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German Pages 432 Year 2010
Schriften zum Internationalen Recht Band 184
Die Konzepte „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der russischen Theorie von Staat und Recht Der Einfluss des Gemeinschaftsideals auf die russische Verfassungsentwicklung
Von
Caroline von Gall
a Duncker & Humblot · Berlin
CAROLINE VON GALL
Die Konzepte „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der russischen Theorie von Staat und Recht
Schriften zum Internationalen Recht Band 184
Die Konzepte „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der russischen Theorie von Staat und Recht Der Einfluss des Gemeinschaftsideals auf die russische Verfassungsentwicklung
Von
Caroline von Gall
a Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-13308-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008/2009 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Sie wurde im Sommer 2008 abgeschlossen. Spätere Rechtsprechung und Literatur wurden nur vereinzelt berücksichtigt. Soweit auf Internetquellen verwiesen wurde, sind diese auf dem Stand vom Dezember 2009. Besonders herzlich danken möchte ich der Betreuerin der Arbeit, Frau Prof. Dr. Angelika Nußberger, M.A., Direktorin des Instituts für Ostrecht an der Universität zu Köln, die die Bearbeitung des Themas anregte und mir immer sehr hilfreiche Unterstützung zuteil kommen ließ. Für wertvolle Hinweise bin ich auch Herrn Prof. Dr. Alexander Blankenagel dankbar. Herrn Prof. Dr. Otto Depenheuer möchte ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens danken. Mein Dank gilt weiter dem Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD), der diese Arbeit, und insbesondere den Forschungsaufenthalt in Moskau im Frühjahr/ Sommer 2006, mit einem Promotionsstipendium förderte. Dank sagen möchte ich auch der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und ihrer Präsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth, die die Arbeit mit dem Klaus-MehnertPreis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auszeichneten, sowie der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln für den großzügig gewährten Druckkostenzuschuss. Schließlich danke ich all denjenigen, die mich während der Bearbeitung der Dissertation begleitet und die Fertigstellung ermöglicht haben. Dieser Dank gilt vor allem meinen Eltern. Ihnen sei die Arbeit gewidmet. Köln, im Januar 2010
Caroline von Gall
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. „Staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ als rechtswissenschaftlich notwendige Kategorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Die Konzepte „Staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der russischen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 a) Einheitliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 b) Staatliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Die Betonung von „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ als Widerspruch zur Verfassung der RF? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4. Rückzug in alte staatliche Legitimationsmuster? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 5. Angestrebte Interessenhomogenität als Problem für die Entwicklung der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
B. Historischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 I. Einheit der staatlichen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Die Entstehung der Selbstherrschaft: Selbstherrschaft als Ausdruck von Unabhängigkeit und Vorherrschaft des Moskauer Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 a) Das Kiever Reich als pluralistische Herrschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 36 b) Der Großfürstentitel als bloßer Ehrenrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 c) Die Bedeutung der Mongolenherrschaft für die Großfürstenwürde . . . . . . . . 40 d) Die zunehmende Vorherrschaft des Moskauer Fürstentums . . . . . . . . . . . . . . 41 e) Verschmelzung von Großfürstenwürde und Votcˇina als Bedingung für den Moskauer Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 f) Äußere Unabhängigkeit als Voraussetzung für ein neues Herrscherbild . . . . 43 g) Der Selbstherrschertitel als Ausdruck der neu gewonnenen unabhängigen Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
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Inhaltsverzeichnis 2. Die Herrschaft des Zaren als Abbild unendlicher göttlicher Macht . . . . . . . . . . 46 a) Die Herrschaftsordnung Zar Ivans IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Abnehmende Beschränkungen der Macht der Moskauer Herrscher . . . . . . . . 53 aa) Vecˇe und Zemskij sobor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 bb) Die Bojarenduma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 cc) Die Wahlversammlungen im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Peter I.: Selbstherrschaft und Absolutismustheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Der neue Staatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Russische Absolutismustheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 c) Der Herrscher als Garant für das Allgemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 d) Selbstherrschaft als nach innen unbeschränkte Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4. Die These von der Selbstherrschaft als besonderer russischer Bedingung territorialer Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Die Ganzheit des Reiches als Rechtfertigung staatlicher Macht im Selbstbild russischer Herrscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 aa) Ivan IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 bb) Peter I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) Katharina II. und die russische Rezeption Montesquieus . . . . . . . . . . . . 67 b) Die geschichtswissenschaftliche Begründung der These . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II. Staatliche Einheit im 19. Jahrhundert – Einheitsbildung im Staat als Ziel des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Der Staatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a) Die historische Rechtsschule und die staatliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 aa) Einheit der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 bb) Der einheitsstiftende Charakter des russischen Volkes . . . . . . . . . . . . . . 78 ˇ icˇerin: staatliche Einheit als Freiheitsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) C aa) Die persönliche Freiheit als Ausgangsidee staatlicher Einheit . . . . . . . . 81 bb) Cˇicˇerins Rechtsbegriff in Abgrenzung zu Rudolph von Jhering . . . . . . . 84 (1) Recht als subjektives Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 (2) Herrschaft des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (3) Entwicklungsgeschichte des Jheringschen Rechtsbegriffs . . . . . . . . 85 (4) Cˇicˇerins Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 cc) Die Natur des Staates als Garantie für die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Inhaltsverzeichnis
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dd) Die Lenkungsfunktion des Herrschers und die Einheit von Volk und Zar ˇ icˇerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 bei Kavelin, Solovev und C c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Exkurs: Die russische Idee der sobornost (Gemeinschaftlichkeit) . . . . . . . . . . . 99 a) Slawophilentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Die russische Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 c) Kollektivistischer Anarchismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Solovev: Staatliche Einheit als Voraussetzung für die mystische All- Einheit . 107 a) Das Streben des Menschen zur All-Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Brüderlich-slawische und staatliche Einheit als Vorstufe zur All-Einheit . . . 109 c) Einheit und Ordnung als Aufbauprinzip des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 d) Das russische Volk als Element der Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Der Einfluss Vl. Solovevs und der Slawophilen auf die Rechtswissenschaft am Beispiel Novgorodcevs und Gradovskijs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Gradovskij: staatliche Einheit auf Grundlage der narodnost . . . . . . . . . . . . . 118 b) Staatliche Einheit als Garant für eine freiheitliche Gemeinschaftlichkeit bei Pavel Novgorodcev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Der Staat als Mittler zwischen Mensch und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 120 bb) Die Kritik am Rechtspositivismus als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . 122 cc) Das Naturrecht und die Idee des allgemeinen Willens als Rechtfertigung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 dd) Die All-Einheit als höchstes Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5. Niederschlag der Vorstellungen in den Verfassungen von 1832 und 1906 . . . . . 130 a) Machtlegitimation durch die russische Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) Einheit von Volk und Zar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 c) Einheitliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Einheit des Staates/Territoriums als primäres Ziel des Politischen . . . . . . . . 138 III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus . . . . . . . . . . . . 141 1. Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Das universalistische Einheitsideal als Freiheits- und Gleichheitsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Ausgangspunkt: Marx Kritik an Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Vereinigung als freiheitliche Alternative zum monarchischen staatlichen Zwangsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
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Inhaltsverzeichnis c) Praktische Probleme der Marxschen Vereinigungsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Das universalistische Einheitsideal und die Gründung des sowjetischen Staates – Die Einheitspartei und der kollektive Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Die Einheit der Partei: Alleinherrschaft nach außen – monolithische Einheit als Unterordnungsprinzip nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Die Partei als Avantgarde des Proletariats – Das Streben nach Führerschaft im Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) „Einheit des Proletariats“ als Alleinvertretungsanspruch der Kommunistischen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Einheit als Unterordnungsprinzip innerhalb der Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4. Einheit von Volk und Leitung im sowjetischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Lenins Kritik an der „Einheit von Volk und Zar“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Einheit von Volk und Leitung: Ideologie als Grundkonsens . . . . . . . . . . . . . 156 c) Einheit von Volk und Leitung und freier Wille des Einzelnen . . . . . . . . . . . . 158 d) Der Zwangscharakter des Staates – Staatliche Einheit als Lenkungsapparat zu umfassender Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5. Das Recht als Mittel zur Herstellung von Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Recht als politisches Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Recht als Mittel zur Vereinigung gegenüber Systemwidrigem . . . . . . . . . . . . 171 6. Der einende Charakter der russischen Nation unter Stalin . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 7. Das Prinzip der Festigung der Einheit und Geschlossenheit als sozialistisches Völkerrechtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 9. Exkurs: „Einiges Russland“: Staatliche Einheit in der anti-kommunistischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Staatliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Einheitliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Einheit als Voraussetzung für die Existenz des Russischen . . . . . . . . . . . . . . 185 d) Die Rolle von Volk und Einzelnem innerhalb der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . 186 e) Bedeutung der Ilinschen Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 10. Staatliche Einheit als Instrument zum Aufbau des Sozialismus in der Verfassung von 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Sicherung des einheitlichen Willens durch den „demokratischen Zentralismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Inhaltsverzeichnis
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b) Das einheitliche System der Organe der Staatsgewalt (Art. 89 Verfassung der UdSSR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 c) Sozialistischer Föderalismus – Der Unionsstaat als Ausdruck der staatlichen Einheit der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 aa) Das sowjetische Föderalismusprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 bb) Die staatliche Einheit des Sowjetvolkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der gegenwärtigen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 I. Die „Einheit des Staates“ als politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Der gedankliche Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Die russische Idee: historisch gewachsene geistige Einheit . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Patriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 bb) Derzˇavnost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 cc) Gosudarstvennicˇestvo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 dd) Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 ee) Der einende Charakter der russischen Vielvölkeridee . . . . . . . . . . . . . . . 207 ff) Einheit von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 gg) Kultur der Ganzheitlichkeit (kultura celogo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 b) Die kontinuierliche Bedrohung des russischen Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. „Staatliche Einheit“ als Schutzraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Die staatliche Einheit als notwendiger Schutz vor innerer und äußerer Gefährdung: Souveränität und starker Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Staatliche Einheit als Folge einer einheitlich organisierten Staatsgewalt . . . . 218 c) Staatliche Einheit als einheitlicher Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 aa) Der Schutz der staatlichen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 bb) Der einheitliche Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 cc) Der einheitliche Markt als Voraussetzung für eine starke Weltmarktposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 d) Staatliche Einheit als Voraussetzung für Gerechtigkeit und Freiheit . . . . . . . 227 e) Die „geistige“ Ebene staatlicher Einheit: Ideelle Homogenität durch eine gemeinsame Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 f) Staatliche Einheit durch Einmütigkeit und Solidarität hinsichtlich des gemeinsamen Ziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
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Inhaltsverzeichnis g) Staatliche Einheit als Zielzustand und Teil einer besseren Zukunft . . . . . . . . 233 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 II. Staatliche Einheit nach der russisch-orthodoxen Sozialdoktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Der Staatsbegriff der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Friedensfähigkeit als Voraussetzung – Einheit als Seinsgrund . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Brüderliche Einheit als Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4. Volkssouveränität als neue Einheit von Volk und Herrscher . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
III. Rechtstheoretische Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität (celostnost) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Der Staatsbegriff in der russischen Staats- und Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . 247 a) Methodische Grundlagen des Staatsbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 b) Der Staat als politisches Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 c) Die Funktionen des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 d) Der Staat als Synthese der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 e) Der Staat als Voraussetzung für das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3. Qualität: Staatliche Einheit als sittliche Idee: Der Staat als Gesamtheit . . . . . . . 254 4. Funktionen von staatlicher Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Einheitsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Stabilitätsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 c) Kontinuitätsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 d) Der „humanitäre Aspekt“ der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität: staatliche Einheit als Voraussetzung von Grundrechtsschutz . . . . 258 5. Inhaltliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 a) Staatliche Einheit als Ganzheit des Territoriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Der soziale Aspekt der Formierung staatlicher Einheit: Solidarität und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 c) Der einheitliche Wirtschaftsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 d) Der einheitliche Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 e) Einheit als Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6. Die führende Rolle des russischen Volkes innerhalb der staatlichen Einheit . . . 266
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7. Staatliche Einheit als politische Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 8. Fazit: Staatliche Einheit als Voraussetzung für den idealen Staat . . . . . . . . . . . . 267 IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Präambel: Die Wahrung der staatlichen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2. Der Schutz der staatlichen und territorialen Integrität (celostnost(Ganzheit)) . 275 3. Exkurs: Das Völkerrecht als Grundlage für den Schutz staatlicher Ganzheit . . . 278 4. Staatliche Einheit und celostnost als Wesen des russischen Föderalismus . . . . 279 a) Universalismus des westlichen Föderalismusbegriffes? . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 b) Föderalismus als doppelte unmittelbare Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 c) Die Ganzheit als Wesen des russischen Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 d) Föderalismus und einheitliche Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 e) Der russische Föderalismus als Subordinationssystem mit dem Ziel, die Einheit zu sichern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 f) Die Einheit des Staates als Schranke für den Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . 291 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 V. Völkerrechtliche Grenzen der staatlichen Einheit/ territorialen Ganzheit . . . . . . . . . 294 1. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker – internationaler Schutz . . . . . . . . 294 2. Die marxistisch-leninistische Doktrin des Selbstbestimmungsrechts der Völker 296 3. Russische Literaturmeinung zum Verhältnis Selbstbestimmungsrecht und territoriale Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1. Der gemeinsame Wille in der Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Der allgemeine Wille als andauernde gesellschaftliche Übereinstimmung zur Sicherung der Einheit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Der gemeinsame Wille als das sittlich Gute: Der Rückgriff auf die volont gnrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 c) Der allgemeine Wille als Voraussetzung für das gute Gesetz . . . . . . . . . . . . . 306 d) Der allgemeine Wille im Verhältnis zum Mehrheitswillen . . . . . . . . . . . . . . . 308 e) Die Konkretisierung und Realisierung der gemeinsamen Idee als Aufgabe des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2. Verfassungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 a) Art. 13 Verf RF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
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Inhaltsverzeichnis b) Die Verfassung als Dokument einer gemeinsamen „Ideologie“ . . . . . . . . . . . 314 3. Fazit: Verfassung vs. Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“ (edinaja vlast) . 317 1. Einheitliche Macht als sittlich gerechtfertigte Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2. Einheitliche Macht als historisch-politisch gerechtfertigte Macht: Die Einheit der staatlichen Macht als Garantie für staatliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 3. Staatliche Einheit als Aufgabe staatlicher Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 4. Einheitliche Macht aufgrund einheitlicher Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . 319 5. Einheitliche staatliche Macht als ausschließliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 6. Einheitliche Macht als Höherrangigkeit der föderalen Macht . . . . . . . . . . . . . . . 323 7. Verfassungslage: Einheit des Systems der staatlichen Macht vs. Gewaltenteilung 323 a) Auslegung über den marxistisch-leninistischen Systembegriff . . . . . . . . . . . 324 b) Sowjetischer Systembegriff und Gewaltenteilungsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 c) Die russische Gewaltenteilungsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 8. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 VIII. Der einheitliche Rechtsraum – einheitliche Gesetzgebung (zakonodatelstvo) durch Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 1. „Rechtssystem“ und „System der Gesetzgebung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 a) Das einheitliche Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 b) Einheitlichkeit des legislativen Systems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Begründung des legislativen Systems aus der Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . 335 3. Das System der Gesetzgebung nach der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 4. Der Kollisionsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 IX. Das einheitliche System der Exekutive – Art. 77 II Verf RF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 1. Das einheitliche System als Subordinationsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 2. Art. 77 II i.V.m. Artt. 1, 11 II, 65 ff. Verf RF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 X. Das einheitliche System der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 1. Das einheitliche Gerichtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Das einheitliche System der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
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XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates und der Einheit der staatlichen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 1. Einleitung: Gewaltenteilung und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Die Stellung des Präsidenten innerhalb der Einheit des Systems der staatlichen Macht als Kompetenzgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 a) Der Präsident als Spitze des Systems der einheitlichen Macht . . . . . . . . . . . . 352 b) Der Präsident als „Schiedsrichter“ (arbitr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 c) Die föderale Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 3. Rechtsgrundlagen für die Handlungskompetenz des Präsidenten zur Sicherung der staatlichen Einheit und der einheitlichen Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 a) Art. 80 II Verf RF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 b) Art. 78 IV Verf RF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 c) Art. 4 III Verf RF i.V.m. dem Prinzip der Verantwortlichkeit (otvetstvennost) 358 d) Der Präsident als Verkörperung des gemeinsamen Willens des Volkes – Verabsolutierung der Mehrheitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 e) Der „Geist“ der Verfassung als Legitimationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . 363 f) Art. 85 Verf RF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 XII. Staatliche Einheit und einheitliche Macht aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1. Staatliche Einheit und territoriale Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 a) Entscheidung vom 16. 11. 2004 (Sprachenurteil) – staatliche Einheit als Letztbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 b) Entscheidungen zum Parteiengesetz (1. 2. 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 2. Die Rolle des Präsidenten als Hüter der staatlichen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . 371 a) Entscheidung vom 31. 7. 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 b) Entscheidung vom 4. 4. 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 c) Entscheidung vom 21. 12. 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 3. Der Schutz der staatlichen Einheit als Verpflichtung der Organe staatlicher Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4. Inhaltliche Bestimmung des Schutzgutes „Staatliche Einheit und (territoriale) Ganzheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 a) Ermächtigungsgrundlage für innerstaatliche Maßnahmen zum Schutz gegen Separatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 b) Schutz des einheitlich beherrschten Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
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Inhaltsverzeichnis 5. Staatliche Einheit und einheitlicher Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 6. Staatliche Einheit als Grundrechtsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 7. Die Tschetschenien-Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Verhältnis staatlicher Integrität und Selbstbestimmungsrecht der Völker . . . . . . . . . . . . . . 385 8. Das einheitliche System staatlicher Macht und das einheitliche System der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 a) Die einheitliche Souveränität als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 aa) Das einheitliche System der Macht als Wert der Verfassung . . . . . . . . . . 389 bb) Einheitliche Souveränität als Argument für die Höherrangigkeit der föderalen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 b) Horizontale Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 c) Das einheitliche System der Exekutive als Subordinationsverhältnis . . . . . . 392 d) Das einheitliche System staatlicher Macht als Homogenitätsgebot . . . . . . . . 393 9. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
D. Zusammenfassung und Schluss: „Einheit“ als Kontinuitätsbegriff der russischen Staatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 I. Staatliche Einheit als politische Notwendigkeit gegen Chaos und Zerfall . . . . . . . . 398 II. Der Staat als Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 III. Die Synthese als Voraussetzung für Recht und Freiheit sowie für das sittliche Ideal 399 IV. Der Staat als Instrument der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 V. Staatliche Einheit als Interessenidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 VI. Fiktive Interessenidentität als Problem für die Entwicklung der Verfassungs- und der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 VII. Einheitliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 VIII. Die Bedeutung von Einheit als Ergebnis eines Methodenproblems . . . . . . . . . . . . . 407 IX. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.E. a.F. AllgPG
APuZ ArchSWSP Art. (Artt.) Aufl. AZR Bd. BiOst BVerfG BVerfGE DDG ders. DRV dt. Eph. f., ff. FN FS GG GVG GVNP HGR h.M. Hrsg. HStR ICJ Rep. i.S. i.V.m. JOR JöR KPdSU LDPR lit. Mt.
anderer Ansicht am Ende alte Fassung Gesetz über die allgemeinen Prinzipen bei der Bildung der legislativen und exekutiven Organe der Staatsgewalt der Subjekte der RF (SZ RF 1999 Nr. 42, Pos. 5005 mit weiteren Änderungsgesetzen) Aus Politik und Zeitgeschichte Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Artikel (plural) Auflage Akty, ostnosjasciesja k istorii Zapadnoj Rossii, sobrannye i izdannye Archeograficeskoju kommissieju Band Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheidung Duchovnye i dogovornye gramoty velikich i udelnych knjazej XIV – XVI vv. derselbe Drevnjaja Rossijskaja Vivliofika deutsch Epheser folgende Fußnote Festschrift Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Föderales Gesetz über das Gerichtsystem von 1996 (SZ RF 1997, Nr. 1, Pos. 1 mit weiteren Änderungsgesetzen) Gramtoy Velikogo Novgoroda i Pskova Handbuch der Grundrechte herrschende Meinung Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs im Sinne in Verbindung mit Jahrbuch für Ostrecht Jahrbuch des öffentlichen Rechts Kommunistische Partei der Sowjetunion Liberal-Demokratische Partei Russlands litera Matthäus
18 m.w.N. Nr. ParteiG PSRL PSZ Red. Res GA RF RG Röm. ROW S. SED StGB RSFSR SZ RF Tim. u. a. UdSSR u. U. verantwortl. Red. Verf RF vgl. VKS vs. WGO-MfOR z. B. ZK
Abkürzungsverzeichnis mit weiteren Nachweisen Nummer Parteiengesetz Polnoe Sobranie Russkich letopisej Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii Redakteur Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Russische Föderation Rossijskaja Gazeta Römer Recht in Ost und West Seite Sozialistische Einheitspartei Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik Sobranie Zakonodatelstva RF Timotheus unter anderem Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken unter Umständen verantwortlicher Redakteur Verfassung der Russischen Föderation vergleiche Vestnik Konstitucionnogo Suda Rossijskoj Federacii versus WGO – Monatshefte für Osteuropäisches Recht zum Beispiel Zentralkomitee
A. Einleitung I. Einführung Seit der Regierungszeit Präsident Vladimir Putins (2000 – 2004) ist in der „multinationalen“1 Russischen Föderation2 eine verstärkte Betonung des Begriffs „Einheit“ (russ.: edinstvo)3 in politischen wie auch staatsrechtlichen Zusammenhängen zu konstatieren. Vladimir Putin kündigte bereits kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten an, er werde die staatliche Ordnung erneuern, indem er die Einheit des Staates stärke und ausbaue.4 Am 4. 11. 2005 wurde erstmals der „Tag der nationalen Einheit“ als arbeitsfreier Staatsfeiertag begangen.5 Gleichzeitig gewinnt das Konzept der „Einheit der staatlichen Macht“ in der Rechtswissenschaft große Bedeutung. Die Termini „Einheit der staatlichen Macht“ und „staatliche Einheit“ wurden immer wieder Inhalt rechtswissenschaftlicher Abhandlungen.6 Auffällig ist dabei auch die Verknüpfung der bei-
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So die Bezeichnung in der Präambel der Verfassung der RF („mnogonacionalnij narod“). 2 Obwohl die wörtliche Übersetzung von „rossijskij“ im Gegensatz zu „russkij“ (russisch) „russländisch“ ist, wird hier nicht von der Russländischen Föderation (Rossijskaja Federacija), sondern von der Russischen Föderation gesprochen, da sich dieser Begriff im Deutschen eingebürgert hat. Ausnahme davon bilden Fälle, in denen der Vielvölkergedanke des Begriffs „rossijskij“ besonders betont werden soll. 3 Der russische Begriff „edinstvo“ wir in dieser Darstellung mit dem deutschen Begriff „Einheit“ übersetzt. Gleichwohl umfasst der russische Begriff „edinstvo“ die deutschen Begriffe (1) Einheit, (2) Einigkeit und (3) Einheitlichkeit (vgl. dazu auch Ressel, Zur philosophischen Terminologie von V. Solovev, in: Thiergen (Hrsg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit, Köln 2006, S. 307 f.). 4 Z. B. Rossijskaja gazeta vom 19. 5. 2000, S. 3. 5 Durch eine Änderung von Art. 112 des Arbeitsgesetzbuches der RF wurde der Tag der nationalen Einheit als Staatsfeiertag eingeführt (Föderales Gesetz Nr. 201 vom 29. 12. 2004). Gefeiert wird er am 4. 11. und steht damit dem bis 1991 am 7. 11. gefeierten Tag der Oktoberrevolution zeitlich nah. Mit der gleichen Änderung wurde der Tag der Verfassung (12. 12.) abgeschafft. 6 Vgl. u. a. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, Moskau 2005, Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, Barcic, O edinstve gosudarstvennoj vlasti, Zakonodatelstvo Nr. 9, 2001.
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A. Einleitung
den Begriffe: Die Einheit des Staates sei allein durch eine einheitlich organisierte staatliche Machtstruktur realisierbar.7 Gegenstand dieser Arbeit ist daher die Frage, was unter „staatlicher Einheit“ sowie „einheitlicher Macht“ in der russischen Staatswissenschaft verstanden wird und wie dieses Verständnis mit den diesbezüglichen Konzepten der russischen Verfassung übereinstimmt. Da unbestritten ist, dass Vladimir Putin das politische Geschehen im Land seit dem Jahr 2000 wesentlich bestimmt,8 scheint sein Verständnis der Begriffe von erheblicher Bedeutung für die Staatspraxis, die wiederum über die faktische Geltungskraft der Verfassung Aufschluss gibt. 1. „Staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ als rechtswissenschaftlich notwendige Kategorien? Aus deutscher Sicht verwundert der Begriff „staatliche Einheit“ als zweckbestimmende Kategorie der Rechtswissenschaft. So ist die Beschäftigung mit dem Konzept „staatliche Einheit“ in der deutschen Rechtswissenschaft nicht mehr selbstverständlich.9 Inhalt bekommt die Diskussion um staatliche Einheit in Deutschland heute vor allem dann, wenn es um die Frage geht, wieweit gesellschaftliche Homogenität als Voraussetzung für die Verfassung verlangt werden muss10 oder wenn von „aufgegebener“ politischer Einheit als Folge der Integrationskraft der Verfassung gesprochen wird.11 Beiden Fragekomplexen ist gemein, dass sie sich nicht allein aus der Rechtsordnung selbst beantworten lassen, sondern die eher sozialwissenschaftliche Frage beinhalten, was die Gesellschaft und den Staat zusammenhält.12 Die Einheit des Staates ist für die Rechtswissenschaft in Deutschland heute wohl deshalb kaum mehr Thema, weil der sich in der Verfassung manifestierende gesellschaftliche Konsens hinsichtlich des gemeinsamen Staates gesichert scheint. In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass nicht nur die theoretische Beschäftigung mit der staatlichen Einheit, sondern mit dem Staat insgesamt aus dem Blickfeld der juristischen Auseinandersetzung rückt. Isensee konstatiert dementsprechend einen Paradigmen7 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 8. 7. 2000, in: Rossijskaja gazeta, 19. 5. 2000. 8 Zur Lenkungsmacht des Präsidenten der RF vgl. statt vieler: Mommsen, Putins „gelenkte Demokratie“: „Vertikale der Macht“ statt Gewaltenteilung, in: Buhbe/Gorzka (Hrsg.), Russland heute, S. 235 ff., zur anhaltenden Macht Putins nach der Amtseinführung D. Medwedjews als Präsident: H.-H. Schröder, Russlands dritter Präsident. Die Neuordnung der politischen Führung unter Putin und Medwedjew, in: Russland-Analyse Nr. 164 vom 16. 5. 2008, S. 6. 9 Vgl. dazu Möllers, Staat als Argument, S. 228 ff. 10 Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR V, 2000, § 115, Rn. 105 ff. (m.w.N.). Dabei geht es um eine über die Staatsangehörigkeit hinausragende Solidar- und Schicksalsgemeinschaft des Volkes (vgl. auch BVerfGE 112/1 [39]). 11 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., S. 5 ff. (m.w.N.). 12 So Möllers, Staat als Argument, S. 242.
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wechsel von „Staat“ zu „Verfassung“. Staatsrechtslehre ist heute vor allem Verfassungsrechtslehre. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass die „staatliche Einheit“ im Anschluss an Georg Friedrich Hegel13 auch in Deutschland lange Zeit zentraler Begriff war und die Diskussion über die Einheit des Staates zuletzt in der Weimarer Republik sehr bedeutsam wurde.14 Dabei geht es um die neuzeitliche Problematik, Staat und staatliche Gewalt gedanklich zu begründen, ohne auf gesellschaftliche Homogenität zurückgreifen zu können.15 Heute herrscht in Deutschland Einigkeit darüber, dass sich der Konsens juristisch allein in der Verfassung dokumentiert16 und diese den Konsens, auf dem sie beruht, nicht selbst garantieren kann.17 Unabhängig vom beschriebenen Konsens zu Staat und Verfassung scheint der Begriff „staatliche Einheit“ aber auch kaum tauglich, die Inhalte der durch Gewaltenteilung und Interessenpluralität bestimmten Rechtsordnung18 zu umschreiben. So wird in der deutschen Rechtstheorie heute die Auffassung vertreten, dass auf den Begriff der staatlichen Einheit wegen seines fehlenden Konkretisierungspotenzials in der Rechtsdogmatik, wie aber auch in der Rechtstheorie vielmehr verzichtet werden könne.19 „Einheit“ beschreibe vor allem eine Gesamtheit, ohne den konkreten Inhalt zu charakterisieren. Auf dem Boden der Verfassung als „einheitlicher“ Grundlage von staatlichem Handeln kann staatliche Einheit wie aber auch die Einheit der staatlichen Macht nur im formalen Sinne festgestellt werden. Inhaltlich bestimmt sich die Einheit über die Auslegung der verfassungsmäßigen Gesetze. Auf der Suche nach staatlicher Einheit dient dem deutschen Juristen daher am ehesten das Konzept Hans Kelsens, nach dem staatliche Einheit durch die formale Einheit der Grundnorm gesichert wird.20 Da sich das gesamte Recht aus einer Grundnorm ableitet und der Staat die Summe der Rechtssätze ist,21 kann der Staat überhaupt nur „einheitlich“ sein. Gleiches gilt für die Einheit der Staatsgewalt als „Geltung der Rechtsordnung“.22
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Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258. Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 16. 15 Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 2004, § 15, Rn. 6. 16 Stern, Handbuch des Staatsrechts, Band I, S. 90. 17 „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit Willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich heraus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und- auf säkularisierter Ebene- in jeden Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ (Böckenförde [Staat, Gesellschaft, Freiheit“ 1976, S. 60]). 18 So umfassend Möllers, Staat als Argument, S. 245. 19 Möllers, Staat als Argument, S. 254. 20 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1983, S. 196. 21 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1983, S. 289 f. 22 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 96. 14
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Rechtswissenschaftlich bedeutsam bleibt insofern allein die „Einheit der Rechtsordnung“.23 Vor dem Hintergrund, dass der Begriff „staatliche Einheit“ für die Rechtswissenschaft in Deutschland heute, außer in den genannten Bereichen, kaum noch Bedeutung hat, scheint es auf den ersten Blick bemerkenswert, dass staatliche Einheit und Einheit der staatlichen Macht in Russland indessen zentrale Kategorien der Rechtsdogmatik, der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie24 sowie Argument der Verfassungsgerichtsbarkeit25 sind. 2. Die Konzepte „Staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der russischen Rechtsgeschichte a) Einheitliche Macht Dabei ist die Bedeutung der Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in Russland kein neues Phänomen. Vielmehr ist die konzeptionelle Betonung von „Einheitlichkeit“ in Russland traditionell in allen gesellschaftlichen Bereichen verbreitet. Dies betrifft auch die staatliche Organisation. Wenn die Staatsgewalt bis zum Ende der Sowjetunion „einheitlich“ organisiert war, verstand man darunter einen hierarchisch-autokratischen Aufbau. So war staatliche Macht bisher weder im Staat auf verschiedene Funktionsbereiche aufgeteilt, noch bestand insgesamt eine dauerhafte Aufteilung des gemeinsamen Raums in verschiedene Herrschaftsbereiche wie in West- und Mitteleuropa. Nicht einmal in Gestalt der Kirche erhielt die staatliche Herrschaftsmacht ernsthafte Konkurrenz. Bis heute folgt die orthodoxe Kirche stattdessen der byzantinischen Symphonie-Lehre, nach der weltliche und geistliche Gewalt zusammenwirken, wobei sich die Kirche in weltlichen Fragen der staatlichen Macht unterordnet.26 Bis zur Oktoberrevolution 23
Vgl. umfassend Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, Berlin 1995. In Russland wird die Unterscheidung in die verschiedenen Disziplinen der Rechtswissenschaft in dieser Schärfe indes nicht vorgenommen. 25 Z. B. SZ RF 1995 Nr. 33 Pos. 3424, SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336. 26 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2000, III. 4: In der sechsten Novelle des hl. Justinianos ist das der Symphonie zwischen Kirche und Staat zugrunde liegende Prinzip formuliert: „Die erhabensten Güter, die den Menschen durch die höchste Gütigkeit Gottes verliehen sind, sind das Priestertum und das Königtum, von denen ersteres (das Priestertum, die kirchliche Macht) sich um die göttlichen Angelegenheiten kümmert und letzteres (das Königtum, die Staatsmacht) sich der menschlichen Anliegen annimmt und diese leitet, während beide, in Ansehung ihres gemeinsamen Ursprungs, eine Verschönerung des menschlichen Lebens bewirken. Deshalb liegt den Königen nichts mehr am Herzen als die Ehrung der Geistlichen, die ihrerseits ihren Dienst an den Königen durch ununterbrochene Fürbitte vor Gott erfüllen. Und wenn einerseits die Geistlichkeit in allem wohlgeordnet und gottgefällig ist, andererseits auch die Staatsmacht den ihr anvertrauten Staat wahrhaftig leitet, so wird sich zwischen ihnen vollkommene Eintracht in Bezug auf alles einstellen, was dem 24
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wurde die Einheit von Kirche und Staat aufrechterhalten:27 Während die ursprüngliche religiös-politische Einheit in Westeuropa im Investiturstreit (1057 – 1122) aufbrach und die Kirche ihre Macht von der weltlichen Umklammerung löste,28 bleibt es in Russland beim universalistischen Ideal der religiösen Vervollkommnung der staatlichen Einheit. Weder die Reformbemühungen im 19. Jahrhundert noch die Oktoberrevolution bewirkten ein Ende des autokratischen Modells. Gewaltenteilung wird im Kommunismus weder auf der horizontalen noch auf der vertikalen Ebene verwirklicht. In Abgrenzung zum Föderalismus in nicht-kommunistischen Staaten ist der sog. sozialistische Föderalismus allein die rechtliche Form für die aus verschiedenen Volksgruppen hervorgegangene Gemeinschaft des Sowjetvolkes als Etappe auf dem Weg zur vollständigen sozialen Homogenität.29 b) Staatliche Einheit Während die einheitliche Struktur der Organisation von Staatsgewalt immer beibehalten wird, macht die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert die „Einheit des Staates“ zum Schlüsselbegriff des russischen Staatsverständnisses. Den Höhepunkt erreicht die inhaltliche Aufwertung des Begriffs im politischen System des Philosophen Vladimir Solovev (1853 – 1900). Die Einheit des Staates wird dabei zum Raum, der sittlich vollkommenes russisch-orthodoxes Leben ermöglicht und zum christlichen Ideal der All-Einheit führt.30 Auch für einen freiheitsorientierten Juristen wie Boris Cˇicˇerin (1828 – 1904) ist die staatliche Einheit Voraussetzung für die gerechte Ordnung. Hier erwachsen Freiheit und Recht allein „aus der Natur des staatlichen Bundes“.31 Dies beinhaltet auch die Ablehnung von divergierenden Interessen innerhalb der Gesellschaft und deren Schutz durch subjektive Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat.32 Ziel ist es vielmehr zunächst, Teil des Ganzen zu werden, das erst in einem zweiten Schritt aus sich selbst Freiheitsräume sichert. Während die Idee vom Staat als Sittlichkeit, Ordnung und Freiheit stiftende Synthese auch auf die Staatsphilosophie Hegels zurückzuführen ist, wird dabei gleichzeitig gerade für den Staatsbegriffs Solovevs, Pavel Novgorodcevs (1866 – 1924) und Ivan Ilins (1882 – 1954) die slawophile Vorstellung relevant, die den kollektivistischen Zusammenschluss der In-
Nutzen und dem Wohlergehen des menschlichen Geschlechts dient.“ http://www.kas.de// db_files/dokumente/7_dokument_dok_pdf_1369_1.pdf?050120163338. 27 Dörpmann, Der Einfluss der Kirche auf die moskowitische Staatsidee, S. 161 ff. 28 Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 224, 269 f. 29 Kudrjawzew, Verfassung der UdSSR, S. 155 ff. 30 Solovev, Über die Nationalität Russlands, in: Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 41, russische Ausgabe: Sobranie socˇinenij, Band 5, S. 30. 31 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 668. 32 Solovev, Kritik der abstrakten Prinzipien, 13. Kapitel.
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dividuen als russische Idee bewusst dem moralisch unterlegenen, individualistischegoistischen Westen entgegengestellt.33 Auffällig ist auch in der sowjetischen Gesetzgebung und der Rechtslehre eine extrem häufige Verwendung des Begriffs „staatliche Einheit“.34 Während das vereinigte Proletariat bei Marx vor allem als freie Assoziation im Widerspruch zum Staat als der Zwangsordnung zu sehen ist,35 wird die Einheit des Proletariats bei Lenin zum Sinn der Zwangsordnung. Nach der Lehre des Marxismus-Leninismus36 entstand staatliche Einheit in Form von Interessenhomogenität aus dem gemeinsamen objektiven Interesse der Arbeiterklasse, nämlich der Errichtung des sozialistischen Staates im ersten Schritt bzw. der klassenlosen, ausbeutungsfreien Gesellschaft (Kommunismus) in einem weiteren Schritt.37 Dieses einheitliche Interesse bestimmte alle Lebensbereiche. Indem der Staat als entscheidendes Mittel zur Erreichung dieses Ziels angesehen wurde,38 wurde Einheit im Staat zum Schlüsselbegriff für die gesamte gesellschaftliche Ordnung. Die staatliche Zwangsordnung allein ermöglicht die Entwicklung zur absoluten Harmonie der klassenlosen Gesellschaft. Der Einzelne ist der Gesamtheit verpflichtet, um das Funktionieren des Staates als Einheit zu gewährleisten.39 Mit voranschreitender Entwicklung muss der Staat des ganzen Volkes dabei auch immer stärker Ausdruck des homogenen Interesses werden.40 Inhaltliche politische Auseinandersetzungen hätten das richtige Bewusstsein in Frage gestellt. Aufgrund des homogenen Interesses ist letztlich auch die Gewaltenteilung überflüssig. Nach der marxistisch- leninistischen Lehre verschleiert jede Form von Gewaltenteilung vielmehr die einheitliche Souveränität des Volkes.41 So gewährleisteten die gemeinsamen Ziele der Werktätigen die Einheit der Interessen von einzelnen Menschen aber auch Landesteilen.42 Jede Andersartigkeit und jeder Widerspruch im Staat steht gleichbedeutend mit dem Scheitern der totalen Ideologie und wird insofern bekämpft. Hier wird auch die Verknüpfung von staatlicher Einheit und einheitlicher staatlicher Macht deutlich. Genauso wie Selbstherrschaft und großrussischer Zentralstaat
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Kavelin, Sobranie socˇinenij, S. 566. Uibopopo, in: Fincke (Hrsg), Handbuch der Sowjetverfassung Band II, Art. 70 Rn. 10. 35 Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 45. 36 Vgl. Stichwort „Marxismus-Leninismus“, in: Haug, Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 5, S. 842 ff. 37 Lukaschewa (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 4, S. 53. 38 Faberow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 3, S. 89 ff. 39 Kudrjawzew, Verfassung der UdSSR, S. 155 ff. 40 Faberow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 3, S. 115. 41 Westen, in: David/Grassmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, Rn. 203. 42 Kudrjawzew, Verfassung der UdSSR, S. 155 ff. 34
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schon früh in einem Atemzug genannt werden,43 sind die Konzepte von einheitlicher Macht und staatlicher Einheit in der Sowjetunion miteinander verbunden. Nach den unterschiedlichen Herrschaftslegitimationen in Russland vollzieht sich die Unterordnung unter den hierarchisch-autokratischen Machtapparat nicht im Widerspruch zum Willen des Volkes, vielmehr geht man davon aus, dass allein der Herrscher in der Lage ist, den Gesamtstaat (auch territorial) zusammenzuhalten und das Volk dem objektiven Ideal näher zu führen. Dass der Einzelne dieses objektive Ideal anstrebt, wird vorausgesetzt. Volk und Herrscher verbindet insofern das gemeinsame Ideal. Dieses gemeinsame Ideal überwindet alle Interessengegensätze zwischen dem Einzelnen und dem Staat. 3. Die Betonung von „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ als Widerspruch zur Verfassung der RF? Es ist insofern zu untersuchen, ob die gegenwärtige Betonung von staatlicher Einheit und einheitlicher Macht auch heute wieder ein Gesamtkonzept impliziert, wonach das Volk aufgerufen wird, sich einmütig dem unbegrenzten Willen des Staatsoberhauptes unterzuordnen, weil dieser die Geschicke des Gesamtstaates und die Sicherung des einheitlichen und unteilbaren Territoriums im Interesse aller lenkt. Die Verfassung der Russischen Föderation von 1993 stellt dem Wortlaut nach klar, dass die neue Ordnung auf freiheitlich-demokratischen Grundsätzen aufbauen soll (Art. 1 ff. Verf RF). Das freiheitlich-demokratische Konzept ließe für eine von oben durchgesetzte absolute „Vereinheitlichung“ der gesellschaftlichen Gruppen im marxistisch-leninistischen Sinne keinen Platz. Es ist insofern zu fragen, wie die von Putin und der Rechtswissenschaft erneut artikulierte Notwendigkeit der Herstellung von staatlicher Einheit mit der freiheitlich-demokratischen Grundentscheidung der Verfassung in Einklang gebracht wird. Gerade wenn die Notwendigkeit von einheitlicher Macht proklamiert wird, ist rechtsdogmatisch insbesondere erstaunlich, dass Russland dem Wortlaut der Verfassung nach eine Föderation (Art. 1 Verf RF) ist und gerade kein zentralisierter Einheitsstaat. Ein föderaler Staat zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass die staatliche Macht gerade nicht einheitlich organisiert, sondern zwischen Zentrum und Regionen verteilt ist.44 Dabei sind die Konzepte „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ auf der einen Seite und Föderalismus auf der anderen nicht per se widersprüchliche Ansätze. Auch ein föderaler Staat braucht Einheit. Vielmehr ist gerade in einem Bundesstaat die Auseinandersetzung, mit dem, was die einzelnen Regionen zu einem Staat verbindet, ihre Einheit konstituiert besonders wichtig. Es kommt aber wesentlich auf das Verständnis von staatlicher Einheit und einheitlicher Macht an. Während auch in einem Bundesstaat wie Deutschland der Terminus „einheitliche 43
Kämpfer/Stökl, Russland an der Schwelle der Neuzeit, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band I, 2. Halbband, S. 944. 44 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, § 98 Rn. 4.
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Staatsgewalt“ als Umschreibung der Gesamtheit der staatlichen Befugnisse gebraucht wird, bleibt das Verständnis des Begriffes hier jedoch funktional.45 Im russischen Verfassungsrecht erscheint indes gegenwärtig fraglich, ob die Bezugnahme auf die Einheit der staatlichen Macht lediglich ein funktionales Zusammenspiel der Akteure, ein Homogenitätsgebot oder gar die verfassungswidrige Abkehr von der Gewaltenteilung beinhaltet. Schwierig wäre es, wenn ein Verständnis der Begriffe im sowjetischen Sinne heute der Entwicklung des Föderalismusprinzips im Wege stünde. 4. Rückzug in alte staatliche Legitimationsmuster? Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Hinweis auf die Notwendigkeit von einheitlicher Macht und staatlicher Einheit heute häufig mit dem Hinweis auf das schlechte Funktionieren des Föderalismus in Russland einhergeht.46 So wird die unmittelbare Staatsgewalt der Regionen mit dem Argument beschränkt, dass die gegenwärtigen föderalen Strukturen die Einheit des Staates gefährdeten.47 Dabei kann nicht bestritten werden, dass die aus der Sowjetzeit übernommenen bundesstaatlichen Strukturen in der Tat für einen freiheitlichen Föderalismus eine wenig solide Grundlage bildeten. So sorgten die extrem asymmetrischen Strukturen der zunächst 89 Regionen der RF (Subjekte) hinsichtlich Größe, Einwohnerzahl und Finanzkraft nicht nur politisch für Zündstoff. Aufgrund von einer wenig eindeutigen Kompetenzverteilung, fehlenden Regelungen über einen finanziellen Ausgleich sowie ganz allgemein mangelhaft ausgebildeten Verbindungs- und Streitschlichtungsmechanismen wurde man den politischen Auseinandersetzungen auch juristisch kaum Herr.48 Entsprechender Regelungen hatte es in der Sowjetzeit aufgrund der kontrollierenden Klammerwirkung der Partei nicht bedurft, sie sind aber für einen freiheitlichen Föderalismus notwendig. Ursächlich dafür, dass die Notwendigkeit von Einheit heute als Antwort auf die Machtkonflikte zwischen Zentrum und Regionen verstanden wird, scheint auch, dass es in der russischen Staatsrechtslehre an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den konzeptionellen Grundlagen und dem Inhalt des Föderalismusprinzips fehlt. Föderalismus wird nicht in seiner Eigenschaft als Sicherung von Pluralismus, Freiheit und Demokratie begriffen. Vielmehr beschränkt sich die Kommentarliteratur zur Verfassung in der Regel darauf, festzustellen, dass Russland eine Föderation ist und be-
45 Vgl. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, § 98 Rn. 196. 46 Barcic, O edinstve gosudarstvennoj vlasti, Zakonodatelstvo, 9/2001, Putin, in: Rossijskaja gazeta vom 14. 9. 2004, S. 1 f. 47 Entscheidung des Verfassungsgerichts der RF, abgedruckt in: SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336. In diesem Sinne nimmt das Verfassungsgericht der RF auch das pluralistische Parteiensystem als Gefahr für die Einheit des Staates wahr (SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491). 48 Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat.
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schreibt die konkrete Ausgestaltung.49 Es fehlt eine Beschäftigung mit den durch Machtdezentrierung und unmittelbarere Mitsprache positiven Effekten für die Demokratie und die rechtsstaatliche Freiheitssicherung, wie in der deutschen Föderalismusliteratur.50 Die Ausführungen der Literatur zum Föderalismusprinzip deuten darauf hin, dass in der RF kein durch den Föderalismus verkörpertes gefestigtes freiheitliches Staatsverständnis herrscht, wonach der Staat dazu dient, den Einzelnen, Volksgruppen und Minderheiten in ihren Rechten zu schützen.51 Allerdings ist gerade das Bundesstaatsmodell in erhöhtem Maße theoriebedürftig, weil es nationale Eigentümlichkeit verkörpert, in seiner Ausführung komplizierter ist als der Einheitsstaat und es daher unter erhöhtem Legitimationsdruck steht.52 Die mangelnde Auseinandersetzung mit den positiven Folgen eines freiheitlichen Föderalismus für die Demokratie mag in Russland indes Grund dafür sein, dass der erneuten starken Betonung der Notwendigkeit von Interessenidentität Raum bleibt.
5. Angestrebte Interessenhomogenität als Problem für die Entwicklung der Rechtsidee Durch die jahrhundertelange Betonung der Interessenhomogenität im Staat53 blieb nicht nur für die Gewaltenteilungsidee, sondern auch für die Lehre von der Fähigkeit des Rechts, selbständig Machtkonflikte zu entscheiden,54 bisher wenig Raum. Interessenhomogenität braucht weder subjektive Rechte noch Gewaltenteilung. Dort, wo alle das gleiche Ziel haben, bedürfen auch Mindermeinungen nicht des Schutzes. Wenn allein der Gesamtstaat in der Lage ist, die gemeinsame objektive Idee umzusetzen, bedarf es vor allem keines (rechtlichen) Schutzes gegen den Gesamtstaat. Recht braucht man hier allein zur Realisierung der objektiven Idee, d. h. als Mittel des Staates. Die lange Fokussierung der Staatstheorie auf das gemeinsame Interesse mag erklären, dass die russische Politik angesichts der Probleme in den Beziehungen zwischen Zentrum und Regionen reflexartig in hierarchische Befehlsstrukturen55 zurückfällt, anstatt die Interessendifferenzen allein über Gesetze und durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit zu entscheiden. ˇ irkin, Konstitucionnoe pravo, Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 344, C S. 199 ff., Babaev, in: Lazarev (verantwrtl. Red.), Konstitucija Rossijskoj Federacii, Kommentarij, S. 26. 50 Vgl. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, § 98 Rn. 18. 51 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, § 98 Rn. 240. 52 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, § 98 Rn. 7. 53 Im Marxismus-Leninismus hatte das Recht nicht zur Auseinandersetzung von verschiedenen Einzelinteressen, sondern nur zur Durchsetzung des einheitlichen Klassenwillens gedient, Manow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 1, S. 271. 54 Rüthers, Rechtstheorie, S. 59 ff. 55 Vgl. Mommsen, Putins „gelenkte Demokratie“: „Vertikale der Macht“ statt Gewaltenteilung, in: Buhbe/Gorzka (Hrsg.), Russland heute, S. 235 ff. 49
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Daher liegt der Arbeit die These zugrunde, dass die Überbetonung der nicht ausdrücklich klar definierten staatlichen Einheit heute ein neues „Harmoniedogma“56 beinhaltet, das der Durchsetzung von Gewaltenteilung und freiheitlichen Rechtspositionen inhaltlich entgegensteht. Die Betonung von staatlicher Einheit im Sinne von Interessenhomogenität dient heute als Ersatz für funktionierende unabhängige Schutzmechanismen der Freiheitsräume der am Staat beteiligten Subjekte. Fiktive Interessenidentität soll über fehlende Konfliktlösungsmechanismen zwischen den verschiedenen Trägern staatlicher Gewalt sowie zwischen Staat und Gesellschaft hinwegtäuschen. Nicht das Recht verbindet die unterschiedlichen Interessen nach diesem Modell, Ausgleich wird wie in kommunistischer und vorkommunistischer Zeit vielmehr durch eine möglichst umfangreich mit Kompetenzen ausgestattete „einheitliche“ Macht geschaffen. Grund dafür ist die bisher fehlende Auseinandersetzung mit dem freiheitsschützenden Aspekt des Gewaltenteilungsprinzips sowie die fehlende Überzeugung, dass durch die Unterordnung der verschiedenen Akteure staatlicher Macht unter die Herrschaft des Rechts diese Kompetenzkonflikte lösen kann. Letztlich scheint hier entscheidend, dass die russische Rechtswissenschaft selbst, zumindest in dieser staatstheoretischen Kernfrage, teilweise auf die alten Modelle zurückgreift und gesamtstaatliche Interessenhomogenität als den Weg aus der angenommenen Krise beschwört.57 Dabei relativiert die Fokussierung auf die politische Notwendigkeit von gesellschaftlicher Einheit als Voraussetzung für eine stabile gerechte Ordnung auch heute die Aufgabe der Verfassung, Interessendifferenzen eigenständig zu regeln.
II. Gang der Untersuchung Ziel der Arbeit ist die Ermittlung der Bedeutung der Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ für das Recht. Es geht in erster Linie darum, wie die Begriffe von der Rechtsdogmatik sowie im rechtstheoretischen Diskurs verstanden werden. Rechtswissenschaft ist in Deutschland normgebunden. Es geht um die normative Geltung von Recht und den Sinngehalt der Normen des positiven Rechts.58 In Russland dagegen werden die Grundfragen von Staat und Recht auch interdisziplinär behandelt. So heißt es in der staatsrechtlichen Literatur heute, die Frage nach der Einheit des Staates sei „zu wichtig“, um sie allein durch reine Analyse der verfassungsrechtlichen Normen zu beantworten.59 Dabei kommt es nicht nur zu einer Verknüpfung, sondern zu einer Vermischung der Ergebnisse von Rechtsdogmatik und metajuristischer Staatslehre. Hier knüpft man an die marxistisch-leninistische bzw. vorrevolutionäre Wissenschaftsmethoden an. So ist die Staatsrechtslehre in Russland nie reine Rechtslehre gewesen, sondern unter dem Titel „gosudarstvo i pravo“ (russ.: Staat und 56
Vgl. Finke, Specifica des Sowjetrechts, in: Brunner (Hrsg.), Festschrift für Boris Meissner, S. 84. 57 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 71 ff. 58 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 17. 59 Levakin, Osnovy gosudarstvennogo edinstva sovremennoj Rossii: problemy teorii.
II. Gang der Untersuchung
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Recht)60 in der Regel interdisziplinär. Dabei wird häufig auch kein Unterschied gemacht zwischen sittlichem Ideal und Normtext61 oder dem Volk als realer (gesellschaftlicher) sowie als juristischer Einheit. Die Rechtswissenschaft im MarxismusLeninismus sah sich ganz ausdrücklich an den „lenkenden Einfluss“ der Philosophie gebunden. Dabei sind Recht und Staat keine „isolierten sozialen Erscheinungen“ sondern in die Entwicklungsgesetzmäßigkeiten eingebunden.62 Deshalb ist es der russischen Rechtslehre heute möglich, Hegels rein philosophische Vorstellung vom Staat als sittlicher Idee als staatsorganisationsrechtliche Argumentationshilfe heranzuziehen,63 während der deutsche Verfassungsrechtler zwischen beiden streng trennt64 und deshalb, wie Josef Isensee formuliert, zum rein sittlichen Staatsbegriff Hegels lediglich „sehnsüchtig“ aufblicken mag.65 Auch der Verweis auf ein Zitat von Marx oder Lenin kann vor dem Hintergrund der ganzheitlichen Methode noch heute der rechtswissenschaftlichen Wahrheitsfindung dienen.66 Aus dem Verhältnis von Verfassungstext und den Inhalten der Theorie von Staat und Recht soll ermittelt werden, ob traditionelle Konzepte hier weiter eine Rolle spielen. Insofern nimmt diese Arbeit nicht nur die geltende Norm zum Ausgangspunkt, sondern untersucht auch den politischen sowie den staats- und rechtswissenschaftlichen Diskurs in Bezug auf die Prinzipien von der staatlichen Einheit und der Einheit des Staates. Dabei soll ermittelt werden, welche staats- und rechtstheoretischen Prinzipien hier neben der Norm Geltung finden und wie diese Prinzipien die Normauslegung beeinflussen. Dies erfolgt über einen Blick in die Geschichte. Der erste Teil der Untersuchung behandelt die historische Entwicklung der Konzepte „Einheit der Macht“ und „Einheit des Staates“ in Russland. Dargestellt wird in diesem Teil zunächst das fortwähSo sagt z. B. Cˇicˇerin, seine Vorlesung „Staatstheorie“ (teorija gosudarstva) sei das, was in ˇ icˇerin, Filosofia prava, S. 376). In Deutschland dem allgemeinen Staatsrecht entspräche (C dieser Unterrichtseinheit wird bis heute nicht zwischen politischer, soziologischer, philosophischer oder historischer Staatstheorie und Staatsrechtstheorie unterschieden. Im Marxismus war die Trennung von Recht und Staat aufgrund der strengen Einbindung beider Elemente in die Philosophie im Ergebnis irrelevant (vgl. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, Berlin 1977). Noch heute wird in Russland allgemeines Staatsrecht als „teoria gosudarstva i prava“ gelehrt (vgl. unzählige Lehrbücher dieses Titels, z. B. Marcˇenko, Moskau 2006). 61 Vgl. Nußberger, Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, JöR 2005, S. 44. 62 Manow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 1, S. 10. 63 Z. B. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 7, Barcic, O edinstve gosudarstvennoj vlasti, Zakonodatelstvo, Nr. 9, 2001, S. 37 ff. 64 Zur Trennung von Recht und Moral im deutschen Recht als Folge der Kantschen Trennung zwischen Sein und Sollen vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, S. 28 ff. 65 Isensee, Schlusswort, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Die Einheit des Staates, S. 77. 66 Z. B. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 63 f., Levakin, Osnovy gosudarstvennogo edinstva sovremennoj Rossii: problemy teorii, Marx, Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx/Engels, Werke, Band 13, 1963, S. 3 ff. 60
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A. Einleitung
rend in Russland durchgesetzte Modell der absoluten Gewalteneinheit.67 Die Arbeit setzt hinsichtlich der historischen Betrachtung von einheitlicher Macht nicht erst mit dem Beginn von Rechtswissenschaft Anfang des 18. Jahrhunderts68 oder gar mit dem ersten niedergeschriebenen Staatsgrundgesetz ein.69 Da die Bedeutung von einheitlicher Macht in Russland eine Frage der Herrschaftskultur ist, scheint das Selbstverständnis der russischen Zaren vor Einführung der „Rechtswissenschaft“ von erheblicher Bedeutung. Insofern setzt die Arbeit mit Ivan IV. (1533 – 1584) an, als sich die Lehre der Gewalteneinheit herauszubilden begann. Dem soll vorangestellt werden, dass entgegen der späteren russischen Lehre nicht nachgewiesen werden kann, dass die Überwindung der tatarischen Besatzung Russlands ein Ergebnis einer nach innen streng autokratischen Herrscherkultur Ivan III. (1462 – 1505) war.70 Es soll gezeigt werden, dass sich mit unterschiedlicher Begründung durch die russische Geschichte die These zieht, wonach nur die starke Machtvertikale territoriale Einheit in Russland ermöglichen kann. Methodisch problematisch ist die Auswahl der einzelnen Denker des 19. Jahrhunderts. Herangezogen werden sollen in dieser Arbeit vor allem Boris Nikolaevicˇ ˇ icˇerin und Vladimir Solovev, die „zwei größten russischen RechtwissenschaftC ler“.71 Untersucht werden soll das Konzept von staatlicher Einheit und einheitlicher Macht auch bei ihren einflussreichen Schülern Novgorodcev, Gradovskij und Novgorodcevs Schüler Ivan Ilin. Dass die hier ausgewählten Werke aus heutiger russischer Sicht zu den „Klassikern“ zählen, wäre selbstverständlich ein schwaches Argument, wenn es darum ginge, eine historische russische Grundeinstellung zu den Begriffen staatlicher Einheit, gar zu Staat und Recht herauszuarbeiten. Allerdings geht es hier nicht um eine möglichst abschließende Entwicklungsgeschichte der Begriffe. Der Blick in die Geschichte soll allein dazu dienen, die heutige Verwendung der Begriffe zu verstehen. Ausgewählt wurden die aus heutiger Sicht bedeutendsten Philosophen, die die zu behandelnden Konzepte weiterentwickelt haben und auf die man sich heute stützt. Insbesondere auf Ivan Ilin wird heute in der Rechtswissenschaft und der Politik wieder Bezug genommen.72 Dies bringt es auch mit sich, dass die sonstigen Unterschiede der dargestellten Gesamtwerke hier nicht abschließend gewürdigt werden. Auch in diesem Sinne bleibt die historische Darstellung stark verkürzt. Dies gilt 67
Stoliarov, Federalism and the Dictatorship of Power, S. 7 ff. Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, S. 149. 69 Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, S. 150. 70 Die russische Rechtswissenschaft sah darin im 18. und 19. Jahrhundert ein wichtiges Indiz für die Legitimation der Selbstherrschaft: Tatisˇcˇev, Istorija Rossijskaja s samych drevneyschych vremen. 71 Gurwitsch, Die zwei größten russischen Rechtsphilosophen Boris Tschitscherin und Wladimir Solowjew, in: Philosophie und Recht, Heft 2. 72 Z. B. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 7, Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 10. 5. 2006, http://www.kremlin.ru/text/appears/ 2006/05/105546.shtml, Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http:// www.kremlin.ru/text/appears/2005/04/87049.shtml. 68
II. Gang der Untersuchung
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umso mehr, als die dargestellten Konzeptionen von einheitlicher Macht und staatlicher Einheit jeweils in weitaus umfangreichere gesellschaftlich-politische und wissenschaftliche Diskurse eingebunden sind, die hier in der notwendigen Ausführlichkeit nicht darstellbar sind. In einem weiteren Schritt soll gezeigt werden, dass sich die historischen Modelle in der politischen Rhetorik Vladimir Putins und anderer föderaler Vertreter staatlicher Macht wiederfinden. Neben seinen eigenen Ausführungen sollen die Vorstellungen von Mitgliedern seiner Administration, der Partei „Einheitliches Russland“73 sowie deren Jugendorganisation „Nasˇi“ zur staatlichen Einheit miteinbezogen werden, da sie in Übereinstimmung mit Putin angeben, seine Vorstellungen zu teilen.74 Letztlich erfolgt der Blick in die moderne russische Staats- und Verfassungslehre verbunden mit einer eigenen Verfassungsanalyse. Es offenbart sich, dass sich die Verfassungswirklichkeit und die Verfassungslehre stark an den historischen Konzepten der Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ orientieren. So kann gezeigt werden, dass mit Hinweis auf das „einheitliche System der exekutiven Macht“ aus Art. 77 II Verf RF ein zentral gesteuertes Verwaltungssystem gebildet wurde, obwohl sich die Verfassung an anderer Stelle für Föderalismus und Gewaltenteilung ausspricht. Diese Tendenz wurde durch einfache Gesetze in den letzten Jahren noch forciert. Mit diesen Änderungen einher gingen in der Regel Machteinbußen für die russischen Regionen (Subjekte) bis hin zur faktischen Ernennung der regionalen Regierungschefs durch den föderalen Präsidenten.75 Dadurch wurde der Präsident erheblich gestärkt. Insbesondere die Gesetzesänderungen hinsichtlich der Absetzung der Exekutivchefs nach Art. 291 III i.V.m. 19 III lit. g Gesetz über die allgemeinen Prinzipen bei der Bildung der legislativen und exekutiven Organe der Staatsgewalt der Subjekte der RF76 (hier AllgPG abgekürzt), der Auflösung der gesetzgebenden Kammern (Art. 9 IVAllgPG n.F.) und der Abschaffung der Volkswahl der Exekutivchefs schufen ein unmittelbares Subordinationsverhältnis in der Machtvertikale und somit de facto ein zentralistisches Machtgefüge. Dies wurde vom Verfassungsgericht der RF unter Hinweis auf das „einheitliche System der Exekutive“ und die Rolle des föderalen Präsidenten in Bezug auf die Absetzung der Exekutivchefs und die Auflösung des Parlaments auch gebilligt.77 Das Gericht bestätigte damit die Rolle des föderalen Präsidenten als zentrale Kontrollinstanz für die einheitliche Exekutive. Hier wird eine der marxistisch-leninistischen Lehre ähnliche staatsrechtliche Gesamtkonstruktion deutlich, wonach sich föderale Subjekte in das Gesamte, die Einheit, einfügen, die vom Präsidenten garantiert und auch zentral kontrolliert wird. 73 Stykow, „Einiges Russland“: „Die Partei der Macht“ als Staatspartei? Russland-Analysen, Nr. 115 vom 27. 10. 2006, S. 2 ff. 74 Dies ergibt sich schon daraus, dass der Großteil an Grundsatzpapieren auf den Websites von Partei und Jugendorganisation von Vladimir Surkov stammen, dem stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration und Chefstrategen Putins, vgl. www.edinoros.ru, www.nashi.su. 75 SZ RF 2004, Nr. 50, Pos. 4950. 76 SZ RF 1999, Nr. 42, Pos. 5005. 77 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497.
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A. Einleitung
Ebenso schwierig wie die Auswahl der historischen Texte gestaltete sich die Auswahl der Texte aus der neueren Staatslehre. Festzustellen war, dass die Beschäftigung mit der Frage nach staatlicher Einheit einseitig ist. So gibt es eine Reihe von juristischen Veröffentlichungen, die das unter Putin politisch in den Vordergrund gerückte Prinzip der Einheit des Staates als rechtliches Konzept thematisieren. Vom konkreten Verfassungstext teilweise gänzlich abgekoppelt wurden nach 1999 verschiedene Werke veröffentlicht, die das Prinzip der staatlichen Einheit zu ihrem Thema machen. Ohne dass sich die Politik ausdrücklich auf diese Texte bezieht, werden die von der Politik nur floskelhaft angerissenen Grundkonzeptionen hier inhaltlich ausgestaltet und zu einem theoretischen Gesamtkonzept ausgearbeitet. Als wesentlicher Untersuchungsgegenstand aus dieser Richtung soll die 2005 vom damaligen Verfassungsrichter Boris Safarovicˇ Ebzeev78 herausgegebene „programmatisch auftretende“79 Monographie „Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii“ (Die staatliche Einheit und Ganzheit der Russischen Föderation)80 dienen. Mit anderen Autoren zusammen umreißt Ebzeev ein Konzept staatlicher Einheit, das der zuvor dargestellten traditionellen Sichtweise entspricht.81 Es wird eine ideale Vorstellung vom Staat entworfen, in dem die gegenwärtigen sozialen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Probleme durch Zusammenhalt, Einmütigkeit und daraus resultierender Stärke überwunden werden können.82 Kaum beantwortet werden kann an dieser Stelle, ob die theoretischen Konzeptionen Ebzeevs als herrschende Meinung angesehen werden können. Dabei darf einerseits nicht unterschlagen werden, dass der von Ebzeev gewählte, sich über den Verfassungstext hinwegsetzende methodische Ansatz nicht durchweg akzeptiert wird. Stattdessen kennt die russische Rechtslehre Stimmen, die deutlich für eine Konzentration der Rechtswissenschaft auf rein rechtliche Fragestellungen plädieren.83 Darüber hinaus kann nicht vorenthalten werden, dass der Ansatz Ebzeevs in dieser Form kaum Eingang in die Lehrbuchliteratur gefunden hat. Gleichzeitig muss jedoch fest78
Ebzeev ist seit 2008 Präsident der Republik Karatschai-Tscherkessien. Luchterhandt, Die Ernennung der regionalen Exekutivchefs durch den Präsidenten Russlands auf dem Prüfstand des föderalen Verfassungsgerichts, in: WGO-MfOR, 2007, S. 27. 80 Ebzeev/Krasnorjadcev/Levakin/Radcˇenko, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, Konstitucionnno-pravovye problemy, Moskau 2005. 81 Werke, die diese Vorstellung von staatlicher Einheit teilen sind u. a. S. I. Nekrasov, Edinstvo i razdelenie vlastej, Moskau 1999, M. A. Rachmetov, Gosudarstvennaja celostnost kak obekt, konstitucionnoj zasˇcˇity, Moskau 2003, M. G. Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principi, Machacˇkala 2004, S. V. Vitrjanjuk, Territorjalnja celostnost gosudarstva v mezˇdunarodnom pravovom u geopoliticˇeskom izmerenijach, Moskau 2003, R. M. Kozˇkarov, Konstitucionnye osnovy narodov i nacii i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, Moskau 1997, Ju. M. Ermakova, Pravovoj status RF, problema ukreplenija i gosudarstvennogo edinstva, Moskau 1997, Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvennoj pravovoj sistemy Rossii, Moskau 2002. 82 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 198, so i.E. auch Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacii i edinstvo Rossijskoj gosudarsvennosti, S. 142 und 129 ff. 83 Nersesjanc, Istorija politicˇeskich i pravovych ucˇenij, Moskau 2003, S. 912. 79
II. Gang der Untersuchung
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gehalten werden, dass das hier dargestellte Konzept staatlicher Einheit in der Literatur inhaltlich keine kritische Auseinandersetzung findet. Gegenentwürfe zum Konzept staatlichen Einheit werden in der Staatstheorie kaum sichtbar. Insofern kann die Arbeit, soweit sie konkret die Beschäftigung mit dem Konzept staatlicher Einheit in der Theorie von Staat und Recht untersucht, nur die Texte darstellen, die staatliche Einheit in der zuvor aufgezeigten traditionellen Weise begreifen. Problematisch wird die Literatureingrenzung auch, soweit die Konzepte staatliche Einheit und einheitliche Macht jenseits des metajuristischen Diskurses konkret als Thema der Verfassung beleuchtet werden. Soweit es darum ging, die Verfassungswirklichkeit herauszuarbeiten, ist zunächst festzustellen, dass die gesetzgeberische Entwicklung unter Präsident Putin von Seiten der Rechtswissenschaft nicht grundlegend in Frage gestellt wird. Generell ist eher Zurückhaltung in der rechtlichen Kommentierung der Politik zu spüren. Gerade die Grundrechtslehre zieht sich weitestgehend auf eine abstrakt-theoretische Betrachtung der Verfassung zurück, ohne sich intensiv mit Kritik an der Verfassungswirklichkeit zu beschäftigen.84 Probleme werden allgemein diskutiert, ohne konkret Einzelfragen anzusprechen.85 Die breite Mehrheit der russischen Staatsrechtsliteratur setzt sich mit möglichen Divergenzen zwischen der Verfassung und der Politik nicht ausdrücklich auseinander. Was die Auswahl der Literatur zum verfassungsrechtlichen Verhältnis von staatlicher Einheit und Föderalismusprinzip, aber auch zum System der staatlichen Macht betrifft, kann hier nicht der gesamte russische Streitstand wiedergegeben werden. Dargestellt wird allein die Literatur, die die staatliche Einheit als Ausgangspunkt wählt, sowie die allgemeine Kommentar- und Lehrbuchliteratur. Insbesondere russische Literaturmeinungen, die das Verhältnis der Gewalten stärker aus einem im westlichen Sinne verstandenen Föderalismusprinzip entwickeln und die staatliche Einheit nicht als Wesen des Föderalismus begreifen, können in dieser Arbeit nicht ausreichend gewürdigt werden. Stattdessen wird gezeigt, dass, soweit staatliche Einheit diskutiert wird, Konzepte aus der Vergangenheit wieder eine Rolle spielen. Diese Fokussierung auf traditionelle Sichtweisen mag problematisch erscheinen. Grund für die Literaturauswahl ist allerdings, dass die Arbeit ausdrücklich keine umfassende Darstellung der Diskussion zum Föderalismusprinzip, zur Gewaltenteilung oder zum System staatlicher Macht allgemein anstrebt. Vielmehr soll es darum gehen, die Kongruenz der sich hinter den Begriffen staatliche Einheit und einheitliche Macht verbergenden Konzepte in Vergangenheit und Gegenwart herauszuarbeiten und zu zeigen, dass die traditionellen Vorstellungen heute weiter in die Verfassungsexegese und das Verständnis von Föderalismus und Gewaltenteilung in Wissenschaft und Praxis hineinwirken. In dieser Arbeit sind Wiederholungen nicht vermeidbar. Dies liegt erstens an der gewählten Methode, sich dem Verständnis von staatlicher Einheit und einheitlicher 84 Vgl. Avakjan, Konstitucionne pravo Rossii, Band 1, S. 571 ff., Baglaj, Konstitucionne pravo Rossijskoj Federacii, S. 165 ff. 85 Z. B. zur Gewaltenteilung Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 265 ff., zum Rechtsstaat Matuzov, Teorija gosudarstva i prava, S. 140.
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A. Einleitung
Macht über teilweise im Ergebnis deckungsgleiche Einheitsvorstellungen in der Vergangenheit zu nähern. Zweitens führt die Analyse der russischen Rechtsdogmatik bei der Bearbeitung verschiedenster Prinzipien immer wieder auf die gleichen Argumente zurück. Es ist kaum übersehbar, dass das Thema weitaus komplexer ist als hier dargestellt. Grund dafür ist, dass die Verbindung von philosophischen, politischen, juristischen und theologischen Aspekten insbesondere bei dem hier behandelten Thema in Russland erheblich ist. Hinzu kommt die bis heute zu konstatierende Tendenz der russischen Wissenschaft, dieses Thema „universell“, d. h. aus den verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen heraus zu bearbeiten und diese miteinander zu verbinden. So ist die Letztbegründung von staatlicher Einheit bei dem heute im politischen Diskurs häufig zitierten Juristen und Philosophen Ivan Ilin ausschließlich religiös.86 Gerade den normgebundenen deutschen Juristen führt diese wissenschaftliche Universalität schnell an seine Grenzen. Vor allem auf den wohl nicht zu unterschätzenden theologisch-religiösen Einfluss auf die russischen Vorstellungen von der Einheit des Staates und der Einheit der Macht kann deshalb hier nicht ausreichend eingegangen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass der westliche87 Forschungsstand zur russischen Staats- und Rechtstheorie nicht nur in dem hier bearbeiteten Bereich erstaunlich niedrig ist. Die Eigenständigkeit der vorrevolutionären russischen Theorie von Staat und Recht mit ihren Auswirkungen auf die marxistisch-leninistische und postsowjetische Lehre ist bisher kaum untersucht worden.88 Die marxistisch-leninistische Lehre selbst, aber auch die westliche Ostrechtslehre dagegen analysierte das marxistisch-leninistische System vor allem im Vergleich mit dem eigenen System und aus sich selbst heraus, ohne es aber mit der vorrevolutionären Theorie in Russland zu vergleichen.89 Aber auch die hier behandelten vorrevolutionären russischen Staats- und Rechtswissenschaftler selbst sind im Westen bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden.90 Gleiches gilt trotz des engen Verhältnisses für die 86
Vgl. Kap. B.IV.9. Dieser Oberbegriff umfasst hier die Forschungszentren für das russische Recht in Westeuropa und den USA, ohne eine politische Einteilung in ein „östliches“ und ein „westliches“ System heute noch aufrecht erhalten zu wollen. Die geographische Einordnung wurde auch vor dem Hintergrund gewählt, dass gerade die deutsche Forschung ihren Forschungsgegenstand bis heute als „Ostrecht“ beschreibt (vgl. Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, S. 686 ff.). 88 Ausnahmen bilden Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, Köln 1991; Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, Bern 1996. 89 Vgl. dazu umfassend Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, S. 693 ff. 90 Aber u. a. Cauderay, Die Partei der konstitutionellen Demokraten und das liberale Weltbild von Pavel Ivanovicˇ Novgorodcev, St. Gallen 2004, Grothusen, Die historische Rechtschule, Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Gießen 1962, Schiel, Die Staats- und Rechtsphilosophie des Vladimir S. Solowjew, Laserson, Die russische Rechtsphilosophie, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 26 (1932/33); Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, Oxford 1987; Gäntzel, Wladimir Solowjows Rechtsphilosophie auf der Grundlage der Sittlichkeit, Juristische Ab87
II. Gang der Untersuchung
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Verbindung von Recht und Philosophie.91 Genauso beschränkt ist die Auseinandersetzung mit dem russischen Verhältnis von Recht und Theologie.92 Die russischen Namen und Begriffe werden in dieser Arbeit nach dem System des Dudens transliteriert. Ausnahmen dazu bilden Namen und Begriffe, für die sich eine davon abweichende deutsche Schreibweise etabliert hat.
handlungen 8, Frankfurt 1968; Hamburg, Boris Chicherin and Early Russian Liberalism, 1828 – 1866, Stanford 1992, Schlüchter, „Recht und Moral, Argumente und Debatten ,zur Verteidigung des Rechts an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Russland“, Zürich 2008. 91 So auch Goerdt, Russische Philosophie, Zugänge und Durchblicke, S. 665, Schlüchter trug mit ihrer Dissertation „Recht und Moral, Argumente und Debatten ,zur Verteidigung des Rechts an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Russland“, Zürich 2008 jüngst dazu bei, diese Lücke zu schließen. 92 Zum Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft mit einigen Bezügen zum Recht aber Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, Paderborn 2005.
B. Historischer Teil I. Einheit der staatlichen Macht 1. Die Entstehung der Selbstherrschaft: Selbstherrschaft als Ausdruck von Unabhängigkeit und Vorherrschaft des Moskauer Reiches Bis zur Revolution von 1917 geht staatliche Macht in Russland mit unterschiedlicher Rechtfertigung einheitlich vom Herrscher aus. Zum Ausdruck gebracht wird die autokratische Regierungsform u. a. durch den Titel „Selbstherrscher“ (Autokrator, russ.: samoderzˇec). Der Titel „Selbstherrscher“, wie er zuletzt in Art. 222 der russischen Verfassung von 1906 gebraucht wurde, bedeutet dem Wortsinn nach allein, d. h. unabhängig und ohne irdische Einschränkung regieren zu können.1 Der Titel samoderzˇec als Lehnsübersetzung vom griechischen Begriff a}tojq\tyq (Selbstherrscher) wird für einen russischen Herrscher erstmals kurz nach der Heirat Zar Ivans III. mit der Nichte des letzten Palaiologenkaisers benutzt. Er taucht in den Quellen auf, als das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Metropolit Zosima, Ivan III. 1492 „Selbstherrscher der ganzen Rus“ nennt,2 ist aber vor 15893 in Russland nur gelegentlich Bestandteil des offiziellen Herrschertitels. Es soll einleitend gezeigt werden, dass der Selbstherrschertitel zunächst nicht mit innerer Autokratie, Unitarismus und Zentralismus, sondern nur mit Unabhängigkeit und mit der regionalen Vorherrschaft des Moskauer Reiches gleichbedeutend war. a) Das Kiever Reich als pluralistische Herrschaftsordnung Die Herausstellung des Moskauer Herrschers durch die Titulierung „Selbstherrscher“ ab dem späten 15. Jahrhundert muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass das „russische“ Reich vor dieser Zeit gerade kein autokratischer Zentralstaat war.4 So bestand das sog. „Kiever Reich“, das während des 9. Jahrhunderts entstand
1
Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 47. Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 33. 3 Binner, Zur Datierung des „Samoderzˇec“ in der russischen Herrscherliteratur, Saeculum 1969, S. 62. 4 In den letzten Jahren wurde umfangreich belegt, dass Russland zunächst kein unitarischzentralistischer Staat war, vgl. Kappler (Hrsg.), Die Geschichte Russlands im 16. und 17. Jahrhundert aus der Perspektive seiner Regionen, Wiesbaden 2004. 2
I. Einheit der staatlichen Macht
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und 1237 – 1240 im Ansturm der Mongolen endete,5 aus mehreren Fürstentümern, die jeweils unter der unmittelbaren Verwaltung eines Fürsten standen.6 Erstmals nachweisbar zusammengefasst werden diese Stämme seit dem 9. Jahrhundert unter dem Begriff „Rffls“7, der in den ältesten Dokumenten sowohl das Territorium wie auch die dort lebenden Menschen bezeichnet. So begann sich hier im 9. und 10. Jahrhundert eine gemeinsame Herrschaft dieser Stämme mit Kiev als Mittelpunkt herauszubilden.8 An der Spitze standen Fürsten, die von Druzˇinen, einer Gefolgschaft, umgeben waren, denen jeweils einzelne Städte als Herrschaftsbereich zugeteilt wurden. Machtgrundlage der Fürsten dieser Zeit bildete ihre faktische Schlagkraft.9 Wie weit das Ganze schon als staatliche Organisation begriffen werden kann, ist zweifelhaft. Nach der Chronik „Erzählung über die vergangenen Jahre“ aus dem 12. Jahrhundert forderte Oleg von den eroberten Städten Tribut, „um des Friedens willen“.10 Es kann jedoch angenommen werden, dass das unterworfene „Volk“ abgesehen von Tributleistungen („dan“) an den militärischen Sieger11 in diese Vorgänge kaum eingebunden war, sondern vielmehr unabhängig von den varägischen Fürsten lebte. Wer den Tribut nicht zahlen wollte, verließ den unmittelbaren Herrschaftsbereich der Fürsten.12 b) Der Großfürstentitel als bloßer Ehrenrang Die Machtverhältnisse zwischen den Fürstentümern in der Kiever Zeit sind schwer einzuordnen. In geschichtswissenschaftlichen Darstellungen finden sich die Bezeichnungen „Halbstaaten“, Staatsgebilde“, „eine Anzahl gleichzeitig existierender kleiner Staaten“, „Konglomerat verschiedener Fürstentümer“, „Föderation“ sowie schlicht „frühfeudale Monarchie“ oder „Feudalimperium“.13
5 Rüss, Das Reich von Kiew, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band I, S. 200. 6 Engelmann, Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Russisches Staatsrecht, S. 5. 7 Die Bedeutung sowie die etymologische Herkunft des Begriffs lieferten immer wieder wissenschaftliche Kontroversen. Nach heutiger Meinung geht der Begriff auf die Selbstbezeichnung der skandinavischen Vikinger zurück, die sich rodR (Ruderer) nannten. In den byzantinischen Quellen tauchen im 9. Jahrhundert Gruppen mit dem Namen Rhos auf, die wohl Kaufleute skandinavischer Herkunft sind. Die Analyse der russischen Chroniken ergibt, dass „Rus“ bis Mitte des 10. Jahrhunderts die größtenteils skandinavischen Träger der Tributherrschaft gemeint haben. Mit der allmählichen Slawisierung von Fürst und Gefolgschaft weitete sich der Begriff dann auf das Herrschaftsgebilde aus Volk und Territorium im Kiever Gebiet aus (Goehrke, Frühzeit der Ostslaventums, S. 159 f.). 8 Stökl, Russische Geschichte, S. 42. 9 Hellmann, Staat und Recht in Altrussland, Saeculum 1954, S. 47. 10 Stökl, Russische Geschichte, S. 43. 11 Stökl, Russische Geschichte, S. 43. 12 Stökl, Russische Geschichte, S. 48. 13 Vgl. Rüss, Das Reich von Kiew, in: Hellmann (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Russlands, Band I, S. 348.
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B. Historischer Teil
Immer wieder ist auch versucht worden, aus dem Titel „Großfürst“ (russ.: velikij knjaz) für den Kiever Fürsten eine besondere Rechtsstellung im Verhältnis zu den anderen Fürsten herauszuarbeiten.14 Wahrscheinlich ist aber, dass der Titel Großfürst in dieser Zeit kein Herrschaftsrecht über andere Fürsten, sondern einen bloßen „Ehrenvorrang“15 ausdrückt. So ist der Titel „Großfürst“ für Torke im 11. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts als „besonders feierlich“ empfunden worden, da er in der Regel nur bei der Erwähnung des Todes eines Kiever Fürsten (1054, 1093, 1125) angewendet wird.16 Torke geht mit Goetz davon aus, dass sich die besondere Stellung gegenüber den anderen Fürsten in der vormongolischen Zeit nicht aus dem Titel „Großfürst“ herleitete, sondern vor allem aus dem Senioratsprinzip („starsˇinstvo“),17 das seit 1054 durch das Testament Jaroslavs des Weisen (978 (?)–1054)18 erstmals nachweisbar ist.19 Das Senioratsprinzip beinhaltet die Führungsrolle des Seniors im Familienverband. Anders als nach der Primogenitur folgte hier nicht der älteste Sohn auf den Vater, sondern zunächst der nächstälteste Bruders des Vaters als Senior der Familie. Erst nach dem Aussterben dieser Generation folgt der Sohn. Dieses Nachrückverfahren führt dazu, dass der Sitz des Großfürsten häufig wechselte, sorgte aber dafür, dass die Macht auch bei Kinderlosigkeit eines Fürsten in der Hand der Familie der Rjuridiken blieb. Die Bindung der Großfürstenwürde an das Seniorat, das Ältestenrecht wird als deutlicher Hinweis darauf verstanden, dass die Familie der Rjuridiken Träger der gemeinsamen Territorialherrschaft ist, die sie unter ihren Mitgliedern aufteilt.20 Daher sind auch für dieses Ältestenrecht keine Institutionalisierung sowie keine festen Grenzen nachweisbar. Ein Hinweis darauf, dass die frühe Bedeutung des Großfürstentitels nicht überschätzt werden darf, ergibt sich aus dem Verständnis der sog. „Votcˇina“, des Vatererbes.21 Noch in späteren Zeiten, als Votcˇina und Großfürstentum zusammenhängend vererbt wurden, unterschied man inhaltlich zwischen beiden.22 Während der Titel „Großfürst“ über das Seniorat allein auf einen Fürsten, häufig auf den Ältesten überging, wurde der Machtbereich des Vaters (der Boden) in der Kiever Epoche in Form
14 So schon Evers, Das älteste Recht der Russen, S. 95, heute Schramm, Altrusslands Anfang, S. 416 ff. 15 Stökl, Russische Geschichte, S. 94. 16 Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 143. 17 Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 142. 18 Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 181. 19 Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 342. 20 Stökl, Russische Geschichte, S. 94. 21 Votcˇina oder otcˇina bezeichnet das vom Vater Ererbte (von „otec“ – russ. Vater). 22 So z. B. im Vertrag Dmitrij Donskojs mit seinem Vetter Vladimir Andreevicˇ, in dem sich letzterer verpflichtete, den Übergang von Votcˇina und Großfürstenwürde auf die Söhne Dmitrijs anzuerkennen: „Deine Votcˇina, Herr, und das Großfürstentum habe ich unter dir und deinen Kindern nicht zu erstreben, noch meine Kinder …“, DDG, Nr. 7, S. 23.
I. Einheit der staatlichen Macht
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verschiedener Teile auf die Söhne verteilt.23 Dies führte dazu, dass sich Herrschaftsmacht zeitweise stark zersplitterte. Genauso wenig, wie es Zeugnisse über den Inhalt der Großfürstenwürde für die frühe Kiever Zeit gibt, gibt es Hinweise darüber, wie die Votcˇina rechtlich genau einzuordnen ist.24 Nach der Eroberung von Novgorod durch den Großfürsten Ivan III. von Moskau 1477, klärte dieser die Machtfrage mit den Worten. „Wenn ihr … fragt, welcher Art unsere Herrschaft in unserer Votcˇina, in Novgorod sein werde, so wollen wir, die Großfürsten, unserer Herrschaft, wie wir in Moskau sind, so wollen wir in unserer Votcˇina Groß-Novgorod sein.“.25 Insofern kann man
23
Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 380. Dies führte zu der Annahme, die Votcˇina sei ein privatrechtliches Institut. Die bis heute vertretene Lehre (Pipes, Rußland vor der Revolution, München 1977, S. 49 ff., Helmert spricht vom „eher privatrechtlichen als staatsrechtlichen Besitz“, in: Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 54) und über mehr als hundert Jahre herrschende Meinung vom privatrechtlichen Eigentumsrecht (votcˇinoe pravo) der Fürsten an ihrer Votcˇina ist zurückzuführen auf die von Lakaier vertretene These, das „Teilfürstentum“ (udel’noe knjazˇestvo) sei Privateigentum des Fürsten. Dies, angereichert durch den von Kavelin 1846 eingeführten Begriff „Votcˇinnyi peˇ icˇerin dazu, 1856 riod“ als mit dem 12. Jahrhundert in Russland einsetzende Periode brachte C die Theorie vom votcˇinoe pravo näher auszuführen. (Oblastnye ucˇresˇdenija Rossii v XVII. veke sowie ders., Obzor istoricˇeskogo razvitija selsokoj obsˇcˇiny v Rossii, Russkij Vestnik 1856, I, S. 373 – 396, 579 – 602). Seine Argumentation baut dabei auf dem Bericht August Frhr. v. Haxthausens auf, der in seiner Analyse über die Zustände der russischen ländlichen Entwicklung Mitte des 19. Jahrhunderts festgestellt hatte, dass im Gegensatz zu Westeuropa, wo das Domainwesen privatrechtlich organisiert und auf Grundlage von Rechten Einzelner bestünde, die Nutznießung am ländlichen Boden in Russland nie aufgrund von Privateigentum, sondern stets aufgrund eines gemeinsamen gleichen Rechtes Aller am Boden gegeben sei (Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Entwicklungen Russlands, Band III, S. 450 ff.). Cˇicˇerin widerspricht nun der These, es habe in Russland kein Privateigentum gegeben. Nachdem die Bewohner der russischen Länder vor dem Eindringen der Varäger in Familienstämmen nomadenhaft zusammengelebt hatten und alles gemeinsam besessen hätten, wurde das Land dann durch Eroberung Privateigentum der Varägerfürsten: „Im Laufe der Zeit wurden die Fürsten sesshaft. Der Fürst hatte nach wie vor das Gerichts- und Abgaberecht … Alle Bewohner der fürstlichen Votcina waren diesen Zwangsabgaben unterworfen … Außer diesen Herrschaftsbefugnissen hatte der Fürst seinen privaten Grund und Boden …“ (Oblastnye ucˇresˇdenija Rossii v XVII veke, S. 2 f.) In Russland wie in Westeuropa „gehört die oberste Herrschaftsgewalt (ausgenommen die Städte) einem votcˇinik, dem Grundbesitzer (zemlevladec) … Das Eigentumsrecht – Ursprung des Privatrechts – liegt somit der ganzen gesellschaftlichen Ordnung zugrunde.“ (Oblastnye ucˇresˇdenija Rossii v XVII veke, S. 28). Der Streit ein privates Recht des Fürsten fand im Rahmen der Diskussion um die Besonderheiten Russlands viel Beachtung, kann heute aber abgesehen von seiner wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung heute ignoriert werden: Noch stärker als der Besitz – setzt der Eigentumsbegriff voraus, dass es zumindest eine rechtstaatsähnliche Ordnung gibt, die die Sachen und den Boden des militärisch und wirtschaftlich Schwächeren als Recht gegenüber dem Staat garantiert und nicht nur faktisch unberührt lässt. Im damaligen Russland jedoch herrschten rein faktische Machtverhältnissen, weshalb sich die Kategorien „privatrechtlich“, „staatsrechtlich“, „Eigentum“ und „Besitz“ erübrigen (zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausführlich Grothusen, Die historische Rechtsschule, S. 140 ff.). 25 PSRL, Band 25, S. 316 f. 24
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von der Votcˇina als auf ein Territorium bezogener „Machtbereich“ des Fürsten sprechen.26 Insgesamt waren die Herrschaftsprinzipien Seniorat und Votcˇina wahrscheinlich nicht genug entwickelt, um die Einzelinteressen der Fürsten zugunsten der gemeinsamen Interessen zu drosseln. Auf einer Reihe von Fürstentagen wurde versucht eine Einigung zu erzielen, nach der jeder nach dem „Prinzip von Ljubec“27 allein in seinem Vatererbe herrschen sollte. Die Versammlung von Fürsten in Ljubec beschloss aufgrund der vorangegangenen Streitigkeiten und drohender Gefahr 1097, dass jeder allein aufgrund des Territorialbesitzes über sein Vatererbe herrschen sollte (kozˇdo derzˇit otcˇinu svoju).28 Der Herrschaftsanspruch aus dem Besitz der Votcˇina hatte hiermit Priorität vor dem Prinzip des Seniorats. Die versammelten Fürsten anerkannten insofern die jeweiligen Gebiete in der Form, wie ein jeder sie vom Vater ererbt hatte, ein weiteres Aufrücken in andere größere Fürstentümer schied für sie damit aus. Der Vertrag von Ljubec ist jedoch keine dauerhafte Regelung für die Zukunft, sondern löste allein die gegenwärtigen Konflikte. Diese vertragliche Ausnahme vom Seniorat kann nicht verhindern, dass sich die Teilfürstentümer in sich immer weiter aufsplitterten und die großfürstliche Gewalt in Kiev immer schwächer wird. So wurde der Streit, ob die Macht vom Vater auf den Sohn oder Nachrücken im Seniorat übertragen werden sollte, nach dem Fürstentag von Ljubec zwar einmalig im Verhältnis Teilfürstentum-Großfürstentum entschieden, jedoch innerhalb der einzelnen Territorialherrschaften weitergeführt.29 c) Die Bedeutung der Mongolenherrschaft für die Großfürstenwürde Im 14. und 15. Jahrhundert werden die Stadt Moskau und die Stellung des dortigen Großfürsten zunehmend bedeutender, was durch einen sich immer stärker von den anderen Fürsten unterscheidenden Titel zum Ausdruck gebracht wird. Schon mit dem Einfall der Tataren 1240 kommt der Großfürstenwürde eine erste Bedeutungsänderung zu. So geht die Macht nunmehr nicht unmittelbar von den verschiedenen russischen Fürsten, sondern vom tatarischen Khan aus. Ausgetragen wird der Kampf um die Großfürstenwürde deshalb nicht mehr untereinander, sondern am Hof des Tatarenkhans, der die absolute Gewalt innehat und somit auch den Großfürsten bestimmte. Seine Zustimmung, seine „Gnade“,30 war die entscheidende Voraussetzung zur Erlangung der Großfürstenwürde.31 Trotz oder gerade wegen der tatsächlichen Oberherrschaft der Tataren kommt dem Großfürsten aber entscheidende Be26 Stökl, Die Begriffe Reich, Herrschaft und Staat bei den orthodoxen Slawen, in: Saeculum 1954, 5, S. 108. 27 Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 342. 28 Müller, Die Nestorchronik, Dt. Übersetzung, S. 280, Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 373. 29 Stökl, Russische Geschichte, S. 101. 30 Stökl, Der Aufstiegs Moskaus, S. 29. 31 Nitsche, Großfürst und Thronfolger, S. 3.
