz 1 GG. Böckenförde y Organisationsgewalt, S. 79: „Die alte, auch heute noch weithin vertretene These, daß ein Vordringen des demokratischen Elements in der Verfassung gleichbedeutend sei mit einer Ausweitung des legislativen Kompetenzbereichs, ist nicht mehr schlüssig." 382 Genau betrachtet wurde die Exekutive nur aus der Sicht der Anhänger der Monarchie geschwächt, die den Verlust ihrer unabhängigen Stellung zu beklagen haben. Aus demokratischer Perspektive gewinnt die Exekutive kraft ihrer demokratischen Gebundenheit an Legitimität. 381

V. Zusammenfassung: Die Grundsätze der exekutiven Rechtsetzung

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Die aus Weimarer Zeit stammende Einteilung in „gesetzesvertretende", „gesetzesändernde" und „gesetzesergänzende" Verordnungen ist heute hinfällig, da diese Begriffe den je nach Regelungsbereich unterschiedlichen Anforderungen des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG nicht gerecht werden können und deshalb keine Aussagekraft haben.383 Zudem sind diese Begrifflichkeiten überholt durch die Erkenntnis, daß jede untergesetzliche Rechtskonkretisierung zugleich einen eigenen schöpferischen Akt 384 enthält und deshalb insoweit vom bisher Geregelten abweichen muß. So verstanden vertritt, ändert und ergänzt jede Rechtsverordnung das Gesetz im Unwesentlichen, der Unterschied zwischen verschiedenen gesetzesabhängigen Verordnungen liegt allein im Maß eigenverantwortlicher exekutiver Konkretisierungsbefugnisse. Auf die Übergangsvorschrift des Artikel 129 Absatz 3 GG ist daher nicht einzugehen.385 Nach alledem erscheint die Rechtsverordnung als geeignetes Mittel, um zur gebotenen Entlastung des Parlaments beizutragen. Die der Exekutive zugebilligten, im Vergleich zur bisherigen Doktrin umfangreicheren Befugnisse bewirken einen Machtzuwachs der Verwaltung, der jedoch zum größten Teil rein theoretischer Natur ist. Auch wenn die Exekutive hiervon nicht immer Gebrauch macht, eröffnen ihr die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Bestimmung des „Wesentlichen" im Wege der teleologischen Auslegung von ermächtigenden Gesetzen sowie der umfangreiche Einsatz von Richtlinien in vorbehaltsfreien Bereichen bereits jetzt de facto weite Regelungsbefugnisse. Der entscheidende Unterschied zwischen hiesiger Lösung und bisheriger Sichtweise exekutiver Rechtsetzung ist primär ein dogmatischer.386

2. Die Verwaltungsvorschrift Die Verwaltungsvorschrift unterscheidet sich nach ihrer Rechtsqualität, ihrem thematischen Anwendungsbereich wie ihrer Normstruktur als abstrakt383

Ramsauer, in: Alternativkommentar, Artikel 80 GG, RN 41a; vgl. bereits Mußgnug, Der Dispens, S. 79 f. 384 Zu den methodischen Grundlagen oben § 2 IV. 4.). 385 BVerfGE 7, 282 (291); E 8, 274 (306); E 15, 153 (160); E 22, 180 (214): Artikel 129 Absatz 3 GG bezieht sich nur auf vorkonstitutionelles Recht. 386 In die gleiche Richtung gingen einzelne Reformvorschläge zum Verordnungsrecht. Erwogen wurde, den Wortlaut von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG auf eine Bestimmung des Zweckes der Ermächtigung zu reduzieren und in Artikel 80 Absatz 2 GG ein selbständiges Verordnungsrecht fur vorbehaltsfreie Bereiche einzuführen; vgl. Klein, Hans H, DÖV 1975, S. 523 (525). Ähnliches regte zuvor Magiera, Der Staat 13 (1974), S. 1 ff., an. Die Reformkommission von 1992/93 griff diesen Gedanken nicht auf; vgl. Sannwald, ZG 1994, S. 134 (145).

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

generelle Regelung nicht vom materiellen Gesetz. Anders als dieses bleibt sie prinzipiell auf das staatliche Innenverhältnis beschränkt. Dogmatischer Hintergrund der Trennung von Außen- und Innenbereich ist der auch im wertgebundenen demokratischen Sozialstaat beizubehaltende Gedanke der einheitlichen Staatspersönlichkeit als Ausdruck eines auf der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte beruhenden Dualismus von freiheitsverpflichtetem Staat und aus zahlreichen freiheitsberechtigten Individuen bestehender Gesellschaft. Gleichwohl treten Außenwirkungen der Verwaltungsvorschriften ein. Sie sind lediglich mittelbarer Natur und erfordern eine Selbstbindung der Verwaltung.387 Diese setzt einen eigenen Entscheidungsspielraum der Exekutive voraus, denn dort, wo die Verwaltung bereits gesetzlich, das heißt fremdgebunden ist, kann sie sich nicht mehr selbst binden. Es gilt dann nur das materielle Gesetz. Art und Ausmaß der Selbstbindung hängen davon ab, in welcher Weise die Verwaltung mit dem Außenverhältnis in Berührung kommt. Die Regelung der eigenen Organisation wie des behördlichen Verfahrens gehört zu den ureigenen Befugnissen der Exekutive und zugleich zum eigentlichen Innenbereich. Daher ist das Organisations- und Verfahrensrecht, in dessen systematischem Kontext das Grundgesetz die Verwaltungsvorschrift nennt, deren „klassischer" Anwendungsbereich. Dies gilt jedoch nur, soweit nicht der Gesetzesvorbehalt eingreift, vor allem soweit nicht die Grundrechte durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen abzusichern sind. Gerade diese Fragen des Verwaltungsinternums sollten nach der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes der Verwaltungsvorschrift zugänglich sein, da die Leistungsverwaltung wegen ihrer damals noch untergeordneten Bedeutung nicht thematisiert und die Eingriffsverwaltung dem Gesetz sowie der Rechtsverordnung überantwortet wurde. Nimmt die Exekutive diese eigene Entscheidungsbefugnis wahr, führt dies, soweit Berührungspunkte mit dem Außenverhältnis zum Bürger bestehen388, auf der Grundlage von Artikel 3 GG, dem allgemeinen 387

Maurer, WDStRL 1984 (43), S. 135 (163), nennt dies die „dogmatisch immer noch überzeugendste Lösung". 388 Außenwirkungen ergeben sich etwa, wenn der Bürger sich an den nach der internen Aufgabenverteilung zuständigen Sachbearbeiter halten oder das behördlich vorgesehene Formular verwenden muß, ohne daß dies einer unmittelbar außenwirksamen Rechtsetzung bedürfte. Innen- und Außenverhältnis überschneiden sich in den Sonderstatusverhältnissen. Zu unterscheiden sind, bei vor allem begrifflichen Differenzen verschiedener Ansätze, im Anschluß an Ole, WDStRL 1956 (15), S. 133 ff., „Grund-" und „Betriebsverhältnis" zwischen Gewaltunterworfenem und Staatsorganisation. Gefragt werden sollte jeweils, ob der Bürger nach der objektiven Zielrichtung der Maßnahme als Angehöriger der Verwaltungsorganisation oder als Person betroffen ist. Da auch § 35 VwVfG eine „auf Außenwirkung gerichtete" Maßnahme fordert, könnte so die Trennlinie von Innen- und Außenbereich bei abstrakt-generellem und einzelfallbezogenem Handeln einheitlich

V. Zusammenfassung: Die Grundsätze der exekutiven Rechtsetzung

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Willkürverbot oder dem Vertrauensschutzgrundsatz zu einer Selbstbindung, die im Ergebnis einer unmittelbaren Außenwirkung gleichkommt. Der dogmatische Grundsatzstreit zeitigt hier kaum Auswirkungen.389 Abzugrenzen sind jene Vorschriften, die der Handhabung des materiellen Rechts durch die Behörden dienen. Sie setzen kein „Ergänzungsrecht". 390 Das „Wesentliche" ist weiterhin im Parlamentsgesetz zu regeln, das Nähere mag die Rechtsverordnung festlegen. Dennoch sind solche Richtlinien zulässig und insbesondere im Rahmen der Massenverwaltung auch sinnvoll, die in weitem Ausmaße durch juristisch nicht geschulte Verwaltungsbeamte abgewickelt werden muß. Diese Verwaltungsvorschriften richten sich aber grundsätzlich allein an die Behörden und bezwecken eine gleichmäßige Anwendung der Gesetze durch zahlreiche Sachbearbeiter in einer Vielzahl von Einzelfallen. Sie binden die Gerichte jedenfalls nicht generell. Auch der Bürger kann sich grundsätzlich nur auf das Gesetz berufen, nicht auf die Richtlinie. Die Verwaltungsrichtlinie dient der Aufgabenwahrnehmung des Erstadressaten des Gesetzes, befugt ihn aber nicht, dieses mit Wirkung gegenüber dem Letztadressaten zu modifizieren. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. Da der formelle Gesetzgeber vorrangig berufen ist, Außenrecht zu setzen, steht es ihm zu, Verwaltungsvorschriften durch seine Entscheidung in den Rang von außenverbindlichem Recht zu er-

bestimmt werden. Die Verwaltungsvorschrift ist kein zulässiges Instrument des Grundverhältnisses, das nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes normiert werden kann. Das Betriebsverhältnis darf durch Verwaltungsrichtlinie und mangels eines generellen Vorbehaltes der Exekutive auch durch Gesetz oder Rechtsverordnung geregelt werden. Eine solche „überschießende" Setzung von zugleich innenwirksamem Außenrecht mag im Zweifel sogar ratsam sein und begründet keine zusätzliche Verantwortung des Gesetzgebers. Vorbehaltsfreie, nicht gesetzesabhängige Materien darf die Verwaltung aus eigenem Recht außenwirksam entscheiden. Soweit der Vorbehaltsbereich berührt wird, wäre ohnehin eine Ermächtigung erforderlich, eine Richtlinie hingegen keinesfalls ausreichend. Wegen der regelmäßig untergeordneten Bedeutung dieser Zweifelsfälle genügt eine auslegungsfähige Delegation zur Bestimmung des „Näheren". 389 Auch beschränkt die Zuordnung der Richtlinie zum Innen- oder Außenbereich wegen ihrer Rechtsqualität nicht den Rechtsschutz, da jedenfalls eine Feststellungsklage statthaft ist. 390 Die These von Bühler, Steuerrecht, Band I, S. 41, die Steuerrichtlinien enthielten ein im Range hinter dem Gesetzes- und Verordnungsrecht zurückstehendes „Ergänzungsrecht", ist abzulehnen. Der Gesetzgeber ist zur Regelung des „Wesentlichen" berufen, das im Verordnungswege um „unwesentliche" Details ergänzt werden kann. Ein Stufenverhältnis dergestalt, daß die Richtlinie hiemach die „ganz unwesentlichen" Punkte festlegen solle, überzeugt nicht und ist in dieser Form auch nirgends vertreten worden. Der Ansatz Bühlen ist allein aus dem Bemühen zu verstehen, die noch genauer zu untersuchende Praxis des Steuerrechts zu rechtfertigen.

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

heben391 oder ihnen zumindest Tatbestandswirkung392 im Rahmen einer gesetzlichen Regelung zukommen zu lassen. Hierdurch weicht der Gesetzgeber von der verfassungsrechtlichen Regel ab, den Erlaß materieller Gesetze mit Außenwirkung selbst oder durch Delegation an den Verordnungsgeber vorzusehen. Zudem droht Artikel 80 GG umgangen zu werden. Daher ist stets eine besondere Rechtfertigung dieser systematischen Ausnahme zu fordern. Dem Gesetzgeber sollte jedoch ein gewisser Gestaltungsspielraum zugebilligt werden, ein nachvollziehbarer Bedarf an Flexibilität und eine vertretbare Prognose des Gesetzgebers, diese so besser erreichen zu können, sollten genügen. Allerdings ist aus Gründen der Rechtssicherheit stets eine ausdrückliche Ermächtigung der Exekutive zur außenwirksamen Rechtsetzung durch Richtlinien zu verlangen, wobei die Delegation selbstredend auf „Unwesentliches" zu beschränken ist.393 Im übrigen bleibt nur eine mittelbare Außenwirkung kraft Selbstbindung, soweit das Gesetz der Verwaltung einen eigenen Spielraum zur letztverbindlichen Entscheidung einräumt. Um eine Umgehung von Artikel 80 GG zu vermeiden, kommen mangels ausdrücklicher Ermächtigung zur Rechtsetzung nur die Fälle in Betracht, in denen der Gesetzgeber der Verwaltung allgemein die Befugnis zur verbindlichen Entscheidung übertragen hat, ohne zwischen den Handlungsweisen der rechtsetzenden und der rechtsanwendenden Verwaltung zu differenzieren, das heißt in denen auch eine Einzelfallentscheidung der Behörde für die Gerichte bindend wäre. Vorfrage jeder Selbstbindung ist daher zunächst jene nach der Kompetenz der Behörde zur letztverbindlichen 391

Anders Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 351 ff, der eine solche Verweisungstechnik nur im Funktionsbereich der Exekutive, nicht in dem der Legislative zulassen will. Da aber seine Grundannahme, die Anwendungsbereiche von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift seien mit den Funktionsbereichen von Gesetzgeber und Verwaltung gleichzusetzen, abzulehnen ist, muß nun schwerpunktmäßig eine Umgehung von Artikel 80 GG vermieden werden. Soweit weder dieser noch andere Verfassungsprinzipien entgegenstehen, wäre es reine Förmelei, diesen Richtlinien, denen der Gesetzgeber den Rang des Außenrechts zubilligen wollte, die Außenwirkung allein wegen ihrer Qualität als Verwaltungsvorschriften zu versagen. 392 Auf diese Weise fugt sich auch die an die Verletzung staatsinterner Pflichten geknüpfte Amtshaftung in die Rechtsquellenordnung ein. 393 Ein Beispiel für eine solche Ermächtigung liefert § 48 BImSchG, der in nicht zu beanstandender Weise zum Erlaß von Richtlinien des Technikrechts ermächtigt. Diese Konstruktion läßt sich rechtfertigen, da so zum Schutze von Mensch und Umwelt sowohl eine Beteiligung sachverständiger Kreise als auch die flexible Reaktion auf neue Technologien ermöglicht werden. In rechtspolitischer Hinsicht sei aber angemerkt, daß dies bei richtigem Verständnis des Artikel 80 GG kaum Vorteile gegenüber durch Rechtsverordnung bringt. Insbesondere der Gewinn an Flexibilität erscheint äußerst geringfügig. Der einzige Unterschied liegt wohl in der Eröffnung eines über Artikel 80 Absatz 1 Satz 1 GG hinausgehenden Adressatenkreises, ohne auf die Möglichkeit einer Subdelegation zurückgreifen zu müssen.

V. Zusammenfassung: Die Grundsätze der exekutiven Rechtsetzung

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Entscheidung des konkreten Falles, bevor Rückschlüsse auf die Bindung der Gerichte bei gleichheitskonform angeleiteter Behandlung einer Vielzahl von Einzelfällen gezogen werden können. Nur insoweit können der Gleichheitssatz, das allgemeine Willkürverbot oder der Vertrauensschutzgrundsatz eine von der bisherigen oder zumindest antizipierten Verwaltungspraxis abweichende Entscheidung rechtsfehlerhaft werden lassen. Im einzelnen sind die Erscheinungsformen der die Rechtsanwendung anleitenden Richtlinien nach der Struktur des materiellen Gesetzes zu differenzieren. Der Tatbestandsseite des Gesetzes zuzuordnen sind die norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften. Auch wenn jede Auslegung einen eigenen schöpferischen Erkenntnisakt des Rechtsanwenders voraussetzt, der zwischen mehreren denkbaren Interpretationen wählen muß, obliegt die letztverbindliche Auswahl der zutreffenden Auslegungsmöglichkeit dennoch grundsätzlich den Gerichten.394 Dies ist ihre klassische Aufgabe als Letztadressat des Gesetzes, was ausschließt, sie an die behördliche Rechtsauffassung zu binden. Die entsprechenden Richtlinien beinhalten nur AuslegungsverswcAe der Verwaltung. Gleiches muß grundsätzlich für die sogenannten normkonkretisierenden Richtlinien gelten, die unbestimmte Rechtsbegriffe näher erläutern sollen. Außenverbindlichkeit erlangen sie nur, wenn und soweit der Behörde ein Beurteilungsspielraum auch zur letztverbindlichen Einzelfallentscheidung zusteht. Da solche Spielräume nur ausnahmsweise anzuerkennen sind, scheidet eine Bindungswirkung bei bloß konkludenter Ermächtigung regelmäßig aus. Genau genommen handelt es sich um norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, deren rechtliches Schicksal sie teilen. Beurteilungsspielraum im Einzelfall und normkonkretisierende Wirkung von Richtlinien als allgemeine Anweisung für eine Vielzahl von Einzelfällen können nur parallel bestehen. Dieser Satz ist zwingend, wenn man an der Grundsatzaussage des Artikel 80 GG festhalten will, die Verfassung verlange für „unwesentliche" Ergänzungen in gesetzesabhängigen Bereichen eine ausdrückliche Ermächtigung zur Wahl jeder außenwirksam rechtsetzenden Handlungs/o/rw. Nicht überzeugen kann eine unterschiedliche Auslegung des Gesetzesinhaltes, nach welcher der Richter seine Rechtsauffassung bei einzelfallbezogenem Verwaltungshandeln ohne anzuwendende Richtlinie an die Stelle derer der Behörde setzen darf, er aber bei Handeln auf Grund einer Verwaltungsvorschrift an das gleiche Ergebnis des Behördenverfahrens kraft gesetzlicher Entscheidung gebunden sein soll.395

394

Nur so ist die Aussage zu verstehen, es gebe im Rechtssinne lediglich eine richtige Auslegung. 395 Nicht übersehen wird, daß die Annahme normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften ihren tieferen Grund in dem nicht zu verleugnenden Bedarf an einfach zu handhabenden exekutiven Detailregelungen findet, allein stellt sich die Richtlinie als

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§ 3: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive

Auf der Rechtsfolgenseite des Gesetzes finden sich häufig Ermessensspielräume, deren Ausübung gleichheitskonform durch ermessensleitende Richtlinien angeleitet werden kann. Sie bewirken eine auf den Gleichheitssatz gestützte Selbstbindung, die aber nur für den typischen Fall gilt. 396 Da Ungleiches nicht gleich behandelt werden darf, kann eine Berücksichtigimg außergewöhnlicher Umstände nicht ausgeschlossen werden. Die Behörde kann sich kraft abstrakt-genereller Regelung nur insoweit selbst binden, als sie auch zur letztverbindlichen Einzelfallentscheidung befugt wäre. Jede weitergehende Verwaltungsvorschrift verstieße gegen das Gesetz und könnte den Richter nicht binden. Es besteht die gleiche Parallele von Einzelfall und Richtlinie wie auf der Tatbestandsseite. Ebenso sind die den Ermessensrichtlinien verwandten gesetzesunabhängigen Verwaltungsvorschriften einzuordnen, die Vorbehalts- und gesetzesfreie Bereiche regeln dürfen. Die Kompetenzen der Verwaltung kommen hier einem sehr weiten Ermessensspielraum gleich, weshalb der Gleichheitssatz auch in diesem Fall eine begrenzte Außenwirkung vermittelt.

unzulässiges Handlungsmittel zur Erreichung dieses Zieles dar. Diese Aufgabe kommt bei richtigem Verständnis von Artikel 80 GG vielmehr der Rechtsverordnung zu. 396 Will die Rechtsverordnung Atypisches ausnehmen, ist sie als Solfo orschrift zu formulieren.

Zweiter Teil

Der einheitliche Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht Der einheitliche Parlamentsvorbehalt ist am Beispiel eines Rechtsgebietes zu überprüfen, das strenge rechtsstaatliche, demokratische und grundrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung seiner Teilrechtsordnung stellt, in dem ein vielschichtiges Regelungssystem erforderlich ist, das aber zugleich als Anwendungsgebiet der Massenverwaltung auf gewisse Vereinfachungselemente nicht verzichten kann und in dem angesichts der unbegrenzten Zahl denkbarer Fallkonstellationen ein erheblicher Bedarf an untergesetzlicher Normergänzung besteht. Zu diesem Zweck eignet sich das Einkommensteuerrecht in besonderem Maße, dessen „wesentliche" Gesichtspunkte im einzelnen herauszuarbeiten sowie im Wege einer topisch argumentierenden Gesamtbetrachtung zu gewichten (§ 4) und sodann auf Besonderheiten im Verhältnis der Legislative zur gerade rechtsetzend tätigen Steuerverwaltung zu untersuchen sind (§ 5).

§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

I. Steuerrecht und Individuum

7. Der Schutz von Freiheit und Eigentum im Einkommensteuerrecht Das Einkommensteuerrecht berührt die Individualsphäre in zweifacher Weise. Zum einen greift die Auferlegung einer Geldleistungspflicht als Rechtsfolge unmittelbar in die Rechte des Steuerpflichtigen ein. Zum anderen knüpft der steuerliche Belastungsgrund an die Erzielung von Einkommen durch eine bestimmte berufliche Tätigkeit oder den Einsatz konkreter

17 Seiler

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Eigentumspositionen an, der Steuerzugriff wirkt sich somit mittelbar auf den entsprechenden Freiheitsgebrauch aus.

a) Die Rechtsfolge der Steuernorm: Die Zahlungspflicht Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts greifen steuerliche Geldleistungspflichten „in die in der Verfügungsgewalt und Nutzungsbefugnis über ein Vermögen angelegte allgemeine Handlungsfreiheit gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen Bereich ein (Artikel 14 GG)" 2 , wobei das Gericht 3 die Besteuerung des Vermögenserwerbs, des Vermögensbestandes und der Vermögensverwendung unterscheidet.4 Artikel 14 GG wird daher als Maßstab der grundrechtlichen Prüfung steuerrechtlicher 5 Pflichten anerkannt 6, wodurch der Zugriff der staatlichen 1

Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 68 ff., unterscheidet Belastungs- und Gestaltungswirkungen der Steuerlast. Erstere liegen in dem mit der Steuerauflage bezweckten Geldentzug. Letztere verursachen Reaktionen des Steuerpflichtigen, der einerseits mittelbar im Gebrauch der mit der Einkommenserzielung verbundenen Freiheit beeinträchtigt, andererseits durch Lenkungszwecken dienende Normen beeinflußt wird. Die Einkommensteuerpflicht als solche dient grundsätzlich allein Fiskalzwecken. Ein anderes gilt für zahlreiche Steuervergünstigungen des EStG. 2 BVerfGE 87, 153 (169) (Existenzminimum); E 93, 121 (137) (Einheitswerte) mit Sondervotum von Böckenförde (149 ff); anders noch BVerfGE 82, 159 (190): „Ein Verstoß gegen die Eigentumsgarantie kommt nur dann in Betracht, wenn die Geldleistungspflichten den Betroffenen in der Weise übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen, daß sie eine erdrosselnde Wirkung ausüben." 3 BVerfGE 93, 121 (134 f.). 4 Der Vermögenserwerb ist Gegenstand der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer, der Gewerbeertragsteuer und der Kirchensteuer. Der Vermögensbestand wird durch die (derzeit nicht erhobene) Vermögensteuer, die (bisherige) Gewerbekapitalsteuer und die Grundsteuer in seiner Ertragsfähigkeit besteuert. Die Vermögensverwendung unterliegt der Umsatzsteuer sowie den Verkehr- und Verbrauchsteuern. Vgl. zu diesen drei Zugriffsphasen der Besteuerung Kirchhof Paul, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band IV, § 88, RN 70 ff. 5 Noch offen bleibt, ob Artikel 14 GG auch Geldleistungspflichten nichtsteuerlicher Art erfaßt. BVerfGE 89,48 (61) verneint dies. 6 Zahlreiche Literaturstimmen anerkennen das steuerbare Vermögen bereits seit geraumer Zeit als Schutzobjekt des Artikel 14 GG; vgl. Kirchhof Paul, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 20 ff. („Artikel 14 GG als Magna Charta des Steuerpflichtigen"); derselbe,, WDStRL 1980 (39), S. 213 ff.; Friauf DÖV 1980, S. 480 ff.; Klein, Friedrich, StuW 1966, Sp.433 (468 ff.); Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 179, Fußnote 72; Mußgnug; in: Festschrift für Forsthoff, S. 259 ff. (276 f.); Rüfner, DVB1. 1970, S. 881 ff.; Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, S. 36 ff.

I. Steuerrecht und n

259

Steuergewalt auf die Sphäre des einzelnen begrenzt ist.7 Demgemäß wird die steuerrechtliche Verpflichtung zur Übertragung privater Geldmittel an den Staat nicht als Enteignung, sondern als die Sozialpflichtigkeit konkretisierender Inhalt des Eigentums im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG verstanden.8 Das Grundgesetz enthalte eine Entscheidung für den Steuerstaat (Artikel 104a ff. GG) und für eine privatnützige Eigentumsordnung (Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 GG), die fordere, daß der Staat seinen Finanzbedarf durch Steuern und nicht durch eigene erwerbswirtschaftliche Betätigung unter Ausnutzung staatlichen Produktionskapitals decke. Da eine angemessene Finanzausstattung des Staates insbesondere auch zum Schutze des Eigentums erforderlich sei, werde die Besteuerung Teil des Inhalts dieser privatnützigen Eigentumsordnung.

b) Der Tatbestand der Steuernorm: Mittelbare Auswirkungen auf Eigentumsgebrauch und Berufsfreiheit Des weiteren knüpft der einkommensteuerrechtliche Tatbestand an den Einsatz konkreter Eigentumspositionen sowie an die berufliche Tätigkeit zur Erzielung von Einkommen an und berührt so mittelbar die Grundrechte. Insbesondere Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§ 2 Absatz 1 Nr. 1 EStG), aus Gewerbebetrieb (§ 2 Absatz 1 Nr. 2 EStG), aus Kapitalvermögen (§ 2 Absatz 1 Nr. 5 EStG) und aus Vermietung und Verpachtung (§ 2 Absatz 1 Nr. 6 EStG) werden regelmäßig unter Einsatz eigentumsrechtlich geschützter Vermögenswerte des Steuerpflichtigen erzielt.9 Mit zunehmender Progression des Steuertarifs wird die Steuerlast zu einer wesentlichen Kalkulationsgröße10 für den Bürger und kann so auf seine Entscheidung über die Nutzung seines Eigentums einwirken. Beispielsweise kann die Kombination aus Steuerlast und 7

Auf die Notwendigkeit eines angemessenen grundrechtlichen Schutzes vor übermäßigen Steuerlasten weist Kirchhof\ Paul, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 13 ff., hin. Der Gesetzgeber habe im Steuerrecht seit Abschaffung der jährlichen Steuerbewilligungen nicht mehr die Funktion, die Bürger gegen Übergriffe der monarchischen Exekutive zu schützen, sondern sei selbst zum „Herrscher" geworden, weshalb individuelle Rechtspositionen heute nicht nur durch, sondern auch gegen den Gesetzgeber gewährleistet werden müßten. 8 Hierzu und zum Nachfolgenden Kirchhof Paul, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 24 ff. 9 Daneben wird häufig auch eine berufliche Tätigkeit gegeben sein (siehe sogleich). 10 Die derzeitige Steuerbelastung von in der Spitze bis zu 53 % des zu versteuernden Einkommens (§ 32a EStG) zuzüglich Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer prägt die Kalkulationsgrundlage wirtschaftlicher Entscheidungen der Bürger nachhaltig.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Teuerungsrate dazu fuhren, daß eine bestimmte Kapitalanlage trotz nominalen Ertrages einen realen Kaufkraftverlust des Steuerpflichtigen zur Folge hat11, weshalb er auf andere Anlageformen auszuweichen versuchen wird. Hierdurch wird zwar nicht final und unmittelbar auf die jeweilige Eigentumsposition zugegriffen, der durch eine erhebliche Besteuerung des erzielten Ertrages ausgeübte wirtschaftliche Druck auf den Steuerpflichtigen beeinflußt jedoch als typische und voraussehbare Folge von einigem Gewicht mittelbar und faktisch seine Stellung als Eigentümer. Auf der Grundlage des modernen Eingriffsbegriffs 12 begründet diese Einschränkung der Eigentümerfreiheit eine Regelungspflicht des formellen Gesetzgebers. Auch der gelegentlich angeordnete Steuerabzug an der Einkunftsquelle 13 greift auf eine konkrete Forderung zu, das heißt auf eine von Artikel 14 GG geschützte Eigentümerposition. Dieser Zugriff kann als bloße abweichende Erhebungsform gerechtfertigt werden, durch die dem Steuerpflichtigen vorgegeben wird, aus welchem Vermögensbestandteil die ohnehin bestehende, in der Höhe unveränderte Einkommensteuerpflicht zu erfüllen ist. 14 Weiterhin wirkt sich die Einkommensteuerpflicht auf die berufliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen aus. Vor allem bei Einkünften aus selbständiger (§ 2 Absatz 1 Nr. 3 EStG) und aus nichtselbständiger Arbeit (§ 2 Absatz 1 Nr. 4 EStG) erfaßt die Besteuerung des Einkommens das Äauivalent der Berufsausübung und kann bei objektiv berufsregelnder Tendenz 5 die Berufsausübungsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG) des Steuerpflichtigen betreffen. 16 Ab

11

Dennoch hat BVerfGE 50, 57 (76 ff.) das Nominalwertprinzip aus Praktikabilitätserwägungen und mit Rücksicht auf gewichtige volkswirtschaftliche Belange für verfassungskonform befunden. 12 Vgl. oben § 2 IV.l.)a). 13 § 38 EStG (Lohnsteuer), § 43 EStG (Kapitalertragsteuer) und § 50a EStG (Besteuerung beschränkt Steuerpflichtiger). 14 Dies gilt für §§ 38 und 43 EStG. Beim Quellenabzug nach § 50a EStG ändert sich die materielle Steuerlast infolge der Abgeltungswirkung des § 50 Absatz 5 Satz 1 EStG. 15 Vgl. § 2 IV. l.)b); Steuern und sonstige Abgaben können eine solche objektiv berufsregelnde Tendenz sowohl bezogen auf die Berufstätigkeit des Abgabenschuldners (BVerfGE 13, 181 (185 f.) (Schankerlaubnissteuer); E 16, 147 (162 ff.) (Werkfemverkehr); E 29, 327 (333 f.) (Schankerlaubnissteuer); E 98, 83 (97) (Abfallabgaben); E 98, 106 (117) (kommunale Verpackungsteuer)) als auch gegenüber Dritten als Folge einer Begünstigung des Steuerpflichtigen haben (vgl. BVerfGE 18,1 (12 f.) (Umsatzsteuer)). 16 Femer kann die Freiheit des Eigentumsgebrauchs berührt sein, soweit der Steuerpflichtige konkrete Eigentumspositionen zur Einkommenserzielung einsetzt. Die sonstigen Einkünfte nach § 2 Absatz 1 Nr. 7 EStG betreffen sowohl die Berufsausübung als auch den Eigentumsgebrauch.

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einer „erdrosselnden" Wirkung kann sogar ein faktischer Eingriff in die Freiheit der Berufswahl (Artikel 12 Absatz 1 Satz 1 GG) vorliegen. 17

c) Zur Rechtfertigung der Einkommensteuerpflicht Die Einkommensteuer 18, deren Zulässigkeit Artikel 106 Absatz 3 GG voraussetzt, läßt den Staat am Erfolg privaten Wirtschaftens teilhaben 19 , was als Ausdruck der Sozialpflichtigkeit des der Besteuerung unterliegenden Vermögens 20 gesehen wird. Das heutige 21 Recht unterwirft alle am sogenannten einkommensteuerrechtlichen „Markt" 2 2 erzielten Erträge 23 der Besteuerung, wobei der Begriff des „Marktes" von der einkommensteuerrechtlich nicht erfaßten Privatsphäre abzugrenzen ist. Dies rechtfertigt sich dadurch, daß jener „Markt" typischerweise gerade durch den Staat und die Allgemeinheit gewährleistet wird, weshalb Staat und Allgemeinheit auch an den hier erwirtschafteten Erträgen partizipieren sollen. Der Staat stellt seinen Bürgern die für ihre Erwerbstätigkeit nötige Infrastruktur sowie die für jeden Austausch von Gütern und Dienstleistungen unentbehrliche Rechtsordnung zur Verfügung. 17 Nach BVerfGE 13, 181 (186 f.) (Schankerlaubnissteuer) wirkt sich eine Steuerpflicht über eine bloße Berufsausübungsregelung hinaus auf die freie Berufswahl aus, „wenn eine Steuer ihrer objektiven Gestaltung und Höhe nach es den von ihr betroffenen Berufsbewerbern in aller Regel wirtschaftlich unmöglich macht, den gewählten Beruf zur Grundlage ihrer Lebensführung zu machen." 18 Zur Rechtfertigung der Steuerauflage in verschiedenen geschichtlichen Epochen Vogel, Der Staat (25) 1986, S. 481 (485 ff.). 19 BVerfGE 93, 121 (134). 20 Vgl. Kirchhof, Paul, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band IV, § 88, RN 92 ff. 21 Zur Geschichte der Einkommensteuer Kirchhof, Paul, in: Kirchhof l Söhn, EStG, Band 1, § 2, RN A 240 ff.; die Teilhabe des Staates am Erfolg privaten Wirtschaftens war nicht zu allen Zeiten Grundgedanke der direkten Steuern. Als Beispiel sei die von Kirchhof, RN A 246, geschilderte Konzeption Samuel Pufendorfs (De jure naturae et gentium, 1672) genannt, der die Steuer als Entgelt für staatlichen Schutz ansah, deshalb die Person sowie das geschützte Vermögen als Anknüpfungspunkt der Besteuerung wählte und folgerichtig nach dem Maßstab der jeweils gewährten Sicherheit zu einer für alle Bürger gleichen Kopfsteuer und einer von der Höhe des geschützten Vermögens abhängigen Vermögensteuer kam. Die erste echte Einkommensteuer wurde 1799 in Großbritannien auf Vorschlag des damaligen Premierministers William Pitt eingeführt (vgl. Kirchhof, RN A 381 f.). Die deutsche Entwicklung wurde durch die preußische Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer von 1851 (Kirchhof, RN A 392 ff), das preußische EStG 1891 (Kirchhof, RN A 396 ff.) sowie die Reichseinkommensteuergesetze von 1920 und 1925 (Kirchhof, RN A 420 ff., A 431 ff.) geprägt. 22 Grundlegend zur „Markteinkommenstheorie" Ruppe, DStJG 2 (1978), S. 7 (15 ff.); weiterführend Kirchhof, Paul, Gutachten F für den 57. Deutschen Juristentag, S. 16 ff. 23 Zum Begriff des Einkommens Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 2, S. 562 ff.

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Daneben ist es erst die Allgemeinheit der Nachfrager, die ein Entgelt fur die angebotene Leistung zahlt und dem Steuerpflichtigen so erlaubt, Einnahmen zu erzielen. Die Einkommensteuer realisiert den Anteil des Staates24 an diesem individuellen, jedoch erst durch die Gemeinschaft ermöglichten Erwerb. 25 Soweit hingegen ein Vermögenszuwachs innerhalb der Privatsphäre, das heißt außerhalb des „Marktes", erzielt wird, verzichtet der Staat auf eine Besteuerung. Diesen noch sehr allgemeinen, auf typisierenden Erwägungen beruhenden Leitgedanken des Einkommensteuerrechts umzusetzen, obliegt dem Gesetzgeber, wozu ihm ein weiter Gestaltungsspielraum einzuräumen ist. Dies rechtfertigt keine schrankenlose Auferlegung von Steuerlasten. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts muß dem Grundrechtsträger „ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich in Gestalt der grundsätzlichen Privatnützlichkeit des Erworbenen" verbleiben, weshalb das notwendige Existenzminimum freizustellen sei.26 Des weiteren ergebe sich aus der grundsätzlichen Privatnützigkeit des erzielten Ertrages ein Abzuesgebot für alle dem Erwerb dienenden Aufwendungen des Steuerpflichtigen. 7 Es gilt das einkommensteuerrechtliche Leistungsfahigkeitsprinzip. 28 Bemessungsgrundlage des derzeitigen Einkommensteuerrechts2 ist demgemäß dem Grundsatz nach die Summe der Einnahmen30 abzüglich aller erwerbssichernden (objektives Nettoprinzip) und existenzsichernden Aufwendungen (subjektives Nettoprinzip).31 Ferner folgert das Bundesverfassungsgericht aus Artikel 14 Absatz 2 GG (,»zugleich"), daß die Gesamtbelastung der Steuern auf 24

Einen Anteil des Staates am wirtschaftlichen Erfolg des einzelnen forderte bereits von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, Erster Band, der zunächst sowohl romantischen Vorstellungen der Steuer als Opfer an einen organisch verstandenen Staat als auch aufklärerischem Denken, das Verhältnis von Steuer und Staatshandeln sei ein solches von Leistung und Gegenleistung, widerspricht (S. 401), dann aber feststellt, die Gemeinschaft habe „Antheil an jenem individuellen wirtschaftlichen Leben" und sei „daher auch rein wirtschaftlich berechtigt, diesen Antheil von dem Einzelnen zurückzufordern" (S. 431 f.). Nach Vogel, Der Staat 25 (1986), S. 481 (503 f.), entspricht dies dem Menschenbild des Grundgesetzes, das zwar freiheitlich, aber doch „nicht das eines isolierten souveränen Individuums" (BVerfGE 4, 7 (15)) ist, sondern den einzelnen als Glied einer Gemeinschaft sieht, auf die er so angewiesen ist wie sie auf ihn. 25 Kirchhof, Paul, Gutachten, S. 17. 26 BVerfGE 87, 153 (169) (Existenzminimum). 27 Kirchhof Paul, Gutachten, S. 20. 28 Hierzu Kirchhof Paul, StuW 1985, S. 319 ff. 29 § 2 Absatz 5 Satz 1 EStG; vgl. zur Systematik des steuerbaren Einkommens im Sinne des EStG Kirchhof Paul, in: Kirchhof I Söhn, Band 1, § 2, RN A 16 ff. 30 Das objektive Nettoprinzip fordert auch, positive und negative Erträge mehrerer Erwerbsquellen zu saldieren (Verlustausgleich), da nur der Reinertrag die Leistungsfähigkeit erhöht. 31 Objektives und subjektives Nettoprinzip werden zudem gleichheitsrechtlich begründet.

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den Ertrag „bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand" verbleiben muß.32 Schließlich muß jede Besteuerung die Erwerbsgrundlage unangetastet lassen, Artikel 14 Absatz 3 GG begrenzt insoweit den Steuerzugriff, da eine Enteignung nur gegen Entschädigung zulässig ist.33 Soweit die Steuerauflage die Berufsausübungsfreiheit regelt, ist sie gerechtfertigt, sofern „vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen".34 Die Berufsausübung ist mithin nach Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG für eine durch Gesetz begründete Sozialpflichtigkeit zugänglich35, deren Maß grundsätzlich jenem bei mittelbaren Einwirkungen auf die Eigentümerfreiheit entsprechen sollte. Der Einsatz von Zeit und persönlicher Arbeitskraft hat mindestens die gleiche Bedeutung für die Persönlichkeitsverwirklichung wie der Einsatz von Kapital.36 Außerdem muß die Obergrenze aus Artikel 14 Absatz 2 GG hier erst recht gelten, hat doch Artikel 14 GG die Sozialpflichtigkeit anders als Artikel 12 GG in den Text des Grundgesetzes aufgenommen. Auch sind die Einkommenserzielung durch Eigentumsgebrauch und Berufsausübung regelmäßig untrennbar miteinander verbunden, weshalb eine typisierende Gleichbehandlung zulässig und wohl auch erforderlich ist. Eine Steuer, die „erdrosselnd" wirkt und dadurch faktisch in die Freiheit der Berufswahl eingreift, wäre nur zu rechtfertigen, „soweit der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert". 37 Solche Steuergesetze werden daher stets unzulässig sein.38

d) Folgerungen für die Regelungsdichte im Einkommensteuerrecht Das Parlamentsgesetz muß zunächst anordnen, wer Steuerschuldner ist, das heißt wessen Grundrechte durch die Steuerauflage eingeschränkt werden.39 32

BVerfGE 93,121 (138) (Einheitswerte). Kirchhof, Paul, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band IV, § 88, RN 93 f. 34 BVerfGE 7, 377 (405) (Apotheken). 35 Kirchhof ; Paul, Gutachten, S. 20. 36 Auch bei Artikel 14 GG beeinflußt die Funktion des Eigentums als Element der Sicherung eigener Freiheit oder als Produktionsmittel, das Macht über Dritte verleiht, das Maß der Sozialpflichtigkeit; vgl. BVerfGE 50, 290 (339 ff.) (Mitbestimmung). 37 BVerfGE 7, 377 (405). 38 Kirchhof, Paul, Gutachten, S. 20, sieht hier eine „kategorische Belastungsgrenze". 39 Der Steuerschuldner läßt sich zumeist mühelos ermitteln. Einen Grenzfall klärt § 39 Absatz 2 AO, der Wirtschaftsgüter und damit etwaige Einkünfte dem wirtschaftlichen Eigentümer zuordnet. 33

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Des weiteren hat das Gesetz den Steuergegenstand zu benennen. Es muß vorgeben, welcher Gebrauch des Eigentums oder der Berufsausübungsfreiheit die Steuerpflicht auslöst. Die steuerbare Tätigkeit muß sich unmittelbar aus dem Parlamentsgesetz ergeben. Da die Steuerpflicht nicht bereits aus der „Natur der Sache" folgt, sondern aus der Entscheidung des Gesetzgebers, die eine Tätigkeit zu besteuern und die andere nicht40, ist die Grundsatzentscheidung des geltenden Rechts für die Besteuerung des Markteinkommens näher auszugestalten. Der Gesetzgeber muß konkretisieren, welche Erwerbsvorgänge dem „Markt" und welche der nicht steuerbaren Privatsphäre zugerechnet werden. Auch die Intensität des Steuerzugriffs ist vorhersehbar imförmlichen Gesetz festzulegen. Die Gesamtbelastung des Steuerpflichtigen wird von zwei Faktoren beeinflußt, der steuerlichen Bemessungsgrundlage und dem Steuersatz. Die Bemessungsgrundlage, das heißt im Einkommensteuerrecht das zu versteuernde Einkommen im Sinne von § 2 Absatz 5 Satz 1 EStG, muß im Gesetz so gestaltet werden, daß die Steuerlast vom Bürger wenigstens dem Grundsatz nach vorausberechnet werden kann. Da die Einkommensteuer an das gesamte Wirtschaftsleben anknüpft, dessen unzählige Erscheinungsformen keinesfalls in allen Einzelheiten bedacht werden können, beschränkt sich die gesetzgeberische Verantwortung allerdings auf die maßgeblichen Grundentscheidungen. Jedenfalls muß die Obergrenze der dem Steuerpflichtigen drohenden Belastung deutlich sein, damit dieser sein Verhalten auf die bevorstehende Steuerforderung einstellen und gegebenenfalls Rücklagen zur Begleichung derselben bilden kann. Der Steuersatz muß stets im Parlamentsgesetz geregelt sein, da er einerseits von größter Bedeutung für das Maß der Besteuerung ist, es aber andererseits keine gesetzestechnischen Schwierigkeiten bereitet, ihn generalisierend festzulegen. Eine Ausnahme mag geboten sein, wenn besondere Gründe eine flexible Entscheidung außergewöhnlicher Fälle erforderlich machen. Dies kann dort in Betracht kommen, wo das Allgemeinwohl eine rasche Reaktion auf bestimmte volkswirtschaftliche Entwicklungen verlangt.41 Aber auch insoweit hat das Gesetz vorzugeben, in welchen Situationen nach welchen Maßstäben entschieden wird.