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deutung zu. War die Großfürstenwürde bisher wohl eher Ehrenbezeichnung, so ist der Großfürst nun den Khanen zur Leistung des Tributs aus den russischen Ländern verpflichtet und wird in dieser Position von ihnen mit tatsächlicher Macht in Form der militärischen Macht der Horde ausgestattet.32 Mit dem Titel Großfürst ist damit nunmehr eine konkrete Rechtsstellung verbunden. Insofern ist er gegenüber den anderen Fürsten zwar nicht aus eigener Macht höhergestellt, aber aufgrund der Vermittlerrolle zum Khan herausgehoben.33 Die einzelnen Teilfürsten waren den Großfürsten insofern unterstellt, sie lieferten ihre Abgaben beim Großfürsten ab, waren nur nach innen autonom.34 Die Zeit der Unterjochung durch die Tataren trug daher insgesamt zu einer Nivellierung und Vereinheitlichung von Fürstentümern und Ständen bei, die alle gleichmäßig dem Khan zur Tributzahlung verpflichtet waren. Die spätere Moskauer Autokratie jedoch als tatarisches Erbe, ja sogar als „orientalischen Despotismus“35 zu verstehen, kann bisher nicht nachgewiesen werden. d) Die zunehmende Vorherrschaft des Moskauer Fürstentums Stattdessen wird angenommen, dass die Entwicklung der Selbstherrschaft ihren Ausgangspunkt in der eigenen Entwicklung findet. Ausschlaggebend dafür ist, dass dem aufstrebenden Zentrum Moskau allmählich stärkere Bedeutung zukommt. Als der jüngste Sohn Aleksander Nevskijs 1263 Teilfürst von Moskau wird, umfasst sein „udl“, sein geerbtes Fürstentum, kaum mehr als diese Stadt.36 An der Moskva gelegen, entwickelte sich die Grenzfestung des Großfürstentums Vladmir-Suzdal allmählich zu einem bevölkerungsstarken Handelspunkt. Nachdem der Fürst Ivan Kalita mit einem tatarischen Heer das Tversche Land verwüstet hatte, erhielt er 1328 vom Khan die Großfürstenwürde von Vladimir und wurde so zum Oberstatthalter unter den Fürsten. Damit war er Tributeintreiber für die nordrussischen Fürstentümer, weshalb er sich nicht nur Großfürst von Vladimir, sondern 1350 Großfürst der ganzen Rus (velikij knjaz vseja Rusi) nannte.37 Damit war der Titel Großfürst einerseits mit einem Territorium verbunden und beinhaltete nun auch eine konkrete Herrschaftsstellung. Nach Ivans Tod, als die Großfürstenwürde fast selbstverständlich an seinen Sohn Semjen übergeht, schreibt der Chronist: „In diesem Herbst kam aus der Horde, um die Großfürstenwürde anzutreten, Fürst Semjen Ivanovicˇ, und mit ihm seine Brüder Ivan und Andrej, und alle russischen Fürsten waren unter seine Hand gegeben, und er bestieg den Thron in Vladimir am 30. Oktober.“38
32 33 34 35 36 37 38
Hoeztsch, Staatenbildung und Verfassungsentwicklung, in: ZOG 1911, S. 371. Schultz, Russische Rechtgeschichte, S. 80. Schultz, Russische Rechtgeschichte, S. 80 f. Wittfogel, Die orientalische Despotie, Köln 1962. Stökl, Russische Geschichte, S. 154. Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 143, DDG, Nr. 2, S. 11. PSRL, Band 25, S. 172, Nitsche, Der Aufstieg Moskaus, S. 120.
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e) Verschmelzung von Großfürstenwürde und Votcˇina als Bedingung für den Moskauer Staat Die Berechtigung zur Erhebung des Tributs aufgrund der Großfürstenwürde sorgte dafür, dass Moskau fortan nicht nur von mongolischen Plünderungen verschont blieb, der Großfürst konnte auch ohne Abgaben wirtschaften.39 Das Steueraufkommen ermöglichte es dem Fürsten Ivan Kalita weitreichende Ländereien von Grundbesitzern durch privatgeschäftlichen „prikup“ (Zukauf) abzukaufen. Bedeutender Faktor für den Aufstieg des Großfürstentums Moskaus als Vorläufer des russischen Staates war letztlich die günstige Familiensituation der Moskauer Herrscher. So hatte kein Großfürst dieser Zeit viele Söhne, so dass der auch in Moskau geltende Grundsatz, wonach das Reich beim Tode des Herrschers unter den Söhnen aufgeteilt würde, mangels einer Vielzahl von Erben nicht zu einer Zersplitterung führen konnte.40 Das Moskauer Reich blieb im Gegensatz zu anderen Fürstentümern in dieser Zeit ungeteilt.41 Um diese Entwicklung beizubehalten, weicht Dmitrij Donskoj im Jahr 1389 von der herrschenden Erbregelung ab. Durch sein Testament verfügt er, dass der älteste Sohn als Großfürst von Moskau eine den anderen Brüdern überlegene Stellung erhielt. So war das „udl“ des ersten Sohnes überlegen groß, indem er die Territorien von Vladimir nicht als eigene Teile, sondern erstmals vereint mit den Moskauer Teilen als eine vereinigte Votcˇina zusammenfasste. Im Falle des Todes Vasilijs sollte das „udl“ Großfürstentum Moskau nicht geteilt werden, sondern einheitlich an den Nachfolger übergehen. Hierfür legte er bereits eine konkrete Reihenfolge fest. Für eine testamentarische Verfügung war die Gleichsetzung von Votcˇina und Großfürstentum neu.42 Sie bringt zum Ausdruck, dass die Großfürstenwürde als herausgehobene Machtstellung gegenüber den anderen Fürsten nunmehr wie die eigentliche Votcˇina durch letzte Verfügung des Vaters an den Sohn überging.43 Im Testament Vasilij des Dunklen aus dem Jahr 1461 findet sich eine Verbindung des Territoriums des Fürstentums Moskau mit dem Großfürstentum Vladimir als einheitlichem ungeteiltem Staatskomplex. Bisher waren in den Testamenten der Großfürsten die Städte, die zum Großfürstentum gehörten, unabhängig von denen der Moskauer Votcˇina getrennt aufgezählt worden. Das Moskauer Territorium sowie die Großfürstenwürde waren bisher unterschiedliche Herrschaftspositionen. Hier aber waren die Großfürstenwürde als Machtanspruch zwischen den Fürsten und das Moskauer Territorium erstmals eine Einheit.44 Nach Vasilijs Tod 1462 übernimmt Ivan III. (1462 – 1505) die Macht im Großfürstentum Moskau. Unter seiner Regentschaft kommt es im Jahr 1480 zum endgültigen 39 40 41 42 43 44
Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 161 ff. Stökl, Russische Geschichte, S. 155. Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 25. Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 95. Nitsche, Großfürst und Thronfolger, S. 17 f. DDG, Nr. 61, S. 193 ff.
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Sieg über die bereits schwächer gewordenen Mongolen. Ivan ist damit nicht nur erster souveräner Fürst des Moskauer Staates, er baute sein Territorium auch weiter aus: Er eroberte die Fürstentümer Jaroslavl (1463), Rostov (1447), Tvr (1485), das Permer und das Vjatkaer Land (1472, 1489). Im Jahr 1471 zieht er gegen Nowgorod, das kurz darauf kapituliert und einem Friedensvertrag zustimmt. Mit der Eroberung von Smolensk hatte Moskau endgültig die Vormachtstellung unter den Rus inne. Daher wagten sie es 1480, Tributzahlung zu verweigern, nachdem die Tataren schon mehrfach geschlagen waren und der Großfürst nur noch de jure Vasall der „Goldenen Horde“ war.45 So war Ivan III. rechtlich und faktisch nach außen unabhängig. f) Äußere Unabhängigkeit als Voraussetzung für ein neues Herrscherbild Nach dem Sieg über die Mongolen stellt sich die Frage nach den Beziehungen innerhalb der russischen Fürsten und der Großfürstenwürde neu. Bei der Erlangung der Großfürstenwürde 1462 war Ivan schon nicht mehr an die Gnade des Khans gebunden.46 Sein Vater Vasilij hatte schon zu Lebzeiten in Verträgen mit den anderen Fürsten niedergelegt, nach seinem Tode solle man seinen „Sohn, den Großfürsten Ivan, an meiner statt halten (v moe mjesto)“.47 Insofern erhielt Ivan die Großfürstenwürde allein durch die Verfügung, dem „Segen“,48 seines Vaters nach deklaratorischer Zustimmung der anderen Fürsten. Im Verhältnis Ivans III. zu den anderen Fürsten der Rus weist Nitsche auf eine deutliche Veränderung der Rangfolge während seiner Regierungszeit hin.49 In den Verträgen aus der Regierungszeit Ivans kommt zunehmend eine Übergeordnetheit seines Ranges zum Ausdruck. An den jeweiligen Rangfolgen zu Beginn der Verträge wird deutlich, dass Ivan die Primogenitur zugunsten seines Sohnes durchsetzt, der gegenüber den anderen Fürsten immer selbstverständlicher auch Großfürst genannt wird.50 Es wird ersichtlich, dass sich der Großfürstentitel inhaltlich seit der erstmaligen Verwendung durch die Kiever Fürsten verändert hatte. War er zunächst nur Ehrenbezeichnung, verbunden mit einer herausragenden Stellung des Ältesten im Familienverband der Rjuridiken, so verband sich nach Abschüttelung des Tatarenjochs unter Ivan III. mit ihm ein Vormachtanspruch gegenüber den anderen Fürsten innerhalb der Rus aus eigenem, d. h. nicht abgeleitetem Recht. Indem er die Großfürstenwürde mit der Votcˇina seinem Sohn verlieh und ausdrücklich nicht an seine jüngeren Brüder 45
Engelmann, Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Russisches Staatsrecht,
S. 6. 46 47 48 49 50
PSRL, Band 25, S. 278. DDG, Nr. 56, S. 170. PSRL, Band 25, S. 278. Nitsche, Großfürst und Thronfolger, S. 85 ff. Dies beweist umfangreich Nitsche, Großfürst und Thronfolger, S. 19.
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weitergab, zeigte Ivan III., dass ihm die Würde weder von der Familie noch vom Khan verliehen worden war, sondern er persönlich und unbeschränkt über die Großfürstenstellung Verfügungsmacht hatte. Das veränderte Selbstverständnis der Moskauer Herrscher wird zunehmend auch mit dem Titel „gosudar“ (Herrscher) „der ganzen Rus“ ausgedrückt.51 Nitsche begründet, dass er im Vergleich mit dem damals üblichen Titel „Großfürst der ganzen Rus“ als stärker empfunden worden sein muss.52 Aufschlussreich ist, dass sich Ivan III. zunächst vor allem im Schriftverkehr nach außen „Gosudar der ganzen Rus“ nennt, so im 1471 mit Groß-Novgorod geschlossenen Friedensvertrag,53 im in Novgorod geschlossenen Waffenstillstand mit dem Deutschen Orden 147454 sowie 1494 gegenüber dem Litauer Fürsten.55 Als die Stadt Novgorod Ivan III. nicht mit „Herrscher“ (gosudar) anspricht, zieht Ivan erneut gegen Groß-Nowgorod, unterwirft es und übernimmt die Macht. Mit der Bemerkung: „wie wir in Moskau sind (herrschen), so wollen wir in Groß-Novgorod sein“56 bringt Ivan III. zum Ausdruck, dass für Novgorod keinerlei Autonomie bleiben soll.57 Zuletzt hatten die Bojaren Novgorods Ivan darum gebeten, ihnen vertraglich gewisse Autonomierechte für die Stadt zuzusichern. Ivan III. bestand jedoch auf dem bedingungslosen Treueschwur und sicherte erst anschließend in einem einseitigen Gnadenakt Sonderrechte für die Stadt zu. Damit weist Ivan Vorstellungen zurück, das Reich vertragsföderalistisch zu gestalten und unterstreicht den Moskauer Anspruch der alleinigen unmittelbaren Machtausübung. Der dahinter stehende politische Anspruch wird insbesondere dadurch unterstrichen, dass Ivan der Titel zum Ende der Regierungszeit, als seine Macht fast das ganze russische Land umfasste, auch in den innerrussischen Beziehungen, wie z. B. in einem Vertrag zwischen Ivan III. und dem Fürsten von Tver verwendet58. Die Anfänge des bis heute für den Staat gebräuchlichen Begriffes (gosudarstvo) zeigen, dass staatsrechtlich eine neue Epoche erreicht worden war. Anders als der „Fürst“ war der Gosudar nun innerhalb des russischen Landes in seiner Position einzig. 51 Nitsche, Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Band I, S. 630. 52 Nitsche, Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Band I, S. 630: Dass der Titel „gosudar“ jedenfalls einen politischen Anspruch ausdrückt und nicht einfach willkürlich verwendet wird, zeigt die Münzprägung: Auslöser für Vasilijs Münzprägung mit dem Titel „gosudar“ darauf war, dass sich der Fürsten Dimitrij Sˇemjaka in seiner kurzen Zeit auf dem Moskauer Thron „Herrscher“ genannt hatte, was nun Vasilij offenbar mit einem Hinweis auf seine eigene Herrschermacht auf den Münze von 1447 beantworten wollte. 53 GVNP, Nr. 26, S. 45. 54 AZR, Band 1, Nr. 69, S. 84 f. 55 DDG, Nr. 83, S. 329. 56 PSRL Band 25, S. 316 f. 57 Nitsche, Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band I, S. 638. 58 Nitsche, Großfürst und Thronfolger, S. 110.
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g) Der Selbstherrschertitel als Ausdruck der neu gewonnenen unabhängigen Stellung Wie der Titel „Gosudar“ soll auch der Titel „Selbstherrscher“ zunächst nur außenpolitische Unabhängigkeit und eine besondere regionale Machtstellung ausdrücken. Die Anwendung des Titels „Selbstherrscher“ ist dabei in der Zeit Ivans III. noch unregelmäßig und bleibt es auch noch viel später, als ab 1547 der Zarentitel konsequent gebraucht wird.59 Wenn in der Wahlurkunde Michail Romanovs zum Zaren 1613 sogar ältere Großfürsten aus der Kiever Periode wie Vladimir (960 – 1015) als „Selbstherrscher“ tituliert werden,60 muss dies vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Urkunde dazu diente, eine direkte Nachkommenschaft Michail Romanovs von Rjurik abzuleiten, man versuchte so, die russischen Herrscher bewusst in eine Linie zu setzen. Erst 1589/90 wird der Titel im diplomatischen Verkehr eingeführt, Ivan IV. nennt sich nach der Inkorporierung von Kazan und Astrachan Selbstherrscher,61 nach der Inkorporierung der Ukraine 1654 findet der Titel „Selbstherrscher“ auch im Inland Geltung.62 Nachdem die Führungsschicht der Kosaken in Perejaslavl am 8. 1. 1654 dem Zaren Aleksej Michailovicˇ den Eid leistet, ohne dass ein solcher vom Zaren erfolgt63, nennt sich dieser am 5. 2. 1654 „Selbstherrscher von ganz Groß- und Kleinrussland“, womit er den Anspruch auf den gesamten russischen Staat dokumentiert, während die Ukrainer selbst von einer gemeinsamen Föderation ausgehen.64 Noch im 17. Jahrhundert erklärt sich der Selbstherrschertitel Michael Romanovs aus der besonderen Machtstellung des Russischen Reiches in der Welt. In einem Schreiben an den Madrider Hof von 1668 wird erklärt: „Und in Anbetracht dieser großer Zartümer und Herrschaften wird seine Majestät, unser großer Herrscher, in seinen Briefen und Urkunden Zar und Selbstherrscher genannt“65 Auch die erste Benutzung des Titels „Selbstherrscher“ ist aufschlussreich: So wird er unter Ivan III. allein von den Vertretern der Kirche für den Herrscher gebraucht,66 selbst hat sich Ivan III. nicht als „Selbstherrscher“ bezeichnet.67 Dabei kann nicht übersehen werden, dass 1492, als der Metropolit Zosima den Titel Selbstherrscher für den russischen Fürsten erstmals gebraucht, die orthodoxe Kirche wegen der Einnahme Konstantinopels durch die Türken und dem Untergang des Byzantinischen 59
Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 39. v. Wichmann, Urkunde über die Wahl Michael Romanows zum Czar des Russischen Reiches im Jahr 1613, S. 5. 61 Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 39. 62 Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 10. 63 Torke, Die russischen Zaren, S. 120. 64 Torke, Die russischen Zaren, S. 119 f. 65 DRV, Band 4, S. 422 f. 66 v. Reiche, Der Weg des russischen Zarentums zur Anerkennung in der Zeit 1547 – 1722, S. 22. 67 Binner, Zur Datierung des „Samoderzˇec“ in der russischen Herrscherliteratur, in: Saeculum 1969, S. 58. 60
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Reiches einer neuen Schutzmacht bedurfte, die sie durch entsprechende Ergebenheit im nun unabhängigen Moskau suchte. Hier wird die neue Stellung des Moskauer Fürsten als mächtigstem Herrscher innerhalb des russischen Landes gewürdigt, der allein der Kirche Schutz versprechen konnte. Daraus wird ersichtlich, dass der Selbstherrschertitel zunächst außenpolitische Handlungsfreiheit sowie Gleichrangigkeit mit anderen nicht-russischen souveränen Herrschern ausdrücken wollte.68 Der von Byzanz übernommene Titel „Selbstherrscher“ spiegelt die Macht der Person des Herrschers über ein großes unabhängiges Reich wider. Eine in erster Linie als Autokratie gegenüber den Untertanen verstandene Vorstellung des Begriffs der „Selbstherrschaft“ gibt es indes zu diesem Zeitpunkt noch nicht. So darf das Ende der Tatarenzeit in Bezug auf die Ausbildung der Selbstherrschaft als autokratische Regierungsform nach innen, nicht überschätzt werden, auch wenn der Titel „Selbstherrscher“ (Autokrator) gebraucht wird. Allein die äußeren Bedingungen hatten sich bei Einführung des Titels um 1500 aufgrund der Unabhängigkeit von den Tataren und des Verschwindens der Teilfürstentümer geändert.69 Anders als die russische Geschichtsschreibung über lange Jahre behauptet hat,70 ist eine bewusst von Ivan III. gesteuerte „Sammlung der russischen Erde“ durch ein als Selbstherrschaft umrissenes inneres autokratisch-zentralistisches Herrschaftssystem nicht nachweisbar.71 In der Folgezeit bleibt der russischen Herrscherkonzeption jedoch die Komponente beibehalten, wonach der Herrscher für die selbständige Entwicklung und Unabhängigkeit des Landes steht, die durch den Titel ausgedrückt wird. Der russische Begriff Autokrator (Selbstherrscher) deckt sich fortan nicht nur, wie beispielsweise der deutsche Begriff Autokratie, mit absoluter Machtfülle nach innen, sondern steht auch für äußere Stärke und Selbständigkeit. 2. Die Herrschaft des Zaren als Abbild unendlicher göttlicher Macht a) Die Herrschaftsordnung Zar Ivans IV. In der Folgezeit muss die zunächst im Außenverhältnis dargelegte besondere Stellung auch nach innen legitimiert werden. Unter Ivan IV., der unter dem Beinamen „Groznij“ in die Geschichte einging,72 kommt es in Russland zu einer erstmaligen um68
Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 19. Nitsche, Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band I, S. 703. 70 Dazu Kap. B.II.4.b). 71 Vgl. Keenan, On Certain Mythical Beliefs and Russian Behaviours, S. 21 f., Soldat, Urbild und Abbild, S. 177. 72 In Deutschland wird „Ivan Groznij“ mit „Iwan der Schreckliche“ übersetzt. Groznij ist vom Verb grozit abgeleitet, dass auf Russisch „drohen“ bedeutet. Leontovitsch merkt dazu an, dass die Bedeutung des Wortes „groznij“ in der alten russischen Sprache von der heutigen Bedeutung abweicht, ohne dass die alte Begründung jedoch zu erfassen wäre. Weiter weist er 69
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fangreichen Rechtfertigungslehre im Hinblick auf die Herrschaftsmacht. Im Jahr 1562 wird ihm vom ökumenischen Patriarchen die Berechtigung zur Führung des Zarentitels zuerkannt. Für den Staat wurde dementsprechend neben dem älteren „gosudarstvo“ (Herrschaft) der Begriff carstvo (Zarenreich) geläufig.73 Den Ostslaven war der Titel „Zar“ als Herrscher über das „carstvo“ vor allem aus der Bibel als „himmlischen Reich“ (carstvo nebesnoe) ein Begriff. Außerdem wurde das Reich des römischen Cäsars von den Russen „carstvo“ genannt.74 Vertraut wurde er ihnen dann auch als Bezeichnung des byzantinischen „Kaisers“, bevor er später der tatarischen Herrschaft zugebilligt worden war.75 Er beinhaltet die Herrschaft eines mächtigen, über andere erhabenen Herrschers mit Weltmachtanspruch, ohne aber, anders als nach byzantinischen Reichsdenken, einen Anspruch als mächtigster christlicher Herrscher auszudrücken.76 Im Zaren vereinigte sich alle Staatsgewalt, darüber hinaus war er Oberhaupt der orthodoxen Kirche. Nachdem Zar Aleksej Michailovicˇ die Absetzung des Moskauer Patriarchen Nikon betrieben hatte, weil sich dieser hatte „Herrscher“ nennen lassen, ließ der Zar den übrigen Patriarchen Fragen vorlegen, unter ihnen die Frage „was ist der Zar?“. Diese Frage wurde 1663 folgendermaßen beantwortet: „dem Zaren ziemt es sich, als Haupt aller und als Obrigkeit wohltätig gegenüber allen ihm unterstehenden Ländern zu sein … Daraus erhellt, dass der Zar der Herr Aller ist“.77 Auch Ivan IV. sah sich als übergeordneter Herrscher über mehrere Reiche, nach dem Sieg über die tatarischen Herrschaften Kazan und Astrachan spricht er von seiner Macht über mehrere Zarentümer (o carstv nasˇich). Insofern nennt er sein Reich russkoe oder rossijskoe carstvo78 und nicht Moskauer Reich, obwohl seine Macht aus dem Moskauer Fürstentum hervorging. Die Begründung des neuen Herrschaftsanspruchs vollzieht sich ab dem 16. Jahrhundert vor allem über russisch-orthodoxe Ideen und über damit einhergehende Vorstellungen von der besonderen Rolle des russischen Volkes. Während bereits mit der Taufe der Kiever Rus, die auf das Jahr 988 datiert wird, gesellschaftliche Konzepte aus Byzanz übernommen wurden, legitimierte sich Macht in dieser Zeit noch im Wesentlichen über den fiktiven Familienverband und die Abstammung vom Stammvater darauf hin, dass das Wort „groznij“ in der in zwischenfürstlichen Verträgen gebräuchlichen Formel „derzˇat cˇestno i grozno“ als Umschreibung des Regierungsstils auftaucht und schon deshalb nicht die Bedeutung „schrecklich“ haben kann (Leontovitsch, S. 24). Ulbrich, der den Beinamen groznij als „der Drohende“ übersetzt, sieht in der deutschen Bezeichnung „der Schreckliche“ ein Indiz für die unterschiedliche Einstellung der deutschen und der russischen Gesellschaft zur absolutistischen Macht (Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, S. 9). Da die tatsächliche russische Bedeutung der Bezeichnung groznij im Deutschen nicht eindeutig ist, wird eine Übersetzung hier vermieden. 73 v. Rauch, Staatliche Einheit und nationale Vielfalt, S. 18. 74 Stöckl, Begriffe, S. 110. 75 PSRL, Band 25, S. 231. 76 Stöckl, Begriffe, S. 110. 77 Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov chranjasˇcˇichsja v Gosudarstvennoj Kollegii innostrannych del, Moskau, 1813 – 1828, Band 4, S. 86. 78 DDG, S. 433.
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Rjurik. Die Mitgliedschaft in der Rjuridikenfamilie verpflichtet die Herrscher, gemeinsam zu handeln und das Land als Ganzes gegen die Heiden zu verteidigen.79 Vergleiche des Fürsten mit biblischen Herrschern werden von Seiten der Kirche vor allem genutzt, um den Herrscher an seine Verantwortung für ein christliches Leben zu erinnern. Erst allmählich verengt sich diese Gleichsetzung Gottes des Allherrschers mit dem Fürsten auf die Vorstellung eines irdischen Herrschers über das auserwählte Volk mit allmächtigen gottgleichen Fähigkeiten. Dies entsteht vor dem Hintergrund, dass die russisch-orthodoxe Kirche einen mächtigen, sie schützenden Herrscher suchte. Mit der eigenmächtigen Wahl Ionas zum Metropoliten war die russische Kirche 1448 faktisch von Konstantinopel selbständig geworden und damit auch der Unterstützung von dort beraubt. Somit versuchte sie nun noch stärker den Moskauer Staat als neuen Verbündeten zu gewinnen, wozu sich das byzantinische Herrscherbild als Beschützer der Rechtsgläubigkeit und des Kämpfers gegen Ketzerei und Sünde anbot. Der Fall von Byzanz im Kampf gegen die Osmanen 1453 machte den Moskauer Zaren zum mächtigsten Beschützer des orthodoxen Glaubens. Der Untergang von Byzanz wurde von den Vertretern der orthodoxen Kirche als Folge des Abfalls vom rechten Glauben interpretiert, es sollte dem Moskauer Fürsten Abschreckung sein. Die Furcht, von den Heiden erobert zu werden, führte die kirchliche Elite dazu, durch eine Stabilisierung der Moskauer Herrschaft alles zu tun, um das christliche Land zu schützen. Damit erhielt der russische Staatsgedanke seine sakrale Weihe; er wurde zum Reichgedanken im Sinne eines überzeitlichen und universalen Auftrags. Die Überzeugung, als überlebendes orthodoxes Reich eine besondere Rolle einzunehmen, wird um 1510 durch den Mönch Filofej propagiert, der den Zaren an seine besondere Verantwortung erinnerte, nachdem die Kirchen des alten Rom „durch den Unglauben der Ketzerei des Apolinarius“ gefallen wären und bei den Kirchen des zweiten Rom (Konstantinopels) jetzt „die Enkel der Türken mit Äxten und Beilen die Türen zerspalten“. In der Eroberung von Byzanz durch die Türken, sah er „gemäß den prophetischen Büchern“ eine Strafe Gottes für den Abfall vom rechten Glauben. Daneben waren auch die orthodoxen Zarenreiche Serbien und Bulgarien untergegangen. Demgemäß erschien nun der moskowitische Herrscher als Wächter des „heiligen Stuhles Gottes“ der allgemeinen Kirche. „Alle wahren christlichen Zartümer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind eingegangen in das Zartum unseres Herrschers, in das russische Zartum. Es sind zwei Rome gefallen, und das dritte steht. Ein viertes wird es nicht geben“.80 Ob Filofej damit jedoch die Grundlage für einen neuen Herrschaftsanspruch Moskaus legen wollte oder vielmehr eine „Mahnung zu einem frommen Leben ohne Sünde“81 aussprechen, nachdem die ersten Rome wegen ihrer Sündhaftigkeit zusammengebrochen seien, war unter dem Begriff der „Theorie von Moskau als Drittem Rom“ häufig Gegenstand der Untersuchung. Wie Soldat zu79
Vgl. Soldat, Urbild und Abbild, S. 119. Malinin, Starec Eleazarova monastyrja Filofej i ego poslanija. Istoriko-literaturnoe izsledovanie, S. 45 ff. 81 Nitsche, Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Band I, S. 663. 80
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sammenfasst, ging es Filofej in erster Linie nicht um eine Herrschaftslegitimation des Moskauer Reiches, sondern vor allem um die Rettung des für ihn letzten christlichen Reiches, um eine Warnung, den Zaren an seine christlichen Pflichten zu erinnern.82 Wenn Filofej seine Aufzeichnungen auch nicht als Herrschaftslegitimation gedacht haben mag, so geht aus ihr das Bild von einem besonderen auserwählten Volk und von dessen Herrscher, als Garanten dieser christlichen Gemeinschaft hervor. Eine umfassendere Vorlage für das Dogma von der Wächterfunktion der russischen Herrscher über die Rechtgläubigkeit findet sich in den Werken Iosifs von Volokolamsk (um 1440 – 1515), das als exemplarisch für seine Zeit gelten kann.83 Die moralische Pflicht des Zaren als Schutzherr der Rechtgläubigkeit sowie der göttliche Ursprung der Gewalt sind in seiner Schrift „Provestitel“84 Kernstück der Lehre. Danach war der moskowitische Herrscher von Gott als Selbstherrscher an seiner Stelle auf Erden erwählt. Weil Gott den Menschen nach seinem Abbild geschaffen habe (Slovo 7), müsse der Zar „alles ihm Übergebene vor jeglichem geistlichen und körperlichen Ungemach bewahren, wie er ja, um den Willen Gottes zu erfüllen, von Gott mit körperlosen Kräften ausgestattet ist, wie es euch selbst versprochen wurde“ (Slovo 16). Wenn auch die Rettung des Menschen durch das Göttliche (Slovo 16) für Iosif im Vordergrund steht und dies für den Zaren in erster Linie Mahnung sein soll,85 wird Iosif später vor allem durch seine Umschreibung der Absolutheit der Macht des Zaren zitiert: Der Zar war seinem Wesen nach dem Menschen ähnlich, der Gewalt seines Amtes nach aber dem höchsten Gott gleich (Slovo 16), weshalb seine Macht keine Grenzen kennt und alle irdische Macht umfasst. Dementsprechend gestaltet sich auch das Verhältnis des Zaren zu den Teilfürsten: als Herr aller irdischen Macht müssten die Teilfürsten dem Zaren dienen, als wenn sie Gott dienten. Gleichzeitig stehe der Zar nicht nur über den anderen weltlichen Würdenträgern des Landes, sondern auch über dem Metropoliten. Unterwerfung unter den Zaren ist insofern nicht Unterwerfung unter die Person des Zaren, sondern Unterwerfung unter Gott: „Wenn Du also dich verbeugst und dienst, so ist dies nicht zum Verhängnis der Seele, sondern vielmehr lernst Du, Gott zu fürchten; denn der Zar ist Diener Gottes, den Menschen zur Umkehr und zur Strafe (eingesetzt)“ (Slovo 7). Deswegen sei es Aufgabe des Zaren, für die Untertanen zu sorgen, dem Volk ein Vorbild in christlicher Lebensführung zu sein und den orthodoxen Glauben gegen die Ketzer zu verteidigen. Der weltliche Zar hat aus der byzantinischen Tradition in Russland auch die geistliche Fürsorgepflicht für seine Untertanen gegenüber Gott, was seine Herrschaftsmacht deutlich umfangreicher macht.86
82 Vgl. Soldat, Urbild und Abbild, S. 182 f., Keenan, On Certain Mythical Beliefs and Russian Behaviours, S 26. 83 Vgl. Soldat, Urbild und Abbild, S. 208 f. 84 Abgedruckt in: Prosvetitel ili obicˇenie eresizˇidovstvujusˇcˇich; Tvorenie prepodobnogo otca nasˇego Iosef, igumena Volockogo (Prosvetitel). 85 Soldat, Urbild und Abbild, S. 221, Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 38. 86 Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 56.
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Beeinflusst ist Iosif nicht nur durch die Heilige Schrift, sondern auch durch die byzantinischen Lehren, wie die des Dionysios Areopagites aus dem 5. Jahrhundert n. Chr., die in der Übersetzung vorlagen.87 Auf Dionysios Areopagites geht auch der Hierarchiebegriff zurück. So verwendet er den Begriff Hierarchie (hieros, griechisch: heilig, alles, was Gott geweiht ist, gotterfüllt ist, Göttliches und Menschliches), als die Gesamtheit der göttlichen und der kirchlichen Ebenen. Die Hierarchie ist die Gesamtheit der mit Gott Verbundenen, die Einheit in Gott. Das in verschiedene Ebenen geteilte Universum umfasst Gott und die Menschen und wird durch diese Verbindung in Gott eine Einheit, die exklusiv ist und Ungetaufte ausschließt. Insofern werden Weltliches und Göttliches in dieser Hierarchie identisch, da sie von Gott geschaffen sind. Für die irdische Welt kann es nur darum gehen, die göttliche Welt auf Erden sichtbar zu machen.88 Dies geschieht durch Abbildung der göttlichen Hierarchie. Insofern wird der weltliche Herrscher bei Iosif Volockij derjenige, der wie Gott auf der Erde göttliche Zustände herbeiführt. Die vom Zaren verkörperte göttliche Macht ist insofern eine ungeteilte, alle Ebenen in der Hierarchie vereinigende. Wenn in Iosifs Schriften der Vergleich der Macht des Zaren mit der göttlichen Macht vor allem die Ermahnung beinhaltet, wie Gott zu handeln, so findet sie durch diesen Vergleich die Zustimmung des Zaren Ivan IV.89 Nach der „pragmatischen Monarchie“90 Ivans III. und Vasilijs III. ist Ivan IV. der erste russische Herrscher, der sich selbst zum Zaren krönt und die historische selbstherrliche Gewalt der russischen Großfürsten im absoluten Sinn auslegt. Bei Ivan IV. wird der Vergleich mit der göttlichen Macht nicht mehr Leitbild, sondern Legitimation. Aufschlussreich begründet Ivan IV. die Alleinherrschaft in seinem Briefwechsel mit Fürst Kurbskij aus den Jahren 1564 – 1579.91 Darin übernimmt er die Thesen Iosif Volockijs über die Pflicht des Herrschers zum Erhalt der Rechtgläubigkeit. Er sieht sich danach als Lehrer des Volkes im göttlichen Glauben und in der Pflicht zur Durchsetzung dieses Glaubens. Auch wenn sich Ivan mit der Vorstellung von seiner eigenen Rolle als absoluter Herrscher weit über sein Volk erhebt, sieht er sich auf der anderen Seite an die göttliche Ordnung gebunden. Die Beziehungen zwischen Zar und Volk beschreibt er, indem er die Pflicht der Untertanen zur absoluten Unterwürfigkeit unter den Zaren mit der Tatsache begründet, dass Gott durch den Zaren spricht. Der Obrigkeit zu widerstreben, hieße Gott zu widersprechen.92 Diese Forderung ist für ihn absolut und trifft auch auf den durch Gewalt an die Macht gekommenen Herrscher zu. Macht ist für ihn eine göttliche Kraft, 87
Seebohm, Ratio und Charisma, S. 248. Soldat, Urbild und Abbild, S. 38 ff. 89 Djakonov, Vlast, S. 91 ff. 90 Kämpfer/Stökl, Russland an der Schwelle der Neuzeit, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band I, 2. Halbband, S. 944. 91 Stählin, Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij (1564 – 1579), Leipzig 1921. 92 Stählin, Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij, S. 29. 88
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die sich nicht durch menschliches Zutun legitimiert. Als legitimer Träger dieser Macht steht er selbst außerhalb der menschlichen Ordnung. Damit befindet sich der Zar jedoch nicht außerhalb jeder Gerichtsbarkeit. Vielmehr ist Gott alleiniger Richter des Zaren. Der Zar ist also nicht gegenüber seinen Untertanen verpflichtet, sondern allein gegenüber Gott, diesem schuldet er pflichtgemäßes Handeln. Jede Kritik, jedes Urteil des Volkes über den Zaren ist für Iwan IV. eine widerrechtliche Anmaßung der Rechte Gottes und eine Vorwegnahme des göttlichen Gerichts. Soweit das Volk an das Jüngste Gericht glaubte, war ein „außerordentliches“ irdisches Gericht auch gar nicht notwendig. Wenn sich Ivan IV. auch als gottgleicher Herrscher absolut über sein Volk stellte, so vereinigte beide die christliche Idee: So brandmarkte der Zar jeden, der sich dem Herrscher widersetze als „Abtrünnigen“ gegenüber dem christlichen Glauben.93 Das Verhältnis Gott-Zar jedoch als einen gegenseitigen Vertrag mit der Austauschleistung Macht gegen Gehorsam zu charakterisieren, wäre verfehlt. Auch für den Zaren ist Macht kein subjektives Recht, sondern eine Pflicht Gott gegenüber. So ist er in seiner Herrschaft nicht frei, sondern Gott verpflichtet. Bis hin zur Verurteilung anderer Menschen sieht sich der Zar allein als Vollstrecker der göttlichen Ordnung. So wird die Schuld seiner Untertanen in seinem Verhältnis zu Gott eigene Schuld, für die er wiederum das Gericht Gottes empfängt „wie ein Knecht“.94 „Der Zar trachtet nach Eifer, alle seine Untertanen unschuldig, im christlichen Gesetze befestigt, vor Gott zu stellen, indem er sie von allen bösen Taten abhält (…), wie auch nach Gerechtigkeit mit Verpflegung und Bekleidung versorgt“ schreibt er im Ukaz vom 20.9.1556.95 Ähnlich heißt es schon in der von kirchlichen Vertretern verfassten Nestorchronik über die Aufgaben der Fürsten: „Du aber bist eingesetzt zur Strafe für die Bösen, den Guten aber zur Erbarmung!“96 Früh wird darin die Einheit von Volk und Herrscher in der Verantwortung gegenüber der objektiven göttlichen Idee deutlich. Jede Form von Gewaltenteilung war danach Negation des göttlichen Charakters der Macht und Pflichtverletzung gegenüber Gott. Als Selbstherrscher muss er allein regieren („die russische Selbstherrschaft besitzt ihr Cartum von Anbeginn an allein, nicht aber die Bojaren und die Würdenträger“). Statt von Pflichtverletzung gegenüber Gott spricht Iwan IV. hier von Sünde.97 Obwohl die Macht durch das Volk nicht beschränkt werden kann, ist sie doch immanent durch den Willen Gottes begrenzt. So umfasst die Pflicht zum Herrschen die Pflicht zur Aufrechterhaltung der Rechtgläubigkeit, zum Schutz des wahren Glaubens und der wahren Kirche sowie die allgemei93
Stählin, Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij, S. 29. Leontovitsch, Die Rechtsumwälzung unter Iwan dem Schrecklichen und die Ideologie der Selbstherrschaft, S. 32. 95 Zitiert nach Leontovitsch, Rechtsumwälzung, S. 41. 96 Müller (Hrsg.), Nestorchronik, S. 155 f. 97 „(…) wenn wir dadurch sündigen, dass wir mit gefalteten Händen sitzen und es zulassen, dass man dem Zartum über den Zaren hinweg gebietet.“, zitiert nach Leontovitsch, Rechtsumwälzung, S. 32 f. 94
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nen christlichen Pflichten der Gerechtigkeit, der Fürsorge und der Barmherzigkeit.98 Insofern ergab sich nach Zar Ivan IV. eine Pflicht der Untertanen zum Widerstand dann, wenn der Herrscher gegen den echten Glauben verstoßen sollte. Selbstverständlich war Widerstand auch hier nicht subjektives Recht, sondern Pflicht Gott gegenüber.99 Der Regierung Ivan IV. lag damit weniger willkürliche Herrschsucht oder gar purer Vernichtungswille zugrunde, sondern vielmehr ein „fanatischer Verwirklichungstrieb“,100 verbunden mit der Überzeugung, den endgültigen Idealzustand auf Erden erreichen zu können. Ivan IV. argumentiert mit diesem politischen Ziel als Rechtfertigungsidee irdischer Macht. Das „politische“ Ziel ist für ihn die Durchsetzung der als wahr erkannten objektiven Ordnung, dem irdischen Gottesreich. Ivan IV. förderte so das Bild vom Zaren als dem irdischen Vollstrecker der Religion als dem einzigen Fundament irdischer Gerechtigkeit. Ohne Zaren konnte es danach keine Gerechtigkeit auf Erden geben. Sein Terrorsystem erwuchs aus der Rechtsauffassung, dass derjenige, der sich diesem Ideal aktiv oder passiv widersetze, in Opposition zur absoluten Gerechtigkeit stand. So schrieb er: „es duldet die vollkommene Gerechtigkeit Gottes nicht die Gesetzlosen“.101 Die göttliche Ordnung, auf der Erde umgesetzt durch den von Gott gesandten Zaren, war für ihn kein abstraktes Ideal, sondern Fundament konkreter Staatsordnung. Opposition stellte sich ihm stellvertretend für den Adel in Person des Fürsten Kurbskij, der im zitierten Briefwechsel dem Zaren widerspricht. Kurbskij entstammte einer Fürstenfamilie, war selbst Nachfahre der Rjuridiken und hatte sich in den Feldzügen gegen Kazan und Livland als begabter Truppenführer bewiesen.102 Mit seinem Übertritt auf die Seite der Gegner 1564 wendet er sich gegen den Zaren und begründet seine oppositionelle Haltung. Kurbskij klagt den Zaren mit den Worten an „Du vermaßest dich sogar in unflätiger Willkür pharaonischen Ungehorsams und Verstockung wider Gott und das Gewissen“. Der Fürst attackiert die von Ivan gewählten Mittel zur Umsetzung der göttlichen Ordnung als Sünde gegenüber Gott und plädiert für eine stärkere Einbeziehung eines aus Adligen zusammengesetzten Rats, der den Zaren bei seiner Pflichterfüllung unterstützen soll, um eine bessere Verwirklichung der göttlichen Ordnung sicherzustellen. Wenn Ivan und Kurbskij hier auch jeweils eigene Machtpositionen vertreten, so wäre es verfehlt, die Auseinandersetzung der beiden als Ringen des monarchischen Prinzips mit dem aristokratischen, oligarchischen oder gar föderalistischen aufzufassen.103 Kurbskij mag es zwar um faktische Macht gegangen sein, das zugrunde liegen98
Leontovitsch, Rechtsumwälzung, S. 41. Leontovitsch, Rechtsumwälzung, S. 28. 100 Leontovitsch, Rechtsumwälzung, S. 82. 101 Leontovitsch, Rechtsumwälzung, S. 83. 102 Neubauer/Schütz (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Andrej Kurbskij und Ivan dem Schrecklichen, S. 8. 103 Vgl. Soldat, Urbild und Abbild, S. 240. 99
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de Prinzip, die Stellung des Zaren als Gottes alleinigen Vertreter, bestritt er aber genauso wenig, wie er sich rechtlich mit dem Zaren auf eine Stufe stellen wollte.104 Kurbskij wirft Ivan vor, dass er sich durch „seine Schmeichler“ beeinflussen und verleiten ließ. Nicht die Beeinträchtigung von Rechten Dritter macht Kurbskij dem Zaren hier zum Vorwurf, sondern die Verletzung der Pflicht gegenüber Gott. Kurbskij richtet sich also nicht gegen die Institution der Selbstherrschaft sondern gegen den Selbstherrscher und seine ethisch-religiöse Haltung selbst.105 Mit einem Cicerozitat fragt er Ivan IV.: „Denn was ist ein Staat? Jede Zusammenkunft von Wilden und Unmenschen? Jede an einem Ort versammelte Menge von Räubern und Flüchtlingen? Das wirst Du bestreiten. Denn nicht damals war sie Stadt als die Gesetze in ihr nichts galten, als die Gerichte niedergebunden und der vaterländische Brauch erloschen war.“106 Indem Kurbskij im Anschluss daran formuliert, wenn dies für römische Heiden gelte, müssten Christen die Gesetze erst Recht anwenden,107 unterstreicht er den religiösen Ausgangspunkt der Gesetzlichkeit der Herrschaftsordnung. Anhaltspunkt ist für ihn ein u. a. bei Iosif von Volokolamsk ausgedrücktes Widerstandsrecht gegen den Tyrannen. Iosif von Volokolamsk hatte in seiner Schrift einen klaren Unterschied zwischen dem guten Zar, dem Diener Gottes, und dem mucˇitel (Henker) herausgearbeitet und hatte zwar nicht zum offen Kampf gegen diesen aufgefordert, wohl aber die Opposition gegen einen solchen Herrscher als Märtyrertum gelobt.108 Der russischen Herrschaftsideologie war es gelungen, die übernationale Idee der christlichen Gemeinschaft als nationales Herrschaftsmodell auf den russischen Staat zu übertragen. Die hier zum Ausdruck gebrachte Vermischung von sakraler Idee und profaner Herrschaft sollte der russischen Herrschaftslegitimation auf Dauer beibehalten bleiben. b) Abnehmende Beschränkungen der Macht der Moskauer Herrscher Obwohl durch das Moskauer Reich unter Ivan III. die äußere Selbständigkeit und nach der monarchischen Theorie Ivans IV. auch die innere Unabhängigkeit der Macht des Zaren zum Ausdruck gebracht wurde, bestehen tatsächlich noch Schranken der Herrschaftsausübung, die mit der neuen Rechtfertigung von Alleinherrschaft jedoch allmählich verschwinden.
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So Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 25. Neubauer/Schütz (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Andrej Kurbskij und Ivan dem Schrecklichen, S. 8. 106 Stählin, Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij, S. 117. 107 Stählin, Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij, S. 114 f. 108 Soldat, Urbild und Abbild, S. 213 ff. 105
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aa) Vecˇe und Zemskij sobor In der Kiever Zeit war die Volksversammlung (vecˇe) eine wichtige Institution in den Städten, die bis in das 13. Jahrhundert, in Novgorod und Pskov sogar bis zur Inkorporierung durch Moskau die wichtigen Fragen entschied.109 In der freien Stadt Novgorod wählte sie regelmäßig den Fürsten. Während der Zeit der Goldenen Horde hörten die Volksversammlungen außer in Novgorod auf110 und es kam stattdessen immer wieder zu kleineren Versammlungen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, die über den Slawophilen K. Aksakov und den Historiker S. N. Solovev als sog. zemskij sobor in die Wissenschaftssprache eingingen, obwohl die Quellen schlicht von „sobory“ sprechen.111 Die Versammlungen setzen sich anders als die Vecˇe unter Ivan IV. aus Staatsdienern zusammen, erst in späterer Zeit kamen auch Kaufleute hinzu, insbesondere, wenn es um finanzielle Fragen ging.112 In die Zuständigkeit der Versammlung fällt die Beratung des Zaren in besonderen Fragen. Während des Krieges mit Polen wird die Versammlung herangezogen, um über die Annahme der Bedingungen der Polen zu beratschlagen. 1648 gelang es der Moskauer Bevölkerung durch Aufstände, mehrere Versammlungen zu erzwingen, um ihre Beschwerden in die Ulozˇenije, den Kodex von 1649 einzubringen.113 Doch auch dadurch wurde die Versammlung als feststehendes Staatsorgan nicht institutionalisiert. Wenn die Entscheidungen der Versammlungen die Regierenden auch beeinflussten, so kann zu keiner Zeit von einer Art Parlament oder einem selbständigen Regierungsorgan gesprochen werden, da dem Zar immer die Letztentscheidung blieb. Mit der Festigung der Herrschaft Ivans IV. wird die Stellung der Versammlung wieder schwächer.114 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geht die Aktivität der Moskauer Versammlung deutlich zurück.115 Auch waren die Zemskie sobory nach 1653 hinsichtlich Teilnehmer und Kompetenzen deutlich begrenzt, 1660 berieten z. B. die Kaufleute mit den Behörden nur noch in Fragen des Handelsrechts. Insofern kann diese Versammlung schon nicht mehr als Versammlung von Bevölkerungsgruppen, sondern eher als informelle Expertenberatung bezeichnet werden.116 bb) Die Bojarenduma Unter dem Begriff Bojarenduma wird ein aus Angehörigen des Adels zusammengesetztes Gremien verstanden, das im Verlaufe der Jahrhunderte als politischer Ak109 110 111 112 113 114 115 116
Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 400. Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 401. Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 316. Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 318. Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 319. Hoetzsch, Staatenbildung und Verfassungsentwicklung, in: ZOG 1911, S. 375 ff. Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 269 ff. Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 84.
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teur auftrat. Die Bojarenduma hat ihren Ursprung in der Beratung des Fürsten mit seiner Gefolgschaft.117 Historisch taucht der Begriff in der Regel nicht in der zusammengesetzten Form auf, die Nestorchronik spricht bei dem Eintrag zum Jahr 996 nur von „dumati“ (denken, beraten) als einer Funktion des fürstlichen Beratungsorgans.118 Im Laufe der Geschichte kommt dem Zusammenschluss von Adeligen an der Seite des Zaren unterschiedliche Bedeutung zu. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Duma nach Annahme des Christentums neben der Gefolgschaft auch die Bischöfe und Stadtältesten einschloss. Wieweit für den Fürsten die Verpflichtung bestand, sich mit der Duma zu beraten, ist nicht nachvollziehbar. Ausdrücklich ist keine Verpflichtung erwähnt, anzunehmen ist jedoch, dass der Fürst faktisch zur Beachtung der Würdenträger verpflichtet war, um sich ihre Unterstützung zu sichern, da die Gefolgsleute den Hof sonst aufgrund des Rechts auf ot-ezd119 verlassen konnten. Mit dem Aufstieg des Moskauer Teilfürstentums wächst auch die Macht der Bojaren, da immer mehr Menschen gebraucht werden, um die staatliche Verwaltung zu ermöglichen.120 Wenn Ivan III. auch erstmals „Selbstherrscher“ genannt wird, so spiegelt dies nicht die innenpolitische Lage wider, in der de facto die Duma machtpolitisch noch bedeutend ist. So kommt Ivan III. bei entscheidenden Fragen auf die Bojarenduma zurück, die beispielsweise seine Heirat mit Sofija Paleologia sowie den Feldzug gegen Novgorod mitberiet und beschloss.121 In der Folgezeit änderte sich diese Zusammenarbeit, die Bedeutung der Bojarenduma nimmt ab. Mit der Einführung des Dienstadels konnte der Fürst den Mitgliederbestand der Duma beeinflussen, was faktisch zu ihrer Schwächung beitrug. Nach dem Tod Vasilijs III. kam Ivan IV. an die Macht, der aber auf Grund seines jugendlichen Alters noch nicht regieren konnte, was die Bojaren für ihn de facto korporativ übernahmen. Daraus entwickelte Ivan IV. die Theorie, die Bojaren hätten ihn in dieser Zeit verraten, er hob ihre Privilegien auf und verfolgte sie grausam. In dem im Jahr 1550 unter Zar Ivans IV. erlassenen Gesetzbuch (carskij sudebnik) wird die Mitarbeit der Bojaren erstmals gesetzlich bestimmt. In Art. 89 heißt es: „aber sofern neue Sachen auftauchen, die in diesem sudebnik nicht aufgezeichnet sind, so sind sie auf Beschluss aller Bojaren und auf Bericht an den Zaren in diesem aufzunehmen.“ Dass es ausgerechnet unter Ivan IV., dem erklärten Feind der Bojaren, zu einer positivrechtlich niedergelegten Rechtsstellung der Bojaren kommt, erklärt sich damit, dass das Gesetz noch aus der Anfangszeit der Regierung stammt, in der faktisch die Bojaren korporativ regierten. Art. 89 ist nicht als neues Prinzip zu werten, sondern als Ausdruck der grundsätzlichen Übung, nach der die legislative Tätigkeit bis dahin ge117
Camphausen, Die Bojarenduma unter Ivan IV., S. 26. Rüss, Das Reich von Kiev, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Band 1, S. 263. 119 Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 67. 120 Camphausen, Die Bojarenduma unter Ivan IV., S. 29. 121 Maurach, Der russische Reichsrat, S. 29. 118
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meinschaftlich erging, was nun fortgeführt werden soll.122 Der Zar war dabei verpflichtet, den Rat der Bojaren zu hören, nicht aber ihn zu befolgen. Tatsächlich wurden die Bojaren gerade in der Regierungszeit Ivans IV. in ihren Rechten beschnitten, die Bojaren verloren größtenteils ihren Grundbesitz an den Zaren, der sie an den neuen Dienstadel verteilte. Die Zugehörigkeit zur Duma sowie ihrer Zuständigkeiten bestimmte der Zar.123 Unter Feodor III. (1661 – 1682) wuchs die Beteiligung der Duma noch einmal soweit an, dass sie fast an der Hälfte aller Gesetze beteiligt war, jedoch muss aufgrund von Geschäftsverteilungsplänen und festgelegten Dienstzeiten der Bojaren wohl eher von einer Verwaltungsorganisation124 gesprochen werden als von eigener, unmittelbarer Regierungsgewalt der Duma. Während unter Ivan IV. noch die Formel gebräuchlich war, „der Zar hat mit allen Bojaren beschlossen“125, hieß es nunmehr allein: „der Zar hat befohlen und die Bojaren haben beschlossen“ (Velikij gosudar ukazal i bojare prigovorili126).127 Diese Formel wird auch dann noch verwendet, als es des prigovors bereits nicht mehr bedurfte, wobei die Zaren bis Peter I. die Bojaren in der Regel anhörten.128 Festzuhalten bleibt, dass Stände die Zarenmacht rechtlich nicht beschränkt haben, wenn sie auch zeitweise faktisch durch die pragmatische Politik des Nachgebens erhebliche Macht innehatten. Die Macht des Zaren blieb faktisch bis zu Peter I. allein durch die gewohnheitsmäßige Beteiligung des Adels an der Beratung beschränkt.129 Auch die Bojarenduma war selbst zu Zeiten, in denen sie stärker beteiligt war, nie ein Element der Gewaltenteilung, im Sinne einer Aufteilung in Legislative (Duma) und Exekutive (Zar). Nur in Ausnahmefällen verfügte die Duma über eigene Gesetzgebungskompetenz, die jedoch immer vom Zaren abgeleitet war. cc) Die Wahlversammlungen im 16. und 17. Jahrhundert Nach dem Aussterben des alten moskowitischen Herrscherhauses bis zur Übernahme der Macht durch die Romanov-Dynastie wird die Machtfrage durch Wahlen entschieden. Dies bedeutet weder Ende noch Unterbrechung des autokratischen, von Gott eingesetzten und allein diesem verpflichteten Herrschertums. Über die Wahl selbst sind keine formalen Regeln bekannt. Zweifelhaft ist ganz generell, ob die Versammlung überhaupt ein Wahlrecht zwischen mehreren Kandidaten hatte. Vielmehr 122
Maurach, Der russische Reichsrat, S. 35. Neubauer, Car und Selbstherrscher, S. 69. 124 Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 68. 125 Chorosˇkevicˇ, Bojarenduma und Zar, in: Hübner/Klug/Kusber (Hrsg.), Zwischen Christianisierung und Europäisierung, Festschrift für Peter Nitsche, S. 131. 126 Zu den Übersetzungsschwierigkeiten des Verbs prigovoriti vgl. Klug, Moskauer Autokratie in: Hübner/Klug/Kusber (Hrsg.), Zwischen Christianisierung und Europäisierung, Festschrift für Peter Nitsche, S. 110. 127 Torke, Lexikon der Geschichte Russlands, S. 68. 128 Maurach, Der russische Reichsrat, S. 40. 129 Soldat, The Limits of Muscovite Autocracy, S. 275. 123
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ist wohl davon auszugehen, dass der Zar von den Würdenträgern des Staates bestimmt wurde und die Wahlversammlung lediglich eine Bestätigung und Legitimation als taktische Absicherung der Macht bedeutete.130 Deutlich zeigt die Wahlurkunde Michael Romanovs, dass die Wahlen mit der Lehre der göttlichen Gnade der Selbstherrschaft übereinstimmen. In der Urkunde über die Wahl Romanovs zum neuen russischen Zaren 1613 wird die Herrschaftsgewalt nicht durch das Wahlgremium, bestehend aus über 200 Kirchenrepräsentanten, Bojaren, Fürsten, Rechtsgelehrten und Deputierten der Städte („den besten, kräftigsten und verständigsten“),131 sondern durch Gott begründet. So stellte die Zemskij sobor 1613 ausdrücklich fest, dass Michail Fedorovicˇ gotterwählt sei und erst aufgrund dieser Eigenschaft von den Menschen gewählt würde. Aufgabe der Deputierten auf der Wahlversammlung war es, herauszufinden, wer von Gott bestimmt worden war. Als Begründung wird das Bibelwort herangezogen „Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“.132 Immer wieder wird in dem umfangreichen Text der Urkunde darauf hingewiesen, wie einmütig die Entscheidung über die Wahl unter den (rechtgläubigen) Untertanen gefallen war („selbst die Säuglinge riefen und sprachen wie aus einem Munde, dass … Czar und Grossfürst und Selbstherrscher aller Reussen. Michael Feodorowitsch Romanow-Jurjew seyn sollte.“).133 Hier spiegelt sich die offizielle kirchliche Geschichtsschreibung, nach der der Herrscher in seinem Amt wie Gott anzusehen sei und das Heil des Landes von seiner persönlichen Frömmigkeit abhing. Sie appelliert an die Einheit von Volk und Zar, in der das Volk die Göttlichkeit der Macht des Herrschers erkennt, der es zum richtigen Glauben führt und es sich diesem insofern unterordnet. Wegen der göttlichen Natur des Zarenamtes konnte nicht zwischen der Person Zar und seiner Herrschaft getrennt werden. So wird aus der Urkunde deutlich, dass Zar und Staat als göttliche Verbindung eine Einheit sind. Die Zeit ohne Herrscher wird mit den Worten beschrieben „das Russische Reich ist verwittwet und das Czaren Vaterland verwaiset“.134 Folge des Erwählt-Seins als Selbstherrscher aller Rus ist, dass „weder die Könige und Königssöhne von Pohlen, Litthauen und Schweden noch solche aus anderen Staaten, noch von Moskowitischen Geschlechtern, noch von den Fremden, welche dem Moskowitischen Staat dienen, über das Moskowitische Reich regieren.“ Letztlich vermerkt die Urkunde den Wunsch, dass niemals ein „anderer Fürst, weder ein Polnischer und Litthauischer, noch ein deutscher König oder Königssohn, noch sonst aus irgend einem anderen Staat ein Fürst oder Prinz, (…) zur Regierung der Russischen
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Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 318. Wichmann, Urkunde über die Wahl Michael Romanows zum Czar des Russischen Reiches im Jahr 1613, S. 34. 132 Wichmann, Urkunde über die Wahl Michael Romanows zum Czar, S. 60. 133 Wichmann, Urkunde über die Wahl Michael Romanows zum Czar, S. 39. 134 Wichmann, Urkunde über die Wahl Michael Romanows zum Czar, S. 46. 131
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Staaten gewünscht, gesucht oder erwählt werde.135 Die Abwesenheit eines Herrschers wird mit der Gefahr von außen in Verbindung gebracht: „Czar, (…) erlöse alle rechtgläubigen Christen von den bösen Feinden, welche wider sie zum Verderben aufstehen, als ungläubige Heiden, so lange Dein Reich herrenlos ist; befreie uns von dem Elende und Kummer.“ Aus all dem wird deutlich, dass die faktische Macht der Stände in verschiedenen Krisenzeiten an der Vorstellung vom göttlichen Charakter der Selbstherrschaft nach dem Tod Ivan IV. und der Suche nach einem neuen Herrscher nichts änderte. Behielten die Stände über die Gremien bis zur Zeit Peters I. faktische Mitspracherechte, so finden sie neben der Macht des Zaren keine eigenständige Legitimation. Bis zum Inkrafttreten der Verfassung vom 17. Oktober 1905 sollte die Ausübung unmittelbarer Staatsgewalt in Russland durch zwei Bedingungen bestimmt bleiben: Die Zugehörigkeit zur rechtgläubigen Religion und die Beachtung des Thronfolgegesetzes.
3. Peter I.: Selbstherrschaft und Absolutismustheorie Das Zeitalter Peter des Großen (1672 – 1725) bringt für die russische Herrschaftstheorie einen neuen Ansatz. Während die Selbstherrschaft vorher allein über die Ähnlichkeit der Zarengewalt mit der göttlichen Macht begründet worden war, vollzog sich unter dem Einfluss des aufgeklärten Absolutismus136 im Verständnis des Herrschers von der Begründung seiner Macht in Russland unter Peter ein Wandel. Während sich die absolute Herrschaftsmacht der Moskauer Zaren bis zu Peter I. zunächst faktisch aus dem größer werdenden Territorium ergab und es anschließend zu einer Begründung dieser absoluten Herrschaft durch christlich geprägte Anschauungen kam, begann man im 18. Jahrhundert die Selbstherrschaft rational zu untermauern. a) Der neue Staatsbegriff Unter Peter gewinnt der Staat als das Gesamte an Bedeutung. Intensiver als seine Vorgänger auf dem Moskauer Thron begreift sich Peter als Herrscher über ein einheitliches Reich. Wie schon in der früheren russischen Geschichte zeigt sich diese Veränderung der Herrschaftsvorstellung an einer neuen Titulatur. Hatte sich Peter in der Zeit der Doppelregierung bis zum Tod Ivan V. 1696 noch „Wir…die Durchlauchtigsten und Mächtigsten großen Herren Zaren und Großfürsten (Namen) des ganzen Großen und Kleinen und Weißen Russland, Selbstherrscher von Moskau, Kiev, Vladimir, Novgorod, Zaren von Kazan, Zaren von Astrachan, Zaren von Sibirien, Herrscher Wichmann, Urkunde über die Wahl Michael Romanows zum Czar, S. 42. Der Begriff geht auf den französischen Theologen und Juristen Jean Bodin (1529 – 1596) zurück, der in seinem Hauptwerk „Sechs Bücher über den Staat“ 1576 schrieb „Majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“ (Die Majestät [frz. Souverainet] ist die höchste Macht über Bürger und Untertanen) (1. Halbband, S. 590) und damit in Abkehr von der Theologie als Erkenntnisquelle des Mittelalters die Unabhängigkeit des Monarchen gegenüber aller weltlicher und kirchlicher Macht in dessen Reich betonte. 135
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von Pskov und Großfürsten von Smolensk, Tver, Jugrien, Perm, Vjatka, Bolgar und anderen, Herrscher und Großfürst von Nizˇnij Novgorod, Cˇernogov, Rjazan, Rostov, Jaroslavl, Beloozero, Udorien, Obdorsk, Kondinien und der ganzen nördlichen Region, Befehlshaber und Herrscher des Iverischen Landes der Kartalinischen und Grusinischen Zaren und des Kabardinischen Landes der Cˇerkessen- und Gebirgsfürsten und vieler anderer Herrschaftsgebiete und Ländern im Osten und Westen und Norden“137 genannt, so setzte er nach dem Abschluss der Nordischen Krieges im Jahr 1721 endgültig nach innen wie nach außen die Bezeichnung „Allrussisches Imperium“ (Vserossijskaja Imperija) durch. Parallel dazu kam es zur Annahme des Kaisertitels.138 In der früheren Moskauer Zeit wurde das Ganze als Einflussbereich des Herrschers umschrieben,139 nunmehr bekommt der Staat als vom Herrscher unabhängige Ordnung Bedeutung. Deutlich wird dies in einer Rede vor einer Schlacht gegen die Schweden 1709, als Peter die Soldaten beschwört: „Und so sollt ihr nicht meinen, dass ihr für Peter kämpft, sondern für den Staat, der Peter anvertraut ist, für euer Volk …“.140 Erstmals trennt er zwischen eigenen und öffentlich-staatlichen Belangen.141 b) Russische Absolutismustheorie Während der russische Staat unter Peter I. weitreichenden Neuerungen unterworfen wird, bleibt es bei der konzentrierten und unbeschränkten Machtansammlung in den Händen des Herrschers. Unter Peter I. ist jedoch eine Entwicklung in der theoretischen Rechtfertigung von Herrschaft festzustellen. Die Begründung des russischen Absolutismus wurde von dem Zeitgenossen und Beraters Peter I., des Erzbischofs Feofan Prokopovicˇ142 in seinem Werk „Pravda voli monarchej“ vorgelegt. Es war von Peter I. angefordert worden,143 wurde 1726 als Rechtfertigungsschrift veröffentlicht und war an den Feiertagen in den Kirchen zu verlesen.144 Prokopovicˇ hatte die Werke Hugo Grotius (1583 – 1645), Thomas Hobbes (1588 – 1679) und Samuel v. Pufendorfs (1632 – 1694) studiert145 und in seinen eigenen Werken aufgegriffen. Diesen westlichen Denkern war gemeinsam, dass der freie Mensch aus Vernunft seine natürliche Freiheit zu Gunsten eines starken Staates aufgibt, der für ihn Frieden 137
PSZ, Band VI, S. 453. Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 33. 139 Das Wort „gosudarstvo“ (Staat) ist abgeleitet von gosudar (Herrscher), während in westlichen Sprachen der Staat eher einen Zustand, d. h. eine Ordnung umschreibt (Staat, tat, state), Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 57. 140 Zitiert nach Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 67. 141 Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 69. 142 Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 45. 143 Utechin, Russian Political Thought, S. 43. 144 Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Russland, S. 72. 145 Utechin, Russian Political Thought, S. 40. 138
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schafft. Nach Hobbes Leviathan146 ist der starke Staat notwendig, das Böse im Menschen zu bändigen und so die Erhaltung des Menschen zu gewährleisten. Ziel des Staates ist Friede und Schutz nach innen und außen.147 Zur Überwindung des pessimistischen Ausgangszustands (bellum omnium contra omnes)148 dient das sophistische Vertragskonzept, über das sich das Volk zusammenschließt, um in Form des Staates eine übergeordnete Gewalt zu schaffen. Dieser Gewalt unterwirft es sich durch den Vertrag, damit sie regiert und alle Handlungen autorisiert. Dieses Gedankengebäude entsteht vor dem Hintergrund der konfessionellen Auseinandersetzungen, die zu dieser Zeit West- und Mitteleuropa bestimmten. Es ging darum, die Souveränität des Herrschers auf eine Weise zu begründen, ohne auf die Homogenität im Staat als Selbstverständlichkeit zurückgreifen zu können.149 Gleichzeitig ging es um die Überwindung von Hoheitsrechten der Stände sowie der Kirche zugunsten des prinzipiell allzuständigen Königs.150 Hobbes schafft die Fiktion eines Gesellschaftsvertrags, der die Heterogenität des Staates bestehend aus verschiedenen Glaubensgemeinschaften und Ständen überwindet. Mit dem Staatsvertrag als Grundlage des absolut herrschenden Monarchen gelingt Hobbes und Pufendorf die Überwindung des Gottesgnadentums als alleiniger Rechtfertigung von Macht. Charakteristisch für das Hobbessche Modell ist, dass der Einzelne durch den Vertrag sein Selbstbestimmungsrecht veräußert. Der Heterogenität des Volkes wird die Homogenität des Souveräns entgegengestellt, der sich alle unterordnen. Die Freiheit des Einzelnen geht mit Vertragsschluss in der Totalität des Souveräns auf. An der Spitze des Staates steht nunmehr der Vertreter des Staates als Inhaber der höchsten Staatsgewalt (Souverän),151 der die Staatsaufgaben absolut, einzig und letztinstanzlich wahrnimmt. In dieser Funktion ist er unbeschränkt durch Stände und keinem Dritten verpflichtet. Es gibt keine weitere Appellationsinstanz über ihm. Aufgrund der vertraglichen Abtretung der Macht kann der Einzelne nicht gegen den Monarchen aufbegehren und ohne die Zustimmung des Herrschers auch keinen neuen Vertrag schließen. So kann der Herrscher die Rechte Einzelner aus dem Vertrag nicht verletzten, da der Herrscher nun selbst ihre Gesamtheit darstellt und kraft des Rechtes jedes Einzelnen handelt.152 Nach dem fiktiven Gesellschaftsvertrag wäre jede Klage darüber eine Klage über den eigenen Willen, der zu dem Vertrag geführt habe.153 Den Untertanen bleibt durch den Schutz des Souveräns die Gedanken- und Gewissensfreiheit, die sich der Kontrolle des Souveräns entzieht, solange sie den Staat nicht gefährdet.154 Ähn146
Hobbes, Leviathan, erstmals London 1561, hier zitiert nach der Ausgabe Stuttgart 2004. Hobbes, Leviathan, S. 151 f. 148 Hobbes, Leviathan, Erster Teil, 13. Kapitel. 149 Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 32. 150 Vgl. Sailer, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, S. 19. 151 Hobbes, Leviathan, S. 156 f. 152 Hobbes, Leviathan, S. 158. 153 Hobbes, Leviathan, S. 160. 154 Hobbes, Leviathan, S. 187 ff. 147
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lich argumentiert der von Peter I. geschätzte155 Staatsrechtslehrer Pufendorf, der den Pessimismus Hobbes hinsichtlich der menschlichen Dispositionsfreiheit teilt. Auch nach Pufendorf rechtfertigt das „böse Temperament“ des Menschen den Staat als notwendige Strafinstanz auf Erden. Gleichzeitig tut der ideale Untertan sein Bestes, um diesen Staat zu unterstützen, um gemeinsam mit dem Herrscher dem Ganzen zu dienen.156 Vor diesem Hintergrund entwickelte Feofan Prokopovicˇ seine Theorie vom Ursprung und Inhalt des Staates, indem er die alten religiösen orthodoxen Vorstellungen mit den etatistischen Konzeptionen der westlichen Naturrechtler Grotius, Hobbes und Pufendorf verband. Nach dem Neuen Testament157 blieb Gott bei Prokopovicˇ einerseits Ursprung der Macht.158 Daneben berief er sich aber analog zu Pufendorf insofern auf das Naturrecht, als er die Herrschaft einer Person über andere als Naturgesetz anerkannte. Mit Hobbes und Pufendorf behauptete er, ohne den Staat würde sich die Menschheit gegenseitig zu Grunde richten, die staatliche Macht müsse hier im Allgemeininteresse eingreifen. Wenn er auch primär bei der göttlichen Legitimation als Rechtfertigungsidee der Zarenmacht bleibt, tritt zumindest zusätzlich der verweltlichte Gedanke vom Gesellschaftsvertrag hinzu, nach dem das Volk die Macht an einen Monarchen abtritt.159 Inhaltlich finden sich zwischen den Konstruktionen Prokopovicˇs und seinen westlichen Vorbildern entscheidende Unterschiede. Der Gesellschaftsvertrag ist bei Prokopovicˇ anders als bei Hobbes, der von einem Vertrag zwischen allen Individuen sprach, allein ein Vertrag zwischen Monarch und Volk, wobei das Volk dem Monarchen den Auftrag erteile: „Es ist unser einstimmiger Wille, dass Du über uns herrschst.“160 Hier ist der Gesellschaftsvertrag nicht wie bei Hobbes Vertrag der einzelnen Bürger untereinander, sondern ein Vertrag zwischen dem Zaren und dem Volk als abstraktem Ganzem.161 In der russischen Variante spielt der Wille des Einzelnen nicht einmal in der Fiktion eine Rolle. Bei Prokopovicˇ ist der Vertrag „allgemeiner Wille des Volkes“.162 In der russischen Version ist die Einheit nicht Produkt der Überwindung von Einzelinteressen und schon gar nicht Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses,163 vielmehr wird die Einheit als Gesamtheit der Individuen bereits vorausgesetzt. Insofern ist der Zar auch nur verpflichtet, dem Volk als Ganzem zu dienen, für sein Wohlergehen, ein friedliches Leben und Sicherheit zu sorgen.
155 156 157 158 159 160 161 162 163
Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 51 f. Pufendorf, Einleitung zur Sitten- und Staatslehre, Leipzig 1691, S. 19, 515. Vgl. Römerbrief 13, Vers 1 „Es ist keine Macht, es sei denn von Gott“. Prokopovicˇ, Russlands Thränen, S. 23. Prokopovicˇ, Das Recht des Monarchen, S. 33. Prokopovicˇ, Das Recht des Monarchen, S. 32. Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 77. Prokopovicˇ, Das Recht des Monarchen, S. 32. Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 37.
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Noch weniger sah man in Russland die Notwendigkeit für einen Wächter über den Leviathan. Im Unterschied zum westlichen Staatsdenken, das zu dieser Zeit bereits durch John Locke (1632 – 1704) Ansätze von Bürgerrechten und Gewaltenteilung hervorgebracht hatte,164 sah die russische Lehre keine Notwendigkeit, die Herrschermacht einzuschränken oder gar Rechte und Freiheiten gegenüber dem Staat einzuräumen. Die Vorstellungen Lockes, der die schrankenlose Unterwerfung im Hobbesschen Sinne ablehnte und es stattdessen für notwendig hielt, dem Einzelnen seinen individuellen Lebensraum vor dem uneingeschränkten Zugriff des Herrschers durch eine neutrale Gewalt zu sichern, bleiben in Russland unbeachtet. Hatte Iosif Volockij dem Volk noch ein Widerstandsrecht gegen den bösen König erlaubt,165 empfahl Prokopovicˇ, die Launen des Herrschers sanftmütig zu erdulden.166 Das Volk sollte dem Zaren danken, dass dieser als Diener des Volkes für dieses lebte und all seine Kraft für dieses einsetzte.167 Das Befolgen der Herrscherbefehle geschah nach dieser Lehre nicht aus Angst vor Bestrafung, sondern aus Einsicht und Wissen um die Bemühungen des Herrschers und um die Gesamtinteressen des Staates. Trotz der intensiven Auseinandersetzung mit Westeuropa blieb die dort seit der Renaissance gestiegene Bedeutung des Individuums unbeachtet, verbriefte Rechte, die protestantische Arbeitsethik, nach der der Einzelne durch wirtschaftliche Tüchtigkeit die Gnade Gottes auch diesseits erleben kann und der daraus anerkannte Freiraum des Individuums wurden in Russland nicht aufgenommen.168 Insofern trifft die Einschätzung Härtels zu, Prokopovicˇ habe sich der westlichen Ideen nur insofern bedient, als sie seine orthodoxen Grundüberzeugungen belegten.169 Es gelang ihm, die individualistische Idee des Naturrechts bei seiner Einführung in die russische Rechtslehre geschickt zu „tarnen“.170 Trotzdem bedeutet diese Konzeption einen Entwicklungsschritt in der russischen Staatslehre, da sich die einheitliche Gewalt des Zaren nun nicht mehr allein auf den Willen Gottes, sondern auch den des Volkes stützt. Die subjektorientierte Legitimation von Herrschaft aber bleibt Russland trotz der Auseinandersetzung mit Grotius, Hobbes und Pufendorf auch weiterhin fremd. In Russland ist von Anfang an allein die Ganzheit des Volkes Rechtssubjekt, die consociatio, der ursprüngliche Einigungsakt aller freien Individuen zu einem Ganzen existiert nicht.
164
Locke, Two Treaties of Government, in: Works, Vol. 5, S. 212 ff. Prosvetitel ili obicˇenie eresizˇidovstvujusˇcˇich; Tvorenie prepodobnogo otca nasˇego Iosef, igumena Volockogo (Prosvetitel) (Slovo 7). 166 Prokopovicˇ, Das Recht des Monarchen, S. 35. 167 Prokopovicˇ, Rußlands Thränen, Hamburg 1726. 168 Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Russland, S. 334. 169 Härtel, Byzantinisches Erbe und Orthodoxie bei Feofan Prokopovicˇ, S. 63. 170 Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 41. 165
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c) Der Herrscher als Garant für das Allgemeinwohl Obwohl die individualistische Ausgangsvorstellung des Naturrechts in Russland ausgeblendet bleibt, wird das Naturrecht zu einem objektiven, den individuellen Willen des Einzelnen bindenden Gesetz.171 Herrschaftsziel Peters I. war die Sorge um das Gemeinwohl (obsˇcˇe blago), das begrifflich mit dem „Nutzen des ganzen Staates“ (vsenarodnaja polza) gleichgesetzt ist. Diese Idee, die aus der vorchristlichen griechischen Staatsvorstellung nach Rom (bonum communae bzw. salus populi) und nach Russland gelangte, wo sie von Iosif Volockij aufgegriffen wurde, gelangt nun erneut über das Werk Thomas Hobbes zu Peter dem Großen.172 Im „Leviathan“ ist das Wohl des Volkes Richtschnur für die Aufgaben und Pflichten des Herrschers.173 Inhaltlich wird das Allgemeinwohl durch den Willen Gottes und das Naturrecht, das der Zar in positives Gesetz zu fassen hat, ausgemacht.174 Dieses ist der Grund für einen Gesellschaftsvertrag und die damit einhergehende Staatsgründung. Peter selbst sagt, er wolle so regieren, „dass jeder Einzelne unserer treuen Untertanen fühlen kann, wie unsere einzige Absicht darin besteht, dass wir uns intensiv um ihren Wohlstand und ihren Zugewinn kümmern und deshalb alle ihre Mittel und Wege nutzen werden, die zur Erreichung dieses ruhmreichen Zwecks auf irgendeine Weise dienen können.“175 Auch aus den Schriften Prokopovicˇs geht das Wohl des Gesamten als politisches Ziel hervor. So fasst Prokopovicˇ in seiner Lobrede auf die Leistungen Peters diese mit den zwei Merkmalen zusammen: „des Volkes Nutzen, und des Landes Sicherheit“.176 Es wird auch deutlich, was sich nach Prokopovicˇ dahinter verbirgt: Unter dem Nutzen, Gewinn und Vorteil für das Vaterland, den Peter in seiner Regierungszeit erzielt hat, nennt Prokopovicˇ zunächst ausführlich die Kriege und Eroberungen. Anschließend erst geht er auf Wirtschaft und Gesetzgebung ein.177 Hinsichtlich der Gesetzgebung erwähnt Prokopovicˇ vor allem das Strafrecht, das der „Sicherheit seiner Bürger“ dient.178 Insgesamt kommt zum Ausdruck, dass das Ziel der große militärisch und wirtschaftlich starke Staat und dessen dauerhafte Stabilität ist. Durch diese Abstraktion auf „das Gesamte“ hat der Herrscher Spielraum, den Begriff des Allgemeinwohls als staatliches Interesse beliebig mit Einzelinhalten zu füllen. Bestimmt wird der Inhalt des Allgemeinwohls nicht von der Allgemeinheit, sondern allein vom Zaren. Die inhaltliche Bestimmung des Allgemeinwohls ist Peter durch den göttlichen Ursprung seiner Macht möglich. Aufgrund seiner göttlichen Herkunft hat der Zar nach Feofan Prokopovicˇ die Macht, das Allgemeinwohl inhaltlich zu bestimmen und zu erkennen, 171 172 173 174 175 176 177 178
Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 41. Helmert, Der Staatsbegriff in der petrinischen Zeit, S. 62. Hobbes, Leviathan, S. 278 ff. Nersesjanc, Istorija politicˇeskich i pravovych ucˇenij, S. 431. Pisma i bumagi Petra Velikogo, Band II, S. 45. Prokopovicˇ, Russlands Thränen, S. 31. Prokopovicˇ, Russlands Thränen, S. 24 ff. Prokopovicˇ, Russlands Thränen, S. 32.
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was gut sei für das Volk.179 Prokopovicˇ idealisiert den Herrscher, nennt ihn „Vater des Vaterlandes“180 und sieht in ihm den Garant für das Allgemeinwohl. Vor diesem Hintergrund wird unter Peter I. der Wille des Herrschers in Form des Ukaz ganz offiziell die einzige Rechtsquelle des Staates.181 Nach Prokopovicˇ ist Gesetz, dass „Seine Majestät ein Selbstherrschender Monarch ist, der niemanden auf der Welt über seine Handlungen Rechenschaft abzulegen hat, sondern die Macht und Gewalt besitzt, seine Staaten und Länder – als christlicher Herrscher – nach eigenem Wollen und Gutdünken zu regieren.“182 Indem er aus Elementen russischer Tradition und modernem Staatsdenken das gedankliche Grundgerüst für die umfassende Staatsgewalt in Händen des Herrschers schuf, wirkte er eindeutig herrschaftsstabilisierend für die russische Monarchie.183
d) Selbstherrschaft als nach innen unbeschränkte Macht Deutlicher als Ivan IV. begreift Peter I. die Selbstherrschaft als innenpolitische Herrschaftsorganisation im Sinne ungeteilter Macht. Im Untertaneneid, den Beamte und Soldaten dem Kaiser leisten mussten, wird von den zu „Seiner Zarischen Hoheit Selbstherrschaft, Stärke und Macht gehörenden Rechten und Prärogativen“ gesprochen.184 In Art. 20 der Militärgesetze heißt es: „Seine Majestät ist ein souveräner (samovlastnij) Monarch, der von niemanden in der Welt abhängig ist und die Autorität hat, seinen Staat als christlicher Souverän nach seinem Willen und Verstand zu regieren“.185 Die deutsche Übersetzung zu Art. 18 setzt für „samovlastnij Monark“ „unumschränkter eigenmächtiger Monarch“ ein. Im gleichen Jahr wird im Marinereglement ebenfalls von „samovlastje“ gesprochen, an die Stelle des Begriffs tritt im darauf folgenden Jahr der Begriff „samoderzˇavije“ (Selbstherrschaft): „Die Macht des Monarchen ist eine selbstherrliche, der zu gehorchen Gott selbst dem Gewissen befiehlt; doch haben die Monarchen ihre Ratgeber, nicht nur zur Erforschung der Wahrheit (prawda), sondern damit auch unbotmäßige Leute nicht lästern, dass der Monarch dieses oder jenes nach seiner Macht oder nach seiner Neigung, nicht nach Recht und Wahrheit befiehlt.“186 Hier ist der Begriff autokratisch, wenn auch zunächst als „samovlastnij“ und nicht als „samoderzˇavnij“, Ausdruck für die absolute unbeschränkte Macht nach innen. Als Ausdruck der verinnerlichten Alleinherrschaft ruft Peter I. nie eine Reichsversammlung ein und schafft im Jahr 1700 die Bojarenduma ab. Stattdessen setzt er 1711 179 180 181 182 183 184 185 186
Prokopovicˇ, Das Recht des Monarchen, S. 27. Prokopovicˇ, in: Rußlands Thränen, S. 17. Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 8. Prokopovicˇ, Das Recht des Monarchen, S. 27. Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Russland, S. 328. Zitiert nach Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Russland, S. 152 f. Kniga Ustav Voiinski, St. Petersburg 1719, Art. 20. Zitiert nach Maurach, Der russische Reichsrat, S. 139.
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den Senat ein, der als Verwaltungsorgan den Zaren unterstützte und vor allem während der Abwesenheit Peters in Kriegszeiten die Regierungsgeschäfte führte.187 Insofern war der Senat kein demokratisches Organ mit Teilhaberechten an der Macht. Die Mitglieder wurden vom Zaren ernannt und mussten unter seiner Kontrolle ihre Dienstpflicht ihm gegenüber erfüllen. Der Unterschied der Selbstherrschaft unter Peter I. und Ivan IV. besteht einerseits in ihrer Begründung: Während Ivan IV. sich hinsichtlich seiner autokratischen Regierung vor allem auf den göttlichen Alleinvertretungsanspruch auf Erden berief und den Sinn in der Schaffung einer göttlichen Ordnung auf Erden sah, begründete Peter die Selbstherrschaft mit einer russischen Rezeption des Gesellschaftsvertrags und dem Ziel, des Allgemeinwohl, das Wohl des Gesamtstaates zu realisieren. Damit gewinnt eine etatistische Grundeinstellung Raum, wonach nicht mehr die göttliche Ordnung, sondern der nach innen und außen starke russische Staat Ziel des Politischen ist. An die Stelle der christlichen Gemeinschaft tritt mehr und mehr die staatliche Einheit. Umgesetzt wird diese Einheit durch den Selbstherrscher, der den einheitlichen Staat garantiert. 4. Die These von der Selbstherrschaft als besonderer russischer Bedingung territorialer Integrität a) Die Ganzheit des Reiches als Rechtfertigung staatlicher Macht im Selbstbild russischer Herrscher aa) Ivan IV. Der Gedanke der einheitlichen Herrschaft als richtiger Herrschaftsform im Gegensatz zur Herrschaft von Vielen ist bereits ein wesentlicher Ansatzpunkt Ivans IV. in seiner Auseinandersetzung mit dem Aristokraten Kurbskij. Die Herrschaft von Vielen ist für ihn gleichbedeutend mit Verfall. Im Zerfall des Oströmischen Reiches sieht er deutlich ein Bild der Gefährdung der christlichen Idee. Ivan schreibt die Bibel zitierend: „Wehe der Stadt, über die viele herrschen, siehst Du, wie der Herrschaft vieler gleich der Weibertorheit ist: wenn sie nicht unter der Alleinherrschaft sein werden, so ist es, wenn sie auch stark, wenn sie auch tapfer, wenn sie auch verständig ist, dennoch ähnlich der Weibertorheit.“188 Nur die Unterwerfung unter den Alleinherrscher bietet eine Garantie für innere und äußere Stärke: „Wenn die Untergebenen dem Zaren nicht gehorchen, werden sie niemals von brudermörderischen Kämpfen absehen, durch welche die Reiche verfallen“, denn „wer kann Kämpfe gegen die Feinde führen, wenn das Land in Bruderkämpfen zerrissen ist. Gleichwie ein Baum, wie kann er blühen, wenn seine Wurzel dürr ist. Je mehr ein Anführer ein Regiment befestigt, desto mehr wird er Sieger 187 188
Maurach, Der russische Reichsrat, S. 40 f. Stählin, Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij, S. 49.