40

Zum Beispiel ließe sich ohne die gesetzliche Regelung des § 3 EStG (Steuerbefreiungen) nicht immer zweifelsfrei erkennen, ob der Sold Wehrpflichtiger (Nr. 5), Entschädigungen an ehemalige Kriegsgefangene (Nr. 19), Zuwendungen des Bundespräsidenten an verdiente Personen (Nr. 20), Zuwendungen auf Grund des Fulbright-Abkommens (Nr. 42), der Ehrensold für Künstler (Nr 43) oder Stipendien zur Forschungsforderung (Nr. 44) steuerpflichtig sind, da die jeweiligen Zahlungen auch in Zusammenhang mit einer Tätigkeit des Empfängers stehen können. 41 Vgl. § 51 Absatz 3 EStG; Näheres unten § 5 III. 5.).

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Das Einkommensteuergesetz muß somit Steuerschuldner, Steuergegenstand, Bemessungsgrundlage und Steuersatz bestimmen. Ausnahmen hiervon dürfen der rechtsanwendenden Exekutive nur zugestanden werden, falls besondere Umstände wie das Gebot materieller Einzelfallgerechtigkeit oder der Gedanke der Entlastung des Parlaments dies rechtfertigen, die jeweiligen Auswirkungen nur geringfügig sind oder der Grundrechtsträger ausschließlich42 begünstigt wird. Dennoch gebieten die Freiheitsrechte nicht, alle Einzelheiten im formellen Gesetz zu regeln. Ihnen ist Genüge getan, wenn die „wesentlichen" Punkte, aus denen sich die Steuerlast in ihrem ungefähren Ausmaß vorhersehen läßt, dem Parlamentsgesetz entnommen werden können, so daß der Steuerpflichtige sein Verhalten auf die ihm bevorstehende Zahlungspflicht einstellen kann. Die Steuerschuld muß sich nicht für jeden steuerrechtlich ungebildeten Bürger bis auf Pfennigbeträge genau vorausberechnen lassen können, ein solches Postulat würde die Grenzen des gesetzgeberisch Möglichen verkennen.43 Im übrigen könnte ein größeres Maß an gesetzlicher Regelungsdichte den Freiheitsschutz gerade im Steuerrecht nur begrenzt stärken, ist doch das Parlament anders als zu Zeiten des ständischen Steuerbewilligungsrechts nicht mehr Gegenspieler des auf eine verstärkte Besteuerung drängenden Souveräns, sondern Zentralorgan des modernen Leistungsstaates, der immer größere Aufgaben übernimmt und zur Finanzierung auf die Steuerkraft seiner Bürger zurückgreift. Eine geringere gesetzliche Regelungsdichte ist nicht zu beanstanden, soweit der materielle Steueranspruch unberührt bleibt. Insbesondere besteht kein genereller Gesetzesvorbehalt für Regelungen des Verfahrensrechts 44, sofern diese nicht ihrerseits grundrechtserheblich sind.

e) Weitere berührte Freiheitsrechte Einzelheiten des Einkommensteuerrechts können zusätzlich weitere Freiheitsrechte berühren und so den Parlamentsvorbehalt auslösen oder zumindest ein größeres Maß an gesetzlicher Bestimmtheit einfordern.

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Auf das Sonderproblem der Steuervergünstigungen wird noch einzugehen sein. Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 174, merkt hierzu an, die Aufgabe, Steuergesetze für Steuerlaien zu formulieren, sei „weithin unlösbar". 44 Vgl. oben § 2 IV. 2.)b) und § 2 IV. 3.). 43

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Artikel 2 Absatz 2 GG verstärkt in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die vom Bundesverfassungsgericht dem Leistungsfähigkeitsprinzip entnommene Forderung nach einer Freistellung des Existenzminimums.45 Artikel 6 GG verbietet als wertentscheidende Grundsatznorm, Ehe und Familie zu benachteiligen. Dem hat der Steuergesetzgeber Rechnung zu tragen. Jede Schlechterstellung von Ehegatten allein auf Grund des Ehestandes ist unzulässig.46 Das existenzsichernde (subjektive) Nettoprinzip wird durch Artikel 6 GG dahingehend modifiziert, daß das Existenzminimum der Familie des Steuerpflichtigen und nicht nur seiner selbst steuerlich verschont bleiben muß.47 Zwangsläufige Unterhaltsleistungen sind realitätsgerecht zu erfassen und von der Bemessungsgrundlage abzuziehen.48 Das Steuerverwaltungsverfahren greift durch die Sammlung und Speicherung persönlicher Daten in das aus Artikel 2 Absatz 1 GG abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung49 ein.50 Dieser Eingriff wird durch das Allgemeininteresse an einer nach Maßstäben verhältnismäßiger Gleichheit bemessenen Besteuerung gerechtfertigt 51, da ohne ihn nur die ehrlichen Bürger belastet würden. Verfasungsrechtliche Grenze des steuerlichen Informationseingriffs ist in erster Linie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Ermittlungen ohne begründeten Anlaß verbietet.52 Im übrigen droht dem Steuerpflichtigen eine Zwangsvollstreckung nach §§ 249 ff. AO in sein gesamtes Vermögen, falls er die durch einen Steuerbescheid festgesetzte Steuerschuld nicht rechtzeitig begleicht. Hierdurch können einzelne Grundrechte wie das Eigentum an gepfändeten Gegenständen oder Artikel 13 GG bei einer Pfändung in der Wohnung des Steuerschuldners betroffen werden.

45

BVerfGE 87, 153 (169) (Existenzminimum). Grundlegend BVerfGE 6, 55 (76 f.) (Haushaltsbesteuerung); femer BVerfGE 75, 361 (366). 47 BVerfGE 87, 153 (169) (Existenzminimum); ähnlich bereits BVerfGE 43, 108 (120 ff.) (Kinderfreibeträge); jetzt BVerfGE NJW 1999, S. 561 ff. 48 BVerfGE 61, 319 (344 ff., 355) (Alleinerziehende) fordert, daß Aufwendungen für die Kinderbetreuung, wenn sie nicht durch Sozialleistungen getragen werden, „in der tatsächlich entstandenen Höhe als Minderung des Einkommens zu berücksichtigen" sind. Ebenso BVerfGE 66, 214 (222 f.); E 67, 290 (297); zuletzt BVerfGE NJW 1999, S. 557 ff. 49 Vgl. zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 65, 1 (41 ff.) (Volkszählung) sowie speziell zum Steuerrecht BVerfGE 67, 100 (142 ff.) (Flick). 50 Hierzu Puhl DStR 1991, S. 1173 ff. 51 BVerfGE 67, 100(143). 52 Puhl, DStR 1991, S. 1173 f.: Ermittlungen „ins Blaue hinein" sind unzulässig. 46

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f) Andere verfassungsrechtliche Instrumente zum Schutz der Freiheit Der Parlamentsvorbehalt ist kein eigener Zweck, sondern bloßes Mittel zur Verwirklichung anderer Zwecke der Verfassung, insbesondere zum Schutz der Individualsphäre. Neben ihm kennt das Grundgesetz weitere formelle und materielle Instrumente zum Schutze der Freiheit, die eine Frage gegebenenfalls als grundrechtswesentlich erscheinen lassen können und sie gerade dadurch dem Gesetzgeber überantworten. Wichtigstes Schutzinstrument materieller Art ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das wegen Artikel 1 Absatz 3 GG und Artikel 20 Absatz 3 GG sowohl den Gesetzgeber bei der notwendigerweise generalisierenden Rechtsetzung als auch die Behörde bei der Anwendung des Gesetzes im Einzelfall bindet. Der Gesetzgeber muß zur Wahrung der Privatnützlichkeit des Erworbenen die von der Rechtsprechung aus Artikel 14 Absatz 2 Satz 2 GG gefolgerte Belastungsobergrenze fur Steuern auf den Ertrag einhalten.53 Dieser Schutz darf sich nicht erst durch von der Verwaltung gewährte Vergünstigungen ergeben. Auch darf eine Besteuerung keinesfalls konfiskatorischen oder erdrosselnden Charakter annehmen. Zudem muß der Gesetzgeber Vorkehrungen treffen, damit die Finanzverwaltung diese Grenzen des Steuerzugriffs bei der Einzelfallentscheidung wahren kann, ihr also durch Öffnungsklauseln die rechtliche Handhabe hierzu verschaffen. Nach derzeitiger Rechtslage stehen zu diesem Zweck im Festsetzungsverfahren die abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO und im Erhebungsverfahren der Erlaß einer festgesetzten Steuer bei Unbilligkeit nach § 227 AO zur Verfügung. Eine andere Frage ist es, ob und inwieweit das Gesetz abgesehen von solchen Billigkeitsklauseln bewußt „offen" gestaltet werden darf, gerade weil die Rechtsanwendung das Gesetz unter Einsatz des Verhältnismäßigkeitsprinzips konkretisieren kann. Gefragt wird also nicht, was Inhalt des Steuergesetzes sein darf, sondern wie dieser zu erkennen ist. Dies hängt davon ab, inwiefern die zu regelnden Fälle den Behörden Sachstrukturen vorgeben, die das konkrete Ergebnis unter Beachtung des Übermaßgedankens bereits derart erkennbar vorzeichnen, daß auf eine detailliertere Verdeutlichung der Rechtslage im Gesetz verzichtet werden kann, ohne daß die vom Gesetzesvorbehalt zu wahrenden Schutzgüter in Mitleidenschaft gezogen werden. Dieser auf die Eigenarten der Rechtsanwendung zielende Gedanke wird noch aufzugreifen sein. Der Freiheitsbereich wird ferner durch die Anforderungen der einzelnen Grundrechte, insbesondere der qualifizierten Gesetzesvorbehalte, geschützt.

53

BVerfGE 93, 121 (138) (Einheitswerte).

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Des weiteren gilt auch im Steuerrecht das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot. 54 Formellen Schutz bieten verfassungsrechtliche Verfahrensrechte. Artikel 19 Absatz 4 GG garantiert die gerichtliche Kontrolle. Artikel 103 Absatz 1 GG gibt hierbei einen Anspruch auf rechtliches Gehör, Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG das Recht auf den gesetzlichen Richter. Auch im Verwaltungsverfahren ist nach allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen rechtliches Gehör zu gewähren, was § 28 VwVfG sowie speziell im Steuerrecht § 91 AO beherzigen.

2. Der Gleichheitssatz im Einkommensteuerrecht Dem Gleichheitssatz lassen sich unabhängig vom Einkommensteuerrecht infolge der Unterscheidung von Form und Inhalt staatlichen Handelns keine allgemeinen Aussagen entnehmen, was dem Gesetzesvorbehalt unterfällt. 55 Artikel 3 GG greift erst ein, wenn ein Gesetz ergeht, das dann inhaltlich gleichheitskonform und folgerichtig sein und eine gleichmäßige Rechtsanwendung gestatten muß. Die folgenden Erwägungen knüpfen in erster Linie an die inhaltliche Bindung des Gesetzgebers an, sie dienen aber zugleich als Grundlegung für zu ziehende Schlußfolgerungen auf die Art und Weise der gesetzlichen Ausgestaltung. Dem Gesetzgeber ist im Steuerrecht56 zwar ein weiter Gestaltungsspielraum zur Auswahl des Steuergegenstandes zuzugestehen57, er hat aber eine einmal 54

Steuerrechtliche Beispiele der nur ausnahmsweise zulässigen Rückbewirkung von Rechtsfolgen finden sich in BVerfGE 13, 206 (211 ff.); E 13, 261 (270 ff.), E 19, 187 (195 ff). Die in den Grenzen des Vertrauensschutzes grundsätzlich zulässige tatbestandliche Rückanknüpfung behandeln BVerfGE 13, 274 (277 f.); E 13, 279 (282 ff.); E 18, 135 (143 ff.) (zu § 7b EStG). Vgl. die grundsätzliche Abgrenzung beider Formen der vergangenheitsbezogenen Gesetzesänderung in BVerfGE 72, 200 (240 ff.) (zum Außensteuergesetz). Für die Einkommensteuer als mit Ablauf des Veranlagungszeitraumes entstehende (§ 36 Absatz 1 EStG) Jahressteuer (§ 2 Absatz 7 EStG) bedeutet dies, daß Gesetze grundsätzlich nur mit Wirkung für das jeweils laufende Kalenderjahr, nicht aber für vergangene Jahre geändert werden dürfen. 55 Siehe oben § 2 III. 3.)d). 56 Zum Gleichheitssatz im Steuerrecht Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 311 ff. 57 BVerfGE 13, 181 (202 f.); E 49, 343 (360); E 65, 325 (354): „Bei der Erschließung von Steuerquellen hat der Gesetzgeber eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Entschließt sich der Gesetzgeber, eine bestimmte Steuerquelle zu erschließen, andere Steuerquellen dagegen nicht auszuschöpfen, so ist der allgemeine Gleichheitssatz nicht verletzt, wenn finanzpolitische, volkswirtschaftliche, sozialpolitische oder steuertechnische Erwägungen die verschiedene Behandlung motivieren." BVerfGE 84, 239 (271) (Zinsbesteuerung) spricht insoweit vom Steuergegenstand.

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getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Lastengleichheit umzusetzen.58 Die notwendige Bildung von Vergleichsgruppen muß von sachgerechten Erwägungen getragen und willkürfrei sein, wozu dem Gesetzgeber ebenfalls ein Gestaltungsspielraum zur Verfugung steht. 59 Diese Anforderungen sind an das Einkommensteuergesetz selbst, an dieses als Teil des gesamten Steuerrechts sowie im Vergleich zur übrigen Rechtsordnung zu stellen. 60 Der Gesetzgeber ist im Einkommensteuerrecht an den aus Artikel 3 GG 6 1 abgeleiteten Grundsatz der Steuergerechtigkeit 62 gebunden. Er hat bei der Gestaltung des Einkommensteuergesetzes nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Steuerpflichtigen, das heißt nach der Verschiedenheit individueller Belastbarkeit, zu differenzieren, weshalb auch aus gleichheitsrechtlicher Sicht ein Abzug erwerbs- und existenzsichernder Aufwendungen gefordert wird. 6 3 Das Bundesverfassungsgericht 64 folgert hieraus den Grund58

BVerfGE 23, 242 (256) (Vermögensteuer); E 84, 239 (271) (Zinsbesteuerung); E 93,121 (136) (Einheitswerte); E 93,165 (172) (Erbschaftsteuer). 59 In diesem Sinne BVerfGE 21, 12 (26 f.); E 26, 1 (8); E 46, 224 (239 ff.); 50, 386 (392); 74, 182 (200). 60 Siehe Kirchhof Paul, StuW 1984, S. 297 ff. 61 Das Grundgesetz kennt keinen speziellen steuerrechtlichen Gleichheitssatz, es verbleibt bei Artikel 3 GG. Anders noch Artikel 134 WRV, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 151 ff. (170): „Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei." Dem Einkommensteuerrecht wird jedoch auch heute die Grundsatzentscheidung fur das Leistungsfähigkeitsprinzip und damit fur die Verschiedenheit wirtschaftlicher Belastbarkeit als Anknüpfungspunkt gleichheitsrechtlicher Betrachtung entnommen; vgl. Kirchhof Paul, StuW 1984, S. 297 (303). 62 Der den Gesetzgeber bindende Grundsatz der Steuergerechtigkeit sollte im Zusammenhang der Allgemeinheit des Gesetzes imfo/zrischen Sinne (oben § 2 I. 1.)) gesehen werden. Zu bedenken bleibt die bereits zuvor (§ 2 II. l.)b), Fußnote 148) erwähnte Schwierigkeit, in unserer wechselhaften Zeit allgemeingültige Gerechtigkeitsideen festzumachen. Angesichts dieser Erkenntnisproblematik sollte im demokratischen Staat dem Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative zur Beurteilung des „Gerechten" zugestanden werden. 63 Zum Grundsatz der Steuergerechtigkeit als Gleichheitsgebot Tipke / Lang, S. 80 ff. mit Nachweisen; zum Leistungsfähigkeitsprinzip als gleichheitsrechtlichem Postulat sowie dem daraus gefolgerten Abzugsgebot für erwerbs- und existenzsichernden Aufwand (objektives und subjektives Nettoprinzip) Jakob, Einkommensteuer, S. 4 ff. (6 ff.); siehe auch Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, mit ideengeschichtlicher Einordnung (S. 6 ff.); derselbe, StuW 1983, S. 293 ff.; Vogel, StuW 1984, S. 197 ff. mit Nachweisen. Auch das Bundesverfassungsgericht begründet das Leistungsfähigkeitprinzip nicht nur freiheitsrechtlich, sondern auch gleichheitsrechtlich; vgl. BVerfGE 8, 51 (68 f.) (Parteispenden); E 43, 108 (120) (Kinderfreibeträge); E 61, 319 (343 f., 355) (Besteuerung Alleinerziehender); E 66, 214 (222 f.) (Unterhaltsaufwendungen); E 67, 290 (297) (Unterhaltsaufwendungen). 64 BVerfGE 82, 60 (89 f.) (Kindergeld); E 87, 153 (170) (Existenzminimum).

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

satz der horizontalen und der vertikalen Steuergerechtigkeit. Erstere erfordert, Steuerpflichtige mit gleicher Leistungsfähigkeit gleichermaßen zu belasten. Letztere verlangt, daß die Besteuerung höherer Einkommen verglichen mit der Steuerbelastung niedrigerer Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügt, woraus sich der progressive Einkommensteuertarif rechtfertigen läßt. Der Gleichheitssatz fordert des weiteren nicht nur eine gleiche rechtliche, sondern auch tatsächliche65 Belastung der Steuerpflichtigen nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit. Dies verlangt, den wirtschaftlichen Belastungsgrund im Gesetz deutlich zu benennen, um das in steuerrechtlich erheblicher Hinsicht Vergleichbare erkennbar zu machen.66 Der gesetzliche Tatbestand ist zugleich hinreichend „offen", das heißt nicht starr und übertrieben begrifflich, sondern am Belastungsgrund ausgerichtet zu formulieren, um alle vergleichbaren Fälle zu erfassen. Zu diesem Zwecke dürfen in gewissem Umfang unbestimmte Rechtsbegriffe verwandt werden, die erlauben, das Gesetz flexibel zu handhaben. Nur so kann das Steuerrecht den unzähligen Besonderheiten des Wirtschaftslebens Rechnung tragen und gleichzeitig Gestaltungen verhindern, die den gesetzgeberischen Willen umgehen, indem sie wirtschaftlich vergleichbare Gegebenheiten rechtlich verschieden erscheinen lassen. Insbesondere kann die bloße Wahl einer anderen (zivilrechtlichen) Gestaltungsform für einen Sachverhalt mit gleicher wirtschaftlicher Bedeutung keine steuerliche Ungleichbehandlung rechtfertigen, darf also nicht zu einer Tatbestandsvermeidung führen. Der Gesetzgeber steht einer Vielzahl zu regelnder Fälle gegenüber, die er niemals alle in ihrer Besonderheit erfassen kann. Deshalb sowie zur Vereinfachung des Gesetzesvollzugs können gewisse Abweichungen vom an sich gebotenen Individualmaßstab in Gestalt gesetzlicher Typisierungen und Pauschalierungen gleichheitsrechtlich gerechtfertigt werden , wobei das Ausmaß der Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den für sie sprechenden Vorteilen stehen muß.68 Ohne eine solche verallgemeinernde Betrachtung drohte die Gefahr einer übermäßigen Kompliziertheit der Rechtslage, die tatsächliche 65

BVerfGE 84, 239 (268) (Zinsbesteuerung); ebenso BVerfGE 93, 121 (134) (Einheitswerte). 66 Kirchhof Paul, in: Isensee / Kirchhof HStR, Band IV, § 88, RN 130. 67 Kirchhof Paul, StuW 1984, S. 297 (306 f.); vgl. BVerfGE 31, 119 (130 f.): „Der Steuergesetzgeber wird durch das Gleichheitsgebot nicht gehindert, an Stelle eines individuellen Wirklichkeitsmaßstabes für die Besteuerung aus Gründen der Praktikabilität pauschale Maßstäbe zu wählen und sich mit einer „Typengerechtigkeit" zu begnügen, es sei denn, daß die steuerlichen Vorteile der Typisierung nicht mehr im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen." 68 Vgl. die „neue Formel" des Bundesverfassungsgerichts, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip in den Gleichheitssatz integriert; siehe nur BVerfGE 55, 72 (88); E 60, 123 (133 f.); E 65, 104 (112 f.); E 68, 287 (301); E 70, 278 (287 f.).

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Ungleichheiten ie nach der rechtlichen Geschicklichkeit der Steuerpflichtigen entstehen ließe. 9 Weiterhin ist der Gesetzgeber aus Gründen der Gleichbehandlung verpflichtet, die Durchsetzung des Steueranspruchs verfahrensrechtlich abzusichern, das Steuerrecht ist insoweit geprägt vom Legalitätsprinzip.70 Einzelne Steuerpflichtige können verschiedenen Steuern unterworfen sein. Zum Beispiel unterliegt der Gewerbetreibende der Einkommen- und Gewerbesteuer, der Selbständige hingegen nur der Einkommensteuer. Beide werden hierdurch unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit unterschiedlich zur Finanzierung der Staatsaufgaben herangezogen. Maßstab der steuerrechtlichen Gleichheitsprüfung kann daher nicht nur die jeweilige Einzelsteuer sein, es ist vielmehr die entstehende Gesamtbelastung in den Blick zu nehmen.71 Aus diesem Grunde ist der Gesetzgeber verpflichtet, ein System von Steuerkonkurrenzen 72 zu schaffen, sofern sich eine Ungleichbehandlung nicht aus anderen Gründen rechtfertigt. Eine Einkommensteuernorm muß aber nicht nur einem Vergleich innerhalb ihres Rechtsgebietes sowie zum Steuerrecht im übrigen standhalten, sondern sich auch in die gesamte Rechtsordnung einfügen. Beispielsweise wäre es unzulässig, dem nicht erwerbstätigen Bürger einen bestimmten Betrag an Sozialhilfe zuzugestehen, einem Berufstätigen hingegen bei einem Einkommen in gleicher Höhe eine Einkommensteuerlast aufzubürden. 73 Hier zwingt der 69

BVerfGE 96, 1 (6 f.) (Arbeitnehmerfreibetrag): „Der Gleichheitssatz fordert nicht eine immer mehr individualisierende und spezialisierende Gesetzgebung, die letztlich die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs gefährdet, sondern die Regelung eines allgemein verständlichen und möglichst unausweichlichen Belastungsgrundes. Deshalb darf der Gesetzgeber ... einen steuererheblichen Vorgang um der materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen." 70 Nach BVerfGE 84, 239 (268, 271 f.) (Zinsbesteuerung) kann ein materielles Steuergesetz gleichheitswidrig werden, falls die Gleichheit des Belastungserfolgs verfahrensrechtlich nicht ausreichend abgesichert ist, wozu auch entsprechende Kontrollmöglichkeiten notwendig sind. 71 BVerfGE 93, 121 (135) (Einheitswerte): „Die Gesamtbelastung durch eine Besteuerung des Vermögenserwerbs, des Vermögensbestandes und der Vermögensverwendung ist vom Gesetzgeber so aufeinander abzustimmen, daß das Belastungsgleichmaß ... gewahrt wird." 72 § 32c EStG löst zum Beispiel die obige Konkurrenzsituation durch eine Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte, die zugleich der Gewerbesteuer unterliegen. 73 BVerfGE 87, 153 (170 f.) (Existenzminimum): „Soweit der Gesetzgeber im Sozialhilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, den der Staat bei einem mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Staatsleistungen zu decken hat (BVerfGE 40, 121 (133)), darf das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag jedenfalls nicht unterschreiten."

272

§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Gleichheitssatz dazu, dem Erwerbenden mindestens den gleichen Betrag zu belassen wie dem Hilfsbedürftigen. Das subjektive Nettoprinzip wird insofern durch die Entscheidung des Sozialrechts beeinflußt. Zu beachten ist, daß sich die Steuerpflicht nicht bereits der „Natur der Sache" nach aufdrängt, der steuerliche Belastungsgrund vielmehr erst vom Gesetzgeber ausgewählt und ausgeformt wird. Infolgedessen ergeben sich die steuerliche Systematik und die Differenzierungskriterien unterschiedlicher Ausgestaltungen ebenfalls nicht von selbst. Der Gesetzgeber muß, gerade auch um die Lastengleichheit zu wahren, die notwendige Regelbildung leisten.

3. Dem Steuerpflichtigen

vorteilhafte

Normen des Einkommensteuerrechts

Abzugspositionen in Gestalt von Verkürzungen der Bemessungsgrundlage oder Absetzungen von der Steuerschuld stellen den Steuerpflichtigen von einer Belastung frei. Steuersystematisch sind sie in zwei Gruppen einzuteilen. Zum einen unterliegen Teile des Erworbenen von vorneherein nicht der Belastung, zum anderen gewährt der Steuergesetzgeber Entlastungen, indem er Einkommensteile, die gemäß der getroffenen Belastungsentscheidung an sich vom Steuerzugriff erfaßt werden müßten, ausnahmsweise von der Belastung befreit.

a) Nicht der Belastung unterliegende Einkommensteile Das Einkommensteuerrecht wird beherrscht vom Leistungsfähigkeitsprinzip, das in seinen Ausprägungen als objektives und subjektives Nettoprinzip verlangt, erwerbs- und existenzsichernden Aufwand von der Bemessungsgrundlage abzusetzen. Ein Zugriff auf die entsprechenden Einnahmen des Steuerpflichtigen widerspräche den jeweils berührten Grundrechten. Diese Abzugstatbestände sind folglich keine Steuervergünstigungen74, sondern bezeichnen

74

Ebenso der Beschluß des 57. Deutschen Juristentages (Sitzungsbericht N, S. 214): „Der Einkommensteuer unterliegt nur der Teil des Erwerbseinkommens, der fur den Steuerpflichtigen disponibel ist. Die unvermeidbaren Aufwendungen für die eigene Existenzsicherung und den Unterhalt der Familienangehörigen müssen deshalb von der Besteuerung freigestellt sein. Erst auf das sich danach ergebende zu versteuernde Einkommen ist der Tarif anzuwenden. Die Degressionswirkung bei steuermindernden Abzügen ist keine Steuervergünstigung, sondern die systemnotwendige Kehrseite der Progression bei den steuerbegründenden Zuflüssen."

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273

die „wesentliche" äußere Grenze des Grundrechtseingriffs. 75 Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist allerdings für sich betrachtet derart allgemein, daß es noch einer gesetzlichen Konkretisierung bedarf, die den Leitgedanken der jeweiligen Abzugsposition vollzugsfähig ausgestaltet.76 Dies eröffnet die Befugnis des Gesetzgebers, das Nähere zu regeln, verpflichtet ihn aber auch, von seinem Gestaltungsspielraum Gebrauch zu machen. Der so begründete Gesetzesvorbehalt gilt nicht nur für das grundgesetzlich zwingende Mindestmaß an freizustellenden Einkommensteilen, sondern darüber hinaus für alle Ausgestaltungen der Leistungsfähigkeit.

b) Entlastung durch Ausnahmen von der Belastung (1) Vergünstigungen als „negative" Eingriffsvoraussetzungen Das Einkommensteuerrecht gewährt aber auch zahlreiche Vergünstigungen, die nicht Ausdruck des Leistungsfähigkeitsprinzips sind, sondern ein bestimmtes Verhalten des Steuerpflichtigen fordern sollen oder durch Verschonung einzelner Bevölkerungsgruppen Umverteilungszwecken dienen.77 Diese Vorschriften werden in Abgrenzung von den im Einkommensteuergesetz ansonsten üblichen Fiskalzwecknormen als Sozialzwecknormen bezeichnet.78

75

Siehe oben § 2 IV. l.)c)(2) zum Gesetzesvorbehalt für Eingriffsgrenzen. Vgl. oben § 2 III. 3.)c) zur gesetzlichen Ausgestaltung der Indivdualsphäre. 77 Daß die Steuer außer der Einnahmeerzielung auch anderen Zwecken dienen darf, erkennt § 3 Absatz 1 Satz 1 2. Halbsatz AO ausdrücklich an und ist bei entsprechender Rechtfertigung der jeweiligen Zwecke verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 78 Tipke / Lang, S. 70 ff.; Fiskalzwecknormen sollen primär den staatlichen Finanzbedarf decken. Sozialzwecknormen be- oder entlasten den Bürger nicht nach Maßgabe seiner Steuerwürdigkeit, sondern wollen gesellschaftlich erwünschte Ziele erreichen, wobei zwischen Lenkungsnormen, die Anreize für ein konkretes Verhalten schaffen, und Umverteilungsnormen, die eine Wohlstandskorrektur bezwecken, unterschieden wird. Jenseits des Einkommensteuerrechts finden sich Lenkungssteuern wie die „Ökosteuern", deren Erhebung als solche Sozialzwecken dienen soll (zu ihrer Zulässigkeit Kirchhof\ Paul, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 56 ff.). Das Einkommensteuergesetz strebt an sich Fiskalzwecke an, eine Ausnahme bilden die erwähnten Steuervergünstigungen. Femer haben manche Einzelregeln neben dem Fiskalzweck auch andere Zwecke vor Augen. Tipke / Lang, S. 101, nennen § 9 Absatz 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG, der aus Verkehrs- und umweltpolitischen Gründen die Kilometerpauschale für Fahrten mit dem PKW zur Arbeitsstätte bewußt zu niedrig ansetzt und dadurch vom objektiven Leistungsfähigkeitsprinzip abweicht. Gemäß BVerfGE 27, 58 (65) ist dies vereinbar mit Artikel 3 GG. 76

18 Seiler

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Der Gesetzgeber wählt hier den Weg, dem Bürger anstelle einer Leistung eine Verschonungssubvention durch Ausnahme vom Steuerzugriff zukommen zu lassen.79 Gesetzestechnisch umgesetzt wird dies entweder auf der Ebene der Bemessungsgrundlage, indem bestimmte Einnahmen bei der Ermittlung der Einkünfte unberücksichtigt bleiben sowie stärkere Abzugs-, insbesondere Abschreibungsmöglichkeiten81 gewährt werden, oder durch Abzüge von der Steuerschuld 2 . Da eine vom Steuerrecht isolierte Leistung in Form der Auszahlung des der jeweiligen Steuerersparnis entsprechenden Betrages keinem Vorbehalt unterläge, könnte man meinen, auch jene einfachrechtlichen, verfassungsrechtlich nicht zwingenden Vergünstigungen seien vom Parlamentsvorbehalt auszunehmen. Dies läge nahe, weil das jeweils angestrebte Verhalten des Bürgers nicht im Wege eines Grundrechtseingriffs durch staatlichen Zwang eingefordert wird, sondern die Freiheit des Steuerpflichtigen nur um eine zusätzliche Handlungsalternative erweitert wird. Die Freiheitsrechte scheinen also erst berührt zu sein, wenn die Verhaltensanforderung dominiert. Dies wäre gegeben, wenn die steuerlichen Folgen des ausgeschlagenen staatlichen Angebotes derart intensiv sind, daß ein vernünftiger Steuerpflichtiger stets dem staatlichen Handlungswunsch nachkommen würde, dieser also zwangsähnliche Wirkung hätte. Die Verhaltenssteuerung erreichte dann je nach einschlägigem Grundrecht das Maß einer den Gesetzesvorbehalt auslösenden objektiv berufsregelnden Tendenz oder eines mittelbaren Eingriffs in die Eigentümerfreiheit. Verschonungssubventionen greifen zudem regelmäßig nicht in die Rechte Dritter ein. Auch wenn diese faktisch eine höhere Steuerlast zum Ausgleich für 79

Zur Unterscheidung von Leistungs- und Verschonungssubventionen Zacher, WDStRL 1966 (25), S. 308 (317); Verschonungssubventionen sind regelmäßig mit den durch den Steuerzugriff berührten Freiheitsrechten vereinbar, da sie den Steuerpflichtigen begünstigen. 80 Zum Beispiel sind Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit nach § 3b EStG steuerfrei. Der Vorgänger dieser Vorschrift wurde durch eine Verordnung des Reichsministers der Finanzen vom 7.11.1940 (RStBl. 1940, S. 945) als Anreiz, die Produktion in Kriegszeiten zu erhöhen, eingeführt (vgl. von Beckerath, in: Kirchhof / Söhn, EStG, Band 2, § 3b, RN A 40 ff.). Die Norm ist systemwidrig, da das EStG nur die finanzielle Leistungsfähigkeit und nicht die Umstände der Einkommenserzielung berücksichtigt; vgl. Kirchhof Paul, in: Kirchhof / Söhn, EStG, Band 1, § 2, RN A 94: „Das EStG besteuert das Einkommen, ohne danach zu fragen, ob das Einkommen durch Anstrengung oder von leichter Hand erworben und ob es gegen einen Verzicht auf Freiheit oder gegen eine Ware eingetauscht worden ist." 81 Das Gesetz gestattet hierzu erhöhte Absetzungen (beispielsweise § 7c EStG für die Schaffung neuer Mietwohnungen, § 7d EStG für die Anschaffung von dem Umweltschutz dienenden Wirtschaftsgütern) oder Sonderabschreibungen (etwa nach dem Fördergebietsgesetz oder gemäß § 7g EStG zur Förderung kleiner und mittlerer Betriebe). 82 Genannt sei das anstelle von § 10e EStG eingeführte Eigenheimzulagengesetz.

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entstandene Steuermindereinnahmen treffen sollte, wirkt sich dies wegen der verschiedenen Ausgleichsmöglichkeiten nicht individualisierbar auf den einzelnen Grundrechtsträger aus. So kann der Staat zur Kompensation seine Ausgaben kürzen, wodurch die potentiellen Empfänger betroffen würden. Daneben sind weitere Steuererhöhungen denkbar, welche die jeweiligen Steuerzahler belasten, aber nicht notwendig alle Steuerpflichtigen, betrifft doch beispielsweise die Mineralölsteuer nur die Autofahrer, die Tabaksteuer hingegen nur die Raucher. Auch ist eine höhere Staatsverschuldung zum Nachteil künftiger Generationen nicht ausgeschlossen. Als Folge dessen ist der einzelne durch die Steuervergünstigung nicht individualisierbar, sondern nur als Teil der Allgemeinheit berührt. Etwaige Nachteile für ihn sind lediglich Reflexe des objektiven Rechts, ohne daß seine persönliche Rechtsstellung beeinflußt wird. Es besteht gerade kein Totalvorbehalt für alle einnähme- und ausgabenwirksamen Maßnahmen, die stets auch Auswirkungen auf die Steuerlast der Allgemeinheit der Steuerpflichtigen haben. Ein Nichtbegünstigter wird erst dann in eigenen Rechten angesprochen, wenn er im Wettbewerb mit dem Subventionsempfänger steht und die Bevorzugung für ihn objektiv berufsregelnde Tendenz erlangt. Dennoch werden solche Ausnahmen von der Regelbelastung auch unterhalb der Schwelle des mittelbaren Eingriffs in Rechte des Steuerpflichtigen oder Dritter vom Parlamentsvorbehalt erfaßt. Da sie systematisch in die Eingriffsverwaltung eingebettet sind, hängt das Ausmaß des Steuerzugriffs von der mit ihm verbundenen Begünstigung ab. Eine Steuererleichterung kann sogar bewirken, daß keine Steuern geschuldet werden, der Eingriff also gänzlich entfallt. Die Verschonungssubvention setzt als „negative" Eingriffsvoraussetzung83 der Steuerauflage Schranken. Als solche unterliegt eine Begünstigung dem formellen Gesetzesvorbehalt, wenn und weil der Gesetzgeber beschließt, sie in das gesetzliche Regelwerk der Eingriffsverwaltung einzubeziehen. Ihr wesentlicher Gehalt ist aus diesem Grunde parlamentsgesetzlich zu entscheiden.84 Allerdings ist die bei den „positiven" und „negativen" Eingriffsvoraussetzungen sowie den verschiedenen Erscheinungsformen der Steuersubventionen jeweils gebotene Regelungsintensität tendenziell abzustufen. Die „positiven" Eingriffsvoraussetzungen bilden den Tatbestand des Steuergesetzes und damit den Höchstrahmen, innerhalb dessen sich der Eingriff be83

Zum Begriff der „negativen" Eingriffsvoraussetzung siehe oben § 2 IV. 1 .)c)(3). Den Gesetzesvorbehalt verletzt deshalb beispielsweise der durch Schreiben des Bundesministers der Finanzen (BdF IV Β 6 - S 2531 - 6/81 vom 30.12.81, StEK EStG § 9 Nr. 270) ohne gesetzliche Grundlage gewährte Werbungskosten- bzw. Betriebsausgabenpauschbetrag für Parlamentsjournalisten, der, worauf Tipke, in: Raupach / Tipke / Uelner, S. 152, hinweist, auch anfällt, wenn keine Kosten entstehen, und daher als Privileg gedacht ist. 84

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

wegen wird. Ihre Belastungswirkung ist im Gesetz anschaulich aufzuzeigen, da der Steuerpflichtige sich auf die entstehende Zahlungspflicht einstellen können muß. Der Bürger kann in vielen Fällen, vor allem soweit er nach §§ 25 ff., 46 EStG veranlagt wird, gezwungen sein, Rücklagen zur Begleichung der Steuerschuld zu bilden. Um Liquiditätsengpässe zu vermeiden, muß er erkennen können, mit welchem Betrag er höchstens zu rechnen hat. Auch der ertragsteuerliche Halbteilungsgrundsatz, der den Steuerzugriff auf die „Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand"85 beschränkt, steckt den Eingriffsrahmen ab und ist förmlich abzusichern, gebietet also, die „positiven" Eingriffsvoraussetzungen im Steuergesetz zu verdeutlichen. Verglichen damit fordern Subventionen als „negative" Eingriffsvoraussetzungen grundsätzlich eine geringere Gesetzesdichte.86 Alle Argumente gegen einen Totalvorbehalt für die Leistungsverwaltung87 können insoweit als Indizien gegen übermäßige Bestimmtheitsanforderungen dienen. Zwischen den verschiedenen Arten steuerlicher Vergünstigungen ist abermals zu differenzieren. Wird die steuerliche Bemessungsgrundlage verkürzt, sind die Auswirkungen oft nicht einfach vorherzusehen, da sich der Steuervorteil erst im Zusammenspiel des gesamten Einkommensteuerrechts bei Anwendung des Steuersatzes auf die noch verbleibende Bemessungsgrundlage ergibt. Deswegen ist hier eine höhere Bestimmtheit geboten als beim leichter absehbaren Abzug von der Steuerschuld, der trotz seiner Ausgestaltung als „negative" Eingriffsvoraussetzung ähnlich wie eine Leistung durch Auszahlung des entsprechenden Betrages wirkt, für die außerhalb des Steuerrechts kein Gesetzesvorbehalt bestünde. Verschiedene Veränderungen der Bemessungsgrundlage begünstigen die Bürger in unterschiedlichem Maße. Regelmäßig senken Abzüge von der steuerlichen Bemessungsgrundlage ebenso wie von der Steuerschuld die Steuerlast sofort und endgültig. Bleiben beispielsweise an sich steuerpflichtige Einkünfte gemäß §§ 3, 3b EStG unberücksichtigt, wirkt sich dies im Jahr des

85

BVerfGE 93, 121 (138) (Einheitswerte). BVerfGE 48, 210 (222) (zu § 34c Absatz 3 EStG): „Mögen im Steuerrecht Belastungen und Vergünstigungen nicht selten Hand in Hand gehen, sind die Anforderungen an das Maß der gesetzlichen Bestimmtheit solcher Ermächtigungen gleichwohl geringer als bei Eingriffsermächtigungen." Anders zuvor BFHE 85, 399 (404) und BFH BStBl. II 1970, S. 728 (729) = BFHE 99, 376 (378) (beide zu § 34c Absatz 3 EStG), die Steuerentlastungen offenbar als Belastung der übrigen Steuerpflichtigen sahen, ohne einen mittelbaren Eingriff zu erörtern. 87 Siehe oben § 2 IV. l.)b). 86

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QQ

Zuflusses aus. Zusätzliche Abschreibungsmöglichkeiten in Form von Sonderabschreibungen neben oder erhöhten Absetzungen an Stelle der regulären Absetzung für Abnutzung im Sinne von § 7 EStG89 verlagern hingegen, soweit der Grenzsteuersatz über den gesamten Abschreibungszeitraum unverändert bleibt, die Steuerpflicht grundsätzlich nur zeitlich, verzichten also nicht gänzlich auf die Steuer. Der Steuervorteil liegt mithin in einer zinslosen Stundung, die aber im Einzelfall erhebliche Wirkung haben kann, da sie erst mit Ablauf der gesetzlich angeordneten üblichen Nutzungsdauer ausgeglichen ist. 90 Daneben kann eine großzügigere Abschreibung auch endgültige Vorteile mit sich bringen, wenn der Grenzsteuersatz des Begünstigten im Laufe der Nutzungsdauer abnimmt.91 Das Maß der Begünstigung hängt also bei bevorzugenden Abschreibungen nicht allein von der Höhe der jeweiligen Absetzungen ab, sondern auch vom jeweiligen persönlichen Grenzsteuersatz, der gewöhnlichen Nutzungsdauer des abzuschreibenden Wirtschaftsgutes sowie der Möglichkeit, stille Reserven durch nachfolgende Vergünstigungen fortzuschreiben. Deshalb muß die Funktion des Gesetzesvorbehaltes nicht nur durch die jeweilige Einzelregelung sondern durch das gesamte Steuersystem erfüllt werden, das die gewährten Steuervorteile hinreichend deutlich erkennen lassen muß. 88 Dies gilt jedenfalls für die dem Zuflußprinzip des § 11 Absatz 1 EStG unterliegenden Überschußeinkünfte, zu denen die Einnahmen nach §§ 3, 3b EStG regelmäßig zählen, sowie für nach § 4 Absatz 3 EStG ermittelte Gewinneinkünfte. Nur bei der Gewinnermittlung nach § 4 Absatz 1 EStG werden Betriebseinnahmen periodengerecht zugeordnet. 89 Drenseck, in: Schmidt, EStG, § 7a, RN 1. 90 Beispielsweise gestattete § 4 Fördergebietsgesetz neben der regulären, bei Gebäuden gemäß § 7 Absätze 4 und 5 EStG auf bis zu 50 Jahre (§ 7 Absatz 4 Satz 1 Nr. 2 a) EStG: lineare AfA von jährlich 2 %) verteilten Abschreibung bei Objekten im Fördergebiet (§ 1 Absatz 2 FördG) für bestimmte, vor dem 1.1.1999 getätigte Investitionen (§§ 2,3 FördG; Näheres bei Drenseck, in: Schmidt, EStG, § 7a RN 20 ff.) eine einmalige Sonderabschreibung von 40 % (zuvor sogar 50 %) der Anschaffungs- oder Herstellungskosten. Nach Ablauf des Begünstigungszeitraumes (§ 4 Absatz 1 Satz 2 FördG: 5 Jahre) ist der verbleibende, um die Sonderabschreibung verringerte Restwert gemäß § 7a Absatz 9 EStG verteilt auf die Restnutzungsdauer, das heißt auf maximal weitere 45 Jahre, linear abzuschreiben. Im Idealfall können so statt 50 Jahresraten von 2 % eine einmalige Sonderabschreibung von 40 % neben der linearen AfA von 2 % im ersten Jahr, vier weitere Jahresraten von 2 % und 45 Jahresraten von 1 % geltend gemacht werden. Der Steuervorteil ist erst nach 50 Jahren ausgeglichen. 91 Dies kann interessant sein, falls ein Steuerpflichtiger während seiner aktiven Berufszeit bei einem Spitzensteuersatz von derzeit 53 % (§ 32a Absatz 1 EStG) zuzüglich Solidaritätszuschlag (§ 51a EStG i.V.m. dem SolZG) und Kirchensteuer (maßgeblich sind nach Artikel 140 GG i.V.m. Artikel 137 Absatz 6 WRV die Kirchensteuergesetze der Länder) Abschreibungen vorziehen kann, die er ansonsten während seines Ruhestandes mit erheblich niedrigeren Einkünften bei einem reduzierten Grenzsteuersatz vorgenommen hätte.