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sein.“189 Die Herrschaft von vielen schaffe Uneinigkeit und Schwäche und führe so in den Untergang, weil Herrschaft von vielen nur vom Eigenwillen der Vielen geleitet sei. Daher sei die Alleinherrschaft die ideale Staatsform, um das Land zusammenzuhalten.190 bb) Peter I. Unter Peter dem Großen wird dieser Aspekt zur tragenden Rechtfertigungsidee der Selbstherrschaft. Selbstherrschaft war für ihn deshalb die richtige Herrschaftsform, weil sie allein in der Lage sei, das Land zusammen zu halten.191 Durch die teilweise Säkularisierung seiner Herrschaftsvorstellung sieht er sich nicht nur als Beschützer der christlichen russischen Gemeinschaft, sondern als Garant der territorialen Ganzheit des Staates. Feofan Prokopovicˇ führt aus, dass zu dem von ihm in Russland maßgeblich gestalteten Allgemeinwohlgedanken als Staats- und Herrschaftsziel auch die „Ganzheit des Vaterlandes“ (celost otecˇestva) zähle. Darunter versteht er nicht nur die Verteidigung des russischen Territoriums gegen Feinde von außen, sondern auch die Unterdrückung innerer Widerstände.192 So gründet die Verpflichtung Peters als Herrscher für Prokopovicˇ nicht nur auf dem „Nutzen des Volkes“ sondern gleichermaßen auf der „Sicherheit des Landes“, die Teil des Nutzens ist.193 Insofern argumentiert er, die Kriege gegen die Schweden und die Wiedererlangung der alten Gebiete dienten dem Allgemeinwohl, weil sie den ganzen Staat stärkten. Zusätzlich sah er im Kampf gegen die Türken die Verteidigung des orthodoxen Glaubens, die wiederum dem allgemeinen Wohl diente. Das Ziel der äußeren Einheit rechtfertigt auch die Durchsetzung innerer Einigkeit. Dementsprechend begründet er das Vorgehen gegen die Aufständischen in Astrachan von 1705/1706 und am Don 1707/1708, innerer Unfriede hätte den Feinden genützt, und damit die Ganzheit des Vaterlandes beeinträchtigt. Zur Verteidigung des Staatsziels „territoriale Einheit“ erlaubt er dem Monarchen gegen diejenigen vorzugehen, die die Einheit gefährden. Feofan Prokopovicˇ merkte an: „Welche Freude aber bleibt dem Vaterland, das von den äußeren Feinden befreit wurde, wenn wir nicht aufhören, uns selbst gegenseitig mit Neid, Feindschaft, Schmähreden und anderen Werkzeugen der Bosheit zu bekämpfen.“194 Für Kritik am Herrscher hatte Prokopovicˇ kein Verständnis, jede innenpolitische Auseinandersetzung war für ihn schädlich, weil sie das übergeordnete Ziel, die Ganzheit des Staates beeinträchtigte. Angesichts des Todes von Peter dem Großen beschwört er die Erhaltung von „Frieden, Ruhe und Einigkeit“ in Russland.195 189 190 191 192 193 194 195
Stählin, Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij, S. 69. Stählin, S. 43 ff. Utechin, Russian Political Thought, S. 43. Prokopovicˇ, Socˇinenija, S. 38, 56, 101; PSZ VII, S. 615, 624, 629. Prokopovicˇ, Rußlands Thränen, S. 31. Prokopovicˇ, Socˇinenija, S. 54, 59. Prokopovicˇ, Rußlands Thränen, S. 44.
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cc) Katharina II. und die russische Rezeption Montesquieus In Fortführung dieser Gedanken begründet Zarin Katharina II. (1763 – 1769) ihre Herrschaft. Noch deutlicher als Peter der Große legitimiert sie ihre Selbstherrschaft mit Argumenten, die vom westlichen Rationalismus beeinflusst sind. Die Rechtfertigung von Selbstherrschaft durch Erhaltung territorialer Einheit als Teil des Allgemeinwohlgedankens findet sich im Manifest vom 6. Juli 1762, mit dem sie ihre Thronbesteigung nach der ungeklärten Absetzung Kaiser Peters III. bekannt gab. Hier begründet sie die gewaltsame Machtübernahme als „Zwang“, um Gefahren abzuwenden, die das Land während der Regentschaft ihres Vorgängers bedrohten. Nach dem Manifest sollte die Machtübernahme das Land vor weiteren Risiken, wie der Schwächung des orthodoxen Glaubens, vor der Zerstörung von Ruhm und Ehre Russlands, dem Umsturz der inneren Ordnung und vor dem fast schon unabwendbaren Zusammenbruch des Reiches schützen. Namentlich sieht sie eine Bedrohung der „Einheit des ganzen Vaterlandes“ durch die „Unterjochung“ und das „Daniederliegen der inneren Ordnung“,196 durch die sie sich genötigt sieht, den Thron als „Selbstherrscherin aller Reussen“ zu besteigen. Damit macht sie deutlich, dass die Ganzheit des Territoriums ein schützenswertes Ziel ist. Erstmals ist die „Einheit des Staates“ ausdrücklich Herrschaftslegitimation. Aus dem Text des Manifests wird deutlich, dass der Begriff „Einheit“ die Ganzheit des Territoriums sowie innere Ordnung umfasst, die die Ganzheit garantiert. Der Schutz der Einheit des Territoriums legitimiert für Katharina, wenn auch einmalig, gar ein Widerstandsrecht. Diese Vorstellungen werden später konkreter in ihrem staatsrechtlichen Werk, dem „Nakaz“ (Große Instruktion) niedergelegt, der im Jahr 1767 mit über 20 Kapiteln Katharinas Vorstellungen von den Grundlagen, dem Aufbau und den Aufgaben des Staates wiedergibt. Von Staatsphilosophen wie Montesquieu, Bielfeld und Bacceria beeinflusst,197 legt sie ihre Überlegungen zum Staatsaufbau vor, die deutlich die Handschrift der Aufklärung tragen.198 In den Instruktionen verbindet sie das Prinzip Selbstherrschaft als Voraussetzung für staatliche Einheit mit den besonderen geographischen Gegebenheiten in Russland. Erstaunlich ist dabei aus westlicher Sicht, dass die Lehre Montesquieus, die im Westen eng mit der Gewaltenteilung verbunden ist,199 in Russland zur Legitimation der Selbstherrschaft herangezogen wird. Montesquieu hatte mit der Herausgabe seines berühmten Werkes „Vom Geist der Gesetze“ 1758 beabsichtigt, einen allgemeingültigen Schlüssel zum Verständnis der Verfassung und der Verfassungsentwicklungen zu geben.200 Im III. und IV. Buch vom „Geist 196
Hier zitiert nach: Bilbassoff, Geschichte Katharina II., Band II. Masaryk zitiert Katharina II. mit den Worten: „Wenn ich Papst wäre, würde ich Montesquieu zum Heiligen ernennen!“, Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 60. 198 Druzˇinin, in: Arentin (Hrsg.), Aufgeklärter Absolutismus, S. 322. 199 Statt vieler: Merten (Hrsg.), Gewaltentrennung im Rechtsstaat, zum 300. Geburtstag von Charles de Montesquieu, Berlin 1989. 200 Vorwort von Forsthoff zu Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band I, S. XVIII. 197
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der Gesetze“ charakterisiert er vier verschiedene Regierungsformen (die Despotie, die Monarchie, die Aristokratie und die Demokratie), die er jeweils bestimmten Zuständen im Staat zuordnet. Während in der Despotie die Furcht herrsche, sei die Demokratie von der Tugend gekennzeichnet. Im XIX. Buch nimmt Montesquieu die verschiedenen Geisteshaltungen der Völker zum Ausgangspunkt seiner soziologischen Studie über die Voraussetzungen des Rechts und kommt zum Ergebnis, dass die richtige Ordnung auf die jeweiligen Bedingungen des Staates angepasst werden müsste. Lehrreich für den Gesetzgeber hält Montesquieu dabei die Aussage Solons, der dem Volk das beste Gesetz gegeben habe, „das dieses vertragen konnte“. Damit geht einher, dass Montesquieu davon ausgeht, dass man einem Volk eine andere politische Ordnung nicht aufzwingen kann, denn dies würde eine Änderung der Geisteshaltung voraussetzen: „Es ist ein Hauptgrundsatz, dass man in einem despotischen Staat niemals an Sitten und Gebräuchen etwas ändern darf; denn nichts würde schneller eine Revolution herbeiführen. Das kommt daher, dass es in diesen Staaten sozusagen keine Gesetze, sondern nur Sitten und Gebräuche gibt; und wenn man sie umstürzt, so stürzt alles zusammen.“201 Zunächst müsste sich also die Geisteshaltung ändern. Gleichermaßen wichtig sind die geographischen Bedingungen. Während die Demokratie an die Tugend ihrer Bürger, deren Bindung an die Ordnung und die Bereitschaft zu Mitarbeit gebunden sei, setze „ein großes Reich eine despotische Gewalt seines Herrschers voraus. Die Schnelligkeit der Entscheidungen muss die weiten Entfernungen der Orte, wohin sie gehen, ausgleichen; Furcht muss die Nachlässigkeit des Statthalters oder des Beamten hinan halten, das Gesetz muss in der Hand eines Einzelnen liegen und sich unaufhörlich ändern, wie die äußeren Ereignisse, die in einem solchen Staat sich immer im Verhältnis zu seiner Größe vervielfältigen“.202 Daraus folgt für ihn, „dass der Staat, um die Prinzipien der bestehenden Regierungsform bewahren zu können, seine bisherige Größe beibehalten muss, und dass dieser Staat sein Wesen ändern wird, je nachdem sein Gebiet verengt oder ausgedehnt wird.“203 Diese Ausführungen über die soziologischen und geographischen Grundlagen der gerechten Ordnung werden für Katharina II. sinnstiftend. Sie greift sie in den Instruktionen auf: „die natürlichsten Gesetze sind diejenigen, deren besondere Einrichtung des Volks, für welche sie gemacht werden, am gemäßesten sind“ (Nr. 5). Entscheidende Bedeutung hat deswegen die Lehre Montesquieus von den objektiven Bedingungen eines Landes: Für ein großes Land sei die Despotie, in der ein einzelner Herrscher allein nach seinen Vorstellungen herrsche, die natürliche Regierungsform (Nr. 57 ff.). In Kapitel II stellt sie die Verbindung zwischen der Größe Russlands und der dementsprechend notwendigen Despotie her. Hier heißt es, dass sich das Russische Reich vom 32. bis zum 165. Breitengrad erstrecke (Nr. 8) und der Beherrscher eines solchen Landes unumschränkt sein müsse (Autokrator), denn „keine andere als eine nur in einer Person vereinte Macht kann auf eine der Weitläufigkeit eines so großen Reiches 201 202 203
Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band I, Buch XIX, Kapitel 12. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band I, Buch VIII, Kapitel 19. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band I, Buch VIII, Kapitel 20.
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gemäßere Weise wirken“ (Nr. 9). Ausführlicher begründet wird die Notwendigkeit unumschränkter Macht mit der dadurch garantierten Schnelligkeit von Entscheidungen, die die durch die weiten Entfernungen bedingte Langsamkeit ausgleichen soll (Nr. 10). Andere Regierungsformen würden den Untergang des Russischen Reiches herbeiführen (Nr. 11). Darüber hinaus wird ganz allgemein vermerkt, dass Einherrschaft grundsätzlich Erfolg versprechender sei als Vielherrschaft und der Monarch insgesamt die höchste Glückseligkeit seiner Bürger anstrebe, so dass diesen durch Autokratie auch gar keine Nachteile entstehen könnten.204 Ähnlich hatte Katharina sich bereits 1764 gegenüber dem Generalprokurator des Senats ausgedrückt: „Das Russische Reich ist zu groß, als dass eine andere Regierungsform als die autokratische zu ihm passen würde.“205 Geleitet vom Allgemeinwohlgedanken ist die Selbstherrschaft deshalb für Russland das effektivste Mittel der Durchsetzung von Politik. Diese Argumentation findet sich in abstrakter Form identisch bei Montesquieu.206 So übernimmt Katharina die Große zwar diese These von den „natürlichen“ Rechtsformen eines Landes, nicht aber den für die west- und mitteleuropäische Staatsrechtslehre entscheidenden Gedanken Montesquieus von der Bedeutung der Gewaltenteilung mit dem Ideal des freien Staates.207 Schranke des Monarchen ist für Katharina II. allein eine strenge Selbstbeschränkung des Herrschers. Ziel ist es, dem Einzelnen aus ihrem christlichen Glauben heraus soviel Gutes zu tun, wie möglich. „Gutes“ ist für sie Wohlfahrt, Ruhm, Glückseligkeit und Ruhe (Nr. 1, 2). Die Frage nach der Durchsetzung des Ziels ihrer Herrschaft – der Glückseligkeit ihrer Bürger bei ausschließlicher Selbstbeschränkung monarchischer Gewalt ohne Garantien für das Individuum – rettet sie mit einer eingeschränkten Vorstellung von Freiheit. Die Freiheit sei das Recht (pravo), das zu tun, was die Gesetze (zakony) erlauben (Nr. 38). So wurden die radikalen französischen Forderungen der Aufklärung hinsichtlich eines freien Staates mit beschränkter Machtausübung auf ihrem Weg nach Russland deutlich entschärft. Gleich wie bei Peter I. liegt die ratio des Staates für Katharina II. nicht zuerst im Wohlergehen des Einzelnen, sondern in dem nach innen und außen starken russischen Staat. Letztlich muss davon ausgegangen werden, dass Katharina für sich auch den Umkehrschluss aus den natürlichen Bedingungen eines Staates und den entsprechenden Folgerungen für die Staatsform beherzigt hat. So folgert Montesquieu im 20. Kapitel des achten Buches „Vom Geist der Gesetze“, dass der Staat um die Prinzipien der bestehenden Regierungsform bewahren zu können, die bisherige Größe beibehalten muss und dass der Staat sein Wesen, d. h. seine Regierungsform ändern müsse, würde er verengt werden. Daraus folgt für Russland, dass nicht nur die Größe des Lan204
Katharina II., Instruktionen, 1768, Nachdruck Frankfurt/Main 1970, keine Seitenan-
gaben. 205
Russkoe Istoricˇeskoe Obsˇestvo, Sbornik VII, St. Petersburg 1871, S. 347. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band I, Buch VIII, Kapitel 19. 207 Statt vieler: Merten (Hrsg.) Gewaltentrennung im Rechtsstaat, zum 300. Geburtstag von Charles de Montesquieu, Berlin 1989. 206
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des die Selbstherrschaft als richtige Regierungsform erfordere, sondern auch die Selbstherrschaft die Ganzheit des Territoriums erfordert, um richtige Regierungsform zu bleiben. Insgesamt wird deutlich, wie sehr die Herrschaftsvorstellung Katharinas durch den Versuch gekennzeichnet ist, ihre auf unsicherer Basis ruhende absolute Herrschaft mit einem aufgeklärten Programm zu legitimieren, die Macht aber nicht anders beschränken zu wollen, als durch Selbstbindung.208 So treten religiöse Argumente zwar eindeutig in den Hintergrund, die zentralistisch-autokratische Herrschaftsstruktur wird jedoch nicht angetastet. Noch klarer als bei Peter dem Großen ist mit den westlichen Ideen des rationalistischen Absolutismus an die Stelle der Errichtung der Gottesstaates die Errichtung eines idealen irdischen Staates getreten, dessen Macht und Größe der Herrscher aber weiterhin allein verpflichtet ist. Während Peter mit der Lehre Prokopovicˇs den Gesellschaftsvertrag als Grundlage nicht nur religiöser Begründungen, sondern bereits das „Allgemeinwohl“ als Ziel seiner Herrschaft heranzog, argumentierte Katharina inhaltlich fast ausschließlich rational mit den Besonderheiten Russlands. Selbstherrschaft wird nicht mehr mit der Garantie der Schaffung der christlichen Einheit eines Gottesstaates begründet, sondern mit der Erhaltung der Einheit des großen russischen Territoriums. Von ihren gebildeten Zeitgenossen wird diese Auffassung, die Autokratie sei die richtige Staatsform für Russland, im Allgemeinen akzeptiert. Dies geht beispielsweise aus den Aufzeichnungen des Deutschbalten Balthasar v. Campenhausen hervor, der im Jahr 1792 eine kurze Abhandlung über das russische Staatsrecht veröffentlicht. Darin schreibt er über die Regierungskrise 1730, in der Kaiserin Anna zu einer Beschränkung ihrer Macht gezwungen wird, dies sei „höchtsunrechtmäßig“, da für ein „so weitläufiges Land, als es das Russische sei“, die nicht auf unumschränkter Macht beruhende Regierungsform eine „höchstungeschickliche“ sei. Insofern sei es auch nicht verwunderlich, dass diese Krise nur zehn Tage dauerte, indem Anna, nach deren Verlauf, die „angestammte Souveränität“ auch wieder zugesichert wurde, „bey der sich auch ihre Nachfolger, zum Nutzen und Ruhm des Reiches, unverändert behauptet haben.“209 Auch in der russischen Rechtswissenschaft schließt man an die Ausführungen im „Nakaz“ an, die Fundament der Rechtslehre werden. I. V. Vasilev, Vertreter der „Praktischen Gesetzeskunde“ der Moskauer Schule210 schreibt 1826 in seiner „Anleitung zum Studium der russischen Gesetze“, dass jede andere als die autokratische Regierungsform für Russland nicht nur schädlich, sondern auch verderblich wäre,211
208 v. Arentin, Das Problem des aufgeklärten Absolutismus in der Geschichte Russlands, in: Hellmann (Hrsg.) Handbuch der Geschichte Rußlands, Band II, S. 856 f. 209 v. Campenhausen, Elemente des russischen Staatsrechts oder Hauptzüge der Grundverfassung des russischen Kayserthums, 1792, keine Seitenangaben. 210 Vgl. Silnizki, Geschichte des gelehrten Rechts in Russland, S. 352 ff. 211 Vasilev, Novejsˇee rukovodstvo k poznaniju Rossijskich zakonov, Band I, § 3.
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weil sie der Natur, der Breite der russischen Erde, dem Klima und Volk entspricht.212 Der russische Selbstherrscher müsse aufgrund der Weite des Landes Quelle der Legislative, der Judikative und der Exekutive sein.213 b) Die geschichtswissenschaftliche Begründung der These Die These, Russland bedürfe aufgrund seiner ethnischen und geographischen Bedingungen der Einherrschaft und jede Form von Polykratie sei schädlich, wurde in der aufkeimenden russischen Wissenschaft zentraler Gegenstand der Untersuchung. Die Geschichtsphilosophie, bzw. das interdisziplinäre Zusammenwirken von Historikern, Juristen und Philosophen setzt in Russland in der Zeit nach Peter dem Großen ein. Der lebendige Kontakt mit Europa ließ die Wissenschaftlicher die Andersartigkeit Russlands gegenüber dem Westen feststellen, woraufhin man begann, die Eigenständigkeit des Landes zu ergründen. Dabei versuchte man, die Besonderheiten des russischen Staates anhand der besonderen eigenen Geschichte zu begreifen. So wies der Historiker V. N. Tatisˇcˇev (1686 – 1750) beispielsweise in der Vorrede zu seinem historischen Werk darauf hin, auch die Gesetze des Landes seien nur mit historischer Kenntnis zu verstehen.214 Tatisˇcˇev gehörte der Schule Prokopovicˇs an und hatte dementsprechend eine Vorliebe für Pufendorf und Grotius. Die Geschichte war für ihn ein Prozess, der nach einem strengen Muster ablief, jedoch die nationalen Besonderheiten des Volkes berücksichtigte. Von dorther sei die Entwicklung in Russland anders verlaufen als in Westeuropa. Bedeutend erschien der Wissenschaft in diesem Zusammenhang die Verbindung von Einheit der staatlichen Gewalt und Einheit des Territoriums als Konstante der russischen Geschichte. Von Beginn der russischen Staatsgeschichte an sei das Bestehen und Wachsen des Staates mit der zentralistischen Alleinherrschaft verbunden. Aus dem zeitlichen Zusammenfallen der Überwindung der Teilfürstentümer mit dem neuen Selbstverständnis der Moskauer Großfürsten Mitte des 15. Jahrhunderts, die sich von da an „Selbstherrscher“ nennen, entsteht die These, dass nur die Autokratie die territoriale Einheit in Russland herstellen könne. Die Geschichtsschreibung kommt so zu der Auffassung, Alleinherrschaft sei die Bedingung des russischen Staates. Zum Ausdruck kommt dies in der berühmten These Tatisˇcˇevs, wonach der russische Staat anfangs unter Vladimir eine große geeinte Erbmonarchie war, dann durch Erbteilung Verfall eintrat, der zur mongolischen Unterjochung führte: „Damals brachen die Tartaren ein und beherrschten alle; die Litauer rissen einen unter die Vielherrschaft geratenen Teil vom Staate los. Und so verblieb der russische Staat über zweihundert Jahre in tatarischer Sklaverei“, bis Ivan III. die demokratische Vielherrschaft wieder abgeschafft und Russland nach dem Kiever Vorbild geeint und stark
212 213 214
Vasilev, Novejsˇee rukovodstvo k poznaniju Rossijskich zakonov, Band I, § 1. Vasilev, Novejsˇee rukovodstvo k poznaniju Rossijskich zakonov, Band I, § 6. Tatisˇcˇev, Istorija Rossijskaja, Band I, S. 80.
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gemacht habe.215 Mit Montesquieu argumentiert er, dass die Demokratie für kleinere Staaten durchaus legitim sei und größere Staaten, die jedoch keiner Bedrohung von außen unterlägen, sich die Aristokratie leisten könnten, große Staaten aber, die Angriffe von Nachbarn erwarten könnten, bedürften der Monarchie.216 Auch das Werk des bedeutenden russischen Historikers V. O. Klucˇevskij (1841 – 1911), der durch Zar Nikolaus II. später am Verfassungsgebungsprozess Anfang des 20. Jahrhunderts beteiligt wird,217 durchzieht die Idee der einheitlichen Macht als Erfolgsprinzip des russischen Volkes. Wie wenig Sympathie Klucˇevskij für die ständigen Wechsel in den Herrschaftsverhältnissen während der Epoche der Teilfürstentümer aufbringt, zeigt sich, wenn er schreibt: „Im Leben des alten Kijew gab es viel Unordnung, viel unnützes Getue“ „die sinnlosen Schlägereien der Fürsten“ wie Karamzin sich ausdrückt, „waren geradezu zur Volksplage geworden.“ Getrennt und lokal zu agieren bedeutet für Klucˇevskij schwach zu sein, positiv bewertet er das „geschlossene Zusammenwirken“.218 Diese These verbindet Tatisˇcˇev mit seinen Ergebnissen aus dem Studium der alten Quellen und dabei insbesondere aus dem Studium der ältesten Chronik, der sog. Nestorchronik. Die frühesten Bestandteile der Nestorchronik wurden zwischen 1113 und 1118 als „Erzählung aus den vergangenen Jahren“ niedergeschrieben. Grundlage waren konzeptionelle und textliche Anleihen bei der byzantinischen Chronistik, die umfangreiche mündliche Sagentradition, frühere Aufzeichnungen sowie möglicherweise Fürstenpreislieder.219 Der Schwerpunkt der dort abgehandelten Frage „… woher das russische Land seinen Anfang nahm“ liegt auf dem Prozess der Entstehung der Einherrschaft und der territorialen Einheit Russlands. Der Chronist legt an einer Stelle den Fürsten des 11. Jahrhunderts in den Mund: „Weshalb richten wir unser Land zugrunde, indem wir untereinander streiten, und die Polovcer plündern unser Land und sind froh, wenn zwischen uns Streit ist.“220 Torke vermutet dahinter die Absicht der kirchlichen Autoren, der eigenen Zeit, die von territorialen Streitigkeiten und Kämpfen unter den Fürsten geprägt ist, ein Vorbild und ein Ziel zu bieten.221 So spielte die Kirche eine entscheidende Rolle für das Zusammengehörigkeitsgefühl nach der Christianisierung im Jahr 988. Dies manifestierte sich durch die Einheit der kirchlichen Organisation in Gestalt des Metropoliten in Kiev. So war die Kirche selbst immer einheitlich organisiert, der Metropolit nannte sich früh „Metropolit der ganzen Rus“.222 Gleichzeitig hatte die Kirche selbst großes Interesse an einem starken einheitlichen Russland, dessen Herrscher die christlichen Werte gegen die 215 216 217 218 219 220 221 222
Tatisˇcˇev, Istorija Rossijskaja s samych drevneyschych vremen. Zitiert nach Utechin, Russian Political Thought, S. 51. Pipes, Die Russische Revolution Band 1, 1992, S. 71. Kljucˇevskij, Geschichte Russlands, 1. Band, S. 205. Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 152. PSRL, Band I, Spalte 265. Torke, Lexikon der Geschichte Rußlands, S. 152. Stökl, Russische Geschichte, S. 61 f.
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mongolischen Heiden verteidigte. Daher rief sie zum Frieden auf und erinnerte immer wieder an die gemeinsame einmütige Vergangenheit unter Vladimir und Jaroslav.223 Vor diesem Hintergrund ist es auch zu verstehen, dass die Kirche die russische Kultur bewusst von der weströmischen abgrenzt und die Erinnerung an die byzantinischen Wurzeln wach hielt. Je deutlicher den orthodoxen Slawen diese Grenze war, umso stärker fühlten sie sich nach innen als Gemeinschaft. Die Chroniken stellen daher in verschiedenen Zusammenhängen die Einheit des russischen Landes als etwas Schützenswertes heraus. So betonten sie die anfängliche Zusammengehörigkeit zu Beginn der Nestorchronik. Dort heißt es im Eintrag für das Jahr 862 n. Chr. „Und sie begannen selbst über sich zu herrschen, und es war keine Gerechtigkeit unter ihnen. Und Sippe stand auf gegen Sippe, und es entstanden Fehden unter ihnen, und sie begannen Krieg gegeneinander zu führen. Und sie sagten untereinander: Lasset uns einen Fürsten suchen, der herrsche und der anordne nach ˇ ud, der Slovenen, der Krivicˇen und Recht!“ Die anschließende Aufforderung der C der Ves an die schwedischen Varäger lautet „Unser Land ist groß und hat Überfluss, aber es ist keine Ordnung in ihm! So kommt, Fürst zu sein und über uns zu herrschen!“224 Hier geht es insofern um eine Einheit im Sinne eines Einigseins ohne Streit. Dabei geht der Chronist bereits von einer grundsätzlichen Einheit des Territoriums aus, indem er die verschiedenen Völker von „unserem Land“ als einem Land sprechen lässt. Später dann weist die Nestorchronik noch deutlicher auf die Notwendigkeit von Alleinherrschaft als russisches Herrschaftsprinzip hin, das allein Einigkeit und Zusammenhalt des Territoriums sichert. Ein anderer Begründer der russischen Geschichtswissenschaft, der offizielle Hofhistoriker N. M. Karamzin (1766 – 1826)225 nimmt die These auf, indem er in seiner „Geschichte des Russischen Reiches“ die Ansicht vertritt, jedes Land bedürfe seiner besondere Regierungsform, die für das Russische aufgrund der Geschichte die Selbstherrschaft sei.226 Davon unabhängig widerspricht er dem Prinzip der Gewaltenteilung, das er mit verschiedenen Löwen an einer Kette vergleicht, die sich gegenseitig verletzen.227 Damit die einzelnen Mächte sich in Russland aber nicht ebenso zerfleischen, bedürfe es eines einzelnen starken Herrschers, der alles im Land verbindet. Auch Karamzin verweist auf die russische Geschichte, die gezeigt habe, dass die zentralistisch-unitarische Herrschaftsform für Russland die richtige sei, da sie unter Ivan III. das Land von den Mongolen befreit habe, die Weite des Landes lasse freiere Herrschaftsformen nicht zu.228 Die zunehmende Herausbildung der russischen 223
Schramm, Altrusslands Anfang, S. 528. Müller, Nestorchronik, S. 19 f. 225 Sein Werk über die russische Geschichte wurde von seinen Zeitgenossen mit überwältigendem Erfolg aufgenommen. Puschkin sagte über ihn, er habe das alte Russland entdeckt, wie Kolumbus Amerika (zitiert nach Nersesjanc, Istorija politicˇeskich i pravovych ucˇenij, S. 546). 226 Utechin, Russian Political Thought, S. 45. 227 Zitiert nach Nersesjanc, Istorija politicˇeskich i pravovych ucˇenij, S. 547. 228 Zitiert nach Nersesjanc, Istorija politicˇeskich i pravovych ucˇenij, S. 546 ff. 224
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Selbstherrschaft erklärt er vor der geographischen Gegenüberstellung Russlands und Europas erneut mit der These, der weite Raum mit der relativ geringen Bevölkerung in Russland lasse keine andere Herrschaftsform als die strenge Zentralisierung zu. Ausgehend von der Frage, was Russland einig und stark gemacht habe, festigt die Geschichtswissenschaft insofern die These, die Selbstherrschaft sei die für Russland seiner Größe wegen notwendige Regierungsform. Die These, Uneinigkeit und Feindschaft aufgrund von Vielherrschaft der rivalisierenden Teilfürsten habe zur Unterjochung durch die Mongolen geführt und die Autokratie sei deshalb die richtige Staatsform für ein so großes Land wie Russland, wurde fortan bis nach Westeuropa zur opinio communis.229 Erst in jüngster Zeit wird die These, die Geschichte habe bewiesen, dass Russland nur durch Alleinherrschaft stark wurde, als nationaler Mythos widerlegt.230 Grund für diese den Zentralstaatsgedanken transportierende Wissenschaft ist sicherlich die Tatsache, dass sich die geistigen Zentren des Landes allein in den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg befanden. Erst später kamen andere Universitäten dazu. Es ist offensichtlich, dass eine derartige Zentrierung von Wissenschaft nicht nur eine Streitkultur durch belebende Konkurrenz zwischen den Hochschulen verhinderte, sondern vor allem der wissenschaftlichen Untersuchung der Bedeutung der Regionen im Wege stand. Diametral steht dem die deutsche Wissenschaftskultur entgegen, in der Universitäten über Jahrhunderte Aushängeschilder der Landesfürsten waren, miteinander im Wettkampf standen und aus dieser Tradition heraus zweifelsohne bis heute Garanten für einen ausgeprägten Föderalismus sind.
II. Staatliche Einheit im 19. Jahrhundert – Einheitsbildung im Staat als Ziel des Politischen 1. Der Staatsbegriff a) Die historische Rechtsschule231 und die staatliche Einheit Unabhängig von der oben dargestellten These, einheitlich organisierte Macht sei die notwendige Voraussetzung für die Fortexistenz des Russischen Reiches in seinen 229
Vgl. Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 1, Schultz, Rechtgeschichte,
S. 19. 230
Keenan, On Certain Mythical Beliefs and Russian Behaviours, S. 20. Die deutsche Bezeichnung „historische Rechtsschule“ geht auf Grothusen zurück (Grothusen, Die historische Rechtschule, Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Gießen 1962). Obwohl der Name eine inhaltliche Nähe zur deutschen historischen Rechtsschule unter Carl Friedrich v. Savigny (1779 – 1861) nahe legt, wird Recht in der russischen historischen Rechtsschule deutlich stärker aus dem philosophischen Geschichtsverständnis Hegels hergeleitet als in Anlehnung an Savigny. Während Savigny das Gewohnheitsrecht des Volkes zu kodifizieren suchte, stellte er den sog. „Volksgeist“ bewusst der „geschichtslosen“ Gesetzgebung des Staates gegenüber und verhalf dabei der 231
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Grenzen, gewinnt der Begriff „staatliche Einheit“ (gosudarstvennoe edinstvo) im 19. Jahrhundert in Russland zentrale Bedeutung. Die zentrale Bedeutung dieses Begriffs ist Ausdruck des radikalen Paradigmenwechsels, den die historische Rechtsschule232 in der russischen Staats- und Rechtstheorie vornimmt. Für sie steht nicht mehr allein die Form der Herrschaftsausübung im Mittelpunkt, vielmehr geht es stärker um die Beziehung des Einzelnen zur Gemeinschaft und um die Frage, wieweit der nationale Charakter eines Volkes diese Beziehung prägt. Entscheidend dafür ist insbesondere das Werk Boris Cˇicˇerins, der erstmals in der russischen Wissenschaft die Einzelpersönlichkeit an den Anfang seiner Vorstellungen von Staat und Rechts stellt. Dies führt ihn zu einem Konzept von staatlicher Einheit als einem Ordnungsprinzip, das alles Partikuläre zusammenfügt und dadurch dem Einzelnen Wohlergehen und dem Gesamten eine glückliche Zukunft garantiert. Die theoretische Entwicklung dieses Konzepts vollzieht sich in enger Auseinandersetzung mit Westeuropa. Die Suche nach dem besonderen russischen Wesen steht in enger Verbindung mit den Gedanken Friedrich W. J. Schellings (1775 – 1854), nach dem jedes Volk „Kraft und Macht“ durch seine „besondere Natur“ erhält.233 Diese Besonderheit sucht man, wie dargestellt, vor allem über die Betrachtung der eigenen Geschichte. Das in diesem Zusammenhang bedeutende Werk des großen russischen Historikers und Mitbegründers der historischen Rechtsschule S. M. Solovev (1820 – 1879) muss auch vor dem Hintergrund der Sorge seiner Zeitgenossen um die Rückständigkeit Russlands gegenüber Europa verstanden werden und wirkte überaus prägend für das Geschichtsverständnis der nachfolgenden Generationen in Russland.234 Seine Geschichtsanalyse wirkte, wie die gesamte nationale Geschichtsforschung, klärend für die dringend gewordene Frage nach dem eigenständigen Wesen (samostajatelnost) und nach der Selbständigkeit Russlands. Wie die Auseinandersetzung mit der nationalen Besonderheit ist auch die zunehmende Beschäftigung mit den Beziehungen des Einzelnen zur Gemeinschaft auf den Rechtswissenschaft als unabhängige Verkünderin des Volksgeistes zu Selbstbewusstsein. Hegel dagegen hielt die Abneigung gegen die Gesetzgebung für grundfalsch. Das vom Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee gesetzte Recht steht bei Hegel nicht im Widerspruch zum Volksbewusstsein. Vielmehr ist der Staat Mittel zur Verwirklichung der Idee des Weltgeistes, der Freiheit (vgl. zum Unterschied im Geschichtsverständnis Hegels und Savignys: Friedrich, Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive, S. 83 ff.). 232 Die russische sog. historische Rechtsschule wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von dem größten russischen Historiker dieser Zeit, S. M. Solovev und den beiden bedeutenden Juristen und Rechtshistorikern K. D. Kavelin und B. N. Cˇicˇerin gegründet, gilt als die bedeutendste geisteswissenschaftliche Schule des 19. Jahrhunderts in Russland, behauptete die gesamte bürgerliche russische Rechtstheorie dieser Zeit so gut wie ausschließlich und wirkt bis in die sowjetischen Zeit. Prägend ist der geschichtsphilosophische Ansatz und die Gesamtkonzeption vom einheitlichen Ablauf der russischen Geschichte, Grothusen, Historische Rechtsschule, S. 235. 233 Schelling, zitiert nach D. A. Chomjakov, Pravoslavie, Samoderzˇavie, Narodnost, S. 326. 234 Grothusen, Die historische Rechtschule, S. 227, 228, 230.
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Einfluss der deutschen Philosophie, vor allem die Identitätslehre Schellings zurückzuführen, wonach alles Seiende eine identische Einheit bildet.235 Noch stärker als in Westeuropa wird die Entdeckung des Gemeinsamen, der alles vereinenden Identität, im Rahmen einer zunehmenden Individualisierung für Russland sinnstiftend. Mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1871) ist für die russische historische Rechtsschule der Staat dieses die Identität prägende. Darauf baut sie die Vorstellung auf, dass das russische Volk sich erst im starken Staat vorteilhaft entwickeln kann, weil allein der Staat, als das Gemeinsame, in der Lage ist, ein sittliches organisches Zusammenleben zu organisieren. aa) Einheit der Geschichte Methodischer Ausgangspunkt der historischen Rechtsschule ist die Einheit der Geschichte. Dabei orientiert man sich an der Philosophie der Weltgeschichte Hegels, der die russische Wissenschaft zu dieser Zeit noch stärker als Schelling beeinflusst hat.236 Hegels Historizismus237 mit der Prämisse, aus der Geschichte die Gesetze der Völker zu entschlüsseln, wirkte gerade auf die Russen seiner Zeit überaus anziehend.238 So war die von Hegel perfektionierte wissenschaftliche Methode der Dialektik, der Synthesenbildung durch Überwindung der Gegensätze mit dem Ziel der totalen Einheit,239 der russischen Geisteswissenschaft vertraut. Insbesondere über die orthodoxe Kirche war über Jahrhunderte das Idealbild eines friedlichen Volkes in sozialer und politischer Ordnung gezeichnet worden, in der ohne Streit und Auseinandersetzung die christliche Ethik der Nächstenliebe, der Brüderlichkeit und der Geˇ icˇerin sah in Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie aufrechtigkeit herrscht.240 C grund der Synthese aus „individuellen und Gemeinschaftstheorien“241 die „Vollendung der ganzen vorhergegangen Entwicklung“. Immer wieder griff er daher Positivismus, Realismus und Rechtstheorien wie die Interessentheorie Jherings242 an und blieb bei der Einordnung der Metaphysik als wissenschaftlichem Kernstück.243 In Anlehnung an Hegel war die Philosophie der Geschichte für Cˇicˇerin das zentrale Element der rechtshistorischen Forschung. Philosophie und Geschichte bildeten für Höffe/Piper (Hrsg.), Schelling – Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 79 ff. ˇ icˇerin jedoch als der EinGrothusen, Die historische Rechtsschule, S. 57. Dabei gilt C zige, der das Gesamtwerk durchgearbeitet hat, weshalb er in Russland den Spitznamen „Hegel“ erhielt (Grothusen, Historische Rechtsschule, S. 121). 237 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I. 238 Vgl. Tschizˇevskij, Hegel in Rußland, in: Tschizˇevskij (Hrsg.) Hegel bei den Slawen, S. 145 ff., Sumin, Gegel kak sudba Rossii, S. 80 f. 239 Hegel schreibt 1801 in der „Kritik des Fichteschen und des Schellingschen Systems“, Werke 2, S. 29: „das Bedürfnis der Philosophie ist die Einheit“. 240 Garstka, Das Herrscherlob in Russland, S. 112. 241 ˇ Cicˇerin, Filosofija Prava, S. 22 f. 242 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 90. 243 Gurwitsch, Die zwei größten russischen Rechtsphilosophen Boris Tschitscherin und Wladimir Solowjew, in: Philosophie und Recht, Heft 2, S. 81. 235 236
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ihn ein Ganzes.244 Für die Rechtsgeschichte galt wie für das positive Recht: Einzelne Fakten und Gesetze, aber auch einzelne Individuen haben keine ewige Dauer. Wesentlich ist allein das dahinter stehende Entwicklungsgesetz.245 Der Rechtswissenschaftler Gradovskij, aus der späteren Generation der historischen Rechtsschule,246 war von dem Grundsatz der Evolution überzeugt, dass nicht nur für den Staat allgemein, sondern auch für die rechtsgeschichtliche Tradition und für jedes einzelne Rechtsinstitut, die Geschichte das oberste Prinzip des Verständnisses beinhaltete.247 Diese Erkenntnis beruhte auf der Hegelschen Vorstellung der Geschichte als organisch-notwendigem Entwicklungsprozess in dialektischer Form. Nach Hegel war die Geschichte ein langer Verlauf mit der Freiheit als Endzweck.248 In Erreichung dieser Bestimmung wird die Geschichte nicht vom Einzelnen gelenkt, sondern vom Weltgeist, Geschichte ist daher bei Hegel objektiver Geist. Hegel muss diesbezüglich vor der Vernunftgläubigkeit der in Westeuropa herrschenden Aufklärungsphilosophie gesehen werden. Gerade vor diesem Hintergrund versuchte Hegel herauszustellen, dass auch der vernünftige Mensch einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen ist. Mit einem philosophischen „was wirklich ist, ist vernünftig“ gießt er die Vernunft in eine positive Form und sucht die von Kant getrennten Begriffe „sein“ und „sollen“ wieder zu einem Ganzen zu verbinden.249 Angeregt durch die Hegel-Studien befasst sich die russische Wissenschaft mit der Frage, welches objektive Prinzip der russischen Geschichte innewohne. Dieses objektive Prinzip macht sie in der Gemeinschaft im Staat aus, aufgrund derer sich die russische Geschichte von der Geschichte anderer Völker unterscheide. Die Grundlage für den Unterschied zu den westlichen europäischen Völkern sah man in der Annahme des sog. „rodovoj byt“250 in Russland. Die Theorie des „rodovoj byt“ stützt sich ursprünglich auf den Dorpater Rechtsgeschichtler Ewers, der bei den Slawen das gemeinsame Eigentum und das fehlende Privateigentum feststellte. Diese Theorie beinhaltet, dass die Slawen in einer rod-Gemeinde zusammengelebt hätten, an deren Spitze der rod-Älteste stand.251 Das rodovoj byt war demzufolge eine vom Stammesältesten geleitete patriarchalisch-vorstaatliche Sippenverfassung, deren Rechtsstruktur durch das gemeinsame Eigentum des Stammes gekennzeichnet war.252 Als wesentliches Merkmal des rodovoj byt gilt die Ungeteiltheit zwischen Individuum 244
Zitiert nach Grothusen, Historische Rechtsschule, S. 128. Cˇicˇerin, Filosofija prava, S. 1 f. 246 Grothusen, Historische Rechtsschule, S. 177. 247 Grothusen, Historische Rechtsschule, S. 186 f. 248 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 60 f. 249 Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, S. 465. 250 „Rodovoyj“ ist das Adjektiv von „rod“, was Sippe bedeutet oder nach Solovev „die gleichzeitige Gesamtheit aller lebenden Sippenangehörigen“ (zitiert nach Grothusen, S. 75). Byt bedeutet „Sein“, „Existenz“ oder dem Sinngehalt nach in diesem Zusammenhang hier „Verfassung“. 251 Platonov, Lekcii po russkoj istorii, S. 54. 252 Grothusen, Die hstorische Rechtsschule, S. 111. 245
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und Sippe sowie entsprechend fehlende Rechtsbeziehungen des Einzelnen zu anderen Individuen und Sachen. Rechtssubjekt war allein der rod. Aus dieser Annahme des rodovoj byts, dem Zustand ungeteilter Einheit als Urform rechtlicher Organisation in Russland, entwickelten Kavelin und Solovev die Geschichte des Rechts in Russland. Der wesentliche Unterschied zwischen Russen und Westeuropäern liegt demnach in der Zugehörigkeit der Russen zum rod, während im Westen das Prinzip der Einzelpersönlichkeit schon früh zum Tragen gekommen sei. Deswegen sei die Geschichte in Russland stets von oben, vom Gesamtstaatlichen gestaltet worden, während die Entwicklung im Westen von unten über die Einzelpersönlichkeit und ihre Verbände bestimmt worden sei.253 Während er die angebliche Uneinigkeit der Zeit der Teilfürstentümer negativ einordnet, schwärmt Klucˇevskij auf der anderen Seite von der Zeit der Teilfürstentümer als Wurzel des gemeinsamen russischen Volkstums und des Gefühls, zueinander zu gehören: „Dafür hatten die Fürsten jener Zeit einen ausgesprochenen Familiensinn, richtiger gesagt, ein ausgeprägtes genealogisches Gefühl, hatten soviel Kühnheit und das Streben, ,entweder Ruhm zu erringen, oder für das russische Land das Leben zu lassen, an der gesellschaftlichen Oberfläche war so viel Bewegung, und die Menschen stehen Zeiten voller Gefühl und Bewegung nie gleichgültig gegenüber (…). Sie sahen sich immer von drohenden Gefahren und Schwierigkeiten umringt, die von außen und von innen sich häuften; sie fühlten immer deutlicher, dass sie mit ihren getrennten, lokalen Kräften nichts dagegen ausrichten zu können, und dass ein geschlossenes Zusammenwirken des ganzen Landes unbedingt erforderlich sei.“254 Er schreibt, die Fürsten „teilen sich den Machtbereich des Vaters untereinander auf als Idee der Unteilbarkeit des von der Familie gemeinsam beherrschten Gebietes.“255 Für bedeutend hält Klucˇevskij die Tatsache, dass in den frühen Schriftstücken nie vom russischen „Volk“, stattdessen aber immer vom „russischen Land“ gesprochen würde. „Das erwachende Gefühl der Volkseinheit klammert sich an das Territorium des Landes, nicht an die nationale Eigenart des Volkes. ,Volk, das war zwar noch ein komplizierter Begriff; er enthielt geistig-sittliche Merkmale, die dem damaligen Auffassungsvermögen noch fremd waren, die vielleicht noch nicht einmal hinreichend Gelegenheit gefunden hatten, innerhalb der russischen Bevölkerung ausreichend in Erscheinung zu treten.“256
bb) Der einheitsstiftende Charakter des russischen Volkes In der Staatstheorie spricht man dem russischen Volk die besondere Fähigkeit zu, einen Staat aus verschiedenen Völkern zu errichten und zu halten. Nach der Kolonisationstheorie gingen Kavelin und Aleksander D. Gradovskij von der großrussischen 253 254 255 256
Kavelin, Sobranie Socˇinenij, S. 566. Kljucˇevskij, Geschichte Russlands, 1. Band, S. 205. Kljucˇevskij, Geschichte Russlands, 1. Band, S. 173. Kljucˇevskij, Geschichte Russlands, 1. Band, S. 206 f.
II. Staatliche Einheit im 19. Jahrhundert
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Natur des russischen Staates aus. Wesentlich für den Aufstieg zu einem Großreich sei der zupackende Realismus des russischen Volkes gewesen. Nur damit löste es seine großen historischen Aufgaben, die Gründung des russischen Staates und die Kolonisation Nordrusslands und Sibiriens.257 b) Cˇicˇerin: staatliche Einheit als Freiheitsidee Besondere Bedeutung hat das Konzept staatlicher Einheit innerhalb der historischen Rechtsschule für den Juristen Boris Nikolaevicˇ Cˇicˇerin (1828 – 1904). Der Staat beinhaltet Sittlichkeit und Recht und ist deswegen Bedingung für die Freiheit. Auch dies stand im Einklang mit Hegel, bei dem der Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee Einheit von objektivem und subjektivem Geist, von Freiheit und Notwendigkeit ist. Der Staat ist für Hegel als sittliche Idee höchste Synthese von Individuum und Gesellschaft, von Recht und Moral, von Idee und Existenz. Der Staat bekommt die Fähigkeit, die vom freien Willen bestimmten, unterschiedlichen Subjekte im Staat miteinander zu verschmelzen und zu einem gemeinsamen Willen zu objektivieren. Dabei sind Individuum und Gesellschaft zunächst eigene Subjekte, denen der Staat als übergeordnetes Ich der Verklammerung dient. Staat und Gesellschaft sind dabei zweierlei. Der Staat verbindet nicht nur alle Bürger sondern auch die Gesellschaft mit der Staatsgewalt. Er wird selbst zu einem übergreifenden Subjekt. Als sittliche Idee ist der Staat das absolut Vernünftige, in dem sich die individuelle Freiheit erst entfalten kann. Da der Staat als Endzweck über allem Anderen steht, hat der Einzelne keine höhere Pflicht, als Mitglied dieses Staates zu werden.258 Dies beruht auf der idealistischen Überzeugung, dass sich im Einzelwillen mehr und mehr die Fähigkeit des reinen Denkens durchsetzt, die Zugang zu der wesentlichen Natur aller Dinge ist, so dass das Denken mit der Wirklichkeit identisch wird. Durch diese Objektivierung des Willens tritt an die Stelle eines „Tun und Lassen, was man will“ ein Wollen, das der allgemeinen Idee entspricht. Die Übereinstimmung des Einzelnen mit der Ganzheit ist somit Bestätigung seiner Freiheit.259 Subjektives Streben muss danach zu Willenseinheit im Staat führen. Im Staat findet subjektives Geistesleben freie und vollständige Vereinigung in der objektiven geistigen Wirklichkeit.260 Die Beziehung des Einzelnen zum Staat ist insofern vor allem ethischen Charakters.
257
Kavelin, Sobranie socˇinenij, S. 599. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258. Allerdings ist diese Totalität des Staates bei Hegel allein sittlich zu verstehen. Neben dem Konzept vom Staat als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 257) kennt Hegel auch den allein mit den Mitteln des Rechts gefassten bürgerlichen Vernunftstaat (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 183). 259 „Jener Begriff von Vereinigung von Pflicht und Recht ist eine der wichtigsten Bestimmungen und enthält die innere Stärke der Staaten“, Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 261. 260 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258. 258
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Die Einheit des Staates ist die ethische Antwort auf die Frage nach dem Wert der subjektiven Handlung.261 Im Staat als sittlichem Ganzen ist die Form der Wirklichkeit erreicht, in der das Individuum tatsächliche Freiheit genießen kann, weil der Staat allein Ort der Verwirklichung des Geistes ist. Als solcher umfasst der Staat alles und führt das Volk dialektisch auf eine neue Stufe und dem Endzweck Freiheit näher. Während der Urzustand Zustand des Unrechts ist, erlangt der Mensch durch den Staat geistige Wirklichkeit, der Staat allein macht ein Volk zu einem geschichtlichen Volk.262 Der Staat ist mit dem allgemeinen Willen ausgestatteter, alles umfassender Organismus. Nicht das partikuläre Interesse des Einzelnen ist letzter Zweck, sondern die Herausbildung eines freiheitlichen Staates ist die historische Aufgabe jeden Volkes. Dieses Hegelsche Konzept des Staates als wesentlicher Voraussetzung der Entwicklung wird in Russland von weiten Teilen der Intelligenz übernommen. Die Herstellung von staatlicher Einheit wird nicht nur das besondere geschichtliche Prinzip des russischen Volkes, sondern in Anlehnung an Hegel auch als Voraussetzung für die zukünftige Entwicklung des russischen Volkes angesehen. Zum Ausdruck kommt dies in einer Äußerung des Philosophen Vladimir Solovevs 1884 über die entsprechenden Ausführungen in der Nestorchronik: „ohne den von den Warägern gebrachten Keim der staatlichen Organisation“, „wären wir von den Ungläubigen geknechtet und von den Deutschen verschlungen worden“.263 ˇ icˇerin entspricht den Hegelschen Vorstellungen, wenn er schreibt, dass Boris C das Volk den Staat in sich trage und die Ausbildung des Staates auf eine höhere Stufe geschichtlicher Entwicklung führe: Komme der Staat nicht zur Ausbildung, so bliebe das Volk geschichtslos.264 Dies erklärt, warum der Herausbildung der Moskauer Vormachtstellung, unter dem Begriff von der „Sammlung der russischen Erde“ eine so bedeutende Rolle zukam und weshalb die Wissenschaft die Frage nach den Ursachen dieser Vereinigung als wichtigste historische Frage überhaupt einstufte.265 So ist der Staat als Instrument notwendig, um dem Menschen auf eine höhere Stufe zu verhelfen.266 Volk, Staat und Einzelpersönlichkeit bilden zusammen den „ganzen
261 „Auf die Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit im Staate kommt alles an. In den alten Staaten war der subjektive Zweck mit dem Wollen des Staates schlechthin Eins, in den modernen Zeiten dagegen fordern wir eine eigene Ansicht, ein eigenes Wollen und Gewissen. (…). Die Bestimmungen des individuellen Willens sind durch den Staat in ein objektives Dasein gebracht und kommen durch ihn erst zu ihrer Wahrheit und Verwirklichung. Der Staat ist die alleinige Bedingung der Erreichung des besonderen Zweck und Wohls.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 261. 262 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 86 ff. 263 Solovev, Dt. Gesamtausgabe, Band IV, S. 43. 264 ˇ Cicˇerin, Filosofija Prava, S. 233, genauso Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 86. 265 Kavelin, Sobranie socˇinenij, S. 432. 266 ˇ Cicˇerin, Filosofija Prava, S. 223, 304, 228 f.
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Organismus“, dessen innere Harmonie das höchste Ziel ist.267 Innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen nimmt der Staat die höchste Ebene ein, weil er nicht nur die Gesamtheit aller Menschen, sondern auch aller Ziele darstelle.268 ˇ icˇerin neben Hegel auch Kant anerkennt, sagt er, das Kennzeichen einer Indem C zur Freiheit gelangten Gesellschaft sei die Einsicht in die Notwendigkeit, dem Staat und seinen Gesetzen Gehorsam im Sinne einer freiwillig zu leistenden Pflicht schuldig zu sein.269 aa) Die persönliche Freiheit als Ausgangsidee staatlicher Einheit Schlüssel für diesen etatistischen Ansatz bildet interessanterweise ausgerechnet die im Rahmen der russischen Geistes- und Soziallehre liberale270 Überzeugung ˇ icˇerins. So war es gerade Cˇicˇerin, der als einer der ersten russischen Juristen das C menschliche Individuum an den Anfang staatlicher Entwicklung stellte. Anders als ˇ icˇerin nicht das Volk als für Staatsrechtler früherer Zeit wie Prokopovicˇ stand für C Gesamtheit am Beginn der Staatswerdung, sondern entsprechend der von ihm ausführlich rezipierten westlichen Gesellschaftsvertragslehre271 die Einzelpersönlichkeit. Für die russische Wissenschaft ist diese Umkehrung, wonach der Einzelne die Gesamtheit erst bildet und der Mensch und seine Freiheit somit am Beginn stehen muss272 eine fundamentale Neuerung. Allerdings erklärt Cˇicˇerin diesen neuen Ansatz im Gegensatz zu Hegel theologisch: So begründet er diesen Schritt mit der christlichen Menschenwürde, welche den Menschen als Abbild Gottes erklärt.273 Deshalb ist für ihn der Mensch das Absolute.274 Der von Hegel übernommene Begriff der Absoˇ icˇerin zentral. „Die ganze lutheit als Endergebnis der Entwicklung ist auch für C menschliche Entwicklung zeichnet sich durch ihre Entwicklung zum absoluten Geist aus“.275 Anders als Hegel geht er aber davon aus, dass die Ganzheit des Absoluten nicht nur am Ende, sondern auch am Anfang der Entwicklung steht. Vor dem Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, 1882, S. 268. Cˇicˇerin, Filosofija Prava, S. 237. 269 ˇ Cicˇerin, Filosofija Prava, S. 22. 270 Gerade aufgrund der hier dargestellten Staatsvorstellungen Cˇicˇerins muss über die Einstufung als „Liberaler“ selbstverständlich gestritten werden. Der Begriff wird hier gebraucht, um eine für Russland ungewöhnliche Freiheitsorientiertheit zu unterstreichen, kann aber insgesamt nicht ohne Bedenken verwendet werden, da Cˇicˇerin die Freiheit vor allem als Ziel einer organischen Entwicklung im Staat begreift. 271 ˇ Cicˇerin, Istorija politicˇeskich ucˇenij, Ersterscheinung 1869. 272 ˇ Cicˇerin, Filosofija prava, S. 38, Sobstvennost i gosudarstvo, 2005, S. 49. 273 ˇ Cicˇerin, Filosofija prava, S. 59, der religiöse Aspekt unterscheidet Cˇicˇerin deutlich von Hegel, ohne dass er dabei an die Religiosität der Slawophilen herankäme. Gott ist für ihn allein als höchststehende Person und Schöpfer des Menschen bedeutend, ansonsten versucht er, Staat und Religion zu trennen (Evlampiev, Einleitung zu Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 9, Sumin, Gegel kak sudba Rossii, S. 81). 274 ˇ Cicˇerin, Filosofija prava, S. 59. 275 ˇ Cicˇerin, Nauka i religia, S. 83, Filosofija prava, S. 59. 267
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Hintergrund der dialektischen Methode276 kommt dies darin zum Ausdruck, dass er die dreistufige Dialektik Hegels um eine vierte ergänzt: Weil er nicht akzeptieren will, dass die Einheit aus einem Gegensatz entspringt, legt er vor These und Antithese die erste Stufe der ursprünglichen Einheit, die immer fortwirkt. Auf die Stufe der ursprünglichen Einheit folgte eine zweistufige Aufspaltung, aus denen sich dann ˇ icˇerin auf eine erneute vollkommenere Einheit bildet.277 Diese Dialektik wendet C den Gemeinschaftsbegriff an: die ursprüngliche Gemeinschaft der Menschen trennt sich dabei durch die Entwicklung von Recht und Sittlichkeit, um sich wieder in der Einheit von Familie, bürgerlicher Gesellschaft, Kirche und Staat zusammenzufügen278. Dies korrespondiert mit der damals herrschenden Auffassung, alle Entwicklung in Russland rühre aus der ursprünglichen gemeinschaftlichen Einheit als Urˇ icˇerins Dialektik zeichnet sich durch eine Betonung Prinzip des Russischen her.279 C der organischen Evolution der Geschichte aus. Unruhen und Umstürze bedeuteten für ihn einen Eingriff in die gesetzmäßige Ordnung, sie waren Sprünge (skacˇki) in der organischen Entwicklung.280 Insofern sah er in der Forderung des Marxismus nach einer sozialen Revolution das größte Beispiel der „Dummheit in der Weltgeschichte“.281 Gleichermaßen abstrakt sieht er die Entwicklung des Einzelmenschen: Aus seiner anfänglichen Absolutheit, in der auch die Freiheit bereits angelegt ist, gelangt der Mensch in Unfreiheit, um sich wiederum zu neuer Freiheit zu entwickeln.282 Aufgrund der anfänglichen Absolutheit sah Cˇicˇerin im Individuum „den Grundstein eines jeden menschlichen Gebäudes“.283 Entscheidend ist die Dialektik von Staat und Freiheit. So mag es auf den ersten Blick verwirrend wirken, dass Cˇicˇerin einerseits den absolut freien Menschen an den Anfang der Entwicklung stellt, gleichzeitig aber dem Staat soviel Bedeutung zuˇ icˇerins vor dem misst. Dafür gibt es drei Gründe: Zunächst muss die Philosophie C Hintergrund gesehen werden, dass er den Staat gerade im Gegensatz zur traditionellen ˇ icˇerin im Gegensatz zu den russischen Selbstherrschaft bestimmt. Zudem steht C slawophilen Gruppen, die aufgrund ihrer mystischen Vorstellungen von der russischen Volksgemeinschaft und ihrer Identität mit der Person des Zaren die Notwendigˇ icˇerin also keit einer staatlichen Organisation überhaupt nicht anerkannten.284 Wenn C den Staat idealisiert, dann ist dies auch als Antwort auf diese, den Staat als verfasste Gesamtheit des Volkes ablehnenden Ideen zu verstehen. Bezeichnend für seine OriCˇicˇerin bekennt sich ausdrücklich zur dialektischen Methode, die er die einzige Methode nennt, die zu einer die gesamte Wahrheit umfassenden Einheit führt (Filosofija i nauka, S. 70). 277 Tschizˇevskij, Hegel in Rußland, in: Tschizˇevskij (Hrsg.), Hegel bei den Slawen, S. 310. 278 Ausführlich zu diesem Vierschritt: Tschizˇevskij, Hegel in Rußland, in: Tschizˇevskij (Hrsg.), Hegel bei den Slawen, S. 310. 279 ˇ icˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 8. Evlampiev, Einleitung zu C 280 ˇ Cicˇerin, O narodnom predstavitelstve, S. 551. 281 ˇ Cicˇerin, Istorija politicˇeskich ucˇenij, Band 5, S. 227. 282 ˇ icˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 9. Evlampiev, Einleitung zu C 283 ˇ ˇ Cicerin, Filosofija Prava, S. 65 f. 284 Tschizˇevskij, Hegel in Rußland, in: Tschizˇevskij (Hrsg.), Hegel bei den Slawen, S. 310. 276
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entierung an der westlichen Staatstheorie ist seine politische Ideengeschichte „Istorija politicˇeskich ucˇenij“. Darin stellt Cˇicˇerin nicht die russische Herrschaftsgeschichte in den Vordergrund, sondern beschäftigt sich ausführlich mit der westeuropäischen Geschichte der Staatstheorie. Er beginnt seine Darstellung bei den Sophisten und gelangt über die Auseinandersetzung zwischen weltlichem und göttlicher Macht sowie der Reformation u. a. zu den Staatstheorien von Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Montesquieu und Hegel.285 Zweitens schränkt Cˇicˇerin den Staatsbegriff Hegels in seiner Absolutheit ein. ˇCicˇerin kann nicht gelten lassen, dass der Staat wie bei Hegel absoluter Geist ist. Vielˇ icˇerin ist der Staat allein Mittel mehr ist bei ihm der Mensch absolute Idee. Bei Boris C zur Vervollkommnung der Freiheit. Von Hegel übernimmt er nur die Auffassung, dass die Entwicklung zur Freiheit ohne den Herrschaftsapparat Staat nicht möglich ist. Entscheidend ist das dritte Argument für die Bedeutung des Staates bei Cˇicˇerin. Es ˇ icˇerin als Liberaler aus seinem Konzept der subjektoriist bezeichnend, dass gerade C entierten Organisation und der Freiheitsidee letztlich die Konstruktion Staat braucht, um der Freiheit einen Rahmen zu bieten. Antwort darauf ist die fehlende Vorstellung vom subjektiven Recht als Schutzraum für das Individuum. So ist nicht das Recht, sondern der Staat in seiner abstrakten Form für ihn dasjenige, das dem Individuum Grenzen setzt und die Freiheit des Einzelnen kanalisiert. Ausgangspunkt für die Idee der staatlichen Einheit als sinnvollem Raum für den freien Menschen ist für ihn die Erkenntnis, dass der Mensch als Träger des Absoluten in sich grundsätzlich die absolute Freiheit besitzt und kein Gesetz über ihm stehen kann. Da ihm diese Schlussfolgerung unbrauchbar erscheint, muss Cˇicˇerin seine Lehre von der Absolutheit des Menschen relativieren und teilt das menschliche Sein in zwei Ebenen: eine endliche, materielle, gefühlsmäßige, irrationale286 und eine unendliche, geistige, göttliche, absolute.287 Diese Teilung führt zu widersprüchlichen Ergebnissen: Aufgrund der endlichen Ebene ist der Mensch nicht nur Ausgangspunkt, sondern seine Entwicklung zur Freiheit auch „Ziel“.288 In dieser Ebene steht das „höchste Gesetz“ über ihm und er braucht zur Entwicklung zur Freiheit die Unterstützung starker staatlicher Macht.289 Dabei verweist Cˇicˇerin ausdrücklich auf die Lage in Russland, wo die zur Freiheit notwendige Verantwortung nicht so ausgeprägt sei, wie z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika.290 Insofern sei der Mensch in Russland nicht fähig, ein rechtsstaatliches System aufzubauen. Der Schutz des Individuums realisiert sich stattdessen in der staatlichen Einheit, ausgeführt durch Cˇicˇerin, Istorija politicˇeskich ucˇenij, Ersterscheinung 1869. Der Hinweis auf die Irrationalität verbindet ihn mit anderen russischen Denkern, z. B. Ivan Ilin. 287 Evlampiev, Einleitung zu Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 11, Nauka i religia, S. 11. 288 ˇ icˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 15. Evlampiev, Einleitung zu C 289 ˇ ˇ ˇ Cicerin, Cto takoe sochranitelnoe nacˇalo? 290 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 26. 285 286
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starke Macht.291 Auf der unendlichen Ebene ist der Mensch durch seine Absolutheit ˇ icˇerin absoluter Wert, dessen Freiheit zu schützen ist. Entscheidend ist nun, dass C auch auf dieser Ebene unbedingt auf den Staat angewiesen ist. bb) Cˇicˇerins Rechtsbegriff in Abgrenzung zu Rudolph von Jhering Grund dafür ist sein Rechtsbegriff. Da der Mensch in seiner absoluten Freiheit auch egoistisch ist, bedarf es etwas, was ihn bindet. Entsprechend der Idee des homo homini lupus als Ausgangsgedanken der Absolutismustheorie ist für den Menschen eine Grenze notwendig, da dieser in Besitz seiner vollen Freiheit der Menschheit als Gesamtheit Schaden zufüge.292 Insofern müsse sich der Mensch dem allgemeinen Willen unterordnen. Das, was den Menschen bindet, ist für Cˇicˇerin die „höchste Macht“.293 Ausdrücklich wehrt sich Cˇicˇerin gegen die Vorstellung, dass die Verbindung der verschiedenen Freiheitssphären und deren Interessen durch eine Herrschaft des Rechts ermöglicht werden könne. (1) Recht als subjektives Interesse In diesem Zusammenhang setzt er sich ausgiebig mit den Werken des deutschen Juristen Rudolf v. Jhering (1818 – 1892) auseinander. In seinem berühmten Vortrag „Der Kampf ums Recht“ hatte Jhering 1872 unter dem Motto „im Kampfe sollst du dein Recht finden“ das Recht als Bemühen der Menschen beschrieben, sich Schranken zu setzen. Recht ist danach nicht vollkommen, sondern allein der Versuch, zwischen verschiedenen Interessen in Staat und Gesellschaft zu vermitteln und Konflikte zu entscheiden.294 Insofern entspräche Recht dem subjektiven Interesse.295 ˇ icˇerin, einem Idealisten,296 bleibt der Ausgangspunkt Jherings komplett unverständC lich. Recht als subjektives Interesse ist für ihn „Ausdruck von Egoismus“ und geht Hand in Hand mit Sozialismus und Anarchie.297 Es erscheint ihm widersprüchlich, wenn Jhering sagt, die Gesamtheit der Rechte diene zwar der Gesellschaft, trotzdem Cˇicˇerin, Cˇto takoe sochranitelnoe nacˇalo? Cˇicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: Obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 7. 293 ˇ Cicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: Obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 7. 294 v. Ihering, Der Kampf ums Recht, Wien 1872. 295 ˇ icˇerin abgelehnte Interessentheorie Jherings hat für die deutsche Rechtstheorie Die von C noch heute große Bedeutung. Aus ihr wurde beispielsweise die Schutznormtheorie des Bundesverfassungsgerichts entwickelt (BVerfGE 27, 297 [307]). Diese besagt, dass sich ein Kläger in einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit auf die Verletzung einer Norm durch die Behörde nur berufen kann, wenn diese Norm zumindest auch die subjektiven Rechte des Klägers schützt. Auch die teleologische Auslegung in der deutschen juristischen Methodenlehre, die nach dem jeweils von der Norm geschützten Interesse fragt, geht auf Jhering zurück (Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, S. 280, vgl. insgesamt zum Einfluss Jherings: Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, S. 273 ff.). 296 ˇ icˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 699. Vgl. nur C 297 ˇ Cicˇerin, Nauka i religia, S. 22 f. 291 292
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ˇ icˇerin vertrete jedes einzelne Recht aber nur ein einzelnes Subjekt. Dies sind für C ˇ icˇerin Begriffe, die „mechanische Gedanken“.298 Recht und Interesse sind für C sich gegenseitig widersprechen. Dass das Wesen des Rechts allein subjektives Interˇ icˇerin nicht nachvollziehbar.299 esse sei, ist C (2) Herrschaft des Rechts ˇ icˇerin Jherings weitere SchlussfolAls „sjurpriz“ (Überraschung) eröffnet sich C gerung, Recht sei Herrschaft über die Macht mit dem Effekt, dass Macht und Recht zwei unterschiedliche Faktoren seien.300 Als Ergebnis des russischen licˇnoe nacˇalo (Herrschaft von Menschen)301 kann Recht für Cˇicˇerin nicht allein bestehen und nicht von staatlichem Handeln getrennt werden oder gar über dieses herrschen. ˇ icˇerin kann nicht nachvollziehen, dass Recht grundsätzlich Macht sei und der stärC keren Gewalt entstamme.302 Recht könne allein deshalb nicht von der höchsten Macht getrennt werden, weil die höchste Macht in ihrer absoluten Unbegrenztheit die Gesamtheit aller Einzelinteressen darstellt und insofern als das Gesamte sittlich ist.303 ˇ icˇerin fehlt die rationale Einsicht, dass jede Macht grundsätzlich auch unsittlich C handeln kann und deshalb gebunden werden muss. So sagt er auf den Einwurf, der Monarch könne Macht missbrauchen, dies gelte genauso für demokratische Macht, auch diese könne wider das Allgemeinwohl handeln, gegen staatlichen Machtmissbrauch gäbe es allgemein keine Garantie.304 Wenn im System Jherings, das Streben nach dem primär subjektiven Interesse akzeptiert wird, so nur deshalb, weil Recht eine Garantie vor Machtmissbrauch schafft. Schon insofern braucht das Recht selbst absolute Macht, um aus der Selbständigkeit die Kraft zu besitzen, fremden Einflüssen zu widerstehen und diese zurückzuweisen.305 Nur aufgrund dieser Macht bekommt Recht den zwingenden Charakter, dessen es bedarf, den Freiheitsraum gegen staatliche Macht durchzusetzen. (3) Entwicklungsgeschichte des Jheringschen Rechtsbegriffs Wenn Jhering vom subjektiven Recht mit unabhängigem Geltungsanspruch spricht, wird deutlich, dass Jherings Konzept von Recht ein anderes ist als das ˇ icˇerins. Jherings Verbindung vom Recht mit dem subjektiven Interesse geht eine C lange rechtwissenschaftliche Diskussion in Deutschland voraus, an der sich die russische Rechtslehre bis dahin nicht beteiligt hatte. So steht hinter der gesamten deutCˇicˇerin, Nauka i religia, S. 64. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 90, wo er Jhering ein „Chaos von Gedanken“ vorwirft. 300 v. Ihering, Der Zweck im Recht, Band I, S. 293. 301 Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 200. 302 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 87. 303 ˇ Cicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 6. 304 ˇ Cicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 64. 305 v. Jhering, Geist des Römischen Rechts, Nachdruck Darmstadt1954, Band 1, S. 19. 298 299
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schen Debatte um Recht und den Rechtsstaat in dieser Zeit allein die individualistische Idee vom Recht zum Schutz der persönlichen Freiheitssphäre306 und nicht eine allgemeine abstrakte Gerechtigkeit. Für diese Rechtstradition ist die juristische Selbstbehauptung, die Durchsetzbarkeit subjektiver Interessen und die Abwehrfähigkeit staatlicher Eingriffe durch das Recht die juristische Konsequenz aus der Individualität. Im Anschluss an die römische Privatrechtslehre ging es in erster Linie darum, dem Menschen die Freiheitssphäre durch die Idee des Rechts zu sichern. Im ersten Band von Savignys „System des heutigen Römischen Rechts“ (1840) wird das Recht als die Rechtsmacht des Einzelnen beschrieben, die dem Einzelnen zur Durchsetzung seiner Interessen von der Rechtsordnung verliehen ist.307 Das subjektive Recht wird daher neben der Norm zum wichtigsten juristischen Allgemeinbegriff.308 Während das subjektive Interesse zunächst nur im Privatrecht geschützt wurde, wurde das subjektive Recht als Recht gegen den Staat im Zusammenhang mit der Entwicklung der Menschenrechte zunehmend auch im öffentlichen Recht als subjektivöffentliches Recht bedeutend.309 Während das subjektive Recht für sich genommen als ungerechtes (egoistisches) Recht wahrgenommen werden kann, steckt hinter seiner Anerkennung nicht nur die Überzeugung vom notwendigen Schutz der individuellen Freiheit, sondern auch die Erkenntnis, Gerechtigkeit über ein pluralistisches System von unendlich vielen Trägern von Rechtsmacht durch (indirekten) Ausgleich herzustellen.310 Insofern hat das subjektive Recht einen freiheitsschützenden und einen gerechtigkeitsherstellenden Aspekt. Während die Grundidee dieses Rechtsbegriffs bei Savigny deutlich die Freiheit vom Ganzen ist, orientiert sich Jhering in seiner Vorstellung von Recht als Interesse stärker am Utilitarismus.311 Insbesondere als Grundrecht gegenüber der staatlichen Gewalt beinhaltet das subjektive Recht die Klagbarkeit und damit auch seine Unabhängigkeit gegenüber dem Träger der staatlichen Gewalt, der das Recht potentiell verletzt. Nach diesem Rechtsverständnis setzt das Recht die Auslösung einer Sanktion auch gegenüber der staatlichen Gewalt voraus. Ein Recht, das nicht einklagbar ist, ist danach kein Recht. Unabhängige Herrschaft des Rechts im Sinne von Klagbarkeit und subjektives Rechts sind insofern untrennbar miteinander verbunden.312 Allein vor diesem Hintergrund vollzieht sich in Deutschland die Diskussion über den (Rechts-)Staat und die Notwendigkeit der Erzwingbarkeit des subjektiven Interesses gegenüber dem Staat. Nur als Freiheits- und Gerechtigkeitsidee ist Recht bei Jhering Inbegriff der im Staat geltenden Zwangsnormen.313 306
So ausführlich Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 156. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band I, S. 7. 308 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 41, I. 309 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 41, I, II. 310 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 41, I, Luhmann, Zur Funktion des „subjektiven“ Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 1, 1970, S. 328 f. 311 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 41, III, IV. 312 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 42, II. 313 v. Ihering, Der Zweck im Recht, Band I, S. 278. 307
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ˇ icˇerins Rechtsbegriff (4) C ˇ icˇerin keine entscheiInsgesamt spielt der Rechtsbegriff in der Freiheitsidee bei C dende Rolle. Ausdrücklich kritisiert er an europäischen Staats- und Rechtstheoretikern wie Montesquieu, dass sie alleine Rechte zur Sicherung der Freiheit zum Gegenstand ihrer Diskussion machen, nicht aber die Freiheit selbst.314 Für ihn dagegen geht es vordringlich um die Freiheit, die nicht immer etwas mit Recht zu tun haben müsse.315 Dabei unterteilt er den Freiheitsbegriff in die äußere und eine innere Freiheit. Während er die äußere Freiheit als die von Gesetzen gesicherte Fähigkeit zu Handeln beschreibt, beinhaltet die innere Freiheit Gewissen, Moral und Sittlichkeit, die jeder selbst frei entwickeln müsse. Dabei sind beide Freiheitsebenen nicht selbständig, sondern bilden eine dialektische Einheit.316 So verliert die innere Freiheit ohne die äußere Freiheit ihre Form. Gleichzeitig findet die äußere Freiheit in der inneren Freiheit ihre sittliche Verankerung und ihren Sinn. Sie macht es möglich, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und die richtigen Entscheidungen für das Handeln zugrunde zu legen. Insofern ist die innere Freiheit die Begründung für das Handeln.317 ˇ icˇerin insofern Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind für C zwar Grundlage der liberalen Idee,318 werden jedoch nicht als Abwehrrechte gegenˇ icˇerin als über dem Staat charakterisiert, sie korrespondieren vielmehr mit dem, was C die allein der Sittlichkeit, und nicht dem Recht unterworfene „innere Freiheit“ charakterisiert. So ist dieser Freiheitsraum vor allem rechtsfreier Raum. Während insbesondere das private Leben von Gesetzen durchdrungen sei, die Rechte und Pflichten normierten, sei die innere Freiheit frei von äußerem Einfluss. Der Staat dürfe hier ˇ icˇerin die Idee des Freiheitsnicht gesetzgeberisch tätig werden.319 Dabei formuliert C raums vor allem als Aufgabe für den aufgeklärten Monarchen, hier keine Lenkungsfunktion auszuüben. In diesem Sinne umschreibt er z. B. die „akademische Freiheit“ als Auftrag an den Staat, Stipendien zu vergeben, die nicht an eine bestimmte Geisteshaltung oder gar an eine politische Richtung gebunden sind.320 Insgesamt liest sich die Idee der Grundfreiheiten bei Cˇicˇerin weniger als eine Initiative für den Verfas314 ˇ Cicˇerin, Montesquieu (englische Übersetzung des Kapitels über Montesquieu in „Istorija politicˇeskich ucˇenij“ Band 2, in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 282). 315 ˇ Cicˇerin, Montesquieu (englische Übersetzung des Kapitels über Montesquieu in: „Istorija politicˇeskich ucˇenij“, Band 2, in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 276). 316 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 51. 317 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 56 f. 318 ˇ Cicˇerin, Contemporary Tasks of Russian Life (englische Übersetzung in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 134). 319 ˇ Cicˇerin, Contemporary Tasks of Russian Life (englische Übersetzung in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 134). 320 ˇ Cicˇerin, Contemporary Tasks of Russian Life (englische Übersetzung von Sovremmenye sadacˇi russkoj zˇizni in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B N. Chicherin, S. 138 f.).
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sungsstaat und den Grundrechtsschutz als ein Aufgabenkatalog für den aufgeklärten Monarchen, Freiheit zu gewähren. ˇ icˇerin Recht und Freiheit trennt, wird deutlich, wie sehr sich sein Insofern als C Ansatz von dem Jherings unterscheidet. Daran ändert nichts, dass er den Ausgangsgedanken, der zu Jherings Erkenntnis führten, grundsätzlich bejaht: Aufgrund der Freiheit sei der Wille bestimmend für den Menschen, insofern hänge es von Freiheit und Willen ab, ob ein Mensch ein Recht wahrnimmt oder nicht, der Wille sei entscheidend für die Ausübung eines Rechts.321 Dieser Aspekt ist für Cˇicˇerin jedoch nicht wesentlich für die Qualität des Rechts. Vielmehr ist das Wesen des Rechts Ergebnis einer starren Dialektik.322 Er teilt das Recht in eine subjektive und eine objektive Seite. Die objektive Seite ist das allgemeine Gesetz, die subjektive Seite das Können, etwas zu tun oder zu fordern. Beide zusammen bilden die äußere Freiheit, die durch das Gesetz verwirklichte Freiheit. Diese Ebene geht wiederum dialektisch mit der Sittlichkeit auf, aus deren Synthese wiederum der Staat entsteht.323 Dabei geht das Recht in der dialektischen Entwicklung zwar dem Staat voraus, kann aber nach einer derartigen Vorstellung keine bindende Kraft gegenüber dem Staat haben. Recht ist bei ˇ icˇerin vielmehr im Staat verwirklichte objektive Idee. Wenn Recht und Sittlichkeit C auch zwei streng voneinander unterscheidbare Kategorien sind, lehnt Cˇicˇerin den positivistischen Ansatz ab, wonach sich Recht ohne sonstige Bindung allein dadurch legitimiert, dass es durch den Staat gesetzt ist. Diesmal auch in Anlehnung an die Savignysche historische Rechtschule spricht er sich vielmehr dafür aus, dass Recht seine Grundlage im Volksgeist und der ursprünglichen Einheit finden müsse.324 Ein derartiger Rechtsbegriff bleibt abstrakt und für die praktische Freiheitssicherung kaum brauchbar. In Bezug auf die konkrete Frage, was Eigentum schützen kann, gibt Cˇicˇerin selbst zur Antwort, dies sei nicht das subjektive Recht. Vielmehr müsse der Schutz durch allgemeine, objektive Gesetze erfolgen, die höher stehen als subjekˇ icˇerin insofern vom Gesetz (zakon) abtive Rechte.325 Rechtsdurchsetzung ist für C hängig, das durch staatliche Macht geschaffen wird. Erst das Gesetz könne Staat und Individuum verbinden, nicht aber das Recht allein.326 Die Gesetze werden vom Staat als Ausdruck der Einheit und Gesamtheit aller durch die in ihm liegende höchste unbegrenzte Macht geschaffen. Sie gewinnen ihre Geltungskraft aus dem im Staat herrschenden allgemeinen Willen, der aufgrund seiner Allgemeinheit richtig ist.327 So hat der Gesetzgeber allein das allgemeine Wohl im Auge, nicht aber Einzelinteressen.328 Schutz der Freiheit des Einzelnen kann insofern nur vom Staat und sei321 322 323 324 325 326 327 328
Cˇicˇerin, Filosofija Prava, S. 102. Obwohl er sich selbst an diese Dialektik auch nicht durchgehend hält. Cˇicˇerin, Filosofija Prava, S. 80. Vgl. dazu Grothusen, Die historische Rechtschule, S. 134. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 668. Cˇicˇerin, Nauka i religia, S. 379. Cˇicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 30. Cˇicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 298.
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nem Gesetz gewährt werden und nicht vom subjektiven Recht. Deshalb bedarf der freie Mensch des Staates, der Recht schaffe.329 Ohne den Staat als höchstem Bund und allein in der bloßen Auseinandersetzung von sich gegenüberstehenden Interessen bzw. subjektiven Rechtsansprüchen bliebe nichts als Anarchie und die Gesellschaft falle auseinander.330 Die Lehre, wonach der Staat subjektive Rechte schützen soll, ohne dass sie ihn selbst etwas angingen, sei eine „anarchische Lehre“. cc) Die Natur des Staates als Garantie für die Freiheit Die Garantie für Freiheit und Eigentum kommt bei Cˇicˇerin allein abstrakt aus der „Natur des Staates, der lebendigen Einheit des Volkes“.331 Entscheidend für die Garantie ist die freiheitliche Teilnahme des Einzelnen am Ganzen. Dabei ist der Einzelne nicht nur Teil des Ganzen, sondern behält seine Autonomie: Cˇicˇerin legt Wert drauf, dass der Mensch im Staat nicht Teil (cˇlen) des Ganzen ist, sondern frei und selbständig. Insofern lehnt er auch den Begriff ab, der Staat sei physischer Körper der Gesellˇ icˇerinsche staatliche Einheit ist dabei einerseits höchste Macht, die schaft.332 Die C die Allgemeinheit vor dem sich grenzenlos ausbreitenden Individualinteresse schützt und gleichzeitig Gesamtheit aller Einzelinteressen. Im Staat finden alle sittlichen und geistigen menschlichen Ziele und Interessen ihren Platz.333 Insofern ist der Staat der höchste aller menschlichen Bünde.334 Staatliche Einheit ist höchste Macht und als Ausdruck der Gesamtheit aller Individuen Quelle des Guten. Sie erst kann die Ordnung garantieren, die Menschen allein nicht herstellen können. Der staatliche Bund schafft Einheit in der Gesellschaft, überwindet Widersprüche und ist Grundlage für den gemeinsamen Willen, der das Auseinanderfallen verhindert.335 Problematisch an der Theorie des Staates als Garantie für die Freiheit ist, dass ˇ icˇerin diese Erkenntnis nicht an eine bestimmte Staatsform knüpft. So entspricht C der Kern der Annahme, der Staat sei Freiheitsgarantie, dem Ergebnis der deutschen ˇ icˇerin seine Idee von staatlicher Rechtsstaatstheorie. Entscheidend ist jedoch, dass C Einheit als Freiheitsgarantie nicht an die Voraussetzungen des deutschen Rechtsstaates mit einem durchsetzbareren Rechtsanspruch gegenüber dem Staat oder gar an die demokratische Legitimationsform des Gesetzes bindet. Der Zusammenschluss im Staat ist für Cˇicˇerin auch dann Garantie für die Freiheit, wenn das Volk nicht selbst gesetzgeberisch tätig wird.
329 330 331 332 333 334 335
Cˇicˇerin, Istorija politicˇeskich ucˇenij, Band 1, S. 30. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 668. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 668. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 668. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 570. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 570. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 667 f.
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Dabei ist die Demokratie einerseits die ideale Staatsform.336 Dies bedeutet für ˇ icˇerin jedoch nicht, dass er die Demokratie für überall und zu jeder Zeit durchsetzbar C hält. Vielmehr ist sein Demokratiebegriff geschichtlich. So führt er, in Anlehnung an die Hegelsche Idee von der Bedeutung des Staates für die historische Entwicklung sowie in Anlehnung an die Lehre Montesquieus von den unterschiedlichen geographischen und ethnologischen Voraussetzung für die richtige Staatsform337 aus, dass die Demokratie zwar das Ideal ist, jedoch nicht immer auch die richtige Staatsform. Erst in der höchsten Entwicklungsstufe besteht der Staat für ihn aus freien Menschen, die ihre persönliche Freiheit darin äußern, dass sie aktiv am Staat teilhaben. Diese Entwicklung vollzieht sich nach den objektiven Gesetzen der Dialektik. Demzufolge besteht Freiheit einerseits von Anfang an, bedarf aber des Staates, um durchgesetzt zu werden. Freiheit ist hier eine Art objektive Idee, die vom Staat durch Gesetz auf Erden realisiert wird. Aufgrund der Notwendigkeit innerer Einheit für die Demokratie sei die Verwirklichung der Demokratie gerade in großen Staaten problematischer. Einfacher gestalte sich politische Freiheit, wo sich der Staat aus einem ethnischen Volk zusammensetze. Insgesamt sei es notwendig, dass die politische Freiheit als Fähigkeit zur Teilnahme am Staat in den Lehren des Volkes verankert sei.338 Voraussetzung für die Demokratie sei zunächst die Entwicklung des Einzelnen zur Fähigkeit, politische Freiheit wahrzunehmen. Dabei grenzt er die politische Freiheit von der persönlichen Freiheit ab. Während die persönliche Freiheit die Doppelnatur des Menschen beschreibt, Einzelwesen zu sein sowie gleichzeitig Teil der Gesellschaft, ist die politische Freiheit die Voraussetzung für die aktive Teilhabe am Staat. Politische Freiheit ist insofern kein subjektives Recht, sondern auch Verpflichtung eines zur Erkenntnis des allgemeinen Willens fähigen Individuums.339 Sie setzt die Fähigkeit zur Teilnahme am staatlichen Bund voraus, der als lebendige Einheit des ganzen Volkes das Zusammenleben garantiert. Dabei wächst die politische Freiheit nicht aus der absoluten Unabhängigkeit, sondern mithilfe von Macht und Leitung. In der Auseinandersetzung mit dem ˇ icˇerin zu der Annahme, dass der Rousseauschen Gesellschaftsvertrag kommt C Mensch nicht von Natur aus frei, sondern gleichzeitig von Anbeginn verpflichtet sei. Der Mensch müsse seiner Familie, seiner Gesellschaft sowie seinem Staat gerecht werden. Während Cˇicˇerin in anderen Bereichen durchaus bereit ist, ideale Vorstellungen anzunehmen, unterwirft er den Gesellschaftsvertrag einer ungewohnt kritischen Untersuchung. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, dass er die Grundannahme des Gesellschaftsvertrags, nach der der freie Wille am Beginn der Staatswerdung steht, pure Fiktion sei, die der menschlichen Natur nicht entspreche. Aus der Geschichte sei nicht bekannt, dass Individuen sich allein aufgrund einer übereinstimmenden WillensbeCˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 707. Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 687. 338 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 687 ff. 339 ˇ Cicˇerin, On popular Representation (engl. Übersetzung von O narodnom predstavitelstve, in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 179). 336 337
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kundung zu einer politischen Vereinigung zusammengeschlossen hätten. Wenn Staaten auf einem gemeinsamen freien Willen beruhten, dann allein dort, wo das Volk bereits entsprechend zum politischen Leben erzogen worden sei.340 Für Cˇicˇerin ist politische Freiheit nicht die Basis des politischen Bundes, sondern vor allem ihr Ziel, das zunächst eine starke staatliche Macht voraussetzt. Dies fordert zwar den Zusammenschluss, allerdings aus einer Verpflichtung heraus und nicht aus der Freiheit. ˇ icˇerin auch in der vordeAus diesem Grund sichert die staatliche Einheit nach C mokratischen Entwicklungsetappe die Autonomie des Individuums. Dabei ist der Monarch als Inhaber der höchsten Macht mit dem Staat als Gesamtheit seiner Bürger identisch. Als solcher repräsentiert er die Einheit des staatlichen Willens.341 Aufgrund dieser Identität bedarf es keiner weiteren Garantie dafür, dass der Monarch im Sinne der Freiheit des Einzelnen handelt. Daher ist auch in der Monarchie das Einfügen des Einzelnen in die staatliche Einheit Voraussetzung für die Freiheit in ihrem gegenwärtigen Bestand. Die höchste Macht im Staat ist, unabhängig von der Staatsform, die gesetzgebende Gewalt. Für sein Staatsmodell kommt es nicht darauf an, wie diese Gewalt organisiert ist, wenn sie nur absolut ist, um als Letztentscheidungsinstanz zu ordnen und zu lenken. Als höchste Macht muss sie zwangsläufig auch über der Judikative stehen. Aufgabe des Richters ist es „nur“, subjektive Interessen zu vertreten, was ihn nach Cˇicˇerin weniger wichtig macht.342 So hat der Gesetzgeber stattdessen stets das Wohl des Gesamten im Auge, das mit dem Guten identisch ist. Da auch das Gesetz des selbstherrschenden Monarchen allgemeines Gesetz ist, wird deutlich, dass der Staat als das Allgemeine nicht im demokratischen Sinn als der Wille aller, sondern allein als philosophische Kategorie verstanden wird. Grund für seine im gegenwärtigen Zeitpunkt ablehnende Haltung gegenüber der Demokratie ist auch sein hoher ethischer Anspruch an eine gleichzeitig zu Lenkung, ˇ icˇerin gelangt zu dem ErSchlichtung und Ausgleich verpflichtete staatliche Macht. C gebnis, dass das Volk selbst noch nicht in der Lage sei, diesen hohen Anforderungen zu genügen. Gerade weil die zentrale staatliche Macht als Gesetzgeber, als Führer des Volkes, als Ausdruck aller Einzelinteressen und als höchster Richter Wesen der Einheit ist, muss eine auf einem demokratischen System beruhende staatliche Macht zunächst besondere Voraussetzungen erfüllen. Dies ist erst auf der höchsten Entwicklungsetappe zur Freiheit gegeben. Es wird deutlich, dass sich die Idee staatlicher Einheit als Freiheitsgarantie deutlicher an Hegel orientiert als am deutschen Rechtsstaatsmodell. So geht es zwar in beiden Modellen um Freiheitssicherung, bei Jhering nimmt die Gesellschaft die Form des Staates aber nur an, um den allgemeinen Willen in Form des Rechts erzwin340 ˇ Cicˇerin, On popular Representation (engl. Übersetzung von O narodnom predstavitelstve, in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 176 f.). 341 ˇ Cicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 133. 342 ˇ Cicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 321.