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Steuervergünstigungen unterfallen somit zwar dem Parlamentsvorbehalt für Grundrechtseingriffe, gestatten aber eine tendenziell geringere Bestimmtheit als belastende Einzelregelungen. Vor allem Abzüge von der Steuerschuld sind aus sich selbst heraus eher verständlich und können sich mit einer geringeren Regelungsdichte begnügen. Verkürzungen der Bemessungsgrundlage sind deutlicher darzustellen, wenn und weil der Steuervorteil erst aus dem Gesamtsystem des Einkommensteuerrechts abgelesen werden kann. Letzteres gilt insbesondere für außerordentliche Abschreibungen, bei denen die Anforderungen des Gesetzesvorbehaltes auf die Gesamtheit der einschlägigen Vorschriften erstreckt werden müssen.

(2) Gleichheitssatz und Steuervergünstigungen Artikel 3 GG unterscheidet zwischen Form und Inhalt staatlichen Handelns und fordert keinen Totalvorbehalt für dem Bürger günstige Regelungen. Wenn der Gesetzgeber sich jedoch wie im Falle der Steuersubventionen zu einer Regelung entschließt, muß diese inhaltlich gleichheitskonform, das heißt folgerichtig sein und eine gleichmäßige Handhabung durch die Verwaltung sowie eine gerichtliche Überprüfung von Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit gestatten. Nur soweit dies voraussetzt, Folgeentscheidungen in das Gesetz aufzunehmen, begründet der Gleicheitssatz einen einfachgesetzlich ausgelösten Folgevorbehalt und liefert so Aussagen zur gebotenen Regelungsdichte. In Erwägung gezogen werden könnten solche Gesichtspunkte, falls eine Steuervergünstigung subjektive Gleichheitsrechte Dritter berührt oder sofern die Gleichheit objektiv-rechtlich abzusichern ist. Artikel 3 GG verleiht dem Nichtbegünstigten bei ungleich verteilten Steuersubventionen kein subjektives Recht, das als solches den Gesetzesvorbehalt auslösen könnte, zugleich aber die Popularklage eröffnen müßte. Der ungleich belastete Steuerpflichtige kann nicht verlangen, eine Verschonung Dritter zu unterlassen, da die Bevorzugung ihn nicht individualisierbar, sondern nur als Teil der Allgemeinheit berührt. Auch steht ihm kein Anspruch auf eigene Begünstigung zu. Soweit die Subvention rechtswidrig ist, verwehrt die Gesetzesbindung der Verwaltung (Artikel 20 Absatz 3 GG) dem Nichtbegünstigten ein Recht auf Herstellung der „Gleichheit im Unrecht". 92 Eine gesetzlich angeordnete Ungleichbehandlung kann zudem durch eine Erstreckung der Vergünstigung auf bisher nicht begünstigte Kreise oder durch eine Streichung derselben behoben werden, wozu dem Gesetzgeber regelmäßig ein weiter Gestaltungs92

Zum Satz „Keine Gleichheit im Unrecht", Kirchhof \ Paul, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band V, § 125, RN 65 ff., mit einzelnen Differenzierungen.

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Spielraum zusteht, ohne daß diese Entscheidung gleichheits- oder sonst verfassungsrechtlich vorgegeben ist.93 Ein Anspruch des Nichtbegünstigten aus Artikel 3 GG ist nur als Folge einer ständigen Verwaltungspraxis möglich, die zu einer Ermessensreduzierung fuhren kann. Dies setzt jedoch gerade voraus, daß die Behörde ohne eine die Vergünstigung anordnende gesetzliche Grundlage handelt, kann also keinen Gesetzesvorbehalt begründen. Es verbleibt nur die objektiv-rechtliche Pflicht, gesetzliche Vergünstigungen gleichheitskonform zu regeln und anzuwenden, was an sich noch nichts über die gesetzliche Regelungsdichte besagt. Kraft seiner jederzeit widerruflichen Entscheidung, diese Subventionen im System des Einkommensteuerrechts zu gewähren, unterwirft der Gesetzgeber jedoch auch die gleichheitsrechtlich maßgeblichen Folgefragen dem Regime dieses Rechtsgebietes, dessen von ihm selbst geschaffene Regeln er zu beachten und verdeutlichen hat, soweit eine Abweichung von ihnen nicht ihrerseits gleichheitsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Zum einen fordert die materielle Rechtspflicht, eine einmal getroffene Förderungsentscheidung folgerichtig umzusetzen, eine gesetzliche Regelbildung, die der Verwaltung ermöglicht, die gesetzliche Begünstigung gleichmäßig anzuwenden. Zum anderen muß das Gesetz hinreichend justitiabel abgefaßt werden. Es müssen sich stets „Gründe des Gemeinwohls"94 finden lassen, welche die Steuerentlastung vor dem Gleichheitssatz rechtfertigen können. Um deren Überprüfung zu ermöglichen, muß das Gesetz den vom Gesetzgeber gewählten Anknüpfungspunkt der Differenzierung erkennen lassen.95 Diese Folgepflichten bedingen allerdings nur geringe Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit. Artikel 3 GG verlangt nicht, Steuerbefreiungen oder -ermäßigungen ebenso deutlich zu regeln wie die Voraussetzungen des Steuerzugriffs. Der Gleichheitssatz hat trotz seiner zentralen Bedeutung für die materiell-rechtliche Frage nach dem zulässigen Inhalt des Steuerrechts nur schwache Aussagekraft für die fomelle Beurteilung seiner rechtstechnischen Einkleidung. Die wenigen gleichheitsrechtlichen Vorgaben für die zu wählende Normdichte dürften zumeist bereits durch den Gesetzesvorbehalt für „nega93 Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich bei mehreren Möglichkeiten, Ungleichheiten im Gesetz zu beheben, regelmäßig auf eine Unvereinbarkeitserklärung und setzt dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung; vgl. BVerfGE 82, 126 (154 ff.); E 93, 121 (148 f.) (Einheitswerte). 94 BVerfGE 93, 121 (147 f.) (Einheitswerte). 95 BVerfGE 93, 121 (147 f.) (Einheitswerte) verlangt „eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers, mit dem Instrument der Steuer auch andere als bloße Ertragswirkungen erzielen zu wollen". Der Lenkungszweck müsse „mit hinreichender Bestimmtheit tatbestandlich vorgezeichnet und gleichheitsgerecht ausgestaltet sein". Die Vorschrift muß als Sozialzwecknorm zu erkennen sein. Die Vergünstigung darf nicht in einer Fiskalzwecknorm versteckt sein, was nicht ausschließt, daß die Vorschrift sowohl Fiskal- als auch Sozialzwecke verfolgt.

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tive" Eingriffsvoraussetzungen erfüllt sein. Im einzelnen muß der Gesetzgeber, um eine gleichheitskonforme Handhabung des Steuerrechts und deren gerichtliche Kontrolle abzusichern, bei der Festlegung von Grund und Voraussetzungen einer gesetzlich gewährten Vergünstigung dreierlei beachten. Erstens muß die Norm aus Gründen der horizontalen Steuergerechtigkeit erkennen lassen, nach welchen Gesichtspunkten zwischen der Gruppe der Begünstigten und jener der Nichtbegünstigten unterschieden wird. Dies verlangt, den Subventionszweck zu verdeutlichen. Zweitens sind die verschiedenen Auswirkungen einer Vergünstigung auf mehrere Begünstigte gleichheitsrechtlich zu überprüfen. Diese Problematik stellt sich in der Regel nicht bei den progressionsneutral gewährten Abzügen von der Steuerschuld. Anders verhält es sich bei einer Verkürzung der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Das Ausmaß der Begünstigung hängt hier vom persönlichen Grenzsteuersatz des Steuerpflichtigen ab. Die Wirkung des progressiven Steuersatzes verkehrt sich in ihr Gegenteil und fordert Bürger mit einem höheren zu versteuernden Einkommen stärker als andere mit geringeren Bezügen. Derartige Ungleichheiten der Subventionswirkung sind am Maßstab der vertikalen Steuergerechtigkeit zu rechtfertigen, was Gegenstand einer etwaigen verfassungsgerichtlichen Kontrolle sein kann. Der Gesetzgeber muß deshalb seine Konzeption mit ihren rechtlichen und tatsächlichen Anknüpfungspunkten hinreichend deutlich, das heißt auslegungsfähig aufzeigen. Drittens darf sich der Gesetzgeber bei der Wahl der jeweiligen Differenzierungskriterien grundsätzlich auf üblicherweise gegebene Umstände beschränken und dies gesetzestechnisch durch eine typisierende oder pauschalierende Regelung umsetzen. Wenn und soweit er eine solche Gestaltung vorzieht, ermäßigt sich die erforderliche Verdeutlichung der gleichheitsrechtlich erheblichen Gesichtspunkte auf eine erkennbare Auswahl des im Tatsächlichen liegenden maßgeblichen Anknüpfungspunktes. Anzumerken bleibt, daß der Gesetzesvorbehalt nur verlangt, die legislative Entscheidung aufzudecken. Ob sie die Bevorzugung einer Gruppe von Steuerpflichtigen gleichheitsrechtlich rechtfertigen kann, ist eine Frage der materiellen Aussagen des Gleichheitssatzes, nicht des Parlamentsvorbehaltes.

4. Steuerrecht und Strafrecht § 370 AO stellt die vorsätzliche Steuerverkürzung unter Strafe, das heißt nach Absatz 4 jede unterbliebene, unvollständige oder verspätete Steuerfestsetzung. Das gesamte Steuerrecht füllt den Tatbestand dieses Strafgesetzes

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aus.96 Angesichts des weiten strafrechtlichen Vorsatzbegriffes, der dolus eventualis97 genügen läßt, liegt die Strafbarkeitsschwelle der Steuerhinterziehung sehr niedrig. Ähnliches gilt gemäß § 378 AO fur den Ordnungswidrigkeitstatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung. Aus diesem Grunde gebietet der Schutzgedanke von Artikel 103 Absatz 2 GG 98 eine besondere Bestimmtheit formeller Steuergesetze.99 Andererseits zwingt dieser Befund nicht zu einer größtmöglichen Gesetzesdichte. Zum einen erlaubt selbst Artikel 103 Absatz 2 GG, unbestimmte 100

Rechtsbegriffe und Generalklauseln zu verwenden , weshalb der Schluß vom Strafrecht auf das Steuerrecht deren Gebrauch nicht zwingend ausschließen kann. Zum anderen hat der Grundsatz „nulla poena sine lege" unmittelbar nur die eigentliche StrafVorschrift vor Augen. Das Steuerrecht füllt lediglich die Blankettstrafnorm der Steuerhinterziehung aus, zu welchem Zwecke trotz ihrer strafrechtlichen Konsequenzen auch ergänzende Rechtsverordnungen ergehen dürfen. 101 Dennoch ist der Grundgedanke dieses speziellen Gesetzesvorbehaltes auf jene Normen auszudehnen, welche die Voraussetzungen der Strafbarkeit beeinflussen, um so eine Umgehung seiner Schutzfunktion zu vermeiden.102 Die Anforderungen von Artikel 103 Absatz 2 GG müssen aber nicht unbedingt vollständig auf das Steuerrecht übertragen werden, sondern nur soweit dessen Schutzzweck reicht. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt mit seiner Appell- und Warnfunktion verlangt, den Bürger durch das Gesetz in die Lage zu versetzen, vor jeder steuerrechtlich erheblichen Handlung oder Unterlassung deren strafrechtliche Folgen einschätzen zu können. Zu fragen ist, wie sich diese Schutzfunktion im Einkommensteuerrecht auswirkt. Gemäß § 370 Absatz 1 AO droht dem Bürger eine Bestrafung nur bei unrichtigen oder unvollständigen Tatsachenangaben oder bei pflichtwidriger 96

Die Problematik der dynamischen Verweisung auf Vorschriften eines anderen Normgebers stellt sich hier nicht, da dem Bundesgesetzgeber sowohl für das Straf(Artikel 74 Absatz 1 Nr. 1 GG) als auch für das Einkommensteuerrecht (Artikel 105 Absatz 2 GG) die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zusteht, von der er jeweils abschließend Gebrauch gemacht hat. 97 Vorsatz ist gegeben, wenn der Steuerpflichtige die Tatbestandsverwirklichung emstlich für möglich hält und sich damit abfindet; vgl. Wessels, Allgemeiner Teil, S. 61. 98 Zu Artikel 103 Absatz 2 GG Hill, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band VI, § 156, RN 58 ff; Artikel 103 Absatz 2 GG gilt nicht nur für Strafnormen im eigentlichen Sinne, sondern insbesondere auch für Bußgeldtatbestände; vgl. femer BVerfGE 71, 108 (114). "Fraglich und umstritten ist, ob das Analogieverbot des Artikel 103 Absatz 2 GG auch im Steuerrecht gilt. Verneinend Tipke / Lang, S. 119 ff.; Näheres unten § 4IV. 2.). 100 BVerfGE 26, 41 (42 ff.) („grober Unfug"); E 28, 175 (183 ff.); E 41, 314 (319 f.); E 45, 363 (370 ff.) („besonders schwerer Fall"). 101 Siehe oben § 3 IV. l.)b). 102 Hierzu oben § 2 IV. l.)e).

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Nichtangabe von Tatsachen. Das Steuerstrafrecht knüpft also nicht unmittelbar an die Erzielung von Einkünften und die durch sie ausgelösten Steuerrechtsfolgen an, sondern nur mittelbar über die diesbezüglichen Mitteilungspflichten tatsächlicher Art. Das materielle Steuerrecht wird erst im Falle einer entsprechenden TaXhandlung zum direkten Gegenstand strafrechtlicher Betrachtung, indem es den zu vermeidenden Taterfolg mitbestimmt, das heißt die Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses an einer vollständigen und rechtzeitigen Festsetzung des Steueraufkommens. 103 § 370 Absatz 1 AO verdeutlicht die strafrechtlich verbotene Tathandlung und erlaubt so auch steuerrechtlichen Laien, ihr Verhalten auf die gesetzlichen Anforderungen einzustellen, obwohl die komplizierte Rechtslage unvermeidlich Unsicherheiten über den Taterfolg mit sich bringt. Dies setzt aber voraus, daß ihnen die steuerrechtlich erheblichen Tatsachen sowie die sie betreffenden Mitteilungspflichten bewußt werden. Letztere sind dem Gesetz deutlich zu entnehmen. Der Steuerpflichtige hat grundsätzlich eine Steuererklärung nach § 25 Absatz 3 EStG abzugeben. Eine Ausnahme macht § 46 EStG für Lohnsteuerpflichtige, falls nicht eine der dort genannten Gegenausnahmen eingreift. Im übrigen sind unrichtige Steuererklärungen gemäß § 153 AO zu berichtigen. Anzugeben sind alle die materielle Steuerlast bestimmenden Tatsachen. Zwar überträgt der Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) den Finanzbehörden die Hauptverantwortung für die Sachverhaltsermittlung. Der dem Steuergesetz Unterworfene muß jedoch seine Mitwirkungspflichten 104 erfüllen sowie vollständige und richtige tatsächliche Angaben machen. Vom einzelnen wird 103

Dies ist nach Tipke / Lang, S. 971, das geschützte Rechtsgut des § 370 AO. Eine andere Frage ist die nach der Verfassungsmäßigkeit derart weiter Mitwirkungspflichten. Etwaige Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 2 Absatz 1 GG) können durch das Allgemeininteresse an einer gleichmäßigen Besteuerung gerechtfertigt sein. Strafrechtliche Folgen an die Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen zu knüpfen, verletzt zudem nicht den Grundsatz, niemand sei gezwungen, an seiner eigenen Überführung mitzuwirken (nemo tenetur se ipsum accusare). Zwar muß der Bürger Hinweise liefern, die später für eine Strafverfolgung erheblich sein können, jedoch ist vor der Auskunft noch keine Strafbarkeit gegeben. Diese ist nur Folge unterlassener, unrichtiger oder verspäteter Erklärungen. Ebenso wie der Zeuge zur Aussage vor Gericht verpflichtet ist, deren Unwahrheit ihm nach §§ 153 ff. StGB vorgeworfen werden kann, muß der Steuerpflichtige wahrheitsgemäß Auskunft erteilen. Das Strafrecht greift erst bei einer Verletzung dieser Pflicht ein, die gerade nicht zum Zwecke seiner Überführung besteht. Dies gilt auch, soweit der Steuerpflichtige durch die Erklärungspflicht gedrängt wird, Umstände aufzudecken, die mittelbar auf falsche Angaben der Vorjahre schließen lassen, da das Gesetz hier eine zur Straffreiheit führende Selbstanzeige (§ 371 AO) erlaubt, der Bürger also nicht zur Selbstbelastung, sondern nur zur Steuerehrlichkeit gezwungen wird. 104

I. Steuerrecht und n

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aber keine Kenntnis der Rechtslage erwartet. Ihm droht keine Strafe, falls er steuerrechtlich nicht erhebliche Umstände aufdeckt oder wenn die Behörde die Steuerlast auf Grund falscher Rechtsanwendung zu kurz bemißt, macht doch das Kausalitätserfordernis des § 370 Absatz 1 AO den Bürger strafrechtlich nur verantwortlich, wenn die Steuerverkürzung durch seine Tathandlung verursacht wird. Auch Steuerunkundige können eine Strafbarkeit vermeiden, indem sie alle ihre Einnahmen betreffenden Fakten der Behörde aufdecken. Die Appellund Warnfunktion des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes gebietet demnach, dem Bürger zu verdeutlichen, welche Sachverhalte dies sind. Der Steuerpflichtige muß nicht wissen, welche genauen Rechtsfolgen ein bestimmter Umstand auslöst, sondern allein, daß er steuerrechtlich erheblich ist, wobei differenziert werden muß zwischen zumindest auch steuererhöhend wirkenden und dem Bürger ausschließlich vorteilhaften Gegebenheiten. Bei dem Bürger nachteiligen Tatsachen, vor allem bei den Voraussetzungen des Steuerzugriffs, besteht die Gefahr, sich durch vorwerfbare Unkenntnis oder Unsicherheit über die bestehenden Steuerpflichten strafbar zu machen. Die durch §§ 370, 378 AO angeordnete Straf- und Bußgeldbewehrung der Verletzung steuerlicher Pflichten bedingt hier einen gesteigerten Regelungsbedarf des Gesetzgebers, der dem Steuerpflichtigen insbesondere bewußt machen muß, was als Einkommen im Rechtssinne gilt. Anders verhält es sich bei dem Bürger günstigen Fakten. Während die irrige Nichtangabe einzelner Umstände infolge schuldhaften Verkennens der Rechtslage bei den „positiven" Eingriffsvoraussetzungen zur sanktionierten Steuerverkürzung fuhrt, folgt bei den vom objektiven und subjektiven Nettoprinzip gebotenen Abzugspositionen lediglich eine der materiellen Rechtslage widersprechende überhöhte Steuerlast, bei unklaren Subventionsregeln nur eine Nichtgewährung der Vergünstigung. Dem Steuerpflichtigen muß nur verständlich gemacht werden, daß er den Sachverhalt vollständig aufzudecken hat, um zu vermeiden, daß etwaige Gegenausnahmen unberücksichtigt bleiben. Auch wenn Artikel 103 Absatz 2 GG demnach vom Einkommensteuergesetz tendenziell eine größere Bestimmtheit als von anderen Gesetzen verlangt, die allerdings je nach Art der einzelnen Regelungen unterschiedlich bemessen sein darf, sollten hieraus, insbesondere da auch im übrigen Strafrecht Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zulässig sind, keine übermäßig strengen Schlüsse gezogen werden. 105 Wünschenswert wäre nicht eine erhöhte Gesetzesdichte, sondern ein einfacheres Steuergesetz, da eine Übernormierung ihrerseits dem Schutzzweck von Artikel 103 Absatz 2 GG widerspräche. 105

Für den Vorläufer von § 370 AO (§ 392 Absatz 1 Satz 1 AO a.F.) hat BVerfGE 37, 201 (207 ff.) entschieden, dieser sei in Verbindung mit dem Mineralölsteuergesetz hinreichend bestimmt im Sinne von Artikel 103 Absatz 2 GG.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

II. Steuerrecht und Staatsganzes 1. Demokratieprinzip Dem Demokratieprinzip kann unabhängig vom Steuerrecht kein genereller „zwingend förmlicher Gesetzesvorbehalt" für alle „Akte der Staatsleitung" entnommen werden. 106 Legislative und Exekutive sind beide demokratisch legitimiert, weshalb das Grundgesetz ein Prinzip der „Staatsleitung zur gesamten Hand" 107 kennt. Dies schließt nicht aus, die besondere staatspolitische Bedeutung einer Frage sowie ihre Einnahme- oder Ausgabenerheblichkeit als Indizien für oder gegen eine gesteigerte Regelungsdichte anzusehen. Verglichen mit anderen Materien unterliegt das Steuerrecht daher gerade wegen seiner Bedeutung für die Staatseinnahmen einer eher größeren parlamentarischen Verantwortung. Noch weitergehend hat Papier 108 1973109 in Analogie zu Artikel 110 Absatz 2 GG 1 1 0 speziell für das Steuerrecht einen zwingenden, jede Delegation ausschließenden Parlamentsvorbehalt gefordert, nach dem die Regelungspflicht des förmlichen Gesetzgebers erst bei nicht regelungswürdigen Fallgestaltungen von geringer Zahl oder Tragweite enden soll1 \ Konsequenz dessen wäre nicht nur eine allgemein erhöhte Gesetzesdichte, sondern auch eine Gleichsetzung von Fiskalzwecknormen und Steuervergünstigungen, für welche Papier folgerichtig jedes exekutive Ermessen ausgeschlossen hat. 112

106

Hierzu oben § 2 IV. 2.)a). Friesenhahn, WDStRL 1957 (16), S. 9 (38). 108 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 101 ff.; ablehnend Osterloh, Gesetzesbindung, S. 142 ff. (156 ff.); kritisch femer Kirchhof, Paul, StuW 1975, S. 357 (363 ff.). 109 In jüngerer Zeit fordert Papier, DStJG 12 (1989), S. 61 (67 f.), „nur die dem jeweiligen Sachzusammenhang angemessene Bestimmtheit". 110 Papier, Gesetzesvorbehalte, Seite 63 ff, hat seinen Ansatz zudem freiheitsrechtlich begründet. 1,1 Letzteres folgert Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 168, ausdrücklich nur für die Anwendung der Billigkeitsregelung des § 131 AO a.F.; Gleiches gilt aber sinngemäß für das gesamte Steuerrecht. Trotz dieser strengen Gesetzesbindung soll eine Delegation an den Verordnungsgeber zulässig bleiben, soweit steuerliche Nebenpflichten wie etwa im Verfahrensrecht betroffen sind (S. 120) oder soweit es sich um materielle Steuertatbestände detaillierende oder spezialisierende sowie um unbestimmte Rechtsbegriffe interpretierende oder durch Pauschalierungen konkretisierende Rechtsverordnungen handelt (S. 120 ff). Diese materiellen Regelungen dürften aber nur „unklare Grenzbereiche" verdeutlichen, eine Ermächtigung zur „näheren Bestimmung" sei der Sache nach eine Gesetzesänderung und daher unzulässig (S. 123 f.). 112 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 117 ff. (119). 107

II. Steuerrecht und Staatsganzes

285

Diese Analogie begegnet Bedenken. Bereits das Vorliegen einer Regelungslücke ist fraglich. 113 Das Grundgesetz enthält mit Artikel 110 GG zur Haushaltsfeststellung durch formelles Gesetz und Artikel 115 GG zur parlamentarischen Kreditermächtigung Vorschriften der Ausgaben- und Einnahmengestaltung, anerkennt also das Bedürfnis, die Volksvertretung in diesen Bereichen mit starkem Bezug zur politischen Staatsleitung einzuschalten. Das Fehlen einer solchen Regelung für das Steuerrecht läßt den Umkehrschluß zu, die Verfassung wolle diesen Gedanken nicht auf die Steuererhebung übertragen wissen, deren Bedeutung für ein demokratisches Gemeinwesen bei Erlaß des Grundgesetzes bekannt war. Eine der Wurzeln des Gesetzesvorbehaltes war gerade die jährliche Steuerbewilligung, die schon vor ihrer Eingliederung in die ordentliche Gesetzgebung und vor der Einführung eines parlamentarischen Budgetrechts Machtmittel des Parlaments gegenüber der Krone als nicht demokratisch legitimierter Exekutive war. 114 Das deutsche Staatsrecht wußte um die Bedeutung parlamentarischer Beteiligung in einnahmewirksamen Bereichen, weshalb das Schweigen des Grundgesetzes gegen eine bewußte oder unbewußte Nichtregelung spricht. Artikel 110, 115 GG beantworten die Frage nach einer gerade durch einen formlichen Gesetzesvorbehalt zu leistenden Sicherung der staatspolitischen Mitwirkung der Volksvertretung abschließend. Zudem fehlt die für einen Analogieschluß unerläßliche Vergleichbarkeit von Steuererhebung und Haushaltsbewilligung. Papier 115 führt zunächst den engen Zusammenhang von Abgaben und Haushaltsplan an. Staatliche Einnahmen seien für die Staatsleitung ebenso bedeutsam wie die durch sie finanzierten Ausgaben, was eine parlamentarische Entscheidung erfordere und eine Gleichbehandlung rechtfertige. Dieses Argument ist, lehnt man einen generellen Gesetzesvorbehalt für staatsleitende Akte ab, nicht zwingend. Auch das Finanzverfassungsrecht weist die Führungsrolle nicht eindeutig allein der Volksvertretung zu, sondern ordnet eine „Staatsleitung zur gesamten Hand" an. So erteilt das auf der Grundlage eines Regierungsentwurfes 116 verabschiedete Haushaltsgesetz der Exekutive nur eine Ermächtigung117, verpflichtet sie aber nicht, bestimmte Ausgaben zu tätigen.118 Verantwortlich für den Haushalts-

113 114

115 116 117 118

Ebenso Osterloh, Gesetzesbindung, S. 156. Zur „steuerlichen Herkunft" des Gesetzesvorbehaltes oben § 2 I. 4.).

Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 101 ff.

Artikel 110 Absatz 3 GG, §§ 28 ff. BHO. § 3 BHO; des weiteren stehen ihr eigene Befugnisse aus Artikel 111-113 GG zu. Mußgnug, Haushaltsplan, S. 315 ff. mit Nachweisen; Stern, Band II, S. 1207.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

vollzu^ ist die Bundesregierung, die der Kontrolle des Bundesrechnungshofes 1 9 unterliegt. Ferner spreche der Vergleich zu Artikel 115 GG, der eine gesetzesförmliche Ermächtigung für die kreditfinanzierte Mittelbeschaffung verlangt, dafür, den zwingenden Parlamentsvorbehalt auf die Steuererhebung zu erstrecken. 120 Abgesehen davon, daß diese Vorschrift gerade das Fehlen einer analogiefähigen Regelungslücke belegt, ist auch ihr Regelungszweck nicht auf das Steuerrecht übertragbar. Die Norm soll das Haushaltsrecht des Parlaments für die Zukunft absichern, da die Volksvertretung ansonsten durch die Verpflichtung, Zins- und Tilgungsleistungen zu erbringen, faktisch in ihrem künftigen Budgetrecht gebunden werden könnte.121 Artikel 115 GG verlängert also nur die Rechte aus Artikel 110 GG, was die übliche Praxis erklärt, im Haushalts122

gesetz zur Kreditaufnahme zu ermächtigen. Das Budgetrecht könnte durch einen formellen Gesetzesvorbehalt des Steuerrechts nicht in gleichzusetzender Weise abgesichert werden, da dieses keine vergleichbare Zukunftswirkung hat, alle nennenswert einnahmewirksamen Regelungen bereits als Grundrechtsschranken dem Parlamentsvorbehalt unterfallen und die Volksvertretung im übrigen jederzeit über das vom Gesetzesvorbehalt geforderte Mindestmaß hinausgehen und die Exekutive kraft des Gesetzesvorranges binden kann. 123

Weiterhin fordert Papier , einen bei der Haushaltsbewilligung eingetretenen Machtverlust des Parlaments zu kompensieren. Zum einen seien staatliche Leistungen heute weitgehend gesetzlich geregelt 124, die Exekutive sei also infolge einfachgesetzlicher Anspruchsbegründung auch ohne eine Ansetzung im Etat zur Zahlung verpflichtet 125, so daß der Haushaltsgesetzgeber keine neue politische Entscheidung mehr treffen könne. Zum anderen sei das Parlament faktisch durch exekutive Planungswerke gebunden, namentlich durch die mehrjährige Finanzplanung nach Artikel 109 Absatz 3 GG. 126 Zum Ausgleich 119

Artikel 114 Absatz 2 GG; der Bundesrechnungshof hat seinerseits der Bundesregierung, dem Bundestag und dem Bundesrat Rechnung zu legen. 120 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 104. 121 Artikel 115 GG umfaßt nur Verbindlichkeiten, „die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können". 122 § 18 Absatz 2 BHO; hierzu Stern, Band II, S. 1276. 123 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 107 ff. 124 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 107, beziffert 1973 den Anteil invariabler, da gesetzlich festgelegter Bundesausgaben mit etwa 85 %. Gleiches gilt dem Grundsatz nach auch heute noch. 125 Vgl. Stern, Band II, S. 1209 mit weiteren Nachweisen. 126 Gemäß § 9 StabG ist ein fünfj ähriger Finanzplan zu erstellen, der nach Absatz 2 von der Bundesregierung ohne Beteiligung des Parlaments beschlossen wird. Papier, S. 108 mit weiteren Nachweisen, sieht hierin ein Präjudiz für das vom Parlament zu verabschiedende Haushaltsgesetz.

II. Steuerrecht und Staatsganzes

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müßten dem Parlament auf der Einnahmeseite zusätzliche Rechte zugesprochen werden. Aber dieser Machtverlust erscheint gerade auch als Anzeichen einer 127

zum Teil vom Parlament verursachten - geringeren Bedeutung von Artikel 110 Absatz 2 GG im Gefüge der Kompetenzen zur Staatsleitung. Der gegenteilige Analogieschluß auf eine stärkere Beteiligung des Parlaments ist nicht zwingend.128 Daneben nennt Papier 129 die Beamtenbesoldung und -Versorgung130 sowie die Enteignungsentschädigung nach Artikel 14 Absatz 3 GG 131 , die ebenfalls zwingend parlamentsgesetzlich zu regeln seien. Da sie die Entschließungsfreiheit des Etatgesetzgebers über Art und Höhe der Staatsausgaben nicht unwesentlich einengten, seien die entsprechenden Bewilligungspflichten Ausdruck eines finanzrechtlichen Parlamentsvorbehaltes. Dem ist zu widersprechen. Diese Spezialvorbehalte behandeln anderweitig geforderte Ausnahmen, begründen also kein analogiefähiges Prinzip. Eine Analogie zu Artikel 110, 115 GG scheitert auch an deren struktureller Eigenart. Beide betreffen nur das Verhältnis verschiedener Staatsorgane, nicht die Beziehung des Staates zu seinen Bürgern. 132 Dies bedingt eine andersartige Erfassung durch den Gesetzgeber. Die Steuerauflage unterliegt allein durch ihre Grundrechtsrelevanz weitgehend dem Parlamentsvorbehalt. Regelungen der Staatsorganisation sind dagegen regelmäßig nicht in eine materielle Gesetzgebung eingebettet, deren „wesentliche" Entscheidungen ohnehin dem Parlament obliegen. Dessen Beteiligung muß erst durch einen förmlichen Gesetzesvorbehalt abgesichert werden. Die andere typische Entscheidungsform des Bundestages, der schlichte Parlamentsbeschluß, sähe kein dem Gesetzgebungsverfahren mit seinen drei Lesungen133 vergleichbares Verfahren vor, sondern gestattete nur die Annahme oder Ablehnung des ganzen Entwurfs ohne Erörterung von Änderungsanträgen. Artikel 110, 115 GG ordnen also Mit127

Das Parlament kann entsprechende Leistungsgesetze mangels eines Totalvorbehalts jederzeit aufheben und so seine haushaltsrechtliche Handlungsfreiheit zurückgewinnen. 128 Gegen eine solche Kompensation auch Osterloh, Gesetzesbindung, S. 159. 129 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 104 f. 130 Papier entnimmt BVerfGE 8, 1 (15 f.) und E 8, 28 (35) einen Gesetzesvorbehalt aus hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums. Dieser schützt jedoch nicht das parlamentarische Budgetrecht, sondern die Rechtsstellung der Beamten. 131 Vorläufer der Enteignungsentschädigung war der durch §§ 74, 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (vgl. Pappermann, S. 49) eingeführte Aufopferungsgedanken („Dulde und Liquidiere"), der dem einzelnen einen Ausgleich für hoheitliche Eingriffe in seine wohlerworbenen Rechte (iura quaesita) verschaffen, nicht aber das Haushaltsrecht regeln sollte. 132 Daher sind Haushaltsgesetz und Kreditermächtigung keine materiellen Gesetze. 133 § 78 Absatz 1 GeschOBT.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Wirkungsmöglichkeiten des Parlaments an, die sich bei der Steuergesetzgebung von selbst ergeben. Artikel 110 GG begründet folglich keinen generellenfinanzrechtlichen Parlamentsvorbehalt.134 Die besondere Einnahmewirkung des Steuerrechts ist lediglich eines von mehreren Kriterien zur Ermittlung des „Wesentlichen", das aber in der Praxis keine große Bedeutung hat, da alle Regelungen mit erheblichem fiskalischem Effekt zugleich den Grundrechten Schranken setzen und schon aus diesem Grunde dem formellen Gesetz anvertraut sind. Keinen eigenen Grundrechtseingriff enthalten die in das Steuergesetz integrierten Verschonungssubventionen. Als Leistungssubventionen unterlägen sie nicht dem Parlamentsvorbehalt, wären aber im gesetzlich festgestellten Haushaltsplan anzusetzen. Die gleiche Funktion übernimmt der auf die „negativen" Eingriffsvoraussetzungen erstreckte Eingriffsvorbehalt. 135 Da das Haushaltsgesetz die Exekutive nur ermächtigt, aber nicht verpflichtet, genügt aus demokratischer Perspektive ebenfalls eine gesetzliche Ermächtigung an die Finanzverwaltung, in deren Ermessen die Subventionsvergabe gestellt werden darf.