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gen zu können.343 Primär sichert bei Jhering das Recht die Lebensbedingungen des Einzelnen.344 Dabei hat das Recht aufgrund seiner Bindungswirkung selbst zwingenden Charakter und nicht allein der Staat. Entscheidend für den Unterschied ist neben dem Rechtsbegriff die fehlende Gewaltenhemmung bei Cˇicˇerin. Für Cˇicˇerin ist „höchste Macht“ als Quelle des Gesetzes eine Konstante, die in der Demokratie vom Volk und in der Monarchie vom Herrscher wahrgenommen wird.345 Dabei lehnt Cˇicˇerin die Gewaltenteilung grundsätzlich nicht ab, sondern feiert sie vielmehr als wichtige Garantie für die Freiheit. Während sich Montesquieu durch die Herausstellung der Funktionsteilung zur Sicherung der Freiheit verdient gemacht habe, sei dieses System ausdrücklich nicht perfekt.346 Gleichzeitig fehlt ihm bei Montesquieu ein Element, das garantiert, dass die verschiedenen Funktionsträger im Staat letztlich wieder zusammenarbeiten. So sei die Freiheit als Staatsziel zwar wichtig, zunächst setze staatliches Handeln allerdings Einheit voraus. Ohne Homogenität, ohne Einheit der Administration sei Staatsführung nicht denkbar. Gerade in der Legislative sei Einheit wichtig. Dabei mutmaßt Cˇicˇerin, dass die Gewaltenteilung im englischen Beispielsfall Montesquieus nur deshalb so gut funktioniere, weil hier der Adel im Parlament unter sich so eng verknüpft sei.347 Bedeutsam ist letztlich, dass staatliche Gewalt bei Cˇicˇerin das harmonische Miteinander der Widersprüche durch politisches Handeln allein nicht garantieren kann. ˇ icˇerin ist das Vereinende des Staates stattdessen geistig.348 Dabei muss die tatNach C sächliche Einheit der Elemente auf ein gemeinsames Ziel gerichtet sein. Ein Ziel erst macht aus Freiheit, Macht und Gesetz ein im Staat verwirklichtes organisches Ganzes. Macht ist dabei die äußere Einheit, das gemeinsame Ziel die innere.349 Konkret sieht Cˇicˇerin dieses Ziel im Allgemeinwohl, in der Entwicklung zur Freiheit und der harmonischen Übereinstimmung der widersprüchlichen Elemente des Staates. Dieses Ziel ist für alle einheitlich und führt in die gemeinsame Zukunft.350 Wenn auch die konkrete Ausgestaltung der höchsten Macht von der jeweiligen ˇ icˇerins Entwicklungsstufe abhängig ist, ist das Grundgerüst der Staatskonzeption C den absolutistischen Gesellschaftsvertragslehren sehr nahe. Dementsprechend wird ˇ icˇerins zwar das Individuum vom Ganzen unabhängig, jedoch nach der Vorstellung C 343
v. Ihering, Der Zweck im Recht, Band I, S. 239. v. Ihering, Der Zweck im Recht, Band I, S. 399. 345 Vgl. dazu insgesamt Cˇicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo. 346 ˇ Cicˇerin, Montesquieu (engl. Übersetzung des Kapitels über Montesquieu in: „Istorija politicˇeskich ucˇenij“ Band 2, in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 275). 347 ˇ Cicˇerin, Montesquieu (engl. Übersetzung des Kapitels über Montesquieu in: „Istorija politicˇeskich ucˇenij“, Band 2, in: Hamburg [Hrsg.], Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 274 f.). 348 ˇ Cicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo, S. 568. 349 ˇ Cicˇerin, Istorija politicˇeskich ucˇenij, Band 1, S. 32. 350 ˇ Cicˇerin, Istorija politicˇeskich ucˇenij, Band 1, S. 31. 344
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fehlt ihm die Vorstellung eines selbständigen Rechts, das das Individuum auch gegen staatliche Macht verteidigt. Somit ist das Individuum dem Staat letztlich doch ausgeliefert. Nicht ersichtlich bleibt, was außer der „gemeinsamen Idee“ Staat und Macht selbst bindet. Der Staat müsste nach dieser Konstruktion vor sich selbst schützen, Zakon wäre reine Selbstbindung und keine Verpflichtung, da eine Verpflichtung, die allein vom Verpflichtenden abhängt, ein Widerspruch ist. ˇ icˇerin das Ideal der staatlichen Einheit, Antwort auf diesen Widerspruch ist bei C die Hegelsche notwendige Synthese Staat, das Allgemeine, das alles in sich aufnimmt und in dem es dementsprechend keine Widersprüche gibt. In diesem Sinne trennt er nicht zwischen Staat und Staatsgewalt und ihren verschiedenen Teilen, mit der Folge, dass es auch keine Trennung zwischen Rechtssetzung (durch die Legislative, den allgemeinen Willen des Volkes) und Rechtsdurchsetzung (durch die Exekutive und die Judikative) gibt, so dass staatliche Einheit allgemein das bleibt, was durch Gesetz Gerechtigkeit auf Erden herstellt. Es gibt allein die alles umfassenˇ icˇerin nicht dem Wesen des Rechts ende allgemeine höchste Macht. Da es bei C tspricht, Freiheit zu erzwingen, muss bei ihm der Staat ganz allgemein die Aufgabe der Bindung der Gesellschaft an Normen übernehmen. Letztlich ist die Idee der staatlichen Einheit insofern das, was dem deutschen Verfassungsjuristen die Idee des ˇ icˇerin als Professor an der MoskauRechts ist: Garant für die Freiheit. Insofern lehrt C er Universität auch nicht in erster Linie das Recht, sondern den Staat allgemein.351 ˇ icˇerins Beitrag für die russische Staatswissenschaft ist daher der erstmalig die AuC tonomie der Einzelpersönlichkeit respektierende gesellschaftliche Zusammenschluss, angereichert durch die ideelle Überhöhung des Staates im Sinne Hegels. Indem er sich mit seiner individualistischen Weltsicht innerhalb der russischen Geistesgeschichte weit nach vorne gewagt hat und deshalb als Liberaler gilt352, muss er letztlich Zuflucht in die Philosophie Hegels von der idealen staatlichen Einˇ icˇerins Konzeption will zwar das Inheit und den Entwicklungsgesetzen nehmen. C dividuum, dieses kann staatliche Macht jedoch nicht binden. Daher kommt es nicht zu einer Unterordnung der Macht unter das Recht aus Vernunft, wie bei Jhering,353 vielmehr steht an der Stelle der Vernunft das sittliche Gute, welches von staatlicher Gewalt bestimmt wird.
Cˇicˇerin, Filosofija prava, S. 376. ˇ icˇerins allerdings vor allem in AbSo zuletzt deutlich Cauderay, der die Position C grenzung zu Vl. Solovev (Recht als Mittel zur Durchsetzung der christlichen Einheit) und Tolstoj (Rechtsnihilismus) darstellt (Cauderay, Die Partei der konstitutionellen Demokraten und das liberale Weltbild von Pavel Ivanovicˇ Novgorodcev, S. 86 ff.), abwägend Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, S. 155 ff. 353 v. Ihering, Der Zweck im Recht, Band I, S. 294 f. 351 352
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dd) Die Lenkungsfunktion des Herrschers und die Einheit von Volk und Zar bei Kavelin, Solovev und Cˇicˇerin Vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der Einheit des Staates kommt dem Führer dieses Staates als Garant der Einheit in der russischen historischen Rechtsschule eine besondere Rolle zu. Bei Kavelin, Solovev und Cˇicˇerin sind die russischen Herrscher entscheidend für die Geschichte eines Volkes.354 Wie auch bei Hegel besteht die Geschichte hier aus der Verbindung der drei Elemente Staat, Volk und Individuum, d. h. der historischen Persönlichkeit.355 Danach ist das Volk im Staat verfasst und Voraussetzung für das Bestehen eines Staates. Gleichzeitig ist die innere Trennung von Führer, Volk und Staat äußeres Anzeichen für eine innere Krise.356 Hegels Vorstellungen vom Staat entstanden vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, die nach seiner Vorstellung zur Despotie der Freiheit geführt hatte. Deswegen war ihm die Repräsentation verdächtig, erschien ihm als Herd von Anarchie und Revolution. Die freiheitliche Durchsetzung von Einzelinteressen als Zweck erschien ihm als „Idee der Not“. Für ihn realisierte sich Freiheit erst in der Organisation des Staates, nur sie schuf reale Freiheit.357 Insofern muss an der Spitze dieser Organisation für ihn der Monarch als alles durchdringende Einheit stehen, in der Vernunft und Freiheit zusammenfließen. Die Macht des Monarchen ist die alles umfassende Vereinigung. Bei Hegel heißt es in § 281 der Rechtsphilosophie: „Beide Momente sind in ihrer ungetrennten Einheit, das letzte grundlose Selbst des Willens und die damit ebenso grundlose Existenz, als der Natur anheimgestellte Bestimmung – diese Idee des von der Willkür Unbewegten macht die Majestät des Monarchen aus. In dieser Einheit liegt die wirkliche Einheit des Staates (…).“358 In der Entwicklung eines jeden Volkes sei die absolute Monarchie als Stufe notwendig, solange der Entwicklungsstand der licˇnost noch nicht zur freiwilligen Erˇ icˇerin warnt vor einer Freikenntnis der Pflicht gegenüber dem Gesetz geführt hat. C heit des einzelnen Bürgers, wie sie in Westeuropa herrschte, da sie in Russland gegenwärtig nur zu Chaos und Anarchie führe. Schon deshalb war zum gegebenen Zeitpunkt die geeignete Staatsform für Cˇicˇerin die konstitutionelle Monarchie in der 354
Grothusen, Historische Rechtsschule, S. 133. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 344. 356 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 275 ff. 357 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 86, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 260 „Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit besteht darin, dass die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind, so dass weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und wollen gelte und vollbracht werde, noch dass die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben, und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewusste Wirksamkeit haben.“. 358 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 261. 355
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Form der verfassungsmäßigen Samoderzˇavie, weil diese aufgrund der niedrigeren Entwicklungsstufe Russlands für den Einzelnen eine notwendige Begrenzung der Freiheit darstelle.359 Aufgrund der alleinigen Abhängigkeit des Monarchen vom sittlichen Ideal sei die Monarchie stattdessen die beste Staatsform.360 Starke Macht ist der Ausgleich für mangelnde Entwicklung. Da wo der freie Wille noch nicht so entwickelt ist, bedarf es ganz allgemein starker staatlicher Macht. Starke Macht ist dabei qualitativ eine weise gute Macht, weil sie den Menschen unbedingt in seiner Entwicklung stärkt und zur Freiheit führt.361 Gerade der Blick in die russische Geschichte zeige, dass die Regierung häufig treibende Kraft von Entwicklung und Fortˇ icˇerin den schritt gewesen sei.362 Gleichzeitig aber brauchte gerade der liberale C Monarchen auch als ausgleichenden Schlichter (posrednik), der die aus verschiedenen Individuen bestehende Gesellschaft zusammenfügt. Die Rolle des den Staat repräsentierenden Herrschers sah er u. a. darin, der politischen Freiheit und dem Kampf der Parteien ein ausreichendes Gegengewicht gegenüberzustellen.363 Dies ermöglicht ihm seine nicht von Recht oder Gesetz begrenzte Machtstellung, die sich damit legitimierte, dass sie den Allgemeinwillen wiedergibt.364 Hier wird die Schwachstelle der Philosophie noch einmal verdeutlicht: Der Staat abstrakt kann Freiheit nicht garantieren und erst recht nicht das Volk „zur Freiheit führen“. Hierzu bedarf es einer natürlichen Person, die für den Staat handelt. Der Monarch unterscheidet sich trotz seiner unbegrenzten Machtfülle vom Despoten, indem er sich den objektiven Gesetzen unterwirft, die er mittels der positiven Gesetze auf Erden verwirklicht. Das Verhältnis von Ideal und Recht bleibt dabei komplex: Cˇicˇerin lehnt die zwanghafte Durchsetzung des christlichen Ideals durch Gesetze bei Vladimir Solovev mit Freiheitsargumenten ab und legt dar, Recht könne Sittlichkeit nicht erzwingen. Insofern ist für ihn die Trennung von Recht und Sittlichkeit grundsätzlich elementar. Recht charakterisiere das Verbotene und das Erlaubte, während die Sittlichkeit Ergebnis der inneren Freiheit des Menschen sei.365 Gleichwohl legitimiert auch Cˇicˇerin das lenkende Handeln des Monarchen zur Freiheit mit dessen Verankeˇ icˇerins Sittlichrung in der Sittlichkeit.366 Dies erklärt sich einerseits dadurch, dass C keitsideal weiter, freiheitlicher und vernunftgebundener ist als die enge christliche Idee Vl. Solovevs. Darüber hinaus gilt die Autonomie des Rechts von der Sittlichkeit wie bei Hegel vor allem für die vom (Privat-)Recht bestimmte Sphäre der GesellCˇicˇerin, Filosofija Prava, S. 22. Cˇicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 133. 361 ˇ Cicˇerin, Cˇto takoe sochranitelnoe nacˇalo? 362 ˇ Cicˇerin, Contemporary tasks of Russian Life (engl. Übersetzung von „Sovremennye zadacˇi russkoj zˇizni“, in: Hamburg [Hrsg.]. Liberty, Equality and the Market, Essays by B. N. Chicherin, S. 115). 363 ˇ Cicˇerin, Filosofija Prava, S. 250. 364 ˇ Cicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 344. 365 Zur Auseinandersetzung mit Solovev Cauderay, S. 80 ff. 366 ˇ Cicˇerin, Kurs gosudarstvennoj nauki, Band 1: obsˇcˇee gosudarstvennoe pravo, S. 30, 193. 359 360
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schaft, im Staat als Recht setzender Synthese aller Sphären jedoch finden beide wieder dialektisch zusammen.367 Freiheit und Lenkung finden letztlich im Freiheitsbegriff Hegels zusammen, der den freiheitlichen Zusammenschluss der Individuen im Staat über ein Verständnis von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit verbindet. Nur insofern ist Lenkung auch hier kein Zwang. Die Einheit symbolisierende Rolle des Monarchen deckt sich mit der altrussischen Vorstellung vom „Väterchen Zar“ als Beschützer der christlichen Gemeinschaft. Die Einheit von Volk und Zar war ein Element der kirchlichen Staatsideologie, nach der jede Form von Gegensatz zwischen Volk und Herrscher eine Schwächung des Staates und so eine Schwächung der Orthodoxie in der Welt bedeutet hätte. Da die orthodoxe Kirche über keine eigene Macht verfügte, war der Staat für sie Fundament der eigenen Sicherheit, was sie zur Verurteilung jedweden Widerstands führte.368 So heißt es beim Heiligen Ignati Brjacˇaninov: „In dem von Gott gesegneten Russland sind der Zar und das Vaterland, gemäß dem Geist des Frommen Volkes eins, so wie in der Familie Eltern und Kind eins sind. Der russische Zar kann von sich sagen, was der heilige König David über sich gesagt hat: Gott ordnet meine Menschen mir unter.“369 Das Prinzip der Einheit von Zar und Volk ist so Ausdruck der einenden christlichen Idee und beinhaltet Einmütigkeit, die deutlich von der Unterordnung des Volkes unter den Herrscher gekennzeichnet ist. Dieses Verständnis wird durch die russische HegelRezeption neu verstärkt. Charakteristisch für diese Auffassung ist die häufig zitierte Passage aus dem Werk des Historikers Platonov über Ivan IV.: „Indem der Souverän der patrimoniale Herr (votcˇnik) seines Zarenreiches war, gehörte es ihm als Eigentum, mit aller Unbedingtheit von Eigentumsrechten … Indem sich die Macht des Zaren (nun, unter Ivan IV., Anmerk. d. Verf.) aber auf das Bewusstsein der Volksmassen stützte, das im Zaren und Großfürsten von ganz Russland den Ausdruck der Einheit des Volkes (narodnoe370 edinstvo) und das Symbol der nationalen Unabhängigkeit gesehen hat, sind die demokratische Struktur und ihre Unabhängigkeit von irgendwelchen privaten Autoritäten und Kräften im Lande offenkundig. Die Moskauer Macht war demzufolge eine absolutistische und demokratische371 Macht.“372 367
Vgl. Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, S. 149. Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 87. 369 Ignatij Brjacˇaninov, Budusˇcˇee v rukach Bozˇestvennogo Providenija, Pisma k N. N. Muravevu-Karskomu, Moskau 1998, S. 14. 370 Der Begriff „narodnoj“ steht hier in Abgrenzung zum im ersten Satz des Zitats erwähnten Patrimonialstaat, (nach Platonov) dem Vorläufer des Moskauer Staates. 371 Der Begriff demokraticˇeskij (demokratisch) ist hier als Ausdruck für „anti-aristokratisch“ einzustufen (vgl. Leontovitsch, S. 94). Der Ausdruck wird gleichbedeutend mit „national“ und „populär“, „beliebt“. Es geht hier um allein auf den Willen des Volkes gestützte, von Ständen oder sonstigen faktischen Mächten im Staat unabhängige Macht. So hat das russische Adjektiv demokraticˇeskij insgesamt mehr die Bedeutung von populär, im Sinne einer Übereinstimmung mit dem Willen des Volkes als das deutsche, mit dem die repräsentative politische Institution in Verbindung mit Rechtsstaatlichkeit ausgedrückt wird. Vgl. Perrie, The Muscovite Monarchy in the Sixteenth Century: „National“, „Popular“ or „Democratic“, in: Cahiers du Monde Russe, 46/1 – 2, S. 241. 368
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Die Herrschaft Ivan IV. unterscheidet sich nach dieser Aussage insofern von früheren Herrschern, für die Macht nur Eigentum war, als es nun eine Einheit von Volk und Herrscher gibt. Der Großfürst bringt durch Übereinstimmung die Einheit des ganzen Landes zum Ausdruck, die mit der inneren und äußeren Unabhängigkeit gleichgesetzt wird. Für den Historiker Kljucˇevskij war der Monarch seit dem 14. Jahrhundert Repräsentant des unter seiner Herrschaft vereinten Stammes. Die Einzelpersönlichkeit „Monarch“ ist dem Volk geistig überlegen und führt es aus dem Urzustand, in dem es noch keine persönliche Freiheit gibt.373 Peter der Große ist nach der historischen Rechtschule in diesem Zusammenhang das Musterbeispiel und auch Ivan III. kommt als „Sammler der russischen Erde“ eine besondere Bedeutung zu. Vor dem Hegelschen Verständnis der Geschichte als organisch-notwendigem Entwicklungsprozess in dialektischer Form ist die russische Form der Monarchie, die Samoderzˇavie, für die Entwicklung der Geschichte unverzichtbar. In Anlehnung an die dargestellten geschichtswissenschaftlichen Vorläufer steht die Samoderzˇavie nach Auffassung der historischen Rechtsschule in Russland nicht nur für die Überwindung des Mongolenjochs, vielmehr sei die Selbstherrschaft ganz generell notwendig, um die Geschichte insgesamt voranzutreiben. c) Zwischenergebnis Eindeutig problematisch ist, dass aus den Ausführungen der russischen historischen Rechtsschule nicht ausdrücklich ersichtlich ist, auf welcher Ebene die Vorstelˇ icˇerin nicht deutlich, ob lungen von staatlicher Einheit ansetzen. So ist gerade bei C sein Staats-, Freiheits- oder Rechtsbegriff philosophisch, historisch, politisch oder gar juristisch ist. Er spricht nicht nur vom philosophischen Staat als sittlicher Idee, sondern denkt gleichzeitig auch über den tatsächlichen politischen Staat nach. Die Einheit des Staates als Endzweck wird hier aus der Metaebene herausgeholt und verfasˇ icˇerin schreibt: „Was aber ist der Staat? Der Staat ist (…) sungsjuristische Realität. C eine Gemeinschaft, gegründet auf einem eigenen Territorium und regiert durch die ständigen Gesetze unter Führung der obersten Staatsgewalt (…).“374 Ausgehend von diesem „faktischen“ oder soziologischen Staatsbegriff ist auch die Einheit eines solchen Staates nicht mehr wie bei Hegel sittliche Idee sondern Seinsollendes. Vor diesem Staatsbegriff wird die Einheit des Staates nicht nur philosophisch als Aufgehen im Allgemeinen verstanden. Dies aber genau war nicht das ˇ icˇerin auch den absoluZiel eines von der Romantik beeinflussten Hegels.375 Wenn C 372
Platonov, Lekcii po russkoj istorii, S. 139. Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 74. 374 ˇ Cicˇerin, Russkij vestnik, Juni 1856, S. 775 ff. 375 In der Vorrede zur Rechtsphilosophie schreibt er, die Abhandlung soll den Staat als etwas Vernünftiges begreifen, nicht, wie er sein soll, sondern wie er erkannt werden soll (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede). 373
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ten Geist des Staates bezweifelt, ist dies kein Gewinn für einen Verfassungs- oder gar Rechtsstaat, da sich die Diskussion aufgrund der Vermischung von realer und philosophischer Ebene bereits jenseits des real Durchsetzbaren befindet. Durch die Vermischung der philosophischen mit der realen Ebene wird die Hegelsche Konzeption von der Einheit des Staates Ziel. Wenn man auch Hegels absolutem Staatsbegriff in seiner materiellen Qualität nicht folgt, so macht man den Staat gleichwohl mit Hegel zum Träger der Freiheit, weshalb sich das Individuum zunächst dem Staat unterordnen muss, um Freiheit zu erhalten. Unklar bleibt, wie Einheit als Voraussetzung eines idealen Staates umgesetzt werden soll und inwiefern hier Zwang eingesetzt werden kann. Dass Freiheit nicht nur angeboren, sondern auch Aufgabe ist, führt zu dem ˇ icˇerin im sittlichen,376 sozialen und scheinbar widersprüchlichen Ergebnis, dass C 377 wirtschaftlichen Bereich die Autonomie der freien Einzelpersönlichkeit vor Eingriffen durch den Staat schützen will, gleichzeitig aber den Staat für die Entwicklung des Einzelnen zur Freiheit verantwortlich macht, was ohne „Eingriffe“ in die Freiheitssphäre kaum vorstellbar erscheint. Hier wird allein auf die Einmütigkeit hinsichtlich der objektiven Gerechtigkeit verwiesen. Abgesehen von der nicht beantworteten Frage, wie die Freiheit nach der Verwirklichung der angestrebten staatlichen Einheit aussieht und wann diese erreicht ist, bleibt die Freiheit des Einzelnen bis zur Erreichung der Einheit des Staates rechtlich nicht selbständig zu verwirklichen. Der Einzelne ist auf den Monarchen angewiesen. Insgesamt ist es nach deutschem Staatsrechtsverständnis unverständlich, dass der Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee nach Hegel überhaupt juristisch verfasst werden kann.378 Es wird deutlich, dass der Schutz des Individuums ohne selbständig durchsetzbaren, positiv niedergelegten subjektiven Rechtsanspruch unvollständig bleibt. Durch die Ablehnung der Idee von Recht als subjektivem Interesse, bleibt keine andere Wahl, als die Trennung von Individuum und Gemeinschaft mit der Hegelschen Philosophie und dem Ideal der brüderlich-slawischen Einheit von Zar und Volk zu überbrücken. Aufgrund der Verkoppelung des philosophischen Staatbegriff Hegels mit der gesellschaftlichen Realität bleiben die rechtlichen Überlegungen der historischen Rechtsschule zur staatlichen Einheit deutlich lückenhaft. Diese „Lücke“ kann nur so verstanden werden, als es für die radikale Entwicklung der Idee der Freiheit in Russˇ icˇerin kein Fundament in Form eines entwickelten Prinzips des subjekland durch C tiven Rechts gibt. So bleibt man auf der Entwicklungsstufe des Gesellschaftsvertrags stehen, nach dem der Staat der allgemeine Wille ist. Hinsichtlich des daraus entstehenden Widerspruchs zwischen absoluter höchster Macht des Staates und individueller Freiheit des Einzelnen sucht man Zuflucht in der Hegelschen Philosophie vom Staat als der sittlichen Idee, welche ein Weg zu sein scheint, die subjektorientierte ˇ icˇerins, dass nur staatliche Ausgangsituation wieder aufzulösen. Die Vorstellung C 376 ˇ icˇerin gegen das Rechtsverständnis Solovevs, nach dem Recht dazu So wendet sich C dient, den Einzelnen zum christlichen Ideal zu erziehen (vgl. zu dieser Auseinandersetzung Cauderay, S. 80 f.). 377 Vgl. insgesamt Cˇicˇerin, Sobstvennost i gosudarstvo. 378 Vgl. Isensee, Schlusswort, in: Depenheuer (Hrsg.), Die Einheit des Staates, S. 77.
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Einheit Freiheit und Gerechtigkeit herstellen könne, wird grundlegend für die auf ihn folgende russische Rechtswissenschaft. Insofern kann die Wirkung der Hegelschen Philosophie auf die russische Freiheitsidee nur als problematisch bewertet werden. 2. Exkurs: Die russische Idee der sobornost (Gemeinschaftlichkeit) Die Idee, die Existenz des Menschen über seine Rolle in der Gemeinschaft zu bestimmen, ist in Russland im 19. Jahrhundert Bestandteil fast aller wesentlichen geistigen Gruppierungen. Unterschiede bestehen dabei vor allem hinsichtlich des Trägers dieser Einheit. Wie dargestellt, ist für die historische Rechtsschule der Staat das Element und das Ziel der Einheitsverwirklichung. Innerhalb der großen Denkrichtungen in Russland kann die historische Rechtsschule damit in die Gruppe der sog. Westler eingeordnet werden. Mit den Slawophilen gehören die Westler innerhalb der russischen Kontroverse um Tradition und Aufgabe des russischen Staates ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu den zwei herausragenden Strömungen.379 Ausgangspunkt der Gegensätzlichkeit dieser beiden Strömungen war der Umgang mit dem materialistischen Denken, das sich im westlichen Europa ausbreitete.380 Danach erschien die Welt aufgrund der rasanten technischen Entwicklung plötzlich komplett naturwissenschaftlich erfassbar, was eine hohe Technikbegeisterung auslöste und eine hohe Fortschrittsgläubigkeit mit sich brachte. Während die Slawophilen diese Entwicklung als unslawisch ablehnten, folgten die Westler grundsätzlich dieser Anschauung. So steht ihr Name für die mit Peter dem Großen beginnende Europäisierung des Russischen Reiches.381 Während die sog. Westler einen Anschluss an die Errungenschaften des Westens propagierten382 und Russlands Rückständigkeit gegenüber anderen Staaten bedauerten, verteidigten die konservativen Slawophilen die alten Ideen des Moskauer Russlands gegen die petrinischen Reformen und die hier eingeführten westeuropäischen Prinzipien.383 Das Westlertum (zapadnicˇestvo), das sich hauptsächlich aus Juristen oder Historikern zusammensetzte, fühlte sich der Wissenschaft und dem Fortschritt verpflichtet.384 Diesen Fortschritt versuchten sie in Russland nachzuweisen, indem sie eine eigene russische Entwicklung aufzeigten, die analog zur westlichen verlief. Deswegen übernahmen sie das Hegelsche Konzept der vorwärts strebenden, Synthesen bildenden Dialektik mit der staatlichen Einheit als geschichtlichem Ziel. 379 Ausführlich zu den Begriffen und ihrer Definitionsschwierigkeit: Goerdt, Russische Philosophie S. 262. 380 Schiel, Die Staats- und Rechtsphilosophie des Vladimir S. Solowjew, S. 12. 381 Utechin, Geschichte der Politischen Ideen in Russland, S. 78. 382 Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 293 ff. 383 Zum Slawophilentum ausführlich: Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 209 ff. 384 Vgl. Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 29, 3 ff.
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a) Slawophilentum Aber schon innerhalb der Geschichtswissenschaft blieben sie damit nicht ohne Kritik. Ansatz für diese Kritik war vor allem die Überbetonung der Staatlichkeit. Diese Kritik speiste sich aus dem slawophilen bzw. frühen sozialdemokratischen Lager, das den extremen Etatismus zu Lasten der Rolle des Volkes ablehnte. So missbilligt beispielsweise der Kazaner Geschichtsprofessor A. P. Sˇcˇapov385 die Konzeption der historischen Rechtsschule und den Grundsatz der Evolution, wonach die gesamte Geschichte eine Einheit darstellt. Er wirft ihr vor, durch die These von der Einheitlichkeit der Geschichte als Prozess zur Herausbildung des Moskauer Staates eine Eingleisigkeit dargestellt zu haben. Cˇicˇerin attackiert er als einen „leidenschaftlichen Verkünder einer starken, systematischen, staatlichen Einheit und Zentralisation oder eines zentralistisch-bürokratischen staatlichen Pantheismus“. Solovev wirft er vor, die Bedeutung der einzelnen Stämme im Russischen Reich zu negieren und die Fakten der Idee der Staatlichkeit unterzuordnen. Stattdessen denkt er die Einheit selbst ˇ ernysˇevskij, trotz seiner deutlichen vom Volk aus.386 Gleichwohl aber sagt N. G. C Kritik an der Betonung der Staatlichkeit, dass er die die Idee der Einheit Russlands genauso in den Mittelpunkt stellt wie die historische Rechtsschule. Seiner Meinung nach würde die Einheit Russlands allerdings allein vom Volk getragen.387 Nach ˇ ernysˇevskij ist die soziale Einheit des russischen „mir“ die Zelle der Revolution, C aus der sich die Gesellschaft erneuert.388 Insofern war auch ganz grundsätzliche Kritik aus dem der historischen Rechtsschule entgegengesetzten Lager nicht Kritik an einer Überbetonung der Gemeinschaft zu Lasten des Individuums, sondern allein an einer Überbetonung des Staates als Träger dieser Einheit. Diese Vorstellung geht auf das Slawophilentum zurück, das Theologie, Philosophie, Historiographie und die Philologie, sowie später sogar die Naturwissenschaften umfasste. Bestätigt fühlten sich die Slawophilen u. a. von dem deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), der in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ 1784 die slawischen Völker im Gegensatz zu einem „unternehmenden Kriegs- und Abenteurervolk wie den Deutschen“ als friedliche, unpolitische „Liebhaber der ländlichen Freiheit“ dargestellt hatte.389 Beeinflusst waren diese Vorstellungen durch den Humanismus im 18. Jahrhundert und beinhalteten den Grundsatz, die Nation sei im Gegensatz zur künstlichen Konstruktion „Staat“ die natürliche Organisationseinheit des Menschen. Daher lehnten die Slawophilen den Staat als etwas Ungutes, Unrussisches ab. Der Weg zur Gerechtigkeit führe nicht über den Staat, weshalb staatliche Gesetze und politische Reformen sinnlos seien.
385 386 387 388 389
Sˇcˇapov, Socˇinenija v 3 tomach, Band II, S. 157. Sˇcˇapov, Socˇinenija v 3 tomach. Cˇernysˇevskij, Polnoe sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band II, S. 541. Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 279. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, S. 392 ff.
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Tatsächlich aber finden sich bei den Slawophilen weitaus tiefgehendere Einheitsvorstellungen als bei den Westlern. Nach den Slawophilen ist die Ganzheitlichkeit (celost) die besondere Seinsqualität (sucˇsˇnost) eines Russen und das Gemeinschaftsprinzip (sobornost) die Grundlage der slawischen Kultur. Dahinter steht ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Individuum, das nicht in der Lage sei, sich aus eigenem Antrieb in der Gemeinschaft gut zu verhalten. Durch westliche Ausdrucksformen, wie den Individualismus, den Skeptizismus und den Relativismus, würde die natürliche Einheit zwischen Gott, Natur und den Gläubigen zerstört. Hauptsünde des Westens sei der abstrakt-diskursive Charakter seiner Religion, Philosophie, Wissenschaft, Staatlichkeit und Gesellschaft, die Verabsolutierung der Person und die Leugnung der Einheit. So führe der analytische Prozess im Westen stets zum Zerfall, während der synthetische russische Prozess zu Einheit und Gemeinschaftlichkeit führe.390 Peter der Große habe die traditionelle harmonische natürliche Einheit des russischen Volkes zerstört, indem er westliche Verwaltung eingeführt habe, die Allianz von Volk und Herrscher aufgelöst und beide einander entfremdet hätte.391 Darüber hinaus habe er die Einheit von Körper und Seele als Wesensprinzip des russischen Volkes durch die rationale Idee zerstört und die Russen in Intelligenz und Volk geteilt.392 In ihrer Ablehnung von Staat und Recht stellten sie sich auch bewusst der Entwicklung des Liberalismus und des Rechtsstaat im Westen entgegen. Davon wollten die Slawophilen nichts wissen: „Wenn man uns aber sagen würde, Volk und Monarch könnten sich doch gegenseitig betrügen, daher brauchen wir eine Rechtsgarantie, so würde die Antwort darauf lauten: Wir brauchen gar keine Garantie.“393 „Die Garantie ist nämlich ein Übel. Denn dort, wo sie gebraucht wird, gibt es das Gute nicht. Lassen wir besser das Leben, in dem das Gute nicht existiert, zugrunde gehen, als es mit Hilfe des Übels am Leben zu erhalten.“394 Dabei wird die Idee der absoluten Erzwingbarkeit von Recht als etwas, was sich gegen den menschlichen Willen und die Sittlichkeit durchsetzen kann, abgelehnt.395 Die Rechtsidee der Slawophilen wird nicht durch die Erzwingbarkeit von Recht, sondern allein über das „geistig innere Wesen“396 verwirklicht. 390
Samarin, zitiert nach v. Schelting, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken, S. 18. 391 Utechin, Geschichte der Politischen Ideen in Russland, S. 80, Chomjakov, Pravoslavie, Samoderzˇavie, Narodnost, S. 219. 392 Chomjakov, Pravoslavie, Samoderzˇavie, Narodnost, S. 394 ff. 393 So der Slawophile Konstantin Aksakov, zitiert nach Kotljerevskij, Vlast i Pravo, S. 111, in der deutschen Übersetzung zitiert nach Silnizki, Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 39. 394 Aksakov, zitiert nach Kotljerevskij, Vlast i Pravo, S. 131 in der deutschen Übersetzung zitiert nach Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 39. 395 Laserson, Die russische Rechtsphilosophie, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 26 (1932/33), S. 298. 396 Nowgorodzeff, Über die eigentümlichen Elemente der russischen Rechtsphilosophie, in: Philosophie und Recht, Heft 2, S. 53 ff.
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Wenn die Beschäftigung mit dem Staat und dem Recht als „unrussisch“ abgelehnt wird und stattdessen die innere Harmonie in der Gemeinschaft des russischen Volkes betont wird, sind die Slawophilen Verfechter des autokratischen Prinzips. Aufgelöst wird dieser Widerspruch durch die Idee, dass Herrschaft nicht Recht, sondern Bürde sei. Deshalb sei es besser, wenn nur ein Erwählter sich damit auseinandersetze und das Volk davon unbelastet in der Freiheit des Geistes weiterleben könne. Aufgrund der Idealisierung der Gemeinschaft bei anhaltender Skepsis gegenüber dem Einzelnen bedarf es etwas, was den sich individualisierenden Einzelnen zur Gemeinschaft erzieht, ihn von der Gemeinschaft überzeugt. Davor entwickelten die Slawophilen ihr relativ konkretes Herrschaftskonzept. Dem Slawophilen Ju. Samarin (1819 – 1876) nach findet das Prinzip der Persönlichkeit (licˇnoe nacˇalo) allein in der Personifizierung des Volkes durch den Herrscher seinen Ausdruck. Der Selbstherrscher ist Hüter der organischen Einheit des russischen Volkes.397 Er vertritt das Volk in den Regierungsaufgaben, der Durchsetzung des Guten, des Allgemeinwohls und befreit den einzelnen Russen von dieser Aufgabe. Der Führer sei nicht nur der Vertreter des Einzelnen, sondern auch dessen Verteidiger und der Vermittler zur Gesamtheit. Indem jeder auf seine eigenen Interessen verzichtet, rettet er seine Persönlichkeit in der Person des Trägers des persönlichen Prinzips, des Fürsten. Dies sei die Idee des russischen Herrschaftsprinzips. Seine Säulen seien insofern die Gemeinschaft der obsˇcˇina sowie die Alleinherrschaft.398 Nach dieser Vorstellung der Einheit von Volk und Zar kann es keinen Missbrauch geben, weshalb es des Rechtsstaats und subjektiver Rechte gegenüber dem Herrscher nicht bedarf. Wenn auch Samarin als Slawophiler Peter den Großen und seine Errungenschaften als zu westlich ablehnte, finden sich in seinen Gedanken deutlich Hinweise auf die Staatsideen, wie sie F. Prokopovicˇ als Herrschaftsrechtfertigung für Peter I. formulierte.399 Dies mag daher rühren, dass Samarin seine Magisterdissertation u. a. über F. Prokopovicˇ anfertigte und sich darin ausführlich mit dessen Vorstellungen vom Gesellschaftsvertrag auseinandersetzt. Danach tritt das Volk seinem gottgleichen orthodoxen Herrscher die Macht ab, beauftragt ihn mit der Herrschaftsausübung und ordnet sich ihm dadurch unter. Mit dem Begriff der „sobornost“ rückt das Volk vom bloßen Untertanen in seiner Bedeutung deutlich nach oben und erhält erstmals eigene Substanz und eigene Qualität. Gleichzeitig trennt sich dadurch die Gesellschaft vom Staat.400 Die „sobornost“ versteht sich jedoch ausdrücklich nicht als politische Kraft und tritt dem Staat bzw. dem Monarchen nicht als politischer Opponent gegenüber. Sie trennt vielmehr zwischen der politischen-rechtlichen Regierung und der geistig-religiösen Gesellschaft. Damit wird der Staatsbegriff lediglich in seiner sittlichen Bedeutung abgewertet, 397 398
Zitiert nach Henke, Der russische Traum, S. 118. Zitiert nach v. Schelting, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken,
S. 18. 399 400
Vgl. Kap. B.I.3. Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 320.
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nicht aber seiner politischen (rechtsetzenden und rechtsausführenden) Macht eingeschränkt. Letztlich spielt der russische christliche Messianismus in der Vorstellung von der besonderen einheitsstiftenden Fähigkeit des russischen Volkes eine Rolle. Die Überzeugung von der Rechtgläubigkeit des russischen Volkes in der Orthodoxie führte zu dem Gedanken des Erwählt-Seins und zu einem ausgeprägten Nationalismus.401 Die Kirche war nach dem bedeutenden Slawophilen A. S. Chomjakov (1804 – 1860) die Trägerin einer freien Gemeinschaft, deren gemeinsamer Zweck es sei, die Wahrheit zu erkennen und zu verkünden.402 Dieses Prinzip der sog. „sobornost“ (Katholizität,403 Gemeinschaftlichkeit) beinhaltet die auf mystischer Einigung beruhende Gemeinsamkeit als Seinsprinzip der Kirche.404 Dieser Begriff ist für die orthodoxe Botschaft seit dem Konzil von Nicäa (381) der Anspruch auf Einheit und Universalität gegen eine mögliche Abspaltung und wird von den Slawophilen im 19. Jahrhundert auch auf die Gesellschaft angewandt.405 Dahinter steht nach Chomjakov ein Freiheitsprinzip, das sich nicht wie im Westen aus der Verantwortlichkeit vor der Freiheit in reine Notwendigkeitshandlungen, Zersplitterung und Hierarchien zurückziehe, sondern als Streben nach der größten Vollkommenheit der Freiheit, die freie Gemeinschaft von Glauben, Vernunft und Willen in der Kirche anstrebe. Individuelle Errettung ist danach nur über ein christlich-gemeinschaftliches Zusammenwirken möglich, wonach alle für alle verantwortlich sind. Dabei vollzieht sich die Einigung in der christlichen Idee nicht aus der Autorität der Kirche, sondern aus der Wahrheit. Christliche Einheit sei keine Doktrin, keine Einrichtung, sondern lebendiger Organismus. Chomjakov lehnt eine Kirche ab, die die Einheit erzwingt und fordert die freiheitliche Einheit.406 Wahre Einheit ist hier mehr als die Summe der Bestandteile. Chomjakovs Unterscheidung zwischen dem individualistischen Westen und dem gemeinschaftlichen russischen Prinzip kommt in einem Brief an den Anglikaner William Palmer zum Ausdruck, mit dem er in einem intensiven Gedankenaustausch die Möglichkeit einer Vereinigung der christlichen Kirchen erörterte. Dabei erklärt er, dass eine christliche Union (sojus) zwar mit der römisch-katholischen Kirche möglich sei, mit der orthodoxen Kirche aber könne es nur tatsächliche Einheit (edinstvo) geben, denn die russische Seele sei nicht für eine mechanische Vereinigung von verschiedenen Teilen, für eine harmonische Gleichheit geschaffen, sie könne nur im anderen aufgehen.407 Das System, das innerhalb dieser Einheit herrscht, ist insbesondere in der Form, die die sobornost bei Chomjakov annimmt, schwer zu greifen. Einerseits umfasst der 401 402 403 404 405 406 407
Schiel, Die Staats- und Rechtsphilosophie des Vladimir S. Solowjew, S. 12 f. Utechin, Geschichte der Politischen Ideen in Russland, S. 78. Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 242. Utechin, Geschichte der Politischen Ideen in Russland, S. 79. Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 242 f. Harder, Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche, S. 176 f. Brief von A. S. Chomjakov an W. Palmer vom 10.12.1844.
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Begriff „sobor“ die Idee der Versammlung als Zusammentreffen vieler Einzelner, ein lebendiger Organismus der „Wahrheit und der Liebe“. Intern zeichnet sich die Idee durch die fehlende Hierarchie und fremdbestimmte Organisation aus. Durch die Idee, ein Organismus zu sein, unterscheidet sich die Einheit vom bloßen Zusammenspiel Vieler. Gleichzeitig funktioniert die Einheit nicht aus dem freiwilligen Zusammenschluss, sondern durch Auserwählt-Sein und Unterwerfung unter die Gnade Gottes408, die diese Einheit erst ermöglicht. Das Besondere an dieser Unterwerfung im Gegensatz zum abgelehnten autoritären Prinzip ist, dass sie nicht gegen den Willen des Einzelnen geschieht, sondern aus der Erkenntnis ihrer Richtigkeit. Autoritarismus ist für die Slawophilen allein das, was gegen den Willen des Volkes geschieht. Dieser Wille aber entspricht nicht allein dem tatsächlichen, sondern im Zweifel dem göttlichen, den das Volk als seinen eigenen erkennt. Nur insofern wird auch der atheistische Kommunismus als Totalitarismus abgelehnt. Er entspringe nicht dem einenden göttlichen Prinzip und trenne daher Volk und Herrschaft. Vor diesem Hintergrund wird die Einheit wiederum zum Abgrenzungsinstrumentarium gegenüber demjenigen, der sich der russisch-orthodoxen Idee nicht unterwirft, beziehungsweise ganz generell gegenüber anderen Religionsgemeinschaften. Schwierig wird die Einordnung vor allem aufgrund der dem orthodoxen Denken eigenen, hier deutlich werdenden Vermischung von sakraler Gottesidee und profaner Lebenswirklichkeit.409 Bei Chomjakov wird das Göttliche auf Erden gesucht und im russischen Wesen verehrt. b) Die russische Idee Nationalistisch verschärft wurden diese religiösen Prinzipien410 im späteren 19. Jahrhundert durch die sog. russische Idee, die in einer 1945 in Paris veröffentlichten Schrift des Philosophen Nikolaj Berdjajev zusammengefasst wird. Danach wird die Gemeinschaftlichkeit aufgrund des ihr eigenen Abgrenzungscharakters das nationale russische Prinzip. Nach Berdjajev ist die russische Gemeinschaftlichkeit im Gegensatz zum Individualismus des Westens das obsˇcˇina-Denken, das Denken der gemeinschaftlichen Einheit, das chorische Prinzip (chorovolo nacˇalo); die Einheit von Liebe und Freiheit – ohne irgendwelche äußeren Grenzen, eine rein russische Idee.411 Nach Berdjajev bestand eine Verbindung zwischen den Ideen Hegels und der traditionellen russischen Idee der Gemeinschaftlichkeit mit der antiindividualistischen Grundüberzeugung. Deshalb sei auch die Hegelsche Vorstellung von der Herrschaft des Allgemeinen über das Einzelne, des Universalen über das Individuelle, der Gesellschaft über die Persönlichkeit in Russland auf große Übereinstimmung mit russi-
408 409 410 411
Chomjakov, Raboty po bogosloviju, Band II, S. 5. Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 361. Vgl. Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 209. Berdjajev, Die russische Idee, S. 66.
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schen Grundüberzeugungen gestoßen.412 Aufgrund seiner intuitiven Erfassung der russischen Geistesgeschichte kommt er zu dem Ergebnis, dass die russische Idee, die Idee der Gemeinschaft und der Brüderlichkeit aller Menschen und Völker sei. Das russische Volk sei zwar nicht gut organisiert, was aber durch eine höhere Empfänglichkeit für das Kommunitäre ausgeglichen werde. Das russische Volk neige zur Idee der Errichtung eines kommenden Gottes-Reiches, der höchsten Form menschlicher Vereinigung, die nur über die Gemeinsamkeit und die Brüderlichkeit auf Erden erreicht werden könne.413 Noch stärker als bei den frühen Slawophilen wird die Gemeinschaftlichkeit hier von der russischen Nation getragen. Bereits 1923 hatte Berdjajev dies in seiner These von der messianischen Tradition Russlands zum Ausdruck gebracht. Danach habe das russische Volk unter allen Völker am meisten den Geist des Universalismus: „Das alte große Rußland war eine Welt starker Kontraste und polarer Gegensätze – und dennoch hat es eine einheitliche Gestalt gehabt. Das Rußland auf den Gipfeln der russischen Kultur, bei den großen russischen Schriftstellern und in den Tiefen des Volkstums – es wurde als ein Rußland empfunden.“ Deshalb sei es dazu berufen, die christliche Einigung der Welt zu verwirklichen, den einheitlichen christlichen Kosmos des Geistes zu schaffen.414 Mit unterschiedlichen Schwerpunkten sehen die Slawophilen insofern die slawische bzw. russische Nation als eine besonders dem Geist der Gemeinschaftlichkeit verpflichtete Einheit, die aus der besonderen Nähe zum religiösen Prinzip in der Lage ist, eine Heil versprechende spirituelle höhere Einheit herzustellen. Insofern lehnen sie Freiheitsrechte des Einzelnen als die ursprüngliche Gemeinschaft zerstörend ab und übertragen die Verwirklichung von irdischer Gerechtigkeit dem Herrscher. Hier werden die mangelnde gesellschaftliche Differenziertheit und der fehlende subjektive Rechtsschutz gerade als etwas besonders Gutes und Schützenswertes herausgestellt. c) Kollektivistischer Anarchismus Bemerkenswert erscheint weiterhin, dass unter den geistigen Strömungen in Russland der Anarchismus die intensive Einheitsbildung zum Ziel hat, während die Idee des Anarchismus im Westen Ausdruck des absoluten Individualismus ist. Anders als beispielsweise bei den nicht-russischen Vertretern des Anarchismus, Godwin, Proudhon und Max Stirner, war die russische Variante nach Bakunin nicht individualistisch, sondern streng kollektivistisch.415 Bakunin, für den die Philosophie Hegels Religion war, weil sie in ihm den Gedanken der Erneuerung durch Synthesenbildung weckte,416 begründet seine Ablehnung von Staat und Herrschaft über andere gerade nicht mit einem Bedürfnis nach individueller Freiheit und Eigenständigkeit, sondern 412 413 414 415 416
Berdjajev, Die russische Idee, S. 84 ff. Berdjajev, Die russische Idee, S. 230 f. Berdjajev, Das neue Mittelalter, S. 98 ff. Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 106. Tschizˇevskij, Hegel in Rußland, in: Tschizˇevskij (Hrsg.), Hegel bei den Slawen, S. 192 f.
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stattdessen mit der seiner Meinung nach slawischen Idee der Brüderlichkeit und der Gemeinschaftlichkeit.417 Er kritisierte die Fiktion vom Gesellschaftsvertrag, weil sie die wahren Interessen der Gesellschaft tatsächlich unberücksichtigt lasse und der Staat stattdessen in Wirklichkeit durch Gewalt und Unterdrückung entstanden sei. Die vom Individuum gedachte Staatsauffassung sei in sich inkonsequent. Schwärmerisch charakterisiert Spektorsky den russischen Anarchismus als das sittliche Ideal der sozialen Ordnung bei den Slawen und verurteilt den westlichen Anarchismus als bloßes egoistisches Aufbegehren gegen die westliche soziale Hierarchie, Autorität und Herrschaft.418 Bei den russischen Vertretern des Anarchismus wird diese Gesellschaftsform als urrussisch erachtet. Wüst beschimpft Bakunin die nationale deutsche Bewegung nach staatlicher Einheit, der er rein militärisches Großmachtstreben unterstellt.419 Die Besonderheit des russischen Anarchismus gegenüber anderen Rechtsvorstellungen ist, dass das Kollektiv nicht von oben dirigiert werden sollte, sondern aus der eigenen Freiheit heraus, die sich in brüderlicher Vereinigung auflöst. Individualistische Freiheitsrechte lehnt Bakunin ab, weil sie immer mit äußeren Grenzen verbunden seien. Alle liberalen Definitionen, wonach nur die Freiheit des anderen die Freiheit des Einzelnen beschränken könne, sind nach Bakunin im Grunde Ausdruck von Despotie. Vielmehr werde der Mensch nur durch sein Aufgehen im Kollektiv zum Menschen. Tatsächliche Freiheit sei nicht in der Isolierung erreichbar, sondern nur in der Gemeinschaft, weil der Mensch seine Freiheit erst in der Widerspiegelung seiner Menschlichkeit im Bewusstsein aller seiner Mitmenschen entfalte. Notwendig erscheint ihm, zwischen den einzelnen Gemeinden eine neue Einigkeit herzustellen, denn die Uneinigkeit sei historisch belegt, das Unglück des slawischen Volkes.420 Obwohl es Bakunin dabei um die endgültige Entfaltung des Einzelnen geht, fehlt es an durchdachten Schutzinstrumenten für den Einzelnen. Gefordert wird vor allem die Abschaffung von Gesetzen, Richtern und Gerichten, da sie staatlich sind und somit der Freiheit des Volkes im Wege stehen.421 Ähnlich geht auch der russische Anarchist Fürst Kropotkin von der natürlichen menschlichen Neigung zur Kooperation aus. Während sich Kropotkin auf die Natur beruft, beruht die Idee bei Lev Tolstoj, als religiösem Vertreter des Anarchismus in Gott.422 Er sieht in dieser Organisationsform das Ideal von freier geistiger Harmonie und Eintracht. Auch hier findet sich eine Anarchismusvorstellung, die zwar Machtausübung, äußere Freiheitsbeschränkung und Fremdbestimmung ablehnt, gleichzeitig aber das Gemeinsame mehr schätzt als das Individuelle. 417
Bakunin, Staat und Herrschaft, dt. Ausgabe, S. 51. Spektorsky, Der russische Anarchismus, in: Philosophie und Recht, Heft 2, 1922, S. 63 ff. 419 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 548 f. 420 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 280 f. 421 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 5. 422 Spektorsky, Der russische Anarchismus, in: Philosophie und Recht, Heft 2, 1922, S. 75. 418
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Noch stärker als in der historischen Rechtsschule kommt bei Slawophilen, Anarchisten und Vertretern der Russischen Idee die Einheit des Volkes als besonderes russisches Prinzip der Gemeinschaftlichkeit zum Ausdruck. Die hier dargestellten Einheitsvorstellungen unterscheiden sich insofern vor allem durch den Träger der Einheit. Dies sind entweder der Staat, die Nation, das Volk, die Slawen in christlicher Mission oder das Kollektiv als Gemeinschaft der Individuen. Übereinstimmung besteht aber dahingehend, dass nur die Gemeinsamkeit Grundlage für menschliches Leben sein kann. Einheit ist dabei nur nicht Notwendigkeit oder funktionales Nebenprodukt des Zusammenlebens von Menschen, sondern mit einem eigenen Wert versehenes Ziel. Einheit erhält hier ein dem Einzelnen übergeordnetes Ich und erfährt deutlich mehr Bedeutung als ein Einheitsbegriff, der das funktionales Zusammenwirken von Individuen beschreibt. 3. Solovev: Staatliche Einheit als Voraussetzung für die mystische All- Einheit Eine herausragende Stellung in der Auseinandersetzung um die Rolle des Staates auf dem Weg zur idealen Organisationsform für das russische Volk nimmt Vladimir S. Solovev (1853 – 1900) ein.423 Der Sohn des Historikers S. M. Solovevs wird zu den einflussreichsten russischen Denkern, ja sogar zu den größten russischen Philosophen424 gerechnet.425 Ihm gelang es, zwischen Westlern und Slawophilen eine Synthese zu bilden.426 Das Besondere an Solovev ist, dass er nicht nur die Idee der staatlichen Einheit der Westler aufgreift, sondern auch die slawophile Idee der mystischen Vereinigung aller Menschen und diese beiden Aspekte miteinander verbindet. Anders als bei Cˇicˇerin ist staatliche Einheit nicht Voraussetzung für die Freiheit, sondern für die mystische russische sobornost.
423 Als Sohn des Historikers S. M. Solovev in Moskau geboren, wird er im christlichen Glauben erzogen. Mit 16 Jahren wird er an der Moskauer naturwissenschaftlichen Fakultät immatrikuliert, die insbesondere durch die Beschäftigung mit der Darwinschen Evolutionslehre sein Interesse geweckt hatte. Kurze Zeit später folgt ein Wechsel zur Fakultät für Geschichte und Philologie. Seine Dissertation „Die Krise der westlichen Philosophie: Gegen die Positivisten“ zeichnet ihn als Kenner der westlichen Philosophie aus und begründet seine Lehrtätigkeit. Nach einer ablehnenden Rede über die Todesstrafe 1881 anlässlich des Attentats auf Zar Alexander II. muss er seiner Hochschullaufbahn beenden und konzentriert sich fortan auf religiöse Fragen (vgl. de Courten, History, Sophia and the Russian Nation, S. 29 ff.). 424 Gurwitsch, Die zwei größten russischen Rechtsphilosophen: Boris Tschitscherin und Wladimir S. Solovjew, in: Philosophie und Recht, Heft 2, 1922, S. 87. 425 Vgl. Goerdt, Russische Philosophie, S. 471 f., Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II, S. 403. 426 Schiel, Die Staats- und Rechtsphilosophie des Vladimir S. Solowjew, S. 13.
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a) Das Streben des Menschen zur All-Einheit Ausgangspunkt war für Solovev der zerrissene „entfremdete“ Mensch seiner Zeit, den er zur natürlichen Einheit mit Natur und Religion zurückführen will.427 Wenn er den Menschen an den Anfang seiner philosophischen Überlegungen stellt, befindet sich Solovev am Anfang einer für Russland neuen weltanschaulichen Betrachtungsweise. Dabei lässt ihn der neue Blick auf den Menschen, wie u. a. auch den Schriftsteller Dostoevskij in diesem vor allem eine tiefgreifende Spaltung in Gut und Böse erblicken.428 Während Dostoevskijs Schwerpunkt auf der Betrachtung der Zerrissenheit des Menschen liegt und der christliche Glaube als Erlösung aus dieser Spaltung eher peripher zu erkennende Hoffnung bleibt, macht Solovev die Fähigkeit der Religion zur Aufhebung der Gegensätze zum entscheidenden Inhalt seiner Lehre. Dabei sind die Gegensätze vor allem durch eine religiöse Einteilung in Gut und Böse gekennzeichnet. Dabei besteht das Böse vor allem aufgrund der menschlichen Freiheit und muss vom freien Menschen überwunden werden.429 Der Mensch ist zu Beginn sündig, überwindet diese Seite in sich und entdeckt seine göttliche Natur, die ihm auch nach außen hin einende Kräfte verleiht.430 Vor diesem Hintergrund erfährt der Begriff der Entwicklung bei Solovev besondere Bedeutung. Danach ist Entwicklung „eine Reihe immanenter Veränderungen eines organischen Wesens, das von einem bestimmten Punkt ausgeht und sich auf ein bestimmtes Endziel richtet“.431 So suchte er die Verbindung zwischen Mensch und Natur, zwischen Philosophie und Religion und vor allem die Verbindung der Glaubensüberlieferung der orthodoxen Kirche mit der Wissenschaft des Westens. Das Christentum stellt für ihn reine Wahrheit dar. Der Mensch könne seine Seele nur zurückgewinnen, wenn er bereit sei, sie an die übergeordnete Gesamtheit abzugeben und sich der „All-Einheit“ (russ.: vse-edinstvo) zu öffnen.432 Das Chaos ist für Solovev stattdessen die Vielheit, das Uneinige, das Geteilte; eine Vorstellung, die er mit Hegel teilt.433 Vladimir Solovev sieht in der All-Einheit zwei Aspekte: den negativ-abstrakten und den positiv-konkreten. Dabei beinhaltet die negativ abstrakte Seite der Einheit das, was allem Existierenden gemein ist (obsˇcˇe vsemu sysˇcˇestvujusˇcˇemu). Die zweite Seite beschreibt dagegen das Verhältnis des allumfassenden geistig-organischen 427
Solovev, Spor o spravedlivosti, Moskau 1991, S. 612. In seinem Roman „Schuld und Sühne“ bringt Dostoevskij dies besonders plastisch an der Figur des Raskolnikov (von „raskol“ – russ.: Spaltung) zum Ausdruck, der zunächst rücksichtslos mordet, um anschließend über die Reue dem Geistlichen Raum zu geben und das Dämonische in sich zu verdrängen. 429 Solowjew, Werke, Band V, S. 267. 430 Zum Menschenbild bei Dostoevskij und Solovev: Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 164 ff. 431 v. Schelting, Russland und der Westen im Russischen Geschichtsdenken, S. 142. 432 Ausführlich bei Solowjew u. a. 10. Vorlesung, Deutsche Gesamtausgabe Band I, S. 702 ff. 433 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 86 ff. 428
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Ganzen zu seinen Gliedern und Elementen.434 Die negativ-abstrakte All-Einheit ist das vorirdische Göttliche, aus dem alles entstand und in dem alles bereits besteht. Gleichzeitig ist sie für ihn als Wiedervereinigung von Menschlichem und Göttlichem Ziel aller irdischen Entwicklung.435 In diesem Sinne lehrt Solovev die Priorität des Ganzen vor dem Einzelnen, wobei das Einzelne nicht im Ganzen aufgehen soll, sondern durch es gestärkt und vervollkommnet wird. Die Überwindung des Egoismus durch das Aufgehen im Ganzen ist für ihn daher wahre Freiheit. Erst die Selbstverleugnung könne zum Göttlichen führen, in der eine tatsächliche Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit möglich sei, weil aus der Zusammengehörigkeit Solidarität entstehe.436 Freiheit ist für ihn Ziel und nicht Bedingung für menschliches Leben. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind als Teile des Guten allein aus der Entwicklung heraus zu erreichen. Insofern kommt der Hegelschen Idee von der dialektischen Entwicklung zum Absoluten bei Solovev eine besondere Bedeutung zu, wenn sie auch anderes als bei Hegel, nicht allein vorwärts treibende Synthese,437 sondern auch Rückkehr zur ursprünglichen, außerhalb der Entwicklung stehenden Einheit ist.438 Anders als Hegel macht Solovev keinen Unterschied zwischen Philosophie und Politik. Indem die mystische All-Einheit bei Solovev tatsächliches politisches Ziel ist, verliert sie den Gehalt eines philosophischen und dadurch tatsächlich-politisch unerreichbaren Ideals, sondern wird praktisch realisierbar. b) Brüderlich-slawische und staatliche Einheit als Vorstufe zur All-Einheit Konkret sieht Solovev das geistige Ideal der All-Einheit durch die brüderliche Einheit aller Menschen auf Erden als Vorstufe erreicht. Die neutestamentarische Vorstellung, alle Menschen seien Glieder eines Leibes, verbindet Solovev in seiner Schrift „Europa und Russland“ mit den Begriffen Gerechtigkeit, Solidarität und der „wesenhaften Gleichheit aller Menschen“.439 In der Einheit sieht er folglich die politisch schwierige Harmonie von Freiheit und Gleichheit verwirklicht. In dem Aufsatz „Über Sünden und Krankheiten“ verteidigt er seine Idee von der Menschheit als einem einheitlichen und unteilbaren Ganzen, indem er das Neue Testament zitiert: So ist die „wahre, in Christus geborene Menschheit ein einheitliches lebendige Ganzes, ein geistig-physischer Organismus, der real unvollkommen ist, aber heranwächst und 434
Solovev, Stichwort „Vseedinstvo“, in: Filosofskij Slovar, S. 42 – 3, Ressel weist darauf hin, dass der Begriff „Alleinheit“ mit der Definition der „Einheit, die alles umfasst“ in Russland zu einem philosophischen „terminus technicus“ geworden ist: Ressel, Zur philosophischen Terminologie von V. Solovev, in: Thiergen (Hrsg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit, S. 308. 435 Schiel, Die Staats- und Rechtsphilosophie V. S. Solowjews, S. 28 ff. 436 Solovev, Vorlesungen zum Gottesmenschentum, Dt. Gesamtausgabe, Band I, S. 549. 437 Hegel, Philosophie der Geschichte. 438 Tschizewskij, Hegel in Russland, S. 354. 439 Solowjew, Russland und Europa, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 139.
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sich zur idealen Fülle und Vollkommenheit entfaltet; die Glieder des Ganzen sind untereinander unbedingt solidarisch, alle sind für den einzelnen und der einzelne ist für alle unentbehrlich, so dass das Wohlergehen oder Leiden sein unmittelbares Echo im Wohlergehen aller hat.“ Den Wert erhält das einzelne Glied aus dem inneren Zusammenhang mit den anderen Gliedern. Daher ist für ihn ausreichend definiert, dass die Einheit des Ganzen mit der Gleichheit aller Teile zusammenfällt und Einheit und Gleichheit bedeutungsgleich sind.440 Von daher ist zu schließen, dass dem Begriff Einheit hier die Bedeutung von Einheitlichkeit zukommt, der in der deutschen Sprache Gleichartigkeit ausdrückt. Letztlich erklärt sich dies daraus, dass Solovev den Begriff „Gleichheit“ anders als die Forderung „galit“ der Französischen Revolution nicht als Recht besonders valorisiert, sondern mit Hegel441 nur als Tatsache durch eine Mehrzahl von gleichen Menschen begreift.442 Neben der Bedeutungskongruenz von Einheit und Gleichheit fällt die Bezugnahme auf die „wahre in Christus geborenen Menschheit“, also die christliche Gemeinde auf, die auch Solovev, in seinem Begriff von der Einheit der Menschheit vorauszusetzen scheint. In den verschiedenen Schaffensphasen Solovevs ändert sich das Subjekt der brüderlichen Gemeinde, sowie das Verständnis von der einen, einenden Gewalt. In einer ersten „slawophil-mystischen“443 Phase übernimmt er von den Slawophilen den Glauben an die besondere Rolle der Slawen. Im Gegensatz zu den Muslimen, die nach Solovev nur Gott ohne den Menschen kannten und dem Westen, der die Gottheit in eine für Solovev negative Vielheit zersplittere, könnten allein die Slawen eine neue Einheit zwischen Gott und den Menschen verwirklichen.444 Ab 1883 distanziert sich Solovev von den Slawophilen und der Idee der besonderen Rolle der Slawen. Stattdessen spricht sich Solovev auf der Grundlage der Idee von der Einheit aller Menschen gegen jede Form von Nationalismus aus und setzte sich, wie auch Chomjakov für die Einheit der Christen in der Ökumene ein.445 Er distanziert sich grundsätzlich von einem extremen orthodoxen Glauben und dem russischen nationalistischen Chauvinismus.446 Anders als für die Slawophilen, die dem slawischen oder russischen Volk die historische Kraft der christlichen Vereinigung aller Menschen als Endstufe aller Entwicklung zusprachen, kommt für Solovev diese Rolle nun dem Staat zu.
Solowjew, Über Sünden und Krankheiten, Deutsche Gesamtausgabe Band IV, S. 342. Vgl. die Gleichheit der Menschen bei Hegel: Die Gleichheit der Menschen beruht bei Hegel in der Annahme des Christentums und der damit angenommenen Gleichheit als Kinder Gottes. 442 „Und da die Eigenschaft, Mensch zu sein, in gleicher Weise allen Menschen eignet, so ergibt sich daraus auch die Gleichheit aller Menschen untereinander.“ Vorlesung über das Gottesmenschentum, Deutsche Gesamtausgabe, Band I, S. 540. 443 Gurwitsch, Die zwei größten russischen Rechtsphilosophen: Boris Tschitscherin und Wladimir Ssolovjew, in: Philosophie und Recht, Heft 2, 1922, S. 87. 444 v. Beyme, Politische Theorien in Russland, S. 92. 445 v. Beyme, Die politischen Theorien in Russland, S. 90. 446 v. Schelting, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken, S. 152. 440 441
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Wenn die Gesellschaft Voraussetzung für die Freiheit und die Moral des Einzelnen sein soll, so bedarf es etwas, was diese garantiert. Vor allem in Abgrenzung zum anarchistischen Ideal Tolstojs fordert Solovev etwas, das die Gesellschaft sichert. Diese Sicherheit bieten für ihn der Staat und das Gesetz.447 Während die mystische überirdische „All-Einheit“ das höherrangige Ziel bleibt, findet sich bei Solovev eine irdische Vorstufe zur Errichtung der göttlichen Ordnung in der Konstituierung einer brüderlichen Gemeinde im Staat. Der starke Staat wird zum Träger der Verwirklichung der Gemeinschaft, zum Mittel des Guten, durchsetzendes Instrument von Recht und Ordnung und Voraussetzung für die Umsetzung einer höheren Sittlichkeit.448 Legitimation erfahren Recht und Staat insofern, als sie als Mittler zwischen Gut und Böse selbst in der Sittlichkeit verankert und so Bedingung für den Sieg des Guten sind.449 Der Staat ist insofern „Bollwerk“450 der Russen gegen äußere Kräfte, das nach innen eine Vereinigung notwendig mache. Nach den slawophilen Vorstellungen ist der russische Staat für ihn jedoch nicht aus dem russischen Selbst entstanden, das auch für Solovev durch die Unfähigkeit zu Ordnung und Organisation gekennzeichnet ist.451 Anders als die Slawophilen nennt er die Entstehung des russischen Staates eine positive Leistung.452 Solovev verteidigt diese Leistung, wenn auch entstanden durch „unrussische Einflüsse“, indem er argumentiert, dass die Slawen alleine „Einheit (edinstvo) und Ordnung“, Prinzipien, nicht hätten herstellen können. Indem er sich auf die Nestorchronik bezieht453, argumentiert er, dass es der Waräger bedurfte, die das russische Land vereinigten und so die unabhängige Existenz schufen, die für Russland notwendig war. Für ihn ist insofern die „äußere und innere Verbindung mit Europa“454 wichtig, um Russland aufzubauen. c) Einheit und Ordnung als Aufbauprinzip des Staates Gerade an dieser Textstelle über „Einheit und Ordnung“ als Voraussetzung für den Staat wird deutlich, was er unter der Vereinigung im Staate versteht: „Einheit und 447
Solowjew, Deutsche Gesamtausgabe Band V, S. 532. Vgl. zum Verhältnis von Recht und Sittlichkeit bei Solovev: Gäntzel, Vladimir Solowjows Rechtsphilosophie auf der Grundlage der Sittlichkeit. 449 Vgl. auch Cauderay, S. 83. 450 Utechin, Geschichte der politischen Ideen in Russland, S. 162. 451 Solowjew, Über die Nationalität Russlands, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 41. 452 Solowjew, Über die Nationalität Russlands, Deutsche Gesamtausgabe Band IV, S. 41. 453 Die Aufforderung der Cˇud, der Slovenen, der Krivicˇen und der Ves an die schwedischen Varäger in der Nestorchronik lautet „Unser Land ist groß und hat Überfluss, aber es ist keine Ordnung in ihm! So kommt, Fürst zu sein und über uns zu herrschen!“ (Müller, Nestorchronik, S. 19 f.) Für die stark aus der geschichtlichen Betrachtung argumentierende russische Staatstheorie des 19. Jahrhunderts war diese Textstelle einerseits Argument für das grundsätzlich angeblich staatsfremde russische Wesen sowie des Weiteren für die Notwendigkeit von Staat im Sinne von Ordnung und Herrschaft als Voraussetzung für das Bestehen der russischen Völker als Gemeinschaft (vgl. dazu Kap. B.I.4., II.1.). 454 Solowjew, Über die Nationalität Russlands, Deutsche Gesamtausgabe Band IV, S. 41. 448
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Ordnung“ drückt bei Solovev nicht nur Einigkeit unter Abwesenheit von „Uneinigkeit und Fehden“ aus, sondern vor allem einen „ausgeprägten Sinn für Staatlichkeit“ (glubokoj gosudarstvenni smysl) sowie selbstloser unbeirrbarer Gehorsam für die Regierungsgewalt (pravitelstvennoe nacˇalo).455 Es wird deutlich, dass für ihn ein gegenüber dem Einzelnen starker Staat conditio sine qua non für das Bestehen des Russischen Reiches ist. Deutlich ordnet er „Gehorsam gegenüber der Regierungsgewalt“ positiv ein, indem er ihm den Adjektivzusatz „selbstlos“ und „unbeirrbar“ gibt. Mit dem Begriff „selbstloser Gehorsam“ des Einzelnen als Voraussetzung für das Bestehen des russischen Staates empfiehlt er nicht nur Solidarität, Brüderlichkeit und Sittlichkeit, sondern Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze. Der Begriff „edinstvo“ als Ordnungsprinzip steht hier für das gehorsame Einordnen des Individuums in den effektiv handelnden Staat. Gleichzeitig erklärt Solovev, warum Russland einen starken Staat brauche. Grund dafür ist zunächst die Weite des Landes. Die Notwendigkeit von Einigkeit und Ordnung liegt für ihn in der geographischen Situation Russlands auf der „großen Straße zwischen Europa und Asien“, die bedingt, dass man in der Lage sein müsse, Angriffe aus allen Himmelsrichtungen abwehren zu können. Ohne den von den Warägern gebrachten „Keim der staatlichen Organisation“ „wäre der russische Staat nicht nur nicht entstanden. Das russische Land wäre nicht vereinigt worden, und wir wären jetzt ebensolche Deutsche wie die Bewohner Mecklenburgs oder Pommerns“ schreibt Solovev 1884.456 „Staatliche Ordnung, starke Obrigkeit als Ziel“ ist für ihn nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung, um die Unabhängigkeit zu bewahren und geeint zu bleiben.457 „Ohne Staatlichkeit wären wir gleich unseren Stammesgenossen von den Ungläubigen geknechtet und von den Deutschen verschlungen worden“. Damit macht sich Solovev die schon von Katharina der Großen herangezogenen Lehre Montesquieus von den objektiven Bedingungen eines Landes als Voraussetzung für die Regierungsform zu eigen. Die aufgrund der Größe des Landes notwendige autokratische Regierungsform bekommt bei Solovev die positive Formel von „Einheit und Ordnung“ zugewiesen. Wenn der Staat Voraussetzung für das sittliche Ideal ist, bedeutet dies nicht, dass der Einzelne keine Bedeutung hat: Solovev wendet sich ausdrücklich gegen die Willkürherrschaft sowie gegen die Todesstrafe.458 Selbstherrschaft ist für ihn aber deshalb keine Despotie, weil der Einzelne aus dem christlichen Glauben heraus die besondere Mission Russlands erkennt, deshalb den Staat unterstützt und sich freiwillig unterordnet: „Die Unterordnung des Menschen unter die Gesellschaft stimmt vollkommen überein mit dem unbedingten sittlichen Prinzip, das nicht das Private dem Allgemeinen opfert, sondern beide in eine inneren Solidarität vereinigt; indem die Person der Gesellschaft ihre unbegrenzte, aber nicht gesicherte und nicht wirkliche Freiheit op455 456 457 458
Solowjew, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 43. Solowjew, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 43. Solowjew, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 43. Solovev, Recht und Sittlichkeit, Kapitel IV, Abschnitt II ff.
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fert, gewinnt sie dadurch die wirkliche Sicherung ihrer bestimmten und vernünftigen Freiheit“.459 Dabei stärkt der Staat zwar die Freiheit, Individualismus ist für Solovev aber nur dann gut, „wenn die Persönlichkeit auch tatsächlich einen höchsten Gehalt besitzt“, d. h. wenn das Individuum die sittliche Idee verwirklicht. Diese allgemeine Idee aber setzt „den Vorrang der Gemeinschaft und die Solidarität mit allen voraus“460 So verwirft er den Individualismus, soweit er im Egoismus seinen Ausdruck findet. Individuum und Gesellschaft sind bei ihm aber insofern keine Gegensätze, als das Individuum „konzentrierte Gesellschaft“ ist.461 Die Ausführungen verdeutlichen den hohen Grad der Gemeinschaftsbezogenheit seiner Sittlichkeit sowie die Aufgabe des Rechts und des Staates, diese Sittlichkeit umzusetzen. Davor hat der Einzelne keine Freiheitsrechte, bzw. nur insoweit als sie dem allgemeinen Wohl dienen. Recht ist allein Mittel zur Realisierung des sittlichen Ideals. So lehnt Solovev wie ˇ icˇerin die Interessentheorie Jherings ab. Es erscheint ihm nicht erstrebenswert, C jedes denkbare Interesse zu schützen. Schützenswert ist seiner Ansicht nach allein das rechtmäßige, d. h. das richtige sittliche Interesse. Daraus ergeben sich seine Vorstellungen vom Staat. Die autokratische Regierungsform ist hier nicht negativ bewerteter Zwang wie bei Montesquieu, sondern vorteilhaft für Russland, weil sie nicht gegen die Menschen, sondern mit den Menschen ausgeübt wird. Staat definiert er von der sittlichen Aufgabe zur Sicherung des Rechts her, der Durchsetzung des sittlichen Ideals. Der Autokrat ist das verkörperte Wohl aller, in ihm bekommt das Gesetz Gestalt. Auffällig ist insofern sein Vertrauen in das Gute und fehlende Überlegungen über Schutzmaßnahmen gegen Machtmissbrauch und Willkür. d) Das russische Volk als Element der Vereinigung Neben Einigkeit und Ordnung ist die Einheit des Territoriums für Solovev Voraussetzung für den russischen Staat. Die Einheit des Russischen Reiches im territorialen Sinne konkretisiert er, wenn er schreibt: „War es ein glücklicher Umstand unseres historischen Lebens, dass Russland, schon als es zum ersten Mal positiv in Erscheinung trat (bei der Berufung der Waräger für die Gründung des Staates), als eine übereinstimmende Familie von Völkern handelte (…). Und je mehr unser Staat wuchs, desto mehr erweiterte sich der Familienkreis der ihm untergebenden Völker. Es kamen neue Mitglieder hinzu, getaufte und ungetaufte, aber das Prinzip der wahren Einheit, das darauf beruht, dass jeder für sich Platz und Raum für sein friedliches Wachstum unter dem Schutz einer gemeinsamen Staatsmacht findet, blieb unangetastet.“462
459 460 461 462
Solovev, zitiert nach Cauderay, S. 83. Solovev, Kritik der abstrakten Prinzipien, 13. Kapitel. Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band II, S. 232. Solowjew, Die Familie der Völker, Deutsche Gesamtausgabe, Band VIII, S. 11.
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Dies könnte auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass Einheit das gleichberechtigte Zusammenleben in Vielfalt beinhaltet. Aus dieser Umschreibung könnte man gar das „Prinzip der wahren Einheit“ als Recht einzelner Völker oder einzelnen natürlicher Personen auf eigenen Platz und Raum im Sinne einer gewissen Autonomie ableiten. Weiter könnte man sich vorstellen, dass sich aus der Definition ein Schutzprinzip der Minderheit gegen den Staat und subjektive Rechte auf Zusicherung von „Platz und Raum“ ergeben könnten. Hier wird Ideal und Realität jedoch in der typischen Weise vermengt. Diese Vermischung wird auch an seiner ambivalenten Vorstellung vom Nationalismus deutlich. So lehnt er einerseits die zwanghafte Durchsetzung einer Nation ab. Über den Nationalismus schreibt Solovev: „Die Nationalität (narodnost) ist eine positive Kraft, und jedes Volk hat das Recht auf eine (von anderen Völkern) unabhängige Existenz und auf freie Entfaltung seiner nationalen Fähigkeiten. Die Nationalität ist der wichtigste Faktor des natürlich-menschlichen Lebens, und die Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins ist ein großer Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Die im Sinne der politischen Gerechtigkeit verstandene nationale Idee, in deren Namen sich schwache und unterdrückte Völker (narodnosti) verteidigen und befreien, hat eine hohe sittliche Bedeutung und verdient alle Achtung und Sympathie. Der Nationalismus oder nationale Egoismus, das heißt das Streben eines einzelnen Volkes, sich auf Kosten anderer Völker stark zu machen und über sie zu herrschen, ist eine völlige Verzerrung der nationalen Idee; in ihm verwandelt sich die Nationalität aus einer gesunden, positiven Kraft in einen krankhaften, negativen Kraftaufwand, der für die höchsten menschlichen Interessen gefährlich ist und das Volk selbst zum Verfall und zum Untergang führt.“463 In der 1884 erschienenen Schrift „Über die Nationalität Russlands“464 verteidigt er seine positive Vorstellung von dem an sich „heidnischen Nationalitätsgefühl“, das nach seiner Auffassung auf den ersten Blick als Rückschritt gegenüber der „christlichen Solidarität des Mittelalters“ erscheinen kann. Dies sei jedoch nur der Fall, wenn das Nationalgefühl allein in Gestalt des nationalen Egoismus auftrete. Solovev dagegen ist für ein Nationalgefühl, das als Forderung aller nach internationaler Gerechtigkeit zu verstehen ist, kraft derer alle Nationen das gleiche Recht auf selbständige Existenz und Entwicklung haben. Für ihn ist der Nationalismus nicht trennend, sondern eine positive Kraft, die die Nation in die große Einheit der Menschheit mit einbringt.465 Nur vor dem Hintergrund dieser Einheit als sittlichem Ideal ist für ihn die Vielfalt der verschiedenen eigenständigen gleichberechtigten Nationen möglich. Auf den Willen der verschiedenen Völker kommt es bei Solovev nicht an. Es reicht ihm aus, dass das Ideal von der Philosophie als richtig erkannt wurde. Auf den ersten Blick erstaunlich wirkt die besondere Rolle, die Solovev dem russischen Volk innerhalb der Einheit der Völker zukommen lässt: Im Hinblick auf die 463
Zitiert nach Silnizki, Aktuelle Emanzipationsversuche der sowjetischen Philosophie, Teil II: Solovev und die Gegenwart, in: BiOst 1988 Nr. 39, S. 20. 464 Solowjew, Über die Nationalität Russlands, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 34 ff. 465 de Courten, History, Sophia and the Russian Nation, S. 156.
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anderen Völker, die zum russischen Staat gehören, lehnt Solovev einerseits eine mit allen Mitteln exportierte russische Kultur als „unpatriotisch“ ab und sieht darin einen falschen Patriotismus. Tatsächlich patriotisch sei es stattdessen, in „Gefühlen und Gedanken, in den Mitteln und Methoden“ des Handelns „russisch“ zu sein. Ablehnend steht er der zwangsweisen Russifizierung in den Grenzgebieten gegenüber. Jedoch lehnt Solovev die kulturelle Dominanz der Russen nicht generell ab, vielmehr ist er allein gegen das zwangsweise Aufdrängen des Russischen. Das grundsätzliche „ob“ der Russifizierung stellt er nicht in Frage: „Die Geschichte des russischen Volkes weiß von Anfang bis in unsere Tage nur von einer natürlichen und freiwilligen Russifizierung der Fremdstämmigen. In der alten Zeit wurden die heidnischen Tschuden (zumindest im mittleren Teil unseres Staatsgebietes) allmählich und unmerklich von den christlichen Rus als ein Element höherer Kultur aufgesaugt; und in der Neuzeit ließen sich nicht selten echte Europäer freiwillig russifizieren und wurden sogar eifrige russische Patrioten. In diesem Fall war nicht die russische Kultur die Ursache, sondern die Milde des russischen Nationalcharakters, die Vielseitigkeit des russischen Geistes, die Empfänglichkeit und Duldsamkeit des russischen Fühlens, das heißt gerade alles das, wovon wir uns bei jedem Versuch einer zwangsweisen Russifizierung lossagen müssen, wirkte auf die fremden Menschen anziehend.“466 Insofern ist von Solovev eine kulturelle Autonomie der einzelnen Völker innerhalb des Russischen Reiches zwar durchaus gewollt, sie ist jedoch für ihn in erster Linie Mittel, um den Zusammenhalt des Russischen Reiches zu sichern. Er wendet sich nicht gegen Russisch als Staatssprache, sondern ist der Überzeugung, dass die Russischpflicht zu einer feindseligen Entfremdung führen würde.467 Freiwilligkeit und kulturelle Autonomie sind für ihn also nur deshalb wichtig, weil sie seiner Meinung nach Voraussetzung für eine Ausbreitung der russischen Kultur und für die staatliche Einheit sind. Infolge der relativen Freiheit der Teile wäre „die Einheit des Ganzen nicht nur gehaltvoller, vollständiger und tiefer, sondern gleichzeitig auch fester.“468 Während er den eroberten Völkern kulturelle Autonomie zubilligt, ist Solovev der Ansicht, dass dem russischen Volk in der Beziehung zu den eroberten Völkern in der Staatslenkung zweifelsfrei die führende Stellung zukommt. So spricht er von der Rolle Russlands im „Familienkreis der ihm untergebenen Völker.“ Scheinbar selbstverständlich steht dem russischen Volk die hegemoniale Rolle gegenüber den „untergebenen Völkern“ zu. Dahinter steckt die besondere Aufgabe des russischen Volkes, dem die „sammelnde“ Aufgabe zukommt.469 So schreibt Solovev von der „langen, schweren, groben Arbeit des politischen Sammelns des russischen Landes“.470 466 Solowjew, Was wird von einer russischen Partei gefordert? Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 101. 467 Solowjew, Was wird von einer russischen Partei gefordert? Deutsche Gesamtausgabe Band IV, S. 101. 468 Solowjew, Die Familie der Völker, Deutsche Gesamtausgabe, Band VIII, S. 9. 469 Zitiert nach Silnizki, Aktuelle Emanzipationsversuche der sowjetischen Philosophie, Teil II: Solovev und die Gegenwart, S. 19. 470 Solowjew, Die Familie der Völker, Deutsche Gesamtausgabe, Band VIII, S. 11.
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Diese Aufgabe rechtfertigt seine Vorrangstellung: In Wirklichkeit sei Russland mehr als ein Volk, es sei ein Volk, das andere Völker um sich gesammelt habe.471 Grundsätzlich besteht hier ein gewaltiger Widerspruch. Während Solovev einerseits nationalen Egoismus ablehnt, spricht er ganz natürlich von der Unterordnung der Völker unter das russische Volk als Prinzip der wahren Einheit. Wenn Solovev das Ideal der brüderlichen Einheit aller Völker anstrebt, so macht er deutlich, dass hinter dem Prinzip der wahren Einheit ganz klar die Beherrschung durch das russische Volk zu verstehen ist. Warum aber bedeutet für ihn die nationale Dominanz des russischen Volkes nicht auch „Verfall und Untergang“, so wie er es für die anderen Völker prophezeit? Die Antwort darauf kann nur aus der übergeordneten Bedeutung des Prinzips der staatlichen Einheit als Vorstufe der All-Einheit vor anderen Ideen gesehen werden. Wenn Solovev einerseits den nationalen Egoismus als Weg in die sittliche Isolierung und als unchristlich verdammt472, andererseits aber die Unterordnung der Völker unter das „sammelnde Russland“ als „Prinzip der wahren Einheit“ bejaht und das Werk Solovevs in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von dem Philosophen V. F. Asmus (1874 – 1975) als „bewundernswertes Werk, das gegen Nationalismus, nationalen Chauvinismus und nationale Intoleranz gerichtet ist“ eingestuft wird473, zeugt dies vom russischen Selbstverständnis und der Selbstverständlichkeit des Einheitsprinzips für die nationale Frage. Dass die All-Einheit derart überlagernd ist, manifestiert sich anhand einer anderen Textstelle: „… nach Ansicht des russischen Volkes ist die staatliche Einheit nicht das höchste und endgültige Ziel des nationalen Lebens. Obwohl das russische Volk (russkij narod) die ganze Bedeutung der staatlichen Ordnung begreift, wird es niemals seine Seele in diese politischen Ideen legen. Der Staat ist für das russische Volk nur ein notwendiges Mittel, das ihm die Möglichkeit gibt, nach eigener Art zu leben, das es vor der Gewalt fremder historischer Elemente schützt und ihm ein gewisses Maß an materiellem Wohlstand sichert.“474 Wenn Solovev in Übereinstimmung mit den Slawophilen den Staat und das Politische als „das höchste Ideal“ ablehnt,475 weil der Staat für ihn, anders als für Hegel,476 nicht selbst schon Ziel, sondern Notwendigkeit ist,477 bleibt für Solovev die Errich471
Solowjew, Was ist Rußland? Deutsche Gesamtausgabe, Band VIII, S. 21. Solowjew, Über die Nationalität Russlands, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 43 ff. 473 Asmus, V. S. Solovev: Opyt filosofskoj biografii, in: Voprosy filosofii 6/1988, S. 78, vgl. dazu Silnizki, Aktuelle Emanzipationsversuche der sowjetischen Philosophie der Gegenwart, Teil II: Solovev und die Gegenwart, in: Veröffentlichungen des BiOSt 1988, Nr. 39. 474 Solovev, Was wird von einer russischen Partei gefordert? Deutsche Gesamtausgabe, Band 4, S. 102, an anderer Stelle nennt er den Sinn des Staates abstrakter „die Verteidigung der menschlichen Gesellschaft gegen das Böse“ (Russland und die universelle Kirche, Deutsche Gesamtausgabe, Band III, S. 147 ff.). 475 Solowjew, Was wird von einer russischen Partei gefordert? Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 102 f., vgl. auch Das Slawophilentum und sein Verfall, Deutsche Gesamtausgabe, Band VI, S. 223 ff. 476 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 57: „Als solches ist der Staat die Vermittlung zwischen göttlicher Idee und objektivem Geist“. 477 de Courten, History, Sophia and the Russian Nation, S. 179. 472
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tung der göttlichen Ordnung, der All-Einheit das Ziel. Gerade dazu aber schafft der russische Staat nach Solovev den notwendigen Raum. Durch die Verhinderung von egoistischen Übergriffen organisiert der Staat das Gleichgewicht der eigennützigen Einzelkräfte und garantiert ihre sittliche Entwicklung. Diese Aufgabe hat der Staat zumindest solange zu erfüllen, bis die Individuen selbst in der Lage sind, ihr Miteinander zu organisieren. Bis dahin muss der Staat im Hinblick auf das sittliche Ideal aber notwendigerweise stark genug sein, um Oppositionelle zu beherrschen. So erklärt Solovev die staatliche Einheit zur entscheidenden Existenzvoraussetzung für das russische Volk innerhalb der geistigen Weltordnung. Der Staat ist also nicht per se das Vernünftige, sondern aus seiner Funktion heraus als einheitsstiftendes Element für das russische Volk in seiner christlichen Mission. e) Zwischenergebnis Silnizki sieht in der Betonung der Notwendigkeit „nationaler Einheit“ die „fundamentalste und substantielle Bestimmung“ des „Wesens des Politischen“ in Russland.478 Diese Einschätzung ist insofern nicht richtig, als Solovev „nationale“ und „staatliche“ Einheit streng unterscheidet: „Unser Volk schätzt die staatliche Einheit und würde ihre Verletzung nicht zulassen. Aber es verwechsele niemals die staatliche Einheit mit der nationalen.“479. So sei der russische Staat gerade kein Nationalstaat, sondern multinational, Solovev kommt es aber auf die Einheit der verschiedenen Nationen im Russischen Staat an. Ersetzt man aber bei Silnizki den Begriff „national“ durch „staatlich“, so erscheint es durchaus zutreffend, in der „staatlichen Einheit“ bei Solovev die Bestimmung des Politischen auszumachen. Die staatliche Einheit dient der Herbeiführung des sittlichen Ideals. Staatliche Einheit ist für ihn Voraussetzung für die Entwicklung und die Glückseligkeit des russischen Volkes, so dass alles Politische durch die Erfüllung dieser Bedingung gekennzeichnet ist. Vom Einzelnen fordert er die „selbstlose“ Unterordnung unter die Regierung, die die Einheit umsetzt. Damit gewinnt die staatliche Einheit bei Solovev auch Priorität vor dem Individuum. Daher kann man zu dem Ergebnis kommen, dass die Erhaltung der „staatlichen Einheit“ bei Solovev nicht nur die „Bestimmung des Politischen“, i.S. des staatlich-offiziellen Apparats darstellt, sondern Bestimmung der gesamten Polis als alle Bürger umfassendes Ganzes. Als notwendige Voraussetzung für die Mission des russischen Volkes ist die staatliche Einheit480 das Prinzip eines starken Staates, in dem Einigkeit und Ordnung, d. h. Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze herrscht, weil dieser nur so in der Lage ist, die Einheit des Territoriums zu garantieren, die er wiederum braucht, um zu existieren.
478 Silnizki, Aktuelle Emanzipationsversuche der sowjetischen Philosophie der Gegenwart, Teil II: Solovev und die Gegenwart, S. 21. 479 Solowjew, Was wird von einer russischen Partei gefordert, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 102. 480 Schiel, Die Staats- und Rechtsphilosophie des Vladimir S. Solowjew, S. 36.
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Mit dem Staat als Mittel zur christlichen Vereinigung bringt er die Gedanken der rationalen Westler und der mystisch-nationalistischen Slawophilen zusammen und ebnet den Weg für die Überzeugung, das Ideal vom kommenden absoluten Guten durch das autokratische Prinzip, die Unterordnung des Volkes unter den Herrscher im Staat erreichen zu können. Der vom Herrscherwillen abhängige Staat ist bei Solovev Bedingung für das absolute Glück. In dieser Verbindung vom Vernunftelement Staat mit dem mystischen Ideal Einheit kommt auch der bewusst ganzheitliche methodische Ansatz Solovevs zum Ausdruck, der die analytisch-trennende Entidealisierung des Politischen im Westen ablehnt.481 Ziel ist die alles umfassende Synthese. Gewollt verschwimmen Ideal und Praxis, was vom Leser erfordert, sich von einem „separierendem Denken“ freizumachen482 und was eine differenzierende Analyse nicht vereinfacht.
4. Der Einfluss Vl. Solovevs und der Slawophilen auf die Rechtswissenschaft am Beispiel Novgorodcevs und Gradovskijs a) Gradovskij: staatliche Einheit auf Grundlage der narodnost Ein Beispiel für die Integration der slawophilen Einheitsvorstellungen in die Rechtstheorie ist das Werk A. D. Gradovskijs (1841 – 1889), eines späten Vertreters der historischen Rechtsschule. In ihm vereinigen sich national-slawophile und liberal-westliche Vorstellungen. Beide verbindet er zu der Theorie „des national-progressiven Staates“.483 Grundlage für jede staatliche Entwicklung ist die narodnost (von narod-Volk, das Völkisch-Nationale). Danach gibt es in der Entwicklung der Menschheit zwei Tendenzen: einerseits die Herausbildung bestimmter Gruppen, zum anderen die anschließende Verselbständigung der Gruppen durch freiheitliche Entwicklung. In der Vereinigung dieser beiden Momente entsteht der Staat, in dem die narodnost ihre Selbständigkeit erst erhält.484 Damit wird der Staat zum Raum für die Besonderheit des russischen Volkes. Der Staat ist für ihn Voraussetzung und Mittel der Einheit. Der Staat sei die Gesamtheit aller Bürger, ihr natürliches Bestreben sei die Bildung eines eigenen Staates als Ausdruck ihrer inneren Einheit und ihrer äußeren Unabhängigkeit. Den Unterschied zwischen Nation und Volk lehnt er daher ab. Erst der Staat bilde „das lebendige und mächtige Nationalgefühl“ heraus.485 Wesen des Staates sei die Integration. Diese wird von der staatlichen Macht durchgesetzt. Die staatliche Macht ist nach Gradovskij innerhalb der drei Elemente des Staates – Staatsgewalt, Territorium und Volk – das dominierende Element. Politische Macht sei der 481 Vgl. Silnizki, Aktuelle Entwicklungen der sowjetischen Philosophie, Teil II, in: BiOst 1988, Nr. 39. 482 Gäntzel, Vladimir Solowjows Rechtsphilosophie auf der Grundlage der Sittlichkeit, S. 301. 483 Zamaleev, Einleitung zu Gradovskij, Socˇinenija, S. 9. 484 Zamaleev, Einleitung zu Gradovskij, Socˇinenija, S. 10. 485 Gradovskij, Sobranie socˇinenij, Band I, S. 13.
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Garant für eine zivilisierte kultivierte Gesellschaft.486 Diese staatliche Macht ist selbstverständlich einheitlich organisiert. Wie die Unabhängigkeit einzelner russischer Provinzen, lehnt er Subjektivismus insgesamt ab. Die Einzelpersönlichkeit erhalte erst in einer klar umrissenen normativen Rechtsordnung ihren eigentlichen Sinn.487 Das Subjekt wird nur im Zusammenhang mit dem ganzen Organismus bewertet. Individualismus ist für Gradovskij vielmehr die Wurzel allen Übels. Dieser atomisiere die Gesellschaft und zerstöre die natürlichen Organismen wie Familie, Wirtschaft und Kirche. Gradovskij geht zwar von der Einzelpersönlichkeit aus, diese hat sich jedoch der staatlichen Einheit als Voraussetzung für das Wohlergehen aller unterzuordnen. Ziel ist die Einheit von Staat, Volk und Einzelpersönlichkeit, die für ihn, anders als bei Hegel, tatsächlich durchgesetzt werden soll. Dadurch ist Einheit jedoch nicht mehr wie bei Hegel sittliche Idee sondern Seinsollendes. Gradovskij versteht staatliche Einheit nicht nur philosophisch als Aufgehen im Allgemeinen, sondern ganz konkret als Einheit des Territoriums unter einheitlicher Macht, die alle Subjekte umfasst. Aus juristischer Sicht wird die von Cˇicˇerin in Russland aufgebrachte Freiheitsidee so nicht weiterentwickelt, vielmehr verliert sie sich im nationalen Gefühl der Volksgemeinschaft. Reiner Liberalismus ohne Ziel und Gefühl ist für Gradovskij inhaltsleer, „mechanisch“ und ohne innere Verbindung.488 Eine Verselbständigung der Rechtsidee ist vor diesem Hintergrund nicht denkbar. Nicht das Recht ist bei Gradovskij die Grundlage und das verbindende Element im Staat, sondern die Nation, sie schafft staatliche Einheit. b) Staatliche Einheit als Garant für eine freiheitliche Gemeinschaftlichkeit bei Pavel Novgorodcev Ausgangspunkt von Solovevs Schüler, dem Juristen und Philosophen Pavel Novgorodcev (1866 – 1924), ist das autonom entwickelte Rechtsbewusstsein des freien Individuums. Wie die Staatstheorie der russischen historischen Rechtsschule ist auch Novgorodcevs Beschäftigung mit dem Recht vor allem in Abgrenzung zum Rechtsnihilismus seiner slawophilen Zeitgenossen zu sehen, die allein das Gesetz der sobornost anerkannten und die Rechtsidee als „westliches“, und damit falsches Konstrukt ablehnten. Herausragend macht Novgorodcev im Vergleich zu seinem intellektuellen Umfeld daneben auch die „westlich“-liberale Beschäftigung mit dem Individuum. So galt die Idee der Einzelpersönlichkeit für die Slawophilen, wie dargestellt, als „unrussisch“. Wie für Cˇicˇerin hat die Einzelpersönlichkeit dagegen aber auch für Novgorodcev absoluten Wert.489 486
Gradovskij, Sobranie socˇinenij, Band VI, S. 38. „Je größer das Verständnis vom Staate wurde, (…) desto größer wurde das Verständnis vom Menschen und das vom Volk.“, Gradovskij, Sobranie socˇinenij, Band 6, S. 420. 488 Gradovskij, Socˇinenija, S. 41. 489 Novgorodcev, Krizis sovremenogo pravosoznanija, S. 294 f. 487
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aa) Der Staat als Mittler zwischen Mensch und Gesellschaft Während der Mensch Ausgangspunkt seiner Sozialordnung ist, begreift Novgorodcev das Aufgehen des Menschen in der Gesellschaft als Gefahr. Anders als nach dem Prinzip der sobornost hat die Gesellschaft für ihn keinen eigenen Wert. Novgorodcev legt Wert darauf festzustellen, dass die Idee der Gemeinschaft der freien Entfaltung des Einzelnen nicht übergeordnet ist.490 Ausdrücklich warnt er davor, dass der Mensch in der Gesellschaft nicht untergehen dürfe. Gleichwohl wird das freiheitliche Weltbild Novgorodcevs von einem stark gemeinschaftsbezogenen Sittlichkeitsideal aufgefangen. Trotz seines Solovevschen Glaubens an das Gute im Menschen491 ist auch der grenzenlose Individualismus für ihn keine Alternative. Die grenzenlose Freiheit hat für Novgorodcev etwas Bedrohliches. Sie ist leer und ohne Orientierung. Wie den absoluten Kollektivismus lehnt Novgorodcev auch den absoluten Individualismus ab.492 Entscheidend sei die Balance zwischen Individualismus und Gesellschaft. So hat die Gesellschaft zwar keine eigene Substanz, ist aber anders als bei Cˇicˇerin, durchaus notwendig für den Menschen. Der Mensch brauche die Qualität der Verbindung. Insofern sucht Novgorodcev nach dem Gleichgewicht zwischen absolutem Individualismus und absolutem Kollektivismus, das er im „freiheitlichen Universalismus“ findet. Ohne seine Freiheit aufzugeben, gibt sich der Einzelne dabei in die Gesellschaft ein, die ihm wiederum positive sittliche Orientierung verschafft.493 Auch wenn er den Staat als absoluten Wert ablehnt, kommt diesem bei Novgorodcev in Übereinstimmung mit Cˇicˇerin die Rolle zu, die ideale Ordnung zu schaffen. Der Staat hat die Balance zwischen Individuum und Gesellschaft zu garantieren. Dabei hat der neutrale Staat eine Schiedsrichterfunktion zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Rechtsstaat verkörpert für ihn die Harmonie der Freiheit und der Gleichheit, des privaten Interesses und des allgemeinen Wohls. Die Sicherung von Freiheit und Gleichheit beschreibt Novgorodcev als die „vereinende Aufgabe des Staates“.494 Dabei verbindet der Staat die Menschen nicht nur zur Gesellschaft, sondern muss folglich auch den absoluten Individualismus verhindern. Schon deshalb ist das Wesen des Staates nicht allein die Verwirklichung von Freiheitsrechten. Novgorodcev legt zwar großen Wert darauf, dass das Recht des Einzelnen auf Freiheit und Gleichheit geachtet bleibt, das Prinzip der Solidarität in der Gemeinschaft und das absolute Prinzip der Individualität sind in diesem Zusammenhang aber nur gleichrangig.495 Der Staat ist auch bei Novgorodcev Mittler zwischen dem Menschen und der idealen Ordnung, er gibt dem Menschen die Voraussetzung, die Harmonie zu verwirklichen. Staatliche Einheit ist die Bedingung für das Zusammenleben.
490 491 492 493 494 495
Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 167. Vgl. Solowjew, Deutsche Gesamtausgabe, Band V, S. 153. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 166. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 167. Vgl. Cauderay, S. 239. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 111.
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Aufschlussreich ist Novgorodcevs Haltung zur marxistischen Philosophie. So geißelt er den Kommunismus als Ende des freiheitlichen Einzelwesens. Innerhalb von Novgorodcevs Extremen „Individualismus“ und „absolute Vergesellschaftung“ schlägt das Pendel im Marxismus nach Novgorodcevs Auffassung klar zu Lasten der Freiheit des Einzelnen aus. Hier geht der Mensch als reines Gattungswesen komplett in der Gesellschaft auf. Ausgangspunkt dieser Analyse ist für ihn das von Marx angestrebte Absterben des Staates. Wenn der Staat abstirbt, fehlt es dem Menschen am notwendigen Schutz vor der Gesellschaft. Für Novgorodcev steht die Auflösung des Staates insofern gleichbedeutend mit der Auflösung der Person und der „Degenerierung des Menschen zu einer Gattung“.496 Ohne den Staat sei nicht mehr garantiert, dass der Einzelne sich nicht einer Mehrheitsherrschaft beugen müsse. Ohne den Staat prophezeit Novgorodcev die notwendige Unterwerfung des Einzelnen unter die Gesellschaft. Aufgrund der nach Novgorodcev von Marx angestrebten Zerstörung des Staates kommt Novgorodcev zu dem Schluss, in der Philosophie des Marxismus habe „der Gedanke der Einzelpersönlichkeit keinen Platz“.497 Den freiheitlichen Grundgedanken der Marxschen Vereinigungsidee, der in der Zerstörung des herrschenden Staatsapparats nur einen zweitrangigen Aspekt neben dem Hauptziel, der Schaffung einer tatsächlichen freien Assoziation von Menschen sieht,498 kann Novgorodcev nicht nachvollziehen. Aus dieser Gegenüberstellung des marxistischen Ideals und der Staatsidee Novgorodcevs wird deutlich, dass staatliche Einheit bei Novgorodcev notwendige Voraussetzung für Freiheit ist. Freiheit ohne Staat ist für Novgorodcev undenkbar. Der „Rechtsstaat“ (pravovoe gosudarstvo) ist für ihn Garantie der Freiheit.499 Dabei ist die Methode der Freiheitssicherung durch den Rechtsstaat bei Novgorodcev deutlich eine andere als die des deutschen Rechtsstaatsmodells. Während die deutsche Rechtsstaatsidee dem Bürgertum einen durchsetzbaren Freiraum gegenüber dem bis dahin unbeschränkten Monarchen durch eine Rechtsanspruch sichert,500 werden deren Elemente (Gewaltenteilung, Rechtsschutzgarantie, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes) in der sich ohne unterdrückenden Machtappart organisierenden marxistischen klassenlosen Gesellschaft überflüssig.501 Für Novgorodcev ist ein freiheitliches Zusammenleben in der sich selbst organisierende Gesellschaft aber ohne seinen „Rechtsstaat“ undenkbar, weil allein der Staat, den er „Rechtsstaat“ nennt, zu dieser Freiheit führt. Wesen dieses Rechtsstaates ist nicht der Individualismus, sondern die Sittlichkeit.502 Gerade für eine von einem Freiheitsideal geleitete Lehre bleibt erstaunlich, dass Novgorodcev die Gefahr für die Freiheit des Einzelnen in der Gesell496 497 498 499 500 501 502
Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 279 ff. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 279. Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 45. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 279. Vgl. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 13, I.1. So auch Kelsen in Bezug auf die Gewaltenteilung, in: Staat und Sozialismus, S. 151 f. Vgl. Cauderay, S. 301.
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schaft sieht und nicht im Staat. Das „Gegenüber“ des Einzelnen ist nicht in erster Linie der Staat, sondern die Gesellschaft. Novgorodcev hat vor allem Angst, der Einzelne könnte in der Gesellschaft untergehen, nicht aber im Staat. Vor dem Hintergrund der Idealisierung der Gesellschaft durch Kommunisten, Anarchisten und Slawophile bleibt dieser Ansatz Novgorodcevs nachvollziehbar. Für die rechtlich-politische Konkretisierung des Verhältnisses vom Einzelnen zum Staat sowie von Staat und Gesellschaft ist er jedoch wenig förderlich. bb) Die Kritik am Rechtspositivismus als Ausgangspunkt Bemerkenswert erscheint angesichts dieses freiheitlichen Modells, dass auch Novgorodcev das positivistische Rechtsstaatsideal als unabhängiges Schutzinstrument gegen staatliche Eingriffe in die Autonomie der Person scharf kritisiert.503 Die Idee des positiven Rechts beruft sich in Abgrenzung zum Naturrecht allein auf die vom Gesetzgeber gegebene menschliche Legitimation.504 Dabei ist der Rechtspositivismus in Deutschland eng mit der Freiheitsidee verknüpft. Ausgangspunkt ist die Sicherung der Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem monarchischen Staat. Politisches Ziel dieser Idee war es im 19. Jahrhundert vor allem, die monolithische Herrschaft des Monarchen durch einen geschützten Freiheitsraum und politischer Macht des Bürgers aufzubrechen.505 Die entsprechende Beschränkung der Herrschaftsmacht des Königs sieht man in Anlehnung an die amerikanische Verfassung506 durch die Bindung der Verwaltung an das von der Volksvertretung gesetzte Recht ermöglicht.507 Wie in der Naturwissenschaft entwickelt man die Lehre vom positiven, gesetzten Recht, das man wie ein naturwissenschaftliches Gesetz allein aus sich heraus und unabhängig von anderen Faktoren herausarbeitet. Was Recht ist, beantwortet sich allein aus Auslegung von Normen, die sich wiederum allein aus der Macht des Gesetzgebers und nicht aus einer höheren sittlichen Wahrheit ableiten lassen.508 Staatliches Handeln ist danach nur aufgrund von positiven Gesetzen möglich. Novgorodcev spricht sich zwar für den Rechtsstaat aus, der den Einzelnen vor Eingriffen in dessen Freiheitssphäre schützt, er kritisiert jedoch am Rechtspositivismus die fehlende Garantie für die moralische Richtigkeit des positiven Gesetzes. Aufgrund seines sittlichen Anspruchs kann er nicht akzeptieren, dass ein Gesetz nur deshalb Recht ist, weil es vom legitimierten Gesetzgeber geschaffen wurde. Dadurch sieht er das Recht diskreditiert. Novgorodcev sieht in einem Gesetz, das sich nur 503
Vgl. ausführlich Cauderay, S. 155 ff. Rüthers, Rechtstheorie, 3. Kapitel, § 13, Rn. 471. 505 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 13 I.1. 506 „The government of the United States has been emphatically termed a government of laws and not of men. It will certainly cease to deserve his high appellation, if the laws furnish no remedy for the violation of a vested legal right“ (John Marshall, Begründung zu Marbury/ Madison, 1803). 507 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 26 Der Rechtsstaat. 508 Rüthers, Rechtstheorie, 3. Kapitel, § 13. 504
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durch Macht legitimiert, die Gefahr der Tyrannei. Es komme aus dem rechtsleeren Raum und garantiere insofern gerade nicht die Einheit von Staat und Recht.509 Dies wirft bereits ein erstes Licht auf seinen Rechtsbegriff. Novgorodcev reicht das formale Kriterium der ordnungsgemäßen Entstehung nicht aus. Um „Recht“ zu sein, muss ein Gesetz vielmehr höheren moralischen Ansprüchen genügen. In diesem Sinne hält er auch das Mehrheitsprinzip für ein problematisches Legitimationsproblem des positiven Rechts.510 Ein Gesetz, das allein dem willkürlichen Willen der Mehrheit entspricht, biete dem Individuum nach Novgorodcev nicht ausreichend Schutz. So ist er überzeugt, dass ein demokratisches Gesetz noch lange kein gerechtes Gesetz sein müsse. Darüber hinaus ist Novgorodcev auch deshalb gegen den Positivismus, weil er den Anspruch an die Rechtsordnung hat, die notwendigen sozialen Veränderungen einzuleiten. Ein positivistisches Rechtssystem, das allein auf starren Rechtsbeziehungen aufbaue, sei indes nicht in der Lage, die notwendigen sozialen Umgestaltungen herbeizuführen. Als Mittel, die sozialen Bedingungen zu verändern, dürfe das Recht nicht feststehend sein, sondern muss beweglich, dynamisch und veränderlich bleiben.511 Mit diesem Anspruch an das Recht grenzt er sich nicht nur vom Rechtspositivismus, sondern auch vom westlichen Naturrechtsverständnis ab. So hatte schon Hugo Grotius vom Naturrecht verlangt, dass es unveränderbar richtig wäre, „selbst wenn es Gott nicht gäbe“.512 Damit gilt das Naturrecht gerade in Abgrenzung zum veränderlichen, menschlich bedingten positiven Recht als „rein, ewig und universal.“513 Letztlich kritisiert Novgorodcev den Zwangscharakter des Rechts. Als Ergebnis seiner idealistischen Freiheitsvorstellung kann Recht nicht Ergebnis von Zwang sein, sondern nur Pflicht zum sittlichen Streben.514 Damit geht einher, dass Recht für ihn nicht Produkt von Macht und Staat sein kann, sondern allein von Sittlichkeit.515 Mit der Ablehnung von Zwang und vom Staat als Geltungsgrund von Recht wehrt sich Novgorodcev gegen einen grundlegenden Charakterzug des Rechts in den Augen der Positivisten. Danach ist das Recht in erster Linie das subjektive Recht. Wesen dieses subjektiven Rechts ist, dass es zwingend ist. Die Ausgangsfrage ist, was das subjektive Recht nütze, wenn es nicht durchsetzbar sei?516 Ein Recht ohne Geltung interessiert den Rechtspositivisten nicht. Recht, das nicht zwingt, ist aus der Sichtweise der Positivisten nicht Recht, sondern Ethik oder Moral.517 Dies ist Ergebnis der 509 510 511 512 513 514 515 516 517
Zitiert nach Cauderay, S. 225. Novgorodcev, Krizis sovremenogo pravosoznanija, S. 92 ff.,106 ff. Novgorodcev, Problemy Idealizma, S. 250. Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri tres, Vorrede, S. 33. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 213. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 583. Vgl. Cauderay, S. 224 ff. v. Jhering, Geist des römischen Rechts, Band I, S. 119. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 234.
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Kantschen Lehre von der Trennung der Pflichtethik vom Zwangsrecht. Während die Ethik aus einer bestimmten Gesinnung zu einer Handlung verpflichte, kann das Recht unabhängig von der Gesinnung das Gebotene erzwingen. Indem Kant die Freiheit zu einem Recht postuliert, ist auch die Freiheit erzwingbar.518 Die Rechtsgeltung kommt bei den Positivisten dabei aus der Autorität desjenigen, der sie erlassen hat, dem Souverän. In der Ablehnung des Zwangscharakters des Rechts verdeutlicht sich in Novgorodcevs Rechtsbegriff. Wenn Novgorodcev den Schutz der subjektiven Rechte in der deutschen (positivistischen) Staatsrechtslehre Georg Jellineks lobt,519 gleichzeitig aber gegen den Zwang des Rechts ist, so kann dies nur bedeuten, dass seine Vorstellung von Persönlichkeitsrechten nur soweit reicht, als Staat und Einzelpersönlichkeit die gleichen Interessen haben. Dem Zwang setzt Novgorodcev die Mitwirkung entgegen. cc) Das Naturrecht und die Idee des allgemeinen Willens als Rechtfertigung des Rechts In diesem Sinne sucht er nach einer allgemein gültigen Rechtfertigung des Rechts, die er in einer ethisch-idealistischen Variante des Naturrechts (estestvennoe pravo) findet. Dieses Naturrecht ist nach Novgorodcev die „Gesamtheit der moralischen (nravstvennych) Vorstellungen über das Recht“ (nicht als positives, sondern als verpflichtendes Sein), als „Ideal der Zukunft“, als „sittliche Kriterium für Wertungen, die unabhängig von der faktischen Bedingungen der Rechtsgestaltung existieren.“520 Notwendig sei eine Vervollkommnung des Rechts durch die allgemeingültigen Gesetze der Moral als kategorische Imperative. Er braucht das Naturrecht als Grenze für den Staat als Träger des Gewaltmonopols, weil das vom Staat erzeugte positive Recht diesen nach Novgorodcevs Auffassung nicht binden kann. Konkret fordert er ein Naturrecht in Form eines vom ganzen Volk getragenen allgemeinen Rechtsbewusstseins als Korrektiv zum positiven Recht.521 Ausgangspunkt des Naturrechts ist die idealistische Vorstellung von dem nach sozialem Konsens strebenden autonomen Individuum. Dabei sieht er die Herstellung von Gerechtigkeit in erster Linie als Kampf des Einzelnen mit sich selbst. Rechtsgewinnung ist Selbstbändigung und Streben. Geleitet wird der Einzelne von dem Ansporn, sich nicht mit der gegenwärtigen Existenz abzugeben. Das Naturrecht speist sich dabei aus der gemeinsamen moralischen Vorstellung des Volkes, dem gemeinsamen Rechtsbewusstsein. Recht sieht er als ein Produkt der Pflichtethik des freien Menschen. Die Pflicht zur Umsetzung des sittlichen Ideals, die bis dahin dem Herrscher allein oblag, wird nun der Vielzahl von Einzelpersönlichkeiten übergeben. Diese sind dabei nicht unmittelbar politisch an der 518
Vgl. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 36. So Cauderay, S. 239. 520 Novgorodcev, K voprosu o sovremennych filosofskich iskanijach, S. 129, zitiert nach Cauderay, S. 170. 521 Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, S. 454. 519
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Rechtssetzung beteiligt, sondern entwickeln einen gemeinsamen Willen, den der Staat umzusetzen sucht. Insofern beinhaltet die Naturrechtsidee Novgorodcevs auch den Schutz der Persönlichkeit vor positiven Gesetzen des Staates, die dem sittlichen Ideal des Volkes widersprechen.522 Während die Moral des autonomen Individuums Quelle des Naturrechts ist, ist das Individuum gleichzeitig von einem unaufhörlichen Streben nach dem sittlichen Ideal ausgefüllt. Inhaltlich entspricht dieses Recht jedoch am Ehesten der Kantschen Pflichtethik. Für Novgorodcev beispielhaft ist gleichzeitig der sittliche Anspruch Rousseaus an den Einzelnen. Entscheidend für die Legitimation eines Gesetzes ist wie bei Rousseau der allgemeine Wille. Dabei stützt sich Novgorodcev auf das Studium der Idee der volont gnrale, dem allgemeinen Willen, als Ergebnis des Gesellschaftsvertrags. Während Hobbes die Souveränität des Volkes durch den Gesellschaftsvertrag an den Monarchen veräußert hatte, verblieb die Souveränität nach dem Gesellschaftsvertragsmodell Rousseaus im Volk und jeder Einzelne wird Teil des Souveräns. Der Widerspruch zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem staatlichen Zusammenschluss wird durch die Unterordnung unter den Gemeinwillen gelöst (volont gnrale).523 Insofern ist der Bürger zwar Teil des Souveräns, muss aber gleichzeitig dem Gemeinwillen Gehorsam leisten.524 Dieser allgemeine Wille ist mehr als die Summe der Einzelwillen, er ist sittliche Richtschnur für den Einzelnen im Rahmen seiner politischen Teilnahme im Staat. Von dieser Idee angetan, teilt Novgorodcev auch die logischen Konsequenzen aus dem Modell des Gemeinwillens. Rousseau kann im Rahmen der Willensbildung keine Parteien und Interessengruppen zulassen, da sie durch ihre Vorherrschaft den Gemeinwillen verfälschen würden, die Herrschaft des Volkes ist unteilbar.525 Gleichfalls könnten die verschiedenen Interessengruppen den Einzelnen daran hindern, seinem sittlichen Anspruch gerecht zu werden, indem sie ihn als Gruppe negativ beeinflussten.526 Auch Novgorodcev misstraut der Mehrheitsherrschaft und entwickelt vor dem Hintergrund der Rousseauschen Theorie sein Konzept des allgemeinen Willens (obsˇcˇaja volja).527 Diesen gemeinsamen Willen charakterisiert die natürliche Harmonie der Interessen. Weil er die Gesamtheit der Einzelwillen darstellt, ist er automatisch gerecht. Aufgrund des sittlichen Charakters des Allgemeinwillens verbietet sich nach Novgorodcev auch die Parteiendemokratie als Kampf von Einzelinteressen. Daher kann der allgemeine Wille auch nicht durch formalisierte demokratische Abläufe ermittelt werden. Sie würden den Allgemeinwillen verfälschen. Anders als Rousseau betont das Konzept des allgemeinen Willens bei Novgorodcev weniger die Legitimität des Staates durch die politische Einheit von staatlicher 522 523 524 525 526 527
Novgorodcev, Krizis sovremenogo pravosoznanija, S. 294 f. Rousseau, Contrat Social I, 6. Rousseau, Contrat Social I, 6. Rousseau, Contrat Social II, 3. Rousseau, Contrat Social II, 2. Novgorodcev, Krizis sovremennogo pravosoznanija, S. 23 ff.
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Macht und dem Willen der Bürger als vielmehr den sittlichen Anspruch an den Einzelnen bei der Rechtsgewinnung des Staates. Novgorodcev erkennt, dass der Gesellschaftsvertrag nicht Realität sein kann und macht ihn zum Ziel. Der allgemeine Wille ist hier weniger politische Forderung, als vielmehr ethische Aufgabe. Der allgemeine Wille ist eine abstrakte Idee und soll als objektiver Wille des Volkes der staatlichen Macht als Orientierung dienen. Es komme darauf an, dass die staatliche Macht in ihrem staatlichen Handeln die Harmonie der Interessen des allgemeinen Willens anstrebe.528 Im Ergebnis hängt der Staat insofern weniger vom tatsächlichen Zuspruch des Volkes ab, als von der Verwirklichung des sittlichen Ideals der Gemeinschaftlichkeit in Freiheit. Der Gemeinwille wird hier allein zum Symbol der sittlichen Einheit von Volk und Staatsgewalt im gemeinsamen sittlichen Ideal.529 Die Identität von Staatsgewalt und Volk ist nur in Bezug auf das sittliche Ideal gegeben, nicht aber politische Realität. Dieses sittliche Ideal ist für ihn indes Quelle des Rechts. Entscheidend für das Verhältnis von Individuum und Staat bleibt die moralische Homogenität, die Einmütigkeit hinsichtlich des Ideals. Wie der Staat bleibt auch das positive Recht dem sittlichen Ideal untergeordnet. Aufgabe des positiven Rechts ist es, sich dem Ideal des gesellschaftlichen Lebens möglichst weit anzunähern. Die Anerkennung des sittlichen Ideals, bzw. des Naturrechts bleibt dabei auch der einzige Schutz gegen Willkür. Die Autonomie des Menschen hat insofern im sittlichen Gesetz ihren Platz, aber auch ihre Grenzen. Indem der Staat und das Gesetz Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft schaffen und dabei nach dem allgemeinen Willen trachten, will das Rechtssystem zwar das Individuum schützen, nicht aber Individualismus und Partikularismus. Interessenkonflikte löst das Recht, indem es zwischen moralisch richtigem und moralisch falschem Interesse unterscheidet. Wenn das Naturrecht auch zunächst unabhängig vom Staat existiert, so kann es letztlich nicht anders, als durch den Staat umgesetzt werden. Während Staat und Gesetz am Naturrecht orientiert sind und der Staat selbst Schiedsrichter über das Zusammenleben ist, fehlt es insbesondere an einem durchsetzbaren Kontrollmechanismus des Einzelnen über staatliche Gewalt und Norm. Indem Staat und Recht selbst das höhere Prinzip umsetzen, sind sie vielmehr unangreifbar. Dadurch, dass der Staat mit dem Individuum nach dem allgemeinen Willen strebt, ist er gut und förderlich. Wenn sich der Staat am Ideal des allgemeinen Willens orientiert, sind Gewaltenteilung, Mehrheitsherrschaft und durchsetzbarer Schutz gegen den Staat nicht nur überflüssig, sondern hinderlich. Sicherung bietet auch hier allein die geistige Einheit hinsichtlich des Rechtsbewusstseins. So vollzieht sich die Umsetzung des Naturrechts auch nicht durch Zwang, sondern in Einmütigkeit mit dem Rechtsbewusstsein des Volkes. Die Erzwingbarkeit des Rechts erübrigt sich hier, da Staat und Individuum gemeinsam allgemeinen Willen anstreben. Zwang dagegen wird nur notwendig, wo gegenteilige Interessen auftauchen. Diese zu schützen, scheint jedoch hier nicht das Ziel von Recht. 528
Vgl. Cauderay, S. 263 f. Vgl. zum Konzept der volont gnrale bei Novgorodcev ausführlich: Cauderay, S. 258 ff. 529
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dd) Die All-Einheit als höchstes Ideal Eine Zäsur im Denken Novgorodcevs bildet die bolschewistische Revolution. Noch deutlicher kommt es dabei auch zu einer Abgrenzung von den Regierungsformen des Westens, die er als gescheitert ansieht. Noch stärker als vorher begreift er die westliche Demokratie als unfähig, die Bindung des Einzelnen an das sittliche Ideal zu garantieren. In der Demokratie, dem freien Spiel der Kräfte, vermisst er die absolute Ordnung und die Garantien für den Schutz des Individuums. Noch entschiedener greift er die westlichen Denker an, die die Demokratie zu einem absoluten Wert erklären. Demokratie sei indes nur dann möglich, wenn Gerechtigkeit herrsche und wenn sich das Volk dem „höchsten Willen“ unterordne.530 Ohne gemeinsame sittliche Grundlage des Volkes führe die Demokratie allein zu Chaos und Anarchie.531 Ohne ideelle Homogenität begreift er die Demokratie in der Krise. Den Rückhalt für den Einzelnen und die Legitimität des Staates sucht er durch die Konkretisierung der gemeinsamen Grundlage zu verdichten. Diese gemeinsame Grundlage ist bei ihm, wie gesehen, das sittliche Ideal. Dabei kommt es zu einer Rückbesinnung auf die christlich-orthodoxe Lehre. Auf der Suche nach den Inhalten des sittlichen Ideals gerät auch Novgorodcevs Rechtsbegriff auf eine theologisch-metaphysische Ebene. Immer mehr nähert er sich dabei der Idee vom Naturrecht als dem göttlichen Recht an. Das Ziel ist für ihn zuletzt die „innerlich freie Einheit aller Menschen, die Einheit, die nicht durch Zwang und Autorität erreicht wird, sondern durch das Gesetz Christi, das zur inneren Natur des Menschen wird.“532 Wenn er auch weiterhin versucht, göttliches Gesetz und Freiheit des Einzelnen miteinander zu verbinden, so gelingt dies allein über den Konsens hinsichtlich des göttlichen Gebots. So muss sich der Einzelne letztlich doch in die Einheit einfügen, sich dem Gesetz Christi unterordnen, um zur innerlich freien Einheit aller Menschen zu gelangen. Dies geschieht nach Novgorodcev nicht aus Zwang, sondern aus Einsicht in das christliche Gesetz der gegenseitigen Solidarität: „Der einzige, wahre und vollkommene Weg zum Ideal ist die freie und innerliche Erneuerung einzelner Menschen und das innere Bewusstwerden ihrer gemeinsamen Verantwortung für einander und ihrer alles durchdringenden Solidarität. Da diese Umwandlung als Folge des Glaubens und der Liebe nur durch die Gnade Gottes erreicht werden kann, die im Menschen durch Gottes Segen entstehen, ist die Verwirklichung des menschlichen Ideals ohne Gott unmöglich. Sich ohne Gott, ohne Christus einzurichten, ist ein Versuch, der zur Unfruchtbarkeit und zur Schwäche verurteilt ist. Überall und immer, wo ein wirklicher sittlicher Fortschritt sichtbar wird, ist auch die Verwirklichung der Sache Gottes gegeben, die auch ohne Menschwille und ohne Berufung auf Gott geschehen kann durch die Kraft des höchsten Willens und der göttlichen Vorsehung.“533
530 531 532 533
Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 557. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 549. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 583. Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 583.
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Das gemeinsame Streben von Staat und Individuum nach dem höheren Ideal stellt er nunmehr als besondere russische Rechtsidee heraus: „Vor allem wird man uns fragen, wie es auch manche schon in Russland taten, wo bei uns Werke wie ,Esprit des lois und ,Contrat social, wo die klassischen russischen Werke seien, in denen die Idee des Rechts, die Idee der Gesetzlichkeit oder der Staatsgedanke mit entsprechender Klarheit und Kraft ausgesprochen und gewertet werden. Der westeuropäische Gelehrte wird mit dem ihm eigenen Hochmut, im Bewusstsein seiner eigenen Überlegenheit den ungebildeten und undisziplinierten Osten gar nicht oder wenigstens nicht richtig einschätzen, daß gerade durch die Tatsache, daß wir einen ,Esprit des lois und einen ,Contrat social nicht haben und nicht haben können, die Eigentümlichkeit unserer Lage unmittelbar hervortritt, und daß das Fehlen von Apologien des Rechtes und des Staates in der russischen Literatur gerade darin seinen Grund hat, daß der russische Geist im ewigen Streben nach dem was höher als Recht und Staat ist, seinen Ausdruck findet.“534 Indem er wahre Freiheit nur in der christlichen Gemeinschaft verwirklicht sieht, wird er zuletzt deutlich anti-individualistisch und anti-separatistisch. Angesichts der politischen Krise in der Sowjetunion appelliert Novgorodcev 1923 aus dem Prager Exil an die Einheit der politischen Kräfte. Indem er Klucˇevskijs Geschichtsschreibung über das Jahr 1611535 als Gleichnis heranzieht, macht er deutlich, dass in den „Zeiten der Wirren“, des zerstörten „formlosen“ Moskauer Staates allein die Einigung aller politischen Gruppen und die Überwindung von Einzelinteressen geholfen habe, das Land aus dem politischen Chaos zu befreien. Novgorodcev will mit diesem Beispiel deutlich machen, welche Bedeutung das Nationale (nacionalnoe nacˇalo) als Symbol der Sammlung und der Wiederherstellung (vosstanovlenije) der Kräfte des Volkes und der staatlichen Einheit habe.536 Dabei trennt sich Novgorodcev bis zuletzt nicht von seinem Ideal der individuellen Freiheit. Dieses wird jedoch ganz in den Aufbau der Gemeinschaft eingestellt. Zwar erfährt der freiheitliche Beitrag des Einzelnen als Voraussetzung für die „Rettung des Staates“ hier ausgiebige Würdigung. Ausdrücklich wird betont, dass die Befreiung nicht von oben erfolgt sei, sondern durch die friedliche geistige Einigung der Klassen. Trotzdem bleibt dem Individuum hier kaum eine Wahl. Die Freiheit ist klar durch die Idee der staatlichen Einheit determiniert. Novgorodcev macht deutlich, dass auf dem Weg zur Befreiung für das Einzelne, das Besondere, das Parteiliche, für Vereinzelung durch Gruppen- und Sektenbildung kaum Raum bliebe.537 Keine Partei könne Russland retten, sondern allein die
534 Nowgorodzeff, Über die eigentümlichen Elemente der russischen Rechtsphilosophie, in: Philosophie und Recht, Heft 2, 1922, S. 50. 535 Das Datum dient auch heute wieder als Beispiel dafür, dass die Überwindung von Einzelinteressen zugunsten des gemeinsamen Interesses die Gemeinschaft als Summe seiner Teile voranbringen würde. Am Tag, auf den die Kirche die Befreiung datiert, wird heute der „Tag der nationalen Einheit“ als Staatsfeiertag gefeiert (vgl. Kap. C.I., II.). 536 Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 572 f. 537 Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 576.
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geistige Einheit des Volkes.538 Einmal mehr betont er, dass mechanische Wahlen und Parteiensysteme aus Selbstzweck keinen Sinn machten. Sinn mache allein die Umsetzung des sittlichen Ideals. Angesichts des Zusammenbruchs des Russischen Reiches wird die slawophile Idee bei Novgorodcev übermächtig. Wenn die Freiheit auch noch theoretisch bejaht wird, geht sie ganz in der mystischen nationalen Einheit der Orthodoxie auf.539 Ausdrücklich bekennt sich Novgorodcev zur mystischen All-Einheit Solovevs. Für Novgorodcev sind die Ideen Solovevs „die systematisierten Vorstellungen Dostojewskis“,540 die „russische Idee in ihrer reinsten und vollkommensten Gestalt“ und die „Grundlagen der gesamten russischen Rechtsphilosophie“. Bei Solovev würde die russische Idee den Staat und das Recht anerkennen und von diesen durchgesetzt.541 Mit Solovev teilt er zuletzt auch die Vorstellung von Staat und Recht als Hilfskonstruktionen zum gesellschaftlichen Ideal: „Im Prozess des gesellschaftlichen Aufbaus stellen Recht und Staat nur gewisse Hilfsstufen dieser Entwicklung dar, die allein zu schwach sind, das Leben umzugestalten, ihre Aufgabe ist es, sich möglichst nahe zum wirklichen Ideal des Gesellschaftslebens zu erheben, welches in der Kirche in ihrem idealen Sinn als Stätte innerlich freien Zusammenlebens der Menschen, durch die Gnade Gottes geweiht und unterstützt, verkörpert ist. Das ist nicht der Weg der Theokratie, die durch Macht und durch Zwang die vollkommene Harmonie unter hierfür noch nicht reifen geschichtlichen Voraussetzungen zu erzwingen strebt.“542 Novgorodcevs Verdienst ist es, die individuelle Freiheit und das Recht als positive Kraft in dem russischen Gemeinschaftsideal noch stärker verankert zu haben. Selbst gestecktes Ziel Novgorodcevs war es nach eigener Aussage, das Denken der „zwei ˇ icˇerin und V. Solovev zu einer Synthese größten russischen Rechtsphilosophen“543 C zu bringen. Indem er die Autonomie des Individuums zum Ausgangspunkt seiner Gemeinschaftslehre macht, entwickelt Novgorodcev die slawophile Gemeinschaftlichkeit deutlich in Richtung Demokratie.544 Bemerkenswert ist sein hoher Anspruch an 538
Novgorodcev, Ob obsˇcˇestvennom ideale, S. 580. Vgl. Cauderay, S. 376. 540 In seinem Werk gibt der Schriftsteller F. M. Dostojewski (1821 – 1881) dem zentralen slawophilen Thema von der russischen Ganzheit und Gemeinschaftlichkeit in Gott (sobornost, celnost) im Gegensatz zum individualisierten, rationalen, technischen, aufklärerischen Westen breiten Raum. Wie Hudspith umfangreich darlegt, geht es Dostojewski darum, Russland durch Moralität und Spiritualität zu einer freien brüderlichen Einheit zu führen und vor einer Verwestlichung zu bewahren (Dostoevsky and the Idea of Russianness, A new perspective on unity and brotherhood). 541 Nowgorodzeff, Über die eigentümlichen Elemente der russischen Rechtsphilosophie, in: Philosophie und Recht, Heft 2, S. 53 ff. 542 Nowgorodzeff, Über die eigentümlichen Elemente der russischen Rechtsphilosophie, S. 53 ff. 543 Nowgorodzeff, Über die eigentümlichen Elemente der russischen Rechtsphilosophie, S. 53 ff. 544 So Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 256. 539
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das dem Streben nach Sittlichkeit verpflichtete Einzelwesen. Während er zunächst den absoluten Wert der Persönlichkeit zum Ausgangspunkt nimmt, die Widergeburt des Naturrechts auf kritisch-idealistischer Basis zu lehren,545 entspricht dieses Naturrecht inhaltlich immer stärker den religiösen Vorstellungen von der christlichen Gemeinschaftlichkeit. Während er die liberale Idee mit der russischen Gemeinschaftlichkeit verbindet, kommt es indes nicht dazu, unabhängige Schutzmechanismen zu entwickeln, um die Freiheitsidee auch gegen Eingriffe zu sichern. Durch die Unterordnung des positiven Rechts unter die Moral fehlt es in diesem System an einem vom Einzelnen durchsetzbaren Schutz dieser Freiheit, selbst für den Fall, dass die Staatsgewalt anders handelt, als es ihr die Moral des Volkes vorgibt. Wenn ihn sein Anspruch an die moralische Integrität des Einzelnen auch herausragend macht, so scheint es doch bemerkenswert, dass dem Einzelnen allein das sittliche Streben als Beteiligungsform im Staat bleibt. Da dieses gemeinsame Streben von Staat und Einzelnem nach dem allgemeinen Willen zu vage und zu theoretisch blieb, konnte Novgorodcev vielleicht auch gar nicht anders, als letztlich wieder Rückhalt im orthodoxen Glauben zu suchen und sein Gemeinschaftsideal diesbezüglich zu konkretisieren. Insofern bleibt christlich-gnostisches Gedankengut weiter in der russischen Rechtswissenschaft verwurzelt. Vor Willkür und Rechtsverletzung schützt allein der Glaube an die geistige Einheit von Volk und Staatsgewalt im einheitlichen (christlichen) Rechtsbewusstsein. Moralische Identität steht hier an der Stelle eines Systems der Mehrheitsherrschaft mit einem erzwingbaren Rechtsanspruch der Minderheit. Der Zusammenschluss im Staat wird nicht als einmaliger Vertrag verstanden, der Rechte und Pflichten begründet, als Legitimationsquelle von Staat und Recht wird vielmehr dauerhafte Einheit der Einzelwillen in der Sittlichkeit gefordert. Nur aus der fortdauernden ideellen Identität entsteht hier Legitimation. Nicht zu unterschätzen ist letztlich auch der Ansatz, die Idee von staatlicher Einheit als individuelles Streben nach dem allgemeinen Willen darzustellen und dieses Konzept dem „Westen“ als Gegenmodell gegenüberzustellen.
5. Niederschlag der Vorstellungen in den Verfassungen von 1832 und 1906 a) Machtlegitimation durch die russische Idee In den Verfassungen von 1832 und 1906 schlägt sich die Beschäftigung mit den traditionellen russischen Herrschaftsverhältnissen nieder. Ausgangspunkt wird die Lehre, dass die historischen Herrschaftsverhältnisse Russlands aufgrund ihrer nationalen Besonderheit als Legitimationsgrundlage kaiserlicher Macht heranzuziehen sind. Der in Nihilismus, Egoismus und Skeptizismus untergehende Westen dient als wesentliche Bestätigung für die Überlegenheit des orthodoxen und autokratischen Russlands. Eckpunkt dieser Ideologie ist die Trinitätslehre von Graf S. S. Uvarov 545 Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, S. 449 ff.
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(1833 – 1849), die durch einen Blick auf die Geschichte und die religiöse Tradition in Russland versucht, Macht durch die Besonderheiten des russischen Volkes zu legitimieren. Autokratie und Zentralismus sind nach Uvarov etwas Russisches und daher Gutes. Uvarov erklärte zu seinem Amtsantritt: „Unsere gemeinsame Aufgabe besteht darin, dahin zu wirken, dass die Bildung der Nation in dem vereinten Geiste der Orthodoxie, Autokratie und Nationalität vor sich gehe.“ Diese Lehre führte er folgendermaßen aus: „Inmitten des raschen Verfalls der religiösen und bürgerlichen Institutionen in Europa, bei der allerortigen Verbreitung der Umsturzideen, war es Pflicht, das Vaterland auf unerschütterlichem Grunde zu befestigen; Grundlagen zu finden, auf welchem das richtige Handeln sich erzeugt, Kräfte, die den unerschütterlichen Charakter Russlands ausmachen und ihm ausschließlich zukommen, die geheiligten Überreste seiner Nationalität zu einer Einheit zusammenfassen und auf ihnen den Anker unserer Rettung zu befestigen. Welch Glück, Russland hat den wahren Glauben an die rettenden Grundlagen bewahrt, ohne welchen es nicht richtig handeln, sich nicht kräftigen, nicht leben vermag. Der Russe, der dem Vaterlande ergeben ist, lässt sich ebenso wenig das Dogma unserer Orthodoxie abhanden kommen, als er den Raub einer Perle aus der Krone Monomachs zulässt. Die Autokratie bildet die Hauptbedingung der politischen Existenz Russlands. In gleicher Linie mit diesen beiden nationalen Grundlagen befindet sich auch die dritte, nicht weniger wichtige, nicht weniger starke: die Nationalität.“546 Ähnlich hat Zar Nikolaus I. nach dem Aufstand der Dekabristen, einer Gruppe adeliger Offiziere, 1826 das Volk in einem Verständnis vom Staat beschworen, „wo sich die Liebe zum Herrscher und die Ergebenheit gegenüber dem Thron auf das angeborene Wesen des Volkes gründen, wo es vaterländische Gesetze gibt und Festigkeit der Regierung, werden alle Versuche Böswilliger vergeblich und sinnlos sein: Sie können sich in der Dunkelheit zwar verbergen, doch beim ersten Auftreten werden sie durch die allgemeine Empörung verstoßen und von der Kraft des Gesetzes zerstört.“ Hier begegnen sich Volk und Herrscher in einer historischen Schicksalsgemeinschaft gegen Angriffe von außen. Gelenkt wird die Gemeinschaft vom Herrscher, der durch seine besonderen Fähigkeiten allein im Stande ist, das sittliche Ideal zu erkennen und umzusetzen: „Nicht von unverschämten Träumereien, (…), vielmehr von der Obrigkeit werden die Gesetze des Vaterlandes ständig vervollkommnet, die Unzulänglichkeiten behoben und Missbrauch korrigiert.“547 Die geistige und national-kulturelle Überlegenheit der staatlichen Gemeinschaft sowie die Gefahr, diese Besonderheit aufgrund einer Angleichung an andere Kulturen zu verlieren, sind hier wesentliche Rechtfertigung der Selbstherrschaft.
546
Zitiert nach Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Band I, S. 94. Rapport der Untersuchungskommission vom 30. 5. 1826, erstmals abgedruckt nach dem Text der „Alluntertänigsten Untersuchungskommission“, in: Vosstanie dekabristov, Band 17, S. 252 f. 547
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b) Einheit von Volk und Zar Im Rahmen der deutlichen Rückbesinnung auf die russisch-orthodoxe Tradition als geistige Grundlage der Herrschaftslegitimation wird die alte Formel von der „Einheit des Volkes mit dem Zaren und des Zaren mit dem Volk“, die ursprünglich vor allem von Kirchenvertretern genutzt wurde, um mögliche Widerstände gegen den Zaren zu verhindern, wieder Element der politischen Rhetorik. Man versuchte das religiöse, sowie das nationale Element als einende Faktoren zwischen Volk und Macht zu spannen. Insofern überrascht es nicht, dass Zar Nikolaus II. 1905 gerade in Zeiten größter politischer Unruhen548 auf diese Formel zurückgreift, wenn er im Manifest vom 6. August 1906 die Einrichtung eines Parlaments andeutet und gleichzeitig an das Volk appelliert: „Durch Gottes Gnade, Wir Nikolaus II., Kaiser und ganzrussischer Selbstherrscher (Imperator i samoderzˇec vserossijskij), Zar von Polen und Großfürst von Finnland, usw., usw., usw. geben allen Unseren treuen Untertanen bekannt; der Russische Staat wurde errichtet und gestärkt durch die unzerstörbare Vereinigung des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren. Die Einstimmigkeit (soglasie) und die Einheit (edinenije) des Zaren und des Volkes sind die große moralische Kraft, die Russland im Verlauf der Jahrhunderte errichtete, die es vor allem Unglück bewahrte und bis heute die Voraussetzung (zalog) der Einheit, Unabhängigkeit und Integrität des materiellen Wohlstands und der geistigen Entwicklung in der Gegenwart und der Zukunft darstellt.“549 Mit dem Appell an die Einheit mit dem Zar beschwört der Zar die Einmütigkeit des ganzen Volkes als Voraussetzung für das weitere Bestehen des Landes. Sie ist nicht nur Bedingung für ein besseres Leben, sondern als Allianz auch Bedingung für den Bestand gegenüber den Feinden. Gleichwohl ist die Formel der Einheit von Volk und Herrscher nicht Ausdruck eines lebendigen, gar demokratischen Organismus. Deutlich setzt Zar Nikolaus durch seinen Selbstherrscher-Titel das autokratische Prinzip der Botschaft vorweg, er spricht von „Untertanen“, beruft sich auf seine göttliche Einsetzung und setzt seinen eigenen Namen und Titel dementsprechend im Gegensatz zum Begriff „Volk“ in Großbuchstaben. Seine eigene Übergeordnetheit innerhalb dieser „Einheit“ ist somit nicht zu übersehen. Einheit steht hier für die Übereinstimmung der Ziele, die durch die Subordination des Volkes letzten Endes eine Unterordnung der Ziele des Volkes unter die des Zaren bedeutet. Die Vereinigung des Volkes mit dem Zaren und des Zaren mit dem Volk steht so für Loyalität des Volkes mit dem Herrscher. Die Einheit von Zar und Volk ist damit eine Übereinstimmung mit der autokratischen Macht des Zaren als Voraussetzung für inneren Frieden und äußere Sicherheit. 548 Russland befand sich zu dieser Zeit im Krieg mit Japan, der zu erheblichen Niederlagen der Russen geführt hatte. Währenddessen gab es im Land starke soziale und politische Proteste, die auch die höheren Schichten umfassten. Im Mai 1905 wurden erstmals führende Liberale zum Zaren zugelassen, die ein Repräsentativorgan für das Volk forderten. (vgl. Pipes, Richard, Die Russische Revolution, Band 1, S. 71 ff.). 549 Zakonodatelnye akty, 1904 – 1906, S. 129.
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Indem Zar Nikolaus II. mit dem Appell an die Einheit seine Aufgabe hinsichtlich der erheblichen Forderungen des Volkes nach politischer Freiheit erfüllt sah,550 wird deutlich, dass die innere Einheit von Volk und Zar das ist, was er angesichts des sich auftuenden Widerspruchs zwischen Volk und Alleinherrscher anzubieten bereit ist. Das Prinzip der Einheit von Volk und Herrscher ist somit für den Zaren die Alternative zu einer tatsächlichen Rechtsstaatlichkeit. Anders als die Rechtsstaatlichkeit kann das Prinzip der „Einheit von Volk und Zar“ die staatliche Einheit jedoch nicht langfristig erhalten. Für die oppositionellen Kritiker wie Lenin war diese Formulierung Anlass, die von Nikolaus proklamierte Einheit mit dem Volk in Zweifel zu ziehen, einen Dissens aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass eine dementsprechende Allianz nicht im Interesse des Volkes sei. Daher solle es dem Loyalitätsappell nicht nachkommen.551 Ausgerechnet Lenin ist es jedoch zuzuschreiben, dass nach der Absetzung des Zaren ein dem zaristischen fast identisches Herrschaftssystem geschaffen wurde, in dem auch die Formel der Einheit von Volk und Zar als Einheit von Volk und Partei wiedererstand. c) Einheitliche Macht Die Konzeptionen von Macht in den russischen Verfassungen von 1832 und 1906 orientieren sich an altrussischen Herrschaftsvorstellungen. Danach ist es Aufgabe des von Gott gesandten Herrschers, die Befolgung des sittlichen Ideals auf Erden zu garantieren. Der Zar dient der Durchsetzung des Wahren und Guten und vereint das Volk in diesen göttlichen Werten zur christlichen Gemeinschaft. Der wesentliche Charakter von Macht ist insofern vor allem seine vereinigende Kraft.552 In der russischen Rechtsliteratur des 19. Jahrhunderts ist Herrschaftsmacht das Element zur Verwirklichung der Freiheit, die sittlich verstanden wird. Der Staat ist das, was die Gemeinschaft schützt und ihr Raum gibt, sich zu entwickeln: „der Verein, in dem das Volk seine Kräfte versammelt und diszipliniert und sie auf die Erreichung seiner Ziele richtet – mit aller Leistungsfähigkeit, die eine gut organisierte und vernünftig handelnde Macht ermöglicht.“553 Macht ist „einheitlich, kontinuierlich, staatlich, heilig, unzerstörbar, niemandem verantwortlich, allgemein und Quelle jeglicher staatlicher Macht“.554 Während die Demokratie vom quantitativen Willen geleitet wird, sei allein in der Monarchie gesichert, dass dem einen moralischen Ideal gefolgt wird.555 Vor diesem das Volk einenden und schützenden Machtkonzept sind Schranken der Macht 550
Pipes, Die Russische Revolution Band 1, S. 73. Lenin, Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren, in: Werke, 1960, Band 9, S. 184. 552 Pobedonoszew, Moskowitische Studien: über das politische und geistige Leben der Gegenwart, mit Bezug auf Russland, S. 201. 553 Tichomirov, Edinolicˇnaja vlast kak princip gosudarstvennogo stroenija, S. 39. 554 Tichomirov, Edinolicˇnaja vlast kak princip gosudarstvennogo stroenija , S. 42. 555 Tichomirov, Monarchicˇeskaja gosudarstvennost, Band 2, S. 13 f. 551
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überflüssig. Politische Freiheiten sind aufgrund der hohen Tugendhaftigkeit des Herrschers letztlich auch nicht notwendig. Der russischen Tradition zufolge ist so der einheitlich herrschende unbeschränkte Selbstherrscher Kernstück des russischen Staates. Dies findet sich in der Verfassung von 1832 wieder, wo es auch in Anlehnung an eine Formulierung Prokopovicˇs bereits unter § 1 heißt: „Der Kaiser von Russland ist ein selbstherrschender und unumschränkter Monarch. – Seiner obersten Gewalt ist nicht nur aus Furcht, sondern auch aus dem Gewissen heraus zu gehorchen, das befielt Gott selbst.“ Die Unteilbarkeit seiner Macht leitet er von Gott ab. Unmissverständlich wird dies durch das Adjektiv „unumschränkt“ gemacht, das den historischen Begriff „selbstherrschend“ näher bestimmt.556 Cˇicˇerin führte dazu aus: „Der Monarch hat die ganze Macht unabhängig von jedermann, diese Macht ist nicht abgeleitet, sondern besteht kraft eigenen Rechts. Deshalb wird der Monarch ,samoderzˇec genannt. Dieser Titel bezieht sich auf absolute Macht, die sich aus dem Thronfolgerecht herleitet. Der Monarch hat diese Macht unabhängig von menschlichem Willen aufgrund der Gnade Gottes erhalten“.557 Engelmann nennt die gesamte Staatsgewalt insofern „Eigentum“ des Zaren,558 da dieser allein über sie verfügen kann. Nach Speranski bedeutet die russische Selbstherrschaft nach der Verfassung von 1832 Unabhängigkeit nach außen und Gewalteneinheit nach innen. Er schreibt: „Wird das Wort Selbstherrschaft hinsichtlich eines Staates benutzt, so bedeutet es die Unabhängigkeit von jeder anderen Macht, (…). Wenn sich der Ausdruck aber auf die Person des Herrschers bezieht, so bezeichnet er die Vereinigung aller elementaren Gewalten im Staatsrecht in ihrer Gesamtheit ohne jede Teilung oder Beteiligung. Das Wort Unbeschränktheit bedeutet dagegen, dass keine andere Macht auf der Welt, die auf Gesetz und Recht beruht, mag sie von außen, mag sie von innen kommen, im Stand ist, der obersten Gewalt des Allrussischen Herrschers Schranken zu setzen.“559 Nur aufgrund der Tatsache, dass die Erledigung sämtlicher Staatsaufgaben für eine Person unmöglich ist, unterscheidet das Grundgesetz zwischen der höheren (upravlenije verchovnoje) und der untergeordneten Verwaltung (upravlenije podcˇinenoje). Während nur die allerhöchste Verwaltung durch den Kaiser persönlich wahrgenommen wird und die untergeordnete sich aus den einzelnen Behörden der Ministerien zusammensetzt, ist es gemeinsame Aufgabe, den Monarchen in der Ausübung der allerhöchsten Gewalt zu unterstützen.560 Nicht zuletzt kann eingewandt werden, dass das Prinzip der zakonnost (Gesetzlichkeit) in der Verfassung von 1832 eine Machtbeschränkung darstellt und damit das 556 557 558 559 560
Palme, Die russische Verfassung, S. 47. Cˇicˇerin, Obsˇee gosudarstvennoe pravo, Band I, S. 134. Engelmann, Das Staatsrecht des Kaiserthums Russland, S. 12. Speranski zitiert nach Maurach, Der russische Reichsrat, S. 142. Gribowski, Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 83 ff.
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Rechtsstaatsprinzip verwirklicht sei. So zeigt sich nach der zeitgenössischen Lehre der Unterschied zwischen Selbstherrschaft und samovlastie (Tyrannei) im Prinzip der zakonnost (Art. 47), wonach das Russische Kaiserreich „auf der festen Grundlage positiver Gesetze, Vorschriften und Verordnungen regiert wird, die in der selbstherrlichen Gewalt ihren Ursprung haben.“ Dabei ist der russische Selbstherrscher theoretisch nicht völlig frei, sondern ordnet sich im Gegensatz zum Tyrannen dem moralischen Prinzip unter, das er in den von ihm geschaffenen Gesetzen zum Ausdruck bringt. Indem er sich dem Ideal unterordnet, kann die staatliche Macht die Gesellschaft vollständig durchdringen und gewährt dem Einzelnen in Ehrfurcht vor dem göttlichen Ursprung einen Freiheitsraum.561 Darin unterscheide sich der Selbstherrscher auch vom absolutistischen Monarchen, der allein vom Gesellschaftsvertrag abhängig ist, anstatt sich allein dem höchsten sittlichen Ideal unterzuordnen.562 Dieses Prinzip bewirkt im Rahmen der Verfassung, dass sich der Herrscher an seine Gesetze halten muss, solange er diese nicht ausdrücklich ändert, was nach gewissen Vorgaben möglich war.563 Diese Vorgabe erweiterte sich auf die Verwaltung, die verpflichtet war, nach den Gesetzen zu handeln. Wenn die russische Literatur aber in dem Prinzip der zakonnost den Rechtsstaatsgedanken wiederfinden will, so ist dieser ein anderer als der des deutschen Vorbilds,564 dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Zum Ausdruck kommt der Unterschied anhand der in Russland fehlenden Trennung zwischen Legislative und Verwaltung sowie zwischen materiellem und formellem Gesetz, d. h. von Gesetz (zakon) und Verordnung (ukaz).565 In Deutschland war das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Ausdruck einer Kompetenzabgrenzung zwischen Volksvertretung und Monarchen. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung stand für das Ende des Monopols der monarchischen Macht und die künftige Beteiligung des Volkes an den grundlegenden Entscheidungen des Staates. Die Kompetenz zur Schaffung von Gesetzen im materiellen Sinne, d. h. Gesetzen, die Eingriffe in die Freiheit und das Eigentum regeln,566 wird nunmehr in die Hand der Volksvertretung gelegt. Der Exekutive bleibt die formelle Normsetzung, soweit diese nicht gegen das Gesetz verstößt (Vorrang des Gesetzes). So wurde die Exekutive verpflichtet, nur auf Grundlage eines Gesetzes zu handeln (Vorbehalt des Gesetzes). Hier zwingt die „Herrschaft des Rechts“ den Monarchen in seine Schranken. Nur durch diese Zwangswirkung gegenüber der Exekutive war das Prinzip der Gesetzgebung der Verwaltung Wesen des Rechtsstaats.567
561
Tichomirov, Edinolicˇnaja vlast kak princip gosudarstvennogo stroenija, S. 132 f. Tichomirov, Monarchicˇeskaja gosudarstvennost, Band IV, S. 69 f. 563 Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 173 ff. 564 Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 173 ff. 565 Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 173 ff. 566 Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: HStR III, 1988, § 62, Rn. 13. 567 Vgl. zu den historischen Grundlagen des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: HStR III, 1988, § 62, Rn. 13 ff. 562
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In Russland hat die Unterscheidung zwischen Gesetz und Verordnung dagegen keine Relevanz. Das Gesetz hat hier auch keine bindende Kraft für den Herrscher, sondern ist vielmehr Ausdruck seiner unbeschränkten Macht. Im Unterschied zu dem zu jener Zeit entwickelten deutschen Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung geht das Recht allein von der Person des Herrschers aus, der die Grenzen eines Gesetzes selbst unbeschränkt bestimmen und die Verwaltung an dieses Gesetz binden kann. Hinzu kam das Recht des Zaren, Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die rangmäßig über dem Gesetz angesiedelt waren.568 Damit ist das russische Prinzip der zakonnost kein Mittel, um Eingriffe des Staates in die Freiheitssphäre des Bürgers zu begrenzen sowie die Exekutive zu überwachen. Die russische Gesetzmäßigkeit ist insofern nicht Rechtsidee,569 sondern Herrschaftsprinzip. Während durch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung allein das positive Gesetz regiert, das weder Vernunft noch Moral über sich kennt, und allein in der Lage ist, exekutives Handeln zu rechtfertigen, ist das russische Prinzip der zakonnost Ausdruck der „Allmacht des autokratischen Prinzips“570 über das Recht. Das Grundgesetz vom 23. 4. 1906 übernimmt die Regelungen über die Selbstherrschaft von 1832. Allerdings ist die Macht des Selbstherrschers nach dem Wortlaut von Art. 4 des Grundgesetzes von 1906571 und den Vorschriften über die Volksversammlung nunmehr nicht mehr unbeschränkt, wie noch in der Verfassung von 1832 (Art. 1), obgleich der Titel unbeschränkter Selbstherrscher bestehen blieb (Art. 222). Dies führte zu dem widersprüchlichen Ergebnis, dass der Herrscher zwar „selbstherrscherlich“ aber nicht „unbeschränkt“ regierte. Fraglich blieb, wie der Titel „Selbstherrscher“ in Art. 4 der Verfassung von 1906 zu verstehen war, nach dem „dem Kaiser aller Reussen die oberste selbstherrschende Macht zusteht“. So war der Begriff „Selbstherrscher“ in den vorangegangenen russischen Rechtstexten stets mit Unbeschränktheit einhergegangen, das Grundgesetz von 1906 geht jedoch wie auch das Wahlgesetz vom 3. 6. 1907 ausdrücklich von der Beschränktheit der zaristischen Macht durch die Volksversammlung aus. Da Selbstherrscher hier nicht als unbeschränkter Herrscher verstanden wird, ist zu fragen, wie der Begriff stattdessen gemeint sein kann. Gribowski stellt diesbezüglich dar, dass hier nicht abgeleitete Macht, sondern selbständige, vom Volk unabhängige Macht mit „selbständigem innerem Charakter“ ausgedrückt werden sollte.572 So hatte der Zar auch im Manifest vom 17. Oktober zur Verkündung der Verfassung ausgedrückt, dass er von seiner von Gott gegebenen ungeteilten Macht aus eigenem Entschluss einen Teil an die Volksversammlung abgeben werde.573 Jeder Teil der staatlichen Macht hat so ihren Ursprung in der grundsätzlich unbegrenzten Macht des Selbstherrschers. Es geht in568
Szeftel, Constitution of 1906, S. 232. Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 189 ff., 195. 570 Dazu ausführlich Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 166 ff. 571 „Dem Kaiser der Russen steht die oberste selbstherrscherliche Gewalt zu. Seiner Macht nicht aus Furcht zu gehorchen, sondern aus Treue unterzuordnen, befiehlt Gott selbst.“ 572 Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 19. 573 Zitiert nach Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 18. 569
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sofern darum, darzulegen, dass die Verfassung nicht auf den Volkswillen zurückzuführen sei, sondern allein auf den Willen des Zaren. Tatsächlich beruhte die Formulierung auf einem Kompromiss des Zaren mit dem Ministerrat, nachdem S. Knjazkov, ein Schüler des Historikers Kljucˇevskijs dargelegt hatte, dass der Titel „Selbstherrscher“ historisch nicht absolute Macht, sondern vielmehr nationale Unabhängigkeit ausgedrückt hatte.574 Das Zusammenfallen von selbstherrscherlicher und absoluter Gewalt nach innen wurde damit der verfassungsrechtlichen Theorie nach auf die Periode von Peter I bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes 1906 beschränkt. Nunmehr sei mit dem Titel nicht mehr die unumschränkte Gewalt verbunden, vielmehr sei der Titel eine inhaltslose historische Reminiszenz.575 Nach Maurach handelt es sich bei dem Titel „Selbstherrscher“ im Grundgesetz lediglich um eine politische Aussage des verfassungsgebenden Monarchen, der auf seinen alten Titel nicht verzichten wollte. Juristisch sei er nicht von Bedeutung.576 Insofern beantwortet sich die Frage nach den Kompetenzen des Herrschers nicht mehr aus dem Verständnis des Titels, sondern aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung. In dieser werden drei Gewalten des Staates formuliert, das Grundgesetz von 1906 etabliert erstmalig die Trennung von exekutiver und legislativer Gewalt im russischen Staatsrecht. Mit dem Grundgesetz initiiert Nikolaus II. die allgemeine Gesetzgebung durch die Volksvertretung auf dem Gebiet der allgemeinen Verwaltung. Es wird zudem bestimmt, dass die Ukaze des Zaren nicht allgemeinen Gesetzen entgegenstehen dürfen. Allerdings kommt zum Ausdruck, dass die drei Gewalten nicht in erster Linie der gegenseitigen Kontrolle dienen sollen, sondern auf ein gegenseitiges Miteinander ausgerichtet sind. So übt der Zar die legislativen Aufgaben des Staates in Gemeinschaft mit dem Staatsrat und der Duma aus (v edinenie), wobei jedoch dem Zaren das Initiativrecht und das Sanktionsrecht bleibt (Art. 7, 8, 9). Auch das Ukazrecht liegt allein beim Zaren (Art 11). Darüber hinaus untersteht ihm die Exekutive (Art. 10), Urteile ergehen in seinem Namen (Art. 22). Wenn die Macht auch durch die Verfassung von 1906 organisatorisch verteilt wird, so ändert dies tatsächlich nichts an der Vorstellung des Selbstherrschers als Quelle von einheitlicher unbeschränkter Macht. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausdruck von unabhängigen selbständigen Ausdrucksformen der unterschiedlichen Gewalten findet nicht deutlich Eingang in die russische Rechtswirklichkeit. Wenn der Zar der Volksversammlung Macht zuteilt, so bringt diese Formulierung auch gerade die Vorstellung zum Ausdruck, von wem die Macht im Staat letztendlich ausgeht. Die Verfassung von 1906 erging allein aufgrund der Machtvollkommenheit des Zaren und beruht nicht auf dem Willen des Volkes. Macht findet immer noch ihren einheitlichen Ursprung vollständig in der Person des Zaren. In diesem Sinne ist es symptomatisch, dass der Zar nicht auf die Verfassung vereidigt wird.577 574 575 576 577
Szeftel, The Russian Constitution, S. 119. Vgl. Palme, Die russische Verfassung, S. 96. Maurach, Der russische Reichsrat, S. 143. Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, S. 173.
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d) Einheit des Staates/Territoriums als primäres Ziel des Politischen Seine primäre Aufgabe sieht Zar Nikolaus II. darin, die territoriale Einheit des Russischen Reiches zu erhalten. Im Manifest vom 18. Oktober 1905, dem sog. Oktobermanifest, mit dem der Zar dem Volk auf dem Höhepunkt der sozialen Unruhen persönliche Freiheitsrechte, ein unabhängiges Parlament und das allgemeine Wahlrecht verspricht, begründet er diesen für ihn außerordentlichen Schritt578 mit der Gefahr von „nationaler Unordnung“ und der Notwendigkeit, die Ganzheit und Einheit des Staates (derzˇava nasˇa) zu erhalten.579 Daraus wird deutlich, dass die Einrichtung von demokratischen Rechten aus der Sicht des Zaren nicht Selbstzweck, sondern politischer Kompromiss zur Erhaltung des ganzen Territoriums ist. In diesem Zusammenhang ist es verständlich, dass die Einheit des Territoriums in der anschließend verwirklichten Verfassung von 1906 als oberstes Verfassungsprinzip ihren Platz findet. So heißt es bereits in Art. 1 des Grundgesetzes, „der Russische Staat ist einheitlich und unteilbar“. Das Prinzip des einen und ungeteilten Territoriums steht damit noch vor dem Artikel über die selbstherrscherliche Gewalt des Zaren – ebenso wie der Artikel über die Autonomie Finnlands in inneren Angelegenheiten bei gleichzeitiger Untrennbarkeit vom Russischen Reich (Art. 2) und der Artikel, nach dem Russisch Staatssprache ist (Art. 3).580 Im russischen verfassungsrechtlichen Schrifttum findet sich eine deutlich mystisch beeinflusste Begründung für die Bedeutung der Einheit und Unteilbarkeit des Staates. Der russische Staatsrechtler Nikolai Lazerevskij interpretiert den Artikel extrem weit als Ausdruck territorialer Integrität, die die politische Unabhängigkeit einzelner Gebiet für die Zukunft verbiete.581 In seiner Arbeit über die örtliche Selbstverwaltung nennt Gradovskij die Einheit des Territoriums Sinne einen „besonderen russischen Faktor“, der dem westlichen Europa so nicht bekannt wäre.582 Die Einheit des Staates wird hier nicht nur territorial, sondern nationalrussisch verstanden, als Gegenpol zu separatistischen Tendenzen in Polen und im Baltikum, die Gradovskij als staatsfeindlich, antinational und gegen die Gesellschaft gerichtet betrachtet. Scheinbar beeinflusst durch slawophile Ideen lehnt er eine mit militärischen Mitteln erzielte „äußerliche“ Einigung (edinstvo) als Prinzip des „Römischen Papsttums“ ab, die slawische Welt strebe vielmehr zu brüderlicher „edinenie“. Insofern setzt er die innere Einheit einerseits voraus, und postuliert sie gleichermaßen als Zielvorstellung. Zu dem Umstand, dass der russische Staat gerade nicht „aus dem Gefühl der „inneren Einheit“ eines Volkes, sondern durch Eroberung und Inkorporation entstanden ist, nimmt er nicht Stellung.583 578 579 580 581 582 583
Pipes, Die Russische Revolution, Band I, S. 85 ff. Zakonodatelnye akty, 1904 – 1906, S. 237. Palme, Die Russische Verfassung, S. 91. Lazarevskij, Russkoe gossudarstvennoe pravo, S. 183 ff. Gradovskij, Sobranie socˇinenij, Band 2, S. 115. Gradovskij, Sobranie socˇinenij, Band 6, S. 420 f.
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Gribowski erkennt in der Formulierung von der Einheit des Reiches das Bestehen „eines einzigen Staatskörpers“.584 Nach Gribowski steht der „einheitliche“ Staat für Integrität nach außen.585 Derartiges ergibt sich jedoch eindeutiger aus dem Begriff der „Unteilbarkeit“. So schließt die „Unteilbarkeit“ nach Palme eine Abtrennung einzelner Landesteile durch Vertrag oder Erbteilung aus.586 Eine Reihe deutscher Verfassungen aus der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts hatte dementsprechende Formulierungen aufgenommen.587 Art. 1 ist nach Palme Schranke für die Prärogativgewalt des Kaisers in äußerlichen Angelegenheiten (Art. 12). So weist er auf den Umstand hin, dass infolge verlorener Kriege ganze Gebiete abgetrennt oder im Grenzverlauf verändert werden mussten. Für diesen Fall könnte der Kaiser nicht nach Art. 12 allein entscheiden. Vielmehr bedürfte eine Gebietsabtrennung aufgrund von Art. 1 einer Aufhebung des Art. 1 durch eine Verfassungsänderung, was wiederum nur durch Gesetz mit Zustimmung der Volksvertretung (Art. 86) möglich wäre. Palme fasst die Möglichkeit einer Gebietsabtretung bereits ins Auge und weist auf den Normzweck hin, ein Gegengewicht zum drohenden Auseinanderfall des Reiches zu schaffen. Daraus wird der appellative Charakter der Vorschrift deutlich. In der damaligen Zeit, in der Kriege und darauf folgende Gebietsabtrennungen zum Regelfall gehörten, gehörte die Teilung eines Territoriums zur Realität. Es könne insofern nicht darum gegangen sein, derartiges durch die Verfassung zu verbieten. Vielmehr sei aus der Formulierung weniger eine diesbezügliche konkrete Regelung herauszulesen, als primär allgemein das politische Ziel der Erhaltung der Einheit des Staates.588 Ebenso wird in dem Artikel die staatsorganisationsrechtliche Ablehnung eines föderalen Modells festgemacht. Die „Einheitlichkeit“ wird als Hinweis auf eine zentrale Struktur verstanden, die zum Erhalt der Einheit notwendig sei. Für Palme ist das Aufgreifen der Formel „einheitlich und unteilbar“ bereits im ersten Artikel der Verfassung als Grundsatz gegen Separatismus und Autonomismus einzelner Gebietsteile zu verstehen. Einheitlichkeit des Staates bedeutet für ihn die Verneinung einer eigenen Staatlichkeit Finnlands oder anderer Teile des Staates. Russland sei daher trotz der Autonomie Finnlands in inneren Angelegenheiten Einheitsstaat und nicht Föderation.589 Diese Argumentation ist insofern nachvollziehbar, als es vor der Verfassungsgebung von 1906 eine umfangreiche juristische Diskussion über die Staatsqualität Finnlands gegeben hatte. Während der deutsche Staatsrechtler Georg Jellinek Finnland aufgrund fehlender eigener selbständiger Staatsgewalt als bloße privilegierte selbständige Provinz bezeichnet hatte,590 hatten nicht nur finnische, sondern auch
584 585 586 587 588 589 590
Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 26. Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 26. Palme, Die Russische Verfassung, S. 122. Szeftel, The Russian Constitution, S. 114. Palme, Die Russische Verfassung, S. 122. Palme, Die Russische Verfassung, S. 91. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, S. 71.
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russische Staatsrechtler wie Engelmann und Romanovicˇ-Slavitinskij Finnland als eigenen Staat anerkannt.591 Trotzdem dauerte diese Diskussion auch nach der Verfassungsgebung an. So wurde diskutiert, ob gegen diese Annahme nicht die gesonderten Stellungen Polens und Finnlands in Art. 26 sprechen könnte, in dem es heißt592 „mit dem allrussischen Kaiserthron untrennbar verbunden sind die Throne des Zarentums Polen und des Großfürstentums Finnland“. Der Hinweis darauf, dass Polen und Finnland eigenständige Throne als Ausdruck eines eigenen Herrschaftsbereichs hätten, konnte nun so verstanden werden, dass der russische Staat mit Polen und Finnland eine Konföderation bildete.593 Auch wenn der Wortlaut des Art. 26 mit den Bezeichnungen „Zarentum“ und „Großfürstentum“ für Polen und Finnland ein Indiz für Staatsqualität der beiden Länder sein könnte, ist dies jedoch abzulehnen, da der bloße Hinweis auf die grundsätzliche Selbständigkeit der Throne aufgrund der „Verbundenheit“ und der Tatsache, dass auf eine Konföderation im Weiteren nichts hindeutet, für eine derartige Argumentation zu wenig Anlass gibt. Nach Palme kann die Feststellung der Untrennbarkeit der drei Throne daher neben Art. 1 lediglich die Bedeutung haben, dass die Thronbesteigung für den gesamten russischen Staat in einem Akt erfolgen soll.594 Dies ergibt nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, so steht Art. 26 im Kapitel über die Thronfolgeordnung. Insofern kann die Einheitlichkeit zwar Formen der Selbstverwaltung einschließen, aufgrund der Formulierung kann jedoch ein Teil des Reiches nicht selbst Staat werden, da sich seine Staatsgewalt von der russischen ableitet.595 Szeftel erkennt in der Formulierung „einheitlich und unteilbar“ einen Bezug zu der revolutionären Verfassung von Frankreich aus dem Jahr 1791, deren Art. 1 vom französischen Staat als „une et indivisible“ spricht und damit vor allem einen Ausschluss des föderalen Prinzips ausdrückt, den Szeftel so auch aus der russischen Variante herausliest.596 Wenn dem auch im Ergebnis zuzustimmen ist, so ist der unterschiedliche Ausgangspunkt der wörtlich identischen Verfassungstexte doch erstaunlich. So ist die Formulierung der französischen Verfassung in erster Linie Ausdruck der Überwindung der ständischen Repräsentation im Staat durch eine Verfassung durch das ganze in der Nation geeinte und ungeteilte Volk.597 Die französische Republik „une et indivisible“ steht in erster Linie für Freiheit und Gleichheit. In Russland steht Einheitlichkeit nicht für Gleichheit vor dem Gesetz. Im Russischen Reich wird zwischen den verschiedenen Völkern hinsichtlich der Rechtsstellung 1906 noch deutlich unterschieden. So werden einige, auf dem Gebiet des Rus591 592 593 594 595 596 597
Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 26. Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 26. Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 25. Palme, Die Russische Verfassung, S. 122. Vgl. Nolde, Ocherki russkogo gosudarstvennogo pravo, S. 246 ff. Szeftel, The Russian Constitution of April 6, S. 114. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 524.
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sischen Reiches ansässige sog. Fremdvölker wie u. a. „die sibirischen Fremdvölker“, die „Samojaden“ des Gouvernements Archangelsk, die nomadischen Fremdvölker des Gouvernements Stawropol, die in den Gouvernements Astrachan und Stawropol Nomadisierenden, die Kirgisen der Inneren Horde, die Fremdvölker der Gebiete Akmolins, Semipalatinsk, Semirjtschensk, Uralsk und Turgaj, die fremdstämmige Bevölkerung des Transkaspischen Gebiets und die Juden von der rechtlichen Stellung als „russische Untertanen“ ausgenommen. Nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit fallen sie nicht unter die allgemeinen Gesetze.598 Es wird deutlich, dass das „eine und ungeteilte Russland“ weit von den Gedanken entfernt war, die der „einen und ungeteilten“ französischen Republik zugrunde lagen. Vor allem ist nicht der freiheitliche Zusammenschluss des Volkes in der Nation verfassungsrechtrechtliche Grundlage der staatlichen Einheit wie in Frankreich. Dies ist hinsichtlich der vom Selbstherrscher oktroyierten russischen Verfassung von 1906 nicht gegeben. Konstituierend für die staatliche Einheit ist stattdessen die monarchische Macht. Hier steht das „eine und unteilbare Russland“ allein für Zentralismus unter der Oberherrschaft des Zaren. Die Einheit, der es bedarf, um von einem Staat zu sprechen, ist auch nach der Verfassung von 1906 von oben gestaltet, weshalb Max Webers von der Verfassung von 1906 als bloßem russischen „Scheinkonstitutionalismus“599 spricht. So ist die Verfassung vom Zaren gegeben, staatliche Einheit wird dabei nicht von der Person des Monarchen gelöst und somit wird auch der Staat nicht zur abstrakten Körperschaft, deren Träger das Volk ist. Letzteres hätte einen zur einheitlichen Willensbildung fähigen Verband, d. h. freiheitlich bejahte Einheit, vorausgesetzt.
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus 1. Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Das universalistische Einheitsideal als Freiheitsund Gleichheitsidee Seit der berühmten Losung „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ im Manifest der Kommunistischen Partei600 von Karl Marx aus dem Jahr 1848 ist die „Einheit“ politisch-organisatorischer Kampfbegriff der sich auf Marx berufenden Arbeiterbewegung. Unabhängig von allen späteren Staats- und Parteilehren nach Marx bleibt diese Losung Kernbegriff allen erstrebenswerten zukünftigen menschlichen Zusammenlebens. Aufbauend auf seiner Kritik der bestehenden Verhältnisse ist die konstitutive Vereinigung des Proletariats die Bedingung für die soziale Revolution, an die 598
Gribowski, Das Staatsrecht des Russischen Reiches, S. 39. Weber, Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, Russlandbericht 2, Nachdruck Koblenz 1998. 600 Arndt, Stichwort: Einheit, in: Haug (Hrsg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, S. 179. 599
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sich die Diktatur des Proletariats anschließt, die zum Absterben des Staates und zur klassenlosen Gesellschaft führt.601 a) Ausgangspunkt: Marx Kritik an Hegel Das Verständnis der Marxschen Vereinigungsidee erschließt sich durch die Einsicht in die Entwicklung der Marxschen Ideen als Kritik an Hegel. Karl Marx baut in weiten Teilen auf dem System Hegels auf, das er in Bezug auf den Staat vor allem um die Ideen der französischen Revolution erweitert. Anders als die Ökonomie unterzieht Marx den Staat keiner systematischen Analyse, so dass seine Vorstellungen in diesem Punkt nur aus verschiedenen Schriften zusammengetragen werden können, was nicht nur für die offiziell auf Marx aufbauende sowjetische Staatstheorie Schwierigkeiten mit sich bringt. Eigentliches Thema der Marxschen Analyse bei der Erneuerung der Organisation des menschlichen Zusammenlebens ist nicht der Staat, sondern die bürgerliche Gesellschaft.602 Während Marx den Staat zwar zunächst mit Hegel als „den großen Organismus, in welchem die rechtliche, die sittliche und die politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eigenen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht,“603 ansieht, wird ihm bald bewusst, dass die überhöhte Auffassung vom Staat bei Hegel im Widerspruch zur Realität steht.604 Bei Hegel ist der Staat letzte Wahrheit und somit Bedingung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Marx dagegen lehnt den Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee, in dem die bürgerliche Gesellschaft nach Hegel bloß subsumiert wird, ab.605 Marx setzt Hegel entgegen, dass das Volk ohne den Staat nicht formlos sei. Der Monarchie bei Hegel stellt Marx die Demokratie gegenüber, in der die Verfassung nicht das Volk, sondern das Volk die Verfassung schafft.606 Die Vergeistigung des Staatsbürgers durch den Staat ist für ihn nicht Befreiung, sondern illusorisch und in Wahrheit Unterdrückung des Besonderen durch das Allgemeine.607 Wesentlicher Kritikpunkt an Hegel ist für Marx die Notwendigkeit, nicht von der spekulativen Idee, sondern von den tatsächlichen Verhältnissen auszugehen.608 Die sozialen Missstände im 601
Marx schreibt: „was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur der Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zur klassenlosen Gesellschaft bildet“ (Marx/Engels, Werke, Band 28, 1963, S. 507 f.). 602 Henning, Philosophie nach Marx, S. 561. 603 Marx/Engels, Werke, Band 1, 1960, S. 104. 604 Marx/Engels, Werke, Band 1, 1960, S. 103. 605 Vgl. Marx/Engels, Werke, Band 1, 1961, S. 250. 606 Marx/Engels, Werke, Band 1, 1961, S. 231. 607 Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, S. 18. 608 Marx/Engels, Werke, Band 1, 1960, S. 342 f.