2. Bundesstaatsprinzip Papier 136 stützt seinen zwingenden Parlamentsvorbehalt des weiteren auf die föderalistische Struktur des Grundgesetzes. Der Bund könne vermöge seines Steuergesetzgebungsrechts über die Gesamtsteuerhöhe und damit in gewissem Grade über die Volumina aller öffentlichen Haushalte zentral entscheiden. Gerade auch diese Möglichkeit, auf fremde Budgets einzuwirken, verleihe der Steuergesetzgebung , jene eminent politische Bedeutung", die eine zwingende Einschaltung der Volksvertretung verlange.137

134

Ebenso Osterloh, Gesetzesbindung, S. 160 f. Die Steuersubvention im Gesetz zu verankern, bringt dem Parlament kaum Zuwächse an realer Gestaltungsmacht, da die Einnahmekürzung nicht jährlich zu bestätigen ist, sondern nur durch eine - gegen den Widerstand der Begünstigten durchzusetzende - Gesetzesänderung aufgehoben werden kann. Nachhaltig gesteigert wäre die Handlungsfreiheit des Parlaments, wenn man die dauerhaften Steuerprivilegien durch eine periodisch zu erneuernde Leistungsbewilligung ersetzte, die zudem größere Transparenz vermitteln würde. Vgl. Kirchhof, Paul, StuW 1975, S. 357 (364 f.). 136 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 106 f. 137 Gegen eine überhöhte Gesetzesdichte und fur eine arbeitsteilige Verantwortung von Legislative und Exekutive auch aus bundesstaatlichen Gründen Kirchhof Paul, StuW 1975, S. 357 (365 f.). 135

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Dem ist nicht zuzustimmen. Das Bundesstaatsprinzip kann ebensowenig einen zwingendförmlichen Gesetzesvorbehalt begründen wie das Demokratieprinzip. Die Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland138 weist einerseits mit ihrer Gestaltung von Gesetzgebungskompetenz, Steueraufkommen und Zuständigkeit zur Ausführung der Steuergesetze starkeföderalistische, die autonome Haushaltswirtschaft der Länder (Artikel 109 Absatz 1 GG) als Aus139

druck ihrer Staatlichkeit schützende Strukturen auf. Andererseits ist sie auch geprägt von der eine weitgehende Zentralisierung befürwortenden Pflicht zur grundsätzlichen Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet sowie zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit. 140 Der Bund hat nach Artikel 105 Absatz 2 GG die Kompetenz zur konkurrierenden Gesetzgebung, wenn ihm das Aufkommen einer Steuer ganz oder zum Teil zusteht. Für die Einkommensteuer bedeutet dies wegen der hälftigen Aufteilung des Steueraufkommens auf den Bund und die Länder (Artikel 106 Absatz 3 Satz 2 GG) nach Abzug eines gesetzlich141 bestimmten Vorweganteils der Gemeinden (Artikel 106 Absatz 5 GG), daß der Bundesgesetzgeber durch die Gestaltung des Einkommensteuergesetzes auf die Einnahmesituation142 von Ländern und Gemeinden einwirken kann. Die Regierungen der Bundesländer sind über den Bundesrat an der Gesetzgebung beteiligt, der zur Wahrnehmung ihrer eigenen Anliegen dem Einkommensteuergesetz (Artikel 105 Absatz 3 GG) sowie interessewahrend für die Kommunen dem Bundes138

Siehe Tipke / Lang, S. 44 ff.; Vogel, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band IV, § 87. BVerfGE 72, 330 (383) (Finanzausgleich) betont die angemessene Finanzausstattung von Bund und Ländern als Bedingung eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung: „... erst dadurch kann die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werden". Ähnlich BVerfGE 32,333 (338); E 55,274 (300). 140 Zu den bundesstaatlichen Aspekten der Finanzverfassung Kirchhof Ferdinand, WDStRL 1992 (52), S. 71 (81 ff.), der die Pflicht zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse über ihre vereinzelte Erwähnung im Verfassungstext hinaus als einen das gesamte Finanzgeschehen bestimmenden ungeschriebenen Verfassungssatz ansieht (S. 83). Indiz für dessen besondere Bedeutung im Steuerrecht ist Artikel 105 Absatz 2 2. Alternative GG, der die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes allein bei Vorliegen der Voraussetzungen von Artikel 72 Absatz 2 GG begründet, ohne sie wie bei der allgemeinen Gesetzgebungskompetenz von einem Zuständigkeitskatalog (Artikel 74 GG) abhängig zu machen. 141 Die Gemeinden erhalten derzeit nach § 1 Gemeindefinanzreformgesetz 15 % des Aufkommens an Lohnsteuer und veranlagter Einkommensteuer sowie 12 % des Ertrags aus dem Zinsabschlag. 142 Die Finanzausstattung der Länder wird maßgeblich geprägt durch ihren Teil des Aufkommens von Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer (Artikel 106 Absatz 3 GG). Die Gemeinden finanzieren sich in erster Linie durch ihren Anteil an der Einkommensteuer (Artikel 106 Absatz 5 GG) sowie durch Realsteuem (Artikel 106 Absatz 6 GG). Seit dem 1.1.1998 erhalten sie nach § 1 Absatz 1 Finanzausgleichsgesetz zusätzlich 2,2 % des Umsatzsteueraufkommens. 139

19 Seiler

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

gesetz, das den Gemeindeanteil regelt (Artikel 106 Absatz 5 Satz 2 GG), zustimmen muß. Die Verwaltungskompetenz zur Erhebung der Einkommensteuer überläßt Artikel 108 Absätze 2 und 3 GG den Landesfinanzbehörden, die im Auftrag des Bundes tätig werden. Der Bundesgesetzgeber kann hierzu mit Zustimmung des Bundesrates die Behördenorganisation 143 und das Verwaltungsverfahren 144 regeln. Der Bund kann die Länderverwaltung durch Weisungen des Bundesministers der Finanzen145 sowie durch zustimmungspflichtige allgemeine Verwaltungsvorschriften 146 anleiten. Dieses Kompetenzgefüge siedelt die stärksten Befugnisse beim Bund an und räumt innerhalb der Bundeszuständigkeiten dem Gesetzgeber die zentrale Stellung ein. Auf Länderebene dominiert die Exekutive, die als Landesregierung im Bundesrat an der Bundesgesetzgebung, als Landesfinanzverwaltung an der Ausführung der Gesetze beteiligt ist. Der Bundesgesetzgeber trägt somit die vorrangige Verantwortung für die Finanzen aller Staatsglieder147, was aber nicht bedeutet, daß Bundesgesetze, die Ländereinnahmen begründen, eine möglichst hohe Regelungsdichte erreichen müssen, da diese allein nicht zwingend höhere Einnahmen der übrigen Steuergläubiger garantiert. Eine vergleichsweise „offene" Gesetzesformulierung, die der Exekutive umfassende Gestaltungsmöglichkeiten beläßt, kann die Steuereinnahmen sowohl erhöhen als auch senken, das Bundesstaatsprinzip also die Verantwortung des formellen Gesetzgebers nicht eindeutig erweitern oder beschränken. Auch wirken sich verschiedene Bestandteile des Steuergesetzes unterschiedlich auf die Höhe des Steueraufkommens aus. Ein zwingend förmlicher Parlamentsvorbehalt für das gesamte Steuerrecht würde aber auch solche Fragen erfassen, die ohne besondere Folgen für die Finanzausstattung des Staates bleiben. So hat jede Veränderung des Steuertarifs erheblichen Einfluß auf die Finanzlage der Steuergläubiger. Die ergänzende Konkretisierung des Gesetzes kann hingegen zwar nennenswerte Belastungen für einzelne Steuerpflichtige mit sich bringen, aber dennoch unwesentlich für die Gesamtsumme der Steuereinnahmen sein. Da außerdem jede einnahmewirksame steuerrechtliche Maßnahme bereits als grundrechtserhebliche Frage gesetzlich zu regeln ist, könnte ein bundesstaatlich begründeter Parlamentsvorbehalt die Anforderungen an die Gesetzesdichte kaum verschieben. Der aus dem Bundesstaatsprinzip abgeleitete Schutz anderer öffentlicher Haushalte könnte mit der gleichen Berechtigung auch gegen einen erweiterten 143

Artikel 108 Absatz 2 Satz 2 GG; Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Artikel 108 Absatz 5 Satz 2 GG; es gilt vor allem die Abgabenordnung (AO). 145 Artikel 108 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 85 Absätze 3 und 4 GG. 146 Artikel 108 Absatz 7 GG. 147 Kirchhof, Ferdinand, VVDStRL 1992 (52), S. 71 (82), spricht von „normativer Letztverantwortung des Bundes". 144

II. Steuerrecht und Staatsganzes

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Parlamentsvorbehalt vorgetragen werden. Eine gestärkte Bundesgesetzgebung müßte in erster Linie die Länderexekutiven schwächen, mithin die Einwirkung des Bundes auf andere Haushalte ausweiten und die eigenverantwortliche Einnahmegestaltung der für diese zuständigen Stellen einschränken, die vermehrt bundesgesetzliche Vorgaben auszuführen hätten. Letztlich dürfen diese Verschiebungen aber nicht überbewertet werden, da sie auf die finanzverfassungsrechtliche Grundentscheidung zurückzuführen sind, die gemeinschaftliche Einnahmequelle der Einkommensteuer unter gemeinsamer Mitwirkung von Bundes- und Landesorganen festzulegen. Jede Verlagerung der Kompetenzen in die eine oder andere Richtung hätte zwangsläufig stets die Folge, auf den jeweils anderen Haushalt einwirken zu können. So wie eine größere Gesetzesdichte den Bund zu Lasten der Länder entscheiden ließe, hätte eine „offenere" Gesetzesfassung eine Einflußnahme der Länder auf den Bundeshaushalt zur Konsequenz. Folgerungen für die gebotene Regelungsdichte des Einkommensteuergesetzes lassen sich dem nur schwerlich entnehmen. Weiterhin mag die Existenz eines Weisungsrechts des Bundesministers der Finanzen an die Länderfinanzverwaltung als Indiz für eine eigene Sachentscheidungsbefugnis der Exekutive und damit gegen eine zwingende Unterwerfung aller Einzelfragen unter den Parlamentsvorbehalt dienen, da dieses Recht ansonsten wirkungslos bliebe. Schließlich kennt die Finanzverfassung zahlreiche Beispiele für bundesgesetzlich zu treffende Regelungen, welche die Länder rechtsverbindlich verpflichten oder in anderer Weise auf ihre Haushalte einwirken, ohne daß das Grundgesetz über ein bloßes Zustimmungserfordernis hinaus weitere Schutzinstrumente wie beispielsweise einen zwingend formlichen Gesetzesvorbehalt anordnet.148 Bei diesenfinanzverfassungsrechtlichen Regelungen geht typischerweise eine „weitreichende Gesetzgebungskompetenz des Bundes" „Hand in Hand mit einem ausgedehnten Zustimmungsrecht des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren". 4 9 Das Grundgesetz beurteilt die Mitwirkungsbefugnisse der Länder in allen diesen Fällen gleich, betrachtet das Zustimmungserfordernis als die verfassungsrechtlich vorgesehene Regel für die bundesstaatliche Zusammenarbeit in Fällen mit finanziellen Folgen für Bund und Länder und sieht den so gewährleisteten Schutz als angemessen und ausreichend an, 148

Beispiele finden sich in Artikel 104a Absatz 3 Satz 3 und Absatz 4 Satz 2 GG, Artikel 105 Absatz 3 GG, Artikel 106 Absatz 3 Satz 3, Absatz 4 Satz 2, Absatz 5 Satz 2, Absatz 5a Satz 3 und Absatz 6 Satz 5 GG, Artikel 107 Absatz 1 Sätze 2 - 4, Absatz 2 GG Artikel 108 Absatz 2 Satz 2, Absatz 4 Satz 1, Absatz 5 Satz 2 GG sowie Artikel 109 Absätze 3 und 4 GG. 149 BVerfGE 55, 274 (300 f.); der strikten Beachtung der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeiten von Bund und Ländern komme eine „überragende Bedeutung für die Stabilität der bundesstaatlichen Verfassung" zu.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

ohne darüber hinaus einen zwingenden Parlamentsvorbehalt gerade aus bundesstaatlichen Gründen zu fordern. Gleiches gilt für die Mitwirkung der Länder im Einkommensteuerrecht, die, abgesehen von der Ausführung des Gesetzes, stets und nur durch Zustimmung des Bundesrates beteiligt werden, sei es zur Verabschiedung des Einkommensteuergesetzes (Artikel 105 Absatz 3 GG), zum Erlaß von Rechtsverordnungen (Artikel 80 Absatz 2 GG) oder von allgemeinen Verwaltungsvorschriften (Artikel 108 Absatz 7 GG). Im übrigen machen die der Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterliegenden Gemeinschaftssteuern zwar den größten Teil der Ländereinnahmen aus. Daneben werden die Länderfinanzen jedoch auch durch die Erträge aus den Landessteuern (Artikel 106 Absatz 2 GG) sowie durch den Finanzausgleich nach Artikel 107 GG 1 5 0 mitbestimmt, auf die ein bundesstaatlicher Gesetzesvorbehalt keinerlei Einfluß hätte.

III. Das Steuerverwaltungsverfahren Artikel 20 Absatz 3 GG bindet die Finanzverwaltung an Gesetz und Recht. Es gilt das staatliche Ertragsanliegen und Schutz der Individualsphäre miteinander verbindende Leealitätsprinzip, das seine einfachgesetzliche Ausprägung in § 85 AO findet 1 1 und die Behörden verpflichtet, die gesetzlich geschuldete Steuer festzusetzen und zu erheben.152 Dieser hohe rechtsstaatliche Anspruch ist verfahrensrechtlich abzusichern.153

150 Nach Artikel 107 Absatz 1 Satz 4 GG kann ein zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz einen Ausgleich unterdurchschnittlicher Steuererträge einzelner Bundesländer von bis zu einem Viertel des Länderanteils am Umsatzsteueraufkommen vorsehen (Ergänzungsanteil). Danach erfolgt ebenfalls durch zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz ein horizontaler Finanzausgleich (Artikel 107 Absatz 2 GG) unter den Ländern zur Unterstützung finanzschwacher Bundesländer, der durch Ergänzungszuweisungen des Bundes (Satz 3) vervollständigt werden kann. Schließlich kennt das Grundgesetz mit den Gemeinschaftsaufgaben nach Artikel 91a und 91b GG und den Finanzhilfen des Bundes nach Artikel 104a Absatz 4 GG noch andere Instrumente, um den Ländern die Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu erleichtem. 151 Das Gesetz ist irreführend formuliert. § 86 Satz 1 AO ordnet das Opportunitätsprinzip an, nach dem es im Ermessen der Behörde steht, ein Verwaltungsverfahren einzuleiten. Dies gilt aber nicht für das Steuerrecht, in dem die Verwaltung nach Satz 2 von Amts wegen tätig werden muß; vgl. Tipke, in: Tipke / Kruse, Band 1, § 86, RN 1. 152 Deswegen sind die gesetzliche Steuerpflicht modifizierende Steuervereinbarungen zwischen Finanzamt und Steuerpflichtigem unzulässig. Vgl. Tipke / Lang, S. 109. 153 Vgl. Puhl, DStR 1991, S. 1141 ff. sowie S. 1173 ff.

III. Das Steuerverwaltungsverfahren

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Verstärkt wird dies durch Artikel 3 GG, der fordert, die Steuerpflichtigen nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich gleich zu belasten, was ohne ein taugliches Verfahrensrecht nicht gelingen kann. Deutlichster Ausdruck dieses egalitären Anliegens der Verfassung ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zinsbesteuerung154, nach dem ein materielles Steuergesetz gleichheitswidrig sein kann, falls die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens bewirkt, daß die gebotene Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell verfehlt wird. Das Steuergesetz müsse „in ein normatives Umfeld eingebettet sein".155 Legalitätsprinzip und Gleichheitssatz unterwerfen die Voraussetzungen der Durchsetzung des gesetzlichen Steueranspruchs dem Parlamentsvorbehalt. Zwar besteht kein genereller Gesetzesvorbehalt des Verwaltungsverfahrensrechts 156, jedoch verlangt vor allem das gleichheitsrechtliche Gebot der Steuergerechtigkeit, die wichtigsten Folgefragen des Steuerrechts gesetzlich zu entscheiden157, zu denen auch die Absicherung der Durchführung der Besteuerung gehört. Das Gesetz muß der Exekutive ausreichende Handlungsinstrumente und Eingriffsbefugnisse zur Verfügung stellen, um den Sachverhalt feststellen und die Steuer erheben zu können. Dies bedingt allerdings keine umfassende Regelungspflicht, sondern beschränkt sich auf die für den Gesetzesvollzug bedeutsamen oder ihrerseits grundrechtserheblichen Fragen des Verfahrensrechts. 158 Hierbei wird das Maß der gebotenen Gesetzesdichte angesichts der üblicherweise schwächeren Bedeutung des Verfahrensrechts für die Grundrechte regelmäßig nicht jenes des materiellen Steuerrechts erreichen. Dem rechtsstaatlichen Auftrag, Steuern gesetz- und gleichmäßig zu erheben, hat der Gesetzgeber unter anderem durch den Untersuchungsgrundsatz des § 88 AO Rechnung getragen, der den Finanzbehörden auferlegt, den steuerrechtlich erheblichen Lebenssachverhalt von Amts wegen festzustellen. 159 Die Behörde hat nach § 88 Absatz 2 AO alle für den konkreten Fall vom materiellen Steuergesetz für maßgeblich erklärten Umstände zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob sie die Steuerlast erhöhen oder vermindern. Dem Steuerpflichtigen obliegt eine allgemeine Mitwirkungspflicht (§ 90 AO), die durch einzelne spezielle Mitwirkungspflichten ergänzt wird, zum Beispiel zur Ab-

154

BVerfGE 84, 239 (268 ff.) (Zinsbesteuerung). BVerfGE 84, 239 (271). 156 Oben § 2 IV. 2.)b) und § 2IV. 3.). 157 Siehe oben § 2 III. 3.)d) zum einfachgesetzlich begründeten Folgevorbehalt. 158 Zum Beispiel müssen die Formulare für die Steuererklärung nicht vom Gesetzgeber gestaltet werden, die Erklärungspflicht selbst kann hingegen nur gesetzlich angeordnet werden. 159 Vgl. Puhl DStR 1991, S. 1141 (1142 f.). 155

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

gäbe von Erklärungen und Auskünften oder zum Nachweis bestimmter Tatsachen, wobei stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist. 1 6 0 Auch wenn die Finanzbehörde verpflichtet ist, den gesamten im konkreten Fall rechtlich erheblichen Sachverhalt festzustellen, legt § 88 Absatz 1 Satz 2 AO Art und Umfang der gebotenen Ermittlungen dennoch in ihr Ermessen.161 Gleiches gilt nach § 92 AO fur die Auswahl der einzusetzenden Beweismittel. Fehlen Hinweise auf einen weiteren Ermittlungsbedarf, ist die Behörde nicht gehalten, umfassendere Untersuchungen vorzunehmen, wobei auch verwaltungsökonomische Gründe 162 bei der Entscheidung, wie intensiv der einzelne Steuerfall geprüft werden soll, eine Rolle spielen können und müssen. 163 Maßgebliche Ermessensgrenzen sind das steuerliche Legalitätsprinzip sowie der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die verhindern sollen, daß die gebotene Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell verfehlt wird.

160 Da der maßgebliche Lebenssachverhalt oft nur unter erschwerten Bedingungen zu ermitteln ist, werden mittlerweile sogenannte tatsächliche Verständigungen anerkannt, deren Rechtsnatur noch strittig ist. Näheres bei Tipke / Lang, S. 796 ff. 161 Puhl, DStR 1991, S. 1141 (1145). 162 Der gesetzliche Vollzugsauftrag ist in der Praxis heute kaum noch zu bewältigen. Die obersten Finanzbehörden der Länder haben dem Rechnung getragen und die Arbeitsweise in den Veranlagungsstellen in gleichlautenden Erlassen vom 19.11.1996 (BStBl. 1 1996, S. 1391) wie folgt geregelt: 1. Bei der Bearbeitung der Steuerfälle muß auf das Wesentliche abgestellt werden. Der Aufwand bei der Bearbeitung eines Falles richtet sich nach dessen steuerlicher Bedeutung. 2. Steuerfälle sind intensiv zu bearbeiten, soweit - dies generell oder im Einzelfall angeordnet wird, - sie maschinell hierzu ausgewählt werden oder - sich Zweifelsfragen von erheblicher steuerlicher Bedeutung ergeben. Darüber hinaus hat der Bearbeiter Steuerfälle im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens intensiv zu bearbeiten, soweit er dazu einen Anlaß sieht.... 3. In den übrigen Fällen soll den Angaben der Steuerpflichtigen gefolgt werden, soweit sie schlüssig und glaubhaft sind.... Das Bundesverfassungsgericht sah die durch diese Erlasse abgelöste ähnliche Vorgängerregelung (Grundsätze zur Neuordnung der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens - GNOFÄ) in einem Dreierbeschluß vom 29.9.1978, BStBl. II 1978, S. 616, als innerdienstliche Maßnahme an, durch die keine Rechte des einzelnen berührt würden. Sie halte sich „im übrigen" im Rahmen des den Finanzbehörden nach § 88 AO eingeräumten Ermessens. 163 Puhl, DStR 1991, S. 1141 (1145).

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen

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IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen im Wege der Rechtsanwendung 7. Die Auslegung des Gesetzes im Einkommensteuerrecht Der Gesetzesinhalt muß nicht ausdrücklich, sondern nur auslegungsfähig niedergelegt werden. Die zu fordernde Regelungsdichte wird daher mitbestimmt durch die Möglichkeit, die Rechtslage einzelfallbezogen zu verdeutlichen.164 Das Einkommensteuerrecht liefert mit seiner Grundentscheidung für die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einen Strukturgedanken, der eine am Normzweck 165 ausgerichtete Gesetzesauslegung ermöglicht. Als Konsequenz dessen hat der Gesetzgeber den Tatbestand des Einkommensteuergesetzes so zu formulieren, daß der einzelne Steuerpflichtige nach Maßgabe seiner persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse besteuert wird. Der jeweilige Rechtsanwender muß diese Regel zum Leitprinzip seiner Einzelfallentscheidung machen. Der Gesetzgeber hat diese Aufgabe gelöst, indem er sich bei der Wahl der Gesetzesbegriffe weitgehend von den Vorgaben anderer Rechtsmaterien, insbesondere des Zivilrechts, entfernt und eine auf den jeweiligen wirtschaftlichen Erfolg abstellende steuerrechtliche Betrachtungsweise bei der Ermittlung des Sinngehaltes des Einkommensteuerrechts angeordnet hat. Ein solches Vorgehen ist notwendig, da vor allem das vom Grundsatz der Privatautonomie und der weitgehenden Abdingbarkeit vieler Vorschriften beherrschte bürgerliche Recht zahlreiche Möglichkeiten der unterschiedlichen Gestaltung wirtschaftlich vergleichbarer Konstellationen bereithält, das Steuerrecht als besonderes Verwaltungsrecht aber grundsätzlich eine Gleichbehandlung bei gleicher individueller Leistungsfähigkeit gebietet. Die steuerrechtliche Betrachtungsweise ist inhaltsgleich mit der sogenannten „wirtschaftlichen Betrachtungsweise"166, die andere Bezeichnung wird jedoch gewählt, um zu verdeutlichen, daß die Auslegung sich nach einem rechtlichen 6 7 Prinzip zu 164

Siehe § 2 IV. 4.)a); Tipke / Lang,, S. 145, weisen daraufhin, daß der BFH sich bei der Auslegung des EStG „besonders oft" auf die Methodenlehre von Larenz stütze. Diese liegt im wesentlichen auch dem hier vertretenen Ansatz zugrunde. 165 Als Zweck der Steuerauflage darf nicht allein die Einnahmeerzielung verstanden werden, da dies auf einen Grundsatz „in dubio pro fìsco" hinausliefe, ansonsten aber keine weiteren Aussagen zur Auslegung der Steuergesetze vermittelte. Es ist vielmehr nach einer gerechten, das heißt vor allem gleichheitskonformen Belastung zu suchen. 166 Zur „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" als Instrument der teleologischen Auslegung Tipke / Lang, S. 155 ff.; kritisch Crezelius, S. 195 ff. 167 Kirchhof,; Paul, in: Kirchhof I Söhn, EStG, Band 1, §2, RNA 222: steuerjuristische Betrachtungsweise.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

richten hat, das einen ökonomischen Maßstab bei der Begriffsbildung anlegt, indem es einen wirtschaftlichen Vorgang als Belastungsgrund aufnimmt. 168 Begründer der „wirtschaftlichen", das heißt steuerrechtlichen Auslegungsmethode als Spezialfall der teleologischen Auslegung war Enno Becker, der Schöpfer der Reichsabgabenordnung von 1919. Kerngedanke seiner in § 4 RAO 169 verankerten Konzeption war es, im Wege der Auslegung sicherzustellen, daß wirtschaftlich gleiche Vorgänge unabhängig von ihrer äußeren Form der gleichen Besteuerung unterliegen.170 Die 1977 eingeführte Neufassung der Abgabenordnung hat diesen Auslegungsgrundsatz zwar nicht ausdrücklich wiederholt, legt ihn jedoch stillschweigend zugrunde 171, was sich vor allem in §§ 39 Absatz 2, 40, 41 und 42 AO zeigt, die als gesetzliche Ausprägungen dieses allgemeinen Prinzips verstanden werden. 172 Der Grundsatz der steuerrechtlichen Auslegung nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stellt sich somit als Folgeentscheidung des Gesetzgebers dar, der seiner aus Artikel 3 GG abgeleiteten Verpflichtung nachgekommen ist, eine einmal gewählte Belastungsentscheidung zur Wahrung tatsächlicher Gleichheit folgerichtig auszugestalten. Steuerrechtliche Tatbestände sind demzufolge entsprechend ihrer wirtschaftlichen Bedeutung abgefaßt und auszulegen, was sich auf die Begriffsfindung auswirkt. Dies gilt in erster Linie für die im Steuerrecht häufigen Typusbegriffe 173, die keinen abstrakt bestimmbaren, einer abschließenden Definition zugänglichen Bedeutungsgehalt aufweisen, sondern durch ein aus einer Gesamtschau ihrer Eigenschaften zu ermittelndes Erscheinungsbild gekennzeichnet sind. Mangels einer festen Grenze und wegen ihrer fließenden Übergänge ist bei Typusbegriffen keine Subsumtion im üblichen Sinne möglich, die 168

Deshalb kann die Kritik von Crezelius, S. 195 ff, die „wirtschaftliche Betrachtungsweise" erlaube „Entscheidungen gegen den Gesetzeswortlaut" (S. 201) und verletze den „Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit" nicht verfangen. Sie beruht auf dem verfehlten Vorverständnis, das Gesetz sei bei gleichlautenden Begriffen in Privat- und Steuerrecht allein zivilrechtlich zu verstehen. 169 Ab 1934 galt der inhaltsgleiche § 1 Absatz 2 Steueranpassungsgesetz. 170 Grundlegend Becker, Reichsabgabenordnung, S. 20 ff.; vgl. auch Riewald, in: Becker / Riewald! Koch, Reichsabgabenordnung, Band 1, S. 571 sowie speziell zum Einkommensteuerrecht Becker, Die Grundlagen der Einkommensteuer, S. 274 ff. 171 Die Begründung zum Gesetzesentwurf zur AO 1977 sah eine § 4 RAO entsprechende Kodifikation als entbehrlich an, da es sich um „allgemein geltende Auslegungsregeln" handele. Die „wirtschaftliche Betrachtungsweise" habe weiterhin „dort ihren Platz, wo ein Steuergesetz zwar bestimmte rechtliche Sachverhalte nenne, dabei aber nicht deren spezielle rechtstechnische Einkleidung, sondern ihre rechtliche Wirkung meine" (BT-Drucks. 7/ 4292, S. 15 f.). m Tipke/Lang, S. 161 ff. 173 Zum Typusbegriff Larenz, S. 461 ff.

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen

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Bildung eines Typus und die jeweilige Zuordnung eines Sachverhaltes zu ihm enthalten sowohl normative als auch empirische Elemente.174 Aber auch soweit das Steuergesetz fest umrissene Begriffe verwendet, sind diese regelmäßig im Lichte der durch sie zum Ausdruck gekommenen wirtschaftlichen Verhältnisse auszulegen. Aufmerksamkeit verdienen diejenigen Bezeichnungen, die zugleich in anderen Rechtsgebieten, insbesondere im das Wirtschaftsleben beherrschenden Zivilrecht, gebraucht werden und diesen häufig entlehnt sind. Hier bedarf es stets der Auslegung, ob der Gesetzgeber diese Terminologie im Sinne des ihr in der anderen Rechtsmaterie zukommenden Bedeutungsgehaltes benutzt175 oder ob er, was in zahlreichen Fällen anzunehmen sein wird 176 , nur vergleichbare wirtschaftliche Verhältnisse umschreiben wollte. So versteht das Einkommensteuergesetz die „Ehe" 177 wegen Artikel 6 GG zwingend im Sinne des bürgerlichen Rechts, eine gemeinsame Haushaltsführung nichtehelicher Lebenspartner darf trotz gleicher wirtschaftlicher Verhältnisse nicht gleich behandelt werden. Hingegen umfaßt die „Vermietung" im Sinne von § 21 EStG178 nach dem Willen des Steuergesetzes nicht nur Rechtsverhältnisse nach §§ 535 ff. BGB, sondern auch andere wirtschaftlich gleichwertige Formen der befristeten Überlassung von Sachvermögen wie zum Beispiel den entgeltlichen Nießbrauch. Das Steuerrecht lehnt in solchen Fällen seine Begriffsbildung an die privatrechtliche Terminologie an, da Ansatzpunkt der steuerlichen Belastung die zivilrechtlich geprägte Wirklichkeit des Wirtschaftslebens ist. Aus diesem Grunde bildet das bürgerlich-rechtliche Verständnis den Leitgedanken des steuerrechtlich Gewollten, die privatrechtliche Beurteilung eines Sachverhaltes liefert ein Indiz für das Vorliegen des jeweiligen Tatbestandsmerkmales. Daneben setzt der zivilrechtliche Begriffsinhalt Maßstäbe für die teleologische Auslegung des Steuergesetzes, weil alle wirtschaftlich vergleichbaren Lebenssachverhalte steuerrechtlich grundsätzlich gleich zu behandeln sind, ohne daß daraus eine Vermutung für ein privatrechtliches Begriffsverständnis abzuleiten wäre, da die zivilrechtliche Gestaltung

174

Typusbegriffe schaffen allerdings nur geringere Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber sollte sie durch abstrakte Begriffe ersetzen, sofern die Lastengleichheit gesichert bleibt. 175 Soweit ein solcher Gesetzeswillen anzunehmen ist, entspricht dies dem vom BFH wiederholt betonten „Primat des bürgerlichen Rechts vor dem Steuerrecht"; vgl. nur BFH BStBl. III 1967, S. 781 (782) = BFHE 90, 122 (125) mit weiteren Fundstellen. 176 Bereits Becker, Reichsabgabenordnung, S. 26 f., hielt das bürgerliche Recht nur „selten" für maßgebend. „In der Regel fußt das Steuerrecht auf wirtschaftlichen Begriffen." 177 Etwa bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten nach §§ 26,26b EStG. 178 Zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Tipke / Lang, S. 418 ff.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

der steuerrechtlichen Betrachtung nur zeitlich vorhergehend, nicht logisch 179

vorrangig ist. 1 ΟΛ

Dies widerspricht nicht der „Einheit der Rechtsordnung". Zahlreiche Rechtsmaterien gebrauchen bestimmte Begriffe unabhängig von deren wortgleicher Verwendung in anderen Rechtsgebieten nach Maßgabe ihres eigenen Gesetzeszwecks. Jene „Relativität der Rechtsbegriffe" 181 gestattet, denselben Sachverhalt in verschiedenen Rechtsgebieten aus unterschiedlicher Perspektive zu betrachten und nach je eigenen Wertungen einzuordnen. Der Begriff des „Gewerbes" des Handelsrechts entspricht nicht dem der Gewerbeordnung oder gar der „gewerbsmäßigen" Begehung von Straftaten. Folglich kann auch das Steuerrecht nicht gehindert sein, den „Gewerbebetrieb" im Sinne von § 15 182 EStG nach eigenen Grundsätzen zu definieren. Im übrigen würde die Funktion des Gesetzesvorbehaltes nicht zwingend besser erfüllt, falls das Steuerrecht an Begrifflichkeiten anderer Gesetze gebunden wäre. Dem juristisch nicht vorgebildeten Laien kann es sogar leichter fallen, eine steuerrechtliche, aber wirtschaftlich ausgerichtete Betrachtung an179

Die steuerrechtliche, wirtschaftlich angeleitete Betrachtungsweise verbietet keineswegs jede steuersparende zivilrechtliche Gestaltung, solange sie Ausdruck eines anderen wirtschaftlichen Sachverhaltes ist. Verfehlt ist das berühmte Pfennig-Urteil in RFHE 38, 44 (47 f.), das eine wegen einer steuerrechtlichen Betragsgrenze von RM 500,- bewußt niedriger angesetzte Gehaltszahlung von RM 499,99 unter Berufung auf die wirtschaftliche Bedeutung des Vorganges so behandelte, als wäre die Grenze überschritten. Hier war es der erklärte Wille des Gesetzes, das Maß der steuerrechtlich erheblichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu beziffern. Da dieses nicht erreicht wurde, widersprach die Entscheidung dem eindeutigen Gesetzesinhalt. 180 Anders Crezelius, S. 209, der eine „aus dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung abgeleitete Maßgeblichkeit der zivilrechtlichen Gestaltung für das Steuerrecht" befürwortet. 181 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 78. 182 Das Bundesverfassungsgericht hat die hier „steuerrechtlich" genannte „wirtschaftliche Betrachtungsweise" als verfassungsgemäß vorausgesetzt in BVerfGE 13, 153 (161 ff.) (Kapitalverkehrsteuer); E 13, 318 (328 f.) (Ehegatten-Arbeitsverträge); E 18, 224 (233 f.) (Pensionszusagen); E 25, 28 (35) (Betriebsaufspaltung); E 30, 59 (63) (Bewertungsgesetz). Dem widerspricht es nicht, daß BVerfGE 13, 331 (339 ff.) verlangt, eine Abweichung vom Zivilrecht zu rechtfertigen. Das Gericht betont, der Steuergesetzgeber sei nicht verpflichtet, „durchgängig an die bürgerlich-rechtliche Ordnung anzuknüpfen". Eine besondere Verbindung von Privat- und Steuerrecht bestehe aber, wenn das Steuerrecht nicht nur an die zivilrechtliche Ordnung der Lebensverhältnisse anknüpft, sondern „den Steuergegenstand prinzipiell nach Rechtsformen des bürgerlichen Rechts bestimmt" (Hervorhebung vom Verfasser). Nur in diesem Sinne sind auch BVerfGE 24, 112 (117 f.); E 24, 174 (180) zu verstehen. Gefragt werden muß daher, ob das Gesetz allein auf die zivilrechtliche Bedeutung eines Begriffs abstellt oder sich bei der Auswahl der Tatbestände auch an wirtschaftlichen Überlegungen ausrichtet. Siehe auch BVerfG BStBl. II 1992, S. 212 (213f.) (Grunderwerbsteuer).

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen

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zustellen als den zivilrechtlichen Bedeutungsgehalt eines Tatbestandsmerkmales zu ermitteln, da erstere vor allem eine vom Maßstab der individuellen Leistungsfähigkeit ausgehende Parallelwertung erfordert. Diese kann aber in vielen Fällen durchaus eher vorhersehbar sein als die rechtliche Einordnung einer komplizierten zivilrechtlichen Gestaltung und es dem Bürger so erlauben, sich auf den ihm drohenden Grundrechtseingriff einzustellen. Ein Beispiel fur die steuerrechtliche Betrachtungsweise bietet die Auslegung des Typusbegriffs des „Mitunternehmers" 183 nach § 15 Absatz 1 Nr.2 EStG. Gefragt sei exemplarisch, ob ein minderjähriges Kind, dem seine Eltern zivilrechtlich wirksam eine Kommanditistenstellung im elterlichen Gewerbebetrieb unter Ausschluß aller Mitwirkungsbefugnisse einräumen, steuerrechtlich als „Mitunternehmer" anzuerkennen ist, was die günstige Folge der Ausnutzung der Steuerprogression für die dem Kind zustehenden Gewinnanteile hätte, oder ob es sich bei der Gewinnzuweisung an das Kind steuerrechtlich um Unterhaltszahlungen handelt, die als Einkommensverwendung der Eltern steuerlich neutral blieben.184 Das Tatbestandsmerkmal des „Mitunternehmers" ist kein zivil-, insbesondere kein gesellschaftsrechtlicher Ausdruck, sondern ist steuerrechtlich zu verstehen. Dieser „offene" Typusbegriff übernimmt die Funktion, verschiedenartige zivilrechtliche Konstellationen zu erfassen, die häufig ohne wirtschaftlich abweichende Bedeutung allein im Hinblick auf gewünschte Steuervermeidungen gewählt werden. Er ist nach Maßgabe seiner wirtschaftlichen Bedeutung auszufüllen, lehnt sich aber an das durch das HGB gebildete gesetzliche Leitbild des Gesellschafters einer offenen Handelsgesellschaft oder Kommanditgesellschaft an und berücksichtigt deren Regelstatut als Auslegungskriterium. Typisches Merkmal des Gesellschafters einer Personenhandelsgesellschaft sind seine Unternehmerinitiative, auf Grund derer er zumindest gewisse Kontrollrechte vorweisen können muß, die ihm ein Mindestmaß an Einflußnahme auf die Geschäftspolitik wahren, sowie sein Unternehmerrisiko, das eine Beteiligung an Gewinn und Verlust sowie an den stillen Reserven der Gesellschaft voraussetzt.185 Als Konsequenz dessen kann auch eine zivilrechtlich wirksame Kommanditistenstellung steuerrechtlich unberücksichtigt bleiben, wenn sie dem Gesellschafter keine dem gesellschaftsrechtlichen Leitbild entsprechende wirtschaftliche und rechtliche Position einräumt. 183

Hierzu Jakob, S. 275 ff.; Tipke / Lang,, S. 391 ff. Zusätzlich zu den folgenden Kriterien sind die Anforderungen an die sogenannte Familien-Personengesellschaft einschließlich der „Angehörigen-Rechtsprechung" und der Überprüfung der Gewinnverteilung am Maßstab eines Fremdvergleichs zu beachten; vgl. Knobbe-Keuk, S. 416 ff.; Jakob, S. 277 f.; Tipke / Lang, S. 398 f.; siehe auch unten § 4 VI. 5.)a) zum Fremdvergleich als Erscheinungsform der Typisierung und zur 15 %Grenze der Gewinnverteilung. 185 Grundlegend BFH GrS BStBl. II 1984, S. 751 (769 f.) = BFHE 141, 405 (440 ff.) (Aufgabe der Geprägerechtsprechung). 184

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Dies bedeutet in obigem Fall, daß das minderjährige Kind mangels eigener Mitwirkungsbefugnisse kein Mitunternehmer ist, seine ihm zivilrechtlich zustehende Gewinnbeteiligung stellt steuerrechtlich Kindesunterhalt dar. Dieses Ergebnis berücksichtigt rechtlich, daß die genannte Gestaltung wirtschaftlich einzig aus Gründen der Steuervermeidung gewählt wurde, nicht jedoch Ausdruck veränderter wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ist, und verwirklicht so den Gleichbehandlungsauftrag des Artikel 3 GG.