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Land sind für ihn Ausgangspunkt, den Staat zu negieren. Vor diesem Hintergrund ist der Staat für Marx nicht objektiver Geist, sondern bloßes Herrschaftsinstrument. Den im Deutschland des 19. Jahrhunderts aufbrechenden Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft sieht Marx in der Hegelschen staatlichen Einheit, in der sich alles gegenseitig aufhebt, nicht gelöst. Gleichzeitig lehnt er aber auch die formlose bürgerliche Gesellschaft ab, die für ihn „Sphäre des Egoismus“ ist, Ausdruck des bellum omnium contra omnes, nicht Wesen der Gemeinschaft, sondern Wesen des Unterschieds, der Zersplitterung, Ausdruck der Trennung des Menschen vom Gemeinwesen.609 Erst wenn privates und öffentliches Sein identisch geworden sind, könne von wahrer Demokratie gesprochen werden. Diese Identität bietet für Marx die klassenlose Gesellschaft. Dort herrscht nicht mehr der Staat, sondern eine Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist.610 Voraussetzung dafür ist nach Marx der freiheitliche Zusammenschluss des Proletariats zur klassenlosen Gesellschaft. Die klassenlose Gesellschaft ist für Marx die tatsächliche Einheit von Staat und Gesellschaft. Im Unterschied zu Hegel gibt in dieser Synthese nicht der Staat die Form vor, vielmehr schafft sie sich das Proletariat selbst demokratisch durch freiwillige selbstbestimmte Vereinigung: „Nur der politische Aberglaube bildet sich heute ein, dass das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat vom bürgerlichen Leben zusammengehalten wird.“611 Staat ist hier gleichgesetzt mit Unterdrückung durch eine Minderheit. Vor diesem Hintergrund bedeutet das von Marx geforderte Absterben des Staates nicht das Ende jeder Ordnungsregel, sondern das Ende eines außerhalb der Gesellschaft stehenden Macht- und Zwangsapparats. Das Ende des Staates ist der Beginn der Selbstorganisation der Gesellschaft.612 Methodisch bleib Marx bei der Hegelschen dialektischen Methode: Marx übernimmt die Auffassung konkreter Einheit, wonach jede Stufe des Fortgangs eine eigentümliche Bestimmung neuer Einheit ist und „die tiefste und letzte der Bestimmungen der Einheit die des absoluten Geistes ist.“613 Nach Hegel ist das Konkrete konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, die Einheit des Mannigfaltigen. Karl Marx entfernt die Einheit aus dem rein philosophischen Kontext, so bekommt die konkrete Einheit eine neue Bestimmung: die bei Hegel relevante Unterscheidung zwischen Philosophie und gesellschaftlicher Praxis verschwindet: Marx und Engels betrachten die Geschichte nicht wie Hegel als Vernunft, sondern umgekehrt vernünftige Gesellschaftsformen als geschichtlich (historischer Materialis-
609 610 611 612
Marx/Engels, Zur Judenfrage, in: Werke, Band 1, 1961, S. 356. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Werke, Band 4, 1961, S. 482. Marx/Engels, Werke, Band 2, 1960, S. 128. Vgl. Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins,
S. 27. 613
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 573.
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mus),614 so dass auch die gesellschaftliche Einheit nicht mehr absolut Vernünftiges ist, sondern auf der Zeitschiene angesiedelt wird. Marx will die Philosophie durch ihre Verwirklichung aufheben. Bei Marx wird in diesem Sinne die bürgerliche Gesellschaft durch die Arbeiterklasse negiert, die die Aufgabe erhält, die Welt zu verändern und dazu in erster Linie die Einheit als Ideal durchzusetzen. In der Vereinigungslosung im Kommunistischen Manifest von 1848 als Ausgangspunkt des Einheitsbegriffes fungiert der Zusammenschluss der Arbeiterklasse, als sich aufgrund von Einheit konstituierendem Quasi-Subjekt615 als Bedingung für eine neue Herrschaftsordnung, der klassenlosen Gesellschaft. Aufgrund der dialektischen Synthesenbildung wird das Proletariat durch diese Vereinigung Träger der historischen Aufgabe, die kapitalistische durch eine neue kommunistische Gesellschaftsform zu ersetzen. Diese kommunistische Gesellschaft ist die Vereinigung von Menschen, die „mit ihren gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihren vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben“.616 Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziation sei es, „in jedem Land der Arbeiterbewegung die Macht der Einheit und Verbindung zu sichern“.617 Durch die Vereinigung gilt es, die soziale Revolution herbeizuführen, die jede Klassenherrschaft beseitigt und die wahrhaft menschliche Gesellschaft ermöglicht. „Wenn das Proletariat sich notwendig zu einer Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt sie mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzberechtigung des Klassengegensatzes der Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.“ Neben der Überbrückung der Trennung von Staat und Gesellschaft geht es insofern um die Überwindung der Trennung in besitzende und beherrschte Klassen. Ausgehend von der ökonomischen Klassenspaltung wird Einheit hier negativ zur Überwindung der Klassenteilung und des diese verwaltenden Staates begriffen. Indem auch bei Marx die konkrete Einheit am Ende der Entwicklung steht, er aber nicht an das Hegelsche Vernunftkonzept anknüpft, sondern dieses politisch umdeutet, wird der Begriff von der Einheit utopisch. Insofern findet sich bei Marx ein Zwei-Ebenen-Modell des Einheitsbegriffes, wonach zunächst die Vereinigung zu einem Subjekt als Bedingung notwendig ist, um dann in einem zweiten Schritt die Einheit in einer klassenlosen Gesellschaft herbeizuführen. Diese klassenlose Gesellschaft ist letztlich an die konkrete Einheit des Staates bei Hegel618 angelehnt. Der Vollzug dieser Einheit geschieht nicht nach individuellen, sondern allein durch objektive Bedingungen und korrespondiert mit dem Klas614 Vgl. Geschichte als objektiver Massenprozess, in: Zur Kritik der politischen Ökonomie 1859, Marx/Engels, Werke, Band 13, 1963, S. 3 ff. 615 Arndt, Stichwort: Einheit, in: Haug (Hrsg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, S. 180. 616 Marx/Engels, Werke, Band 23, S. 92. 617 Arndt, Stichwort: Einheit, in: Haug (Hrsg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, S. 180. 618 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 260 ff.
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senbewusstsein des Proletariats im Kapitalismus. Die objektiv begründete Einheit einerseits und die Einheit im Bewusstsein fasst Marx im Freiheitsbegriff Hegels619 zusammen. b) Vereinigung als freiheitliche Alternative zum monarchischen staatlichen Zwangsapparat Entscheidend für die Analyse der sowjetischen Marxrezeption ist, dass der Ausgangspunkt der universalen Vereinigungsidee nach Marx selbst deutlich der freiheitlich-demokratische Aspekt ist. Nach dem Kommunistischen Manifest soll eine freie Assoziation an die Stelle des staatlichen Zwangsapparats treten:620 „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eine jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist,… Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder. (…). Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten, sie haben eine Welt zu gewinnen.“.621 Marx ging es in erster Linie weniger um die Zerstörung der bestehenden Ordnung als darum, dass der freie Wille des Proletariats den „Staat“ im Sinne der klassenlosen Gesellschaft konstituieren sollte.622 Die Bedeutung der Freiheitsidee wird in den konkreten Forderungen deutlich, die Marx 1848 hinsichtlich der neuen deutschen Verfassung formuliert. An dieser Stelle mag verwundern, dass Marx überhaupt Vorschläge zu einer bürgerlichen Verfassung machte, weil er den Staat an anderer Stelle ablehnt. Wenn er auch den Klassencharakter des bürgerlichen Staates kritisierte, so unterstützte Marx die Verwirklichung der demokratisch repräsentativen Republik, da sie noch rückständigere feudale Systeme überwand623 und so einen Schritt in Richtung klassenlose Gesellschaft darstellte. So war die universale Vereinigung für Marx mehr Endziel als tatsächlich greifbare 619
Vor dem Hintergrund der extremen Idealisierung der Vernunft, der Verabsolutierung des Geistes, bestimmt bei Hegel die Freiheit das Wesen des Geistes. Dies ist eine Freiheit, die die Notwendigkeit erkennt: „Die Freiheit des Menschen von natürlichen Trieben besteht nicht darin, dass er keine hätte und also seiner Natur nicht zu entfliehen strebt, sondern dass er sie überhaupt als ein Notwendiges und damit Vernünftiges anerkennt und sie demgemäß mit seinem Willen vollbringt“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts), „… die Freiheit ist die Wahrheit der Notwendigkeit“ (Wissenschaft der Logik 3. Buch, Lehre vom Begriff, Einleitung). „Diese Wahrheit der Notwendigkeit ist die Freiheit“ (Enzyklopädie, § 158). „Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit“ (Enzyklopädie, § 484). 620 So Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 44 ff. 621 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Werke, Band 4, 1959, S. 482. 622 In seinem Brief an Kugelmann schreibt Marx, dass es ihm nicht um das „Zerbrechen“ jedes Staates ginge, sondern nur um die „bürokratisch-militaristischen Maschinerie“ als Vorbedingung jeder wirklichen Volksdemokratie auf dem Kontinent. In England aber sei ein „Zerbrechen“ des Staates nicht notwendig, da England bereits eine demokratische Republik sei, die wie die Verfassung der Kommune von 1871 tauglich sei, einfach von der Arbeiterklasse übernommen zu werden, Marx/Engels, Werke, Band 33, S. 205. 623 Vgl. ausführlich Miliband, Marx und der Staat, S. 19.
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Forderung.624 Er bestand auf der Notwendigkeit politischer Arbeit im bestehenden politischen System. Vor der universalen Vereinigung des Proletariats kam für ihn daher die nationale Einheit. Mit Friedrich Engels fordert er diese anlässlich der Unruhen 1848. In Anlehnung an Art. 1 der französischen Verfassung fordern sie als Verfassungsgrundlage für Deutschland: „Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt“.625 Auch an anderer Stelle spricht Marx von der „einen und unteilbaren“ Republik.626 Der Begriff der einen und unteilbaren Republik („une et indivisible“) ist, wie bereits angesprochen, in Art. 1 der französischen Verfassung von 1791 Ausdruck der Einheit der Franzosen als Gesamtheit, Ausdruck der Überwindung der Vorherrschaft von Ständen und Regionen, der Trennung von Volk und Herrschaft durch die Nation in der Republik. Die einheitliche und unteilbare Republik wurde dadurch kontinentaleuropäisches Vorbild für den modernen Staat. Hier waren nicht mehr einzelne Stände repräsentiert, sondern die sie vereinende Nation, in der alle gleich sind.627 Der zentralisierte französische Einheitsstaat war somit Ausdruck von Gleichheit und Freiheit des Einzelnen. So befürwortet Friedrich Engels den einheitlichen Staat gegenüber der Föderation, weil hier mit einem entwickelten Selbstverwaltungsmodell letztlich mehr Freiheit und Demokratie erzielt werden könne als in einer Föderation.628 Die wörtliche Übernahme des Begriffs der einen und unteilbaren Republik aus der französischen Verfassung unterstreicht, dass es ihm bei der Vereinigung vor allem um den freiheitlich-demokratischen Grundgedanken ging. Für Deutschland kam hinzu, dass eine nationale Vereinigung die Überwindung der vorwiegend monarchisch organisierten Kleinstaaten bedeutete. Der Ruf nach dem einen und unteilbaren Staat ist somit bei Marx und Engels als Forderung nach der Abschaffung von Vorrechten Einzelner und nach der Schaffung von Gleichheit und freiheitlicher unmittelbarer Herrschaft des Volkes zu verstehen. c) Praktische Probleme der Marxschen Vereinigungsidee Dadurch, dass der Einheitsgedanke bei Marx nicht mehr philosophisch, sondern politisch verstanden wird, liegt seine Verwirklichung nicht mehr in den Händen des Weltgeistes, vielmehr wird die Verwirklichung Aufgabe des politischen Men624
Miliband, Marx und der Staat, S. 25 f. Marx/Engels, Werke, Band 5, 1959, S. 3. 626 Marx/Engels, Werke, Band 7, 1960, S. 252. 627 Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 524. 628 Der Zentralstaatsidee stellt er die Verfassung der Kommune entgegen „Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jeder Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an der Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktion einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehen beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden.“ (Marx/Engels, Werke, Band 17, 1960, S. 336). 625
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schen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Eine Einheit, die nicht mehr philosophisches Prinzip ist, sondern real zu verwirklichendes Ideal, wird aus ihrem Zusammenhang gerissen und bedarf einer neuen Definition. Die Folgen dieses theoretischen Defizits werden allerdings von Marx nicht überbrückt. Insofern verliert der nunmehr rein politische Einheitsbegriff seine Konkretheit, der Mangel an einem Vernunftbegriff lässt es nicht zu, die jeweilige Bestimmung der Einheit zu ermitteln. Es wird unklar, wann, wie und von wem sie durchgesetzt wird. Ersatz für das Konzept der Vernunft kann bei Marx allein die romantische Vorstellung von der sich selbst organisierenden Arbeiterschaft bieten. Indem Marx bei der dialektischen Methode bleibt, die Vereinigung der Arbeiter als Voraussetzung für eine höhere Entwicklungsstufe ansieht und die Einheit als Prozess durch geschichtliches Handeln herbeizuführen versucht, kommt es im Konzept von konkreter Einheit zu deutlichen Lücken. Insbesondere bleibt ungeklärt, wie der Wunsch nach freiwilligem politischem Zusammenschluss der Gesellschaft, bzw. hier der Arbeiterklasse, mit dem tatsächlichen Willen dieser Gesellschaftsgruppe vereinbar ist. Der hier verankerte Zwiespalt, wonach das Individuum von globalen Prozessen abhängig ist, die einen Zusammenschluss erfordern, während gleichzeitig die Tendenz zur Individualisierung zunimmt, wird nicht gelöst. Tatsächlich aber steht die gesellschaftliche Einheit als Entwicklungsgesetz629 dem individuellen Leben abstrakt gegenüber: Die objektive Bedingung politischer Einheit ist nicht ohne weiteres mit dem Selbstbewusstsein gesellschaftlicher Individuen vereinbar. Bei Marx geht das individuelle Bewusstsein im Massenbewusstsein auf, indem er allein darauf bedacht ist, objektive Gesetze menschlicher Entwicklung freizulegen. Letztlich wird die Bedeutung des freien Willens bei Marx von der Vorstellung überlagert, dass der dialektische Prozess historischer Synthesenbildung per se zu gar nichts anderem führen könne, als zur Übereinstimmung von theoretischem Ideal und gesellschaftlicher Praxis. Höher als der freie Wille stand ein quasi naturwissenschaftliches Entwicklungsgesetz, das Freiheit allein als Idee beinhaltete. Karl Popper hebt die praktische Umsetzungsschwierigkeit des Marxismus hervor, da die Vereinigung der Proletarier, das einzige tatsächliche Programm von Karl Marx ist, während weitere Schritte wie „Revolution“, „Diktatur des Proletariats“, „Absterben des Staates“ und „Errichtung der klassenlosen Gesellschaft“ wenig eindeutig bleiben.630 Zu den Fragen, was danach passiert und wie genau die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft praktisch erreicht werden soll, unterlässt Marx eine zusammenhängende Erörterung und zieht sich auf die Konkretisierung von Einzelproblemen sowie auf eine generelle Prophezeiung des Geschichtsverlaufs zurück. Danach wird die kapitalistische Gesellschaft nach der sozialen Revolution absterben und die klassenlose Gesellschaft entstehen. Dabei wird nicht deutlich, wie diese Einheit aufrechterhalten werden soll, da sich die Einheit der Proletarier ja grundsätzlich nur aus dem Klassenbewusstsein (das Sein bestimmt das Bewusstsein) und der Solidarität gegenüber der Bourgeoisie bildet. Fraglich ist, was sie also zusammenhält, 629 630
Henning, Philosophie nach Marx, S. 560. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, S. 171.
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wenn der Staat abgestorben ist und warum sich bei Marx in der Diktatur des Proletariats keine neue antithetische Gruppe abspaltet und auf einer weiteren dialektischen Ebene den Prozess fortsetzt.631 Geblendet von der Geschichtsphilosophie Hegels, in der sich das Vernünftige ohnehin durchsetzt,632 war die Vereinigung zur Revolution „Lokomotive der Geschichte“633, die zum proletarischen Paradies führen müsste.
2. Das universalistische Einheitsideal und die Gründung des sowjetischen Staates – Die Einheitspartei und der kollektive Wille Insbesondere durch das Anknüpfen an Hegel, die dialektische Methode und die historische Betrachtungsweise des Politischen, wie aber auch durch die von der russischen Philosophie angestrebte Einheit von Theorie und Praxis wurden Marx Vorstellungen in Russland sehr offen aufgenommen.634 Die Kommunistische Partei Russlands [ab 1925 „Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“] machte sie zu ihrer Parteiideologie. Mit der Machtübernahme der Bolschewiki 1917 wurden die Lehren Karl Marx Grundlage der staatlichen Ordnung. In diesem Zusammenhang wird insbesondere das Kernstück der Marxschen Ideologie, die Losung „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“, zur Hauptforderung der Agitation Lenins: „Die Arbeiter sind der Spaltung müde. Die Arbeiter wollen die Einheit“635 erklärt er. Zersplitterung ist auch bei Lenin der Ausgangspunkt für die Ausbeutung des Proletariats.636 Die Marxsche Vereinigungslosung wird mit der Machtübernahme im sowjetischen Russland sowie ab 1922 in der Sowjetunion nicht nur Wahlspruch der Partei, sondern seit der ersten sowjetischen Verfassung von 1918 als Aufschrift auch Teil des Staatswappens des sowjetischen Staates. Bis zum Ende der Sowjetunion wird dieses Staatsziel beibehalten. Nach Art. 143 der Verfassung von 1936 und Art. 169 der Verfassung von 1977 besteht das Wappen aus der Losung in den Sprachen der Unionsvölker und soll das internationalistische Wesen des Sowjetstaates ausdrücken. Der Inhalt dieser Losung wird auch vom fünfzackigen roten Stern symbolisiert, der Ausdruck der „Einheit der Werktätigen“ auf der ganzen Welt sein soll.637 Während die marxistische Forderung nach universaler Vereinigung offiziell immer beibehalten wird, kommt es bei den Vorstellungen über die eigene „Vereinigung“ und das Streben nach universaler Verbindung zu deutlichen Akzentverschie631
So insgesamt Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede. 633 Marx, Werke, Band III, 1, S. 216. 634 Vgl. Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, S. 102. 635 Lenin, Über die Einheit, in: Werke, 1961, Band 20, S. 319. 636 Lenin, Über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Werke, Band 27, 230. 637 Kudrjawzew, Die Verfassung der UdSSR, Manifest des kommunistischen Aufbaus, dt. Übersetzung, S. 167. 632
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bungen von der Ausgangsforderung Karl Marx. Für die Sowjetmacht ist die Vereinigung der Arbeiter als Oppositionsbildung gegenüber der herrschenden Klasse nicht nur Voraussetzung im Kampf gegen die Bourgeoisie wie bei Marx, sondern „die Quelle der Erneuerung der Demokratie und des Sieges“,638 sie macht insgesamt die Stärke der Gesellschaft aus639 und löst alle inneren und äußeren Probleme.640 So werden die Ideen Marx insbesondere nach der Revolution inhaltlich mit traditionell russischen Vorstellungen von Einheit als Voraussetzung für die kommende Glückseligkeit angereichert. Theoretischer Ausgangspunkt für diese Verschiebung ist die unter Lenin entwickelte Lehre von der Einheit der Gegensätze als Kernstück der wissenschaftlichen Methode des Sozialismus, dem dialektischen Materialismus, der auch Grundlage für die Gesellschaftstheorie der Sowjetunion ist. Hatte Marx Einheit vor allem als Widerspruch zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen gefordert und in diesem Sinne im Widerspruch „die Springquelle der Entwicklung“ gesehen, so ist für Lenin nicht der Widerspruch, sondern gerade die Einheit der Gegensätze der Kern der Lehre.641 Von der Identität im Ausgangszustand kommt es bei Marx zu einer Entwicklung. Dabei bildet sich aus dem Zustand der allgemeinen Identität zunächst ein Unterschied heraus, der später zum Gegensatz wird und letztlich zum Widerspruch, zur völligen Negation des ursprünglichen Zustands führt. Wenn auch der eine Gegensatz den anderen dialektisch bedingt und keine Seite aus sich selbst heraus existieren kann, beschränkt sich die Beziehung auf den gegenseitigen Ausschluss durch Kampf. Allein aufgrund der Verneinung bleiben sie letztlich unidentisch.642 Die Korrektur in der Lehre vollzieht sich auch aus dem Grund, das eigene Tun zu rechtfertigen. Im Übergang von einer sozial-utopischen Lehre zum praktisch-politischen Handeln war dies unvermeidbar. Indem die Partei ihre Machtübernahme mit dem Willen zur Verwirklichung der sozialistischen Ideologie begründet, wird die Übereinstimmung dieser Theorie mit der sowjetischen Praxis zur Legitimationsfrage. So kommt es für die Rechtfertigung der Partei darauf an, wieweit es ihr gelingt, die Lehre zu verwirklichen. Es bedarf einer freiwilligen Vereinigung des Proletariats mit dem Ziel, die herrschende Klasse zu überwinden, um sich anschließend gemeinschaftlich selbst zu organisieren. Ohne dass dies von Marx selbst konkretisiert worden wäre, müsste es im Sinne der Dialektik nach Marx zu einer erneuten Widerspruchsbildung kommen, die weitere Dynamik erzeugt und die die Entwicklung weitertreibt. Der sowjetische Staat aber musste sich als allein in Einzelfragen noch zu verbesserndes Endergebnis betrachten. Insofern kommt die marxistisch-leninistische Lehre zu dem Ergebnis, dass es antagonistische Widersprüche in der Gesellschaft im 638 639 640 641
Brezˇnev, Leninskom Kursom, S. 547. ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 169. ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 8. Dazu umfassend Schneider, „Einheit“ und „Gegensatz“ in der Sowjetphilosophie, Köln
1978. 642
Schneider, „Einheit“ und „Gegensatz“ in der Sowjetphilosophie, S. 19 ff.
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realen Sozialismus grundsätzlich nicht mehr geben darf. Gegensätze können, wenn überhaupt, in Form von antigesellschaftlichen Überbleibseln des Kapitalismus wie Spekulanten, Dieben und Rowdys auftauchen.643 Grundsätzlich aber gibt es im Sozialismus nur noch friedlich gesinnte Klassen ohne Widersprüche, wie Arbeiter und Bauern, die identische Ansichten und Interessen haben, daher „nichtantagonistisch“ zueinander sind. Da die dialektische Methode weiterhin universeller wissenschaftlicher Ansatz bleibt ist nun fraglich, inwieweit sich Einheit nach der Revolution überhaupt noch entwickeln kann. P. N. Fedoseev löste diesen Widerspruch mit der Feststellung, dass im Kapitalismus der Widerspruch zum Sieg einer Seite zur Liquidierung der anderen führe, im Sozialismus dagegen diene die Überwindung der Gegensätze der Stärkung der politischen und sozialen Einheit. Widersprüche lösen sich somit grundsätzlich zu Lasten des Widerspruchs zum Sozialismus, während die Einheit stetig wachse.644 Nichtantagonistische Widersprüche liquidieren sich also nicht, sondern lösen sich zu einer Einheit auf.645 So findet der Kampf der Gegensätze nur noch innerhalb einer grundsätzlichen Einheit statt. Diese Einheit ist das Fundament und die Stabilität aller Dinge, aus ihr kommen alle nichtantagonistischen Gegensätze und finden sich in ihr wieder. Diese Einheit der Gegensätze hat immerhin zur Folge, dass nichts aus sich selbst heraus sein kann, sondern nur in Beziehung zu den anderen Bestandteilen des Systems.646 Während bei Marx Widerspruch, Differenz und Kritik Wesensmerkmal von dialektischer Entwicklung sind, ist es im Leninismus die Vereinigung, die Verschmelzung von zwei Gegensätzen. Vereinigung hat nicht mehr die Kritik der bestehenden Verhältnisse zum Zweck, sondern allgemeine Einigkeit im Staat. Lenin nimmt die Dynamik, die in der negativen Einheit bei Marx steckt, heraus und verwandelt sie in eine Vorstellung allgemeiner Einmütigkeit. Schon in seinem Kerngedanken trägt der Marxismus-Leninismus so deutliche Züge der traditionellen nach absoluter All-Einheit strebenden russischen Philosophie. Lenin schreibt: „Außerdem muss das allgemeine Prinzip der Entwicklung vereinigt, verknüpft werden mit dem allgemein Prinzip der Einheit der Welt, der Natur, der Bewegung, der Materie etc.“647 Hier verbindet sich das Entwicklungsgesetz von Karl Marx mit dem des russischen Religionsphilosophie Solovevs. Wie deutlich gemacht werden soll, zeigt sich diese „Einheit der Gegensätze“ als Kern der marxistisch-leninistischen Vorstellung auch konkret in der Gesellschaftslehre und ihren praktischen Auswirkungen. In diesem Sinne kommt es auch erneut zu einer Überbetonung des Ganzen vor dem Einzelnen: Dies zeigt sich, wenn Lenin wie in der russischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (z. B. bei Vl. Solovev)648 den Vergleich der menschlichem Ge643 644 645 646 647 648
Schneider, „Einheit“ und „Gegensatz“ in der Sowjetphilosophie, S. 63. Fedoseev, Dialektika sovremennogo obsˇcˇestvennogo razvitija, S. 66. Schneider, „Einheit“ und „Gegensatz“ in der Sowjetphilosophie, S. 64. Schneider, „Einheit“ und „Gegensatz“ in der Sowjetphilosophie, S. 94, 101. Lenin, Werke, Band 38, 1964, S. 242. Solowjew, Über Sünden und Krankheiten, Deutsche Gesamtausgabe, Band IV, S. 342.
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meinschaft mit einem Körper gebraucht und darauf hinweist, dass ein einzelnes Körperteil wertlos sei und erst im Zusammenhang mit dem restlichen Körper seine spezifische Bedeutung erhält649 Vor diesem Hintergrund entwickelt der Marxismus-Leninismus die Lehre von der Priorität des Ganzen vor dem Einzelnen.650 3. Die Einheit der Partei: Alleinherrschaft nach außen – monolithische Einheit als Unterordnungsprinzip nach innen a) Die Partei als Avantgarde des Proletariats – Das Streben nach Führerschaft im Land Während Marx vom Grundsatz der freiwilligen Selbstorganisation der Arbeiter ausgeht, kommen die marxistischen Führer in Russland zu der Auffassung, dass es einer politischen Kampforganisation bedarf, die die Arbeiter politisch erzieht und die politische („Einigungs-“)prozesse beschleunigt.651 Für Lenin ist die Partei wesentliches Kampf- und Organisationsinstrument, die ihre Rolle nicht zuletzt durch das Ziel, nämlich der Überwindung des Staates erhält. Grundsätzlich favorisiert Lenin die marxistische Auffassung vom Staat als einem abzulehnenden Machtinstrument der herrschenden Klasse.652 Dabei reduziert er den Staat auf seinen Zwangscharakter und vernachlässigt andere Elemente des Marx-Engelsschen Staatsbegriffs.653 Staatliche Macht hat für ihn entsprechend der allgemeinen russischen Staatsidee unbegrenzten Charakter. Lenins Begriff weist dem Staat instrumental-gewalttätige, durch eine Klasse beherrschte desintegrative Charakterzüge zu.654 Indem er Staatsgewalt und Staatsapparat mit dem Staat gleichsetzt, kommt bei Lenin noch deutlicher
649 Lenin bezieht diesen Vergleich jedoch weniger auf die entsprechende Bibelstelle als direkt auf Aristoteles: „Die einzelnen Glieder des Leibes sind nur in ihrem Zusammenhang das, was sie sind. Eine vom Leib losgetrennte Hand ist nur dem Namen nach eine Hand.“ Werke, Band 38, 1964, S. 192, mit dem Hinweis auf Aristoteles zitiert nach Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 191. 650 Zur Priorität des Ganzen in der Rechtstheorie: Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 190 ff. Vor dem Hintergrund der Lehre von der Einheit der Widersprüche kann der Einzelne nur innerhalb des Ganzen und in Beziehung zu den anderen Teilen sein. Aus dieser Wechselwirkung ergibt sich, dass das Gesamte mehr ist als die Summe seiner Teile (S. 317, 195). 651 Marx/Engels, Werke, Band 33, S. 333 und 386 f. 652 „Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern Klassengegensätze nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: das Bestehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhnlich sind. (…) nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ der Unterdrückung der einen Klasse unter die andere, …“, Lenin, Staat und Revolution, in: Werke, 1960, Band 25, S. 399. 653 Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Maurach/ Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, S. 23. 654 Vgl. Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, S. 18.
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als bei Marx die Unterdrückungsfunktion des Staates zum Ausdruck.655 Zu dessen Überwindung braucht Lenin eine starke Partei. Lenin war bewusst, dass bereits die praktische Durchführung der Vereinigung des Proletariats in der Partei zur sozialen Revolution gegen den Staat, allein auf den freien kollektiven tatsächlichen Willen des Weltproletariats gestützt, in der Realität unmöglich war. In seiner Schrift „Was tun?“ schreibt er schon 1902, dass er dem Proletariat allein aus eigenen Kräften die Revolution nicht zutraut. Insofern bedürfe es der Intelligenz, die das Bewusstsein um die geschichtliche Sendung des Proletariats in dieses hineintrage. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Intellektuellen, dem Proletariat revolutionäres Klassenbewusstsein zu verschaffen und seinen politischen Kampf zu leiten. In diesem Sinne weicht Lenin von der Marx-Engelsschen Vorstellung einer Diktatur des Proletariats als Mehrheitsherrschaft, auf der Grundlage eines allgemeinen Wahlrechts, ab und verkündete stattdessen die Herrschaft der Partei.656 Bereits vor der Revolution sah Lenin in der Partei die „Avantgarde des Proletariats“. Danach bildet die Partei aufgrund ihres gesteigerten politischen Bewusstseins und dem entsprechend gesteigerten Erkenntnisvermögen im Hinblick auf die notwendigen Veränderungen die vorwärts strebende Kraft in der Gesellschaft. Dies legitimiert sie, den Willen des vereinigten Proletariats zu repräsentieren.657 Da das Proletariat nach Marx nur ein Ziel haben konnte, bedürfe es auch nur einer Partei, die dieses Ziel vertritt,658 weshalb sich alle Proletarier diesem Ziel unterordnen müssten. Vor diesem Hintergrund hielt sich die Partei für berechtigt, nach ihren Vorstellungen im Namen des Proletariats zu agieren. Die Hegemonie der bolschewistischen Partei war für Lenin die entscheidende Voraussetzung für die von ihm angestrebte proletarisch-sozialistische Demokratie.659 Die Vereinigung des Proletariats ist nach Lenin nur durch die Partei möglich. b) „Einheit des Proletariats“ als Alleinvertretungsanspruch der Kommunistischen Partei Um als Kampfinstrument nach außen wirksam zu sein, bedarf es der Einheit der Partei. Die Einheit der Partei wird in zweierlei Hinsicht als Voraussetzung für den Sieg begriffen. Bei Marx ist das vorrevolutionäre Vereinigungsstreben als Mittel zur Stärkung des Widerspruchs zu den bestehenden Verhältnissen gedacht. Einerseits geht es darum, möglichst das ganze Proletariat in einer Bewegung zu vereinigen und andere linke Gruppen zu überwinden. Andererseits bedarf es innerhalb der Partei Einmütigkeit, um vorgeben zu können, tatsächlich das Marxsche Entwicklungsgesetz 655 Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Maurach/ Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, S. 23. 656 Vgl. Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Maurach/ Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, S. 23. 657 Meissner, Art. 6, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 4. 658 ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 72. 659 Meissner, E III, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 20.
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von der Vereinigung des Proletariats als historische Wahrheit zu realisieren und Lenins Kampf darüber zu rechtfertigen. Vor der Revolution geht es in Russland vor allem darum, Spaltungen in der Linken zu bekämpfen. Dies wird an der Bewertung des II. Parteitags von 1903 durch Stalin deutlich, der schreibt: „Dies war der Parteitag, auf dem sich unsere zersplitterten Kräfte zu einer einheitlichen, machtvollen Partei vereinigen sollten. … Endlich also! – riefen wir froh, – erleben auch wir die Vereinigung in einer einheitlichen Partei, erhalten auch wir die Möglichkeit, nach einem einheitlichen Plane zu handeln! … Selbstverständlich hatten wir auch vorher gehandelt, aber unsere Handlungen waren zersplittert und unorganisiert. Selbstverständlich hatten wir auch vorher uns zu vereinigen versucht, eben zu diesem Zwecke hatten wir ja (1898) den I. Parteitag einberufen, uns sogar, wie es schien, auch ,vereinigt, aber diese Einheit existierte nur in Worten: die Partei blieb immer noch in einzelne Gruppen zersplittert, die Kräfte waren immer noch zerbröckelt und bedurften der Vereinigung. Und nun sollte der II. Parteitag die getrennten Kräfte sammeln und zusammenschweißen. Wir sollten eine einheitliche Partei schaffen.“ Der Zusammenschluss der „einheitlichen und unteilbaren Partei“ zu einem „einheitlichen Ganzen“ ist dabei Voraussetzung für den Erfolg.660 Entscheidend ist, dass nach der Revolution am Konzept der kommunistischen Einparteienherrschaft festgehalten wird. Dabei geht es nun darum, wie sich die Partei weiterhin als einzige führende Macht im Land legitimiert. Einmütigkeit des Proletariats kann nicht mehr mit der notwendigen Überwindung der bestehenden Verhältnisse gerechtfertigt werden. Um auch nach der Überwindung des Klassenfeindes im Land die alleinige Herrschaft einer einzigen Partei zu begründen, bedarf es eines anderen Verständnisses von Einheit. In diesem Zusammenhang wird ein Konzept eingeführt, wonach Einheit nicht mehr Widerspruch zur herrschenden Macht, sondern davon losgelöst, entsprechend der marxistisch-leninistischen Lehre von der Einheit der Gegensätze, allgemein Bedingung für das Gute ist. Insofern ist die Einparteienherrschaft nicht mehr nur die wirksamste Form, das Proletariat zu vereinigen, um gegen die Bourgeoisie zu kämpfen, sondern die logische Folge eines Systems, das offiziell aus Einmütigkeit besteht. Stalin begründete die Einparteienherrschaft daher damit, dass bereits ein einheitlicher Wille herrsche, weshalb es nur einer Partei bedürfe; die kommunistische Partei wäre die freiwillige Vereinigung der engagierten Bürger des Landes.661 Da die Partei das Volk repräsentiere, bilde sie den Kern der staatlichen Einrichtungen und der gesellschaftlichen Organisationen. Damit ist es auch folgerichtig, dass Stalin 1933/34 die Parteistrukturen mit den staatlichen Strukturen des Sowjetsystems gleichschaltet, indem er die jeweiligen Parteiebenen mit den verschiedenen Sowjets jeweils auf eine Stufe stellt. Dabei haben die jeweiligen Parteiorgane gegenüber den gleichstehenden Staatsorganen ein Weisungsrecht, so dass
660 661
Stalin, Werke, Band 1, 1950, S. 77 ff. Eintrag „edinstvo partii“, in: Bolsˇaja sovetskaja enciklopedija, Band 15,1952.
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die Partei quasi-staatlichen Charakter bekommt.662 Hier zeigen sich die praktischen Auswirkungen der Verknüpfung von Gedanken der vorsowjetischen russischen Philosophie und dem Marxismus: Die Einparteienherrschaft wird damit begründet, dass es im sozialistischen Staat nur eine Partei geben kann, da es ja nur ein gemeinsames Interesse des Proletariats gibt. Aufgrund des vorherrschenden einheitlichen Klasseninteresses kann es gar nur eine Partei geben.663 c) Einheit als Unterordnungsprinzip innerhalb der Partei Um diese Organisation der Partei effektiv zu gestalten, geht Lenin davon aus, dass der innere Zirkel in der Partei möglichst klein und straff organisiert sein müsse. Während er offiziell mit Marx annimmt, dass Einheit nicht durch Intellektuelle geplant, sondern nur von unten durch das Proletariat „erkämpft“ werden kann, schafft er andererseits innerhalb der Partei ein Unterordnungsprinzip, das wiederum mit Einheit gerechtfertigt wird, denn „Einheit ist unmöglich ohne Organisation. Die Organisation ist unmöglich ohne Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit.“664 Anders als für Marx war für Lenin ein strenger Zentralismus immer Voraussetzung für den Fortschritt. Bereits früh war er von der Bedeutung der zentralistischen Struktur für die Sache der kommunistischen Revolution überzeugt. Er forderte, die „vereinigte und zentralisierte Macht des Proletariats“ der Bourgeoisie entgegenzustellen665 und hielt eine straff organisierte zentralisierte Parteistruktur im Kampf gegen den zaristischen russischen Staat für vorteilhaft. So setzt mit dem VII. Parteitag im März 1918 eine Neustrukturierung der „Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki)“ ein. Da Meinungsverschiedenheiten in der Partei dieser die Legitimation rauben würden, muss Lenin folgerichtig Einheit nach innen durchsetzen, was mit der Billigung der „monolithischen Einheit“ als innerem Organisationsprinzip auf dem X. Parteikongress seinen vorläufigen Höhepunkt findet.666 Danach war es verboten, innerhalb der Partei Kreise und Plattformen zu gründen, vielmehr solle die Partei „aus einem Munde sprechen“. Innerparteiliche Einmütigkeit wird als Bedingung für den Erfolg der Verwirklichung der marxistischen Ziele glorifiziert.667 Die Partei sei stark durch ihre Geschlossenheit, durch 662 Vgl. ausführlich Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, S. 145. 663 Vgl. Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Maurach/ Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, S. 30. 664 Lenin, Über die Einheit, in: Werke, Band 20, 1961, S. 319. 665 Lenin, Werke, Band 30, 1961, S. 413. 666 Meissner, E III, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 21 f. 667 Vgl. Lenin: „Es ist notwendig, dass alle klassenbewussten Arbeiter die Schädlichkeit und Unzulässigkeit jeder wie auch immer gearteten Fraktionsbildung klar erkennen, die selbst dann, wenn die Vertreter der einzelnen Gruppen den besten Willen haben, die Parteieinheit zu wahren, in der Praxis unweigerlich dazu führt, dass die einmütige Arbeit geschwächt wird und dass die Feinde, die sich an die Regierungsarbeit heranmachen, erneut verstärkte Versuche
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die Einheit des Willens und die Einheit der Handlungen, die unvereinbar seien mit Abweichungen von Programm und Statut, unvereinbar mit der Verletzung der Parteidisziplin, mit Fraktionsbildung und mit Kompromissen.668 Im Parteistatut der KPdSU heißt es so unter Art. 3 f. „Das Parteimitglied ist verpflichtet, auf jede Weise die ideologische und organisatorische Einheit der Partei zu festigen …; a) die Einheit der Partei als die wichtigste Voraussetzung für die Macht und die Kraft und Macht der Partei (ist) in jeder Weise zu schützen.“669 Auch aus der Kooptation als Aufnahmemodus für ein Neumitglied anstelle eines einfachen Beitritts geht, wie Westen bemerkt, hervor, dass sich der Bewerber von vornherein dem Parteiwillen unterwerfen muss.670 Stalin sagt, die „Partei Stalins und Lenins“ sei stark aufgrund ihrer einheitlichen Handlung und ihres einheitlichen Willens, was unvereinbar sei mit Abweichungen von Programm und Satzung, mit der Verletzung der Parteidisziplin und Fraktionen.671 Mit mehreren Fraktionen entstünden mehrere, sich entgegenstehende Interessengruppen und es bildeten sich unterschiedliche Ziele heraus. Dies würde den einheitlichen Willen des Proletariats schwächen. Insofern schließe die Einheit des Willens die Zersplitterung der Partei aus. Nur der Ausschluss der Oppositionen könne den Willen des Proletariats umsetzen helfen.672 Die „Einheit“ der Partei beinhaltet insofern den Ausschluss von Andersartigkeit als Voraussetzung für den Erfolg der Sache. Wie in der Herrschaftslegitimation der Zaren und in der Staatsphilosophie Vladimir Solovevs drückt der Begriff „Einheit“ Verpflichtung des Einzelnen zur Unterordnung unter das Ziel, die Erreichung einer höheren Form von Einheit aus. Nach außen dient sie der Abgrenzung gegen den Feind: wer sich nicht in die Einheit einordnet, macht sich verdächtig, Feind der Partei und somit Feind des Ganzen zu sein und muss bekämpft werden.673 4. Einheit von Volk und Leitung im sowjetischen Staat Während die Trennung von Staat und Volk bei Karl Marx durch den die klassenlose Gesellschaft konstituierenden Willen des Proletariats überwunden wird, bleibt diese Trennung in der russischen Revolution von oben, ungeachtet der anders lautenunternehmen, die Zerklüftung zu vertiefen und sie für die Konterrevolution auszunutzen.“ „Um innerhalb der Partei und in der gesamten Sowjetarbeit strenge Disziplin herbeizuführen und die größte Einheit, bei Ausmerzung jeglicher Faktionsbildung zu erzielen, ermächtigt der Parteitag das Zentralkomitee, in Fällen von Disziplinbruch … alle Parteistrafen … in Anwendung zu bringen.“ Dokumente zum X. Parteitag, in: Werke, Band 32, S. 245 ff. 668 Vgl. Präambel des Parteienstatuts der KPdSU von 1961 abgedruckt in Meissner, Die Rechtsstellung der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, in: Meissner, Partei, Nation und Staat in der Sowjetunion, S. 454. 669 Parteienstatut der KPdSU von 1961, abgedruckt in: Meissner, Die Rechtsstellung der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, in: Meissner, Partei, Nation und Staat in der Sowjetunion, S. 454 ff. 670 Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, S. 144. 671 Eintrag „edinstvo partii“, in: Bolsˇaja sovetskaja enciklopedija, Band 15, 1952, S. 479. 672 Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus, in: Werke, Band 6, S. 161. 673 Eintrag „edinstvo partii“, in: Bolsˇaja sovetskaja enciklopedija, Band 15, 1952, S. 478.
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den Ideologie, erhalten und wird sogar noch verschärft. Indem der revolutionäre Charakter der sowjetischen Gesellschaft auf Dauer auch ideologisch nicht aufrechtzuerhalten war, braucht die Leitung einer dauerhaften Legitimation, um das sowjetische Volk zu repräsentieren. Dies geschieht im Folgenden durch die Lehre von der Einheit von Volk und Leitung. a) Lenins Kritik an der „Einheit von Volk und Zar“ Bemerkenswert ist dabei zunächst, dass gerade die durch das Prinzip der Einheit von Zar und Volk verschleierte Spaltung zwischen Zar und Gesellschaft vor der Revolution ihrerseits Ausgangspunkt für die Ablehnung des Klassenstaates durch die Sozialisten war. So hatte Lenin die im zaristischen Manifest über die Einberufung der Reichsduma von 1905 proklamierte „Einheit von Zar und Volk“ heftig als „Einheit des Zaren mit den Gutsbesitzern und Kapitalisten“ beschimpft, weil er das Proletariat im Staat nicht ausreichend repräsentiert sah. Lenin nutzt die Formulierung von der Einheit des Zaren mit dem Volk im Manifest, um den Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen deutlich zu machen und das Proletariat zum Kampf gegen diesen gesellschaftlichen Dissens aufzurufen.674 „Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, (…) sie sollte Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehen beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden.“675 Insofern nutzte er die zaristische Berufung auf die Einheit, die tatsächlich keine war, in seinen Agitationen als Beweis für die Fehlerhaftigkeit des Systems. b) Einheit von Volk und Leitung: Ideologie als Grundkonsens Was Lenin jedoch gegen den von ihm aufgezeigten Widerspruch zwischen dem Willen des Volkes und dem Handeln der Herrschaft unter dem Zar einzubringen hat, ist nicht ein neues System, das den tatsächlichen demokratischen Willen gegenüber den Regierenden sichert. Vielmehr sucht Lenin den Widerspruch durch eigenes politisches Handeln zu überbrücken, von dem er verspricht, dass es, anders als das Handeln des Zaren, nun tatsächlich mit den Interessen des Volkes identisch sei. Ziel seines politischen Kampfes kann so selbstverständlich nur ein Zustand sein,
674
Lenin, Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren, in: Werke, 1960, Band 9, S. 184. 675 Lenin, Werke, Band 25, 1972, S. 393 ff.
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in dem Volk und Leitung eine tatsächliche Einheit bilden.676 Damit übernimmt er nicht nur eine zaristische Legitimationsgrundlage von Herrschaftsmacht, er macht seine eigene Macht ihrerseits von der tatsächlichen Verwirklichung von Einheit von Volk und Leitung abhängig, ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nicht individuelle Freiheit und staatliche Gewalt aus der Natur der Sache heraus unüberwindbare Gegensätze bilden, die zu überwinden unrealistisch sei und die daher akzeptiert und reguliert werden müssten. Die ideelle Einheit von Volk und Leitung bleibt indes Rechtfertigung von Macht. Lenin verteidigte die Diktatur nicht nur mit dem Ziel der objektiven Idee demokratischer Einheit in Freiheit, sondern insbesondere nach der Revolution mit dem übereinstimmenden Willen aller hinsichtlich dieser Idee. Im Entwurf seiner Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ aus dem Jahr 1919 heißt es in unmittelbarer Übereinstimmung mit der absolutistischen Theorie, ein Autokrat repräsentiere das Volk, wenn er dessen wahren Willen umsetze. Eine demokratische Abstimmung sei nicht nötig, wenn der gemeinsame Wille eindeutig sei.677 Damit knüpft Lenin unmittelbar an die Einheit von Zar und Volk als Herrschaftsprinzip seiner monarchischen Vorgänger an. In beiden Konstruktionen wird das, was Einheit ausmacht, durch eine Idee und nicht durch den freien Willen bestimmt, den es unter dem Zaren nicht gibt und der im Kommunismus Einsicht in die Notwendigkeit der Ideologie ist.678 So sagt Brezˇnev: „Die Annäherung aller Klassen und seiner Schichten, die Herausbildung der moralischen und politischen Eigenschaften des Sowjetvolkes und die Festigung der sozialistischen Einheit vollzieht sich bei uns auf Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie, die die sozialen Interessen und die kommunistischen Ideale zum Ausdruck bringt.“679 Dabei ist der Marxismus-Leninismus bemüht, die moralische und politische Einheit von Volk und Leitung auch im Willen des Proletariats, bzw. mit der zunehmenden „Liquidierung der Ausbeuterklassen“ im Willen des ganzen Volkes festzumachen. Indem Lenin von der Volkssouveränität als der „Selbstherrschaft des Volkes“ spricht, bringt er zum Ausdruck, dass nun die Macht des Volkes vollständig unabhängig und unbegrenzt ausgeübt werden soll. Entscheidend für die Legitimation der Herrschaft ist damit die inhaltliche Übereinstimmung mit dem einheitlichen Willen des ganzen Volkes. Dabei liegt der Herrschaft des Volkes jedoch nicht die Summe der Meinungen der im Staat versammelten Individuen zugrunde. In der sozialistischen Konzeption 676
Vgl. Lenin, Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren, in: Werke, Band 9, 1960, S. 184. 677 Lenin, Ursprünglicher Entwurf des Artikels „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“, in: Werke, Band 27, 1960, S. 197/198. 678 Lenin, Werke, Band 38, 1960, S. 40 f., er schreibt: „Die Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“ (Engels in „Anti-Dühring“) = „Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit der Natur und der dialektischen Verwandlung der Notwendigkeit in die Freiheit (zugleich mit der Verwandlung des unerkannten, aber erkennbaren ,Dings an sich in ein ,Ding für uns in ,Erscheinungen).“ 679 Brezˇnev, Auf dem Wege Lenins, Band 3, S. 298.
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B. Historischer Teil
der Volkssouveränität entspricht dieser Wille vielmehr dem objektiven Interesse der Werktätigen und setzt daher Einsicht in die objektive Notwendigkeit voraus.680 So sind der Inhalt und das Wesen der Souveränität im sozialistischen Staat von der welthistorischen Mission geprägt und können ihr nicht widersprechen.681 Dieses objektive Interesse ist nicht Summe der Einzelinteressen, sondern allein von den historischen Gesetzmäßigkeiten determiniert. Es kann innerhalb der Volkssouveränität daher auch keine Interessenvielfalt geben. Die Herrschaft des Volkes beruht allein auf dem einheitlichen Klassenbewusstsein. Jede Abweichung von diesem Willen ist eine Gefahr für die so determinierte Volksherrschaft. Nur insofern ist die staatliche Gewalt Ausdruck des Willens des Volkes.682 Der einheitliche Volkswille hat die prägnante Folge, dass jede Form der Machtbeschränkungen und der Gewaltenteilung eine Begrenzung der einheitlichen Volkssouveränität darstellt.683 Das Prinzip der Einheit der Macht ist hier Ausdruck der Machtvollkommenheit der Werktätigen.684 Indem die Herrschaftsmacht dem objektiven Willen des ganzen Volkes entspricht, darf sie nicht beschränkt werden, sondern muß absolut unabhängig agieren können. Jeder Widerspruch gegenüber der staatlichen Macht ist ein Angriff auf die Volksherrschaft. Gerade hier kommt es zu einer entscheidenden Überschneidung mit der Ablehnung von Interessenpartikularismus in der vorrevolutionären Staatslehre: In der Idee der Volkssouveränität wie in der Einheit von Volk und Zar sind individuelles und kollektives Interesse identisch. Aufgrund der Einheit in der Idee gibt es keinen Widerspruch zwischen Volk und Herrschaft. So ist die höchste Macht Ausdruck des einheitlichen Willens des ganzen Volkes, weshalb staatliche Macht dem Willen des Volkes als solche auch nicht widersprechen kann.685
c) Einheit von Volk und Leitung und freier Wille des Einzelnen Problematisch ist vor allem, dass eine Legitimation der sich auf die Identität mit dem Willen des Volkes berufenden sowjetischen Herrschenden durch Respektierung des freien Willens des Volkes in Form von freien Wahlen unterbleibt. Als Herrschaftsrechtfertigung rückt im realen Marxismus an die Stelle des freien Willens die vorgeprägte Ideologie als objektive Idee. Diese Ideologie rechtfertigt das Handeln der Herrschenden und verbindet die Herrschenden durch die angeblich schon hergestellte geistig-moralische Einheit mit dem Volk, das sich aufgrund der Einheit des Willens in der politischen Handlung wiederfinden sollte. Ausgangspunkt für die Einheit von Volk und Leitung ist wie bei der Einheit von Volk und Zar eine Idee: während dies 680
Haney (verantwrtl. Red), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, S. 519. Haney (verantwrtl. Red), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, S. 517. 682 ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 92 f. 683 Farberow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 3, S. 135. 684 Manow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 1, S. 182. 685 ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 92. 681
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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zunächst die (christlich-orthodoxe) Sittlichkeit ist, wird es anschließend die marxistisch-leninistische. Wie nach der christlich-orthodoxen Idee zeichnet sich die Einzelpersönlichkeit auch nach der marxistisch-leninistischen Ideologie durch ihre Hinwendung zum Kollektiv aus. Die positive Haltung zur Gesellschaft zeichnet sich durch geistige Unterstützung der gemeinsamen Idee und der aktiven Teilhabe an der Massenorganisation aus. Die Nützlichkeit für das Kollektiv ist Forderung an den Einzelnen. Ein Argument gegen aufkommende Fragen über einen möglichen Widerspruch zwischen der Führungsrolle der Partei und dem Demokratieprinzip ist ein Konzept von Freiheit, das nach Lenin der Einsicht in die Notwendigkeit als Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit der Natur und dialektischen Verwandlung der Notwendigkeit in die Freiheit entspricht: Der Mensch ist frei, indem er erkennt, was notwendig ist.686 In diesem Sinne wird politische Freiheit im Sozialismus nie generell verstanden, sondern immer mit einem „wozu?“ versehen.687 Das Ziel der Freiheit wird objektiv bestimmt durch den Aufbau des Kommunismus.688 Politische Freiheit wird daher ganz offiziell nur gewährleistet, sofern sie den Interessen des ganzen Volkes, den Interessen des sozialistischen Aufbaus entspricht.689 Freiheit kann so nur innerhalb der Einheit verwirklicht werden und nicht außerhalb.690 Die Sicherung der Einheit des Willens durch den zentralisierten Staat ist Lenins Alternative zu einer demokratischen Staatsform im Kapitalismus, die er als Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit ablehnt. Für Lenin ist die kapitalistische Demokratie als Form der Unterordnung unter eine organisierte und systematische Organisation eine „Vergewaltigung der Menschen“. So ist der zum vollendeten Kommunismus strebende Sozialismus für ihn die Form, in der Unterordnung einer Gruppe der Menschheit unter eine andere verschwinden wird.691 Allerdings lehnt Lenin die Demokratie nicht grundlegend ab. Vielmehr ist die Demokratie als Staatsform nach der jeweils herrschenden Klasse zu beurteilen. Während die Demokratie im Kapitalismus der ausbeutenden Minderheit dient, ist sie im Sozialismus für die werktätige Mehrheit da. Entscheidend für den marxistisch-leninistischen Demokratiebegriff ist seine Abhängigkeit von den objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung, also der Entwicklung zum Kommunismus. Insofern ist die sozialistische Demokratie nicht nach den subjektiven Interessen des Volkes, nicht einmal nach den subjektiven Interessen der einzelnen Proletarier ausgerichtet, sondern muss die objektiven Interessen des Proletariats erreichen.692 Dem sozialistischen Demokratiebegriff liegt in Abgrenzung zum kapitalistischen Demokratiebegriff nicht das egoistische, 686 687 688 689 690 691 692
Schneider, „Einheit“ und „Gegensatz“ in der Sowjetphilosophie, S. 60. Lenin, Werke, Band 30, 1964, S. 229. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, S. 268, 327. Kudrjawzew, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 146. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, S. 317. Lenin, Staat und Revolution, S. 75. Petev, Kritik der marxistisch-sozialistischen Rechts- und Staatsphilosophie, S. 79.
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private Profit- und Verteilungsstreben, sondern das Streben nach Übereinstimmung und Interessenhomogenität zugrunde.693 Dabei kann auch die Summe der Mehrheit der Einzelinteressen vom objektiven Interesse abweichen, ohne dass das objektive Interesse damit in Frage gestellt würde. Insofern beinhaltet die sozialistische Demokratie vielmehr die Bewusstseinsbildung für das richtige objektive Interesse. Insofern hat die sozialistische Demokratie nicht nur die Aufgabe, den „einheitlichen Willen der Werktätigen“ „zielstrebig, planmäßig, gemeinsam und schöpferisch zu verwirklichen“, sondern auch ihn „herauszubilden und zu organisieren“.694 Auch Stalin rechtfertigt seine Herrschaft mit dem damit übereinstimmenden einheitlichen Willen des Proletariats.695 Im Wahlaufruf des ZK der KPdSU zur Wahl Stalins am 12. 12. 1937 heißt es daher, der Tag müsse „zu einem großen Festtag der Einheit der Werktätigen aller Völker der Sowjetunion, ihrer Vereinigung um das siegreiche Banner Lenin-Stalins werden“.696 Seine einstimmige Wahl machte Stalin zum Ausdruck des Sieges der proletarischen Sache durch inhaltliche Übereinstimmung von Volk und Führer. Anders als in den bürgerlichen Gesellschaften, wo die Politik nur die Interessen einiger Finanzmagnaten vertrete, entspräche die Politik der KPdSU dem Willen des ganzen Volkes.697 Wahlen dienen hier nicht der Legitimation von staatlicher Gewalt, sondern allein der Demonstration des gemeinsamen Grundinteresses des Volkes. Die Legitimation ergibt sich vielmehr aus dem objektiv begründeten Willen des Volkes. In einem solchen System bleibt der freiheitliche Demokratiegedanke wesensfremd.698 Wenn die sowjetische Ideologie die Einheit von Volk und Leitung Kern der „sozialistischen Demokratie“, Ausdruck des Vertrauens in die Partei und Unterstützung derselben nennt,699 wird der Unterschied zum westlichen Demokratieverständnis noch einmal deutlich. Offiziell ist zwar der freie Wille Ausgangspunkt dessen, was Menschen zu einem Staatsgefüge zusammenführt, tatsächlich ist dieser aber absolut durch die Orientierung durch den von der Ideologie bestimmten Endzustand determiniert. Ein nicht von der Ideologie bestimmter freier Wille hat in dieser Einheit keinen Platz, weil er ihr widerspricht. Damit ist die sozialistische Demokratie antiindividualistisch und anti-pluralistisch. Grundlage ist zwar der Wille des Volkes, dieser ist aber von äußeren Gesetzmäßigkeiten determiniert. So kann es in der Einheit von Volk und Leitung weder eine Diskussion noch Dissens geben, sondern nur Übereinstimmung mit der Ideologie. Die sozialistische Demokratie dient letztlich allein dazu, die Interesseneinheit von Volk und Herrscher zum Ausdruck zu bringen.
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Eintrag „sozialistischer Staat“, in: Wörterbuch zum sozialistischen Staat, S. 288. Demokratie – Entwicklungsgesetz des sozialistischen Staates, S. 31. Vgl. Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, S. 131. Zitiert nach Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, S. 133. ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 48. Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, S. 539 f. ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 87.
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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Ausdruck der Herrschaft des Proletariats wird für Lenin das neu geschaffene Rätesystem unter Führung der Partei.700 Der Unterschied der Räterepublik zur parlamentarischen Republik war, dass die nicht arbeitenden Menschen im Staat kein Stimmrecht erhielten und nur die Arbeiterklasse die Räte wählen durfte. Damit war das Rätesystem nach Lenin dem bürgerlichen Parlament überlegen, wo sich unter dem Deckmantel der Gewaltenteilung nur die faktisch stärksten Interessen in der Gesellschaft durchsetzen könnten, die der Industriebourgeoise. Die Mehrheit, nämlich das Proletariat sei hier nicht repräsentiert.701 Kelsen stellt im Rätesystem dabei gleichzeitig eine unfreiwillige Anerkennung der verschmähten Demokratie fest: Während Lenin von der Fiktion der Mehrheit des Proletariats im Staat ausgeht und es in den Wahlen zu den Räten abstimmen lässt, ist er am Ende doch bemüht, in seinem System die gleiche Qualität nachzuweisen, wie in einer Demokratie, nämlich den Willen der Mehrheit.702 Entscheidender Ansatz für die marxistisch-leninistische Parlamentarismuskritik ist letztlich, dass hier die Auseinandersetzung von verschiedenen Interessen ihren Sinn verliert, weil die politische Tätigkeit allein auf ein einheitliches Ziel gerichtet ist. So lässt sich insgesamt das Verhältnis von Freiheit und Zwang innerhalb der staatlichen Einheit in der Sowjetunion verstehen. Wenn Stalin sagt, die Sowjetunion sei der einzige freie und föderalistische Staat, da hier die Interessen der Regierung den Interessen der moralisch-politischen Einheit nicht entgegenstünden, bedeutet dies, dass Zwang nur gegen den Feind dieser Einheit angewandt wird. Dies gilt auch für das Verhältnis der einzelnen Sowjetrepubliken zum Zentrum. Diese seien frei, wollten aber die Sowjetunion nicht verlassen, weil alle Menschen in den verschiedenen Republiken das gemeinsame Ziel haben, den Kommunismus zu errichten. Hätte eine Republik offiziell aus der Union austreten wollen, hätte dies den Erfolg der Revolution in Frage gestellt und musste insofern verhindert werden. d) Der Zwangscharakter des Staates – Staatliche Einheit als Lenkungsapparat zu umfassender Einheit Ziel des Marxismus-Leninismus ist die freie klassenlose Gesellschaft ohne Zwang: Ziel ist der Kommunismus, „die lichte Zukunft der Menschen“, wo „jegliche Unterdrückung beseitigt“ und „die Menschen von der Geisel des Krieges befreit“ sind. „Der Kommunismus ist die Welt des Friedens, der Arbeit, der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Im Kommunismus werden alle Völker dieser Erde, alle Menschen ihre Fähigkeiten und Talente voll entfalten können“.703
700 Meissner, Die Russische Revolution und ihre Folgen, in: Meissner, Partei, Staat und Nation in der Sowjetunion, S. 19. 701 Manow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band I, S. 185. 702 Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 147. 703 Eintrag „Staat“, in: Wörterbuch zum sozialistischen Staat, S. 317.
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B. Historischer Teil
Spätestens mit der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes durch bolschewistische Tschekatruppen im März 1921,704 auf dem Matrosen u. a. Neuwahlen, Rede- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und freies Handwerk gefordert hatten, aber schon mit der Verhaftung der demokratisch legitimierten provisorischen Regierung im Herbst 1917 kurz vor den anberaumten Wahlen705 wurde indes deutlich, dass Lenin die Diktatur des Proletariats nicht als freiwilliges selbstbestimmtes Projekt der Basis, sondern mittels Terror als Zwangsvereinigung von oben durchzusetzen in der Lage war. Dies galt umso mehr nach der Revolution, als das Proletariat offiziell im marxistischen Sinn vereinigt war, einen gemeinsamen Willen bilden konnte und nun nach der Marxschen Theorie die gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel übernehmen sollte. Rein ideologisch sahen sich die Revolutionsführer nach der Oktoberrevolution und der staatsstreichartigen Machtübernahme durch die Bolschewiki 1919 mit dem Problem konfrontiert, nicht nur innerhalb der Partei, sondern in der ganzen Gesellschaft eine „Einheit des Willens“ zu erzeugen, denn schließlich sollte das geeinte „Proletariat“ nun gemeinschaftlich das sozialistische Eigentum verwalten. Jedoch war im Rahmen der dringend notwendigen Technisierung und Industrialisierung in voneinander abhängigen Großfabriken ein einheitlicher Wille praktisch noch viel schwieriger herzustellen als in der in Russland idealisierten kleinen Landgemeinde. Trotzdem schreibt Lenin, „daß jede Großindustrie (…) unbedingte und strengste Einheit des Willens erfordert, der die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden und Zehntausenden leitet.“706 Die Problematik des einheitlichen kommunistischen Willens suchten die Sowjetführer nicht nur innerparteilich, sondern auch im Staat durch strengen Zentralismus zu bewältigen. Die Notwendigkeit des Zentralismus ergab sich für Lenin aus dem objektiven Prinzip des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft: „Das Proletariat braucht eine zentralisierte Organisation der Macht; eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse der Bevölkerung der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Gesellschaft ,in Gang zu bringen“.707 „Wie aber kann die strengste Einheit des Willens gesichert werden? Nur durch Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines Einzelnen. Die widerspruchslose Unterordnung unter einem einheitlichen Willen ist für den Erfolg der Arbeit unbedingt notwendig.“708 Dabei kann sich Lenin nicht auf Karl Marx berufen. In Marx Aussage, die Einheit der Nation könne nicht durch die Regierungsgewalt von oben, 704
v. Rauch, Geschichte des bolschewistischen Russlands, S. 175 f. Die Provisorische Regierung hatte sich aus Mitgliedern der gewählten Duma konstituiert und das Land nach dem Zusammenbruch der zaristischen Regierung im März 1917 gelenkt. Vgl. v. Rauch, Geschichte des bolschewistischen Russlands, S. 60 f., 90. 706 Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Werke, Band 27, S. 259. 707 Lenin, Werke, Band 25, 1960, S. 416. 708 Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Werke, Band 27, S. 259. 705
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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sondern besser durch Kommunalverfassungen als Organisation der Einheit von unten hergestellt werden,709 liest Lenin in erster Linie die Forderung der Zerschlagung der alten bürgerlichen Staatmaschinerie.710 Im Sozialismus jedoch befürwortet er den zentralisierten Staat gegenüber einem Modell mit einem hohen Grad an Selbstverwaltung: Indem er seinen Begriff von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit zugrunde legt, sagt er, der Zentralismus verspreche (zum gegebenen Zeitpunkt) mehr Freiheit.711 In einem zweiten Schritt argumentiert Lenin, die Herstellung von Einheit von unten sei im Endergebnis Zentralismus, dem er in Abgrenzung zum bürgerlichen Zentralismus die Adjektive „proletarisch und freiwillig“ zusetzt.712 Während die russischen Zaren den Zentralismus aufgrund der Größe des Landes für notwendig erachtet hatten, ist bei Lenin nun die Anzahl der Menschen objektive Bedingung, die eine zentralistische Macht erfordert. Im Jahr 1967 fasst der Leiter der Abteilung „Wissenschaftlicher Kommunismus“ der Leningrader Hochschule das Verhältnis von Volk und Leitung im Sowjetsystem unter dem Titel „Die Einheit von politischer Organisation der Gesellschaft und sozialistischem Leitungssystem“ so zusammen: Danach ist eine Organisation eine Vereinigung von Menschen, die sich von einem gemeinsamen Ziel leiten lassen. Organisieren heißt, die Menschen zu einem Ziel zusammenzuschließen, ihr Zielgerichtetheit, Geordnetheit und Planmäßigkeit zu verleihen. Leitung sei dasselbe Prinzip, woraus er eine Wesensgleichheit von Organisation und Leitung feststellt.713 Dem legt er einen Begriff von Leitung (upravlenie) zugrunde, der reguliert und ordnet. Die Gesellschaft dagegen ist das zu ordnende System. Leitung sei nach Karl Marx Attribut jeder Gesellschaft in allen Entwicklungsphasen und Belych zitiert ihn mit den Worten. „Alle unmittelbar gesellschaftliche und gemeinschaftliche Arbeit bedarf mehr oder minder einer Direktion, welche Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des produktiven Gesamtkörpers im Unterschied zu der Bewegung seiner selbständigen Organe entspringen. Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors.“714 Der Sozialismus sei deshalb die perfekte Lenkungsstruktur, die „höchste Stufe der Organisiertheit und Leitung“, weil die Gesellschaft bereits durch das gemeinsame Ziel, den Aufbau des Sozialismus bzw. des Kommunismus, geeint sei.715 Da diese Organisiertheit Voraussetzung für das gemeinsame Ziel ist, nennt sie Belych entsprechend der marxistischen Lehre „Entwicklungsgesetzmäßigkeit“. Während in der 709
Marx/Engels, Werke, 1960, Band 17, S. 336. Lenin, Werke, Band 25, 1960, S. 441. 711 Lenin, Werke, Band 25, 1972, S. 393 ff. 712 Lenin, Werke, Band 25, 1960, S. 442 f. 713 Belych, Organisation, Politik und Leitung, Dt. Übersetzung, S. 107. 714 Karl Marx zitiert nach Belych, Organisation, Politik und Leitung, Dt. Übersetzung, S. 110. 715 Belych, Organisation, Politik und Leitung, Dt. Übersetzung, S. 111. 710
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B. Historischer Teil
Klassengesellschaft eine Klasse über die andere geherrscht habe, um diese auszubeuten, sei nach der Überwindung dieser Ausbeuterklassen im Sozialismus nur das Proletariat übrig, das von seiner Avantgarde, der Partei, geführt nun als Ganzes Herrschaft begründet. Aufgrund der Gleichheit der Ziele stellt sich dem Volk durch die Herrschaft der Partei auch dabei kein Problem.716 Sozialismus und Kommunismus sind hier Inhalt eines durch die Revolution geäußerten Willens zum Gesellschaftsvertrag, mit dem gleichzeitig die Partei beauftragt wird, diese Ziele umzusetzen. Hier ist das Ziel, umgesetzt von der Partei, einheitsstiftend. Durch das gemeinsame Ziel bilden sie nach Belych eine Struktur, in der Gesellschaft und Leitung zusammengefasst sind. Das Charakteristische von Herrschaft, was sie legitimiert und sie gleichzeitig mit der Gesellschaft verbindet, ist also ihre Fähigkeit zu einen. Insofern rechtfertigte sich auch, dass die Partei als Lenkerin des Ganzen die Jugend früh in der Ideologie unterrichtete.717 Der Staat kommt damit seiner Funktion als Lenker zur ethischen Vollkommenheit des Menschen nach. Wie bei Solovev ist die Einheit nach innen, unter Stalin die sog. „moralisch-politische Einheit“, das Ordnungsprinzip, das Unterordnung unter die gemeinsame Sache, die Herstellung der internationalen Einheit fordert. Gestützt auf die marxistische Ideologie dient der einheitsstiftende Charakter der Leitung ihrer Rechtfertigung. Die Herstellung eines einheitlichen proletarischen Willens rechtfertigt nach Lenin nicht nur eine strenge Parteihierarchie, sondern auch einen autokratischen Staat. Indem die Marxsche Vereinigung weiter Hauptlosung bleibt, stellt er ihren Grundgedanken auf den Kopf. Der Staat wird für Lenin offiziell „notwendiges Übel“ auf dem Weg zur endgültig klassenlosen Gesellschaft. Da sich der freie Wille nach Lenin in der kapitalistischen Gesellschaft nicht realisieren lässt, sondern von den Klassen bestimmt bleibt, muss der Wille in der sozialistischen Gesellschaft von oben vorweg genommen werden. Wirkliche, d. h. sozialistische Demokratie als freie Assoziation von Menschen ohne Unterschiede und Unterdrückung kann dementsprechend erst nach der Überwindung der Klassenfeinde möglich sein.718 Da die demokratische Willensbildung zum damaligen Zeitpunkt die Unterdrückung des Proletariats bedeutet hätte, muss Lenin mit dem Staat zunächst diktatorisch den Klassenfeind vernichten und die Einheit des „richtigen“ Willens gleichsam von oben durch eine aristokratische Minderheit durchsetzen. Mit dieser Begründung nutzt Lenin nach der Machtübernahme der Bolschewiki den Staatsapparat, den er offiziell nicht als diktatorisch, sondern nunmehr als „demokratisch gegenüber dem Proletariat“ und „diktatorisch gegenüber der Bourgeoisie“ auslegt.719 Rechtfertigung des Staates ist die Unterdrückung der Bourgeoisie. Grundsätzlich wird der Staat als Folge des Zerfalls der Urgesellschaft und der Entstehung der Klassengesellschaft angesehen. Insofern hat der Staat immer Klassencharakter. Als solcher ist er nach der RevoBelych, Organisation, Politik und Leitung, Dt. Übersetzung, S. 111. ZK der KPdSU (Hrsg.), Edinstvo partii i narod v uslovijach razvitogo socialisma, S. 171 ff. 718 Lenin, Staat und Revolution, S. 18. 719 Kerimow, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 45. 716 717
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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lution notwendig, die Herrschaft des Proletariats zu vervollkommnen. In der Übergangsphase von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft ist der sozialistische Staat insofern die Diktatur des Proletariats, die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Der Zwangscharakter des Staates ist hier Folge der Gefahr des Auseinanderfalls in der schwierigen Übergangsphase: „Es wäre jedoch eine große Dummheit und der unsinnigste Utopismus, würde man annehmen, dass der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne Zwang und ohne Diktatur möglich sei.“720 Dabei beinhaltet die Diktatur des Proletariats auch die Lenkung des Proletariats: „Das Proletariat braucht die Staatsmacht als eine zentralistische Organisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Massen der Bevölkerung.“721 Anders als bei Marx kann bei Lenin die Diktatur des Proletariats keine (freiheitliche) Demokratie sein.722 Kontrollmöglichkeiten des Proletariats über seine Führung gibt es nicht, nach Lenin ist die Diktatur eine „sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keine Gesetze gebunden ist“.723 Insgesamt wird deutlich, dass die Losung der Vereinigung des Proletariats nach Karl Marx als Motto von Partei und Staat in der Sowjetunion schon unter Lenin seinem Ausgangsgedanken entfremdet ist. Unabhängig von der Frage, wieweit auch Marx Gewalt auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft billigte, ging es ihm um die Überwindung der Spaltung von Staat und Gesellschaft durch einen Vereinigungsprozess. Dieser ist allein aufgrund des Willens der sich Vereinigenden eine neue Gemeinschaft, die an die Stelle des Staates tritt. Auf die Spitze getrieben wird die gewaltsame Einheitsherstellung durch die Stalinsche Diktatur. Hier kommt es zur völligen Etatisierung. Stalin stand mit seiner Machtübernahme vor dem Widerspruch, einerseits die Errungenschaften Lenins als revolutionär zu würdigen und gleichzeitig die Politik auf ein zukünftiges, noch zu erreichendes Ziel zu richten, das es rechtfertigte, auch gewaltsam vorzugehen. Aufbauend auf der These Lenins von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Land legt Stalin fest, dass der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion vollendet worden sei und das Land nun im Endstadium zur Vollendung, dem Übergangs zum Kommunismus eingetreten sei. Mit dem XVII. Parteitag der KPdSU im Jahr 1934, dem „Parteitag der Sieger“ hatte man zum Ausdruck gebracht, dass nach den Jahren der brutalen Kollektivierung und der restlosen Verstaatlichung der Industrie die notwendige gesellschaftliche Umwandlung abgeschlossen sei.724 Trotzdem werde der Staat nun nicht überflüssig. Nach dem neuen Prinzip von der Fortexistenz des Staates im Sozialismus gibt es keine ausbeutende Klasse mehr, nur zwei „befreundete“ Klassen, die Arbeiter und die Bauern, sowie zusätzlich die Intelligenz. Begründet wird dies durch den „nichtantagonistischen Charakter der Klassenbeziehun720 721 722 723 724
Lenin, Über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Werke, Band 27, S. 254. Lenin, Staat und Revolution, in: Werke, Band 25, 1960, S. 413 ff. Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 137. Lenin, zitiert nach Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, S. 570. Westen, Die rechtstheoretische und rechtpolitischen Ansichten Josef Stalins, S. 56 ff.
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B. Historischer Teil
gen“ und die daraus resultierende „moralisch-politische Einheit“, die das Hauptmerkmal der sozialistischen Gesellschaft bilden sollte. Trotz der sozialen Unterschiede waren die Bürger der Sowjetunion danach nicht von gegensätzlichen Klasseninteressen beeinträchtigt, sondern handelten in vollkommener Willensübereinstimmung. Aufgrund dieser „moralisch-politischen Einheit“ waren Meinungsverschiedenheiten und soziale Konflikte ausgeschlossen.725 Dabei wird unter Stalin bereits die Konzeption vom „Staat des ganzen Volkes“ vorweggenommen. Der Staat des ganzen Volkes, der sich nicht im Werk von Marx oder von Engels findet, setzt sich Anfang der 60er Jahre in der Sowjetideologie durch: „Nachdem die Diktatur des Proletariats den vollständigen und endgültigen Sieg des Sozialismus – der ersten Phase des Kommunismus – gesichert hat, ist die historische Aufgabe erfüllt. Der Staat, der als Staat der proletarischen Diktatur entstanden ist, ist in der neuen gegenwärtigen Etappe zu einem Staat des gesamten Volkes geworden, zu einem Organ, das den Interessen und dem Willen des gesamten Volkes Ausdruck verleiht.“726 Während der Staat von Marx und Lenin immer Klassencharakter hatte und deshalb zunächst als Zwangsapparat der herrschenden Klassen abgelehnt wurde, wird der Staat in der Volksstaatlehre Raum der Verwirklichung des Kommunismus und somit des sittlichen Ideals. Der Volksstaat ist nun als „Einheit der Gegensätze“ zur Wahrnehmung der allgemeinen Angelegenheiten, „die sich aus der Natur jeder Gesellschaft ergeben“ verpflichtet.727 Hier gibt es keinen Klassenkampf mehr, sondern nur noch ein harmonisches Miteinander. Hauptaufgabe der Stalinschen Politik war es daher, diese offizielle Theorie in der Praxis zu verwirklichen. Insofern durfte es nicht nur in der Partei, sondern im ganzen Land offiziell keine abweichende Meinung geben, denn deren bloßes Bestehen hätte den Sieg der klassenlosen Gesellschaft verneint. Die moralisch-politische Einheit steht so für die absolute Gleichheit der Meinung und Gesinnung, bzw. für die Unterordnung oder Eliminierung der Andersartigkeit. Kritik ist hier Wesensfremdheit, zerstört die Einheit und muss deshalb vernichtet werden. Da Sozialismus nach Marx das Fehlen von Gegensätzen bedeutete und Stalin diesen Sozialismus verwirklicht sehen wollte, musste er alles vernichten, was in seinen Augen auf Gegensätze zurückzuführen war. Die offiziell verwirklichte Einheit des Volkes kommt dabei nicht ohne Feindbild aus. Der Kampf richte sich nunmehr nicht mehr gegen eine andere Klasse, sondern gegen letzte Reste von aus dem Ausland unterstützten Klassenfeinden. Feind der Einheit ist der sog. „Feind des Volkes“. Aufgrund dieses Feindes sieht Stalin die Entwicklung noch nicht vollendet. Triebkraft dieser Entwicklung ist nicht mehr der Klassenkampf, sondern vor allem „die Einheit des Sowjetvolkes, die Freundschaft der So-
725
Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Maurach/ Meissner, 50 Jahre Sowjetrecht, S. 32. 726 Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 – 1961, S. 214. 727 Vgl. Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, S. 26.
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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wjetvölker und der Sowjetpatriotismus“ gegen Feinde von außen.728 Deswegen wird die Einheit nun Instrument der Abgrenzung vom Klassenfeind und seinen Unterstützern im Ausland, die die Sowjetunion von außen umringen.729 Die Vereinigung dient nun nicht mehr der Stärkung des Proletariats gegen die Bourgeoisie, sondern des Sowjetvolkes gegen andere feindliche Nationen. Stalin nutzt hier zur Einheitsbildung das „kollektive Verfolgungsdenken“,730 das nicht nur der Marxismus als Vereinigungsidee zur Bekämpfung einer anderen Klasse mit sich bringt, sondern auch dem traditionellen russisch-orthodoxen Denken innewohnt. In beiden Vorstellungen muss Anderes Gegnerisches sein, so dass es darauf ankommt, dieses zu überwinden. Gerade wegen der Gefährdungen aus dem Ausland bedarf es nach Stalin eines besonders starken Staates, der gegen alle Widerstände die Weltrevolution im Interesse des sowjetischen Volkes durchsetzt. Der ursprünglichen marxistischen Lehre entgegengesetzt, sieht Stalin im Staat das wesentliche Werkzeug gesellschaftlicher Entwicklung. Auf die Spitze getrieben wurde diese Überzeugung durch die frühe Vorstellung Stalins, das Absterben des Staates werde nicht durch die Schwächung des Staates herbeigeführt, sondern „durch seine maximale Verstärkung, die notwendig ist, um die Überreste der absterbenden Klassen zu vernichten.“731 Für ihn war der Aufbau des Sozialismus und seiner höchsten Entwicklungsstufe, des Kommunismus, ohne die gestaltende Funktion der Partei und des Staates undenkbar.732 Insofern lehnt Stalin, wie in der historischen Rechtschule beispielsweise auch Cˇicˇerin,733 „Sprünge“ durch revolutionäre Umsturzversuche in der determinierten Entwicklung als unnötig ab.734 Dies gilt auch, als Stalin die Verwirklichung des Sozialismus in der Sowjetunion für erfolgreich erklärt. Durch die zunehmende Bedrohung von außen ist es vor dem Hintergrund des Prinzips der Einheit von Volk und Herrscher folgerichtig, dass den Kampf gegen die Klassenfeinde weder das Proletariat demokratisch noch seine Avantgarde, ja nicht einmal seine kollektive Führung, sondern allein der „Fähigste“ unter ihnen, der Parteiführer, durchführen kann, dem eine zentral organisierte Machtstruktur zur Verfügung steht. So wurde das schon in der Armee geltende Prinzip der einheitlichen Befehlsgewalt (edinonacˇalie) 1929 auf die Industrieverwaltung und 1934 auf den gesamten politisch-staatlichen Bereich ausgeweitet. Im Januar 1934 wird Stalin auf dem Parteitag der KPdSU zum „Führer“ (vozˇd) ernannt.735 Das Prinzip der edinonacˇalie beinhaltet die persönliche Verantwortung des Führers vor dem Staat oder anders gesagt, absolute Letztentscheidungsbefugnis. Ohne die einheitliche Führung sei der Staat nicht zu len728
Zitiert nach Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, S. 104. Utechin, Geschichte der politischen Ideen in Russland, S. 227 f. 730 Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III. 731 Stalin, Werke, Band 13, S. 189. 732 Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, S. 103. 733 ˇ Cicˇerin, O narodnom predstavitelstve, S. 551. 734 Zitiert nach Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, S. 104. 735 Meissner, Der Einparteienstaat und seine ideologische Begründung, in: Meissner, Partei, Staat und Nation in der Sowjetunion, S. 69. 729
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B. Historischer Teil
ken und die Probleme nicht zu lösen. Gerade einheitliche Führung stärke so die Verbindung mit den Massen.736 Ausdruck seiner Politik ist die „Revolution von oben“. Das Stalinsche Prinzip der „Revolution von oben“ beinhaltet „den Aufbau des Kommunismus durch schöpferische Eingriffe von oben“ sowie die Aufgabe, die Kontinuität der Machtverhältnisse durch „die Betonung des stabilen Charakters der Einheit“ im Staat zu gewährleisten.737 Somit begründet sich Einherrschaft mit effektiver Einheitsherstellung. Einheitsstiftend wirkt hier nicht mehr wie bei Lenin die Partei, u. U. mit Hilfe des staatlichen Apparats, sondern allein der unumschränkte „Selbstherrscher“ Stalin.738 Er allein ist die Quelle der unumschränkten Macht im Staat. Während es in Art. 10 der Verfassung von 1918 noch hieß: „Alle Macht im Bereich der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik gehört der gesamten arbeitenden Bevölkerung des Landes, die in Stadt- und Dorfsowjets vereinigt ist“, änderte sich dies unter Stalin. So kommt es in der Verfassung von 1936 zu einer charakteristischen Abweichung,739 durch die nach Art. 3 der Verfassung alle Macht den „Werktätigen in Stadt und Land in Gestalt der Sowjets der Deputierten der Werktätigen“ zusteht. Souverän sind die Sowjets mit Stalin an der Spitze, dem in allen Entscheidungen durch das zentralistische Prinzip letztendlich die Entscheidung zusteht. Während die unbeschränkte Staatsgewalt zunächst mit der Notwendigkeit des Klassenkampfs und später mit der feindlichen kapitalistisch-faschistischen Umgebung begründet wurde, kennt der Staat des ganzen Volkes zuletzt auch deshalb keine Schranken, weil die gesamte Gesellschaft einheitlich homogen ist. 5. Das Recht als Mittel zur Herstellung von Einheit a) Recht als politisches Instrument Wie die Einheit von Volk und Zar schließt auch die sowjetische Volkssouveränität Machtbeschränkung und Gewaltenteilung als Rechtsprinzipien aus, weil Volk und Herrscher die gleiche Idee eint. Vielmehr ersetzt der einheitliche Wille Sicherungselemente des Rechtsstaats wie Gewaltenteilung, Vorbehalt des Gesetzes und Garantie der Grundrechte. Dieser Elemente bedarf es andersherum im Sowjetsystem nicht, da Regierung und Volk keine Meinungsverschiedenheiten haben. Gegen den Staat durchgesetzte Grundrechte wären Ausdruck des falschen Bewusstseins. Einzelinteressen werden nur soweit rechtlich geschützt, als sie dem Gesamtinteresse des Staates nicht zuwiderlaufen. Einzelinteressen, die dem Gesamtinteresse widersprechen, ver736
Eintrag „edinonacˇalie“, in: Bolsˇaja sovetskaja enciklopedija, 1952, Band 15, S. 475. Vgl. Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Maurach/ Meissner, 50 Jahre Sowjetrecht, S. 17. 738 Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Maurach/ Meissner, 50 Jahre Sowjetrecht, S. 12. 739 Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, S. 31. 737
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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dienen keinen rechtlichen Schutz.740 Nach der Argumentation der Einheit von Volk und Leitung im Glauben an die Ideologie erübrigt sich nicht nur der demokratische Wille, sondern auch die Herrschaft des Rechts. Hinter der postulierten Einheit von Volk und Leitung verbirgt sich insofern der totalitäre Kern des sowjetischen Systems. Bemerkenswert ist so die Rolle des Rechts im Verhältnis von Volk und Leitung im Marxismus-Leninismus. So ist das Recht zwar „verbindendes Element“, dabei verbindet das Recht nach Belych aber nicht Staatsmacht und Volk, sondern Staatsmacht und Politik. Es dient der Leitung als Instrument zur Durchsetzung der gesellschaftlichen Ziele. Nach der marxistischen Lehre ist Recht nur Ausdruck der gegebenen Verhältnisse, hat damit keine eigene existentielle Begründung, da nur das Materielle existiert (Primat der Materie). Insofern kann es nicht selbständig, sondern als Teil der politischen und sozialen Strukturen (Überbau) nur Spiegelung der materiellen Basis sein. Diese wird von der ökonomischen Struktur, den Produktivkräften, dem Inhalt der gesellschaftlichen Produktion (Menschen und Maschinen) und den Produktionsverhältnissen, der Form der gesellschaftlichen Produktion (Eigentumsverhältnisse) bestimmt. Aufgrund der mangelnden Selbständigkeit ist das Recht auch nicht etwas Dauerhaftes, sondern abhängig von den Herrschaftsverhältnissen. Bis zum endgültigen Absterben des Überbaus hat es die Aufgabe, die bestehenden Verhältnisse zu bekräftigen.741 Im extremen Gegensatz zur reinen Rechtslehre Kelsens darf im Marxismus kein Problem allein aus rechtlichen Gesichtspunkten entschieden werden. Noch isolierter wird die Rolle des Rechts durch das Auseinanderfallen von Basis und Überbau im real existierenden Sozialismus. Danach ist der Überbau nicht mehr basisreflex und verselbständigt sich von der Basis. Mit der Loslösung des Überbaus von der Basis wird auch das Recht von der Basis gelöst und bekommt eine aktivere Rolle in der Hand des Staates im marxistischen Sinn.742 Das Recht, das zunächst an die bestehenden Verhältnisse gebunden war, befindet sich nun nur noch in Beziehung zum restlichen Überbau, der Leitung. Erst durch die Trennung von der Basis erhält die Leitung im Überbau auch die Unabhängigkeit, Einheit von oben durchzusetzen. So steht das Recht allein an die politischen Verhältnisse gebunden da und ist nicht in der Lage, Schwachstellen des gesellschaftlichen Systems aus sich heraus zu überbrücken. Indem das Sein nach der Revolution in Russland nicht vom Bewusstsein des Proletariats, sondern dem der Partei bestimmt wurde, kann auch Recht nur Sein und Bewusstsein der Partei abbilden.743 Es tritt erst durch sie in Erscheinung und gewinnt durch dieses In-Erscheinung-Treten sein Wesen (es gibt kein Wesen des Rechts außerhalb der rechtlichen Erscheinungen). Dies vermeide nach Kerimov, dass der
740
Zum Grundrechtsschutz im Marxismus-Leninismus: Brunner, Grundrechtstheorie im Marxismus-Leninismus, in: HGR, Band I, § 13. 741 Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S. 15. 742 Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S. 28. 743 Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S. 25 f .
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B. Historischer Teil
Staat wie im Westen Rechte proklamiere, die tatsächlich nicht bestünden.744 Recht dient der Macht zur Herbeiführung einer neuen höherrangigen Gerechtigkeit und keinesfalls dem Schutz subjektiver Interessen. Wie in der vorrevolutionären russischen ˇ icˇerin und Novgorodcev gezeigt, kann Recht nach Rechtstheorie am Beispiel von C der sowjetischen Rechtslehre nicht allein subjektives Interesse sein. Eine solche Rechtsauffassung nütze allein der besitzhabenden Klasse, ihr Privateigentum gegenüber den Schwachen zu erweitern. Recht dürfe allein den Interessen des ganzen Volkes dienen. Das im Staat vereinigte Volk drückt seinen Willen in Gesetzen aus.745 Vertreten wird es dabei von der Staatsgewalt. Recht ist so in erster Linie ihr Mittel und nicht Mittel, um Staatsgewalt zu begrenzen. Dies kommt auch zum Ausdruck, indem Kerimov über die Verbindlichkeit von Recht schreibt, die entwickelte Masse der Werktätigen würde Recht jetzt auch ohne Zwang befolgen.746 Die Rechtsnorm wird hier als Lenkungsmittel, als „Verhaltensregel“747 für das Volk verstanden. Recht hat niemals formellen Charakter, sondern wird inhaltlich immer von der Leitung bestimmt, weshalb es nach der Lehre moralisch und gerecht sein muss, weil die Leitung aufgrund ihres Erkenntnisgrads der Entwicklung dient.748 Insofern ist der subjektive Rechtsanspruch dem Ganzen gegenüber untergeordnet, durch das er materiell bestimmt wird. Recht ist im Ergebnis staatlicher Wille des von der Arbeiterklasse geführten Volkes, das im System der allgemein verbindlichen Normen seinen Ausdruck findet. Es ist auf den Schutz der Grundlagen und der Prinzipien des Sozialismus sowie auch die Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet. Seine Verwirklichung wird durch die Tätigkeit des Staates und der gesellschaftlichen Organisationen gewährleistet.749 Indem das subjektive Recht keine Bedeutung hat, entfaltet der subjektive Anspruch auch keine Bindungswirkung und es entstehen keine Rechtsverhältnisse. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist das Begehren der sowjetischen Rechtslehre nach einem Gesamtsystem, in dem alles entsprechend der Lehre von der Einheit der Widersprüche in einer Wechselwirkung zueinander steht, umso stärker. So könnten auch Rechtsnormen nicht isoliert werden, sondern erhalten erst im Zusammenhang mit den anderen Normen ihre Qualität. Das Verhältnis einzelner Rechtsnormen zum Rechtssystem entspricht dabei als Teil der universalen Lehre vom dialektischen Materialismus dem Verhältnis Einzelnes und Allgemeines. Danach regelt das Recht die zueinander in wechselseitiger Beziehung stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese ökonomische und politische Ordnung der Gesellschaft bedingt dabei, dass sich die einzelnen zueinander in Beziehung stehenden Rechtsnormen zu
744 745 746 747 748 749
Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 41. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 77 f. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 139. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 221. Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S. 85. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 145.
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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einem einheitlichen Ganzen ordnen. Seine Stabilität gewinnt das Recht dabei erst als System. Dieses Rechtsverständnis macht deutlich, dass die Aufgabe des Staates nicht Freiheitssicherung ist, sondern Einheitsbildung mittels der Politik in Form des Rechts: „Der Staat kann seine Politik nicht durchführen, seine Funktionen nicht erfüllen, wenn er in den Rechtsnormen nicht streng bestimmte Verhaltensregeln für die Bürger und die gesamte Bevölkerung des Landes vorschreibt. Die Verwirklichung dieser Rechtsnormen wird vom Staat gewährleistet, auch mittels seiner Repressivgewalt.“ Lenin unterstrich weiterhin, dass das Recht nichts sei „ohne den Apparat, der imstande ist, die Einhaltung einer Rechtsnorm zu erzwingen“.750 Normen werden auch nach Belych vom Staat geschaffen, der gleichzeitig ihre Einhaltung überwacht.751 Staat und Recht bilden insofern eine Einheit,752 die von staatlicher Macht kontrolliert wird. Eine Herrschaft des Rechts über die Macht ist in diesem System nicht denkbar. b) Recht als Mittel zur Vereinigung gegenüber Systemwidrigem Wenn die Leitung das handelnde Subjekt ist und Politik und Recht ihre Mittel, dann ist das Volk in dieser Konstruktion Objekt. Aufgrund der Ausführungen zu Volk und Leitung wird Politik durch das Recht hier Herrschaftsinstrument über das Volk. Staat ist dabei nicht gleich Gesellschaft, sondern Organisationsapparat der Gesellschaft,753 das, was den Kommunismus durchsetzt. Dazu heißt es im Parteiprogramm der KPdSU von 1961, der Staat sei das „Instrument zu Errichtung des Kommunismus“. Der Ausgleich von Herrschern und Beherrschten, bzw. die Legitimation dieser Herrschaft erfolgt allein über das gemeinsame Ziel. Da im endgültigen Kommunismus Volk und Leitung eine Einheit bilden, ist es Aufgabe des Staates, diese Einheit zu festigen und zu gestalten. Verbindung dieser beiden Elemente ist weder die Verfassung noch das Recht i.S. eines subjektiven Freiheitsanspruchs gegen den Staat. Recht allein könne Freiheit nicht garantieren, vielmehr sei der Mensch frei, wenn er an der revolutionären Umgestaltung der Welt als objektiver Notwendigkeit teilnimmt. Dies wiederum ist der Sinn der Vereinigung der Menschen in der sozialistischen Gesellschaft. Insofern kommt Kerimov zu dem Ergebnis, dass die „Einheit der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Mitglieder“ die „harmonische äußere und innere Freiheit“ schafft, die den Aufbau des Kommunismus gewährleistet. Hinter die-
750 Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 16, das Leninzitat ist zu finden in: Lenin, Werke, Band 25, 1960, S. 485. 751 Belych, Organisation, Politik und Leitung, Dt. Übersetzung, S. 135. 752 Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 16, der im Weiteren auch darlegt, dass es insofern auch keine eigenständige Staatsrechtswissenschaft in der Sowjetunion geben könne, sondern immer nur eine Staatswissenschaft. 753 Belych, Organisation, Politik und Leitung, Dt. Übersetzung, S. 94.
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sem Ziel integrierten sich wissenschaftliche Erkenntnis, Freiheit und schöpferische Aktivität der Werktätigen zu einem „einheitlichen organischen Ganzen“.754
6. Der einende Charakter der russischen Nation unter Stalin Mit Stalin wird die Vereinigung von oben nicht nur Instrument der Abgrenzung gegen Feinde von innen und außen, die Vereinigungsidee nimmt auch einen stärker nationalen Charakter an, wobei das russische Volk aufgrund seiner besonderen messianischen, einigenden Kraft eine besondere Rolle spielt. Dabei sieht der spätere sowjetische Staatschef Josif Stalin das Ideal zu Beginn auch in einem internationalen Arbeiterstaat. Zunächst folgt er dabei der Leninschen Ideologie, wonach grundsätzlich nicht die Nation, sondern vielmehr die herrschende Klasse Träger der staatlichen Idee ist.755 So wendet sich Stalin 1913 in der Schrift „Nationale Frage und Sozialdemokratie“, die später unter dem Titel „Marxismus und nationale Frage“ neu aufgelegt wurde, gegen die Aufspaltung in Nationalstaaten, hinter der er eine „Scheidung der Arbeiter und der Gewerkschaften nach Nationalitäten, die Verschärfung der nationalen Reibungen innerhalb der Arbeiterschaft“ ausmacht. Vor diesem Hintergrund favorisiert er einen internationalen Arbeiterstaat und nennt eine „völlige Demoralisation in den Reihen der Sozialdemokratie“ „Resultate des Föderalismus“. Das wirkungsvollste Mittel dagegen sieht er in der Organisierung nach den Grundsätzen der Internationalität, d. h. in einer Zusammenfassung in einer einheitlichen Partei und zu einheitlichen und geschlossenen Kollektiven. Daher sei das Prinzip der internationalen Zusammenfassung der Arbeit unumgänglich für die Lösung der nationalen Frage. Die Menschen sollten im internationalen Staat vereinigt werden, denn eine Aufspaltung in Nationen, auch nur im Rahmen eines föderalistischen Modells fördere generell die Trennung des Proletariats und sei nicht hilfreich für den Klassenkampf. In Abgrenzung zum Nationalstaatsmodell, in dem eine Nation den Staat konstituiert, definiert Stalin die Nation (nacija) im Gegensatz zu narod (Volk) als Territorialverband, als eine „historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, gebildet auf der Grundlage der Gemeinsamkeit von Sprache, Territorium, wirtschaftlichem Leben und einer psychischen Anlage, die in der Gemeinsamkeit der nationalen Kultur in Erscheinung tritt. All diese Charakteristika der Nation sind miteinander verbunden, und nur das Vorhandensein aller gibt die Möglichkeit, eine Gemeinschaft von Menschen als Nation zu bezeichnen“.756 Im moderneren kommunistischen Staat zählt nicht die Nation, sondern allein das Proletariat als das Einende, das Gemeinsame.757 Nationalismus führt nach Stalin stattKerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Dt. Übersetzung, S. 327. Bei Lenin rückt die nationale Frage nur in den Vordergrund, wenn durch sie ein Fortschritt in der Arbeiterfrage erreicht werden kann, beispielsweise die Überwindung der deutschen Fürstentümer durch den föderalen Bundesstaat, Lenin, Werke, Band 25, 1960, S. 460. 756 Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Werke, Band 2, 1950, S. 272. 757 Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Werke, Band 2, 1950, S. 266. 754 755
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dessen zu Chauvinismus, Antisemitismus und wird als „Seuche“ bezeichnet.758 Nationalismus sei Sache des Kapitalismus, denn gegenseitiger Krieg diene allein der Bourgeoisie. Entgegengestellt würde dem Nationalismus die Waffe des Internationalismus, der Einheit und Unteilbarkeit des Klassenkampfes. Brüderlichkeit und Einheit der Proletarier ist hier insofern nicht nur Ziel, sondern vor allem Mittel gegen den nationalistischen Kapitalismus.759 Nicht die Nation, sondern Brüderlichkeit und Einheit der Proletarier sind im Kommunismus Grundlage für den Staat. Die Arbeiter wollen die völlige Vereinigung aller ihrer Klassengenossen zu einer einheitlichen internationalen Armee. So verherrlicht Stalin in Anlehnung an Marx und Lenin die brüderliche Einheit der Proletarier, die für ihn Ziel ist und gleichzeitig Mittel, ideale Verhältnisse auf Erden zu erreichen.760 Gleichzeitig kommt der russischen Nation in diesem internationalen Modell eine besondere Rolle zu. Stalin weiß die Sprengwirkung der nationalen Idee im Kampf der Proletarier gegen die unterdrückende herrschende Klasse zu nutzen. Er nimmt an, dass niemand das Recht habe, sich in das Leben einer Nation gewaltsam einzumischen und bejaht letztlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker.761 So schreibt er, dass jede Nation souverän sei und alle Nationen gleichberechtigt. Die Arbeiter hätten daher die Aufgabe, gegen die Unterdrückung der Nationen zu kämpfen. Die Frage, ob Separatismus und Autonomismus, also die Selbstbestimmung einer Nation zu unterstützen sind, hänge von den objektiven Bedingungen im konkreten Fall ab; es sei zu untersuchen, ob das Streben nach Autonomie Kampf gegen die vorherrschende kapitalistische Ordnung sei. Lenin macht deutlich, dass es um die Selbstbestimmung des Proletariats geht und weniger um die Selbstbestimmung der Völker oder Nationen.762 Insofern ist es in kapitalistischen Staaten begrüßenswert, wenn unterdrückte Völker nach Unabhängigkeit strebten, weil sie auch gleichzeitig vom Kapitalismus unterdrückt würden, in sozialistischen Staaten sei Autonomiestreben für die Entwicklung eher hinderlich. Dies untersucht Stalin am Beispiel des Russischen Reiches. In diesem Zusammenhang sagt er, die nationale Frage im Kaukasus beispielsweise könne nur im Geiste der Einbeziehung der zu spät kommenden Nationen und Völkerschaften im allgemeinen Strom der höheren Kultur gelöst werden. Im Sinne des sozialdemokratischen Fortschritts würde die Einbeziehung der „kleineren“ Nationen diesen Zutritt zu einer höheren Kultur verschaffen, weshalb er den Zusammenhalt im Russischen Reich befürwortet. So geht er davon aus, dass manche Nationen zur national-kulturellen Autonomie untauglich und insofern autonom nicht lebensfähig seien. Dass die nationale Idee nur Mittel der internationalen ist, wird an der Frage erkennbar: Wozu braucht man einen nationalen Verband bei vollständiger Demokratisierung? Für ihn erübrigt sich die nationale Frage in einem demokratisierten Staat, in 758 759 760 761 762
Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Werke, Band 2, 1950, S. 267. Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Werke, Band 2, 1950, S. 267. Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Werke, Band 2, 1950, S. 283. Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Werke, Band 2, 1950, S. 283. Zitiert nach v. Beyme, Der Föderalismus in der Sowjetunion, S. 32.
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dem auch die Minderheiten ihre Rechte erhalten. Widersprüchlich dazu bleibt seine Angst, zu viele Rechte von kleineren Völkern in einem uferlosen Föderalismus führten zu Separatismus.763 Letztlich ist Stalin für ein nationales Selbstbestimmungsrecht in den Fällen, in denen es die Teilung der Menschen in Klassen verhindert. Nationale Frage und Minderheitenrechte werden hier vom Standpunkt der sozialen Revolution aus betrachtet. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird insofern bejaht, als es der Vereinheitlichung der Arbeiterschaft dient und die Unterdrückung durch die Bourgeoisie überwindet. Ist ein Volk weniger entwickelt, bedarf es der Führung durch eine stärkere Nation, beispielsweise der russischen. Ziel ist die internationale Einheit aller Arbeiter. Besonders in der Zeit der Revolution finden sich dementsprechende Einschätzungen hinsichtlich der führenden Rolle der russischen Nation auch bei Lenin. Mit der Machtübernahme der Bolschewiki sieht Lenin die soziale Revolution des Proletariats nach Marx verwirklicht und das russische Volk damit in eine besondere Lage versetzt. Aufgrund ihres Sieges habe das russische Proletariat als erste Sowjetrepublik die Aufgabe, „die aus dem Schlummer erwachenden Völker des Ostens um sich zu scharen und gemeinsam mit ihnen den Kampf gegen den Weltimperialismus zu führen“. Seine Aufgabe sei es dabei, Theorie und Praxis des Kommunismus, der in Europa entstanden sei, an diese Völker anzupassen.764 Damit bringt Lenin zum Ausdruck, dass es Völker gibt, denen er die freiwillige „Vereinigung“ im Sinne von Marx nicht zutraut. Unter der Herrschaft Stalins wird die Rolle des russischen Volkes als Träger der Vereinigung als Voraussetzung eines zukünftigen Ideals noch deutlicher. Bedingung dazu ist die Lehre Stalins vom Sozialismus in einem Land ohne Abwarten der Weltrevolution. In diesem Rahmen wächst der Sowjetpatriotismus heran. Schon 1917 hatte Stalin in Abgrenzung zu Trotzkis Vorstellung von der Weltrevolution dem russischen Volk die Fähigkeit zugesprochen, die Revolution zu verwirklichen, „man muss die überlebte Vorstellung fallen lassen, dass nur Europa uns den Weg weisen könne“.765 Damit galt die Revolution in der Sowjetunion für beendet, das Land befreit und Einmütigkeit hergestellt, gleichzeitig blieb der Partei aber das Ziel der Weltrevolution, das es legitimierte, gegen Feinde vorzugehen. Dies hatte zur Folge, dass der offizielle Träger der Einheit immer stärker die sowjetische Nation, das multiethnische Volk und weniger das Marxsche Proletariat wird. Seinen Ausdruck findet dieser Ansatz in der Lehre vom Sowjetpatriotismus von 1934. Im Gegensatz zum „sozialchauvinistischen“ bürgerlichen Nationalismus,766 der von Marx scharf kritisiert 763
Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Werke, Band 2, 1950, S. 283. Lenin, Referat auf dem Kongress der komm. Organisationen der Völker des Ostens 1919, in: Werke, Band 30, S. 146. 765 Stalin, Werke, Band 3, S. 172 f. 766 Vgl. Wyschinski, Der Sowjetpatriotismus – eine Triebkraft der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, in: Nebenzahl (Hrsg.), Über die sowjetische sozialistische Gesellschaft, S. 428. 764
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worden war,767 war der Sowjetpatriotismus nach Stalin „Gefühl des Proletariats, dem das Vaterland nicht gleichgültig ist.“768 So waren die Sowjetideologen bemüht, einerseits das von Marx und Engels kritisierte nationale Denken abzulehnen, ohne aber andererseits den Sowjetpatriotismus negativ zu bewerten. Dies gelang, indem sein Wesen als international eingestuft wurde: Der Sowjetpatriotismus sei das Gefühl einer einheitlichen sozialistischen Bruderschaft der Sowjetvölker, einer geeinten einträchtigen Familie mit der Sorge um das gemeinsame Wohlergehen.769 Damit ist der Sowjetpatriotismus eine Widerspiegelung der moralisch-politischen Einheit in der Sowjetunion770 und wird als Triebkraft für den Aufbau des Kommunismus in der ganzen Welt angesehen.771 Mit der Herausstellung des Sowjetvolkes kommt es auch zur führenden Rolle des russischen Volkes in dieser Einheit. Ganz offen nennt Ilja Ehrenburg den Sowjetpatriotismus 1942 die „natürliche Fortsetzung des russischen Patriotismus“.772 Die gegensätzlich erscheinenden Konzepte Sowjetpatriotismus und führende Rolle des russischen Volkes werden wie bei Solovev durch die einende Aufgabe des russischen Volkes im Staat überwunden. Bei Wyschinski wird das russische Volk als Verteidiger des Fortschritts glorifiziert: „ohne die Hilfe des russischen Volkes, ohne seine Unterstützung hätte es keines der Völker Russlands vermocht, sich von der sozialen und nationalen Unterdrückung zu befreien, und es wäre nach der Befreiung außerstande gewesen, einen Aufschwung der eigenen Wirtschaft und nationalen Kultur zu gewährleisten“.773 Die besondere Rolle der russischen Nation als Quelle von Einheit wird für den sowjetischen Staat von Stalin u. a. in seinen Veröffentlichungen über Marxismus und Sprachwissenschaft aus dem Jahr 1950 bekräftigt. So stellte er in den Veröffentlichungen zur Sprachtheorie die Überlegenheit der russischen Sprache 767 „Den Kommunisten ist ferner vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland, die Nationalität, abschaffen. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“, Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, Marx/Engels, Werke, Band 4, 1974, S. 479. 768 Wyschinski, Der Sowjetpatriotismus – eine Triebkraft der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, in: Nebenzahl (Hrsg.), Über die sowjetische sozialistische Gesellschaft, S. 432. 769 Wyschinski, Der Sowjetpatriotismus – eine Triebkraft der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, in: Nebenzahl (Hrsg.), Über die sowjetische sozialistische Gesellschaft, S. 451. 770 Wyschinski, Der Sowjetpatriotismus – eine Triebkraft der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, in: Nebenzahl (Hrsg.), Über die sowjetische sozialistische Gesellschaft, S. 446. 771 Wyschinski, Der Sowjetpatriotismus – eine Triebkraft der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, in: Nebenzahl (Hrsg.), Über die sowjetische sozialistische Gesellschaft, S. 478. 772 Ehrenburg, Znacˇenie Rossii, in: Pravda, Nr. 316, 12. 11. 1942. 773 Wyschinski, Der Sowjetpatriotismus – eine Triebkraft der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, in: Nebenzahl (Hrsg.), Über die sowjetische sozialistische Gesellschaft, S. 450.
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gegenüber den anderen Sprachen der Sowjetunion heraus, da sie sich immer gegenüber den anderen Sprache durchgesetzt habe und als Sieger hervorgegangen sei.774 Da Sprache insgesamt nicht klassenabhängig sei, sondern immer gleich bliebe, weist er auf den Charakter der sich durchsetzenden russischen Sprache als einheitsstiftendes Element hin. Die siegreiche Kraft der russischen Sprache wird hier zum Symbol der Durchsetzungsfähigkeit des russischen Volkes in der Geschichte. Deshalb ergibt sich für Stalin, dass die Einheit der sowjetischen Gesellschaft sich durch die führende Rolle der russischen Sprache vervollkommne. Ausdrücklicher als in der frühen Sowjetzeit verbinden sich in der Frage „Vielvölkerstaat Sowjetunion“ Marxismus und traditionelle russische Philosophie.775 Hier wird ein Aufgreifen der Ideen Vladimir Solovevs von der Verbrüderung der gesamten Menschheit unter der führenden Rolle des russischen Volkes bei Stalin deutlich. Er greift den Gedanken des russischen Messianismus auf, wonach allein das russische Volk aufgrund seines nationalen Wesens, die Einigung der Welt verwirklichen könne. Mit diesen Einordnungen Stalins fand die faktische Führungsrolle der russischen Nation innerhalb der Sowjetunion Eingang in die sowjetische Lehre. Diese Führungsrolle war das tragende Element bei der Herstellung der Einheit des Sowjetvolkes – als Vorbedingung zur internationalen Vereinigung des Proletariats. Während bei Solovev die staatliche Einheit des Russischen Reiches unter national-russischer Führung Bedingung für die christliche Einheit aller Menschen war, ist staatliche Einheit bei Stalin Voraussetzung für die Einheit der Proletarier. Bedingung ist dabei auch für Stalin die historisch-besondere charakteristische Solidarität des russischen Volkes mit seinem Herrscher, insbesondere im Kampf nach außen. Wie vor ihm die Zaren, glorifiziert Stalin das Vertrauen des Volkes in die Regierung: „Ein anderes Volk hätte zu der Regierung sagen können: ihr habt unsere Erwartungen nicht gerechtfertigt (…), macht, dass ihr fortkommt (…). Doch das russische Volk hat nicht so gehandelt, denn es glaubte daran, dass die Politik seiner Regierung richtig war. Und dieses Vertrauen des russischen Volkes zur Sowjetregierung hat sich als entscheidender Faktor erwiesen, der den historischen Sieg über den Feind der Menschheit, den Faschismus, ermöglichte.“776 Die führende Rolle des russischen Volkes in der Herstellung von Einheit in der Sowjetunion bei rechtlicher Gleichberechtigung der Unionsrepubliken findet auch Eingang in die sowjetische Verfassung von 1977 und zeigt sich insbesondere in der Symbolik. Die jeweilige Übersetzung der Losung „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ aus der Sprache der Titularnation der Sowjetrepublik in die russische Sprache im Staatswappen wird mit der „führenden Rolle“ der russische Sprache begründet.777 In der seit 1944 gültigen Staatshymne nach Art. 171 der Verfassung von 774
Stalin, Marxismus und Sprachwissenschaft, S. 36. Ausführlich dazu Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, insbesondere S. 240 f. 776 Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte, Dokumentation, S. 80. 777 Fincke, Art. 169, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 6. 775
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1977 hieß es, den Bund der Sowjetrepubliken habe auf ewig „das erhabene Russland“ geschmiedet.778 Der sowjetische Staatschef Brezˇnev lobte die Fähigkeit des russischen Volkes zur Sammlung und Festigkeit der Vereinigung der Sowjetrepubliken anlässlich des 24. Parteitags der KP 1971 mit den Worten: „Seine revolutionäre Energie, seine Aufopferung, sein Fleiß und sein tiefer Internationalismus hatten ihm zu Recht die aufrichtige Hochachtung aller Völker unserer sozialistischen Heimat eingetragen“.779 7. Das Prinzip der Festigung der Einheit und Geschlossenheit als sozialistisches Völkerrechtsprinzip Während das Ziel des Aufbaus eines internationalen Arbeiterstaates unkonkret bleibt, findet sich das Prinzip der Einheit und Geschlossenheit als Mittel der Festigung des „sozialistischen Weltsystems“ wieder. So steht das „Prinzip der Festigung der Einheit und der Geschlossenheit“ als Teil des Grundsatzes des sozialistischen Internationalismus780 in der sowjetischen Völkerrechtsdoktrin insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schaffung des Systems der sozialistischen Satellitenstaaten in Ost- und Mitteleuropa „als Unterpfand“ für ihr „erfolgreiches Wirken im Interesse des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“.781 Brezˇnev schreibt: „Die Einheit der sozialistischen Staatengemeinschaft ist die unerlässliche Voraussetzung weiterer Erfolge der neuen Gesellschaft. Diese Einheit ist das Unterpfand für die Festigung des sozialistischen Weltsystems (…), die entscheidende Kraft für den antiimperialistischen Kampf.“782 Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft sind zugleich auch Voraussetzung für das Wohlergehen jedes einzelnen Staates. Entscheidend dafür sei zwar die freiwillige „kameradschaftliche“ Zusammenarbeit, doch ist die Freiwilligkeit dahingehend eingeschränkt, dass sie ganz ausdrücklich auf der Grundlage der Gemeinsamkeit der Ziele nach den Ideen Marx, Engels und Lenins erwächst. Auch durch die Bindung der Souveränität an die richtige Idee wurde in der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der sozialistischen Staaten eine Garantie für die Souveränität der Mitgliedstaaten erblickt,783 die durch die Gemeinschaft die Verwirklichung der Ziele sicherten. Das Prinzip der Einheit und Geschlossenheit findet Eingang in zahlreiche völkerrechtliche Verträge. So weist beispielsweise das Statut des Rats der gegenseitigen Wirtschaftshilfe (RGW) nachdrücklich auf den engen Zusammenhang der ökonomischen Zusammenarbeit für die Festigung der Einheit und Geschlossenheit der Länder hin. In Art. 4 des Freundschaftsvertrags zwischen der UdSSR und der DDR 778 779 780 781 782 783
Fincke, Art. 171, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 2. Brezˇnev, Auf dem Wege Lenins, Band 3, S. 302. Tunkin, Völkerrechtstheorie, dt. Übersetzung, S. 21. Kröger (Hrsg.), Völkerrecht, Lehrbuch, Teil 1, S. 132. Brezˇnev, Auf dem Wege Lenins, Band 3, S. 9. Haney (verantwrtl. Red), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, S. 518.
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vom 7. 10. 1975 heißt es, die Staaten verpflichten sich „die weitere Entwicklung der brüderlichen Beziehungen zwischen den Staaten der sozialistischen Gemeinschaft maximal zu fördern und stets im Geiste der Festigung der Einheit und Geschlossenheit zu handeln“.784 Durch diesen Grundsatz verpflichten sich die Staaten gegenüber den „Bruderländern“ ihr staatliches Handeln im Interesse der Festigung der Einheit und Geschlossenheit der gesamten Gemeinschaft zu gestalten. Wenn die Rechtslehre diesen Begriff auch als Gebot des Austauschs und der Annäherung in Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Tourismus und des Austausches der Werktätigen auslegt, so verpflichtet das Prinzip der Einheit und Geschlossenheit völkerrechtlich zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der sozialistischen Idee und der Priorität des sozialistischen Internationalismus vor den eigenen nationalen Interessen. 8. Zwischenergebnis In der Sowjetunion kommt es zu einem Bedeutungswandel der Idee der proletarischen Vereinigung nach Karl Marx. Während es ursprünglich darum ging, dass die Gesellschaft den über sie herrschenden Staatsapparat vernichtet und sich stattdessen selbst organisiert, geht es nach der Revolution im realen Sozialismus darum, dass sich die Gesellschaft unter den Einheit schaffenden Staatsapparat unterordnet. Aus dem Kontext gerissen, wird die Vereinigungsidee hier durch den Staatsapparat verwirklicht. Bei Lenin wird die Schaffung der klassenlosen Gesellschaft vom demokratischen Willen des Einzelnen gelöst und als objektive Idee Rechtfertigung von Herrschaftsausübung einer zu dieser Idee befähigten auserwählten Minderheit. Sie dient der autokratischen Herrschaftslegitimation und als solcher der Überwindung des abweichenden freien Willens des Einzelnen. Während das vereinigte Proletariat bei Marx vor allem als freie Assoziation im Gegensatz zum Staat als einer Zwangsordnung zu sehen ist, wird die Einheit bei Lenin zum Sinn der Zwangsordnung. Gleichzeitig steht die Leninsche Einheitslehre im Gegensatz zur ursprünglichen marxistischen Staats- und Gesellschaftstheorie als sozialer Konflikttheorie. Indem Lenin das Ende als Zustand der absoluten Einigkeit begreift, nimmt er der Gesellschaft jegliches Entwicklungspotential.785 Hier wird das generelle Problem der Umsetzung des Marxismus in die Praxis deutlich. Es stellte sich die Frage, wie die von Marx aufgezeichnete Entwicklung zur Überwindung der gegenwärtigen Probleme durch Einheitsbildung zu erzielen sei, wenn sie nicht, wie vorhergesagt, automatisch eintritt. Konkret auf den Staat bezogen geht es vor allem darum, wie man die Marxsche klassenlose Gesellschaft herstellt, wenn das Proletariat nicht die soziale Einheit bildet, der es zur Vereinigung des Proletariats zum gerechten demokratischen Staat bedarf. Damit einher gehen die Fragen nach der Umsetzung der Diktatur des Proletariats und des prophezeiten Absterbens
784 785
Zitiert nach Kröger (Hrsg.), Völkerrecht, Lehrbuch, Teil 1, S. 133. Petev, Kritik der marxistisch-sozialistischen Rechts- und Staatsphilosophie, S. 68.
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des Staates in der klassenlosen Gesellschaft. Hatten Marx und Engels786 die Einheit von Theorie und Praxis hinsichtlich des Absterbens des Staates als Entwicklungsgesetz vor dem Hintergrund der freien Erkenntnis dieser Zusammenhänge durch das Proletariat verstanden, so wird diese Einheit bei Lenin bewusst zu einer zu realisierenden Forderung.787 Das Prinzip des Staates als Einheitsstifter kann als Antwort auf das Defizit der Vorstellungen Karl Marx gesehen werden. Gleichzeitig ging es Marx jedoch nicht darum, eine Vielheit von Menschen wie die Bürger des Russischen Reiches mit ihren religiösen, rassischen und kulturellen Gegensätzen auch gegen ihren Willen unbedingt zu einer Einheit zusammenzuschließen, vielmehr ging er von der gemeinsamen Ablehnung der bürgerlichen Ordnung als der geistigen Grundlage des mehrheitlichen Proletariats aus. Ausgehend vom freien Willen bildet die Mehrheit bei Marx bereits eine geistige Einheit, die nur noch in eine politische umgewandelt werden soll. In Bezug auf die konkrete Umsetzung der Vereinigung des Proletariats ähnelt Lenin insofern deutlich stärker seinen Vorgängern an der Spitze des russischen Staates. Für ihn repräsentiert die höchste Macht die Einheit des Volkes in einer Idee. Deshalb ist sie berechtigt, diese Einheit zu festigen und zu stärken, um das Volk der Verwirklichung dieser Idee näher zu bringen. Dies geschieht im Marxismus-Leninismus nicht gegen den Willen des Proletariats, sondern offiziell im Einklang mit diesem, da der Staatsapparat durch die Revolution dem Willen des Proletariats entspricht. Ausdruck findet diese Politik in einer extensiven Bezugnahme auf die „Einheitlichkeit“ in Volk und Partei. Dies ist Ausdruck des fiktiven einmütigen Willens des Proletariats, als Ausdruck seiner Vereinigung gegen die Bourgeoisie und als Voraussetzung für die gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel. Dies erklärt das „Harmoniedogma“, nach dem die Einigkeit in der offiziellen Staats- und Parteirhetorik stark überbetont wird.788 Die Losung der Vereinigung des Proletariats wird zum Dauerargument gegen jede Form von Andersartigkeit nach innen und nach außen. Die mangelnden Ausführungen zu Inhalt und Folgen der proletarischen Vereinigung bei Marx ermöglichen es den herrschenden Gruppen im real existierenden Marxismus, sich selbst zum Garanten einer Marxschen Ideologie von höherer Einheit zu erklären und sich zu deren Schaffung zu bevollmächtigen. Damit kommt es zu einer rituellen Beschwörung der Einheit der Klasse, des Volkes oder des Staates, 786 So schreibt Engels im sog. „Anti-Dühring“ gerade im Hinblick auf den Staat: „Der erste Akt, worin Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft –, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. Der Staat wird nicht ,abgeschafft, er stirbt ab“, Marx/Engels, Werke, Band 20, 1962, S. 262. 787 Wetter, Der dialektische Materialismus, S. 142. 788 Fincke, Specifica des Sowjetrechts, in: Brunner u. a. (Hrsg.), Sowjetsystem und Ostrecht, Festschrift für Meissner, S. 79 ff., vgl. auch die vielen Einträge unter „einheitlich“ und „Einheit“ in sowjetischen Enzyklopädien wie bspw. Bolsˇaja sovetskaja enciklopedija, 1952, S. 470 ff.
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die tatsächliche Klassengegensätze verschleiert und an die gemeinsame marxistische Aufgabe erinnert. Die Lehre von der Einheit des Proletariats schafft es so, eine Mehrheit zu konstituieren, die der Andersartigkeit die Existenzberechtigung raubt. Mit der Entwicklung der Sowjetunion nimmt die Rechtfertigung der Herrschaft durch bestehende Einmütigkeit aufgrund der offiziell eliminierten Klassengegensätze zu. Dies gilt auch innerparteilich. Da jeder Unterschied in der Überzeugung auf Klassengegensätze zurückzuführen sei und die Einheit des ganzen Volkes in Frage stellte, hätte die kollektive Staatsführung durch Meinungsverschiedenheiten ihren eigenen Misserfolg ausgedrückt und damit ihre Rechtfertigung verloren.789 Die Existenz der Sowjetunion war damit von der ständig bekräftigten Einheit des Proletariats abhängig. In diesem Sinne geht es in der „permanenten Revolution von oben“790 durch Zwangskollektivierung und in der Terrorisierung Andersdenkender in erster Linie um Einheitsstiftung. Nach Arndt geht dies einher mit einem Romantizismus der russischen Gesellschaft, deren tatsächlichem Dissens ein Gemeinschaftsgefühl durch gesellschaftliche Einheit entgegengesetzt wird.791 Beachtlich erscheint insofern, dass sich die Sowjetführung in ihrer Beschwörung der Einheit von Volk und Leitung letztlich in der gleichen Situation befindet, wie die eingangs von Lenin kritisierte staatlich verordnete Einheit von Volk und Zar:792 Von oben durchgesetzte Einmütigkeit des Volkes mit seinen Herrschern dient hier der Legitimation eigener Macht.
9. Exkurs: „Einiges Russland“: Staatliche Einheit in der anti-kommunistischen Bewegung Aufschlussreich ist auch der Vergleich der marxistisch-leninistischen Einheitsvorstellungen mit denen des Antikommunisten Ivan Aleksandrovicˇ Ilin (1882 – 1954). Während dessen Staatsphilosophie in postkommunistischer Zeit breite Wirkung zu entfalten begann,793 erstreckte sich Ilins Bedeutung vor dem Ende der Sowjetunion vor allem auf die antikommunistische Bewegung. Ein großer Teil seines Werkes baut auf einer extrem kritischen Analyse des Kommunismus auf, die ihn in Russland zu einem geistigen Führer der Weißen Bewegung werden ließ.794 Während Ilin aufgrund seiner – aus heutigen Sicht – prophetischen Einschätzung der Folgen des kom789 Nach Meissner ist die Formulierung der Wahl Michail Gorbacˇovs durch das Zentralkomitee im März 1985, die anders als bei Andropov und Cˇernenko nicht „einstimmig“ (edninoglasno), sondern „einmütig“ (edinodusˇno) verlief, bereits Ausdruck der „kritischen Einstellung einiger Zentralkomitee-Mitglieder“ (Meissner, Der Dritte Führungswechsel nach Breshnew, in: Partei, Staat und Nation in der Sowjetunion, S. 527). 790 Zum Begriff vgl. Löwenthal, Stalins Vermächtnis, S. 16 ff. 791 Arndt, Stichwort: Einheit, in: Haug (Hrsg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, S. 179. 792 Vgl. Lenin, Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren, in: Werke, 1960, Band 9, S. 184 ff. 793 Vgl. Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, S. 457 ff. 794 Utechin, Geschichte der politischen Ideen in Russland, S. 255.
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munistischen Systems gewürdigt wird,795 kann nicht übersehen werden, dass seine Kritik in keiner Weise antitotalitär ist. So liegen die Wurzeln seiner Ablehnung der Leninschen Revolution in einer national-christlichen Überzeugung, die in weiten Teilen antidemokratisch und antiliberal ist. So verbreitete er die Vorstellung, dass die Deutschen Russland durch die propagandistische Verbreitung von Freiheit, Demokratie und Föderalismus nur schwächen und ihm schaden wollten.796 Ilin war der Auffassung, dass sich Russland aus göttlicher Vorsehung aus diesem Leiden erhebe, seine historische Mission sei es, den besonderen russischen Geist zur Geltung zu bringen.797 Wie Solovev macht sich Ilin nicht nur Gedanken zum theoretischen Wesen, sondern vor allem zur Umsetzung des russischen Geistes im idealen Staat und legt in seinem philosophischen Werk dazu ein Modell vor. Ilins philosophisches Werk war der Ausarbeitung einer Verfassungsgrundlage eines idealen, postkommunistischen russischen Staates gewidmet, der diesen besonderen Geist zur Geltung bringen sollte. In diesem Zusammenhang ist die geistige Einheit des Volks im Staat für Ilin Grundvoraussetzung für die göttliche Erlösung. Interessenvielfalt und Interessenkonflikte verschwinden hier zugunsten absoluter Staatstreue. a) Staatliche Einheit Ilins Staatsbegriff ist weitestgehend sittlich bestimmt. Der Staat ist für ihn der Raum für Gemeinschaft und Solidarität. Er organisiert das Leben der Menschen, indem er ihnen ihr naturrechtliches Recht auf Leben garantiert.798 In den 1996 unter dem Titel „Grundlagen der staatlichen Ordnung“799 in Russland neu aufgelegten Texten zur Schaffung eines russischen Grundgesetzes, die größtenteils im Jahr 1939 im Exil entstanden,800 wird die Rolle des Staates als Raum von innerer Einheit des russischen Volkes relativ konkret. Gleich in den ersten Artikeln dieses Verfassungsentwurfs spricht er, auf den ersten Blick unzusammenhängend, verschiedene ineinander verschwimmende Ebenen von Einheit im russischen Staat an: Danach ist das Russische Reich nicht nur eine „rechtliche Einheit“. Ilin geht vielmehr vom russischen Volk als „einheitlichem homogenen Körper“ aus, einem „einheitlichen lebendigen Organismus“, der nicht nur geographische (territoriale), sondern auch geistige, sprachliche und kulturelle Einheit beinhalte. Staatliche Einheit beruht für Ilin auf der brüderlichen Einheit des russischen Volkes, auf seinem Glauben an Gott, das Vaterland, die staatliche Macht und das Gesetz. In einem weiteren Grundsatz findet sich die Gleichsetzung der staatlichen Ein795 Igantow, Ivan Ilin über Wesen und Ende des Kommunismus, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2/2005, S. 39 ff. 796 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 304 f. 797 Sieber, Russische Idee und Identität, S. 28 f. 798 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 4, S. 267. 799 Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, Moskau 1996. 800 Einführung zu Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 3.
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heit mit einer heiligen Einheit, die der Verehrung Gottes auf Erden dient. Mit Hegel begreift er den russischen Staat darüber hinaus als eine historisch-kontinuierliche Einheit unter der Führung des Herrschers, die nicht durch Revolutionen beendet werden kann. Das Organische steht für ihn als das Geistige im Gegensatz zur Zergliederung.801 Eine Teilung dieser staatlichen Einheit führe zu Chaos, zu einem Auseinanderfall, dem er den Ruin gleichsetzt.802 Damit beschreibt er staatliche Einheit nicht nur als etwas Vorhandenes, sondern als für die Zukunft schützenswertes sittliches Ideal. Dies mag im Zusammenhang damit stehen, dass staatliche Einheit für ihn auch notwendige Voraussetzung für die geistige Entwicklung des Volkes ist. Er betont die Bedeutung des Tatarenjochs als Voraussetzung für die anschließende einende „Genesung“, die dem russischen Volk die Bedeutung von dem notwendigen Zusammenschluss gegen Feinde von außen in einer lebendigen Einheit aus Glauben, Nationalität und äußerer Lebensweise deutlich gemacht habe.803 Letztlich hält er den russischen Staat für eine Aktionseinheit (edinstvo dejstvennoe). Dazu stellt Ilin fest, dass der Bürger nicht nur Träger von Rechten, sondern auch von Pflichten sei. In diesem Zusammenhang schulde der Bürger dem Staat seine Initiativkraft, sein Herz, seinen Willen und seinen Verstand. Ohne dass er ausdrücklich eine Rangordnung zwischen dem Wert des Individuums und dem des Staates vornimmt, geht er davon aus, dass es Aufgabe des Individuums sei, sich in den Dienst des Staates zu stellen. Diese vielfältigen Bedeutungsfacetten des Begriffs Einheit lassen auf den ersten Blick keine besonders konkrete Vorstellung oder gar ein konkretes Ordnungsprinzip erkennen. Vor allem verliert der Begriff der staatlichen Einheit bei Ilin jede juristische Kontur. Vielmehr ist auf eine positiv-tenorierte Grundstimmung zu schließen, die sinnvollen, ordnenden, friedlich-einmütigen Zusammenhalt ausdrückt, der, durch die einheitliche Macht zusammengehalten, letztlich der Vereinigung mit Gott dient. Deutlicher wird die Einheitsvorstellung aus den verschiedenen Rollen, die Ilin der Macht und dem Individuum zuweist. b) Einheitliche Macht Entscheidend für die Ilinsche Staatsutopie ist die starke Macht (silnaja vlast) als Zentrum der staatlichen Ganzheit. Die Beschreibung von „starker Macht“ ist zunächst nicht eindeutig: sie achte das Recht, sei unbürokratisch, dezentralisiert und unabhängig von äußeren Einflüssen.804 Hier bekommt Ilin nahezu liberale Züge: So spricht er sich für einen Kernbestand menschlichen Freiraums aus, staatliche Igantow, Ivan Ilin über Wesen und Ende des Kommunismus, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2/2005, S. 39 ff. 802 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 304. 803 Ilin, Wesen und Eigenart der russischen Kultur, S. 142 ff. 804 Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 50. 801
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Macht könne nicht die kreativen Seiten von Seele und Geist übersehen, innere Liebe, Freiheit und gute Absicht. Der Staat könne von den Bürgern nicht Glaube, Gebet, Liebe, Güte und Überzeugung verlangen. Er könne weder wissenschaftliches, religiöses noch künstlerisches Schaffen regulieren. Der Staat sollte sich nicht in Fragen der Moral, der Familie und des tägliches Privatleben einschalten und nur in extremen Situationen wirtschaftliche Initiative und Kreativität beeinflussen.805 Aus dem Gesamtzusammenhang wird jedoch deutlich, dass sich Ilin damit nicht für Freiheitsrechte als subjektiven Anspruch ausspricht, sondern allein von staatlicher Macht eine selbst auferlegte Grenze im Sinne der zakonnost abverlangt. Die Freiheit des Einzelnen ist nicht geschützter Freiraum, sondern politische Aufgabe der staatlichen Macht. Hier wird Freiheit nicht juristisch verstanden, sondern allein sittlich. Dass es im Konzept Ilins keine positiven Schranken staatlicher Macht im Sinne der aufgeklärten Gewaltenteilungslehre gibt, zeigt sich aus den Kompetenzen, die er der staatlichen Macht zuspricht. Im Abschnitt über das Staatsoberhaupt schreibt er, Einheit und Erfolg des Russländischen Staates hingen von einer einheitlichen und starken Macht im Zentrum ab. So eine Macht könne nur aus einer Person bestehen, lebendig vereint mit dem Volk und mit den Amtsträgern, auserwählt aus den besten Menschen des Volkes. Er wendet sich gegen Gewaltenteilung, indem er schreibt, es dürfe nicht zwei Mächte geben, die Macht des Parlaments, also des Volkes und die Macht des Staatsoberhaupts (pravjacˇsˇevoe glavo), sondern nur eine Macht, die des Staatsoberhaupts, die das Volk führt. Dabei gehen die Legislative, die Regierung, das Gericht, und die militärische Gewalt vom Staatsoberhaupt aus.806 Gewaltenteilung ist in Ilins System überflüssig. Gewaltenteilung geht vom Schutz des Einzelnen gegen den Staatsapparat aus. Ist der Staat mit Hegel807 aber ein übergeordnetes Ich, dann ist Gewaltenteilung nicht erforderlich.808 Mit Hegel geht Ilin von einem Staatschef aus, der die ganze Vielheit im Staat in sich vereint, vor dem das Volk aber schon deshalb nicht geschützt werden muss, weil seine Interessen mit den Interessen des Herrschers identisch sind. Starke Macht ist für Ilin trotz fehlender einklagbarer Schranken aber nicht gleich totalitärer Macht.809 Starke Macht ist für ihn die geistige Autorität des Führers, die Identifikation des Volkes mit dem 805
Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band II, S. 411 f. Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 80. 807 Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 91. 808 Entsprechend schreibt Hegel über die Gewaltenteilung in dem Abschnitt über den Staat als sittliche Idee: „Es gehört zu den falschen Ansichten vom Staate, wenn man die Regierungsmitglieder, wie etwa die konstituierende Versammlung tat, von den gesetzgebenden Körpern ausschließen will. In England müssen die Minister Mitglieder des Parlaments sein, und dies ist insofern richtig, als die Teilnahme an der Regierung im Zusammenhange und nicht im Gegensatze mit der gesetzgebenden Gewalt stehen soll. Die Vorstellung von der sog. Unabhängigkeit der Gewalten hat den Grundirrtum in sich, dass die unabhängigen Gewalten dennoch einander beschränken sollen. Aber durch diese Unabhängigkeit wird die Einheit des Staates aufgehoben, die vor Allem zu verlangen ist.“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 300). 809 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band II, S. 411 f. 806
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Herrscher, der nach christlichen Überzeugungen handelt. Starke Macht richtet sich in ihren konkreten Handlungen ausschließlich nach dem Gesetz.810 Ähnlich wie Solovev und Ilins Lehrer Novgorodcev wendet er sich damit gegen den Rechtsund Staatsnihilismus der Slawophilen und spricht sich dafür aus, der Staat müsse Recht durchsetzen, um geordnete Lebensverhältnisse zu ermöglichen.811 So wird die Zemskij sobor (Volksversammlung) zur Einheit mit dem Staatschef aufgerufen,812 um Gerechtigkeit herzustellen. Die Aufteilung in verschiedene Organe der Staatsgewalt dient dabei allein der Effizienz. Menschen unterwerfen sich aus Brüderlichkeit in Freiheit freiwillig dem göttlichen Gesetz und der Disziplin. Recht und Staat werden vor allem von der Erreichung einer bestimmten Zielsetzung her betrachtet. Dies ist bei Ilin das göttliche Prinzip der Wahrheit und Gerechtigkeit. Ilin schreibt: „Die Politik dient als lebendige Tätigkeit letztendlich dem Geist, sie festigt um seinetwillen das ,gerechte Recht und schafft staatliche Einheit.“813 Der Staat ist dazu da, diese höhere Ordnung herbeizuführen und dem Volk durch Gesetze ein Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) dieser göttlichen Gesetze, Brüderlichkeit und Gleichheit zu vermitteln.814 Autoritarismus und Monarchismus erklärt er vor allem mit der Vorstellung, das Volk bedürfe zur Erreichung seiner historischen Aufgabe eines Erziehers und Führers, der die Menschen zu diesem Ziel führt.815 Aufgabe des Staates sei es, das geistige Leben der Menschen zu beschützen und zu organisieren.816 Der Staat wird bei Ilin Voraussetzung zur Vervollkommnung der Sittlichkeit, zur Schutzmacht der ethischen Überzeugungen und zum Sachverwalter des Naturrechts.817 Wenn sich auch Ilin gegen den russischen Rechtsnihilismus wendet, indem er ein Rechtsbewusstsein fordert, so macht dieses Rechtsbewusstsein positives Recht wertlos, wenn dieses nicht dem sittlichen Ideal entspricht. Vor allem umfasst das Rechtsbewusstsein absolute Staatsloyalität, solange der Staat das sittliche Ideal umsetzt.818 Insofern ergibt sich aus dem Staatziel, der Durchsetzung des objektiven göttlichen (oder Natur-)Rechts, für Ilin auch keine Notwendigkeit von individuellen Rechten des Einzelnen. Die vertikale Gewaltenteilung in Form eines föderalen Staatsmodells mit unmittelbarer Macht auf zwei Ebenen lehnt er auch unter Berufung auf die historischen, geographischen, religiösen und moralischen Besonderheiten Russlands ab: „Wenn 810
Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band II, S. 414. Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, S. 463. 812 Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 91. 813 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 4, S. 308 f. 814 Vgl. Kostjak, Der Begriff des Politischen in der christlich-orthodoxen Tradition, S. 210. 815 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 4, S. 417 ff. 816 Ilin, O susˇcˇnosti pravosoznanija, S. 264. 817 Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, S. 464. 818 Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, S. 467 ff. 811
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wir eines Tages den ,klugen Vorschlag hören, führen sie in Russland durch Referendum eine Föderation ein! Dann fragen wir uns, schlägt man uns das aus Naivität vor oder aus dem Wunsch, Russland zu schaden? Was für ein anderes Volk gut sein mag, wäre für Russland der Tod!“819 An anderer Stelle schreibt er, der russische Staat benötige zwar eine einheitliche, starke unitarische Zentralgewalt, sei stattdessen aber „im Geiste“ föderal, da die starke einheitliche Macht die Vereinigung der Völker (vsenarodnoe) im brüderlichen Geiste garantiere.820 Auch auf dieser Ebene ist die starke einheitliche Zentralgewalt Voraussetzung für das brüderliche Zusammenleben in einer wahren Gemeinschaft. Dezentralisierung lässt er nur soweit zu, als sie die Einheit des Staates nicht gefährdet.821 Indem er das Föderalismusprinzip ausschließlich auf eine „geistige“ Ebene verlagert und aus der rechtlichen herausnimmt, verschließt sich Ilin vor dem unfreiwilligen Anschluss der verschiedenen Völker an das Russische Reich sowie vor der liberalen Diskussion über Bürgerrechte, Föderalismus und Minderheitenrechte.822 c) Einheit als Voraussetzung für die Existenz des Russischen Begründung für die Notwendigkeit einer starken Macht ist auch für Ilin nach der slawophilen Tradition die Besonderheit Russlands gegenüber anderen Ländern („die russische Macht ist stark oder nicht existent“).823 So muss die Staatsform für ihn den historischen und geographischen Bedingungen des Landes angepasst sein, darüber hinaus auch religiösen und moralischen Vorstellungen des Volkes und letztlich den historischen Aufgaben des Volkes entsprechen.824 Dementsprechend ergibt sich die Notwendigkeit eines starken Staates auch für Ilin aus der Größe des Landes, der kulturellen und sozialen Vielfalt der Völker im Staat825 und der daher notwendigen Integrationskraft. Dies geht damit einher, dass für ihn die Besonderheit Russlands in einem Auserwählt-Sein von Gott liegt und deshalb geschützt werden muss. So ˇ icˇerin „liberal“ oder wie wird der Begriff der staatlichen Einheit nicht wie bei C bei Solovev vor allem religiös verstanden, sondern erhält verstärkt eine nationalistische Komponente. Anders als Solovev spricht er nicht nur von der staatlichen Einheit, sondern auch von der „nationalen Vereinigung“,826 wobei unklar bleibt, ob er mit Nation nur das russische Volk oder das Staatsvolk meint. Die russische Kultur ist klar
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Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 218. Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 417. 821 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 417. 822 Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, S. 460. 823 Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 50. 824 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 218, 408. 825 Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 50. 826 Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 126. 820
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die beherrschende im Staat,827 die russische Sprache ist für ihn Staatssprache (Teil I Absatz 17 des Grundgesetzentwurfes). d) Die Rolle von Volk und Einzelnem innerhalb der Einheit Die Rolle des Einzelnen wird vor allem aus dessen Stellung als Teil des großen Ganzen begriffen, das seinen Wert festlegt. Schon in seinem Werk „Die Philosophie Hegels als Lehre von der Konkretheit Gottes und des Menschen“ (Moskau 1918) suchte Ilin zu beweisen, dass der Mensch im Rahmen von Hegels Idee vom Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee durch dessen Subsumtion nicht erniedrigt wird, sondern als Individuum im Ganzen der Gemeinschaft erst seinen Platz findet.828 In diesem Zusammenhang hat der Einzelne zwar das Recht auf seine Rolle als gleichberechtigtes Mitglied im Bund, es bedarf jedoch keiner individuellen politischen Rechte, da diese vom Herrscher im Einklang mit dem Willen des Volkes wahrgenommen werden. Das geeinte Volk wiederum bildet mit dem Herrscher einen Bund, um gemeinsam das Russische Reich nach außen zu verteidigen: „Macht und Volk sollen sich über das Verständnis des Guten und des Bösen einig und solidarisch im Willen zur Ablehnung des Bösen sein; ohne das gehen beide dem Verfall entgegen.“ Dieser Verfall bräche an dem Tag an, an dem eine der beiden Seiten das gemeinsame Ziel oder dessen richtiges Verständnis verraten würde, das Resultat ist der Sieg des Bösen.829 Die Frage, wie diese grundsätzliche Einheit zwischen Volk und Monarch als Voraussetzung für die staatliche Einheit zustande kommt, erklärt Ilin 1950 mit der Gnade Gottes, die vollständige brüderliche Einheit zwischen den Völkern Russlands herstellt.830 Aufgrund der brüderlichen Einheit ist es dann auch nicht mehr notwendig, die Macht des Herrschers hinsichtlich eines zu erhaltenden Freiheitsraumes des Einzelnen zu beschränken. Hier hilft ihm das christliche Element über den strukturellen Gegensatz von individueller Freiheit und notwendiger staatlicher Einheit hinweg. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Ilin meint, wenn er schreibt, der Unterschied zwischen Weißer Bewegung und Faschismus sei das christliche Element.831 Nicht der Zwang des Führers, wie im Faschismus, eine das Volk, sondern das göttliche Prinzip. e) Bedeutung der Ilinschen Vorstellungen An den Staatsvorstellungen Ilins wird nicht deutlich, wo in seinen Darstellungen die Grenzen zwischen Idealstaat und politischem Ziel verlaufen, vielmehr ver827
Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 364. Ilin, Osnovy gosudarstvennogo ustrojstva, S. 61 ff. 829 Ilin zitiert nach Ignatow, Ivan Ilin über Wesen und Ende des Kommunismus, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2/2005, S. 46. 830 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band II, S. 304. 831 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band II, S. 86 ff. 828
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schwimmt die Analyse tatsächlicher Problematiken mit dem mystisch-nationalistischen Ideal eines brüderlich-geeinten Volkes unter der Führung des guten Herrschers im starken Russischen Reich. Obwohl Ilin in der Konsequenz ein brüderliches Zusammenleben der Menschen vorschwebt, das mehr von Vielfalt als von totaler Homogenität gezeichnet ist, wurde die Vorstellung von der zentralistischen Einheitsmacht, die diese Einheit durchsetzen sollte, der Weißen Bewegung historisch zum Verhängnis. Wie Rauch darlegt, büßte die russische antikommunistische Bewegung durch das Festhalten an der zentralen Losung des einheitlichen Russlands bei den nichtrussischen Völkern deutlich an Sympathie ein.832 Auch für Katzer liegt im Festhalten der Weißen Bewegung an der Formel vom „einen und unteilbaren Russland“ eine Ursache für das Scheitern des Antibolschewismus.833 Bemerkenswert ist letztlich, dass das Konzept staatlicher Einheit, das Ilin dem Kommunismus entgegensetzt, mit seiner in Russland realisierten Variante in großen Teilen grundsätzlich identisch ist. In beiden Vorstellungen steht eine autoritäre zentralistische unbeschränkte „einheitliche“ Führung an der Spitze. Diese erzieht das Volk zu einer vollkommeneren Einheit. Um dies zu erreichen, ordnet sich das Volk dem Herrscher unter. Wie Sproede feststellt, korrespondiert auch die Rolle des positiven Rechts als Mittel zur Durchsetzung der wahren Einheit mit dem kommunistischen Rechtsbegriff. In beiden Systemen sind Staat und Recht nur Übergangserscheinungen auf dem Weg zu wahren Einheit.834 Während auf der einen Seite die Vereinigung des Proletariats zum Ziel von Partei und Staat wird, stellt die Weiße Bewegung ihren Kampf unter das Motto: „Einheitliches Russland“ (edinaja Rossija).835 Bei Lenin und Stalin ist diese Einheit die klassenlose Gesellschaft, bei Ilin die brüderliche Gemeinschaft in Gott. Wie im traditionell russischen Denken, so kommt es auch im Marxismus darauf an, Teil der Gemeinschaft zu sein, die allein höhere Glückseligkeit verspricht. Umgekehrt haben Differenzen zu der herrschenden Meinung in dieser Einheit keine Existenzberechtigung, da sie diese Einheit der Idee zerstören. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Lenin Ivan Ilins Werk über Hegel sehr geschätzt haben soll.836
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v. Rauch, Russland, Staatliche Einheit und nationale Vielfalt, S. 220 f. Katzer, Die Weiße Bewegung in Russland, S. 403 ff. 834 Sproede zitiert Ilin mit der Feststellung, dass die Notwendigkeit des positiven Rechts aus dem „unreifen Zustand der menschlichen Seelen“ resultiert. Bis dieser Zustand ausreichend entwickelt sei, existiere das positive Recht als „zweckmäßige Form zur Aufrechterhaltung des Naturrecht“ (Sproede, Rechtsbewusstsein (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, Fn. 43). 835 Katzer, Die Weiße Bewegung in Russland, S. XV. 836 So m.w.N. Igantow, Ivan Ilin über Wesen und Ende des Kommunismus, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2/2005, S. 39. 833
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10. Staatliche Einheit als Instrument zum Aufbau des Sozialismus in der Verfassung von 1977 Exemplarisch sollen die vorangestellten Ausführungen zum Einheitsbegriff im Staatsrecht der Sowjetunion an der Verfassung von 1977 getestet und vertieft werden. Der Verfassung von 1977 liegt die Volksstaatskonzeption zugrunde, wonach die staatliche Macht das ganze Volk und nicht nur das Proletariat repräsentiert. Während schon unter Stalin erstmals nach der Revolution die Macht durch den Willen des ganzen Volks legitimiert wurde, indem das Recht offiziell Ausdruck des „Willens des ganzen Volkes“ wurde, blieb die offizielle Lehre des Marxismus-Leninismus vom Staat als einer Diktatur des Proletariats bis zum Parteiprogramm der KPdSU von 1961 bestehen und wird erst dann entsprechend durch den Begriff „Staat des gesamten Volkes“ (Art. 1 Verfassung der UdSSR von 1977) ersetzt. So ist der Staat Instrument der revolutionären Errungenschaften und des Aufbaus von Sozialismus und Kommunismus (Präambel Abs. I Satz 1 Verfassung der UdSSR von 1977). Zweck dieses Staates ist die nationale und universale Einheitsstiftung. Der Staat ist das, was den Werktätigen auf eine höhere Stufe von Moral und Kultur verhilft.837 Gerechtfertigt wird der Staatsbegriff als Instrument gesellschaftlicher Erneuerung mit der Bezugnahme auf das Ganze, das er umfasst und den gesamten Willen, den er repräsentiert.838 Indem der Staat nun Mittel zur Realisierung des Kommunismus ist, wird es unerlässlich, diesen Staat zu festigen. Ohne den mächtigen und starken Staat, ohne dessen „exakt und effektiv wirkenden Mechanismus“ sei es nicht möglich, die „verschiedenartigen Prozesse des gesellschaftlichen Lebens zu leiten und die entsprechenden Zwangsmaßnahmen dazu durchzusetzen“.839 Da nunmehr nur der Staat die klassenlose Gesellschaft herstellen kann, muss es Aufgabe des Einzelnen sein, seine Kräfte in diesen Staat einzubringen. Indem der Staat Lebensgrundlage des Einzelnen ist,840 wird auch hier die Priorität des staatlichen Ganzen vor dem Einzelnen begründet. a) Sicherung des einheitlichen Willens durch den „demokratischen Zentralismus“ In der sowjetischen Lehre nach der Verfassung von 1977 ist der demokratische Zentralismus als Staataufbauprinzip Ausdruck der staatlichen Einheit des Sowjetvolkes.841 Der demokratische Zentralismus ist das Mittel, die unterschiedlichen Interessen der gleichberechtigten Republiken und Menschen der Theorie nach zu einem gemeinsamen internationalen Interesse zu formen. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus sollte die Abstimmung der verschiedenen Einzelinteressen unter das 837
Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 105. Haney u. a., Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 199. 839 Tschikwadse u. a., Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, dt. Übersetzung, Band 3, S. 81. 840 Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 105. 841 Lepeskin, Sovetskij federalizm, S. 189 ff. 838
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gemeinsame Hauptinteresse ermöglichen. Er war offiziell Mittel „gegen Egoismus, Separatismus und Lokalpatriotismus“.842 Hinter dem Prinzip des demokratischen Zentralismus verbirgt sich eine strenge Hierarchie. Das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ aus Art. 3 in der Verfassung der UdSSR von 1977 beinhaltet nach der Lehre die „Wählbarkeit aller Organe der Staatmacht von unten nach oben, ihre Rechenschaftspflicht gegenüber dem Volk, die Verbindlichkeit ihrer Beschlüsse der übergeordneten für die untergeordneten Organe.“ Nach der Verfassung verbindet der demokratische Zentralismus die „einheitliche Leitung mit der Initiative und den schöpferischen Aktivitäten im örtlichen Bereich, mit der Verantwortung jedes Staatsorgans und jedes Staatsfunktionärs für die übertragene Aufgabe“ (Art. 3). Der demokratische Zentralismus als Ausdruck der „Gemeinsamkeit der Ziele“ des ganzen Volkes843 funktioniert daher als zentralistisches Machtgefüge. Nachdem Lenin das Prinzip des demokratischen Sozialismus zunächst für die Partei durchgesetzt hatte, wurde es erst später auch staatliches Organisationsprinzip. In einem Schreiben an die Partei aus dem Jahr 1922 erklärt Lenin die Notwendigkeit von Zentralismus für die Entstehung des einheitlichen Willens am Beispiel der Organisation der Staatsanwaltschaft. Dabei ging es um das sog. Prinzip der doppelten Unterordnung, nach dem die Vertreter der örtlichen Staatsanwaltschaft nicht nur dem Zentrum, sondern auch dem Gouvernements-Exekutivkomitee unterstehen sollten. Lenin wandte dagegen das Argument der Notwendigkeit einer „einheitlichen Gesetzlichkeit“ ein. So sei es Aufgabe der Staatsanwaltschaft, eine einheitliche Auffassung der Gesetzlichkeit in ganz Russland zu sichern. Dies sei durch eine strenge Hierarchie vom Zentrum aus zu garantieren. Deshalb sei eine Unterordnung der Staatsanwaltschaft unter das Zentrum erforderlich.844 Zentralismus ist für Lenin Element der Durchsetzung des einheitlichen Willens. Durch die Gleichsetzung der einheitlichen Rechtsauffassung mit dem einheitlichen Willen und der Überzeugung der Notwendigkeit der Durchsetzung desselben durch die Partei- bzw. Staatsspitze, fällt so auch die Sicherung der Rechtsordnung in die ungeteilte höchste Gewalt des Staates und der Partei und nicht in die Hand einer tatsächlichen unabhängigen Judikative. Als Teil des einheitlichen Willens des Volkes garantiert das Zentrum hier die einheitliche sozialistische Gesetzlichkeit (socialisticˇeskaja zakonnost) auf dem gesamten Gebiet der Sowjetunion. Es kann somit nicht zu lokalen Abweichungen kommen, die Ausdruck einer mangelhaften Durchsetzung des einmütigen Willens des Proletariats wären.
842 Kudrjawzew, Die Verfassung der UdSSR, Manifest des kommunistischen Aufbaus, dt. Übersetzung, S. 164. 843 Kudrjawzew, Die Verfassung der UdSSR, Manifest des kommunistischen Aufbaus, dt. Übersetzung, S. 164. 844 Lenin, Über doppelte Unterordnung und Gesetzlichkeit, in: Werke, Band 33, 1959, S. 349 f.
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Offiziell abgemildert wird die strenge Hierarchie mit dem Moskauer Zentrum an der Spitze durch das demokratische Element. So sei das besondere Merkmal des demokratischen Zentralismus die Wählbarkeit aller Organe der Staatmacht, die Rechenschaftspflicht nach unten, Leitung von oben, Bildung der Verwaltung durch die Organe der Staatsmacht, Leitung der Verwaltung durch die Staatmacht sowie der Einbeziehung des Willens der Bürger in die Arbeit der staatlichen Organe.845 Durch die Wahlen bewirke der demokratische Zentralismus die Einheit auf eine demokratische Weise. Allerdings beschränkt sich dieser demokratische Einfluss auf eine „schöpferische Kraft von unten“, die wegen fehlender durchsetzbarer politischer Rechte und Freiheiten nicht viel mehr als einen Appell an die Loyalität des Volkes zum Staat darstellt. Die sozialistische Lehre macht deutlich, dass die Werktätigen in ihrer „demokratischen“ Entscheidungsmöglichkeit determiniert sind. Die Wahlmöglichkeit, die der Wahl begrifflich zugrunde liegt, wird durch die Vorstellung von Freiheit als „Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit der Natur“ eingeengt. Die Arbeiterklasse erfülle durch ihr demokratisches Gestaltungsrecht eine „historische Mission“.846 „Demokratisch“ wird hier als Mithilfe am staatlichen Leben unter Führung der Partei verstanden. So ändert das „demokratische“ Element nichts an der strengen Hierarchie der Staatsgewalt. Die Verbindlichkeit der Entscheidung übergeordneter Organe bleibt das „Kernelement“ des demokratischen Zentralismus.847 Ausdrücklich wird diese totale Subordination durch Art. 150 und das Prinzip der doppelten Unterordnung ausgedrückt, wonach die Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets nicht nur dem sie wählenden Sowjet, sondern im Rahmen der Machtvertikale auch dem übergeordneten vollziehenden oder verfügenden Organ rechenschaftspflichtig sind. Durch diese Einschränkung des demokratischen Prinzips zugunsten der zentralen Macht soll dem „einheitlichen Organismus“ Staat Rechnung getragen werden.848 Die Einheitlichkeit des Willens geht insofern auf Kosten des demokratischen Gedankens. Dies wird nach der offiziellen Lehre aufgelöst, indem Zentralismus und Demokratie aufeinander passen und „miteinander zusammenwirken sollen“,849 um die Einheit des Willens zu gewährleisten. Danach steht auf der einen Seite die „schöpferische Mitwirkung“ der Volksmassen an den staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten und auf der anderen Seite die führende Rolle der Partei. In der Verfassung von 1977 kommt die Lehre von der „führenden Rolle der Partei“ in Art. 6 zum Ausdruck. Mit Hilfe des Prinzips des demokratischen Zentralismus sollte die Leitung ausdrücklich gestärkt werden.850 Als sich die Staatsauffassung in den 1960er Jahren änderte und der Staat nicht mehr allein als Diktatur, sondern als 845 846 847 848 849 850
Kerimow, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 77. Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 106. Westen, Art. 3, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 18. Schultz, Art. 150, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 4. Kerimow, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 76. Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 104.
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„Staat des ganzen Volkes“ angesehen wurde, wurde die Partei entsprechend dieser Lehre zur „Avantgarde des ganzen Volkes“ (Präambel Abs. IV Satz 5 Verfassung der UdSSR von 1977). Der sozialistische Staat entsprach nun dem ganzheitlichen Ideal als einer Organisationsstruktur, die nach dem Gesetz der Dialektik alles vereinte und miteinander ausglich. Das Einbringen des Einzelnen in die staatliche Einheit konnte nur unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei geschehen.851 Demokratischer Zentralismus und führende Rolle der Partei waren als Prinzipien voneinander untrennbar852 und sollten die Einheit des gesellschaftlichen Systems garantieren.853 Die Parteizentrale ist damit auch im Volksstaat Quelle der Autorität. b) Das einheitliche System der Organe der Staatsgewalt (Art. 89 Verfassung der UdSSR) Vor dem Hintergrund des einheitlichen Willens lehnte Lenin jede Form von Gewaltenteilung ab. Stattdessen wurde das Prinzip der Gewalteneinheit durch das Prinzip des demokratischen Zentralismus konkretisiert. So bilden nach Art. 89 Verfassung der UdSSR von 1977 alle Sowjets, der Sowjet der Volksdeputierten, der Oberste Sowjet der UdSSR, der Oberste Sowjet der Unionsrepubliken, der Oberste Sowjet der autonomen Republiken, der Regions- und Gebietssowjets der Volksdeputierten, die Sowjets der Volksdeputierten der autonomen Gebiete, der autonomen Bezirke, die Rayon-, Stadt-, Stadtbezirks-, Siedlungs- und Dorfsowjets der Volksdeputierten ein einheitliches System der Organe der Staatsgewalt. Schon nach Artt. 31, 32 der Verfassung von 1918 wurde das Zentrale Exekutivkomitee (ZEK) der Russischen Sowjetrepublik als das alle drei Gewalten vereinende Organ definiert, das „die Arbeit der Gesetzgebung und der Leitung vereint“. Diese Bestimmung wurde in der Verfassung von 1925 übernommen. An den Erläuterungen zu diesen Regelungen wird deutlich, dass das Prinzip der Gewalteneinheit zunächst dazu dienen sollte, den Klassenkampf abzuschließen und das Ideal der klassenlosen Gesellschaft geschichtlich zu verwirklichen. Nach der offiziellen Ideologie war die Einheit der staatlichen Gewalt eng verbunden mit dem Ideal der klassenlosen Gesellschaft, in der es nur noch einen einheitlichen Willen des Proletariats, bzw. später den des ganzen Volkes gab. So hieß es, dass die bürgerlichen Verfassungen die Gewaltenteilung deshalb umsetzten, weil sie von der Doktrin der besitzenden Klassen durchdrungen seien, die den Kampf der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander beinhalte.854 In der Sowjetunion sei dies nicht der Fall, weil die Gesellschaft im Staat repräsentiert sei und der einheitliche Wille Volk und Leitung eine, so dass weder unterschiedliche Meinungen noch Beschränkung der staatlichen Macht nötig seien. 851
Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 105. Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 106. 853 Kerimow, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 81. 854 Referat auf dem 5. Gesamtrussischen Sowjetkongreß 1918, zitiert nach Kerimow, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 83. 852
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Bei Fedoseev heißt es: „Die Deputierten des Sowjets arbeiten selbst, führen selbst ihre Gesetze durch und kontrollieren selbst die Durchführung ihrer Gesetze“,855 Gewaltenteilung ist hier nicht notwendig.856 Dementsprechend wollte die sowjetische Staatsführung den Eindruck erwecken, die Demokratie in ihrer letzten Konsequenz durchgesetzt zu haben.857 Ideologisch wird die Gewaltenteilung als Schwächung der das Volk repräsentierenden Staatsmächte verstanden, die es Staatsfeinden einfacher mache, dem Willen des Volkes entgegenzuwirken. So wird Machtverteilung ganz generell als Prinzip der Feinde zur Schwächung des eigenen Seins verstanden. Dezentralisierung und Autonomie aber seien nichts anderes als Zersplitterung der Arbeiterklasse und damit Selbstzerstörung.858 Gleichzeitig wird Gewaltenteilung auch nicht als zweckmäßig angesehen, denn Ziel war nicht die Sicherung der Rechte des Einzelnen, sondern die Verwirklichung der objektiven Idee von der sozial-homogenen Gesellschaft. In der Sowjetunion sei das Volk dagegen an allen drei Gewalten unmittelbar beteiligt. Der sowjetische Staatsrechtler Kerimov schreibt dazu 1981, mit dem Prinzip der Einheit der gesetzgebenden, der Leitungs- und Kontrollfunktionen „wird für die Vertreter der Werktätigen die reale Möglichkeit geschaffen, sowohl entsprechende staatliche Beschlüsse zu fassen als auch unmittelbar an ihrer Durchführung mitzuwirken und die Kontrolle über ihre vollständige und rechtzeitige Verwirklichung auszuüben. Damit spüren die staatlichen Organe fortwährend den Pulsschlag des Lebens, schöpfen aus der Weisheit des Volkes reiche Erfahrungen und Kenntnisse, bringen die Bedürfnisse, Interessen und den Willen aller Werktätigen zum Ausdruck.“859 Insgesamt ist auch das Prinzip der Gewalteneinheit auf Lenin zurückzuführen, der offiziell darin die Vorteile des Parlamentarismus mit den Vorteilen der direkten Demokratie vereinigen wollte, indem er den Sowjets nicht nur die gesetzgebende Gewalt, sondern auch die vollziehende zuwies, was Staatsapparat und Volk einander näher bringen sollte.860 Indem er der Volksvertretung auch die exekutive Macht zu-
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Fedoseev, Die schöpferische Rolle des Sowjetstaates und des Sowjetrechts, 38, Beiheft zur Sowjetwissenschaft, S. 89. 856 Auch Kelsen weist in seiner 1923 entstandene Schrift „Sozialismus und Staat“ darauf hin, dass das Prinzip der Gewaltenteilung ursprünglich nicht im demokratischen, sondern im monarchischen System entwickelt wurde und zunächst dem Bürgertum zur Sicherung der Stellung des von ihm gewählten Parlaments gegenüber dem bis dahin unbeschränkten Monarchen diente. In einer vollständig demokratisierten Republik sei eine gegenseitige Beschränkung der Macht nicht notwendig erforderlich (Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 151 f., danach ist für Kelsen die Lehre der Gewaltenteilung „zum großen Teil“ gar missbraucht worden, „den Prozeß der Demokratisierung des Staates auf die Gesetzgebung zu beschränken.“). 857 Vgl. dazu auch Westen, Die Rechtstheoretischen und Rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, S. 140 f. 858 Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 107. 859 Kerimow, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 81. 860 Lenin, Werke, Band 29, 1966, S. 93, vgl. auch Band 26, S. 87 und Band 27, S. 121, 263.
III. Die Einheit des Staates nach der Lehre des Marxismus-Leninismus
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sprach, ging es ihm vor allem darum, die Arbeit der Sowjets effektiver zu gestalten.861 Aufgrund des einheitlichen Willens konnte die Gewalteneinheit auch für den Bürger keinen Nachteil bedeuten. Das Prinzip der Gewalteneinheit in Verbindung mit dem demokratischen Zentralismus und der Einheit des Willens in der Sowjetunion legitimierten letztlich eine Hierarchie der Gewalt ohne Kontrollmöglichkeiten, an deren Spitze der alles beherrschende Oberste Sowjet stand. c) Sozialistischer Föderalismus – Der Unionsstaat als Ausdruck der staatlichen Einheit der Völker aa) Das sowjetische Föderalismusprinzip Wenn der sozialistische Föderalismus von dem sowjetischen Staatsrechtler Ravin als „Kernstück des sowjetischen Staatsrechts“ bezeichnet wird,862 dann geschieht dies mit dem besonderen Verständnis der Föderalismusidee im sowjetischen Staat. Danach dient Föderalismus nicht der Verwirklichung des Freiheits- oder Demokratieprinzips, sondern ist politisches Mittel zur gesellschaftlichen Vereinigung. Föderalismus hat keinen Eigenwert, sondern ist allein Übergangsmodell auf dem Weg zum idealisierten Einheitsstaat. Die sowjetischen Lehren der einheitlichen Struktur des Staatsaufbaus finden sich deshalb im Föderalismus wieder. Nach der sowjetischen Verfassung von 1977 ist die Sowjetunion ein „einheitlicher multinationaler Unionsstaat, der auf der Grundlage und des Prinzips des sozialistischen Föderalismus als Ergebnis der freien Selbstbestimmung der Nationen und der freiwilligen Vereinigung gleichberechtigter Sowjetrepubliken gebildet wurde (Art. 70)“. Darunter versteht die sowjetische Lehre einen freiwilligen Zusammenschluss von mehreren gleichberechtigten Staaten zu einem Unionsstaat mit einem einheitlichen Territorium.863 Die Besonderheit des Föderationsmodells durch Verteilung der unmittelbaren staatlichen Macht auf zwei Ebenen864 ist dabei nicht Hauptmerkmal der Abgrenzung des föderalen Modells zum Einheitsstaat sowie zur Konföderation. Vielmehr kennzeichne den Einheitsstaat in Abgrenzung zur Konföderation, dass die Föderation über ein höchstes Organ staatlicher Macht, über ein einheitliches Steuersystem, einheitliche Streitkräfte sowie ein einheitliches Territorium verfüge. Damit wird zwar die Gründung aus mehreren Einzelstaaten betont, letztlich aber besonders die Einheitlichkeit des Staatsorganisationssystems gegenüber der Konföderation hervorgehoben.865 Darin kommt zum Ausdruck, dass das Modell „Föderation“ vor allem politisch das Problem der nationalen Frage in der Sowjetunion lösen soll.866 Insofern 861 Meissner, Sowjetdemokratie und bolschewistische Parteidiktatur, in: Meissner, Partei, Staat und Nation in der Sowjetunion, S. 123. 862 Ravin, Princip federalizma v sovetskom gosudarstvennom prave, S. 23. 863 Barabaschew, Staatsrecht der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 120 f. 864 Z. B. Stern, Staatsrecht Band I, S. 644 ff. 865 Barabaschew, Staatsrecht der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 121. 866 Barabaschew, Staatsrecht der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 121.
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wird deutlich, dass der Föderalismus weder als Element vertikaler Gewaltenteilung durch eine zweite Ebene unmittelbarer staatlicher Macht in den Regionen noch als Demokratie stärkendes Element, sondern als politisches Mittel zu Durchsetzung des Kommunismus eingesetzt wird. Legitimationsgrundlage dieses föderalen Staatsmodells ist der fiktive freie Wille der Völker. So sieht die sowjetische Staatsrechtslehre den Unterschied zwischen dem „bürgerlichen Föderalismus“ wie beispielsweise in der USA zum „sozialistischen Föderalismus“ darin, dass der bürgerliche Föderalismus nicht auf Grundlage einer freien Willensbekundung entstanden sei, sondern durch Zwang. Bürgerlicher Föderalismus sei die administrative Zusammenlegung von Gebieten, nicht aber „national-territoriales Gebilde“. Festgemacht wird dies am Beispiel der indianischen Bevölkerung in den USA, denen keine eigene Staatlichkeit gewährt würde und die deshalb in ihrer Entwicklung behindert würde. Bürgerlicher Föderalismus sei daher ungeeignet, nationale Gleichberechtigung zu gewährleisten.867 Die UdSSR sei stattdessen ein Bündnis von gleichen, gleichberechtigten Völkern unter der Prämisse des beiderseitigen Einverständnisses. Gleichberechtigung und Freiwilligkeit sind in der marxistisch-leninistischen Theorie wesentliche Grundlagen des sozialistischen Föderalismus. Ohne auf die besondere Rolle des russischen Volkes einzugehen, spricht die Verfassung von der nominellen Gleichberechtigung der sowjetischen Völker. Ausdrücklich nennt Art. 70 I die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses der Völker in der Sowjetunion und bringt damit zum Ausdruck, dass der Gesamtstaat Resultat der freien Selbstbestimmung dieser Völker ist. Die Formulierung „als Ergebnis freier Selbstbestimmung“ anstelle von „in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts“ ist dabei Ausfluss der sowjetischen Theorie von der Konsumierung des Selbstbestimmungsrechts bei der Bildung eines Staates.868 Das fiktive Selbstbestimmungsrecht dient dazu, die nationale zugunsten der internationalen Proletariervereinigung theoretisch zu lösen.869 Insofern wurde die Sowjetunion auf dem 1. Unionssowjetkongress 1922 als fiktive Willensbekundung ihrer Völker gegründet. In diesem Sinne war die Sowjetunion seit ihrer Gründung 1922 nominell ein föderaler Staat, obwohl Lenin sich zunächst entschieden für den Einheitsstaat ausgesprochen hatte und Föderalismus als „Kleinbürgerlichkeit“ abgelehnt hatte870. Nach Lenin war der „zentralisierte Großstaat“ ein Fortschritt gegenüber „mittelalterlicher Zersplitterung“, da nur dieser es ermöglichte, die zukünftige „sozialistische Einheit der ganzen Welt“ herbeizuführen.871 Lenin verbindet hier die Forderung von Marx und Engels nach der Überwindung der ausschließlich monarchisch gepräg867
Kudrjawjew, Die Verfassung der UdSSR, Manifest des kommunistischen Aufbaus, dt. Übersetzung, S. 163. 868 Uibopuu, Art. 70, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 15. 869 Uibopuu, Art. 70, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Rn. 16. 870 Lenin, Werke, Band 25, 1960, S. 459. 871 Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Werke, Band 20, 1961, S. 31.
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ten Kleinstaaterei, wie sie im 19. Jahrhundert für Deutschland typisch war, mit der großrussischen Auffassung der Geschichtswissenschaft, Polykratie sei ganz grundsätzlich für Russland schädlich, da nur der Moskauer Einheitsstaat das Tatarenjoch habe überwinden können.872 Im Hinblick auf die angestrebte Nationalstaatsbildung in Mitteleuropa erkannte er außerdem eine Gefahr für die internationale Arbeiterbewegung. Auch wandte er sich mit der Ablehnung des Föderalismusprinzips gegen die russischen Anarchisten, die die Idee des Föderalismus als freien antiautoritären Zusammenschluss favorisierten.873 Die in der Sowjetlehre gängige Vorstellung, Dezentralisierung sei eine Idee des Feindes, der die Werktätigen schwächen wolle,874 entspricht der Argumentation eines national-christlichen Antikommunisten wie Ivan Ilin, der behauptet hatte, der Föderalismus würde als Idee der Deutschen verbreitet, um Russland zu schwächen.875 Lenin ändert diese Auffassung vor dem Hintergrund, dass die Weiße Bewegung in Bezug auf die Nationalitätenfrage konservativ denkt und die Formel vom „einen und unteilbaren Russland“ mit seiner zentralistischen Tradition zum Kernbestand ihrer Programmatik macht.876 Nur um die Weiße Bewegung in den nicht-russischen Völkern zu schwächen, erkennt Lenin das Recht der Völker auf Selbstbestimmung offiziell an, stellt es jedoch unter die „Bedingung der sozialistischen Gesellschaftsordnung“, wonach dies nicht zur Abtrennung der Nationen und zur „Schwächung der staatlichen Einheit“ führen darf.877 Eigene Rechte der einzelnen Regionen sind der Sicherung der staatlichen Einheit nachrangig. Insofern soll der „einheitliche Unionsstaat“ das Wesen der Föderation als „Entwicklungsetappe“878 wiedergeben. Föderalismus in Russland war allein eine Stufe auf dem Weg „zum zukünftigen sozialistischen Unitarismus“.879 Vor diesem Hintergrund proklamierte Lenin die von der provisorischen Sowjetregierung ausgearbeitete „Deklaration der Völker Russlands“ vom 2./15. 11. 1917 und damit die föderale Staatsform für den zukünftigen Staat.880 Gerechtfertigt wird dies mit der nationalistischen Propaganda von außen, und der „annexionistischen, brutalen Gewaltpolitik“ der bürgerlichen provisorischen Regierung, die die Völker Russlands unterdrückt hätte. Allein die vorrevolutionäre Unterdrückung sei ursächlich für eine der internationalen Vereinigung der Werktäti-
872
Vgl. Lenin, Werke, Band 25, 1960, S. 459 ff. Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 10 ff. 874 Becker u. a., Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 107. 875 Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band 2, S. 304 f. 876 Katzer, Die Weiße Bewegung in Russland, S. 399. 877 Lenin, Werke, Band 21, 1968, S. 421. 878 Kudrjawzew, Die Verfassung der UdSSR, Manifest des kommunistischen Aufbaus, dt. Übersetzung, S. 162. 879 Lenin, Werke, Band 31, S. 132 ff., Stalin, Werke, Band 4, 1951, S. 58 ff. 880 SU RFSFR, Nr. 2, 1917. 873
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gen im Wege stehenden Nationalisierung, weshalb nur eine Föderation die drohende Zersplitterung aufhalten könne.881 Die völlige Einheit als Ziel der Nationalitätenpolitik beinhaltet soziale Homogenität und die Gemeinsamkeit des Denkens.882 Danach war das Sowjetvolk Ausdruck einer erstarkten Einheit der Völker, das das Entstehen einer neuen historischen, sozialen und internationalen Gemeinschaft fördere. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Völkern hätten nach Lenin auf Klassenunterschiede hingedeutet, die zu bekämpfen waren. Föderalismus ist Mittel der allmählichen Klassenaussöhnung und nach der ab den 50er Jahren gültigen Überbau-Theorie Teil des Überbaus, der aktiv mithilft, eine neue sozialistische Basis auszubilden und alte Klassengegensätze zu liquidieren.883 Die UdSSR als föderalistischer Staat ist insofern nach der sowjetischen Staatstheorie Mittel und Träger der Einheit des multiethnischen Sowjetvolkes als Ausdruck der Einheit des siegreichen Proletariats. Umgekehrt kann Föderalismus keinesfalls eine selbständige Rechtsgarantie der Regionen bedeuten, sondern ist allein dialektisches Instrumentarium der Aufhebung von Gegensätzen. Hinter der widersprüchlichen Formel vom „einheitlichen“ Bundesstaat verbirgt sich ein Konzept, das das Bestehen von verschiedenen Nationen bei gleichzeitiger politischer, sozialer und wirtschaftlicher Einheitlichkeit miteinander vereinbaren möchte.884 So ist die Union Merkmal der „staatlichen Einheit“ der sowjetischen sozialistischen Nationen und der Brüderlichkeit der freien Völker.885 Das Fernziel Lenins blieben weiterhin die „Vereinigten Staaten der Welt“, der internationale sozialistischen Staatenbund als Vorstufe zur staatsfreien kommunistischen Weltgesellschaft.886 Nach Stalins Tod rückt dieses Ziel wieder stärker in den Mittelpunkt der offiziellen sowjetischen Nationalitätenpolitik. Im Parteiprogramm der KPdSU von 1961 wird von einer neuen Etappe durch die „weitere Annäherung der Nationen und die Erreichung der völligen Einheit“ gesprochen. Chrusˇcˇev spricht 1961 von der durch den Aufbau des Kommunismus verwirklichten völligen Einheit der Nationen, die sich im Parteiprogramm durch eine gemeinsame „internationale Kultur“ und dem völligen Verschwinden nationaler Unterschiede auszeichnete.887 Entscheidend ist, dass es in der Verfassung von 1977 bei dem stark zentralistischhierarchischen Staats- und Parteiaufbau bleibt, der jede Form von Mitspracherechten 881 Tschikwadse u. a., Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, dt. Übersetzung, Band 3, S. 176. 882 Kudrjawjew, Die Verfassung der UdSSR, Manifest des kommunistischen Aufbaus, dt. Übersetzung, S. 162. 883 Vgl. v. Beyme, Der Föderalismus in der Sowjetunion, S. 14. 884 Lenin, Werke, Band 31, S. 135. 885 Kudrjawzew, Verfassung der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 163. 886 Lenin, Vereinigte Staaten von Europa, in: Werke, Band 21, 1960, S. 342 ff. 887 Zitiert nach Meissner, Entstehung und ideologische Grundlagen des Bundesstaates, in: Meissner, Volk, Staat und Nation in der Sowjetunion, S. 206 f.
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in den Republiken und Verwaltungseinheiten der Sowjetunion ausschließt. Während Marx und Engels vom föderalen Modell als „Übergangsetappe“ zum Einheitsstaat“888 sprachen, dabei aber eine freie selbstbestimmte Gesellschaft vor Augen hatten, da der Einheitsstaat für sie Freiheit und Gleichheit durch die Überwindung der Macht der deutschen Fürsten implizierte, nutzte der Marxismus-Leninismus die Einstufung des Föderalismus als bloße „Übergangsetappe“ um den autokratischen Zentralstaat zu legitimieren und die Diversität der Völker im Land zu bloßer Folklore herunterzuspielen. Föderalismus war hier nicht Ausdruck der Freiheit in einer von unten konstituierten staatlichen Einheit, sondern politisches Mittel, um staatliche Einheit von oben zu sichern. Wie schon für den Zaren mit Art. 1 der Verfassung von 1906 ist die Rezeption der Idee der einen und unteilbaren Republik bei Lenin Legitimation der zentralistischen Herrschaft und nicht Ausdruck von Freiheit und Gleichheit wie ursprünglich in Frankreich und Deutschland gedacht.
bb) Die staatliche Einheit des Sowjetvolkes Nach Art. 70 II der Verfassung von 1977 „verkörpert“ die UdSSR „die staatliche Einheit des Sowjetvolkes; sie schließt alle Nationen und Völkerschaften zum gemeinsamen Aufbau des Kommunismus zusammen.“ Um den universalistischen Charakter in der Sowjetunion zu betonen und um gleichzeitig den Vielvölkerstaat unter einheitlicher russischen Führung zu legitimieren, bezieht sich die Verfassung von 1977 in Art. 70 II auf die internationale Aufgabe. Der Absatz drückt neben Gleichberechtigung und Freiwilligkeit das dritte Prinzip der sowjetischen nationalstaatlichen Ordnung aus: den proletarischen Internationalismus, der mit den zwei anderen zusammen nach der sowjetischen Lehre eine „dialektische Einheit“ bildet.889 Nach der sowjetischen Lehre steht der sowjetische Nationalstaat damit für die Heranziehung weiterer Massen aus den verschiedenen Nationalitäten der Sowjetunion zum staatlichen Aufbau und der direkten Teilnahme an der öffentlichen Verwaltung.890 Man will so an Lenins Vorstellungen von der Kleinbürgerlichkeit des rein nationalen Staates anschließen891 und sieht im multinationalen sowjetischen Staat die Losung von der internationalen Einheit des Proletariats verwirklicht. Aus dem Wortlaut ergibt sich, dass staatliche Einheit hier als Gesamtheit der Völker und Nationen auf dem Territorium der UdSSR verstanden wird, die ausdrücklich der Aufbau des Kommunismus als Ziel eint. In dem unter der Redaktion von S. S. Krawtschuk entstandenen Lehrbuch zum sowjetischen Staatsrecht heißt es über den proletarischen Internationalismus als Aufbauprinzip der Sowjetunion: „Der sozialistische Charakter der sowjetischen Einheit bedingt die Einheit ihrer Ziele und Aufgaben, die Einheit des gesamtstaatlichen Willens der einzelnen Völker. 888 889 890 891
Marx/Engels, Werke, Band 22, 1963, S. 235 f. Vgl. Krawtschuk (Hrsg.), Staatsrecht der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 124. Lepeskin, Sovetskij federalizm, S. 188. Lepeskin, Sovetskij federalizm, S. 185.