2. Rechtsfortbildung

durch Analogieschluß und teleologische Reduktion

In Bereichen, die wie das Einkommensteuerrecht dem Parlamentsvorbehalt unterliegen, ist eine Rechtsfortbildung nur eingeschränkt zulässig, wobei zwischen deren verschiedenen Erscheinungsformen unterschieden werden muß. 186 Keinesfalls zugelassen werden darf eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung (extra legem oder gar contra legem), die Steuerpflichten ohne eine legislative Entscheidung allein auf Grund allgemeiner Rechtsgedanken begründete.187 Hier wäre die Funktion des Parlamentsvorbehaltes nicht gewahrt. Es 188

ist, um ein oft zitiertes Bild zu benutzen, nicht angängig, die Hundesteuer im Wege der Analogiebildung auf das Halten von Katzen zu erstrecken, mögen auch beide Sachverhalte gleich steuerwürdig sein.189 Abzugrenzen ist die einzelne Unvollständigkeiten eines Normensystems mittels Analogieschluß und teleologischer Reduktion im Sinne des Gesetzeszweckes ergänzende gesetzesimmanente Rechtsfortbildung (praeter legem). Diese wurde unabhängig vom Steuerrecht fur zulässig erachtet, soweit sie ausschließlich begünstigende oder objektivrechtliche Rechtsfolgen setzt. Belastend wirkende Ergänzungen eines Regelungssystems wurden anerkannt, soweit ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit gewahrt bleibt und überraschende Entscheidungen vermieden werden. Umstritten ist, ob und inwieweit eine solche Rechtsfortbildung innerhalb des einkommensteuerrechtlichen Regelwerks 186

Siehe hierzu und zum Nachfolgenden § 2 IV. 4.)b). Allgemeine Meinung; vgl. nur Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 203. 188 Pawlowski, Methodenlehre, S. 282. 189 In diesem Sinne BVerfGE 13, 318 (328); zwar dürfe der Richter grundsätzlich Rechtsgrundsätze entwickeln, dennoch sei es bedenklich, „wenn der Steuertatbestand vom Richter neu geschaffen oder ausgeweitet wird". Das Steuerrecht werde von der Idee der „primären Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit bestimmter generell bezeichneter Sachverhalte" getragen und lebe dementsprechend „aus dem Diktum des Gesetzgebers". 187

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen

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zuzulassen ist. Erschwerend kommen hier die verschiedenen Sichtweisen zur steuerrechtlichen Begriffsfindung hinzu, die über den natürlichen Wortsinn die Grenze von Auslegung und Rechtsfortbildung bestimmt. Ausgehend von der steuerrechtlichen Betrachtungsweise sind zahlreiche Fälle, die von Anhängern eines zivilrechtlich orientierten Gesetzesverständnisses der Analogie zugerechnet werden, bereits im Wege der Auslegung zu lösen. Im einzelnen sei zwischen Steuerschärfungen, Steuerminderungen und bloßen Verfahrensregeln differenziert. Weit auseinander gehen die Ansichten 190 zur Zulässigkeit steuerschärfender Rechtsfortbildungen, worunter auch solche Regelungen verstanden seien, die gleichzeitig sowohl belastenden als auch begünstigenden Charakter 191 haben. Das Bundesverfassungsgericht 192 hatte diese Frage bisher noch nicht ab190

Für ein Verbot steuerschärfender Analogien in (noch stärker positivistisch geprägter) Weimarer Zeit Bühler, Lehrbuch, I. Band, S. 52 f.; aus heutiger Sicht ebenfalls Crezelius, S. 362 ff.; Flume , StbJb 1967/68, S. 63 (65 ff.); derselbe, StbJb 1985/86, S. 277 (290 ff.); Kruse, Lehrbuch, Band I, S. 60 ff.; derselbe, DStJG 5 (1982), S. 71 ff.; Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 171 ff.; BFH BStBl. II 1969, S. 736 (737) = BFHE 97, 147 (149 f.); BFH BStBl. II 1972, S. 455 (457) = BFHE 105, 15 (18); BFH BStBl. II 1976, S. 246 (247 f.) = BFHE 117, 563 (567); BFH BStBl. II 1977 S. 524, (525) = BFHE 121, 572 (574) (obiter dictum). Becker, Reichsabgabenordnung, S. 30 f., ließ hingegen eine Lückenfullung zu; heute ebenso Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 223 ff.; Tipke / Lang, S. 119 ff.; Paulick, Lehrbuch, S. 123 ff.; Woerner, DStJG 5 (1982), S. 23 (43); bejahend vor allem BFH BStBl. II 1984, S. 221 (223 ff.) = BFHE 139, 561 (566 ff.); zuvor bereits BFH BStBl. III 1961, S. 346 (347) = BFHE 73, 213 (215); BFH BStBl. II 1976, S. 779 (780 f.) = BFHE 120, 39 (41 f.); BFH BStBl. II 1978, S. 353 (354 f.) = BFHE 124,470 (473 f.). Die Problematik war Gegenstand der Jahrestagung der Deutschen Steueijuristischen Gesellschaft 1981, ohne daß eine Einigung erzielt werden konnte; vgl. die übrigen Beiträge in DStJG 5 (1982). 191 Vgl. oben § 2 IV. l.)c)(l); eine zulässige „zweischneidige Analogie" enthält BFH BStBl. II 1968, S. 650 (651) = BFHE 92, 555 (557), wonach beim Übergang von der Gewinnermittlung nach § 4 Absatz 3 EStG zum Vermögensvergleich nach § 4 Absatz 1 EStG Gewinnkorrekturen mit teils gewinnerhöhender, teils gewinnmindernder Wirkung vorzunehmen sind. 192 Nach BVerfGE 69, 188 (203) (Betriebsaufspaltung; im Anschluß an BVerfGE 25, 28 (40), ohne methodische Einordnung) ist es „der finanzgerichtlichen Rechtsprechung ... nicht von vornherein verwehrt, im Wege der Rechtsfortbildung veränderten wirtschaftlichen Situationen Rechnung zu tragen". Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung seien erst überschritten, falls die Steuerpflicht im Widerspruch zum Gesetz steht. Nachfolgend stellt das Gericht fest, das Gesetz enthalte keine „Definition" des maßgeblichen Begriffs, die einschlägigen Tatbestandselemente seien „auslegungsfähig und auslegungsbedürftig". Der Sache nach legt das Gericht somit eine Normauslegung, nicht eine Rechtsfortbildung zugrunde. Im übrigen zitiert es die zum Zivilrecht ergangene Entscheidung BVerfGE 34, 269 (Soraya), deutet also an, die dortigen Maßstäbe sollten auch im Steuerrecht gelten. Für einen Grenzfall von Auslegung und Rechtsfortbildung

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

schließend zu klären, die entsprechenden Ansätze lassen aber eine grundsätzliche Billigung nachteiliger Rechtsfortbildungen im Steuerrecht vermuten. Die Trennlinie von Auslegung und Analogie bleibt aber gelegentlich unscharf. Andererseits setzt das Gericht der Rechtsfortbildung auch Grenzen. 193 Dieser vorsichtige Befund ist am Maßstab der Funktion des steuerrechtlichen Gesetzesvorbehaltes zu überprüfen, der zu befragen ist, ob und inwieweit der gesetzgeberische Wille steuererhöhend auf vom Wortlaut der Norm nicht erfaßte Fälle erstreckt werden darf. Die demokratische Wurzel des Parlamentsvorbehaltes gebietet keine größtmögliche Regelungsdichte und erhebt auch keine Bedenken gegen eine Lückenschließung. Da sich jede Form der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung dem Telos des Gesetzes unterordnet, der Wille der Volksvertretung also gewahrt wird, die etwaige Gesetzeslücken im übrigen jederzeit beseitigen darf, besteht aus demokratischer Perspektive keine qualitative Verschiedenheit von Auslegung und gesetzesimmanenter Fortbildung des Rechts, die gerade den objektiven Gesetzeswillen durchsetzen soll. 1 9 4

billigte BVerfGE 21,1 (4), eine „außergewöhnliche Belastung" im Sinne von § 33 EStG nur bei „verlorenem Aufwand", nicht aber bei Erhalt eines „Gegenwertes" anzunehmen. Dies kann man wie das Gericht als enge Auslegung sehen oder als teleologische Reduktion, die einen ungeschriebenen Ausnahmetatbestand einfugt. Der Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, BStBl. II 1992, S. 212 (213), untersucht eine Auslegung des Gesetzes, betont aber in den rechtlichen Erwägungen ohne weitere Differenzierung, „Auslegung und Fortbildung des Rechts" seien „gegenüber einer dem Gesetzgeber vorbehaltenen Gesetzeskorrektur abzugrenzen". „Die vom Verfassungsrecht gezogene Grenze verläuft im allgemeinen dort, wo die Gerichte ohne das Vorhandensein einer sich aus Systematik und Sinn des Gesetzes ergebenden Lücke allein unter Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien, die konkrete rechtliche Ableitungen nicht zulassen, oder aus rechtspolitischen Erwägungen neue Regeln oder Rechtsinstitute schaffen." (Hervorhebungen vom Verfasser). 193 BVerfGE 71, 354 (362 ff.) (§ 34 EStG a.F.) billigt zwar an sich die (wortlautüberschreitende) richterliche Rechtsfortbildung (unter Berufung auf BVerfGE 34, 269), untersagt aber, eine bewußt fur den Einzelfall geschaffene Regel allgemein auf eine Personengruppe anzuwenden. 194 Ebenso Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 176 f.; sogar der „zwingende, demokratischen Zielen dienende Gesetzesvorbehalt" rechtfertige keine „Begrenzung der Realisierung des legislatorischen Willensaktes auf den Wortlaut". Anders Crezelius, S. 364, der - unter Berufung auf die Gewaltenteilung - feststellt, der Gesetzgeber könne „seine Gerechtigkeitsideale nur durch das Medium Sprache in die Praxis umsetzen", woraus eine „Maßgeblichkeit des Gesetzeswortlauts" und „eine Entscheidung gegen die steuerschärfende Analogie" folge. Einzuwenden ist, daß die Sprache zwar das Medium des subjektiven Gesetzgebers ist, der maßgebliche objektivierte Gesetzesinhalt aber hiervon abweichen kann, weshalb bereits die Auslegung auch andere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte, die Systematik sowie den Sinn und Zweck beachten muß. Wäre der Gesetzeswortlaut allein maßgebend, wären insbesondere die vom subjektiven Gesetz-

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Hauptargument gegen eine steuerschärfende Rechtsfortbildung ist der Gedanke der Rechtssicherheit, der verlangt, die zu treffende Rechtsentscheidung vorhersehbar im Gesetz vorzuzeichnen. Nur eingeschränkt verfängt der Einwand Tipkes195, ein Analogieverbot schaffe keine Rechtssicherheit, da sich die Steuerpflichtigen ohnehin nicht auf den unverständlichen Gesetzestext verließen. Rechtssicherheit sei vielmehr „Prinzipien- oder Regelsicherheit", die gerade durch Analogiebildungen gewahrt werde. Zwar ist die Diagnose, der Wortlaut des Einkommensteuergesetzes sei für den Bürger vielfach nicht nachvollziehbar, zutreffend, doch ist zu bedenken, daß die vom Gesetz zu gewährleistende Rechtssicherheit immer mehr abnimmt und die ersatzweise Berufung auf allgemeine Regeln immer schwerer fällt, je weiter sich die Rechtslage vom Wortlaut der Norm entfernt. Entscheidend sollte sein, daß die Rechtssicherheit keine absolute Bestimmtheit fordert, sondern als einer von mehreren Gesichtspunkten, die in ihrer Gesamtheit die gebotene Regelungsdichte vorgeben, nur graduelle Bedeutung hat. 196 Im übrigen kann eine überhöhte Normdichte das Gesetz sogar unverständlich werden lassen, was am Beispiel des derzeitigen Einkommensteuerrechts deutlich wird. Die Rechtssicherheit allein verbietet daher noch keine steuerschärfenden Analogien, sie fordert nur ein durchschaubares Steuerrecht und erhebt Bedenken gegen Überschreitungen des Gesetzeswortlautes, die tendenziell an Gewicht gewinnen, je weniger eine Regelung mit dem Wortsinn vereinbar ist und je weitreichender ihre Wirkungen sind. Des weiteren wird ein Analogieverbot auf die vermeintlich „radikale Positivität" des Steuerrechts gestützt, das keine analogiefähigen Prinzipien aufweise, weil jede Steuerpflicht erst legislativ zu begründen sei. 197 Das Einkommensteuerrecht kennt jedoch eine ganze Reihe von Strukturgedanken, die vom Rechtsanwender zur Klärung vom Gesetzeswortlaut unbeantworteter Fragen 198

herangezogen werden können. Zu erwähnen sind neben anderen das Leistungsfähigkeitsprinzip, das Veranlassungsprinzip, das Zu- und Abflußprinzip, das Realisationsprinzip, das Entstrickungsprinzip sowie weitere Prinzipien vor allem des Bilanzrechts.199 geber nicht bedachte verfassungskonforme Auslegung und jede Rechtsfortbildung unzulässig. 195 Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 226 ff.; derselbe, StuW 1981, S. 189 (194 ff.). 196 Vgl. oben § 2 III. l.)c) zum Grundsatz der Rechtssicherheit. 197 In diesem Sinne Flume , StbJb 1967/68, S. 63 (65 ff.); derselbe, StbJb 1985/86, S. 277 (290 ff.); Kruse, Lehrbuch, Band I, S. 61; derselbe, DStJG 5 (1982), S. 71 ff. 198 Ebenso Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 223 f. 199 Eine andere, strikt von jener nach der Existenz analogiefähiger Prinzipien zu trennende Frage ist es, ob sich diese Strukturgedanken bereits aus der „Natur der Sache" des Steuerrechts ergeben oder erst vom Gesetzgeber begründet werden müssen. Letzteres

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Schlagkräftigstes Argument der Befürworter einer steuerschärfenden Rechtsfortbildung ist der Gleichheitssatz.200 Voraussetzung jeder Analogie oder teleologischen Reduktion ist die Gleichheit der Steuerwürdigkeit, ihr Unterschied zur direkten Anwendung des Gesetzes liegt in der bloßen Möglichkeit der Subsumtion unter den Gesetzeswortlaut.201 Der Grundsatz der Steuergerechtigkeit gebietet, Fälle gleicher finanzieller Leistungsfähigkeit gleichmäßig zu besteuern, was dagegen spricht, einen den Willen des Gesetzgebers unvollkommen zum Ausdruck bringenden Gesetzestextes übertrieben formalistisch 202

zu betonen. Besondere Bedeutung erlangt dieser Gesichtspunkt angesichts allgemein zu beobachtender Bemühungen der Steuerpflichtigen, abweichende Darstellungen des Sachverhaltes oder andersartige zivilrechtliche Gestaltungen zu finden, die den gesetzlichen Tatbestand trotz wirtschaftlicher Vergleichbarkeit umgehen sollen. Hielte man am Gesetzeswortlaut als streng zu beachtender Grenze der Rechtsanwendung fest, begünstigte dies diejenigen Steuerpflichtigen, die das größte Maß an Geschicklichkeit aufweisen oder den phantasievollsten Steuerberater beauftragt haben. Die steuerschärfende Analogie zeigt sich mithin als Konflikt von Rechtssicherheit und Gleichheitspostulat. Beide Prinzipien gebieten keine absolute Beachtung, sondern gestatten Abweichungen zur Verwirklichung des jeweils anderen. Der gebotene Ausgleich zwischen ihnen muß berücksichtigen, daß die Beachtung der Wortlautgrenze im komplizierten Gesamtsystem des Einkommensteuerrechts nur geringe Zuwächse an Rechtssicherheit verschaffen, ein Analogieverbot aber gewichtige Abweichungen vom Gebot der Lastengleichhätte zur Folge, daß der Gesetzgeber sie in stärkerem Maße verdeutlichen müßte (Näheres sogleich). 200 Tipke y Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 225 f., spricht von materialer Rechtsstaatlichkeit. 201 Für Crezelius, S. 365 f., verletzt die (steuergünstige) Analogie als „gleichheitsbeeinträchtigende Rechtsanwendung" Artikel 3 GG. Dem ist zu widersprechen. Da jede Analogie eine Vergleichbarkeit voraussetzt, beeinträchtigt diese Rechtsanwendung die Gleichheit nicht, sondern wahrt sie. Die vermeintliche Ungleichbehandlung, daß auf die einen der Gesetzeswortlaut angewandt wird, auf die anderen nicht, rechtfertigt sich dadurch, daß das gleichheitskonforme, das heißt lückenlose Gesetz diesen Gesetzesvollzug selbst angeordnet hätte. 202 Erinnert sei an die Allgemeinheit des Gesetzes (oben § 2 I. 1.) sowie § 2 II. l.b)), die nach Kant die notwendige Übereinstimmung aller Vernunftwesen und damit eine Struktur des Moralisch-Sittlichen erfordert. Ruft bereits der Begriff des Gesetzes dazu auf, Gerechtigkeitsinhalte umzusetzen, zu denen auch heute noch jedenfalls das Postulat relativer Gleichheit der Steuerauflage gezählt werden kann, so sind diese auch und erst recht beim Gesetzesvollzug zu beachten. Dies stimmt mit dem von Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (142 ff.) bemerkten Grundzug unserer Zeit überein, die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit mangels allgemeinverbindlicher Prinzipien von eigenem sittlichen Wert der Rechtsprechung aufzugeben. Gerade diese entscheidet über die Rechtsfortbildung.

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heit mit sich bringen kann. Zudem erschwert die oft nicht eindeutig zu ermittelnde Wortlautgrenze die Abgrenzung der verschiedenen Instrumente zur Rechtsfindung und eignet sich deshalb kaum als handhabbares Kriterium, um die Kompetenzen von Verwaltung und Rechtsprechung zu bestimmen. Bedenkt man ferner die methodische Verwandtschaft von Auslegung und gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung als deren Fortsetzung jenseits des natürlichen Wortsinnes, so erscheint ein generelles Analogieverbot als zu formalistisch und wenig praktikabel. Der Parlamentsvorbehalt sollte daher dem Bürger nachteilige gesetzesimmanente Rechtsfortbildungen auch im Einkommensteuerrecht zulassen.203 Die somit grundsätzlich auch im Einkommensteuerrecht anzuerkennende Rechtsfortbildung hat aber ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit zu wahren. Dies gilt vor allem wegen der hohen Grundrechtserheblickeit des Steuerrechts sowie dessen Nähe zum Strafrecht 204, auf Grund derer die Rechtslage im formellen Gesetz tendenziell stärker zu verdeutlichen ist. Das für den allgemeinen Gesetzesvorbehalt geforderte Verbot überraschender Rechtsfortbildungen ist hier erst recht zu beachten, die Besonderheiten des Steuerrechts fordern eine Selbstbeschränkung der Rechtsanwendungsorgane und einen vergleichsweise zurückhaltenden Gebrauch der beschriebenen Instrumente zur Rechtsfortbil205

dung. Im übrigen bleiben Verwaltung und Finanzgerichte auf die strengen Anforderungen an die Feststellung einer gesetzlichen Lücke sowie die Begründung eines analogiefähigen Prinzips 206 verwiesen.207 203 Ein einfachrechtliches Indiz dafür, daß vom Gesetzeswortlaut abgewichen werden darf, ist das Umgehungsverbot des § 42 AO. Bei Mißbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten entsteht der Steueranspruch so, wie er bei angemessener Gestaltung entstanden wäre. Dies ist als gesetzliche Regelung zwar keine steuerschärfende Analogie, dient aber ebenfalls der Gleichbehandlung und gewährt kein größeres Maß an Vorhersehbarkeit als eine eingeschränkt zulässige Analogie. Gleiches gilt zum Beispiel für § 18 Absatz 1 Satz 2 EStG, der auch den dort genannten „ähnliche" Berufe erfaßt. 204 Das Analogieverbot aus Artikel 103 Absatz 2 GG hält hier keine eindeutige Aussage bereit, da es unmittelbar nur für das Strafrecht, nicht aber für alle die Blankettstrafnorm des § 370 AO ausfüllenden Vorschriften gilt (siehe § 2 IV. l.)e) und § 4 I. 4.)). Allerdings darf seine Schutzfunktion nicht umgangen werden. Dem tragen die genannten Einschränkungen Rechnung. 205 Vgl. auch Woerner, DStJG 5 (1982), S. 23 (44): „Im Zweifel muß er (der Richter) von einer steuerschärfenden Lückenfüllung absehen." 206 Die Kasuistik des heutigen Einkommensteuerrechts macht die Suche nach analogiefähigen Prinzipien zur praktisch bedeutsamsten Schrankerichterlicher Rechtsfortbildung. Dies bedeutet aber nicht, wie Kruse, Lehrbuch, Band I, S. 61, meint, daß verallgemeinerungsfähige Strukturen völlig fehlen, sondern nur, daß bei ihrer Ermittlung besondere Sorgfalt nötig ist. 207 Ein Beispiel für eine steuerschärfende Rechtsfortbildung bildet die Steuerentstrickung bei Überführung eines Wirtschaftsgutes in eine ausländische Betriebsstätte. 20 Seiler

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Überwiegend für statthaft gehalten werden steuermindernde Analogieschlüsse.20 Dem ist zuzustimmen, da dem demokratischen Ansatz des Parlamentsvorbehaltes durch die Bindung des Rechtsanwenders an den von der Volksvertretung vorgegebenen Gesetzeszweck Genüge getan ist und die Rechtssicherheit sowie der Freiheitsschutz zurücktreten können. Dieses Ergebnis entspricht der Erkenntnis, daß dem Bürger günstige Steuernormen zwar ebenfalls dem Gesetzesvorbehalt unterliegen, sich aber mit einer geringeren Gesetzesdichte begnügen dürfen. Zulässig ist die Rechtsfortbildung auch im Steuerverwaltungsverfahrensrecht 209 , fur das mit Ausnahme einzelner grundrechtswesentlicher Fragen kein genereller Vorbehalt eingreift. Der Gesetzgeber durfte deshalb die verbindliche Auskunft sowie die Steuerklauseln in der Abgabenordnung bewußt ungeregelt lassen und die Entwicklung dieser Institute Verwaltungspraxis und Rechtsprechung überlassen. 210 Diese „offene" Gesetzesfassung ist gerade wegen der Möglichkeit, das Gesetz auf der Rechtsanwendungsebene zu ergänzen, unschädlich.

Diese wird, falls ein Doppelbesteuerungsabkommen das Besteuerungsrecht bei späterer Gewinnrealisierung dem anderen Staat zuweist und so eine Besteuerung im Inland vereiteln würde, als Entnahme besteuert, obwohl der Wortsinn des „Betriebsvermögens" mehrere Betriebsstätten umfaßt, ohne nach deren Lage im In- oder Ausland zu unterscheiden; so BFH BStBl. II 1972, S. 760 = BFHE 106, 198 sowie Schreiben des BMF vom 12.2.1990 BStBl. I 1990, S. 72 (jeweils ohne methodisches Problembewußtsein). Im Falle eines Analogieverbotes wären die im Inland erwirtschafteten stillen Reserven dem deutschen Fiskus endgültig entzogen. Bei Fehlen eines solchen Doppelbesteuerungsabkommens soll keine Entnahme vorliegen, da die Steuerverstrickung wegen des Welteinkommensprinzips gewahrt bleibt. Die Wortlautgrenze bleibt völlig unberücksichtigt. 208 Diese Ansicht teilen neben denen, die eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung generell für erlaubt halten, auch zahlreiche Befürworter eines Verbotes steuerschärfender Analogien. Vgl. Bühler, Lehrbuch, I. Band, S. 52 f.; Kruse, DStJG 5 (1982) S. 71 (83); Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 179; BFH BStBl. II 1974, S. 295 (297 f.) = BFHE 111, 329 (332 ff.); BFH BStBl. II 1987, S. 174 = BFHE 148, 322; für eine Unzulässigkeit auch der steuerentlastenden Analogie Crezelius, S. 365 ff.; Flume , StbJb 1985/86, S. 277 (297 f.); BFH BStBl. II 1978, S. 82 (83) = BFHE 123, 560 (561). 209 Ein Beispiel liefert BFH BStBl. II 1976, S. 390 (392) = BFHE 118, 246 (249 f.). 2,0 So ausdrücklich BT-Drucks. 6/1982, S. 95 f., zum Entwurf von 1974; auch der Entwurf von 1977 regelte die Steuerklausel nicht und ging davon aus, daß neben der in §§ 204-207 AO normierten verbindlichen Zusage im Anschluß an die Außenprüfung auch in anderen Fällen von den Finanzbehörden Auskünfte und Zusagen gegeben werden können, ließ deren rechtliche Behandlung aber offen; vgl. BT-Drucks. 7/4292, S. 35.

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3. Die „Natur der Sache " im Steuerrecht Das Steuerrecht weist geringere Auslegung und Rechtsfortbildung erleichternde Vorgaben aus der „Natur der Sache"211 auf als andere grundrechtserhebliche Rechtsgebiete.212 Die zu besteuernden Lebensverhältnisse tragen keine innere Ordnung in sich, die erkennen ließe, welche Sachlage welchen Zahlungsanspruch des Staates begründet. Man kann nicht feststellen, daß ein bestimmter Sachverhalt die Besteuerung „erheischt" 213 oder „provoziert" 214. Diese tendenziell schwächere Prägung des Steuerrechts durch sachliche Vorgaben belegt ein Vergleich zur klassischen Materie der Eingriffsverwaltung, dem Polizei- und Ordnungsrecht.

a) Zum Vergleich: Das Polizei- und Ordnungsrecht Die vom Recht der Gefahrenabwehr erfaßten Lebenssachverhalte machen regelmäßig deutliche Aussagen zum Grund des polizeilichen Einschreitens, sie geben die Regeln vor, nach denen sich polizeiliches Handeln zu richten hat, und sie lassen auch Grenzen obrigkeitlicher Befugnisse erkennen. Der Grund polizeilichen Einschreitens folgt aus der Idee des mit einem Gewaltmonopol versehenen Staates. Der auf dem Gesellschaftsvertrag gründende Staat bildet eine Friedensordnung zum Schutze der auf einen Teil ihrer Freiheit verzichtenden Bürger. 215 Dies verpflichtet den Staat, die ihm vorausliegenden oder erst von ihm gewährleisteten Rechte und Rechtsgüter des einzelnen sowie das Bestehen des Staates selbst als Voraussetzung der staatlich garantierten Friedensordnung zu schützen und ein Gefahrenabwehrrecht zu schaffen. Auch die Regeln polizeilichen Einschreitens zeigen sich weitgehend von selbst. Dient das Polizeirecht der Gefahrenabwehr, so drängt sich das Prinzip der Effektivität derselben als Maßstab fur die Auswahl des Polizeipflichtigen 211

Vgl. § 2 IV. 4.)c) zur Rechtsfigur der „Natur der Sache". Bereits Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, S. 315 f., stellte die „Losgelöstheit (der Steuerauflage) von bedingenden Zusammenhängen" fest. Vgl. aus heutiger Zeit Felix, StuW 1959, Sp. 643 ff.; Flume , StbJb 1967/68, S. 63 ff.; Kruse, Lehrbuch, Band I, S. 45 ff.; derselbe, DStJG 5 (1982) S. 71 (75 ff.); Osterloh, Gesetzesbindung, S. 161 ff. 213 Flume, StbJb 1967/68, S. 63 (66). 214 Felix, StuW 1959, Sp. 643 (647). 215 Siehe § 2 I. 1.) zur Lehre vom Gesellschaftsvertrag, der gerade zur Vermeidung des „bellum omnium contra omnes" (Hobbes) oder jedenfalls zur Sicherung des stets bedrohten individuellen Lebensbereichs (Locke) geschlossen wurde. 212

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sowie des konkret zu wählenden Mittels auf, untaugliche Maßnahmen können von vorneherein als rechtswidrig erkannt werden. Die dem Polizeirecht eigene Einschätzimg der jeweils gegebenen tatsächlichen Lage aus der Sicht ex ante sowie das polizeirechtliche Opportunitätsprinzip sind ebenfalls zwingende Folgen des Gedankens der effektiven Gefahrenabwehr. 216 Schließlich ergeben sich die Grenzen polizeilichen Einschreitens zwangsläufig aus der Natur des Polizeirechts. Als Instrument zum Schutze der Grundrechte muß seine Eingriffswirkung zugleich in den Grundrechten des Polizeipflichtigen Schranken finden. Das Polizeirecht erfordert also stets einen wertenden Ausgleich zwischen widerstreitenden Schutzgütern. Diesen Ausgleich leistet das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das eine bewertende Betrachtung des Einzelfalles anhand der Bedeutung des gefährdeten Rechts oder Rechtsgutes wie der eingeschränkten Grundrechte des Polizeipflichtigen, der Intensität, mit der die jeweils berührten Positionen beeinträchtigt werden, und der konkreten Erfolgsaussichten einer polizeilichen Maßnahme gestattet. Diese sich aufdrängenden eigengesetzlichen Vorgaben lassen die polizeiliche Generalklausel seit mehr als zwei Jahrhunderten 217 als sachgerecht erscheinen und verdeutlichen dem jeweiligen Rechtsanwender, was im Einzelfall zur Erfüllung der polizeilichen Aufgaben sachdienlich und geboten ist. Nur so konnte es Rechtsprechung und Literatur gelingen, die ihrem Wortlaut nach höchst unbestimmte polizeiliche Generalklausel hinreichend zu 218

bestimmen.

b) Die sachgesetzlichen Vorgaben des Steuerrechts Anders verhält es sich im Steuerrecht, das wenig vergleichbare Vorgaben aus der „Natur der Sache" für die Finanzierung des Staates vorfindet. Auch das Finanzverfassungsrecht hält nur allgemeine Grundsatzentscheidungen wie die 216 Ossenbühl, DÖV 1976, S. 463 (464) spricht von einer Sachlogik der Gefahrenabwehr. 217 Die polizeiliche Generalklausel wurde eingeführt durch § 10 des zweiten Teils, 17. Titel, des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 1.6.1794 CPappermann, S. 166). 218 Schon für Otto Mayer, S. 207 f., entsprang die Notwendigkeit polizeilichen Zwanges dem naturrechtlichen Gedanken der Gefahrenabwehr. Störungen der „guten Ordnung" gehörten von vorneherein nicht zur Freiheit des einzelnen, die entsprechenden Unterlassungspflichten dienten dazu, das rechtlich »Angeordnete zu erläutern, zu ergänzen und genauer zu bestimmen", und ermöglichten, „scheinbar ungemessene Ermächtigungen ... als genügend zu der vom Verfassungsstaate hier geforderten gesetzlichen Grundlage" anzusehen.

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generelle Zulässigkeit der in Artikel 104a ff. GG vorausgesetzten Steuererhebung bereit. Daneben setzt die Verfassung dem Steuerzugriff durch die Grundrechte allgemeine Grenzen. Belastungsgrund sowie Regeln und Grenzen der Besteuerung näher auszugestalten, obliegt dem einfachen Gesetzgeber.

(1) Der Steuergegenstand Zunächst muß der Gesetzgeber den Steuergegenstand auswählen und dabei den Belastungsgrund verdeutlichen. Angesichts der unbegrenzten Zahl denkbarer Steuergegenstände drängt es sich nicht der „Natur der Sache" nach auf, eine bestimmte Steuer zu erheben, auf eine andere mögliche Steuerquelle jedoch nicht zuzugreifen. 219 So entspringt es allein einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers, eine Verbrauchsteuer im Sinne von Artikel 106 Absatz 1 Nr. 2 GG auf Schaumwein einzuführen 220, den Verbrauch von Wein 221

hingegen nicht zu besteuern. Die Wahl des Steuergegenstandes ist verfassungsrechtlich nur in groben Zügen vorgegeben. Insbesondere regelt Artikel 105 GG in Verbindung mit Artikel 106 GG nur die Gesetzgebungskompetenz. Die Befugnis, eine bestimmte Steuer zu erheben, verpflichtet den Gesetzgeber noch nicht hierzu. 222 So wird zum Beispiel die Vermögensteuer, deren grundsätzliche Zulässigkeit Artikel 106 Absatz 2 Nr. 1 GG voraussetzt, derzeit auf Grund einer bewußten Entscheidung des Parlaments nicht erhoben. Die Steuerauflage ist daher positivrechtlich zu begründen. Die gesetzgeberische Wahl muß einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung zugänglich sein und deshalb den Belastungsgrund und die angestrebten Fiskal- und Sozialzwecke erkennen lassen. Die Steuerpflicht ist als Grundrechtseingriff in ihren „wesentlichen" Zügen in einem zumindest auslegungsfähigen formellen Gesetz nierderzulegen. Dem Gesetzgeber ist dabei ein weiter Gestaltungs-

219 Ein Beispiel für den Erfindungsreichtum vergangener Epochen bei der Suche nach Steuergegenständen nennt Pausch, DStZ A 1979, S. 408 (409). So unterlag Beethovens Geburtshaus seinerzeit der Tür- und Fenstersteuer, die nach der Zahl der auf die Straße, den Hof und den Garten gehenden verschließbaren Öffnungen erhoben wurde. 220 Gesetz zur Besteuerung von Schaumwein und Zwischenerzeugnissen vom 12.7.1992. 221 Zu den verschiedenen, nach rein fiskalischen Gesichtspunkten ausgewählten Verbrauchsteuern Tipke / Lang, S. 712 ff.; dort auch zu den europarechtlichen Harmonisierungbestrebungen. 222 Nach Vogel, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Band IV, § 87, RN 31, verpflichtet der Katalog des Artikel 106 GG den Gesetzgeber mit Ausnahme der Umsatzsteuer nicht zur Steuererhebung.

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Spielraum einzuräumen. Um die Gesetzesauslegung zu ermöglichen, muß das Gesetz mangels sachgesetzlicher Vorgaben über den Steuergegenstand detaillierter abgefaßt werden als in anderen Rechtsgebieten. Das Parlamentsgesetz hat jedenfalls den Steuerschuldner und den Gegenstand der Steuer eindeutig zu benennen. Bezogen auf die Einkommensteuer bedeutet dies, daß deutlich werden muß, welcher Ertrag aus welcher Tätigkeit belastet werden soll.

(2) Die Regelbildung im Steuerrecht Die Wahl des den Belastungsgrund bestimmenden Steuergegenstandes muß folgerichtig, das heißt widerspruchsfrei umgesetzt werden. Zudem sind die berührten Grundrechte abzusichern. Hierzu sind Regelstrukturen erforderlich, die das Gleichmaß des Steuerzugriffs wahren und zugleich dem Steuerpflichtigen verdeutlichen, mit welchem Eingriff er im konkreten Fall zu rechnen hat, oder ihn doch zumindest erkennen lassen, nach welcher grundsätzlichen Maßgabe die Finanzbehörde bei der Anwendung der Steuergesetze vorgehen wird. Gleichzeitig müssen sie Exekutive und Judikative ein hinreichend deutliches Programm an die Hand geben, mit dessen Hilfe die allgemeinen Entscheidungen im Einzelfall gesetzesorientiert und justitiabel von der Verwaltung verwirklicht und von den Gerichten überprüft werden können. Solche Regeln können häufig nicht oder nur eingeschränkt aus den Eigenheiten einer Steuerquelle abgeleitet werden. Die Legislative ist deshalb verpflichtet, gesetzliche Regeln aufzustellen und etwaige Sachstrukturen nachzuzeichnen. Der Parlamentsvorbehalt überantwortet diese Regelbildung dem formellen Gesetz. Das Gesetz in seiner auslegungsfahigen Gestalt muß zumindest der Rechtssicherheit Genüge tun, den Grundrechtseingriff in seinem ungefähren Ausmaß vorhersehbar gestalten, ihn dadurch justitiabel erkennen lassen und inhaltlich folgerichtig sein. Aber auch hier verbietet der Grundsatz der Einzelfallgerechtigkeit eine Übernormierung, es genügen durch Auslegung zu ermittelnde Kriterien, die erlauben, die gesetzlich gebildeten Regeln auf den Einzelfall zu übertragen. 224

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BVerfGE 13,181 (202 f.); E 49,343 (360); E 65, 325 (354); E 84, 239 (271). Anstelle einer umfassenden eigenen Regelbildung kann der Gesetzgeber auf außergesetzliche Regelsysteme Bezug nehmen und sie kraft legislativer Entscheidung zum Inhalt des Steuerrechts machen. Zum Beispiel verweist § 5 Absatz 1 EStG auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, die auch in §§ 238 ff. HGB nur unvollständig kodifiziert sind. 224

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Diese allgemeinen Erwägungen seien am Beispiel des sogenannten „gewerblichen Grundstückshandels"22 erläutert, bei dem sich die Frage stellt, ob Gewinne aus dem Verkauf von Privatgrundstücken der Einkommensteuer unterliegen. Die Grundsatzentscheidung des EStG, das am allgemeinen Markt erzielte Einkommen als Steuergegenstand zu erfassen, sowie die damit verbundene Entscheidung für die Teilhabe des Staates am Erfolg privaten Wirtschaftens nach Maßgabe individueller Leistungsfähigkeit 226 genügen als solche noch nicht, um im Einzelfall konkrete steuerliche Ergebnisse zu erzielen. Infolge fehlender genauer Vorgaben aus der „Natur der Sache", das heißt mangels einer eindeutigen Zuordnung bestimmter Lebenssachverhalte zum Begriff des „Marktes", muß diese Ausgangsentscheidung noch normativ präzisiert werden. Dies verlangt eine gesetzliche Re^elbildung, um am Markt erzielte, steuerwürdige Einkünfte von privat 22 veranlaßten, steuerfreien Vermögensmehrungen abgrenzen zu können. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber die Folgeentscheidung für ein durch einen Einkünftedualismus 228 geprägtes Regelsystem getroffen, das die steuerbaren Einkünfte in die grundsätzlich an der Reinvermögenszugangstheorie229 ausgerichteten Gewinneinkünfte 230 und die prinzipiell an der Quellentheorie231 orientierten Überschußeinkünfte 232 unterteilt. 3 Anknüpfungspunkt für

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Zur derzeitigen Rechtslage Jehner, DStR 1991, S. 565 ff. Vgl. oben §41.1 .c) zur Markteinkommenstheorie und dem Teilhabegedanken. 227 Tipke / Lang, S. 258 ff., nennen als Beispiele für nach derzeitigem Einkommensteuerrecht nicht steuerbare private Einkünfte unter anderem Erbschaften, Schenkungen und Liebhabereieinkünfte. 228 Zum Einkünftedualismus Tipke / Lang, S. 274 ff.; Jakob, Einkommensteuer, S. 2. 229 Zur maßgeblich von G. von Schanz geprägten Reinvermögenszugangstheorie, die die Grundlage des Reichseinkommensteuergesetzes von 1920 bildete, Kirchhof, Paul, in: Kirchhof ! Söhn, EStG, Band 1, § 2, RN A 321 ff. mit weiteren Nachweisen. 230 Gewinneinkünfte im Sinne von § 2 Absatz 2 Nr. 1 EStG sind Einkünfte aus Landund Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit. 231 Zur auf die grundlegenden Werke B. Fuistings zurückzuführenden Quellentheorie Kirchhof, Paul, in: Kirchhof / Söhn, EStG, Band 1, § 2, RN A 313 ff. mit weiteren Nachweisen; diese Theorie lag dem preußischen Einkommensteuergesetz von 1891 zugrunde {Kirchhof, RN A 398). 232 Überschußeinkünfte sind gemäß § 2 Absatz 2 Nr. 2 EStG die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung und die sonstigen Einkünfte im Sinne des § 22 EStG. 233 Eingeführt wurde der Dualismus von Gewinn- und Überschußeinkünften durch die sich an Reinvermögenszugangs- und Quellentheorie anlehnenden § § 6 Absatz 1, 7 Absatz 2 EStG 1925 (RGBl. I 1925, S. 189 (190)), die Vorläufer unseres § 2 EStG {Kirchhof ; RN A 432 ff. (A 438)). 226

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diese234 Systembildung ist eine sachgesetzlich vorgefundene, nach der Art des Einsatzes eigenen Vermögens zur Erzielung von Erträgen differenzierende tatsächliche Unterscheidung verschiedener Gruppen von Erwerbsgrundlagen, die aus der „Natur der Sache" aber nur konturenarm vorgezeichnet ist und daher vom Gesetzgeber unter typisierender Hervorhebimg der steuerlich erheblichen Gemeinsamkeiten verdeutlicht werden muß. Soweit Einkünfte bei verallgemeinernder Sichtweise durch ein Wirtschaften mit eigenem Vermögen erzielt werden, rechtfertigt dies, die entsprechenden Vermögensgegenstände und die aus ihrer Veräußerung entstehenden Erträge in die Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Es handelt sich dann um Gewinneinkünfte im Sinne der Reinvermögenszugangstheorie. Das Einkommensteuergesetz bewertet die eingesetzten Vermögensbestandteile als in den Markt eingebracht, weshalb Einkünfte sowohl durch Ausnutzung der Vermögenssubstanz, insbesondere durch deren Veräußerung, als auch durch Fruchtziehung aus diesem Vermögen erzielt werden. Anders verhält es sich nur bei noch nicht realisierten Vermögenszuwächsen, das heißt vor allem bei bloßen Wertsteigerungen einzelner Vermögensbestandteile, da hier der Markt noch nicht eingeschaltet wurde. Einfachgesetzlich niedergeschlagen hat sich dieses Prinzip in dem durch § 4 Absatz 1 EStG fur Gewinneinkünfte regelmäßig235 angeordneten Betriebsvermögensvergleich. Soweit hingegen der Erwerb üblicherweise vorwiegend auf Arbeit oder der bloßen Verwaltung von Privatvermögen beruht, bleiben die entsprechenden Vermögenspositionen außer Ansatz. Bei diesen Überschußeinkünften rechnet das Gesetz den jeweiligen Vermögensstamm nach der Quellentheorie der Privatsphäre zu. Die hieraus gezogenen Früchte gelten aber als unter Ausnutzung des Marktes erwirtschaftet und sind daher steuerbar. Steuerfrei sind dagegen die Gewinne aus der Veräußerung des Vermögensstammes. Hier nimmt der Gesetzgeber typisierend an, daß einmalige Veräußerungen noch der Privatsphäre zuzuordnen sind, da keine werbende Tätigkeit am allgemeinen Markt erfolgt, das Objekt mithin regelmäßig nicht der Allgemeinheit angeboten wird. Einfachrechtliche Ausprägung dieses Gedankens sind die §§2 Absatz 2 Nr. 2, 8 ff, 19 ff. EStG. Maßgeblich ist also, ob bestimmte Einkünfte typischerweise auf ein Wirtschaften mit einzelnen Vermögensgegenständen gestützt werden. Diese gelten 234 Dies sind die de lege lata geltenden Prinzipien, so wie sie dem EStG vom BFH und dem Schrifttum entnommen werden, de lege ferenda erscheint auch eine andere Regelbildung denkbar. 235 Ausnahmsweise kann der Gewinn statt nach § 4 Absatz 1 EStG auch nach § 4 Absatz 3 EStG ermittelt werden. Dies verschiebt die Gewinne jedoch nur zeitlich, nach dem Grundsatz der Totalgewinnidentität bleibt der Gesamtgewinn in der Totalperiode des Betriebes unverändert.

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen

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als in den allgemeinen Markt eingebracht, wenn das Ausnutzen ihrer Substanz durch Vermögensumschichtungen gegenüber einer bloßen Fruchtziehung aus zu erhaltender Substanz bei einer Gesamtbetrachtung der wirtschaftlichen Betätigung im Vordergrund steht.236 Insoweit bieten die zu regelnden Lebensverhältnisse Anhaltspunkte für eine Gewichtung und erleichtern die Beurteilung von Veräußerungsgeschäften. Maßstab der Entscheidung können sein die Zahl und Häufigkeit der Veräußerungsvorgänge, ihr zeitlicher Abstand zum Erwerb sowie der Wert und die konkrete Eignung des jeweiligen Wirtschaftsgutes als Spekulationsobjekt, schließlich der Umfang der Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Verkauf. Eine weitere abstrakt-generelle, alle denkbaren Arten von Wirtschaftsgütern erfassende Grenzziehung ist kaum möglich. Die Konkretisierung dieser allgemeinen Regel im Einzelfall muß von der Rechtsanwendung geleistet werden, was ohne eine Kasuistik der Rechtsprechung nicht gelingen kann. Daher hat der Bundesfinanzhof 237 für die hier untersuchten Grundstücksgeschäfte dem Gesetz durch Auslegung nach den vorbezeichneten Kriterien die sogenannte „Drei-Objekte-Grenze" 2 8 entnommen, jenseits der An- und Verkäufe von Immobilien als gewerbliche Betätigung im Sinne von § 15 EStG anzusehen sind. Besagte „Drei-Objekte-Grenze" ist zwar selbst nicht aus der „Natur der Sache" ablesbar, weshalb der Gesetzgeber die Auslegung anleitende Regeln zur Verfügung stellen mußte. Gleichwohl trifft das Einkommensteuerrecht bei der Konkretisierung gesetzlicher Grundentscheidungen im Einzelfall durchaus auch auf sachgesetzliche Vorgaben, die eine Rechtsanwendung erleichtern. Die „Natur der Sache" mag daher für das Steuerrecht nur schwächere Strukturprinzipien bereithalten als für andere Rechtsbereiche, was tendenziell für eine deutlichere Regelbildung und damit für eine erhöhte Regelungsdichte des formellen Gesetzes spricht. Gefordert ist dennoch kein Höchstmaß an gesetzlicher Bestimmtheit, sondern lediglich eine auslegungsfähige Verdeutlichung der 236

In diesem Sinne BFH BStBl. II 1988, S. 244 f. = BFHE 148, 480. BFH BStBl. II 1988, S. 244 f. = BFHE 148, 480; BFH BStBl. II 1989, S. 621 (622 f.) = BFHE 156, 476 (478 ff.); BFH BStBl. II 1995, S. 617 (619); zusammengefaßt im Schreiben des Bundesfinanzministers vom 20.12.1990, BStBl. 1 1990, S. 884. 238 Verkürzt gesprochen liegt ein gewerblicher Grundstückshandel vor, wenn ein Steuerpflichtiger innerhalb von fünf Jahren mehr als drei Wohnzwecken dienende Objekte (Immobilien sowie Anteile von mindestens 10 % an Miteigentümergemeinschaften oder an Personengesellschaften mit Immobilieneigentum) veräußert. Mitzuzählen sind grundsätzlich nur Objekte, bei denen ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Erwerb (oder gleichgestellter Errichtung) und Veräußerung besteht. Dieser ist regelmäßig gegeben bei einer Zeitspanne von nicht mehr als fünf Jahren, bei einer Zeitspanne von bis zu zehn Jahren bei Vorliegen weiterer Umstände, die auf eine Veräußerungsabsicht bereits im Zeitpunkt des Erwerbs schließen lassen. 237

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gesetzlichen Strukturelemente, deren Umsetzung mangels abstrakter Normierbarkeit der Rechtsanwendung überlassen bleiben darf und muß. 239 Für ein anderes Strukturelement des Steuerrechts, den Steuertarif, sind keinerlei sachgesetzliche Vorgaben auszumachen, die der Verwaltung eine bestimmte Rechtsanwendung nahelegen. Der jeweils geltende Steuersatz ist im Gesetz deutlich festzulegen. Bei Wahl eines progressiven Steuertarifes sind zudem die einzelnen Progressionssprünge anzuordnen.240

(3) Die Grenzen der Besteuerung Die vom Einkommensteuerrecht zu regelnden Lebenssachverhalte weisen kaum sachgesetzliche Vorgaben auf, die dem Steuerzugriff im Einzelfall Grenzen setzen und der Rechtsanwendung so ermöglichen, das Höchstmaß der individuellen Steuerlast mit Hilfe der Rechtsfigur der „Natur der Sache" zu konkretisieren. Namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das ansonsten wichtigste materielle Instrument zum Schutz der Grundrechte, kann den Rechtsanwender241 mangels hinreichender Sachstrukturen nur eingeschränkt unterstützen. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind das Verbot einer konfiskatorischen Besteuerung, die ab einer erdrosselnden Wirkung gegen das Übermaßverbot verstieße242, da der geschützte Freiheitsgebrauch faktisch ausgeschlossen und unter Umständen sogar die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichtet würde, sowie der dem Artikel 14 Absatz 2 Satz 2 GG als Belastungsobergrenze entnommene Halbteilungsgrundsatz243 zu nennen. Jenseits solcher Härtefälle ist das Übermaßverbot kein taugliches Instrument, um die Grenzen der Steuerlast einzelfallbezogen zu bestimmen. Es ist wegen der dem materiellen Einkommensteuerrecht eigenen fehlenden Aussagekraft der Relation von Mittel und Zweck ungeeignet, weit gefaßte Gesetze im Wege 239

Der BFH hat in obigen Urteilen betont, die „Drei-Objekte-Grenze" werde auch aus Gründen der Vereinfachung festgesetzt. Dies zeigt, daß die Zahl möglicher Differenzierungskriterien im Steuerrecht bereits bei der Veräußerung einer Art von Wirtschaftsgütern sehr hoch ist, eine abstrakt-generelle Grenzziehung für alle Arten ist undenkbar. 240 Der Steuertarif wird normiert durch § 32a EStG, ergänzt durch §§ 32b und 32c EStG. Zieht man die amtlichen Einkommensteuertabellen hinzu, ist diese Regelung vorhersehbar und damit hinreichend bestimmt. 241 Gemeint sind nur die Aussagen des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Rechtsanwendung. Zur Bindung des Gesetzgebers an das Übermaßverbot oben §41.1 .)f). 242 BVerfGE 87, 153 (169) (Existenzminimum). 243 BVerfGE 93, 121 (138) (Einheitswerte).

IV. Methodische Instrumente zur Ergänzung „offener" Steuernormen

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der Rechtsanwendung auszufüllen. Das vom Steuergesetzgeber gewählte Mittel ist die mit den geschilderten Grundrechtswirkungen verbundene Auferlegung einer Zahlungspflicht. Der Zweck jeder Steuer liegt gemäß § 3 AO darin, Einnahmen zu erzielen. Dieser durch den Teilhabegedanken legitimierte Zweck ist Bestandteil des an § 1 RAO anknüpfenden, vom Grundgesetz übernommenen verfassungsrechtlichen Steuerbegriffes 244 und wird in Artikel 104a ff. GG vorausgesetzt. Kein maßgeblicher Zweck ist die Finanzierung bestimmter Staatsaufgaben. 245 Zwar ist die Einnahme von Geld nur ein Zwischenziel, um das Endziel der Finanzierung staatlicher Vorhaben zu erreichen. Dennoch dürfen diese bei der Frage nach den Grenzen der persönlichen Steuerlast nicht als erheblicher Zweck angesetzt werden, weil einzelne Steuerzahlungen keinesfalls konkreten Ausgaben zugeordnet werden können, wird doch das Aufkommen der Einkommensteuer auf die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt, die unzählige Staatsaufgaben zufinanzieren haben. Setzt man Mittel und Zweck in Beziehung zueinander, zeigt sich die Steuererhebung als zur Einnahmeerzielung geeignet und mangels eines milderen, gleich einnahmewirksamen Mittels auch erforderlich. Keine Aussagen lassen sich indessen zur Angemessenheit der Steuerauflage treffen. Hier steht eine bestimmte Zahlungspflicht der Erzielung von Einnahmen in gleicher Höhe gegenüber. Dieses Verhältnis bleibt vom jeweils geschuldeten Betrag unberührt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip versagt daher als Instrument zur Konkretisierung des rechtlich Zulässigen. 4 6 Anders können Steuerauflagen außerhalb des Einkommensteuerrechts zu beurteilen sein, denen der Gesetzgeber einen konkreten Lenkungszweck zugewiesen hat. 247 Das im Einzelfall zulässige Maß der materiellen Steuerlast kann somit von Härtefällen abgesehen nicht aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleitet werden. Deshalb muß das förmliche Gesetz die Grenzen der persönlichen Be-

244 BVerfGE 3, 407 (435); E 7, 244 (251); E 29, 402 (408); E 36, 66 (70); E 38, 61 (79 f.); E 42, 223 (228); E 55, 274 (299) (ständige Rechtsprechung). 245 So aber dem Ansatz nach von Arnim, WDStRL 1980 (39), S. 286 (316 f.), der die Verhältnismäßigkeit von Steuerbelastung und Ausgabengewicht fordert, die aber zur Vermeidung der Popularklage nur als Wirtschaftlichkeitsmaßstab für den Ausgabengesetzgeber dienen soll. Immerhin erlaube dies ein Einschreiten der Rechnungshöfe oder eine abstrakte Normenkontrolle. 246 Insoweit wie hier Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 189, Osterloh, Gesetzesbindung, S. 153, Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 76 ff. 247 Hiergegen Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 80 ff. (91), da der Ordnungszweck bei Lenkungssteuern untrennbar mit dem Finanzierungszweck verbunden sei. Möglich bleibt aber eine Schwerpunktbildung, welchem Zweck die Besteuerung vorrangig dient.

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lastung anordnen, zu denen vor allem die Höhe des Steuersatzes248 zählt. Es ist dem Gesetzgeber verwehrt, die steuerliche Rechtsfolge in das Ermessen der Verwaltung zu stellen, der nicht genügend ermessensleitende Gesichtspunkte zur Verfügung stehen, um den Gesetzeswillen im Einzelfall zu konkretisieren. Anders verhält es sich im Steuerverwaltungsverfahrensrecht, in dem vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingreift. Jede Verfahrensmaßnahme kann als konkretes Mittel in Relation gesetzt werden zu ihrem Zweck, der Durchsetzung des materiellen Steueranspruchs. Unterschiede zum allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht bestehen insoweit nicht. Verglichen mit dem Steuerschuldrecht ist eine tendenziell geringere Gesetzesdichte zulässig.

c) Folgerungen aus der „geringeren Sachgesetzlichkeit" des materiellen Steuerrechts (1) Das sogenannte Tatbestandsmäßigkeitsprinzip Steuern werden nach § 3 Absatz 1 AO allen auferlegt, „bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft", weshalb der Vorbehalt des Gesetzes im Steuerrecht auch als „Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung"249 bezeichnet wird. Dieser Begriff wird häufig mit der Vorstellung verbunden, der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit gehe „über den im öffentlichen Recht ganz allgemein geltenden Grundsatz der Gesetzmäßigkeit wesentlich hinaus"250, was zum Teil auf die behauptete fehlende Sachgesetzlichkeit des Steuerrechts gestützt wird. 251 Ein solches „Tatbestandsmäßigkeitsprinzip" ist abzulehnen. Es trägt nicht dazu bei, den Umfang des Parlamentsvorbehaltes zu klären. Zum einen ist der Begriff wenig aussagekräftig, da jeder Grundrechtseingriff, also auch die Steuerauflage, „tatbestandsmäßig" sein, das heißt die Voraussetzungen des gesetzlichen Tatbestandes erfüllen muß. Zum anderen ist der Ausdruck ungenau, weil nach allgemeiner Ansicht auch die Rechtsfolge des Gesetzes vom

248

Ein anderes gilt, falls der Steuersatz aus nichtfiskalischen Gründen verändert wird, wenn und soweit diese beim Gesetzesvollzug umzusetzen sind; vgl. § 5 III. 5.) zu § 51 Absatz 3 EStG. 249 Kruse, in: Tipke, / Kruse, § 3 RN 25 ff.; derselbe, Lehrbuch, Band I, S. 54 ff.; Brinkmann, S. 6 ff.; Hahn, S. 77 ff. 250 Bühler, l Strickrodt, Band I, 1. Halbband, S. 93. 251 Vor allem Kruse, Lehrbuch, S. 54 ff.

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„Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit" umfaßt sein soll. Schließlich muß der Grundannahme einiger Verfechter des Tatbestandsmäßigkeitsprinzips, das Steuerrecht weise keine verallgemeinerungsfähigen Prinzipien auf, widersprochen werden. Das Steuerrecht kennt einen weiten verfassungsrechtlichen Rahmen und zahlreiche einfachgesetzliche Prinzipien, die durch die Eigengesetzlichkeiten des steuerlich erfaßten Wirtschaftslebens ergänzt werden. Letztere sind zwar ungeeignet, behördliche Ermessensspielräume auszufüllen, helfen aber, den gesetzlichen Tatbestand zu verdeutlichen.

(2) Der zwingend förmliche Gesetzesvorbehalt nach Papier Einen anderen Schluß aus den vermeintlich fehlenden Sachstrukturen des Steuerrechts zieht Papier. Die Untauglichkeit des Übermaßverbotes als Grenze der Besteuerung sei durch einen die Delegation der Entscheidung an die Exekutive weitgehend ausschließenden „zwingend formlichen Gesetzesvorbehalt" zu kompensieren.253 Papiers Ausgangspunkt ist die Annahme, die einschlägigen Grundrechte, das sind für ihn Artikel 12, 14 und 2 GG, unterlägen nur einem „schlichten Rechtssatzvorbehalt"254, auf Grund dessen sie durch Rechtsverordnung ausgestaltet oder beschränkt werden könnten, ohne daß es insoweit255 eines formellen Gesetzes bedürfte. Das Grundgesetz enthalte einen „Rückschritt" an demokratischer Freiheitssicherung gegenüber dem traditionellen Allgemeinvorbehalt, der aber durch materielle Schutzinstrumente wie die Grundrechtsbindun| der Gesetzgebung und das Verhältnismäßigkeitsprinzip ausgeglichen werde.25 Die Volksvertretung werde so als freiheitsschützendes Organ weitgehend durch die 252

Vgl. nur Tipke / Lang, S. 105. Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 74 ff.; der rechtsstaatliche „zwingend förmliche Gesetzesvorbehalt" trete neben den Parlamentsvorbehalt für „staatsleitende Akte" (oben §411.). Kritisch Kirchhof,\ Paul, StuW 1975, S. 357 ff.; Osterloh, Gesetzesbindung, S. 150 ff. 254 Zum Begriff des „schlichten Rechtssatzvorbehaltes" (in Abgrenzung vom zwingend förmlichen und vom nicht zwingend förmlichen Gesetzesvorbehalt) Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 31 f.; zur von den einzelnen Grundrechten nach Papier geforderten Art des Vorbehaltes S. 46 ff. (Artikel 2 GG), S. 52 f. (Artikel 12 GG) und S. 53 ff. (Artikel 14 GG). 255 Daneben fordert Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 67 ff. (71 ff.), eine fömliche Ermächtigung nach Artikel 80 GG. Entgegen der hiesigen These vom einheitlichen Parlamentsvorbehalt versteht Papier den allgemeinen Gesetzesvorbehalt und Artikel 80 GG als zwei isoliert voneinander zu betrachtende, kumulativ zu beachtende Voraussetzungen einer Delegation an den Verordnungsgeber. Siehe oben § 1IV. sowie § 3 II. 3.). 256 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 35 ff. 253

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Judikative ersetzt. Das Übermaßverbot als wichtigste materielle Eingriffsschranke versage aber bei der Steuerauflage mangels Aussagekraft des Vergleichs von staatlichem Einnahmezweck und gleich hoher Zahlungspflicht. 257 Deshalb sei der „schlichte Rechtssatzvorbehalt" nicht mehr gerechtfertigt, sondern durch eine besondere demokratische Freiheitsgewähr in Form eines zwin258

genden Parlamentsvorbehaltes zu ersetzen. Schon die Grundannahme Papiers, die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte auf einen „schlichten Rechtssatzvorbehalt" zu reduzieren, ist unzutreffend. 259 Alle Grundrechtsschranken, seien es Eingriffe oder Ausgestaltungen des Schutzgehaltes, sind in ihren „wesentlichen" Zügen im formellen Gesetz zu regeln. Für Rechtsverordnungen fordert Artikel 80 Absatz 1 GG als Spezialfall des Parlamentsvorbehaltes ein förmliches Ermächtigungsgesetz. Auch das Satzungsrecht, für das Artikel 80 GG nicht gilt, ist in seinen „wesentlichen" Teilen parlamentsgesetzlich vorzuzeichnen.2 Bereits dies bedingt eine parlamentarisch-demokratische Legitimation jeder Freiheitsbeschränkung. Ferner ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Steuerrecht weder völlig wirkungslos noch das einzige verfassungsrechtliche Instrument zum Schutze der Freiheit. Das Übermaßverbot fordert wenigstens, die Obergrenze aus Artikel 14 Absatz 2 Satz 2 GG zu beachten, und untersagt konfiskatorische oder erdrosselnde Steuern. Daneben hält das Grundgesetz andere formelle und materielle Absicherungen bereit wie den Gleichheitssatz, die materiellen Vorgaben anderer Grundrechte (zum Beispiel Artikel 6 GG), den Vertrauensschutzgrundsatz, die Rechtsschutzgarantie oder den verfahrensrechtlichen Schutz der Grundrechte durch Gewährung rechtlichen Gehörs. Die Individualsphäre ist im Steuerrecht trotz der geringeren Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nur tendenziell schwächer geschützt als in anderen Bereichen, die Diagnose Papiers also ungenau. Auch können sich materielle Schutzinstrumente und demokratische Freiheitssicherung nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Die gerichtliche Kontrolle tritt nicht an die Stelle des parlamentarischen Freiheitsschutzes, sondern neben ihn. Beide wahren die Grundrechte nicht alternativ, sondern gemeinsam. Der jeweils gewährte Schutz unterscheidet sich aber nach Art und Maß, da formelle 257 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 76 ff; Papier unterscheidet nicht zwischen den Aussagen des Obermaßverbotes zu Gesetzgebung (§ 4 I. l.)f)) und Rechtsanwendung (§ 4 IV. 3.)b)). 258 Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 92 f. 259 Zu bedenken ist, daß Papiers grundlegende Schrift zum steuerrechtlichen Gesetzesvorbehalt 1973 erschienen ist und daher die kurz zuvor (1972) ergangenen ersten Urteile der Wesentlichkeitsrechtsprechung zwar zitieren (S. 42 ff, S. 66), die anschließende Entwicklung des Vorbehaltsprinzips aber nicht mehr einbeziehen konnte. 260 BVerfGE 33, 125 (152 ff.) (Facharztbeschluß).

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und materielle Schutzinstrumente ihrer Natur nach wesensverschieden sind. Der vermeintliche Ausgleich mangelnden materiellen Grundrechtsschutzes durch einen zwingend formlichen Gesetzesvorbehalt brächte stets einen Schutz anderer Qualität und Intensität. Eine solche Kompensation könnte mit gleicher Begründung ebenso von jedem anderen Schutzinstrument gefordert werden. 261 Schließlich gewichtet Papier den durch einen zwingend formlichen Gesetzesvorbehalt zu erreichenden Schutz der Grundrechte zu stark. Der Gesetzgeber hat zwar jede Freiheitsbeschränkung demokratisch zu legitimieren, er ist jedoch seinerseits durch Artikel 1 Absatz 3 GG an die Grundrechte gebunden und der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen. 262 Das Parlament ist, jenseits der ihm zugebilligten Gestaltungsspielräume, heute nicht mehr zur letztverbindlichen Entscheidung über die Wahrung der Grundrechte berufen. Auch deshalb sollte der Parlamentsvorbehalt nicht als Ausgleich fur schwächeren Schutz der Individualsphäre gesehen werden.

(3) Das Gebot besonderer Bindung der Finanzverwaltung Das Steuerrecht weist entgegen anderslautenden Stimmen einige Grundstrukturen auf, die ermöglichen, die gesetzgeberische Entscheidung im Einzelfall umzusetzen, und so den Verzicht auf eine alle Details vorsehende Normierung rechtfertigen können. Als gesetzliche Regeln enthält das derzeitige Einkommensteuerrecht neben anderen Prinzipien vor allem die steuerrechtliche Betrachtungsweise als Auslegungsregel sowie die Umsetzung der Markteinkommenstheorie in Form von Reinvermögenszugangstheorie und Quellentheorie. Ergänzende tatsächliche Vorgaben macht das Wirtschaftsleben als Anknüpfungspunkt der Steuerauflage. Diese Strukturen sind im Steuerrecht allerdings in schwächerem Maße als in anderen Bereichen aus der „Natur der Sache" vorgezeichnet. Statt von einer „mangelnden" sollte besser von einer „geringeren" Sachgesetzlichkeit gesprochen werden. Dieser Befund beauftragt den Gesetzgeber, die notwendigen 261 Ähnlich Osterloh, Gesetzesbindung, S. 151; die These, die formalgesetzliche Legitimation sei außerhalb des Steuerrechts gerade wegen eines Systems materieller Eingriffsschranken abgeschwächt, sei „unhaltbar". Der zwingende Parlamentsvorbehalt sei nicht geeignet als Mittel demokratischer Kompensation eines vermeintlichen Defizits an Freiheitssicherung (S. 155). 262 Für Osterloh, Gesetzesbindung, S. 152, ist die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers „Ausdruck des Mißtrauens gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber als dem wichtigsten Garanten grundrechtlicher Freiheiten". Papiers Ansatz führe dazu, daß der Gesetzgeber die Freiheit vor sich selbst schützen müsse, und sei daher widersprüchlich.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Grundentscheidungen zu treffen und die daran anknüpfenden, verfassungsrechtlich oder sachgesetzlich vorgefundenen Regelstrukturen der Besteuerung zu verdeutlichen. So verstanden lebt das Steuerrecht in der Tat aus dem „Diktum des Gesetzgebers" , was eine besondere Bindung der Steuerverwaltung durch gesetzliche Leitlinien fordert, ohne übermäßige Anforderungen an die Gesetzesdichte begründen zu können. Das Einkommensteuergesetz muß mangels sachgesetzlicher Vorgaben unbedingt den Belastungsgrund, Steuergegenstand und -Schuldner sowie den Steuersatz festlegen. Die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage knüpft als Ausdruck individueller Leistungsfähigkeit tatbestandlich an wirtschaftliche Vorgänge an, die Eigengesetzlichkeiten in sich tragen und ergänzende Maßstäbe fur die Besteuerung liefern können, deren jeweiliger Deutlichkeitsgrad die gebotene Gesetzesdichte beeinflußt. Die Rechtsfolge des Gesetzes darf nicht in das behördliche Ermessen gestellt werden, weil sich der Fiskalzweck nicht zur weiteren Konkretisierung des Gesetzes eignet. Sozialzwecknormen lassen nach den Sachstrukturen ihres Gegenstandes fragen. Im übrigen hat der Gesetzgeber Regeln aufzuzeigen, die der Rechtsanwendung erlauben, seine Entscheidungen umzusetzen.2 Gerade bei der Normierung der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage, die einerseits die größte Zahl an unterschiedlichen Gesichtspunkten berücksichtigen muß, andererseits am ehesten für eine weitgehende Prinzipienbildung zugänglich ist, empfiehlt sich eine solche Vorgehensweise. Je umfassender diese Regeln gebildet werden, desto entbehrlicher sind detaillierte Spezialregelungen im Gesetzeswortlaut. Die geringere Eigengesetzlichkeit des Steuerrechts verschiebt die Aussagen des Parlamentsvorbehaltes nicht grundsätzlich. Es existiert kein spezieller steuerrechtlicher Gesetzesvorbehalt 6 5 , ein solcher läßt sich auch nicht verfassungsgewohnheitsrechtlich266 herleiten. Anstelle eines streng verstandenen „Tatbestandsmäßigkeitsprinzips" oder eines „zwingend formlichen Gesetzesvorbehaltes" kann nur von einem Gebot besonderer Bindung der Finanzverwaltung gesprochen werden, das eine Verdeutlichung der gesetzlichen Strukturgedanken sowie eine vergleichsweise größere Regelungsdichte fordert. 267 263

BVerfGE 13, 318 (328) im Anschluß an Bühler, / Strickrodt, Band I, 2. Halbband, S. 658. 264 Osterloh, Gesetzesbindung, S. 164, verlangt als „rechtsstaatliche Mindestanforderung", „daß das Gesetz selbst jedenfalls Anknüpfungspunkte für sachgerechte Regelbildung liefert". 265 Ebenso Osterloh, Gesetzesbindung, S. 160. 266 So aber Kruse, Lehrbuch, Band I, S. 58; derselbe, in: Tipke / Kruse, § 3 RN 26; dagegen überzeugend Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 18 ff. 267 Etwas anders Osterloh, Gesetzesbindung, S. 166, die einen „allgemeinen Schluß auf ein Verfassungsgebot besonders strikter Gesetzesbindung" ablehnt.

V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Steuernormen

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V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung materieller Steuernormen 1. Der Tatbestand des Steuergesetzes a) Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln Einkommensteuerrechtliche Tatbestände sind häufig „offen" formuliert, indem sie unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln verwenden, durch die der Gesetzgeber auf Allgemeinheit, das heißt auf Steuergerechtigkeit durch Belastungsgleichheit, abzielt268, bei denen der Rechtsanwender jedoch vor die oft schwierige Aufgabe gestellt ist, den Inhalt des Gesetzes durch Auslegung zu ermitteln und seine tatsächlichen Voraussetzungen zu erkennen.269 Solche auf Vervollständigung durch die rechtsanwendenden Organe angelegten Gesetzestatbestände sind grundsätzlich zulässig und sogar geboten, da eine abstrakt-generelle Festlegung aller Einzelfragen undenkbar wäre. Beispielsweise kommt die Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich nicht ohne eine Berufung auf die „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" aus.270 Die hiernach geltenden Regeln der Buchführung und Bilanzierung sind auch im HGB 271 nur andeutungsweise niedergelegt und müssen vom Rechtsanwender konkretisiert werden, zu welchem Zwecke das

268

Zur Allgemeinheit des Gesetzes oben § 2 I. 1.) und § 2 II. l.)b). Beispielsweise gestattet § 34c Absatz 5 EStG den Erlaß der auf ausländische Einkünfte entfallenden Einkommensteuer, wenn dies „aus volkswirtschaftlichen Gründen zweckmäßig" ist. Nach BVerfGE 48, 210 (221 ff.) ist dieser Rechtsbegriff „hinreichend bestimmt"; anders Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 170; derselbe, DStJG 12 (1989), S. 61 (68). Zu nennen sind auch die steuerrechtlichen Typusbegriffe wie der des „Mitunternehmers" (§ 15 Absatz 1 Nr. 2 EStG). 270 Die „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" gelten nach dem Wortlaut des § 5 Absatz 1 EStG (Maßgeblichkeitsprinzip; vgl. Tipke / Lang, S. 323 ff.) zwar nur für buchführungspflichtige Gewerbetreibende. Sie sind aber auch beim Betriebsvermögensvergleich nach § 4 Absatz 1 EStG anzuwenden, der ohne Bilanz nicht stichtagsbezogen durchführbar wäre; vgl. Tipke l Lang, S. 277. 271 Das HGB regelt einige der wichtigsten Prinzipien selbst und verweist im übrigen in §§ 238 Absatz 1, 239 Absatz 4, 241 Absätze 1, 2 und 3 Nr. 2, 243 Absatz 1, 256, 257 Absatz 3, 264 Absatz 2 HGB seinerseits auf den unbestimmten Rechtsbegriff der „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung". Das Recht der Buchführung ist ein „offenes System"; vgl. Tipke / Lang, S. 327. 269

21 Seiler

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

III Handelsrecht ihm einige Grundprinzipien an die Hand gibt, ohne daß die konkrete Beantwortung einer Frage dem Gesetzeswortlaut entnommen werden könnte. Das für sich betrachtet höchst unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" wird somit durch zahlreiche Kriterien verschiedenster Art ausgefüllt, deren Sachangemessenheit zur realistischen und gleichzeitig periodengerechten Gewinnermittlung nicht zu bestreiten ist, die aber in ihrer Vielfalt wie in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander kaum abschließend kodifiziert werden könnten. Jedenfalls würde ein solches Gesetz die Funktion des Gesetzesvorbehaltes nicht besser erfüllen als die derzeitige Rechtslage. Der Verweis des § 5 EStG auf die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Buchführung und Bilanzierung genügt dem Parlamentsvorbehalt.273 Zugleich gibt er ein Beispiel für die Voraussetzungen und Grenzen des Gebrauchs unbestimmter Rechtsbegriffe. Soweit die Einzelfallgerechtigkeit, eine flexible Rechtsanwendung und die Wahrung tatsächlicher Lastengleichheit, die Steuerumgehungen durch Tatbestandsvermeidungen trotz gleicher Leistungsfähigkeit zu verhindern sucht, es gebieten oder es innerhalb des legislativen Gestaltungsspielraumes jedenfalls gestatten, muß oder kann der Gesetzgeber „offene" Gesetzesformulierungen wählen. Diese sind jedoch nur zu rechtfertigen, wenn und soweit ihre Ausfüllung durch die Rechtsanwendung gesichert ist, das heißt soweit dieser Prinzipien zur Verfügung stehen, die erlauben, die gesetzliche Grundentscheidung im Einzelfall umzusetzen. Der wichtigste in diesem Zusammenhang zu nennende Grundsatz ist jener der steuerrechtlichen Betrachtungsweise, daneben sind stets die Besonderheiten der zu regelnden Materie heranzuziehen. Zur Wahrung der Funktion des Gesetzesvorbehaltes ist einschränkend zu beachten, daß die vom Rechtsanwender zu treffende Entscheidung zumindest in groben Zügen vorhersehbar bleiben muß. All dies ist im Falle der nach allgemeiner Verkehrsauffassung sachgerechten „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" gegeben. Der Gebrauch unbestimmter Rechtsbegriffe im Tatbestand der Steuernorm verletzt nicht die geforderte besondere Bindung der Finanzverwaltung, wenn und weil der Gesetzgeber die zur Ausfüllung „offen" gefaßter Gesetze erforderlichen Regeln mitliefert oder jedenfalls festlegt, welche außerrechtlichen, namentlich wirtschaftlichen Strukturen zur Konkretisierung dienen sollen. Gerade dies bindet die Verwaltung an die Grundentscheidungen des Gesetzgebers. 272

Zu den wichtigsten Grundsätzen zählen die Prinzipien der Wahrheit und der Vollständigkeit (§§ 239 Absatz 2, 246 Absatz 1 HGB), der Bilanzklarheit (§ 243 Absatz 2 HGB), der Bilanzidentität und -kontinuität (§ 252 Absatz 1 Nr. 1 und 6 HGB), das Vorsichtsprinzip (§ 252 Absatz 1 Nr. 4 HGB), das Realisationsprinzip (§ 252 Absatz 1 Nr. 4 2. Halbsatz HGB), das Imparitätsprinzip (§ 252 Absatz 1 Nr. 4 HGB), das Nominalwertprinzip (ungeschrieben) und das Stichtagsprinzip (§ 252 Absatz 1 Nr. 3 HGB). 273 Bezogen auf die „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" ähnlich Papier, DStJG 12(1989), S. 61 (69).

V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Steuernormen

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b) Die Einräumung von Beurteilungsspielräumen Den Finanzbehörden stehen bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe grundsätzlich keine Beurteilungsspielräume zu. 274 Die Anwendung des einkommensteuerrechtlichen Tatbestandes auf den Einzelfall unterliegt regelmäßig in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle. 275 Eine Ausnahme ist nur anzuerkennen, wenn das Gesetz die Verwaltung ermächtigt, die gesetzlichen Voraussetzungen letztverbindlich festzustellen, und diese Abweichung von der in Artikel 19 Absatz 4 GG enthaltenen Grundsatzentscheidung für einen möglichst umfassenden gerichtlichen Rechtsschutz sachlich gerechtfertigt werden kann. Ein Beurteilungsspielraum kann gerechtfertigt sein, wenn die Ermittlung der Voraussetzungen des gesetzlichen Tatbestandes notwendig mit einer Prognoseentscheidung verbunden ist, die in einem gerichtlichen Verfahren nur schwerlich wiederholbar wäre. Soweit die Einschätzung eines steuerrechtlich erheblichen Umstandes von einer zwingend ex ante vorzunehmenden Beurteilung einer tatsächlichen Entwicklung abhängt, kann die Auslegung des Gesetzes ergeben, daß nachträglich eingetretene oder entdeckte Umstände nicht mehr berücksichtigt werden sollen. Die zeitlich vorgehende behördliche Feststellung muß dann grundsätzlich Bestand haben. Die spätere gerichtliche Überprüfung wäre nicht geeignet, die vom Gesetz geforderte zeitnah zu erstellende Einschätzung gleichwertig vorzunehmen, da derjenige, der den wahren Verlauf kennt, nicht mehr frei entscheiden kann, wie die Prognose vor Bekanntwerden der Entwicklung hätte lauten müssen. In Fällen dieser Art mag es möglich sein, der Finanzbehörde im Wege der Auslegung eine auf die Vertretbarkeit ihrer Ausübung überprüfbare Einschätzungsprärogative zuzubilligen.276 274

Vgl. oben § 2 IV. 5.)a)(2) zur „normativen Ermächtigungslehre". Generell gegen Beurteilungsspielräume im Steuerrecht Kruse, in: Tipke / Kruse, § 5 RN 13; anders Vogel, WDStRL 1965 (24), S. 125 (161 f.), der angesichts gewisser Bandbreiten bei der Bewertung steuerlich erheblicher Größen Beurteilungsspielräume annimmt, gerade weil sie durch Steuerrichtlinien ausgefüllt werden können. Dies geht von dem Ergebnis aus, daß die Verwaltungsvorschriften Außenwirkung haben müssen. Ansatzpunkt für eine Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung kann nach der „normativen Ermächtigungslehre" aber nur die Auslegung des Gesetzes sein. Diese kann nicht vom Vorliegen einer Steuerrichtlinie abhängen. Ein Beurteilungsspielraum umfaßt gerade auch die Befugnis, die Gerichte im Einzelfall zu binden. Daß eine zur gleichmäßigen Handhabung vieler Einzelfälle ergangene Richtlinie Außenwirkung erzeugt, ist Folge, nicht Ursache des Beurteilungsspielraumes. Die ergänzende untergesetzliche Rechtsetzung ist Aufgabe der Rechtsverordnung. 276 Als Beispiel mag die Bewertung ungewisser Verbindlichkeiten und drohender Verluste dienen, die davon abhängt, wie wahrscheinlich deren Eintritt zum Zeitpunkt ihrer Bilanzierung ist, die zugleich aber nur ex nunc zu berichtigen ist, falls sich die 275

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Abgesehen von solchen Ausnahmen kennt das Steuerrecht grundsätzlich keine Beurteilungsspielräume. Es sind keine generell vorliegenden Gesichtspunkte ersichtlich, die eine allgemeine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle behördlicher Entscheidungen rechtfertigen könnten.277

c) Gesetzliche Typisierungen und Pauschalierungen Das Einkommensteuerrecht berührt nahezu alle Bereiche des Wirtschaftslebens und ist mit einer kaum übersehbaren Fülle unterschiedlicher Konstellationen konfrontiert, was einen im Vergleich zu anderen Rechtsbereichen gesteigerten Bedarf an Vereinfachungsvorschriften begründet. Der Gesetzgeber sollte daher bemüht sein, der Zahl der zu bearbeitenden Fälle und der Komplexität der Sachverhalte durch gesetzliche Typisierungen und Pauschalierungen zu begegnen, die, indem sie vom Individualmaßstab absehen, zum einen eine vereinfachte Sachverhaltsermittlung erlauben, zum anderen eine schonendere Erforschung persönlicher Lebensumstände gestatten und dadurch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung achten.2 8 279

Die Typisierung ist eine gesetzliche Regelung, die einen als typisch angesehenen „Normalfair verallgemeinernd für alle Fälle dieser Art anordnet und dadurch die Überprüfung, ob es sich im konkreten Fall ebenso verhält, er-

Einschätzung nachträglich ändert. Ähnliches gilt für die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer abschreibungsfahiger Wirtschaftsgüter nach § 7 EStG, die zum Stichtag der Absetzung für Abnutzung schätzungsartig zu bestimmen ist. Ändern sich im Laufe der Nutzungszeit die technischen Bedingungen zum Beispiel durch eine neuartige Erfindung, wird der vergangene, auf der Prognose beruhende Abschreibungsverlauf nicht geändert, es erfolgt höchstens eine Korrektur für die Zukunft. 277 Den Sonderfall der vor einem besonderen Ausschuß abzulegenden Steuerberaterprüfung betreffen §§ 35 ff., 158 Absatz 1 Nr. 1 StBerG, 10 DVStB. Die nach § 33 Absatz 1 Nr. 3 FGO erfolgende gerichtliche Kontrolle ist auf die Einhaltung der allgemeinen Grenzen des Beurteilungsspielraumes bei Prüfungsentscheidungen beschränkt. Vgl. BFH BStBl. II 1976, S. 797 f. = BFHE 120, 106 (107 ff.); BFH BStBl. II 1977, S. 215 (216) = BFHE 120, 462 (464 f.); BFH BStBl. II 1992, S. 634 (635) = BFHE 167, 480 (482 ff.). 278 Wichtigster Fall der verallgemeinernden Behandlung einkommensteuerrechtlich erheblicher Umstände ist der Grundfreibetrag (§ 32a Absatz 1 EStG) zur Freistellung des Existenzminimums. 279 Die Typisierung ist von den Typusbegriffen abzugrenzen, deren Voraussetzungen durch eine Gesamtschau aller im konkreten Fall erheblichen Einzelumstände zu ermitteln sind. Die Typisierung beachtet dagegen nur die regelmäßig vorliegenden Gegebenheiten des „Normalfalls".

V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Steuernormen

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280

übrigt. Eine gesetzliche Pauschalierung bestimmt eine einkommensteuerrechtlich erhebliche Größe aus Vereinfachungsgründen ziffernmäßig ohne Rücksicht auf eine entsprechende tatsächliche Vermutung. Bestes Beispiel ist der Arbeitnehmer-Pauschbetrag (§ 9a Satz 1 Nr. 1 a) EStG). 281 282

Derartige Typisierungen und Pauschalierungen sind, soweit sie gesetzlich angeordnet werden, grundsätzlich vereinbar mit dem Parlamentsvorbehalt. 283 Es stellt sich lediglich die Frage ihrer inneren Rechtfertigung, die jedoch in erster Linie eine solche des zulässigen Gesetzesinhaltes, nicht der Gesetzesdichte ist. Maßstab einer Überprüfung ist insbesondere Artikel 3 GG. Der Arbeitnehmer-Pauschbetrag behandelt zum Beispiel Arbeitnehmer, denen tat280 Genannt sei die Bewertung von zum Betriebsvermögen gehörenden abnutzbaren Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens nach § 6 Absatz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG (vgl. Glanegger, in: Schmidt, EStG, § 6, RN 280 ff.). Ohne diese Norm müßte fur jedes Wirtschaftsgut in jedem Jahr der genaue Wert zum Stichtag ermittelt werden. Die Vorschrift gestattet zusammen mit den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung, das Wirtschaftsgut mit seinen Anschafïungs- und Herstellungskosten vermindert um die Absetzungen für Abnutzung nach § 7 EStG anzusetzen. Das Gesetz unterstellt so, daß das Wirtschaftsgut typischerweise jedes Jahr genau den gesetzlich vorgesehenen Wertverlust erleidet, bei linearer Absetzung nach § 7 Absatz 1 EStG also in jedem Jahr seiner betùébsgewôhnlichen (und damit ihrerseits typisierten) Nutzungsdauer den gleichen anteiligen Betrag. Sofern der Steuerpflichtige keinen niedrigeren Teilwert nachweist (§ 6 Absatz 1 Nr. 1 Satz 2 EStG), wird der konkrete Wert nicht ermittelt. Ein anderes Beispiel liefert § 9 Absatz 1 Satz 3 Nr. 6 EStG, nach dem Aufwand für „typische Berufskleidung" abzugsfahig ist. Ausgenommen sind auch privat nutzbare Kleidungsstücke, selbst wenn sie im Einzelfall nachweislich nur beruflich getragen werden. Die Norm wiederholt nur die schon vor der klarstellenden Neufassung übliche Gesetzesauslegung; vgl. BFH BStBl. II 1980, S. 73 (74) = BFHE 129, 153 (155 ff.); BFH BStBl. II 1980, S. 75 (76 f.) = BFHE 129,149 (151 ff.) (ständige Rechtsprechung). Zur rechtsanwendend abgeleiteten Typisierung vgl. § 4 VI. 281 Bei Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit werden pauschal DM 2.000,Werbungskosten angesetzt, sofern der Steuerpflichtige nicht höhere Aufwendungen nachweist. Dies gilt sogar dann, wenn die Verwaltung sichere Kenntnis davon erlangt hat, daß der Bürger keine solchen Ausgaben getätigt hat. Näheres bei Drenseck, in: Schmidt, EStG, § 9a, RN 1 ff. 282 Auch wenn der Wesensunterschied zwischen Typisierung und Pauschalierung in der Anknüpfung an das tatsächlich „Übliche" liegt, zeigt sich diese Grenze als konturenarm, da entsprechende „tatsächliche Vermutungen" keinesfalls stets den gleichen Grad an Wahrscheinlichkeit aufweisen. Beide Instrumente werden daher nachfolgend grundsätzlich gleichgestellt, soweit nicht ausdrücklich auf ihre Besonderheiten eingegangen wird. 283 Die Rechtsprechung billigt solche Vereinfachungszwecknormen regelmäßig; vgl. nur BVerfGE 78, 214 (226 f.) (außergewöhnliche Belastung); E 84, 348 (359 f.) (Zweifamilienhaus); E 87, 153 (172) (Existenzminimum); E 93, 121 (138) (Begrenzung der Gesamtbelastung durch den „bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen" zu wahrenden Halbteilungsgrundsatz); E 96, 1 (9 f.) (Arbeitnehmer-Pauschbetrag).

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

sächlich keine Werbungskosten entstanden sind, und Arbeitnehmer, bei denen Aufwendungen in entsprechender Höhe angefallen sind, ohne Rücksicht auf ihre unterschiedliche individuelle Leistungsfähigkeit gleich. Diese Gleichbehandlung ungleicher Fälle kann in den Grenzen des durch die sogenannte „neue Formel" in den Gleichheitssatz integrierten Verhältnismäßigkeitsprinzips gerechtfertigt werden, weil die vereinfachte Sachverhaltsermittlung zur Entlastung der Finanzverwaltung und der Gerichte beiträgt. Die Vereinfachungsfunktion als gleichheitsrechliches Differenzierungskriterium muß als an die gesetzliche Regelung anknüpfende Folgeentscheidung auslegungsfähig im Gesetz niedergelegt sein. Sie unterliegt gerade aus diesem Grunde einem einfachgesetzlich ausgelösten Folgevorbehalt, der jedoch regelmäßig durch die Möglichkeit einer teleologischen Auslegung gewahrt wird.

2. Die Rechtsfolge des Steuergesetzes a) Die Leistungsfähigkeit ausgestaltende Normen Trotz aller Kontroversen über die Aussagen des Gesetzmäßigkeitsprinzips zur gebotenen Gesetzesdichte sowie zum Verhältnis von Gesetzgeber und Rechtsanwendung besteht weithin Einigkeit, daß das materielle 284 Steuergesetz die Entscheidung über Entstehung und Höhe der Steuerlast nicht in das Ermessen der Verwaltung stellen darf. 285 Tieferer Grund dessen ist das Fehlen ermessensleitender Gesichtspunkte, die erlauben, ein etwaiges Ermessen willkürfrei auszuüben. Belastungsgrund, Regeln und Grenzen der Einkommensteuer werden erst durch das Gesetz näher bestimmt, wobei dem Gesetzgeber nur schwache Vorgaben aus der „Natur der Sache" zur Verfügung stehen, die seine Entscheidung anleiten können. Das Steuerrecht lebt insoweit aus dem „Diktum des Gesetzgebers"286. Dieser hat die individuelle Leistungsfähigkeit zum Anknüpfungspunkt der Steuerauflage gemacht, was ein wirtschaftlich ausgerichtetes Verständnis des gesetzlichen Tatbestandes bedingt, dem durch die steuerrechtliche Betrachtungsweise Rechnung zu tragen ist. Somit haben aber alle die Steuerwürdigkeit aus284 Zulässig sind Ermessensentscheidungen hingegen im Steuerverwaltungsverfahrensrecht. 285 Diese Aussage ist steuerliches Gemeingut seit der Erkenntnis von Otto Mayer, S. 316, die Steuerauflage müsse „rechtssatzmäßig geregelt sein, ohne Zutat irgendwelchen freien Ermessens". 286 BVerfGE 13, 318 (328) (Ehegatten-Arbeits Verträge).

V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Steuernormen

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machenden Umstände bereits auf der Tatbestandsseite der Norm Eingang in die Steuerrechtsentscheidung gefunden. Sie sind im Hinblick auf eine Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite des Gesetzes gleichsam „verbraucht". 287 Folglich darf die Beantwortung der Frage, „ob" und „wie hoch" eine Steuer erhoben wird, nicht der Rechtsanwendung überlassen werden. Über diese „wesentliche" Angelegenheit muß der formelle Gesetzgeber selbst befinden. Das geltende Recht kommt dem nach, indem es die Steuer in §§ 3, 38 AO in Verbindung mit § 36 EStG mit Ablauf des Veranlagungszeitraumes durch Gesetz, nicht erst durch eine auf eigener Wertsetzung beruhende Entscheidung der Behörde auf Grund eines Gesetzes entstehen läßt. Gerade hier zeigt sich das Gebot besonderer Bindung der Finanzverwaltung. Anders verhält es sich, wenn und soweit eine gebundene Entscheidung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht gerecht werden kann. Da atypische Umstände nicht vom notwendig verallgemeinernden gesetzlichen Tatbestand erfaßt werden können, gebietet es das Übermaßverbot, der Finanzverwaltung die Möglichkeit einer flexiblen Gesetzeshandhabung in Einzelfällen einzuräumen, in denen die Steuerlast trotz generell vertretbarer Gesetzeslage konfiskatorische oder erdrosselnde Wirkung erreicht. 288 Gesetzestechnisch kann dies durch Öffnungsklauseln in Gestalt von Ermessensnormen umgesetzt werden, zu deren Ausfüllung die andersartige Leistungsfähigkeit konkrete ermessensleitende Gesichtspunkte zur Verfügung stellt. Zu diesem Zwecke sehen § 163 AO die abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen im Festsetzungsverfahren, § 222 AO die Stundung und § 227 AO den Erlaß bei Unbilligkeit im Erhebungsverfahren vor. 289 Daneben können ausnahmsweise außerhalb der individuellen Leistungsfähigkeit liegende Umstände Abweichungen von derselben gestatten und der Behörde Anhaltspunkte für die Entscheidung hierüber aufzeigen. So erlaubt § 34c Absatz 5 EStG der Exekutive, die auf ausländische Einkünfte entfallende deutsche Einkommensteuer nach ihrem Ermessen ganz oder zum Teil zu erlassen oder pauschal festzusetzen, wenn dies aus volkswirtschaftlichen 287

Erinnert sei an den Vergleich zum vom Opportunitätsprinzip geprägten Polizeirecht. Dessen Tatbestände erfassen nicht alle maßgeblichen Umstände, sondern überlassen Aspekte wie die Bedeutung der gefährdeten Schutzgüter, die Intensität der Gefahr, die Effektivität der Maßnahme oder die konkrete Grundrechtsbetroffenheit des Polizeipflichtigen der Ermessensausübung. 288 Eine ähnliche Wirkung erzielt das derzeitige Recht zum Teil bereits durch die Vorschriften der §§ 33 ff. EStG, welche auf der Tatbestandsseite des Steuergesetzes den Abzug „außergewöhnlicher" Aufwendungen zulassen. Mangels behördlicher Beurteilungsspielräume unterliegen diese Vorschriften jedoch voller gerichtlicher Kontrolle, gestatten also keine letztverbindliche Entscheidung der Behörde. 289 Hierzu Isensee, in: Festschrift für Flume, Band II, S. 129 ff.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Gründen zweckmäßig oder die Anwendung des Anrechnungsverfahrens (Absatz 1) besonders schwierig ist. Die Norm ist in doppelter Hinsicht „offen" gestaltet.290 Auf der Tatbestandsseite verwendet sie den unbestimmten Rechtsbegriff der „volkswirtschaftlichen Zweckmäßigkeit", auf der Rechtsfolgenseite der Norm gewährt sie den Behörden einen Ermessensspielraum.291 Dies ist zulässig, da als taugliche ermessensleitende Gesichtspunkte das Maß der volkswirtschaftlichen Zweckmäßigkeit sowie der Grad der Schwierigkeit der Anwendung des Anrechnungsverfahrens fruchtbar gemacht werden können. Wegen Artikel 3 GG wird man jedoch den Ermessensspielraum einengend auslegen müssen. Die Verwaltung bleibt grundsätzlich an die Leistungsfähigkeit gebunden, von der sie allein nach Maßgabe dieser ermessensleitenden Gesichtspunkte absehen darf. Die Ermessensbetätigung ist insofern „intendiert", die Berücksichtigung weiterer Umstände wäre ermessensfehlerhaft. 292

b) Verschonungssubventionen 2Q1

Verschonungssubventionen knüpfen nicht an die Leistungsfähigkeit an. Da sie anderen als Fiskalzwecken dienen, sind bei ihnen nicht alle für die Steuerrechtsentscheidung erheblichen Umstände bereits auf der Tatbestandsseite der Norm „verbraucht". Außerdem wäre ein behördlicher Ermessensspielraum unbedenklich, falls der Gesetzgeber keine steuerrechtliche Besserstellung, sondern ein Leistungsgesetz gewählt hätte. Es bleibt zu fragen, ob die Entscheidung über die Gewährung einer Steuersubvention ebenfalls in das Ermessen der Finanzverwaltung gestellt werden dürfte, die dann berücksich290

Dennoch unterscheidet sich § 34c Absatz 5 EStG dadurch von den in Tatbestand („Billigkeit") und Rechtsfolge (Ermessen) an die Leistungsfähigkeit anknüpfenden §§ 163, 227 AO, daß beide Bestandteile des Gesetzes nicht in vergleichbarer Weise untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. oben § 2 IV. 5.)c) zu den Koppelungsvorschriften), sondern Zweckmäßigkeit und Leistungsfähigkeit bei der Ermessensausübung wertend gewichtet werden können und müssen. 291 Beides ist nach BVerfGE 48,210 (221 ff.) in diesem Fall unbedenklich. 292 Vgl. zum „intendierten Ermessen" BVerwGE 72, 1 (6). Maurer, Verwaltungsrecht, S. 123 f., kritisiert diese Rechtsfigur, der Gesetzgeber solle sich vielmehr einer Soll-Vorschrift bedienen. Dem ist nur eingeschränkt zuzustimmen. Der geringfügige Unterschied zwischen beiden Erscheinungsformen gesetzlich angeleiteter Entscheidungen liegt darin, daß die Soll-Vorschrift das Ergebnis der Rechtsfindung für den Regelfall vorzeichnet und Abweichungen hiervon nur bei atypischen Umständen gestattet. Die intendierte Ermessensbetätigung zielt indessen auf den Vorgang der Überzeugungsbildung ab und erklärt hierfür nur einzelne Gesichtspunkte für erheblich, was jedoch das Ergebnis der Ermessensausübung mitbestimmt. 293 Vgl. oben § 41. 3.)b).

V. Rechtstechnische Anforderungen an die Gestaltung von Steuernormen

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tigen könnte, in welchem Maße das konkrete Vorhaben forderungswürdig ist. 294 Die demokratische Wurzel des Gesetzesvorbehaltes erhebt insoweit keine Bedenken. Eine entsprechende Leistung müßte mangels eines Totalvorbehaltes lediglich im Haushaltsplan festgelegt werden, der die Exekutive nur ermächtigt, nicht verpflichtet. Zudem gewährleistet die Befassung des Steuergesetzgebers mit der Begünstigung eine der Entscheidung über ein Leistungsgesetz vergleichbare und damit hinreichende parlamentarische Beteiligung.295 Die Steuervergünstigung unterliegt jedoch als „negative Eingriffsvoraussetzung" dem Gesetzesvorbehalt, der allerdings eine geringere gesetzliche Regelungsdichte genügen läßt. Insbesondere die Vorhersehbarkeit des Steuerzugriffs muß gewahrt bleiben. Der Steuerpflichtige muß im Zeitpunkt der Tatbestandsverwirklichung erkennen können, welche Steuerfolgen auf ihn zukommen. Will die Verschonungssubvention ein bestimmtes Verhalten des Bürgers anregen, so muß dieser bereits vor seiner wirtschaftlichen Disposition eine rechtsverbindliche Entscheidung über Art und Höhe der steuerlichen Folgen erwirken können, da der Gesamteingriff nur auf diese Weise vorhersehbar bleibt. Dem könnte das Steuergesetz durch eine vorab zu erteilende Subventionsbewilligung Rechnung tragen. Die Rechtslage wäre dann für den Steuerpflichtigen ebenso eindeutig wie bei einer gebundenen gesetzlichen Regelung. Unzulässig wäre hingegen eine nachträgliche Ermessensentscheidung über die Förderungswürdigkeit, auf Grund derer die Gesamthöhe des Steuereingriffs unklar bliebe. Die Gewährung einer Verschonungssubvention darf also im Ermessen der Exekutive stehen, wenn und soweit genügend ermessensleitende Gesichtspunkte vorliegen und der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch eine verbindliche Entscheidung Klarheit über die Steuerrechtslage erlangt haben kann. Wenig Aussagen zum Parlamentsvorbehalt macht der Gleichheitssatz, der nur eingreift, wenn und soweit der Gesetzgeber sich zu einer Regelung entschlossen hat. Daher verbietet Artikel 3 GG auch nicht, die Entscheidung über die Vergünstigung der Exekutive zu überlassen. Lediglich soweit die gesetzliche Regelung reicht, muß sie zur Ermöglichung einer gerichtlichen Über294

Beispielsweise könnte der Gesetzgeber die Förderung des Denkmalschutzes anders regeln. Denkbar wäre es, die erhöhten Absetzungen nach § 7i EStG abhängig zu machen von einer Entscheidung der Landesfinanzbehörde (eventuell im Benehmen mit anderen Behörden), ob und wie hoch eine Unterstützung erfolgen soll. Ermessensleitende Kriterien wären Alter und Lage eines Gebäudes sowie seine architektonische, kulturelle und geschichtliche Bedeutung. 295 Oben § 4 II. 1.) am Ende; vorzugswürdig, aber verfassungsrechtlich nicht zwingend, bleibt die periodische Leistungsbewilligung und damit die jährliche Befassung des Parlaments mit der Mittelverwendung.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

prüfung den Ansatzpunkt ihrer gleichheitsrechtlichen Differenzierung erkennen lassen. Daneben muß die Subvention auch inhaltlich gleichheitskonform sein, dies ist aber eine Frage ihrer inneren Rechtfertigung, nicht des Gesetzesvorbehaltes.

3. Das Gesamtgeföge steuerlicher Eingriffsnormen Eine wesentliche Besonderheit des Steuerrechts im Vergleich zu anderen Teilen des Verwaltungsrechts liegt darin, daß die Steuer nicht auf der Grundlage einer einzelnen Ermächtigungsgrundlage mit wenigen diese Vorschrift ergänzenden Einzelregelungen, sondern nach Maßgabe eines ganzen Normensystems erhoben wird. Deshalb müssen sich die Anforderungen des Vorbehaltsgrundsatzes im Einkommensteuerrecht nicht nur an einzelne Bestimmungen des Gesetzes richten, sondern an das Normensystem als solches. Dieses muß die wenigstens in Grundzügen zu wahrende Vorhersehbarkeit der Steuerauflage ermöglichen, wozu es eines inhaltlich verständlichen, klaren und eindeutigen Regelwerkes bedarf. Die gebotene Lastengleichheit der Besteuerung fordert ebenfalls ein möglichst einfaches Steuerrechtssystem, da jedes unnötig komplizierte, aber zugleich verschiedene Gestaltungen erlaubende Gesetz die Steuerbelastung im Ergebnis von den Fähigkeiten des herangezogenen Steuerberaters und nicht von der individuellen Leistungsfähigkeit abhängig macht.296 Zudem ergibt sich die steuerliche Gesamtbelastung erst aus einem Zusammenspiel von Fiskal- und Sozialzwecknormen, was besondere Bedeutung erlangt, wenn die Steuersätze gerade wegen der zahlreichen Ausnahmen vom Gesetzgeber höher angesetzt werden müssen, um Einnahmeausfälle abzugleichen. Schließlich muß das materielle Steuergesetz zur Absicherung der tatsächlichen Belastungsgleichheit in ein verfahrensrechtliches Umfeld eingebettet werden. 297 Legt man diesen Maßstab an das derzeitige Einkommensteuerrecht an, so erweckt weniger die Unbestimmtheit einzelner Steuernormen rechtsstaatliche ..

298

Bedenken als das kaum noch durchschaubare, aus einem Ubermaß an Einzelvorschriften bestehende Gesamtsystem, das den Anforderungen des Vor-

296

Eine so ausgestaltete Einkommensteuer verkäme in der Tat zur von Rose, in: Festschrift fur Tipke, S. 153 ff., behaupteten „Dummensteuer" als „staatliche Abgabe für Denkfaulheit". 297 BVerfGE 84, 239 (Zinsbesteuerung). 298 Tipke, Steuerrechtsordnung, Band 1, S. 174, spricht von „Normenhypertrophie".

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

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behaltsprinzips wohl nicht mehr gerecht wird. 299 Verfassungsrechtlich geboten ist eine Reform des Einkommensteuergesetzes, die dem Gedanken der Steuervereinfachung Rechnung trägt. Als Lösungsvorschlag bietet sich die vermehrte Verwendung typisierender und pauschalierender Regelungen im gesetzlichen Steuertatbestand an. 300 Nur eine gesetzgeberische Beschränkung auf das Wesentliche kann den Normzweck stärker verdeutlichen und damit zu mehr Steuergerechtigkeit fuhren. Jedenfalls sind zahlreiche Ausnahmevorschriften zu streichen. Sinnvoll erscheint es des weiteren, die Zahl der Einkunftsarten zu reduzieren, um bisherige Abgrenzungsschwierigkeiten zu beheben.301

VI. Anhang: Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

1. Problematik Die Steuerverwaltung ist mit der angesichts einer unübersichtlichen Rechtslage und einer Vielzahl von Veranlagungsverfahren kaum noch zu bewältigenden Aufgabe der Einzelfallprüfung jedes Steuerfalles betraut. Den Finanzbehörden muß deshalb, um ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen zu können, an einer vereinfachenden Handhabung des Steuerrechts gelegen sein. Aus diesem Grund bedient sich die Praxis häufig im Gesetzeswort/ daß die Auslegung des Gesetzes als Ermittlung des 316

Eine andere Frage ist jene, ob und inwieweit auch die Exekutive Recht setzen darf. Selbst wenn man in weitem Umfang Beurteilungsspielräume zulassen wollte, könnte dies nicht die Befugnisse der Rechtsanwendung (Exekutive und Judikative) erweitem, sondern nur die gerichtliche Kontrolle der Behördentätigkeit beschränken. Maßstab bleibt stets das Gesetz. 317

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

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objektivierten Gesetzesinhaltes vor allem bei vom Gesetzgeber nicht vorherbedachten Fallkonstellationen nicht nur einen reinen Erkenntnisakt, -J 1 Q

sondern auch originär schöpferische Elemente enthält. Eine „materielle" Typisierung ist beispielsweise die „Drei-Objekte-Regel"319 zum gewerblichen Grundstückshandel. Sie wird von Finanzbehörden und -gerichten weitgehend ungeachtet der konkreten Umstände, etwa des Wertes der Objekte320, angewandt. Der Gesetzgeber wollte eine strikte Grenze zwischen Gewinn- und Überschußeinkünften normieren. Dies konnte wegen der unterschiedlichen Eigenschaften der jeweils übertragenen Gegenstände nicht fur alle denkbaren Veräußerungsgeschäfte abstrakt-generell geschehen, sondern bedurfte der detaillierenden Konkretisierung. Die Rechtsanwendung ist lediglich der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgabe nachgekommen, diese Trennlinie fur einzelne Arten von Wirtschaftsgütern nachzuzeichnen. Dennoch wird eine solche Gesetzesauslegung, durch die, soweit sie von der gesetzesvollziehenden Exekutive vorgenommen wird, die Gerichte nicht gebunden werden können321, häufig scheitern. Das Einkommensteuerrecht knüpft grundsätzlich an die individuelle, nicht an die durchschnittliche Leistungsfähigkeit an. Der Gesetzgeber will deshalb nicht die typische, sondern die konkrete Steuerwürdigkeit ermittelt wissen. Nur ausnahmsweise erklärt das Gesetz den üblichen Fall zum steuerrechtlichen Standardfall und läßt als Folge dessen den Gegenbeweis außergewöhnlicher Umstände rechtlich unerheblich werden. „Materielle" Typisierungen sind deshalb nur vereinzelt zulässig.322

3. Sogenannte „formelle"

oder „hypothetische" Typisierungen

323

Die sogenannten „formellen" oder „hypothetischen" Typisierungen können ebenfalls Ausdruck zulässiger Normkonkretisierung sein, sofern sie mit 318

Oben § 2 IV. 4.)a). Oben § 4IV. 3.)b)(2) mit Fußnote 238. 320 So werden drei Miteigentümeranteile erfaßt, zwei Objekte von großem Wert hingegen nicht. 321 BVerfGE 78, 214 (226 ff.) (außergewöhnliche Belastung) mit Anmerkung Osterloh, JuS 1990, S. 100 ff. 322 Ähnlich Kirchhof Paul, in: Kirchhof ! Söhn, EStG, § 2, RN A 571 („Einzelfälle" zulässig); fur eine (bei entsprechender Auslegung) grundsätzliche Zulässigkeit Osterloh, Gesetzesbindung, S. 168 f.; strenger Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 202 ff. (Verletzung des Vorbehaltsprinzips). 323 Der Begriff der „formellen" Typisierung ist insofern ungenau, als es sich nicht um eine Regelung des Verfahrens-, sondern des materiellen Rechts handelt, die das gebo319

22 Seiler

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

dem Gesetzesinhalt in Einklang stehen. Sie unterscheiden sich insoweit nicht von den soeben erörterten „materiellen" Typisierungen. Die wesentliche Besonderheit „formeller" Typisierungen liegt darin, daß sie zwar auf den Regelfall abstellen, aber keine generelle Verbindlichkeit beanspruchen, sondern atypische Umstände berücksichtigen und somit auch deren Nachweis gestatten.3 Dennoch handelt es sich um materielle Entscheidungen, die Verfahrens- und beweisrechtliche Folgewirkungen325 haben, nicht hingegen um Regelungen des formellen Rechts.3 6 Ebensowenig wie es dem Rechtstene Maß der Sachverhaltsermittlung rechtlich vorzeichnet. Dennoch sei, um Mißverständnisse zu vermeiden, an diesem eingebürgerten Begriff festgehalten. 324 Konkretisieren beide Typisierungsformen gleichermaßen den Gesetzeswillen und unterscheiden sie sich im wesentlichen durch die Möglichkeit des Gegenbeweises, kann man die „formelle" als „wesensgleiches Minus" zur „materiellen" Typisierung bezeichnen. Osterloh, Gesetzesbindung, sieht die erstere als „abgeschwächte Form" der letzteren an (S. 78 ff.). 325 Beweisrechtliche Folgewirkungen sind keine Besonderheit von Typisierungen und Pauschalierungen, sondern treten bei jeder Regelung des materiellen Steuerrechts ein. Zwar kennt das Steuerrecht wegen des Untersuchungsgrundsatzes keine subjektive Beweislast (Beweisführungslast), die erforderlichen Beweise sind vielmehr von Amts wegen zu erheben und frei zu würdigen, jedoch enthebt dies den Steuerpflichtigen nicht etwaiger Folgen der Unerweislichkeit einzelner Umstände, deren Auswirkungen die objektive Beweislast (materielle Beweislast oder Feststellungslast) bestimmt. Als (vereinfachende) Faustformel gilt, daß der Staat die Beweislast für steuerbegründende und erhöhende, der Bürger für steuermindernde und -befreiende Umstände trägt. Dies bedingt, daß der Gesetzgeber je nach gewählter Regel-Ausnahme-Gestaltung beweisrechtliche Folgewirkungen auslösen kann, ohne sie ausdrücklich zu normieren. Gleiches gilt auch für zulässige Gesetzeskonkretisierungen der Rechtsanwendung, wenn sie eine dem Gesetz zu entnehmende Regel verdeutlichen, nach der bei Fehlen besonderer Umstände auf den typischen Fall abzustellen ist, und dadurch widerlegbare Regelvermutungen aufstellen. Vgl. zur Beweislast im Steuerrecht Tipke / Lang, S. 847. 326 Osterloh, Gesetzesbindung, S. 203 - 331, diskutiert die „formelle" Typisierung schwerpunktmäßig im Zusammenhang des Beweisrechts. Dort biete sie durch die Aufstellung von Erfahrungssätzen eine Orientierungshilfe im Rahmen der freien Beweiswürdigung und führe vor allem zu einer Reduzierung des Beweismaßes, das heißt zu einer Herabsetzung der gebotenen „hinreichenden Wahrscheinlichkeit" bei der Überzeugungsbildung des Rechtsanwenders. Dagegen verbiete es sich, die Regeln der Beweislastverteilung als legitimes Anwendungsfeld typisierender Rechtsanwendung in Erwägung zu ziehen, da dies ein Problem normspezifisch zu bestimmender Risikoverteilung nach Scheitern der Sachverhaltsermittlung sei. Dem ist nicht zu folgen. So wie es - auch nach Ansicht von Osterloh - möglich ist, dem Steuergesetz durch Auslegung „materielle" Typisierungen als unwiderlegliche Vermutungen zu entnehmen, muß es denkbar sein, durch Normkonkretisierung Regelvermutungen, die eine normspezifische Risikoverteilung bewirken, zu entwickeln, soweit diese dem Grundsatz nach im Gesetz angelegt sind. Daß „formelle" Typisierungen Auswirkungen auf die freie Beweiswürdigung und das gebotene Beweismaß haben können und dürfen, soll hingegen nicht bestritten werden. Allerdings ist dies nicht ihr

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

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anwender wegen §§88 AO, 76 FGO erlaubt ist, von der vollumfänglichen Prüfung des rechtlich erheblichen Sachverhaltes abzuweichen, darf er selbst die Frage des Nachweises der sachlichen Voraussetzungen des Steuergesetzes gestalten.327 Denkbar ist lediglich eine Konkretisierung des materiellen Steuerrechts, die eine Bezugnahme des Gesetzes auf eine üblicherweise gegebene Falkonstellation als Regelvermutung zum Vorschein bringt. Liegt dieser Regelfall vor und fehlen Anzeichen für außergewöhnliche Umstände, handelt der Rechtsanwender ermessensfehlerfrei, wenn er auf weitere Ermittlungen verzichtet (§ 88 Absatz 1 Satz 2 AO). Der Steuerpflichtige muß, will er dies verhindern, seinen Mitwirkungspflichten nachkommen (§ 90 AO) und so die Regelvermutung entkräften. Die Finanzbehörde muß diese Angaben prüfen und gegebenfalls weitere Ermittlungen anstellen (§ 88 Absatz 2 AO). Läßt sich die Sachlage nicht mit vertretbarem Aufwand klären (§ 88 Absatz 1 Satz 3 AO), sind die Regeln der objektiven Beweislast anzuwenden. Die „formelle" Typisierung konkretisiert somit den Inhalt des materiellen Gesetzes und beeinflußt, da sie das Festzustellende und das Nachzuweisende vorzeichnet, Feststellung und Nachweis des Sachverhalts. Jede weitergehende Abänderung des gesetzlichen Verfahrens- oder Beweisrechts wäre nicht mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip vereinbar. Ein derartiger gesetzgeberischer Wille wird allerdings nicht bei allen materiellen Steuertatbeständen zu verzeichnen sein. Die Verwaltung kann nur von Fall zu Fall, nicht aber generell auf „formelle" Typisierungen zurückgreifen. Im übrigen darf der Rechtsanwender auch dort, wo eine typisierende Auslegung keinen Erfolg hat, aus typischerweise gegebenen Fallkonstellationen verallgemeinernde Schlüsse in Form von Erfahrungssätzen, vor allem in Gestalt des Beweises des ersten Anscheins, ziehen, welche bei Fehlen abweichender Umstände zur Bildung einer entsprechenden Überzeugung des Verwaltungsbeamten wie des Richters beitragen dürfen und hierdurch die Anforderungen an das gebotene Beweismaß reduzieren können.328 Bei diesen handelt es sich anders als bei den zuvor untersuchten, im Gesetz auslegungsfähig niedergelegten Typisierungen nicht um Regelungen des materiellen Steuerrechts, sondern des Beweisrechts. Sie gewinnen ihre eigentlicher Regelungsgehalt, sondern nur die Folge dessen, daß der Rechtsanwender bei Vorliegen des gesetzlich vorgesehenen, konkretisierten Regelfalles sowie bei Fehlen von auf einen atypischen Fall weisenden Indizien die gesetzliche Rechtsfolge aussprechen darf, ohne weitere Ermittlungen anstellen zu müssen. 327 Das gelegentlich (zum Beispiel bei Osterloh, Gesetzesbindung, S. 228 ff.) diskutierte Problem der Abgrenzung zur lediglich im Fall des Scheitems der Sachverhaltsfeststellung und nur als ultima ratio zulässigen Schätzung der Besteuerungsgrundlagen gemäß §§162 AO, 96 Absatz 1 FGO stellt sich nicht, da bei der „formellen" Typisierung alle rechtlich erheblichen Tatsachen ermittelt werden müssen. 328 Osterloh, Gesetzesbindung, S. 208 ff.

340

§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Aussagekraft nur aus der „Natur der Sache", nicht aus rechtlichen Entscheidungen der zuständigen Stellen und sind daher keine Erscheinungsform der Typisierung im eigentlichen Sinne.329 Entsprechende Verwaltungsanweisungen können keinesfalls Bindungswirkungen außerhalb der Verwaltung erzeugen.

4. „ Typisierende

Betrachtungsweise " als Auslegungsregel des Steuerrechts?

Die von der Rechtsanwendung entwickelten Typisierungen sind kein eigenes Phänomen des Steuerrechts, sondern das Ergebnis der Gesetzesauslegung nach den allgemeinen Regeln der Methodik. Gleichwohl läßt sich feststellen, daß derartige Normkonkretisierungen in der Praxis des Steuerrechts häufiger zu finden sind als in anderen Rechtsbereichen. Der Gebrauch dieser Vereinfachungsinstrumente in dem von den Finanzbehörden angenommenen Ausmaß ließe sich erklären, falls man dem Einkommensteuergesetz eine Auslegungsregel entnehmen könnte, die im Zweifel eine „typisierende Betrachtungsweise" anordnet. Den umfassendsten Vorschlag in diese Richtung hat Hans-Wolfgang Arndt gemacht.330 Ausgehend von einem „Vollzugsnotstand"331, der einen vereinfachten Gesetzesvollzug erfordere, sowie von der grundsätzlichen Erkenntnis, daß die Zulässigkeit von Typisierungen eine Frage der Gesetzesauslegung ist 332 . entwickelt er, um den behaupteten Gegensatz von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Gesetzesanwendung333 zu beheben, eine „Konfliktlösung

329 Eine solche „beweisrechtliche Lösung" durch eine jedenfalls in gewissem Maße anzuerkennende „tatsächliche Vermutung für das Typische" kann nur begrenzt behördlich angenommene Pauschalierungen rechtfertigen, die meistens nicht die übliche Sachlage widerspiegeln, sondern allein Vereinfachungszwecken dienen. Lediglich ausnahmsweise können gewisse AfiWetfbeträge dem Typischen entsprechen; vgl. unten § 4 VI. 6.). 330 Arndt, Praktikabilität und Effizienz. 331 Arndt, S. 39 f., 56 f. sowie vor allem 58 ff., erörtert ausgiebig die von Isensee vorgeschlagene „Notkompetenz" der Verwaltung zur Typisierung (oben § 4, Fußnote 305) und erkennt ebenfalls einen „Vollzugsnotstand" (S. 62) als nicht bloß zeitweilige Erscheinung (S. 76) an. 332 Arndt, S. 64: „Diese Art der Wirklichkeitserfassung ist nur dann vom materiellen Gesetz gedeckt, wenn durch Auslegung ermittelt werden kann, daß nur der Typus erfaßt zu werden braucht." 333 Arndt, S. 81 ff; die buchstabengetreue Erfüllung des Gesetzesprogrammes (Individualisierung als Gebot der tatbestandsmäßigen Gesetzesanwendung) übersteige die Kapazität der Verwaltung; die Verpflichtung der Behörde, den Vollzugsauftrag ent-

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

341

auf Verfassungsebene" 334, die dem Gedanken der Praktikabilität auch dann Beachtung verschaffen soll, wenn dies im Rahmen der teleologischen Auslegung nicht mehr möglich sei.335 Dieser Ansatz überschreitet die methodischen Grenzen der Interpretation 336, einschließlich der verfassungskonformen Auslegung, und ist schon deshalb fragwürdig. Aber auch eine methodengerechte Auslegung des Steuergesetzes, nach der von der Rechtsanwendung vorgesehene Gesetzesvereinfachungen durch Typisierungen und Pauschalierungen grundsätzlich allgemein zulässig sein sollen, könnte nicht überzeugen. Selbst wenn man der Diagnose, das derzeitige System des Steuerrechts sei nicht mehr vollzugsfahig, zustimmen wollte, bliebe zu bedenken, daß ein solcher Zustand keinesfalls durch einzelne Normen, sondern nur durch die Gesamtheit aller Steuergesetze hervorgerufen werden könnte. Es ließe sich auf diesem Wege nicht ausmachen, welche Vorschriften typisierend und welche trotz dieses Befundes individualisierend auszulegen sind. Eine generelle Aussage hingegen, alle steuerrechtlichen Bestimmungen seien verallgemeinernd zu handhaben, verstieße gegen das Gebot der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit, das ebenso wie die von Arndt in erster Linie thematisierten Grundsätze der gleichmäßigen und tatbestandsmäßigen Gesetzesanwendung Verfassungsrang genießt, das aber je nach wirtschaftlicher Bedeutung einzelner Normen in unterschiedlicher Intensität betroffen ist. 337

sprechend auszufuhren, führe zu willkürlichem, das heißt gleichheitswidrigem „Gesamtvollzug" des Gesetzes. 334 Arndt, S. 85 ff. 335 Arndt, S. 87, betont, die Berufung auf Praktikabilität sei in zwei prinzipiell voneinander zu unterscheidenden Formen möglich. Dem Praktikabilitätstopos, der im Rahmen „herkömmlicher teleologischer Interpretation" ein Gesetzeszweck neben anderen sei, stehe die diesen Rahmen sprengende gewichtigere „gesetzesvereinfachende Praktikabilität" als „Regulator" zwischen verschiedenen Verfassungszielen gegenüber, die nur unter den besonderen Voraussetzungen eines Vollzugsnotstandes in Betracht komme. 336 Arndt, S. 87 f., sieht dies nicht als Auslegung, sondern als „verfassungsnahen Ausgleich" an. Die „vereinfachende Praktikablität" ermögliche, das Gesetz auch dann zu handhaben, wenn die „klassische Auslegungskunst" versage. Diese Art der Gesetzesanwendung, die ihren „verfassungsdogmatischen Hintergrund" im „Rechtsgrundsatz der Praktikabilität" finde, schaffe lediglich den „verfassungsrechtlich gebotenen und einfachgesetzlich als selbstverständlich intentionierten Balanceakt zwischen Erfüllung des Vollzugsauftrages insgesamt und Tatbestandsmäßigkeit" (S. 92). 337 Dies verdeutlicht ein Extrembeispiel. Trotz beachtlicher Vereinfachungen widerspräche es der Grundidee der die individuelle Leistungsfähigkeit erfassenden Einkommensteuer (Belastung des tatsächlichen Ertrages), die üblicherweise von Steuerpflichtigen erzielten Einkünfte typisierend zu unterstellen. Die Einkommensteuer verkäme so zur nach dem Sollertrag bemessenen „Kopfsteuer". Vgl. oben § 4 I. l.)c), Fußnote 21, zur Geschichte der direkten Steuern.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Zu suchen ist daher eine Lösung, die dem verfassungsrechtlich anerkannten Bedürfnis der Verwaltung nach vollzugsfähigen, das heißt vor allem vereinfachenden Steuernormen Rechnung trägt 338 , zugleich aber sowohl mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip als auch mit dem Gleichheitssatz vereinbar ist. Beide Grundsätze sind durch die genannte Fragestellung jeweils in zweifacher, aber gegensätzlicher Hinsicht betroffen. Der Gesetzmäßigkeitsgrundsatz fordert in Gestalt des Vorbehaltes des Gesetzes, das „Wesentliche" auslegungsfahig im formellen Gesetz zu normieren, was jeder Interpretation des Parlamentsgesetzes Grenzen setzt, die eine Befugnis der Rechtsanwendung zu eigenen sachlichen Entscheidungen zutage fördern will. Das Vorbehaltsprinzip drängt darauf, nur „unwesentliche" Angelegenheiten, insbesondere Einzelfragen mit geringfügigen Auswirkungen, durch die Rechtsanwendungsorgane entscheiden zu lassen. Andererseits kann der Vorrang des Gesetzes nur gewahrt werden, wenn das Gesetz der Finanzverwaltung keine unerfüllbaren Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung im Einzefall aufgibt. Eine Gesetzesinterpretation, die der Verwaltung Unlösbares abverlangte, kann nicht dem wirklichen Willen des Gesetzgebers entsprechen. Der Gleichheitssatz fordert in seiner Ausprägung als Grundsatz der Steuergerechtigkeit die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, mithin eine möglichst individualisierende Gesetzesformulierung und -anwendung. Zugleich hätte ein Eingehen auf jede Einzelfrage jedes Steuerfalles unweigerlich den beschriebenen Vollzugsnotstand zur Folge. Da weder eine vereinfachte Gesetzgebung noch ein weiterer Ausbau der Steuerverwaltung das Problem völlig beseitigen könnten339, müßte dies zu einer willkürlichen Auswahl, welche Sachverhalte dem Gesetzesauftrag gemäß umfassend geprüft werden, und gerade dadurch zu einer gleichheitswidrigen Rechtsanwendung führen. Der gebotene Ausgleich dieser widerstreitenden Gesichtspunkte kann nur gelingen, indem man das Erfordernis einer vereinfachten Rechtsanwendung als einen von mehreren Gesetzeszwecken im Rahmen der teleologischen Aus-

338 Es geht dabei in erster Linie um eine den „Vollzugsnotstand" vermeidende Interpretation, nicht um eine Reaktion auf einen vermeintlichen dauerhaften Notstand. 339 Osterloh, Gesetzesbindung, S. 51 : „Dem Ruf nach diesem Gesetzgeber, der diese Probleme beseitigen möge, kann ein Realist sich kaum anschließen, denn es ist der Ruf nach einem perfekten Gesetzgeber, den es nicht gibt und den es vielleicht auch nicht geben sollte."

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

343

legung anerkennt340 und je nach zu interpretierender Vorschrift fragt, in welchem Umfang diese für Typisierungen oder auch Pauschalierungen Raum läßt. Eine solche differenzierende Auslegung, deren erster Ansatzpunkt nach allgemeinen Grundsätzen der Wortlaut des Gesetzes sein muß, wird zur Folge haben, daß Normen mit üblicherweise erheblichen Auswirkungen auf die festzusetzende Steuerlast einer Vereinfachung weniger zugänglich sind als Regelungen mit geringerer Intensität.341 Andererseits besteht bei Vorschriften, die eine aufwendige Sachverhaltsklärung notwendig machen, ein stärkerer Vereinfachungsbedarf. Eine gesetzlich angeordnete typisierende oder pauschalierende Betrachtung wird daher eher anzunehmen sein bei geringfügigen Positionen, deren genaue Ermittlung regelmäßig mit einem zum erwarteten Steuerertrag außer Verhältnis stehenden Aufwand verbunden ist. 342 Die Auslegung hat zu beachten, daß Typisierungen ebenso wie Pauschalierungen den Steuerstaat in die Lage versetzen, den mit der Sachverhaltsaufklärung verbundenen Eingriff in das Recht des Steuerpflichtigen auf informationelle Selbstbestimmung343 schonender auszugestalten, da außergewöhnliche Umstände rechtlich unerheblich werden, auf ihre Ausforschung also verzichtet werden kann. Als anderes, die Individualsphäre gleichermaßen wahrendes Mittel stünde nur die ungeprüfte Übernahme steuerlicher Auskünfte des Bürgers zur Verfügung, die aber mit dem Nachteil großer Manipulationsgefahren behaftet wäre. Dies begünstigt die Annahme „formeller" Typisierungen, die dem Bürger im Ergebnis die Wahl lassen, die am typischen Fall orientierte Besteuerung zu akzeptieren und so einer intensiveren Ermittlung seiner finanziellen wie persönlichen Verhältnisse zu entgehen oder das zu seiner Disposition stehende Recht auf informationelle Selbstbestimmung dergestalt auszuüben, daß er dem Staat die ihm vorteilhaften abweichenden Umstände durch eigenen Vortrag offenbart und einer Überprüfung unterzieht. Auch kann eine typisierende Rechtsanwendung eher als dem Gesetzeswillen gemäß angesehen werden, falls das Gesetz an eine diesbezügliche tatsächliche Vermutung 344 anknüpfen kann oder wenn die „Natur der Sache" eine ent340

Insoweit ähnlich Arndt, für den es „weitgehend unproblematisch" ist, die Praktikabilität als einen von mehreren Gesetzeszwecken zu behandeln (S. 87). 341 Vgl. oben § 2 IV. l.)d) zur Intensität als Merkmal des „Wesentlichen". 342 BVerfGE 78, 214 (229) (außergewöhnliche Belastung) hält es in diesem Zusammenhang für „eine berechtigte Überlegung, daß eine Beweiserhebung im Einzelfall möglichst nicht teurer werden sollte als der jeweils in Rede stehende Steuerbetrag". 343 Siehe oben § 41. l.)e). 344 Im übrigen kann eine tatsächliche Vermutung, auch wenn eine typisierende Auslegung nicht gelingt, insofern Bedeutung erlangen, als sie einen Beweis des ersten Anscheins stützen kann.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

sprechende Behandlung nahelegt.345 Der Grad der Wahrscheinlichkeit einer etwaigen tatsächlichen Vermutung stellt hierbei ein Indiz für oder gegen die Typisierung dar. Denkbar ist in diesem Zusammenhang, daß der Gesetzgeber auf bestimmte im Wirtschaftsleben übliche Gegebenheiten abstellen wollte, welche die untergesetzliche Normkonkretisierung unter Einsatz der steuerrechtlichen Betrachtungsweise näher zu erläutern hat. Weiterhin werden „formelle" Typisierungen leichter zu rechtfertigen sein als „materielle", da sie näher am Idealtypus einer individualisierenden Betrachtung liegen.346 Pauschalierungen, die rein aus Vereinfachungszwecken ohne eine Anknüpfung an das „Übliche" angenommen werden, begegnen indessen stärkeren Bedenken, da die konkrete Leistungsfähigkeit der pauschal unterstellten nur zufällig entsprechen dürfte. Ihr Anwendungsbereich wird daher vor allem bei Regelungen mit geringfügigen Auswirkungen, aber vergleichsweise hohem Verwaltungsaufwand zu finden sein. Schließlich bedürfen dem Bürger günstige Steuernormen generell einer geringeren Regelungsdichte als belastende. Typisierungen und Pauschalierungen, die im Vergleich zu einer hypothetischen individualisierenden Rechtsanwendung Nachteile mit sich bringen, sind folglich kritischer zu betrachten als dem einzelnen vorteilhafte Vereinfachungsregeln. Schwerlich zu rechtfertigen wäre vor allem eine im Wege der Gesetzesinterpretation bewirkte Beweislastumkehr.347

345 Anders als bei der grundsätzlichen Entscheidung für den Zugriff auf die eine oder andere Steuerquelle kann die „Natur der Sache" hier verwertbare Anhaltspunkte in Gestalt der wirtschaftlichen Besonderheiten des konkreten Steuerfalles liefern. Sogar der behauptete „Vollzugsnotstand" wäre eine bei der Auslegung zu beachtende sachgesetzliche Vorgabe. 346 Keineswegs kann jedoch angenommen werden, „formelle" Typisierungen seien wegen der Möglichkeit des Gegenbeweises für den Bürger stets günstiger als „materielle" und daher aus Gründen des Gesetzesvorbehaltes unbedenklicher, da der Gegenbeweis ebenfalls zu Lasten des Steuerpflichtigen geführt werden kann, auch wenn dies, da kein Steuerpflichtiger auf eine entsprechende Ermittlung drängen wird, in der Praxis seltener vorkommen mag. 347 Ein Beispiel für eine nicht zu beanstandene Typisierung beinhaltet R 157 Absatz 3 Satz 2 EStR 1996, der die Abgrenzung von Erhaltungsaufwand und Herstellungsaufwand bei Gebäuden dahingehend vereinfacht, daß Aufwendungen bis zu DM 4.000,-auf Antrag ohne weitere Prüfung (steuergünstig) als Erhaltungsaufwand behandelt werden. Dies ist sachangemessen, da geringfügige Aufwendungen typischerweise keine Erweiterung oder wesentliche Verbesserung von Gebäuden im Sinne von §§ 255 Absatz 2 HGB, 5 Absatz 1 EStG bewirken. Gleichzeitig erleichtert diese Regelung, die wegen der bloßen zeitlichen Verlagerung der Steuerlast durch Sofortabzug statt auf die Nutzungsdauer verteilter Abschreibung eher unwesentliche steuerliche Folgen mit sich bringt, die Sachverhaltsermittlung erheblich.

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

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Eine an den Besonderheiten der konkreten Norm orientierte, dabei dem Gedanken der Vollzugsvereinfachung Beachtung schenkende Gesetzesinterpretation ist nicht nur mit dem Gesetzesvorbehalt vereinbar, sie bewirkt auch einen sachgerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Aussagen des Gleichheitspostulates. Die erforderlichen, vergleichsweise geringfügigen Abweichungen vom Individualmaßstab können gerechtfertigt werden, da diese Art der Rechtsanwendung den Gewinn eines bereits im Gesetz angelegten allgemeinen Maßstabes beim Gesetzesvollzug348 mit sich bringt. Im Wege konkretisierender Gesetzesinterpretation entwickelte Typisierungen sind daher grundsätzlich ebenso zulässig wie im Gesetzeswortlaut ausdrücklich enthaltene, zu denen in hier erheblicher Hinsicht kein Wesensunterschied besteht. Die genannten Vereinfachungsinstrumente sind somit grundsätzlich anzuerkennen, zugleich aber auch zu begrenzen. Ihre Annahme ist stets zu begründen. Das Einkommensteuergesetz kennt keine allgemeingültige Auslegungsregel, nach der alle Normen typisierend oder pauschalierend umzusetzen sind. Der Vereinfachungszweck ist lediglich ein Auslegungstopos unter anderen, der häufig ergänzende349 Beachtung beanspruchen wird. 350

5. Die „Kerngebiete der typisierenden Betrachtungsweise " nach Isensee Die je nach den Eigenheiten einer Norm typisierende Gesetzesauslegung läßt sich beispielhaft erläutern an den von Isensee351 als „Kerngebiete der typisierenden Betrachtungsweise" bezeichneten Fragen der innerfamiliären Beziehungen, der Feststellung innerseelischer Vorgänge und der Abgrenzung von 348

Die dem modernen Gesetzesbegriff eigene Allgemeinheit (oben § 2 II. l.)b)), die auch Gerechtigkeitsgedanken verkörpert, muß sich auf den Vollzug des allgemeinen Gesetzes auswirken, der ebenfalls gerecht, das heißt gleichmäßig zu erfolgen hat. 349 Bedenklich wäre eine ausschließlich vereinfachend argumentierende Auslegung. Vorrangig ist nach dem materiellen Gehalt des Gesetzes zu fragen. Der Vereinfachungsgedanke kann nur ergänzendes Hilfskriterium sein. Hintergrund dessen ist neben dem Leistungsfähigkeitsprinzip das Verhältnis der eingangs (§ 1, Fußnote 1) genannten Antinomien der Rechtsidee, unter denen die bloße Zweckmäßigkeit den geringsten Rang einnimmt. 350 Regelmäßig kann das Gesetz unterschiedlich ausgelegt werden. Die somit unvermeidbare Rechtsunsicherheit, ob eine von der Finanzverwaltung gewählte verallgemeinernde Betrachtung von ihrer gesetzlichen Grundlage gedeckt ist, kann nur durch eine stärkere normative Begründung dieser Vereinfachungsregeln beseitigt werden, wozu als Handlungsinstrumente das Gesetz selbst, eine zu seiner Durchführung ergangene Rechtsverordnung oder eventuell auch eine Verwaltungsvorschrift in Betracht kommen. 351 Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 111 f.

346

§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

Beruf und Privatleben, bei denen jeweils eine erhöhte Gefahr der Steuerumgehung besteht.

a) Rechtsverhältnisse zwischen Familienangehörigen 352

Rechtsgeschäfte unter nahen Angehörigen unterliegen oft nicht dem Interessengegensatz, dem Beziehungen zwischen Fremden ausgesetzt sind. Bei Verträgen mit Verwandten droht stets die Gefahr, daß sie nur zum Schein eingegangen und nicht entsprechend ausgeführt werden. Des weiteren ist zu besorgen, daß finanzielle Leistungen von Eltern an ihre Kinder, die ihrer äußeren Gestaltung nach steuerrechtlich erheblich erscheinen, ihrem wirtschaftlichen Hintergrund nach familienrechtlich begründete oder freiwillig geleistete Unterhaltszahlungen sind. Da es allgemeiner Lebenserfahrung entspricht, daß manche Steuerpflichtige solche Möglichkeiten zur Steuerumgehung so weit als möglich auszunutzen versuchen, gebietet der Grundsatz der Lastengleichheit ebenso wie das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit eine Gesetzesanwendung, die nicht auf den äußeren Anschein der vom Steuerpflichtigen vorgetragenen Gestaltung, sondern auf ihre ökonomische Bedeutung abstellt. Maßstab einer wirtschaftlichen Beurteilung ist dasjenige, was sich am Markt als Ergebnis einer Gegenüberstellung von Angebot und Nachfrage ergibt. Ebenso verfahrt die Rechtsprechung, wenn sie Rechtsgeschäfte zwischen nahen Angehörigen einem „Fremdvergleich" 353 unterzieht und sie nur insoweit gelten läßt, als sie auch Gegenstand eines Geschäftes mit fremden Dritten sein könnten. Diese Normkonkretisierung, die unter Familienangehörigen nur die typischen Folgen eines Geschäftes für rechtlich erheblich erklärt, läßt sich dem Gesetzeswortlaut so nicht entnehmen. Dennoch verstößt sie nicht gegen das Gesetzmäßigkeitsprinzip, sondern verwirklicht gerade den gesetzlichen Auftrag zur gleichmäßigen Besteuerung, verwehrt sie dem einzelnen doch Gestaltungen, die anderen Steuerpflichtigen mit gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nicht möglich sind. Zu beachten sind die Grenzen jeder typisierenden Gesetzesauslegung, die auch anderen Gesichtspunkten Raum lassen muß. Die Rechtsprechung hat es daher wegen Artikel 6 GG für unzulässig gehalten, Arbeitsverträge zwischen Ehegatten generell nicht anzuerkennen. Um eine Schlechterstellung der Ehe352

Vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 40 ff.; auch Osterloh, Gesetzesbindung, S. 23, nennt als Eingangsbeispiel den Fall des Vaters, der seinem Sohn schenkweise eine Kommanditistenstellung einräumt. 353 Zum „Fremdvergleich" als Abstellen auf das „Übliche" Tipke / Lang, S. 271 und S. 398 f.

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

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leute gegenüber Nichtverheirateten zu vermeiden, sind angemessene Vergütungen aus solchen Arbeitsverhältnissen steuerrechtlich zu berücksichtigen.3 4 Auch soweit das unter Dritten Übliche als Gesetzesinhalt erkannt werden kann, rechtfertigt dies allein noch keine „materiellen" Typisierungen oder Pauschalierungen. Es bleibt stets zu fragen, ob der Steuerpflichtige nicht Umstände vortragen darf, die das konkrete Rechtsgeschäft in einem anderen Licht erscheinen lassen und den Gegenbeweis fordern. Beispielhaft genannt sei die vom Bundesfinanzhof als Ausdruck des Fremdvergleichs entwickelte Grenze für die Anerkennung der Gewinnanteile von Kindern, denen ihre Eltern einen Kommanditistenanteil am Familienbetrieb schenkungshalber übertragen haben. Die Gewinnverteilungsabrede darf, um steuerrechtlich Beachtung zu finden, den Kindern keine über 15 % des Wertes ihres Gesellschaftsanteils hinausgehende Verzinsung zuerkennen.355 Diese Grenze ist nicht nur aus Vereinfachungsgründen unverzichtbar 356, da der erforderliche Fremdvergleich in Fällen dieser Art kaum jemals durchführbar sein wird, werden Unternehmensanteile doch unter Fremden nicht verschenkt. Dennoch haben die genannten Urteile den Gegenbeweis für den Fall außergewöhnlicher Konstellationen357 nicht ausgeschlossen, sondern nur eine „formelle" Typisierung des Fremdvergleichs 358 vorgenommen.

354

BVerfGE 13, 318 (325 ff.) (Ehegatten-Arbeitsverhältnisse). Großer Senat des BFH BStBl. II 1973, S. 5 (8) = BFHE 106, 504 (512); seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. nur BFH BStBl. II 1987, S. 54 (57) = BFHE 147, 495 (501). Die Finanzverwaltung hat dies übernommen in R 138a III-V EStR 1996. Kritisch Knobbe-Keuk, S. 423 ff, die meint, die gesetzliche Grundlage für diese Angemessenheitsprüfung könne „nur in einer allein dem BFH zugänglichen Geheimausgabe der Steuergesetze enthalten sein". Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht (HFR 1979, 388) eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde mangels Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung angenommen, da sich das Finanzgericht „nicht über die Bindung an Gesetz und Recht hinweggesetzt" habe. Die gewählte Auslegung entspreche femer „den aus Artikel 3 GG hergeleiteten Grundsätzen der Steuergerechtigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung". 356 Vor allem Artikel 3 GG gebietet eine solche Auslegung. Ohne sie kämen Familienunternehmer durch die Möglichkeit, die Steuerprogression mehrfach auszunutzen, faktisch in den Genuß eines gesetzlich nicht vorgesehenen „Familien-Realsplittings", während anderen Steuerpflichtigen wie beispielsweise abhängig Beschäftigten derartige Steuersparmodelle verwehrt blieben. 357 Ein atypischer Fall läge zum Beispiel vor, falls die Gesellschaft besonders risikobehaftete Geschäfte durchführte, auf Grund derer ein Fremder ebenfalls eine erhöhte Risikoprämie für die Kapitalüberlassung erhielte. 358 Genau betrachtet handelt es sich um eine doppelte Typisierung. Im ersten Gedankenschritt wird statt der konkreten Beträge das unter Dritten Übliche angesetzt. Im nächsten Schritt wird, da ein Vergleichsmaßstab zwischen Dritten fehlt, das „Übliche" seinerseits typisierend festgelegt. 355

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

b) Die Feststellung innerseelischer Vorgänge Wichtiger Anwendungsfall der Typisierung ist auch die Ermittlung subjektiver Tatbestandsmerkmale. Da diese als innere Vorgänge nicht nachprüfbar sind und ein unkritisches Befolgen der Angaben des Steuerpflichtigen faktisch zu einer „Steuerpflicht nach Wahl" fuhren müßte, bedient sich die Rechtsanwendung anhand von Erfahrungssätzen entwickelter objektiver Kriterien, die den Schluß auf entsprechende Absichten des Bürgers gestatten.359 Dies gilt namentlich fur die Einkünfteerzielungsabsicht als Abgrenzungskriterium zur einkommensteuerlich unerheblichen Liebhaberei.360 Die zur objektivierenden Beurteilung herangezogenen Indizien361 wirken regelmäßig typisierend, indem sie auf das übliche, wirtschaftlich vernünftige Verhalten von Steuerpflichtigen abstellen. Eine derartige nähere Bestimmung subjektiver Tatbestandsmerkmale ist mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip vereinbar. Diese Vorgehensweise zur Feststellung der Außenwelt ansonsten verborgen bleibender innerer Umstände ist auch in anderen Rechtsbereichen gebräuchlich. Selbst im Strafrecht, das wegen Artikel 103 Absatz 2 GG die strengsten Anforderungen an die Gesetzesdichte aufweist, schließt die Rechtsprechung im Zweifel von äußeren Umständen auf den Tätervorsatz. 362 Für das Einkommensteuerrecht kann nichts anderes gelten.

c) Die Abgrenzung von Beruf und Privatleben Als weitere Fallgruppe behandelt Isensee die Abgrenzung von Beruf und Privatleben am Beispiel der Zuordnung der Aufwendungen für Arbeitsmittel. 363 Die Steuerpflichtigen sind daran interessiert, im Grenzbereich von Erwerbssphäre und privatem Bereich entstehende Kosten als beruflich veranlaßt darzustellen. Maßgebliche Abgrenzungskriterien sind die konkrete Widmung angeschaffter Arbeitsmittel zum beruflichen Gebrauch sowie die 359

Vgl. Großer Senat des BFH BStBl. II 1984, S. 751 (767) (zur Gewinnerzielungsabsicht bei Verlustzuweisungs-KG): „ A b s i c h t zur Gewinnerzielung ... ist eine innere Tatsache, die wie alle sich in der Vorstellung von Menschen abspielenden Vorgänge nur anhand äußerlicher Merkmale beurteilt werden kann." m Tipke!Lang, S. 259 ff. 361 Versteht man diese Indizien als Hilfstatsachen zur Ermittlung innerer Vorgänge, so zeigt sich, daß Typisierungen neben der hier in erster Linie angenommenen Funktion der Konkretisierung des Gesetzesinhaltes auch beweisrechtliche Bedeutung haben. 362 Vgl. nur BGHSt 36, 1 (9 ff.) (Vorsatz bei HIV-Infektion): „Geboten ist eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände." 363 Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 45 ff.

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

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entsprechende Benutzung zu Erwerbszwecken. Beides ist nur eingeschränkt überprüfbar, da die Widmung einen nicht sicher feststellbaren inneren Vorgang enthält und die Kontrolle der tatsächlichen Verwendung in die geschützte Privatsphäre des Bürgers hineinreichen müßte und daher weitgehend durch die Grundrechte untersagt würde. Als Folge dessen bemüht die Rechtsanwendung objektive Indizien. Solche auf das Typische ausgerichtete Unterscheidungsmerkmale sind zum Beispiel der „übliche" Rahmen privater Lebensführung sowie die Frage, ob derartige Kosten gewöhnlich vom Arbeitgeber erstattet werden. 364 Weitere Ansatzpunkte einer Auslegung, die das Normalmaß beruflich veranlaßter Kosten mit Berührungspunkten zur privaten Lebensführung vor Augen hat, sind §§4 Absatz 5 Satz 1 Nr. 7, 9 Absatz 5 EStG, die, soweit nicht § 12 EStG eingreift, nur „angemessene" Aufwendungen für abzugsfähig erklären 365, sowie § 12 Nr.l Satz 2 EStG, der ein Aufiteilungs- und Abzugsverbot366 für Aufwendungen aufstellt, die sowohl beruflich als auch privat veranlaßt sind. Insbesondere das nach Maßgabe der Verkehrsauffassung zu beurteilende „Angemessene" ist nach Art und Höhe der getätigten Ausgaben näher zu bestimmen, was nur im Wege konkretisierender Rechtsanwendung unter Berücksichtigung des wirtschaftlich Üblichen geschehen kann. Das Gesetz ermächtigt Steuerbehörden und Finanzgerichte mithin ausdrücklich dazu, die Grenzlinie von Beruf und Privatleben in dieser Form nachzuzeichnen. Die entsprechenden Typisierungen verletzen das Gesetzmäßigkeitsprinzip nicht, sondern verwirklichen es.36

364

Beispielsweise wird nur „typische" Berufskleidung anerkannt, nicht aber Kleidungsstücke, deren private Nutzung „objektiv nicht so gut wie ausgeschlossen" ist; vgl. Jakob, S. 94 f.; Tipke / Lang, S. 311 mit zahlreichen Nachweisen. Dies ist keine Sachverhaltsvereinfachung zur Behebung eines „Vollzugsnotstandes", sondern eine methodengerechte Normauslegung, die auf die objektive Verwendbarkeit abstellt, um gleichheitswidrige Steuerumgehungen zu vermeiden. 365 Zu den Betriebsausgaben Heinicke, in: Schmidt, EStG, § 4, RN 601 ff; zu den Werbungskosten Drenseck, ebenda, § 9, RN 21. 366 Drenseck, in: Schmidt, EStG, § 12 RN 11 ff. 367 Zudem verlangt Artikel 3 GG eine solche Auslegung, weil ansonsten eine Personengruppe steuerliche Vorteile aus der privaten Lebensgestaltung hätte, die anderen Berufsgruppen, bei denen eine vergleichbare Nähe von Berufs- und Privatsphäre nicht besteht, nicht zugute kommen.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

d) Die Gemeinsamkeit der „Kerngebiete" der Typisierung Die genannten wichtigsten Fälle rechtsanwendend entwickelter Typisierungen stellen in erster Linie auf das wirtschaftlich „Übliche" ab. Eine solche Gesetzesauslegung ist Ausdruck der steuerrechtlichen Betrachtungsweise, die sich neben dem Vereinfachungszweck als maßgeblicher Begründungsansatz fur die Typisierungspraxis herausstellt.

6. Pauschalierungen

Die bisherigen Erwägungen nahmen vorrangig die Typisierung in den Blick. Nur am Rande betrachtet wurden rechtsanwendend eingeführte Pauschalierungen. Die zwei Handlungsformen sind methodisch verwandt, da die Art und Weise ihrer Entstehung und Handhabung vergleichbar ist. Beide müssen, um im Wege des einzelfallbezogenen Gesetzesvollzuges rechtsverbindliche Wirkung zu entfalten, dem jeweiligen materiellen Steuertatbestand durch Auslegung zu entnehmen sein. Dennoch hat die jeweilige Norminterpretation Unterschiede zu beachten. Pauschalierungen haben nicht den typischen Regelfall vor Augen, sie bestimmen vielmehr steuerrechtlich erhebliche Größen ziffernmäßig. Zwar werden diese Werte von der Finanzverwaltung nicht aus der Luft gegriffen, sondern beruhen oftmals auf aus Erfahrungssätzen gebildeten Durchschnittswerten, jedoch läßt sich das wirtschaftlich Angemessene oder Übliche nicht in allen Fällen verallgemeinerungsfähig bemessen, weshalb die von der Verwaltung festgesetzten Pauschalsätze ihr Zustandekommen nicht selten einer bloßen Vereinfachungsfunktion ohne wirtschaftlichen Hintergrund verdanken. Im übrigen gibt es keine generelle Regel, daß ein statistischer Mittelwert der überwiegenden Zahl der Fälle entspricht, sondern nur, daß er rein rechnerisch die Unterschiede zwischen über- und unterdurchschnittlichen Fällen ausgleicht. Es wird auch unter Einsatz der steuerrechtlichen Betrachtungsweise häufig nicht gelingen, dem Gesetz im Wege der Interpretation eine bestimmte Zahl zu entnehmen, da Schuldner der Einkommensteuer eben nicht der „statistische Bundesbürger", sondern der einzelne in seiner Besonderheit ist. Dies ist der wesentliche strukturelle Unterschied zur Typisierung. Die steuerrechtliche Betrachtungsweise kann den Inhalt unbestimmter Rechtsbegriffe verdeutlichen helfen, aber nur schwerlich das Maß des im Wirtschaftsleben Üblichen, das im Regelfall gerade nicht in einer Pauschale besteht, zahlenmäßig determinieren. Des weiteren ist ebenso wie bei den Typisierungen eine den Gegenbeweis ungewöhnlicher Umstände ausschließende Pauschalierung zwar nicht von

VI. Typisierungen und Pauschalierungen im Wege der Rechtsanwendung

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vorneherein unzulässig, sie ist jedoch im Vergleich zu dieser noch schwerer begründbar. Dies bedingt eine restriktivere Interpretation, macht die pauschalierende Handhabung des Steuergesetzes aber nicht generell unzulässig.368 Auch sie erfüllt einen Vereinfachungszweck, unterstützt in der Masse der Fälle einen gleichmäßigen Gesetzesvollzug und dient der Wahrung der Privatsphäre. Die pauschale, das heißt zahlenmäßige Bestimmung eines Tatbestandsmerkmales ist übrigens keine Besonderheit des Einkommensteuerrechts, sondern in anderen Rechtsbereichen einschließlich des der strengsten Gesetzesbindung unterliegenden Strafrechts 369 ebenfalls anerkannt, sofern der gesetzliche Tatbestand Anlaß für eine entsprechende Normkonkretisierung gibt. Das Gesetz wird demnach nur in Einzelfällen pauschalierend auszulegen sein. Dem kann nicht durch die in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes vermehrt zu findende Berufung auf § 162 AO abgeholfen werden. 370 Die Vorschrift gestattet, Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie von der Finanzbehörde nicht oder nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten ermittelt werden können. Die Norm dient mithin als ultima ratio im Falle eines non liquets. Bei pauschalierender Bezifferung einzelner steuerrechtlich erheblicher Umstände soll aber gerade jeder Versuch der individualisierenden Sachverhaltsaufklärung aus Vereinfachungsgründen unter368 Beispielsweise ermächtigt § 4 Absatz 5 Nr. 5 Satz 4 EStG die Finanzverwaltung, den Verpflegungsmehraufwand bei Tätigkeiten im Ausland länderweise pauschal festzusetzen. Eine zulässige Pauschalierung enthält femer R 44 Absatz 2 Satz 3 EStR 1996, wonach bei beweglichen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens die Absetzung für Abnutzung im Anschaffungsjahr im Falle der Anschaffung im ersten Halbjahr mit der vollen, im zweiten Halbjahr mit der halben Jahresrate angesetzt werden darf. Diese eine anderweitige Handhabung zulassende, dem Steuerpflichtigen günstige und in ihren Auswirkungen geringfügige (angesichts der bloßen Vorziehung der steuerlichen Geltendmachung entsteht lediglich ein Zinsvorteil) Regelung kann trotz der Abweichung vom Individualmaßstab durch ihre erhebliche Vereinfachungsfunktion gerechtfertigt werden. 369 So konkretisiert die Strafrechtspflege die nach BVerfGE 50, 205 (216) rechtsstaatlich unbedenkliche Unbestimmtheit des Begriffs der „Geringwertigkeit" bei §§ 243 Absatz 2, 248a StGB. Zuletzt setzten die Gerichte etwa DM 50,- an; vgl. OLG Düsseldorf NJW 1987, S. 1958. 370 BFH BStBl. II 1980, S. 455 (456) = BFHE 130, 307 (310); BFH BStBl. II 1982, S. 24 (26) = BFHE 134, 139 (142 f.); BFH BStBl. II 1986, S. 200 (204 f.) = BFHE 145, 181 (188 ff): Pauschalierungen seien der Vereinfachung dienende Schätzungen im Sinne von § 162 AO; die entsprechenden Verwaltungsvorschriften bewirkten über den Gleichheitssatz eine Bindung der Gerichte, sofern die auf Einzelfallbeobachtungen beruhenden Durchschnittswerte nicht im konkreten Fall zu einer unzutreffenden Besteuerung führen.

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

bleiben. Der Tatbestand des § 162 AO ist daher im Regelfall der Pauschalierung nicht erfüllt. Die Vorschrift kann höchstens im Einzelfall nach erfolglos gebliebener Sachverhaltsermittlung, nicht jedoch generell fruchtbar gemacht werden. 371 Allerdings können pauschal angenommene Werte in der Praxis des Steuerrechts aus einem anderen Grund eine faktische, wenn auch nur untergeordnete Bedeutung erlangen, ohne daß es sich um Pauschalierungen im Sinne einer ziffernmäßigen Bestimmung eines Tatbestandsmerkmales handelt. Soweit eine Interpretation, nach der das materielle Gesetz eine Pauschale anordnet, nicht gelingen kann, bleibt die individuelle Situation des Steuerpflichtigen maßgeblich. Diese zu ermitteln, ist den Finanzbehörden nach § 88 Absatz 1 Satz 1 AO vollumfänglich aufgegeben. Nach Satz 2 der Vorschrift steht iedoch die Wahl von Art und Umfang der Ermittlungen in ihrem Ermessen. 7 2 Soweit bestimmte Aufwendungen üblicherweise jedem Steuerpflichtigen in einer vergleichbaren Situation entstehen, wird man es als ermessensfehlerfrei ansehen können, falls die Behörde den Angaben des Bürgers bis zu gewissen Beträgen ungeprüft folgt. 373 Auch wird es in zahlreichen Fällen nicht zu beanstanden sein, wenn die Verwaltung geringfügige Abzugspositionen anerkennt, um einen unverhältnismäßigen Ermittlungsaufwand bei vergleichsweise kleinem Steuerertrag zu vermeiden. Eine Berücksichtigung des konkreten Steuerfalles kann dadurch jedoch keinesfalls ausgeschlossen werden. 374 Eine nicht durch Auslegung zu erklärende Pauschalierung kann nach alledem nur als Abweichung vom Gesetz gewertet werden, die durch dessen Vorrang untersagt wird. Dies betrifft aber nur die einzelfallbezogene Pauschalierung. Möglich bleibt eine pauschalierende Rechtsetzung durch die Exekutive auf der Grundlage einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung. 371 Ablehnend ebenso Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 346 ff.; Osterloh, Gesetzesbindung, S. 500 ff.; Isensee, StuW 1994, S. 3(11). 372 Vgl. oben § 4 III.; dies bedeutet nicht, daß die Behörde von einer vollumfänglichen Aufklärung des Sachverhaltes absehen, sondern daß sie diesen bei Vorliegen entsprechender Indizien als geklärt ansehen darf. 373 Dieser Gedanke ist der oben § 4 VI. 3.) mit Fußnote 329 ausnahmsweise festgestellten „tatsächlichen Vermutung für das Typische" verwandt, die ebenfalls keine Auslegung des materiellen Gesetzes, das heißt keine Typisierung im hier vertretenen Sinne, enthält, sondern eine „beweisrechtliche Lösung" bewirkt. 374 Beispielsweise ist nach R 157 Absatz 4 Satz 2 EStR „in der Regel nicht zu prüfen", ob anschaffungsnaher Herstellungsaufwand vorliegt, wenn innerhalb von drei Jahren nach Erwerb eines Gebäudes Erhaltungsaufwand bis zu 15 % der Anschaffungskosten geltend gemacht wird. Hier wird nicht die materielle Rechtslage gestaltet, sondern auf eine intensivere Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen der Gesetzes verzichtet.

VII. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

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Hierbei stellt sich die Frage nach dem zu diesem Zwecke statthaften Handlungsinstrument, der Rechtsverordnung oder auch der Verwaltungsvorschrift.

VII. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen Das Einkommensteuerrecht berührt die Grundrechte der Steuerpflichtigen sowohl durch die Rechtsfolge der Zahlungspflicht als auch mittelbar durch Auswirkungen auf den Gebrauch von Eigentum und Berufsfreiheit. Gegenstand der Einkommensteuer ist das am allgemeinen Markt erzielte Einkommen. Maßstab für die Höhe der Steuerlast ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, wozu objektives und subjektives Nettoprinzip den Abzug von erwerbs- und existenzsichernden Aufwendungen vorsehen. Artikel 3 GG fordert die rechtliche und tatsächliche Belastungsgleichheit nach Maßgabe horizontaler wie vertikaler Steuergerechtigkeit. Um diese Grundentscheidungen umzusetzen, hat der förmliche Gesetzgeber Steuerschuldner, Steuergegenstand, Bemessungsgrundlage und Steuersatz selbst zu bestimmen, wobei das Maß gesetzlicher Regelungsdichte im einzelnen differenzierter zu beurteilen ist. Verschonungssubventionen unterliegen als „negative Eingriffsvoraussetzungen" ebenfalls dem Parlamentsvorbehalt, ihre Normierung darf sich aber mit einem geringeren Grad der Regelungsintensität begnügen. Dies gilt in erster Linie für Abzüge von der Steuerschuld. Verkürzungen der Bemessungsgrundlage, insbesondere außerordentliche Abschreibungen, wirken sich erst im Zusammenspiel des gesamtem Steuersystems aus, bei dessen Ausgestaltung der Gesetzgeber die Anknüpfungspunkte der von ihm gewählten gleichheitsrechtlichen Differenzierung hinreichend justitiabel erkennen lassen muß. Da dem Bürger bei Nichtbeachtung seiner Steuerpflichten strafrechtliche Konsequenzen drohen, müssen ihm die mitteilungspflichtigen Tatsachen vom Gesetzgeber besonders verdeutlicht werden. Keine grundsätzlich weiterführenden Aussagen zur gesetzlichen Regelungsdichte liefern Demokratie- und Bundesstaatsprinzip. Das Steuerverfahrensrecht hat die Gleichheit des tatsächlichen Belastungserfolges durch Ausgestaltung des Legalitätsprinzips abzusichern, im übrigen gelten dort geringere Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit, sofern die Grundrechte nicht ein anderes fordern. Das Gesetz muß die „wesentlichen" Fragen nicht ausdrücklich, sondern nur auslegungsfahig entscheiden. Wichtigste Auslegungshilfe ist die steuerjuristische Betrachtungsweise, nach der steuerrechtliche Begriffe grundsätzlich 23 Seiler

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§ 4: Der allgemeine Parlamentsvorbehalt im Einkommensteuerrecht

im Lichte ihrer wirtschaftlichen Bedeutung zu verstehen sind, um so die gleichheitsrechtlich gebotene Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit zu garantieren. Ergänzt wird dies durch die Möglichkeit einer am Gesetzeszweck ausgerichteten gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung. Das Einkommensteuerrecht weist geringere sachgesetzliche Vorgaben auf als andere Rechtsmaterien. Als Folge dessen sind Steuerschuldner, Steuergegenstand und Steuersatz im formellen Gesetz besonders zu veranschaulichen. Entgegen anderslauternden Stimmen ist das Steuerrecht aber nicht völlig regeloder prinzipienlos. Die zu besteuernden Lebenssachverhalte zeigen wirtschaftliche Grundstrukturen auf, die ein folgerichtiges Weiterdenken gesetzlicher Entscheidungen erleichtern. Die gebotene Regelungsdichte der steuerlichen Bemessungsgrundlage hängt davon ab, inwieweit der Gesetzgeber den wirtschaftlichen Belastungsgrund verdeutlicht und an die wirtschaftlichen Strukturen anknüpfende Grundprinzipien liefert, die den Vorgang der einzelfallbezogenen Umsetzung gesetzgeberischer Entscheidungen unterstützen. Je umfassender diese Regelbildung erfolgt, desto entbehrlicher werden detaillierte Spezialregelungen im Gesetzeswortlaut. Das derzeitige Einkommensteuerrecht stellt vor allem mit der steuerrechtlichen Betrachtungsweise, aber auch mit der Markteinkommenstheorie einige solcher Strukturgedanken zur Verfugung. Es sollte nicht von einem „Tatbestandsmäßigkeitsprinzip" oder einem „zwingend förmlichen Gesetzesvorbehalt" gesprochen werden, sondern nur von einem Gebot besonderer Bindung der Finanzverwaltung durch eine Verdeutlichung der gesetzlichen Strukturgedanken und einer verglichen mit anderen Rechtsgebieten tendenziell größeren Regelungsdichte. Das Einkommensteuergesetz darf in dem Bemühen um eine abstrakt-generelle Regelung vieler Einzelfälle unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln verwenden, weil und soweit die Rechtsanwendung diese unter Zuhilfenahme der juristischen Methodik konkretisieren kann und sofern die durch den Gesetzesvorbehalt abzusichernden Zwecke nicht entgegenstehen. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe eröffnen der Finanzverwaltung grundsätzlich keine Beurteilungsspielräume. Ausnahmsweise kann das Gesetz eine solche Ermächtigung vor allem dann enthalten, wenn die Bewertung von Wirtschaftsgütern eine unwiederholbare Prognoseentscheidung voraussetzt. Im übrigen kann und sollte der Gesetzgeber weitgehende gesetzliche Typisierungen und Pauschalierungen einfuhren. Materielle Steuergesetze dürfen den Behörden grundsätzlich kein Ermessen einräumen. Eine Ausnahme gilt bei Verschonungssubventionen, wenn und soweit genügend ermessensleitende Gesichtspunkte vorliegen und der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch eine verbindliche Entscheidung Klarheit über die Steuerrechtslage erlangt haben kann.

VII. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

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Von den Rechtsanwendungsorganen entwickelte Typisierungen sind zulässig, sofern sie dem Gesetz durch Auslegung unter Einsatz der steuerrechtlichen Betrachtungsweise zu entnehmen sind. Schwieriger gestaltet sich die Rechtfertigung behördlicher Pauschalierungen. Überträgt man diese Maßstäbe auf das geltende Einkommensteuerrecht, so erweckt weniger die Bestimmtheit einzelner Vorschriften Bedenken als die Undurchschaubarkeit des gesamten Normensystems mit seinem Übermaß an Einzelbestimmungen. Es besteht dringender Reformbedarf. Sinnvoll wäre eine Beschränkung der gesetzgeberischen Tätigkeit auf das Grundsätzliche, die Raum für eine ergänzende exekutive Rechtsetzung läßt und so den Blick für das Wesentliche bewahrt. Eine abstrahierende Festlegung des wirtschaftlichen Belastungsgrundes bei folgerichtiger gesetzlicher Prinzipienbildung könnte einhergehen mit einer umfangreichen untergesetzlichen Normierung. Vor allem die Problemfälle des Einkommensteuerrechts an den Randstellen des Systems könnten so einer befriedigenderen Lösung zugeführt werden. Dies gilt insbesondere für die durch den Einkünftedualismus gezogene Trennlinie zwischen der Reinvermögenszugangs- und der Quellentheorie sowie für die Abgrenzung von Beruf und Privatsphäre, deren kasuistische Erfassung die Kapazitäten des parlamentarischen Gesetzgebers übersteigen muß. Verdeutlicht werden kann dies anhand eines abschließenden Beispiels. Der derzeitige § 20 EStG versucht nicht, die Einkünfte aus Kapitalvermögen zu definieren, sondern zählt die einzelnen Ertragsarten auf, ohne deren wirtschaftliche Gemeinsamkeit hervorzuheben. Genügend wäre es jedoch, diese als „Entgelt für die Überlassung von Kapital zur Nutzung" zu beschreiben und die Regelung des Näheren dem Verordnungsgeber zu übertragen. Zweifelsfälle könnten dann von diesem oder von den rechtsanwendenden Organen unter Zuhilfenahme der steuerrechtlichen Betrachtungsweise geklärt werden.

§ 5: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive im Einkommensteuerrecht Der einheitliche Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes stellt grundsätzlich die gleichen Anforderungen an den formlichen Gesetzgeber, wenn dieser nicht der rechtsanwendenden, sondern der rechtsetzenden Exekutive gegenübertritt. Die Aussagen von Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG zum gebotenen Maß der Regelungsdichte einkommensteuerrechtlicher Ermächtigungsnormen sind daher aus der Summe der bisherigen Ergebnisse abzuleiten. Überblickartig zusammengefaßt ergibt sich folgendes Bild der im Einkommensteuerrecht nicht unbedeutenden exekutiven Rechtsetzung.

I. Die Rechtsverordnung 1. Der gegenwärtige Stand der Diskussion Das Bundesverfassungsgericht verlangt vom Delegationsgesetzgeber, die „wesentlichen" Fragen selbst zu beantworten, berücksichtigt dabei aber die Zusammenhänge des jeweiligen Rechtsbereichs.2 Allgemein gesprochen steht seine heutige3 Rechtsprechung zum Einkommen-4 und sonstigen Steuerrecht5 grundsätzlich6 in Einklang mit dem hier auf der Basis des Wesentlichkeits1

Vgl. oben § 1 III. Vgl. oben § 3 II. 2.) zur Rechtsprechung zu Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 GG. 3 Ebenso wie in anderen Bereichen war das Bundesverfassungsgericht in der Frühphase seiner Judikatur zu Artikel 80 GG auch im Steuerrecht eher etwas strenger als heute. Nach BVerfGE 10, 251 (255 ff.) (Personenbeförderungsteuer) durfte dem Verordnungsgeber nicht die Entscheidung verbleiben, ob die Steuer nach tatsächlichen Entgelten oder nach exekutiv festzusetzenden Durchschnittsentgelten zu berechnen ist. BVerfGE 15, 153 (160 ff.) (Umsatzsteuer) hielt es für unzureichend, Warenwerte durch in der Verordnung festgelegte Durchschnittssätze zu bestimmen. 4 BVerfGE 8, 51 (61 f.) (Parteispenden); BVerfGE 23, 62 (71 ff.) (Erfindervergütungen). 5 BVerfGE 7, 267 (273 ff.) (Umsatzsteuer); E 7, 282 (291 ff.) (Umsatzsteuer); E 10, 251 (255 ff.) (Beförderungsteuer); E 15, 153 (160 ff.) (Umsatzsteuer); E 18, 52 (60 ff.) (Beförderungsteuer); E 31, 145 (176 f.) (Umsatzsteuer); E 35, 179 (183 f.) (Tabaksteuer); E 36, 224 (228 ff.) (Kaffeesteuer); E 38, 61 (83 f.) (Beförderungsteuer); E 42, 374 (385 ff.) (Gewerbesteuer). 2

I. Die Rechtsverordnung

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Vorbehaltes samt seiner steuerrechtlichen Eigenheiten entwickelten Gebot besonderer Bindung der Finanzverwaltung, das eine stärkere, aber nicht überhöhte Verantwortlichkeit des Parlamentsgesetzgebers begründet. Bisher hatte sich das Bundesverfassungsgericht eher selten mit Delegationen des Einkommensteuerrechts zu befassen.7 Zu unbestimmt war eine Ermächtigung, die dem Verordnungsgeber erlaubte, „die steuerliche Behandlung von Erfindervergütungen" zu regeln, ohne die Exekutive „an vom Gesetzgeber festgesetzte Grundsätze" zu binden, ohne aufzuzeigen, welche Erfindungen gemeint sind, und ohne erkennen zu lassen, „wie weit eine Begünstigung (vollständiger oder nur teilweiser Steuernachlaß) gehen konnte und durch welche steuertechnische Mittel sie erreicht werden sollte (zum Beispiel durch Einfuhrung eines Sondertarifs oder durch begünstigte Absetzungsmöglichkeiten)".8 Konkludent unterstellt wurde die Bestimmtheit des §51 Absatz 1 Nr. 2 c) EStG.9 Anhaltspunkte für das Einkommensteuerrecht lassen sich auch einigen Urteilen zu anderen Steuerarten entnehmen. Dem Gesetzgeber ist es zum Beispiel „nicht möglich, eine Zusatzumsatzsteuer einzuführen und es dem Verordnungsgeber zu überlassen, das für sie Wesentliche zu bestimmen".10 Unzulässig ist ferner eine Ermächtigung an die Exekutive, sämtliche im Gesetz enthaltenen Begriffe näher zu bestimmen"11 oder den „Umfang der Besteuerungsgrundlage" festzusetzen 12. Allerdings darf der Finanzverwaltung durchaus ein eigenständiger Teil der Rechtsetzung übertragen werden. Bei der Gewährung von Steuerbefreiungen kann die Exekutivspitze beispielsweise wirtschaftspolitische Ermessensentscheidungen nach unter Umständen schnell wechselnden Zweckmäßigkeitserwägungen treffen. 13 Die Verordnung darf Pauschsätze festsetzen, die an die Stelle der sonst nur mit erheblichem Aufwand und beträchtlichen Komplikationen zu ermittelnden individuellen Verhältnisse treten.14 Sogar der Steuersatz darf durch Rechtsverordnung festgelegt werden, sofern das Gesetz Kriterien zu seiner Berechnung liefert. 5 Die Verordnung darf mithin noch unvollständige förmliche Regelungen gesetzlich 6

Nicht zu äußern hatte sich das Gericht bislang zum „selbständigen Verordnungsrecht". Auf der Grundlage der herrschenden Dogmatik zu Artikel 80 GG müßte ein solche originäre Rechtsetzungsbefugnis wohl abgelehnt werden. 7 Vgl. Schmidt-Bleibtreu / Klein, Franz, Steuerrecht unter Verfassungskontrolle, S. 186 ff. 8 BVerfGE 23, 62 (71 ff.) (Erfindervergütungen). 9 BVerfGE 8, 51 (60 ff.) (zur Verfassungsmäßigkeit von § 49 EStDV a.F.). 10 BVerfGE 7, 282 (302). 11 BVerfGE 18, 52 (60 ff.) (Beförderungsteuer; Hervorhebung im Original). 12 BVerfGE 18, 52 (62 ff.) (Beförderungsteuer). 13 BVerfGE 31,145 (176) (Befreiung von der Umsatzsteuer). 14 BVerfGE 35, 179 (183 f.) (Tabaksteuer).

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§ 5: Die rechtssatzförmig handelnde Exekutive im Einkommensteuerrecht

angeleitet ergänzen, niemals aber Ausdruck Gestaltungswillens der Exekutive" sein.16