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In dieser Einheit liegt die Quelle für die harmonische Verbindung der Souveränität der UdSSR und der Unionsrepubliken.892 Vielmehr sollte die Bezugnahme auf die „Nationen und Völkerschaften“ in der UdSSR nach Art. 70 II als Ausdruck der Verbindung von Nationalismus und Internationalismus in der UdSSR die Werte Patriotismus und Internationalismus miteinander vereinen. Indem die sowjetische Führung das Volk nicht als eine Nation, sondern als staatliche Einheit beschrieb, konnte sie deutlich machen, dass die über Landesgrenzen hinweg reichende Vereinigung des Proletariats nach Marx in der UdSSR bereits verwirklicht ist. Gleichzeitig blieb die Bildung einer „neuen sozialen und internationalen Gemeinschaft“ weiterhin Hauptziel, das eine zentralistische, über nationale Interessen hinweggehende Politik erfordere. Die Einheit der Massen war hier nicht mehr Bedingung für den Kampf gegen den Klassenfeind, sondern Bedingung für das Bestehen des sowjetischen Staates, der wiederum die Grundlage für die universale kommunistische Einheit darstellt. Damit steht die Verfassung von 1977 für ein Gesamtkonzept des Staates Sowjetunion als Entwicklungsetappe, in dem durch die Prinzipien Gewalteneinheit und demokratischer Zentralismus eine „Einheit“ im Sinne einer Unterordnung des Einzelnen unter die Sache garantiert wird, die der Leitung die Errichtung einer sittlich höheren Form von Einheit ermöglicht.
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Krawtschuk (Hrsg.), Staatsrecht der UdSSR, dt. Übersetzung, S. 121.
C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der gegenwärtigen Diskussion I. Die „Einheit des Staates“ als politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ Die „Einheit des Staates“ (edinstvo gosudarstva) ist wesentliche Thematik des politischen Diskurses in der Regierungszeit von Präsident Vladimir Putin (2000 – 2008). Auch der Name der ihn unterstützenden1 Partei verweist auf „Einheitlichkeit“: Wie die Weiße Bewegung im Kampf gegen den bolschewistischen Staat nennt sich die im Jahr 2000 gegründete Partei „Edinaja Rossija“ (Einheitliches Russland). Auch die Jugendorganisation der Partei will für Einheit stehen: Sie nennt sich zunächst „Molodozˇnoe edinstvo“ (Jugendliche Einheit), wird dann in „Molodaja Gvardija Edinoj Rossii“ (Junge Garde des einigen Russlands) umbenannt, bevor beide durch die Jugendorganisation „gemeinsamer Weg“ (idusˇcˇie vmeste) und ab 2005 durch die Gruppe „Nasˇi“ (die Unsrigen) ersetzt werden.2 Während die Partei die Losung „Edinaja Rossija – silnaja Rossija“ (Ein einheitliches Russland ist ein starkes Russland) benutzt, weist auch Putin selbst immer wieder auf die Notwendigkeit und die Bedeutung der Einheit des Staates hin.3 Die Analyse zeigt, dass die Begriffe „Einheit“ und „Staat“ bei Putin konzeptionell eng verbunden sind. Die Verbindung der beiden Begriffe dient als wesentliche Grundlage für Putins Staatsverständnis. Er liefert selbst keine eindeutige Definition des Begriffs „staatliche Einheit“ und formuliert eine Staatstheorie nicht ausdrücklich. Vielmehr gruppiert er um den Begriff „Einheit“ in unterschiedlichsten Zusammenhängen eine Reihe von Werten, die über den Inhalt Aufschluss geben.4 Dabei überlässt er es weitestgehend dem Adressaten, aus den verschiedenen Ansätzen ein Gesamtbild zusammenzustellen. Ähnlich wie die Debatte um staatliche Einheit in der Weimarer Re1
Vgl. zahlreiche entsprechende Ausführungen auf der Internetseite der Partei: www.edinros.ru. 2 Schmid, Nasˇi – Die Jugendorganisation, in: Osteuropa 5/2006, S. 7. 3 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij, in: Nezavisimaja gazeta, 30. 12. 1999, http://www. ng.ru/politics/1999-12-30/4_millenium.html, Rede an die Mitglieder der Regierung und die Chefs der Regionen vom 13. 9. 2004, http://www.kremlin.ru/text/appears/2004/09/76651. shtml, Rede zum Tag der nationalen Einheit 2006, Rede zum Tag der nationalen Einheit 2005, Ansprachen an die Föderalversammlung in den Jahren 2000, 2002, 2003, 2004, 2005, 2006 alle auf www.kremlin.ru. 4 Wie z. B. die Partei-Losung „ein einheitliches Russland ist ein starkes Russland“.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
publik sowie in Frankreich und England in dieser Zeit5 ist die Verwendung der Terminologie „Einheit des Staates“ in der gegenwärtigen Diskussion in Russland mit dem Souveränitätsbegriff (suverenitet) verbunden. In der russischen Debatte impliziert dieser die (territoriale) Ganzheit, die Einheit und die Selbständigkeit des Staates.6 Aus der Gesamtschau wird deutlich, dass es Putin darum geht, die territoriale Ganzheit des Staates gegenüber der Bedrohung von außen und vor allem gegenüber der Gefahr des inneren Auseinanderfalls zu sichern. Die Ausgangssituation enthält für die Regierung Putins eine Anzahl von zu bewältigenden Problemen: das Chaos in der Wirtschaft, die Durchsetzung von Recht gegenüber mafiösen Strukturen sowie der Bedeutungsverlust Russlands durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Hinzu kommt eine allgemeine Orientierungslosigkeit, die durch den Verlust der gemeinsamen Staatsideologie ausgelöst wurde. Die Analyse zeigt, dass er den „einheitlichen“ Staat als wesentliche Bedingung für die effektive Bewältigung dieser Aufgaben sieht und der Begriff gleichzeitig den Zielzustand seiner Politik umschreibt.
1. Der gedankliche Ausgangspunkt Vor allem zu Beginn seiner Amtszeit als russischer Staatspräsident lassen Vladimir Putins Äußerungen nicht auf ein in sich stimmiges Weltbild schließen.7 Daher ist auch die Analyse des Begriffs „staatliche Einheit“ problematisch. Aufgrund seines plötzlichen Erscheinens auf der politischen Agenda Russlands als Jelzins Premierminister im Jahr 1999 ist der schon kurz darauf gewählte Präsident ein unbeschriebenes Blatt. Putin tut jedenfalls zu Beginn seiner Amtszeit wenig, dieses Bild inhaltlich auszugestalten. Vom jeweiligen Adressaten abhängig, tritt er als Antikommunist, Liberaler, gläubiger orthodoxer Christ, Slawophiler, überzeugter Demokrat oder Veteran auf. Innenpolitisch spricht er vom starken Staat, den er mit dem „effektiven Staat“8 gleichsetzt. Darunter versteht er den demokratischen Staat, der Bürgerrechte garantiert.9 Dieses Wechselspiel zeigt sich auch in der Außenpolitik, wenn Putin einerseits seine Freundschaft zum Westen betont, um im nächsten Moment einen neuen Kalten Krieg heraufzubeschwören.10 Wenn Putins politischer Diskurs auch weiterhin verwir5
Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 16. Cˇadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 35. 7 Vgl. Mommsen/Nußberger, Das System Putin, S. 24. 8 Vgl. dazu „Effektivität“ als zentraler Begriff der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtslehre. Hier richtet sie die Effektivität nach den Erfolgen von Recht und Staat als Mittel zur Umsetzung der richtigen Gesellschaftsform. So beinhaltete die Effektivität im Recht, das „Verhältnis zwischen dem faktisch erreichten, tatsächlichen Ergebnis ihres Wirkens und des sozialen Ziels, zu dessen Erreichung diese Norm gesetzt wurde“. (Lukaschewa [verantwrtl. Red.], Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band IV, S. 190). 9 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 8. 7. 2000, http://www.kremlin.ru/text/ap pears/2000/07/28782.shtml. 10 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 10. 5. 2006, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2006/05/105546.shtml. 6
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 201
rend wirkt, so kann man heute wenigstens im Hinblick auf das Staatskonzept ein klares Grundkonzept erkennen. Zum Verständnis seiner Staatsvorstellungen hat weniger er selbst, als vielmehr der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration und Hauptstratege Putins, Vladislav Surkov,11 beigetragen. Er artikuliert ungefähr seit dem Jahr 2005 eine weitgehend kongruente Staatsvorstellung. Surkov fungiert dabei nicht offiziell als Sprecher des Präsidenten. Zudem wird nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Präsident Putin die Meinungen Surkovs teilt. Eindeutige Anhaltspunkte lassen allerdings keinen Zweifel daran, dass Surkovs Konzepte dem Präsidenten zuzurechnen sind:12 Putin hat Surkov hinsichtlich seiner Staatsvorstellungen offiziell nicht widersprochen. Des Weiteren tauchten alle wesentlichen Versatzstücke des Surkovschen Gesamtsystems – wenn auch in abgeschwächter Form – in Putins offiziellen Äußerungen auf. Surkovs Texte finden sich letztlich in den Informationsschriften der Partei „Edinaja Rossija“ und der Jugendorganisation „Nasˇi“.13 Es ist insofern davon auszugehen, dass mit der zunehmenden Konsolidierung des Putinschen Systems zunächst aus der Entourage des Präsidenten eine übereinstimmende „Ideologie“ heraus gemeißelt und verbreitet wurde. In diesem Sinne hat der kremlnahe Evropa-Verlag14 im Jahr 2006 die Schriften „Putin – Seine Ideologie“15 und „Suverenitet“16 herausgegeben, 11 Auf der Internetseite des Kremls heißt es, Surkov leiste dem Präsidenten „analytische Unterstützung in Bereichen der inneren Politik, in föderalen und interethnischen Fragen“ http:// www.kremlin.ru/state_subj/27815.shtml. Tatsächlich stammen wesentliche programmatische Texte auf den Internetseiten von „Einheitliches Russland“ und „Nasˇi“ von Surkov (www. edinros.ru, http://www.nashi.su). 12 So auch Schulze, Souveräne Demokratie: Kampfbegriff oder Hilfskonstruktion, in: Buhbe/Gorzka (Hrsg.), Russland heute, S. 293. 13 Internetseiten der Partei „Einheitliches Russland“ sowie von Nasˇi: www.edinros.ru, www.nashi.su. 14 Verlag Evropa, www.europublish.ru, der erst im Jahr 2005 gegründete Evropa-Verlag betont auf der Internetseite des Verlags seine politische Unabhängigkeit. Am Verlag beteiligt ist die Zeitschrift „Ekspert“, die Internetplattform des ehemaligen Präsidentenberaters Gleb Pawlowski, www.russ.ru sowie die Agentur REGNUM. 15 ˇ Cadaev, Putin. Ego Ideologija, Moskau 2006. Der Autor ist Mitglied der russischen Gesellschaftskammer. Als solches tritt er im politischen Leben wie u. a. auf der Parteiveranstaltungen der Partei „Edinaja Rossija“ auf (http://www.edinros.ru). Die Darstellung von Putins politischen Vorstellungen wird mit Auszügen aus den Ansprachen an die Föderalversammlung unterlegt. Die Analyse legt insgesamt nahe, dass Putins Anschauungen und Zielvorstellungen angesichts der schwierigen politischen Lage zu Putins Amtsantritt die einzig denkbare Alternative darstellen. Das Buch wurde von Surkov hoch gelobt (http://www.kommersant.com/ p667068/United_Russia_to_Have_Communist_Package). 16 Gardzˇka (Hrsg.), Suverenitet, Moskau 2006. Das Werk beinhaltet eine Zusammenstellung von aktuellen russischen Texten über die Souveränität. Es beginnt mit einer Zusammenstellung von Putins eigenen Aussagen zur Souveränität, gefolgt von Surkovs vielzitiertem Artikel „Suverenitet – eto politicˇeskij sinonim konkurentosposobnosti“ und anderen Aufsätzen von Politikern und namenhaften Publizisten. In der verlagseigenen Buchschreibung heißt es, die Autoren eine das Bewusstsein um eine notwendige aktive Stärkung der nationalen Souveränität Russlands gegenüber den USA und gegenüber Europa. Den Abschluss bildet ein Aufsatz des
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
die die schemenhaften Ansatzpunkte der staatstheoretischen Vorstellungen Putins zu einem übereinstimmenden Gesamtbild verdichten. Wenn die Putinschen Vorstellungen über Staat und Gesellschaft mit Hilfe der oben genannten Äußerungen und Veröffentlichungen auch klarer werden, so bleibt Putins Sprache selbst weiterhin widersprüchlich und vielfältig interpretierbar. Aufgrund der von Putin empfundenen Alternativlosigkeit der politischen Handlungsmöglichkeiten kommt es jedoch nicht darauf an, ein übereinstimmendes Konzept vorzulegen, das vom Volk evaluiert und mit anderen Ideen verglichen werden könnte. Da es nach Putin nur seinen Weg gibt, ist es weniger wichtig, den Weg zu analysieren, als sich der einmaligen Ausgangslage und des Ziels bewusst zu sein, die besondere Maßnahmen rechtfertigen. Aus dem politischen Diskurs wird deutlich, dass Putins Staatsvorstellungen auf zwei Kernthesen beruhen: Es existiert erstens ein besonderes, vom Schicksal geformtes russisches Wesen, das sich ganz unabhängig von der Staatsform von anderen Kulturen und Ideen unterscheidet. Die zweite These beinhaltet die Vorstellung, dass dieses besondere russische Wesen durch Feinde von innen und außen bedroht wird und deshalb geschützt werden müsse. Schutz für das Russische bietet allein die Einheit im Staat. a) Die russische Idee: historisch gewachsene geistige Einheit In Bezug auf den besonders schützenswerten russischen Kulturraum greift Putin die sog. Russische Idee (russkaja ideja) auf. Das vor allem von Andrej Berdjaev genutzte Schlagwort der Russischen Idee beinhaltet die Vorstellung von Russland als einem Raum, der sich durch die „russische Seele“ und ein besonderes Schicksal vom Rest der Welt unterscheidet. So dient die Russländische Idee heute allgemein als Begründung der Andersartigkeit der russischen politischen Gegebenheiten (sobstvennaja model – eigenes Modell).17 Die Russische Idee dient dabei als Beweis für eine vom Staat unabhängige, bereits vorhandene soziale Einheit. Insofern ist diese Vorstellung auch bei Putin weniger etwas, worauf sich Menschen aus eigenem Willen, gar durch einen Verfassungsvertrag einigen. Vielmehr ist sie historisch-philosophische Faktizität. Die Zugehörigkeit zum Russischen sei etwas Vorherbestimmtes. Die besondere Wesensart der Russen habe sich über die Jahrhunderte herausgebildet. Die dementsprechend historisch gewachsenen Werte vereinigen die Russen zu einem Volk.18 In diesem Sinne sieht Putin Russland als „Schicksal“ und die vorangegangene Geschichte als Ausdruck desselben.19 französischen Restaurations-Politikers FranÅois Guizots (1787 – 1874) über die nationale Souveränität. 17 Zu diesem Begriff als Teil der Putinschen Ideologie: Cˇadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 59. 18 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 8. 7. 2000, http://www.kremlin.ru/text/ap pears/2000/07/28782.shtml. 19 Putin, Rede zum Tag der nationalen Einheit 2006, http://archive.kremlin.ru/text/appears/ 2006/11/113418.shtml.
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 203
Als Putin sich im Jahr 1999 erstmals auf die russische Idee beruft, ist diese bereits populärer Teil der historisch-politischen Debatte.20 Damals hatte die russische Gesellschaft in ihrer Suche nach Antworten auf gesellschaftspolitischen Fragen bereits vorrevolutionäre russische Denker wie Vladimir Solovev, Ivan Ilin und Nikolaj Berdjaev und ihre Reflexionen über den Charakter und die Besonderheiten Russlands wiederentdeckt. Es ging darum – wie bereits im 19. Jahrhundert – durch bewusste Gegenüberstellung zum Westen, Antworten auf die Frage nach der neuen Rolle Russlands zu finden. Vladislav Surkov stellt in diesem Sinne fest, dass die gegenwärtige russische politische Kultur sich aus Werten speise, die nicht auf die deutschen Philosophen Hegel und Marx, sondern allein auf das russische Denken zurückzuführen seien.21 So könne Russland nur groß und mächtig werden, wenn es sich in der politischen Entscheidungsfindung an den traditionellen russischen Modellen orientiere.22 Putin wählt die Rückbesinnung auf das russische Modell, weil er nach eigener Aussage davon ausgeht, dass die Menschen in Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts „einen neuen radikalen Umbruch nicht überstehen“ würden. Wichtig sei gleichermaßen die Erkenntnis, dass der Blick nach außen und in „ausländische Lehrbücher“ Russland nicht geholfen habe.23 Obwohl die Russische Idee in unterschiedlichen Varianten auftritt, ist hier allein das Verständnis Putins sowie seiner Administration zu erörtern. Zunächst einmal distanziert sich Putin von der Russischen Idee als Vorstellung einer besonderen nationalrussischen Volksgruppe. Wenn er auch an die vorrevolutionäre Vorstellung von der Russischen Idee anknüpft, weitet er diesen Gedanken auf das gesamte Staatsvolk der Russischen Föderation aus, er soll für alle Volksgruppen der RF gleichermaßen gelten. In diesem Sinn spricht er selbst von der „Russländischen Idee“ (rossijskaja ideja).24 Diese ist für ihn Ausdruck der „organischen Vereinigung“ von universellen und traditionellen russischen Werten. Die Russländische Idee wird von Putin als gemeinsame Werteordnung des russländischen Staatsvolkes jeder Form von Extremismus und Radikalismus entgegengestellt.25 In seiner ersten Ansprache an die Föderalversammlung im Jahr 2000 spricht Putin davon, dass die geistige „Einheit Russlands“ auf Patriotismus, dem gemeinsamen historischem Erbe und den kulturellen Traditionen aufbaut.26 „Traditionelle russländische Werte“ sieht Putin daneben in der derzˇavnost (besondere russische Form der staatlichen Macht), der gosudarstvennicˇestvo
20
Zur Russischen Idee ausführlich Sieber, „Russische Idee“ und Identität, Bochum 1998. Surkov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 46. 22 Surkov, Russkaja politicˇeskaja kultura (Russische politische Kultur), http://www.kreml. org/opinions/152681586. 23 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij, in: Nezavisimaja gazeta, 30. 12. 1999. 24 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 25 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 26 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung, 8. 7. 2000, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2000/07/28782.shtml. 21
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
(besondere Staatlichkeit) und Solidarität.27 Außerdem hebt er die besondere „Mittlerrolle“ des Russischen als Brücke zwischen Europa und Asien sowie die für Russland typische Nähe von Recht und Moral hervor.28 Diese Aspekte bedeuteten eine bereits gegebene Gemeinsamkeit, die das Volk zu einer Einheit geformt habe. aa) Patriotismus Zur Russischen Idee zählt Putin den besonderen Patriotismus. Darunter versteht er nicht nur ein von den Russen gespürtes „Gefühl des Stolzes auf das Vaterland“, sondern Loyalität und Bindung an das eigene Land mit dem Wunsch, dieses „besser, reicher, fester und glücklicher zu machen.“ Der Patriotismus sei „Quelle des Erfolgs und der Entwicklung“, indem er das Schicksal des Einzelnen mit dem Schicksal des ganzen Landes verknüpfe, so Putin.29 Ein Bruch mit der Geschichte bzw. eine kritische Würdigung staatlicher Verbrechen in der sowjetischen Zeit wird dabei nur sehr begrenzt vorgenommen.30 Die russische Geschichte wird hingegen als ewiger Kampf gegen das Böse dargestellt. Zwar habe das Böse phasenweise die Überhand gewonnen, insgesamt habe dieser Kampf die Welt aber besser gemacht.31 Eine besondere Rolle wird diesbezüglich dem sowjetischen Sieg über das faschistische Deutschland 1945 zugedacht.32 Hier wird der Moment des nationalen Triumphes zur Grundlage für die gemeinsame Identität. Der Sieg über den Faschismus dient gleichzeitig auch dazu, den russischen Patriotismus vom negativ belegten Chauvinismus und von imperialen Ambitionen abzugrenzen, wie sie den Faschismus gekennzeichnet hätten.33 Dabei wird deutlich, dass Patriotismus nach dem Putinschen Verständnis eng mit dem Glauben an das Gute zusammenhängt. Das Gute steht gleichbedeutend mit dem Russischen, das vom Unrussischen angegriffen werde. Obwohl Putin die Höherrangigkeit des Russischen gegenüber anderen Völkern verneint, hebt er im politischen Diskurs den Sieg Minins und Pozˇarskijs 1612 über die Polen als Beispiel des nationalen Erfolgs hervor. Dieses Ereignis steht im Bewusstsein der russisch-orthodoxen Kirche über die Jahrhunderte als Symbol für den Sieg des Russisch-Orthodoxen über den katholischen Glauben.34
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Vgl. die ausdrückliche Erwähnung dieser drei Werte als Bestandteil der russischen Idee: Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij, in: Nezavisimaja gazeta, 30. 12. 1999. 28 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2005/04/87049.shtml. 29 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 30 Vgl. Scherrer, Russlands neue-alte Erinnerungsorte, in: APuZ 11/2006, S. 25. 31 Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 32 Tretjakov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 85, Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“ sowie Surkov, Suverenitet – eto politicˇeskij sinonim konkurentosposobnosti. 33 Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 34 Aleksij II., Ansprache zum Tag der nationalen Einheit 2005, http://www.mospat.ru/ index.php?page=28236.
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 205
bb) Derzˇavnost Ein weiterer russländischer Wert ist für Putin die „derzˇavnost“. Dahinter verbirgt sich ein komplexes und scheinbar widersprüchliches Konzept. Während der Begriff neutral mit „Macht“ und „Staat“ übersetzt werden kann, beinhaltet er nach Stoliarov „Patriotismus, Anerkennung traditioneller Werte und Vaterlandsliebe, gleichzeitig aber auch Autoritarismus, Diktatur und Ablehnung von Bürgerrechten, besonders in Bezug auf Demokratie und Föderalismus.“35 Putin spricht im Zusammenhang mit derzˇavnost von der geopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung der Russischen Föderation. Es geht ihm dabei um eine starke Positionierung seines Landes und die Durchsetzung nationaler Interessen in der internationalen Politik. Derzˇavnost bedeutet für Putin, dass die Russische Föderation immer ein ruhmreiches Land (velikaja strana) war und bleibt.36 cc) Gosudarstvennicˇestvo Gosudarstvennicˇestvo ist für Putin Ausdruck eines besonderen Verhältnisses der Bürger zum Staat. So konstatiert er in der russländischen Gesellschaft eine starke Tendenz zum Paternalismus.37 Dies macht er bereits in seiner Antrittsrede vom 31. 12. 1999 deutlich. Dort stellte er Russland den Westen mit seiner Tradition der liberalen Werte gegenüber. Für die Russen spiele der Staat eine deutlich entscheidendere Rolle. Der starke Staat (krepkoe gosudarstvo) sei „Quelle und Garant der Ordnung, Initiator und Haupttriebkraft“.38 Wie bereits in der vorrevolutionären russischen Staatsphilosophie diene der Staat als Mittel zum gesellschaftlichen Fortschritt. Dadurch werde dem Bürger das politische Geschäft abgenommen. Der mittlerweile offen nationalkonservative Schriftsteller Soltsˇenicyn sagt in diesem Zusammenhang, dass Staat und Staatssystem für den Russen nicht das Wichtigste seien. Eine starke zentralisierte Macht nehme ihm die Politik ab, damit sich der Russe dem Geistigen widmen könne, wo seine Stärke und seine Schaffenskraft begründet liegen.39 Gleichzeitig macht Putin deutlich, dass gosudarstvennicˇestvo für ihn keineswegs Totalitarismus bedeute: Ein starker und effektiver Staat sei nicht mit einem totalitären Staat zu vereinbaren und damit kein Widerspruch zu den in Russland bejahten Werten Demokratie, Rechtsstaat sowie den bürgerlichen und politischen Freiheiten. Die Gesellschaft wünsche vielmehr die „Wiederherstellung der lenkenden und regulierenden Rolle des Staates“, da wo es nötig sei.40 Die Abgrenzung zum Totalitarismus kann dabei nicht anders als in marxistisch-leninistischer Tradition gelesen werden. Die marxis35 Stoliarov, Federalism i Derzˇavnost Moskau 2001, hier zitiert nach der engl. Ausgabe, Federalism and the Dictatorship of Power, S. 7. 36 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 37 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 38 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 39 Solzˇenicyn, Kak nam obustroit Rossiju? in: Literaturnaja gazeta, Nr. 38, 1990, S. 3. 40 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
tisch-leninistische Lehre brandmarkte die westliche Totalitarismus-Theorie41 allein als Diffamierungsversuch durch die bürgerliche Doktrin.42 Dabei blieb die Kritik am Begriff politisch. Einer inhaltlichen Auseinandersetzung musste sich die marxistisch-leninistische Wissenschaft aus politischen Gründen verweigern. Es wurden weder die unterschiedlichen Ansätze der Theorie43 gewürdigt noch rein wissenschaftlich widerlegt. Entgegen der westlichen These waren sie der Ansicht, dass der Kommunismus vollkommen unvereinbar mit dem Faschismus sei. Schließlich habe das faschistische Deutschland die kommunistische Sowjetunion angegriffen und dort großes Leid verursacht. Dementsprechend zogen sie den Schluss, dass Gegner der Diktatur zwangsläufig Demokraten sein müssten.44 Die Begriffsdebatte blieb auf kommunistischer Seite bei einer Auseinandersetzung um die politische Richtigkeit des Systems: Kommunistische Staaten können nicht totalitär sein, da nur der Kommunismus wahre Freiheit und Demokratie verwirkliche. Immer stärker wurde die „Totalitarismus-Doktrin“ von der marxistisch-leninistischen Propaganda dazu benutzt, ganz allgemein Kritik am eigenen System zu diskreditieren.45 Der Totalitarismus-Begriff wurde Ausdruck einer Gut-Böse-Beziehung im bürgerlichen Bewusstsein. Die westliche Totalitarismus-Theorie könne demnach nur eine Lüge sein, die darauf abziele, den Kommunismus zu verleumden.46
41 Die Totalitarismuskonzeption entfaltete sich in den 20er Jahren durch den Vergleich des Bolschewismus und des italienischen Faschismus mit der Demokratie. Zentral wurde sie nach 1945, als u. a. Carl Joachim Friedrich und Hannah Arendt im Faschismus wie im Kommunismus ein gemeinsames Wesen erkannten: eine einheitliche Ideologie bis hinein in alle sozialen Ebenen durchzusetzen und Gegner der eigenen Ideologie zu vernichten. Der klassifikatorische Sechspunktekatalog von Friedrich und Zbigniew Brzezinski (Ideologie, terroristische Geheimpolizei, Nachrichtenmonopol, Waffenmonopol, zentral gelenkte Wirtschaft) diente in der Folgezeit als wissenschaftlicher Ausgangspunkt und wurde dabei zahlreich modifiziert, bis der Totalitarismus-Theorie in den 70er Jahren im Rahmen der Entspannungspolitik vorübergehend nur Randbedeutung zukam. Als Gegenmodell zum demokratischen Rechtsstaat dient die Totalitarismus-Theorie noch heute dazu, politische Systeme zu klassifizieren (Jesse, in: Jesse [Hrsg.], Totalitarismus im 20. Jahrhundert, S. 23 ff.). 42 Stellvertretend für die marxistisch-leninistische Theorie dient hier Lozek, Genesis, Wandlung und Wirksamkeit der imperialistischen Totalitarismus-Doktrin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 14 (1966), S. 525. 43 Vgl. zu den unterschiedlichen Ansätzen und der massiven westlichen Kritik an der Totalitarismus-Theorie zusammenfassend Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. 44 Zitiert nach Jesse, Die „Totalitarismus-Doktrin“ aus DDR-Sicht, in: Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, S. 475. 45 Jesse, Die „Totalitarismus-Doktrin“ aus DDR-Sicht, in: Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, S. 466. 46 Gottschling, Verkehrung der Demokratie- und Diktatur-Problematik, in: Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, S. 450 f.
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dd) Solidarität Darüber hinaus bezeichnet Putin die soziale Solidarität als einen Eckpunkt der Russländischen Idee.47 In deutlicher Kontinuität zu den Slawophilen und den frühen Vertretern der Russischen Idee ist es für ihn ein „Fakt“, dass kollektive Lebensformen in Russland gegenüber individualistischen Tendenzen immer überwogen hätten. Das einzigartige harmonische Zusammenleben in Russland wird als etwas besonders Russisches und weltweit Vorbildhaftes dargestellt. Vladislav Surkov weist darauf hin, dass die harmonische soziale Form des Zusammenlebens in der Sowjetunion mit ihren moralischen und ideologischen Grundlagen auch westliche Intellektuelle weithin beeindruckt und beeinflusst habe, derartige gemeinschaftliche Lebensformen im Rahmen von Kommunen im Westen nachzuahmen.48 Als am 4. 11. 2005 in der RF zum ersten Mal der Tag der nationalen Einheit (den narodnogo edinstvo)49 als Staatsfeiertag zelebriert wird, macht Vladimir Putin darauf aufmerksam, dass sich die Einheit des Volkes in der typischen russischen Eigenschaft der Solidarität äußere. Der Gedanke der Solidarität habe tiefe geistige und historische Wurzeln in Russland. In diesem Zusammenhang spricht er von der besonderen russischen Charaktereigenschaft des Zusammenhalts und des Gemeinschaftssinns. Die Wendung „alle für einen“ bringe die besonderen russischen Qualitäten am Besten zum Ausdruck. Zur Geltung komme dies auch im russischen Mäzenatentum.50 ee) Der einende Charakter der russischen Vielvölkeridee Die russische Solidarität steht mit dem einenden Charakter des russischen Volkes im Einklang. Ähnlich wie Dostoevskij51 geht Putin heute wieder davon aus, dass das Russische eine besondere einende Kraft ausmache, die verschiedenen Kulturen in sich aufnehmen könne und ihnen ein friedliches Zusammenleben möglich 47 So z. B. in der Rede zum Tag der nationalen Einheit 2006: Hier spricht Putin von den jahrhundertealten russischen Werten Patriotismus, Harmonie und Einheit, auf: http:// www.kremlin.ru. 48 Surkov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 47. 49 Durch eine Änderung von Art. 112 des Arbeitsgesetzbuches der RF wurde der Tag der nationalen Einheit als Staatsfeiertag eingeführt (Föderales Gesetz Nr. 201 vom 29. 12. 2004). Gefeiert wird er am 4. 11. und steht damit dem bis 1991 am 7. 11. gefeierten Tag der Oktoberrevolution zeitlich nah. Mit der gleichen Änderung wurde der Tag der Verfassung (12. 12.) abgeschafft. 50 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 51 Mit überwältigendem Erfolg hatte Dostojewskij Puschkin 1880 als einen Dichter gelobt, der anders als westliche Dichter in der Lage sei, die Seele und den Geist fremder Völker zu beschreiben. Dabei zeige sich in Puschkin die Fähigkeit des russischen Volkes, Freund aller Menschen zu sein („Allmensch“). Dostojewskij spricht dem russischen Volk die Fähigkeit zu, als Verkörperung der universalen Einheitsidee die europäischen Widersprüche zu versöhnen und der europäischen Sehnsucht nach der allvereinenden Seele den Ausweg zu zeigen. Mittel dazu sei nicht das Schwert, sondern die brüderliche Liebe und das Streben nach der Wiedervereinigung aller Menschen (Rede über Puschkin am 8. 6. 1880, S. 30 ff.).
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mache.52 Das Land habe sich historisch aus vielen verschiedenen Völkern und Kulturen geformt. Dadurch trage es die Idee der Vielfalt in sich, mit der eine gemeinsame Welt für verschiedene Nationalitäten möglich sei.53 Aus den verschiedenen Kulturen und ihren Weltanschauungen wird zugleich eine erweiterte Weltsicht hergeleitet. Deshalb sei das russische Volk aufgrund seiner Mittlerrolle zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen nach Westen und Osten besonders privilegiert.54 Das friedliche Zusammenleben stelle insofern ein Gewinn für alle Beteiligten dar. Ohne diesen russischen Geist des friedlichen Zusammenlebens gewänne der nationale Egoismus Überhand, was zu einer Schwächung Russlands führen würde.55 Die besondere Mittlerrolle schreibt Putin, wie zuvor auch Solovev oder Stalin, der russischen Sprache zu. Durch sie könnten die verschiedenen Völker des Russischen Reiches, der Sowjetunion und der heutigen RF miteinander kommunizieren. Aufgrund dieses Charakters sei die russische Sprache immer eine Sprache der Völkerfreundschaft und nie ein Instrument der Xenophobie und des Nationalismus gewesen.56 Putin stellt dabei bewusst Russland als Vielvölkerstaat „Nationalstaaten“ wie Estland und der Ukraine gegenüber. Das Streben dieser Staaten nach „nationaler Reinheit“ führe zur Unterdrückung ethnischer Minderheiten und zwinge zur Assimilierung. Die Regierungen würden dort die russische Sprache in öffentlichen Einrichtungen
52 Putin bezieht sich auf die Puschkin-Rede, als er zum 50. Jahrestag des Abschlusses der Römischen Verträge der Europäischen Gemeinschaft darauf hinweist, Europa sei ohne Russland undenkbar. Russlands historische Aufgabe sei es, die europäischen Gegensätze zu versöhnen, ohne Russland sei wahre Einheit in Europa nicht möglich (Putin nutzt folgendes Dostojevskij-Zitat „Ein richtiger Russe zu werden, soll ebendies bedeuten: bestrebt zu sein, endgültige Versöhnung in europäische Gegensätze einzubringen.“). Bestätigt sieht er dies durch den „russischen“ Kampf gegen die „gewaltsame“ europäische Einigung durch die Faschisten, Putin, Gemeinsame Ziel und Werte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 3. 2007, zu dieser Idee auch: Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 53 Ansprache an die Föderalversammlung vom 26. 4. 2007, http://www.kremlin.ru/text/ap pears/2003/05/44623.shtml. 54 Die bereits von Dostoevskij in der Puschkin-Rede 1880 zum Ausdruck gebrachte besondere Mittlerrolle des Russischen zwischen Asien und Europa wird Anfang der 90er Jahre von Aleksander Dugin in den politischen Diskurs eingebracht. Dugin ist heute Vorsitzender der Eurasischen Bewegung, der neben anderen Politiker und Kulturschaffenden auch Putins Berater Alslachavan angehört. Im Werk Dugins kommt dem russischen Volk aufgrund seines universalistischen Wesens im Endkampf der Ideen eine besondere Rolle zu. Russland müsse sich insofern als Völkergemisch begreifen, das die verschiedenen Qualitäten von Ost und West aufgreift und die strategische Achse zwischen Europa und Asien festiget. Voraussetzung dazu sei ein großes Territorium. Angelehnt an Mackinder, Haushofer und Schmitt begreift Dugin den einheitlichen Großraum (russ.: Edinoe bolsˇoe prostranstvo) insofern im Gegensatz zum Nationalstaat als russländische Staatsidee (vgl. Dugin, Osnovy Geopolitiki (Grundlagen der Geopolitik), 1997). Diese Idee findet sich auch mit dem ausdrücklichen Verweis auf Mackinder im Kommentar zum Manifest der Jugendbewegung „Nasˇi“. 55 Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 56 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 26. 4. 2007, http://archive.kremlin.ru/ appears/2007/04/26/1156_type63372type63374type82634_125339.shtml.
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verbieten, während die RF jeder Ethnie das Recht auf ihre eigene Sprache zuspreche.57 . ff) Einheit von Recht und Moral Auch für die russische Rechtskultur beansprucht Putin Eigenständigkeit. Begriffe wie Gerechtigkeit, Demokratie und Föderalismus könnten nur nach eigenen, historisch gewachsenen Maßstäben ausgelegt werden. Daneben verweist er auf die Bedeutung von Sittlichkeit und Moral für Recht und Politik. Recht müsse sich am sittlichen Ideal messen lassen. Die Ausrichtung der Gesellschaft auf ein sittliches Ideal ist für ihn Teil einer besonderen Auffassung von Gerechtigkeit.58 Ohne dass konkret klar wird, welche Folgen diese Aussage für den Putinschen Rechtsbegriff haben, spricht er dem russischen Volk eine besondere moralische Qualität zu. gg) Kultur der Ganzheitlichkeit (kultura celogo) Im Anschluss an Ivan Ilin charakterisiert Surkov die russische Kultur im Jahr 2007 ganz allgemein als eine „Kultur der Betrachtung (sozercanie) des Ganzen“. So ist auch Surkov der Auffassung, dass die Grundlage der russischen Kultur die Ganzheitlichkeit sei und nicht die Herrschaft des Einzelnen, es ginge um die Zusammenkunft (sobiranie) und nicht um Teilung (razdelenie). Er zitiert Berdjaev, Trubeckoj und Brodskij, um zu erläutern, dass Russlands Kultur nur groß und selbständig sein könne, wenn sie „religiös-synthetisch“ ausgestaltet sei und nicht wie im Westen „analytisch-differenziert“. Unklar formuliert beinhalte dies die „Synthetisierung, die Sammlung und die Vereinigung der Ideen, die Vereinigung von Freiheit und Gerechtigkeit, von Rechten und Pflichten, von Konkurrenz und Kooperation, von Individuellem und Nationalem, von Globalisierung und Souveränität“. Deutlicher wird er, wenn er formuliert, das Streben nach politischer Ganzheitlichkeit (celostnost) stehe für die Zentralisierung der politischen Macht, die „Idealisierung der Ziele des politischen Kampfes“ und letztlich für eine Personalisierung der Politik. Das Ziel müsse das Primat des Ganzen und Allgemeinen über seine Teile, sowie das Primat des idealistischen Prinzips über das Pragmatische sein.59 b) Die kontinuierliche Bedrohung des russischen Raumes Die dargestellte Besonderheit des Russischen sieht Putin gegenwärtig bedroht. Das Bedrohungsszenario ist inhaltlich vielgestaltig. Traditionell sieht er Russland durch den Faschismus bedroht, der in Russland als das gewaltsame Streben einer 57
Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“, http://www.nashi.su/ideology. Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2005/04/87049.shtml. 59 Surkov, Russkaja politicˇeskaja kultura. 58
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Nation nach Hegemonie verstanden wird.60 Dabei bekommt der Zweite Weltkrieg aus heutiger russischer Perspektive seine Bedeutsamkeit vor allem als Beispiel für den russischen Kampf für das Recht jedes Volkes auf eine eigene Entwicklung.61 Während der Sieg im Jahr 1945 als größter kollektiver Triumph dauerhaft in das politische Bewusstsein gedrängt wird, um die russische Gemeinsamkeit und Identität zu festigen, tritt eine aktuelle Bedrohung durch angebliche faschistische Tendenzen in Estland oder in der Ukraine hinzu. Mit Hinweis auf eine ungerechtfertigte Unterdrückung der Russen in diesen Ländern wird deren Staatsführungen Faschismus unterstellt.62 Gerade diese Einordnung macht deutlich, dass der Faschismusbegriff in Russland vor allem eine anti-russische Bedeutung hat. Die Jugendorganisation Nasˇi nennt sich insofern „demokratische antifaschistische Bewegung“. Sie begreift den Schutz des Landes vor dem Faschismus als die entscheidende Aufgabe der jungen Generation.63 Daneben sieht Putin Russland ganz allgemein durch eine Konkurrenz der Staaten um die weltweite Vorherrschaft bedroht. Darunter versteht er einen Wettkampf von Ideen, Produkten und Technologien. Als besonders bedrohlich für Russland werden die Aktivitäten der USA in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wahrgenommen. Hier kämpfe die amerikanische Ideologie von „Freiheit und Demokratie“ gegen die russische Idee.64 Im Anschluss an die Terror-Anschläge in Beslan im September 2004 sagte Surkov, es gäbe in „Amerika, in Europa und im Osten“ noch immer Leute, die in den „Phobien des Kalten Krieges“ lebten und die Russland als ihren potenziellen Gegner betrachteten, was sogar dazu führe, dass die innerstaatliche Bekämpfung des Terrorismus in Russland erschwert werde. Ziel der Gegner sei es, Russland zu zerstören und „seine enormen Weiten mit zahlreichen nicht handlungsfähigen, quasistaatlichen Gebilden zu füllen“.65 Ausdrücklich weist Putin darauf hin, dass es Interessen gäbe, Russland zu spalten. Schließlich müsse ein Land mit so vielen Bodenschätzen wie Russland für andere Mächte eine Bedrohung darstellen.66 Auch politischen Gegnern wirft Surkov vor, vom Ausland finanziert zu werden.67 Immer stärker wird dabei ein Bedrohungsszenario in Form der militärischen Macht der USA gezeichnet: In diesem
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Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml. In diesem Zusammenhang erwähnt z. B. das „Nasˇi“-Manifest, dass Russland auch das erste Land der Welt gewesen sei, das das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkannt habe. Verweisen wird hier auf die entsprechende Deklaration Lenins vom 2 (15.) November 1917 (Kommentar zum „Nasˇi“-Manifest). 62 Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 63 Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 64 Surkov, Suverenitet – eto politicˇeskij sinonim konkurentosposobnosti. 65 Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja, Komsomolskaja pravda, 28. 9. 2004. 66 Putin, Interview zum Tag der nationalen Einheit 2007, http://archive.kremlin.ru/appears/ 2007/11/04/1620_type63376type82634_150255.shtml. 67 Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja, Komsomolskaja pravda, 28. 9. 2004. 61
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Zusammenhang werden die US-amerikanischen Verteidigungsausgaben68 und konkret das zunächst geplante US-Raketenabwehrsystem69 als Gefahr für den russischen Staat wahrgenommen. Auch von innen drohe Russland Gefahr. Sie zeige sich in Form von Oligarchen, Separatisten, Terroristen und korrupter Banden. Indem sie Egoismus und Separatismus stärken, schwächten sie die Macht des russischen Volkes. Besonders ideologisch aufgewertet wird dabei die Figur des Oligarchen. Ritualisiert wird den Oligarchen, d. h. den Geschäftsleuten, die in den 90er Jahren in Russland zu enormer wirtschaftlicher Macht gelangten, vorgeworfen, die russischen Ressourcen rechtswidrig dem Volkseigentum entzogen und das Kapital ins Ausland transferiert zu haben, was soziales Elend und die Staatsverschuldung in Russland verursacht habe.70 Auf diese Weise seien die Oligarchen mit dem Staat als der Gesamtheit der Interessen des Volkes in Konkurrenz getreten. Dies habe den Staat schwach und ineffektiv gemacht. Die durch sie verursachte politische Destabilisierung Russlands habe dazu beigetragen, dass der Staat die Grundrechte der Bürger nicht mehr habe gewährleisten können.71 Die unsichere, unkontrollierte und instabile Grundsituation sei den Oligarchen selbst von Nutzen gewesen, um das Volk wirtschaftlich auszubeuten. Durch ihre Herrschaft über die Medien hätten sie versucht, im Kampf gegen den Staat72 den Zustand des Chaos und der Instabilität aufrechtzuerhalten, indem sie entsprechende liberale Werte verbreiteten. Der oligarchische Kapitalismus habe gleichzeitig einen Widerspruch zur besonderen russischen Solidarität dargestellt. Danach sei es nicht akzeptabel, nur nach den eigenen Interessen zu wirtschaften. Da kollektive Lebensformen in Russland historisch immer Vorrang vor individuellen Interessen gehabt hätten, gefährde das oligarchische System dieses Ideal.73 Ausdruck der Unordnung im Ausgangszustand ist für Putin daneben das nicht funktionsfähige föderale System. Die Entwicklung eigener Rechtsordnungen in den Regionen der RF stellt für ihn eine Gefährdung dar. Dabei wirft Surkov den Parteien und Regionen vor, Chaos aus kleinlichen und eigennützigen Gründen provoziert zu haben. Eigennützigkeit, Zersplitterung und Terrorismus werden hier bewusst miteinander vermischt.74 Die Hauptgefahr seien separatistische Bestrebungen. Innerhalb des universalen Bedrohungsszenarios wird eine Verbindungslinie zwischen dem 68 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 10. 6. 2006, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2006/05/105546.shtml. 69 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 26. 4. 2007, http://archive.kremlin.ru/ appears/2007/04/26/1156_type63372type63374type82634_125339.shtml. 70 Dazu ausführlich Gubkov/Dubin, Der Oligarch als Volksfeind, in: Osteuropa 7/2005, Die Nutzen des Falls Chodokovskij für das Putin-Regime, S. 52 ff., S. 64. 71 Surkov, Suverenitet – eto politicˇeskij sinonim konkurentosposobnosti, http://www.edin ros.ru/news.html?id=111148. 72 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 8. 7. 2000, http://www.kremlin.ru/text/ap pears/2000/07/28782.shtml. 73 Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 74 Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Terrorismus und dem innerstaatlichen Korruptionsproblem gezogen: Korruption und eine „unverständliche Sozial- und Wirtschaftspolitik“ im Nordkaukasus produzierten ein kriminelles Milieu aller möglicher Formen im Übermaß.75 Individuelle Interessen und Separatismus stünden in einer Linie mit einem aggressiven Nationalismus. Dieser führe fast immer zu Bürgerkrieg, selten habe die Teilung eines Landes zu einer Besserung der allgemeinen Lage geführt.76 Gefahren werden insofern in Faktoren erblickt, die die Interessenidentität des Volkes zerstören.77 Einzelinteressen sind für diese Einheit eine permanente Gefahr. Politische Gegner wie „falsche Liberale und echte Nazis“ verbinde der Hass gegenüber Russland als Ganzem.78 Es wird deutlich, dass der von Putin und Surkov häufig angesprochene Konkurrenzkampf79 in ihren Augen allein auf der internationalen Ebene akzeptabel ist. Im zwischenstaatlichen Bereich wird die Verschiedenheit der Völker und Kulturen akzeptiert. Ausdrücklich wird der Einfluss- und Machtbereich der USA und Europas als Faktum bestätigt. Ganz besonders geht es Putin darum, Russland auf dem wirtschaftlichen Markt gegenüber den anderen Wirtschaftsmächten konkurrenzfähig zu machen.80 Wenn die Durchsetzung von Partikularinteressen im internationalen Bereich nach Putin durchaus legitim ist, werden sie im nationalen Bereich bekämpft. Mit der Annahme, es gäbe ein vom Einzelnen bedrohtes Ganzes, unterscheidet sich die negative Ausgangsanalyse der russischen Elite vom ebenfalls pessimistischen Hobbesschen Naturzustand. Bei Hobbes bekriegen sich die Menschen untereinander (bellum ominum contra omnes). Hier jedoch gibt es nur das Allgemeine, Gute, das vom Individuellen bedroht wird. Es geht also primär um eine Gefährdung des Ganzen. Erst in einem zweiten Schritt erblickt Putin darin auch eine Gefahr für den Einzelnen. So sei der Mensch durch den Zerfall des Ganzen bedroht, weil nur das Ganze Sicherheit und Schutz gewährleisten könne.
2. „Staatliche Einheit“ als Schutzraum a) Die staatliche Einheit als notwendiger Schutz vor innerer und äußerer Gefährdung: Souveränität und starker Staat Trotz der Unterschiede im Ausgangszustand sieht Präsident Putin die Antwort auf die Gefährdungslage, wie Thomas Hobbes, in der staatlichen Souveränität. Die Be75
Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja. Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 77 „Uns allen muss bewusst werden, dass der Feind vor den Toren steht. Die Front geht durch jede Stadt, durch jede Straße, durch jedes Haus.“ Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja. 78 Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja. 79 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 3. 4. 2001, http://www.kremlin.ru/text/ap pears/2001/04/28514.shtml, Surkov, Suverenitet – eto politicˇeskij sinonim konkurentosposobnosti, http://www.edinros.ru/news.html?id=111148. 80 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung, 2001, 2002, www.kremlin.ru. 76
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 213
gründung von staatlicher Einheit erfolge vor allem aufgrund der Notwendigkeit, dem einzigartigen russischen Wesen einen notwendigen schützenden Raum zu gewähren. Den notwendigen Schutzraum schaffe der Staat. Staatliche Einheit wird für Putin deshalb zur notwendigen Schlussfolgerung. Indem ein Szenario geschaffen wird, nach dem sich das russische Volk aufgrund der bestehenden Gefahren allein zwischen dem von Putin errichteten Staat und dem Untergang entscheiden muss, treten andere Fragen in den Hintergrund. Bereits in seiner ersten Ansprache als Präsident ist der russische Staat das Hauptthema. Zu diesem Zeitpunkt erschien den meisten Russen der aus der zerfallenden Sowjetunion entstandene russische Staat in seinen neuen Grenzen noch als etwas Unvollständiges.81 Putin dagegen hält nicht an der Sowjetunion fest, sondern sieht im neuen russischen Staat die Antwort auf die zu lösenden gesellschaftlichen Probleme. In der am 19. 5. 2000 in Rossijskaja gazeta abgedruckten Fernsehansprache sagt Putin, dass die Voraussetzung für den Erfolg des Landes „die Festigung der staatlichen Einheit“ sei. Im Selbstbild der russischen Administration habe sich das russische Volk angesichts des „Chaos der 90er Jahre“ bewusst die Seinsfrage gestellt. Es habe erkannt, dass die Stärkung der regionalen Mächte und der Oligarchen dem Land geschadet und es angreifbar gemacht habe. Diese Entwicklung sei bewusst mit der Stärkung der staatlichen Einheit beendet worden.82 Immer deutlicher wird aus der Rückschau das Bild des im Chaos versinkenden Russlands gezeichnet, das durch den starken Staat am Zerfall gehindert wurde. Nur durch eine Vereinheitlichung der Strukturen habe ein Neuanfang erfolgen können.83 Häufig werden die Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im politischen Diskurs mit der sog. Zeit der Wirren (smuta) im 17. Jahrhundert gleichgesetzt.84 Vor diesem Hintergrund betont Putin heute die historische Bedeutung des Stadtältesten von Nizˇnij Novgorod, Kozma Minins, und des Fürsten Dmitrij Pozˇarskis. Ihnen gelang es, Moskau im Jahr 1612 von den Polen zu befreien und die Zeit der Wirren zu beenden. Dies hatte zur Folge dass die Herrscherfamilie der Romanovs die politische Macht übernahm und somit dem russischen Staat auch in Putins Augen zu neuem Glanz verhalf. Putin sieht die 1990er Jahre als Ausdruck eines Ausnahmezustands und zieht Parallelen zu der „Zeit der Wirren“: Wie damals habe sich das russische Volk bewusst gegen diesen Zustand entschieden. Mit der Wahl Putins habe es den Wunsch geäußert, den „Weg zur Normalität“ zu gehen und den Staat durch gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stabilisieren.85 Den neu ins Leben gerufenen Tag der nationalen Einheit stellt Putin daher in den Zusammenhang mit dem Sieg Minins und Pozˇarskis über die polnischen Besatzer in Moskau: „Mit diesem heroischen ErSo Cˇadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 39. Surkov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S .61. 83 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 26. 4. 2007, http://archive.kremlin.ru/ap pears/2007/04/26/1156_type63372type63374type82634_125339.shtml. 84 Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 85 Surkov, Suverenitet – eto politicˇeskij sinonim konkurentosposobnosti. 81 82
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
eignis begann die geistige Wiedergeburt des Vaterlandes, begann der Aufbau der großen und souveränen Macht (derzˇava). Ohne Zweifel hat sich das russische Volk damals selbst die russische Staatlichkeit geschaffen. Es bekundete seine (wahre) (Staats-)Bürgerlichkeit (grazˇdanstvennost) und die allerhöchste (vysocajsˇaja) Verantwortlichkeit“. Insofern nennt Putin den Zusammenbruch (krusˇenije) der Sowjetunion die schwerste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts. Für Putin ist es ein „Drama“, dass nunmehr mehrere Millionen russischer Mitbürger exterritorial leben und sich die „Epidemie der Desintegration“ ausbreiten konnte. Indem er den Verlust der alten Ideale, das Scheitern der Reformvorhaben, „terroristische Interventionen“ gegen die Integrität des Landes, Massenarmut sowie die Macht der Oligarchen über die Massenmedien in einem Atemzug mit der Teilung aufzählt, macht er den Zusammenbruch der Sowjetunion für die anschließende Entwicklung verantwortlich.86 Für Putin besteht demnach die hauptsächliche Katastrophe im Zerfall der territorialen Einheit und nicht im Ende des Kommunismus als Scheitern einer Soziallehre. Konkret dient staatliche Einheit zur Überwindung von Staatsfeinden. Dies kommt auch während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion zum Ausdruck, als überparteilich die Einheit des Landes als Voraussetzung für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg bewertet wurde.87 In diesem Sinne zitiert Putin in der Rede an die Föderalversammlung im Jahr 2006 erneut den Denker Ivan Ilin.88 In seinen Verfassungsentwürfen schrieb dieser über die Armee, der russische Soldat repräsentiere die gesamtrussische nationale Einheit.89 Wie in der Geschichte soll gesell-
86 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ ˇ adaev, Putin. Ego Ideologija S. 188. text/appears/2005/04/87049.shtml oder C 87 In einer Befragung von Politikern zum Thema „Was sicherte unseren Sieg im Großen Vaterländischen Krieg – die Seele des Volkes, die Kraft der Armee, die Einheit des Landes?“ der Parlamentszeitung „Rossijskaja Federacija segodnja“ bejahen die Befragten die Bedeutung der Einheit des Landes für den Sieg. Hier heißt es u. a. „Ohne die Einheit der Völker der UdSSR … wäre der Sieg über einen so schrecklichen Feind, wie den Faschismus, unmöglich“ S. Polov, Edinaja Rossija; „Der Sieg beruht auf dem besonderen Geist des Volkes und der Einheit des Landes … der Große Vaterländische (Krieg) war kein Krieg des Russen oder der Slawen gegen die Deutschen, es war ein Krieg des Sowjetischen Volkes, d. h. dieser Superethnie (im russischen Text: superetnos), welches damals existierte, gegen den Hitler-Faschismus. In diesem Sinne ist der Krieg das Symbol unserer Einheit.“ O. Smolin, KPRF; „eine kolossale Rolle spielte die monolithische Einheit des Landes während des Krieges. Deshalb ist diese das Wichtigste.“ V. Sˇirinovskij, LDPR, Rossijskaja Federacija segodnja, 9, 2005, S. 5. 88 Mit ausdrücklichem Hinweis auf das Ilin-Zitat in der Ansprache an die Föderalversammlung vom 10. 5. 2006 spricht die Zeitung „Kommersant Vlast“ von Ivan Ilin als dem gegenwärtigen „Lieblingsautor der russischen politischen Elite“. In das politische Vokabular eingeführt worden sei er durch den Regisseur Nikita Michailkov und den Politiker Aleksander Ruckoj, Lozˇnoe ili dikoe, Kommersant Vlast, Nr. 19, 15. 5. 2006, S. 21. 89 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 10. 5. 2006, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2006/05/105546.shtml.
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 215
schaftliche Vereinigung im Staatsverband nicht nur vom inneren Chaos befreien, sondern auch heute vor dem Feind von außen schützen. Umschrieben wird das Putinsche Staatsmodell vom starken Staat mit dem alternativ zur Bezeichnung „staatliche Einheit“ schlagwortartig gebrauchten Begriff der „souveränen Demokratie“. Das Konzept der souveränen Demokratie wurde von Vladislav Surkov offiziell im Jahr 2006 in den politischen Diskurs eingebracht.90 Dabei geht es darum, staatliche Macht als Ausdruck des ganzen Volkes gegenüber äußeren und inneren Partikularmächten unabhängig zu machen. Für Putin wird dabei ein Zustand angestrebt, in dem das Volk über sein Schicksal entscheiden kann.91 Im Programm der Partei „Einheitliches Russland“ wird die souveräne Demokratie als Möglichkeit des effektiven und erfolgreichen Aufbaus einer gerechten Welt, als Synonym für die innere und äußere Sicherheit, als historische Konkurrenzfähigkeit durch die Verteidigung der national-staatlichen Interessen sowie als Anerkennung der universalen demokratischen Werte durch ein eigenes nationales Modell umschrieben. Die Konkurrenzfähigkeit mit anderen Staaten, die Unabhängigkeit und Stärke nach außen werden dabei durch das Adjektiv „souverän“ ausgedrückt. Es geht darum, Russland als gleichberechtigtem Partner in der internationalen Politik einen Platz zu geben und mit entsprechendem Stimmgewicht an internationalen Organisationen und Bündnissen wie der Welthandelsorganisation (WTO) und der Gemeinschaft der stärksten Industrienationen, der G8, teilnehmen zu lassen. Dabei legt Putin Wert auf die Feststellung, dass er sie allein als Mittel begreift, Russland zu positionieren und die nationalen Interessen zu verteidigen, um die russische Entwicklung voranzutreiben.92 Aufgrund der besonderen Geschichte könne sich Russland nicht unterordnen, sondern sähe seine historische Rolle darin, andere kleinere Staaten zu lenken. Schon deshalb sei es dem russischen Volk grundsätzlich fremd, Souveränität auf der internationalen Ebene an eine überstaatliche Organisation etc. abzutreten.93 Zudem beinhaltet der Begriff, dass innenpolitische Fragen ohne jegliche äußere Einmischung, gar in Form von „internationalen Richtern“, von außen entschieden werden sollten. Als Negativbeispiel dient hier die Orangene Revolution in der Ukraine, die durch US-amerikanischen Einfluss ausgelöst worden sei.94 Als zweiten Bestandteil des Begriffs bringt „Demokratie“ den nach innen starken Staat zum Ausdruck. Der russische Demokratiebegriff, wie er von offizieller Seite vorgetragen wird, impliziert weniger Pluralismus, Menschenrechte und die westliche Rechtsstaatsidee. Es geht vielmehr darum, dass allein die vom gesamten Volk gewähl90 Surkov, Nasˇa rossijskaja model demokratii nasyvaetsja „suvernnoj demokratiej“ und „Suverenitet-eto politicˇeskij sinonim konkurentoposobnosti“. 91 ˇ Cadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 27. 92 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 3. 4. 2001, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2001/04/28514.shtml. 93 Surkov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 60 f. 94 Surkov, Suverenitet-eto politicˇeskij sinonim konkurentoposobnosti, 22. 2. 2006.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
te Regierung Macht inne hat. Dahinter steht die historisch gewachsene Vorstellung der ideellen Einheit von Volk und Regierung, die sich gegen andere Mächte wie Aristokratie, Bourgeoisie, Volksfeinde und Oligarchen durchsetzen muss. Insofern richtet sich das Ringen um „innerstaatliche Souveränität“ vor allem um die Vormachtstellung der zentralen Macht gegenüber anderen Trägern von Macht: Ziel der Innenpolitik müsse es sein, die Macht der Vielvölkernation, repräsentiert durch den Präsidenten, gegenüber anderen Einzelinteressen zu stärken. Als eines der größten Probleme des heutigen Russlands in Politik und Wirtschaft gelten daher Personen, die sich gegen die Macht auflehnten. Für Putin sind dies in erster Linie die Oligarchen. Die Schwierigkeit mit den Oligarchen wird folglich als ein Demokratieproblem gesehen. Surkov zieht dazu die Verfassung heran: Dieser entnimmt er, dass derjenige die Macht im Staate haben müsse, der demokratisch gewählt sei und nicht der, der über das meiste Geld verfüge. Vor allem dürfe der vom Volk Gewählte keinesfalls von der Macht der Reichen abhängen.95 Insofern beinhaltet das Verständnis von demokratischer Macht auch heute noch Unabhängigkeit der staatlichen Gewalt von anderer innerstaatlicher Macht. Laut Surkov vertreten die Oligarchen allein Minderheiteninteressen. Da Demokratie Mehrheitsherrschaft bedeute, könne das oligarchische System keineswegs Grundlage sein.96 Indirekt wendet sich auch Putin gegen Partikularinteressen. Seinen Äußerungen zufolge sei jede Form des Kampfes um religiöse, nationale und andere Interessen ein Widerspruch zum Demokratieprinzip.97 Nach dieser Vorstellung dient die Entmachtung der Oligarchen der Demokratie. Durch die Einheit von Volk und staatlicher Zentralmacht legitimiere sich diese letztlich auch als Herrin über den demokratischen Diskurs in den Medien. So dürften die Medien nicht Privatmächten überlassen werden, sondern müssten von der Staatsmacht kontrolliert werden, da nur diese das ganze Volk repräsentiere.98 Hier herrscht die Vorstellung, dass jeder Inhaber von Macht im Staat die Achse Volk-Regierung angreife. Der Demokratiebegriff, wie er hier verwendet wird, gibt insofern auch Aufschluss über den Begriff von staatlicher Gewalt. So zeigen die Ausführungen zur Demokratie hier, dass Staat und Gesellschaft keine Gegensätze sind. Der Demokratiebegriff umfasst generell die Grundannahme, dass alle staatliche Gewalt vom Volk ausgeht. Die Ausführungen Surkovs zeigen jedoch, dass der Begriff der staatlichen Macht nicht nur die Herrschaft der staatlichen Organe umfasst. Vielmehr geht es auch um die faktischen Machtverhältnisse im Staat, sowohl im gesellschaftlichen als auch im wirtschaftlichen Bereich. Dies kommt in der Kritik Surkovs zum Ausdruck, die reale Macht der Oligarchen lasse sich nicht von der Macht des Volkes bzw. von der Verfassung ableiten. Dabei legitimiert die Verfassung grundsätzlich allein die Handlungsfähigkeit der staatlichen Macht. Gesellschaftliche Machtstrukturen bleiben davon unberührt. Wie frei die Wirtschaft agieren kann, ist keine Frage der Demokratie im en95
Surkov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 49. Surkov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 53 f. 97 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml. 98 ˇ adaev, Putin. Ego Ideologija, S. 17 ff. Vgl. C 96
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geren Sinne, sondern eine Entscheidung zwischen liberalen und stärker regulatorischen Prinzipien. Wenn gesagt wird, dass die Durchsetzung eigener wirtschaftlicher Interessen die Demokratie gefährde, bedeutet dies letztlich, dass die Gewalt des Volkes nicht nur in Bezug auf die staatlichen Organe, sondern in der ganzen Gesellschaft absolut sein müsse. Da jedoch auch Russland keine direkte Volksherrschaft kennt, sondern die Gewalt des Volkes stattdessen von den Trägern der staatlichen Macht wahrgenommen wird, konstituiert diese die absolute Herrschaft der staatlichen Gewalt über die Gesellschaft. In diesem Sinne ist die staatliche Gewalt die höchste und absolute Macht in der Gesellschaft. Wie in sowjetischer99 und vorsowjetischer100 Zeit hat der Demokratiebegriff insofern bei Surkov auch heute einen anti-liberalen Charakter. Wie zahlreiche Texte der Partei „Einheitliches Russland“ sowie deren Jugendorganisation „Nasˇi“ zeigen, bleibt der Begriff Teil der politischen Rhetorik.101 Im Stil des Marxismus-Leninismus will der Begriff bei aller Kritik deutlich machen, dass es ein besonderes russisches Modell der Staatsorganisation gebe, das sich von der westlichen, unrussischen bzw. unsozialistischen Demokratie abgrenze (vgl. sozialistischer Föderalismus, demokratischer Zentralismus, sozialistische Demokratie, Volksdemokratie etc.).102 Die Hervorhebung eines eigenen Modells hat den Zweck, nach innen einen eigenen Rechtspatriotismus zu entwickeln und nach außen gegenüber dem Vorwurf, das Land sei nicht demokratisch, einwenden zu können, man verfüge über eine eigene Rechtskultur, die sich nicht am westlichen System messen lasse. So heißt es bei Putin, Russland habe „die Demokratie aus eigenem Willen gewählt … Als souveräne Nation kann und wird Russland den Zeitplan und die Bedingungen für die Entwicklung dorthin selbst bestimmen“.103 Der russische Demokratiebegriff verschwimmt bei Putin insofern mit dem Souveränitätsbegriff, wenn immer wieder betont wird, Russland sei ein Land, in dem sich das Volk selbstbestimmt für die Demokratie als Staatsform entschieden habe. Die Umsetzung des demokratischen Modells
99
Vgl. den autokratischen Charakter des sowjetischen Prinzips des demokratischen Zentralismus, Kap. B.III.10.a). 100 Platonov, Lekcii po russkoj istorii, S. 139, wo er, wie bereits an anderer Stelle zitiert, schreibt: „Indem der Souverän der patrimoniale Herr (votcˇnik) seines Zarenreiches war, gehörte es ihm als Eigentum, mit aller Unbedingtheit von Eigentumsrechten … Indem sich die Macht des Zaren (nun, unter Ivan IV., Anmerk. d. Verf.) aber auf das Bewusstsein der Volksmassen stützte, das im Zaren und Großfürsten von ganz Russland den Ausdruck der Einheit des Volkes und das Symbol der nationalen Unabhängigkeit gesehen hat, sind die demokratische Struktur und ihre Unabhängigkeit von irgendwelchen privaten Autoritäten und Kräften im Lande offenkundig. Die Moskauer Macht war demzufolge eine absolutistische und demokratische Macht“. 101 Internetseiten der Partei „Einheitliches Russland“: www.edinros.ru, sowie von „Nasˇi“: www.nashi.su. 102 Sokolov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 159. 103 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml.
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in Russland erfolge jedoch nach eigenen Mustern.104 Unabhängig von der Begriffsdiskussion wird deutlich, dass es politisch um eine starke Rolle Russlands in der internationalen Politik und die Ablehnung von nicht-staatlichen Machtfaktoren im Staat geht, was von einer nach außen und innen unabhängigen staatlichen Gewalt garantiert wird. Dieses Konzept wird alternativ mit den Begriffen „souveräne Demokratie“, „Einheit des Staates“ oder schlicht „starker Staat“ umschrieben. b) Staatliche Einheit als Folge einer einheitlich organisierten Staatsgewalt Nach innen bedeutet „staatliche Einheit“ Einmütigkeit durch Unterordnung unter eine zentralistische Struktur. Wenn es Hauptzweck des Staates sei, vor inneren und äußeren Gefahren zu schützen, müsse der Staat entsprechend effektiv organisiert sein. Als besondere Notwendigkeit betrachtet Putin daher eine handlungsfähige Exekutive mit einer „rationalisierten Struktur der Organe der staatlichen Macht“.105 Grundsätzlich richtet sich die Effektivität auf die Umsetzung des Ziels. Für Putin ist eine effektive Organisationsstruktur nur durch eine „einheitliche“ Machtorganisation möglich. Deswegen ist das „einheitliche System der staatlichen Gewalt“ für ihn die Voraussetzung für die Einheit des Staates.106 Unter einem einheitlichen System der staatlichen Gewalt versteht er die sich über das ganze Territorium erstreckende hierarchisch organisierte „Machtvertikale“. Dieser Begriff bedeutet, dass zunächst einmal die vollziehende Gewalt einen „geschlossenen, koordinierenden und einheitlichen Organismus“ bildet.107 Putins Sympathie für ein hierarchisches System staatlicher Gewalt wird bereits im Jahr 2000 erkennbar, als er parallel zu der von der Verfassung niedergelegten föderalen Struktur eine neue Ebene staatlicher Gewalt einführt. Zwischen Präsident und Regionen schafft Putin mit Erlass vom 13. 5. 2000 sieben Föderale Bezirke, die von dem Präsidenten unterstellten, sog. „bevollmächtigten Vertretern des Präsidenten“108 (Generalgouverneure) kontrolliert werden. Die Maßnahme stützt sich auf Art. 83 Verf RF. Nach dieser Vorschrift kann der Präsident Vertreter ernennen. Aufgabe der Generalgouverneure ist es, die Politik in den Großbezirken zu koordinieren und zu beaufsichtigen. Als Parallelstruktur zu den in der Verfassung verankerten russischen Regionen (Subjekte) wurde deren Macht zugunsten der Macht des Präsidenten geschwächt.109 Insofern kommt es zu einer Aufwertung des präsidentiellen 104 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2005/04/87049.shtml. 105 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 106 Putin, Vlast dolzˇna byt rabotajusˇcˇej, in: Rossijskaja gazeta, 19. 5. 2000, S. 3 ff. 107 Putin, Vlast dolzˇna byt rabotajusˇcˇej, in: Rossijskaja gazeta, 19. 5. 2000, S. 3 ff. 108 Ukaz des Präsidenten der RF „O polnomocˇnom predstavitele Prezidenta Rossijskoj Federacii v Federalnom okruge” (Über die Kompetenzen der Präsidentenvertreter in den Föderalen Bezirken), SZ RF 2000, Nr. 20, Pos. 2112. 109 Schneider, Das innenpolitische „System“ Putin, SWP-Studie, 2001/ S 25, S. 14 ff.
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Machtapparats bei einer deutlichen Entwertung der von der Verfassung vorgesehenen Machtstrukturen.110 Für Putin stärkt diese Reform die „Einheit des Landes“.111 Eine weitere Schwächung der regionalen Eliten erfolgte am 1. 1. 2002 durch die Änderung der Zusammensetzung des Föderationsrats: Bis dahin waren die regionalen Staatschefs persönlich in der zweiten Kammer vertreten und gestalteten die gemeinsame föderale Politik durch ihr Vetorecht aktiv mit. Nunmehr durften nur noch ständige Delegierte der Regierungschefs der Subjekte die Aufgaben im Föderationsrat wahrnehmen. Auch dieser Schritt vereinheitlichte das politische System durch die Degradierung potentieller Widersacher zugunsten des Zentrums. Während die Gouverneure wie auch ein neu gebildeter Staatsrat, bestehend aus den regionalen Regierungschefs, medial als vitale Akteure des politischen Lebens inszeniert werden, haben sie tatsächlich keine politische Macht. Auch die Staatsduma verlor als unabhängige gestalterische Kraft an Einfluss. Bei der Dumawahl im Dezember 2003 gewann die Putin-treue Partei „Einiges Russland“ ungefähr zwei Drittel der Parlamentssitze, während die einzige ernstzunehmende Oppositionspartei, die Kommunisten, nur noch auf 52 Sitze kam.112 „Einheitliches Russland“ selbst zeigte kaum Anzeichen, das einheitliche Machtgefüge im Staat in Frage zu stellen. Besonders deutlich wird das inhaltliche Verständnis von einheitlicher Macht in der Antwort der russischen Politik auf den Terror und insbesondere auf die Anschläge in Beslan 2004. Im Anschluss daran sagte Vladimir Putin, die Einheit des Landes „ist die wichtigste Grundlage des Sieges gegen den Terror. Ohne diese Einheit ist die Erreichung dieses Zieles unmöglich.“113 Gleichzeitig setze dieser Kampf eine effektive staatliche Gewalt voraus. „Der Erfolg im Kampf gegen den Terror hängt davon ab, wie effektiv der Staat seine Ressourcen mobilisieren kann“.114 Wenn er im Terrorismus nach dem Ende des Kalten Krieges die wichtigste Herausforderung für die staatliche Souveränität und die territoriale Ganzheit sieht, geht er davon aus, diese mit einer Festigung (ukreplenie) des Staates bewältigen zu können.115 Nach den Anschlägen in Beslan sei eine Gesetzesänderung notwendig geworden, weil die Exekutive vorher nicht zusammengehalten habe.116 Die Zielsetzung der Terroristen könne nur mit der „Durchsetzung eines effektiven Staatssystems in den bestehenden nationalen
110 Ausführlich dazu Luchterhandt, Der Ausbau der föderalen Vertikale in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 252 ff. 111 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 8. 7. 2000, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2000/07/28782.shtml. 112 Mommsen/Nußberger, Das System Putin, S. 37. 113 Putin, Vlast dolzˇna byt rabotajusˇcˇej, in: Rossijskaja gazeta, 19. 5. 2000, S. 3 ff. 114 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 8. 7. 2000, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2000/07/28782.shtml. 115 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 116 Putin, Abschlussbemerkungen auf dem erweiterten Treffen der Regierung und der Regierungschefs der Regionen vom 13. 9. 2004, http://archive.kremlin.ru/text/appears/2004/09/ 76651.shtml.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Grenzen“ erfüllt werden, so Putin im Jahre 2004.117 Vladislav Surkov antwortete auf die Frage, in welcher Form Staatsorganisationsprinzipien mit dem Kampf gegen den Terror in Verbindung stünden, der Präsident sei angesichts der drohenden Vernichtung des russischen Staates durch die Terroristen verpflichtet, die Einheit der vollziehenden Gewalt als Verfassungsprinzip in vollem Maße zu verwirklichen. Nur so könne die Einheit der Nation sichergestellt und das politische System gestärkt werden.118 Ausdruck fand dieses Vorhaben in der gleichzeitig vorgestellten Änderung119 des „Gesetzes über die allgemeinen Prinzipien bei der Bildung der legislativen und exekutiven Organe der Staatsgewalt der Subjekte der Russischen Föderation“ (AllgPG),120 dem „Hauptinstrument der Rezentralisierung“.121 Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Chefs der regionalen exekutiven Gewalt gemäß Art. 18 I AllgPG direkt von den Bürgern des jeweiligen Subjekts gewählt. Durch die Änderung ist der Präsident der RF berechtigt, einen Kandidaten für das Amt des Chefs der regionalen Exekutive vorzuschlagen, der anschließend vom Parlament des Subjekts durch Wahl bestätigt wird. Bei einer dreimaligen Verweigerung des Parlaments kann der Präsident der RF das regionale Parlament auflösen.122 Insofern kommt die neue Regelung einer faktischen Ernennung des regionalen Regierungschefs durch den Präsidenten der RF gleich.123 Aus der Gesetzesänderung wird deutlich, dass das von Putin anvisierte „einheitliche System der Macht“ eine hierarchisch von oben organisierte Entscheidungsstruktur beinhaltet. Der demokratie- und freiheitsfördernde Aspekt des damit faktisch abgeschafften Föderalismusprinzips der Verfassung fand in der offiziellen politischen Debatte keine Aufmerksamkeit.124 So wird deutlich, dass Gewaltenvielfalt als Gefahr wahrgenommen wird. Der „Wettbewerb zwischen dem Zentrum und den Regionen“ und die verbreitete Haltung, sich vor der Verantwortung für politische Fehler und Organisationsmängel zu drü-
117
Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml. 118 Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja, Komsomolskaja pravda, 28. 9. 2004. 119 SZ RF 2004, Nr. 50, Pos. 4950. 120 SZ RF 1999, Nr. 42, Pos. 5005 mit den Änderungen vom 29. 7. 2000, 8. 2. 2001, 7. 5. 2002, 24. 7. 2002, 11. 12. 2002, 4. 7. 2003, 11. 12. 2004, 31. 12. 2006. 121 Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtssprechung des Verfassungsgerichts, S. 125. 122 Gesetz über die Änderungen des Föderalen Gesetzes „Über die allgemeinen Prinzipien der Organisation der gesetzgebenden und ausführenden Organe der Subjekte der RF“ und des föderalen Gesetzes „Über die grundlegenden Garantien der Wahlrechte und des Rechts der Bürger der RF auf Teilnahme am Referendum“, SZ RF 2004, Nr. 50, Pos. 4950. 123 Vgl. Nußberger, Verfassungsmäßigkeit der jüngsten Rechtsreformen in Russland, in: Russland-Analysen, 2005, Nr. 57, S. 2 ff, Luchterhandt, Putins Perestrojka – Unitarisches Russland statt Russländischer Föderation, WGO-MfOR, 2005, S. 94 ff. 124 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml.
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cken, würden durch das einheitliche Machtsystem beendet.125 Den regionalen Verwaltungschefs wird dagegen kaum zugetraut, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ein Partikularsystem mit verschiedenen Ansätzen und Meinungen sei in einer Krisensituation untauglich. Dies wird auch deutlich, wenn Surkov entsprechend dem leninistischen Konzept von der „Partei als Avantgarde des Proletariats“ eine „effektive Führungsschicht“ fordert, ohne die die Entwicklung der Gesellschaft zur Konkurrenzfähigkeit nicht möglich sei.126 Nach Präsident Medvedev dienten die Gesetzesnovellierungen, mit denen die Volkswahl der Exekutivspitzen in den Subjekten der RF abgeschafft wurde, der gesteigerten Effektivität durch einen vereinheitlichten Machtapparat. Gleichzeitig führe dies zu mehr Professionalität und diene der Konsolidierung des politischen Kaders.127 In den Reden anlässlich des Tags der nationalen Einheit in den Jahren 2005128 und 2006129 kommt zum Ausdruck, dass die Verbindung von staatlicher Einheit und einheitlicher Macht als historische Besonderheit Russlands aufgefasst wird: Wie bereits dargestellt, formuliert Putin, Minin und Pozˇarskij hätten im Jahr 1612 das multinationale Volk in Zeiten der Wirren geeint, um Unabhängigkeit und Staatlichkeit zu sichern und Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen. Mit dieser Analogie drückt er aus, dass wie in der Geschichte Vereinigung, Zentralisierung und Einigung der Kräfte vor dem Feind von außen schützen können: „Das war der Sieg des Kurses zur Festigung des Staates durch Vereinigung, Zentralisierung und Einigung der Kräfte. Mit diesem heroischen Ereignis begann die geistige Widergeburt des Vaterlandes, begann der Aufbau der großen und souveränen Macht (derzˇava).“ Vereinigung, Zentralisierung und Einigung der Kräfte sind die Mittel, die auch im gegenwärtigen Russland zu einer geistigen Widergeburt führen.130 Wie schon im 19. Jahrhundert ist auch bei Putin die Gewalteneinheit das Prinzip, das Russland damals wie heute stark macht. Auch Surkov begründet das einheitlich-hierarchische Machtsystem historisch: So wie sich die zentrale Macht über die Jahrhunderte als das russische Prinzip erwiesen habe, trage sie auch heute zur Stabilisierung der Gesellschaft im Kampf gegen den Terrorismus und zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Ein starkes Zentrum sei daher historisch erwiesen der Garant für territoriale, geistige Einheit. Im Zentrum des demokratischen Systems garantiere heute der Staatschef die Verfassung und balanciere die Gewalten aus.131 125
Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja, in: Komsomolskaja pravda, 28. 9.
2004. 126
Surkov, Suverenitet – eto politicˇeskij sinonim konkurentosposobnosti. So in einem Interview mit der Zeitung Ekspert, Nr. 13, 2005, abgedruckt unter http:// www.kremlin.ru/eng/text/publications/2005/04/86313.shtml. 128 Putin, Rede zum Tag der nationalen Einheit 2005, http://archive.kremlin.ru/text/appe ars/2005/11/96690.shtml. 129 Putin, Rede zum Tag der nationalen Einheit 2006, http://archive.kremlin.ru/text/appe ars/2006/11/113418.shtml. 130 Scherrer, Russlands neue-alte Erinnerungsorte, in: APuZ 11/2006, S. 25. 131 Surkov, Russkaja politicˇeskaja kultura. 127
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
c) Staatliche Einheit als einheitlicher Raum aa) Der Schutz der staatlichen Integrität Das Konzept der Einheit als Voraussetzung für den politischen Erfolg zieht sich durch viele Ebenen. Alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche werden zu „einheitlichen Räumen“ erklärt. Dabei bezieht sich die Einheitlichkeit des Raums auf die unanfechtbare Beherrschbarkeit desselben durch das Zentrum. In allen Bereichen garantiert die Größe des jeweiligen einheitlichen Raums den Erfolg derjenigen, die diesem Raum angehören. Wichtig ist dabei zunächst der territoriale Aspekt. Das einheitliche Territorium wird zur Basis der staatlichen Selbständigkeit sowie des geopolitischen Einflusses Russlands. Um einflussreich zu sein, müsse das Territorium in seiner Ganzheit geschützt werden. So wird der Begriff der Souveränität rhetorisch auch heute eng mit der Notwendigkeit der Ganzheit des Territoriums verknüpft.132 Dmitrij Medwedjew bezeichnet die russische Politik Anfang des Jahres 2005 als die „Logik der ganzheitlichen Souveränität“ (celostnaja suverenitet)133 und unterstreicht seine Meinung mit den Worten: Die „Ganzheit der Souveränität“ bedeutet, dass „wir tun können, was wir wollen“.134 Die Unteilbarkeit des Staates ist für ihn direkte Voraussetzung für die Unabhängigkeit des Staates. bb) Der einheitliche Rechtsraum Für gleichermaßen politisch notwendig hält Putin den einheitlichen Rechtsraum (edinoe pravovoe prostranstvo). Auch auf dieser Ebene soll eine Beherrschbarkeit auf dem gesamten Territorium gesichert werden. Konkret geht es um die einheitliche Anwendung des Rechts in ganz Russland. Die dazu entsprechend notwendigen politischen Schritte orientieren sich auch in diesem Bereich am Ausnahmezustand. Ausgemacht wird dieser in der unter Präsident Jelzin entstandenen Divergenz der regionalen Verfassungsräume innerhalb der RF. Tatsächlich waren die Rechtsräume in der Russischen Föderation in den 1990er Jahren durch erhebliche Unterschiede geprägt. Die Unterschiede der Rechtsordnungen in den Subjekten waren die politische Folge ihres starken Unabhängigkeitsstrebens zu Beginn der 90er Jahre. So wie sich die Unionsrepubliken aus der Sowjetunion lösen wollten, hatten auch die Regionen innerhalb der RF das Bedürfnis nach Unabhängigkeit (Parade der Souveränitäten). Dabei gibt es für eigene Rechtsordnungen der Subjekte eine rechtliche Grundlage: Während die Verfassung die Gleichberechtigung aller 89 Republiken, Regionen, Gebiete, föderalen Städten, autonomen Gebiete und autonomen Bezirke festschreibt (Art. 5 I Verf RF), gewährt sie den Republiken eine eigene Verfassung, anderen Subjekten immerhin ein eigenes Statut und eigene Gesetze (Art. 5 II Verf RF). Von der Möglichkeit, eigene Verfassungen zu verabschieden, machten die Republi132 133 134
Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. Zitiert nach Cˇadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 40 f. Zitiert nach Cˇadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 40 f.
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 223
ken im Rahmen ihres Strebens nach Selbständigkeit nunmehr ausgiebig Gebrauch. Als Ausdruck neu gewonnener Freiheit gaben sich insbesondere die Republiken innerhalb der RF in den 90er Jahren eigenständige Gesetze. Diese wichen dabei nicht selten von den Bestimmungen der Verfassung der RF ab, was das Verhältnis zwischen Zentrum und Regionen verschlechterte.135 Neben den abweichenden Bestimmungen in Einzelfragen war politisch vor allem bedenklich, dass die Republiken ihren eigenen Status und ihr Verhältnis zur RF in ihren jeweiligen neuen Verfassungen in vielen Fällen klar als politische Kampfansage an das Zentrum definierten. So ging die tschetschenische Verfassung von der Eigenstaatlichkeit aus, Tatarstan nannte sich „assoziiertes Mitglied“ der RF, andere Subjekte verwiesen auf einen eigenen Status innerhalb der RF, sprachen von „konstitutionellen Beziehungen“ zur RF und beanspruchten ein Sezessionsrecht.136 Auch die in der Folgezeit verabschiedeten Statuten der Gebiete und Bezirke forderten teilweise eine rechtliche Stellung innerhalb der RF, die über den verfassungsmäßig zugestandenen Rahmen weit hinausging.137 Die insofern entstandenen, teilweise grundsätzlichen Widersprüche zwischen der Föderationsverfassung und den Verfassungen der Subjekte wurden unter Präsident Jelzin weniger als Rechtsfragen von den Gerichten, sondern vor allem als politische Aufgabe durch die Regierungschefs gelöst. Aus Zentrumsperspektive war es das vorrangige Ziel, die Subjekte wieder dauerhaft an die Föderation zu binden.138 Dabei wurden die Ansprüche der Regionen gewürdigt und galten als Ausgangspunkt für bilaterale Verhandlungen zwischen dem Zentrum und den jeweiligen Subjekten. Ab 1994 kam es zu Verhandlungen, aus denen jeweils bilaterale Verträge zwischen dem Zentrum und den Regionen entstanden. Inhalt dieser Verträge war die Abgrenzung der Kompetenzen staatlichen Handelns. Insbesondere denjenigen Subjekten, die außerordentlich starke Unabhängigkeitsbestrebungen aufwiesen, wurden hier umfangreiche Zugeständnisse gemacht. Politisch wichtig war für die Subjekte dabei vor allem die autonome Nutzung der Bodenschätze.139 Diese Vertragspolitik war problematisch: Abhängig von der Wirtschaftskraft und der Intensität der politischen Forderungen der Subjekte entstanden ganz unterschiedliche Verträge, die das Verhältnis der Subjekte zueinander zunehmend asymmetrisch werden ließ.140 Kritikwürdig war neben der wachsenden Undurchsichtigkeit der föderalen Beziehungen und der Desorganisation der verfassungsmäßig vorgeschriebenen föderalen Ordnung, dass die Konfliktlösungsmöglichkeit zwischen den verschiedenen Akteuren al-
135 Schneider, Probleme des Föderalismus in Russland, in: Berichte des BiOst 1999, S. 9, Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 220 ff. 136 Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 220 ff., Michaleva, Konstitucionnye reformy v respublikach – subektach Rossijskoj Federacii, in: Gosudarstvo i pravo 4/1995, S. 4 ff. 137 Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 225 f. 138 Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 229. 139 Schneider, Probleme des Föderalismus in Russland, in: Berichte des BiOst 1999, S. 10. 140 Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 229 ff.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
lein in der Hand des jeweils politisch Stärkeren lag.141 Auf der anderen Seite entsprach die asymmetrische Konzeption der Subjekte durchaus ihrer Disproportion in territorialer Größe, Population, Religion und wirtschaftlichem Reichtum.142 Da sich Russland in einem freiheitlichen Netz der föderalen Beziehungen völlig neu orientieren musste, konnte man den Vertragsföderalismus als ungewisses, aber trotzdem prüfungswürdiges Experiment sehen. Herausgestellt wird insofern neben dem stabilisierenden Effekt, die entstandene Akzeptanz der föderalen Ordnung. Es bleibt also festzuhalten, dass die Existenz von verschiedenen Machtakteuren im russischen Staatsystem in diesem System akzeptiert wurde und die Regionen die Möglichkeit hatten, die Macht des föderalen Zentrums, sogar durch Verträge gesichert, faktisch zu begrenzen. Gerade im Unterschied zum Desintegrationsprozess der Sowjetunion wurden die eigenen Interessen der Subjekte – vom Fall Tschetschenien abgesehen – nicht nur akzeptiert. Es gelang vielmehr, Mechanismen zum Interessenausgleich zu finden und die Subjekte in der Regel freiwillig wieder an den Gesamtstaat zu binden. Nach der langen Tradition des zentralistischen Einheitsstaats und der Negation von Einzelinteressen war dies eine Besonderheit. Erstmals hatten die Regionen gegenüber dem Zentrum die Möglichkeit, selbständig Forderungen zu formulieren, die diskutiert und gewährt wurden. Auf der Suche nach der optimalen föderalen Ordnung für Russland fand das Jelzinsche System der bundesstaatlichen Beziehungen insofern nicht nur Kritiker.143 Kaum zu übersehen bleibt indes, dass die Rolle des Verfassungsgerichts innerhalb dieser Kompetenzauseinandersetzungen zwischen dem Zentrum und den Regionen weitgehend unbeachtet blieb. Trotz der zahlreichen verfassungsmäßig problematischen Aspekte der Kompetenzabgrenzungsverträge,144 wurde eine Anrufung des Verfassungsgerichts durch das föderale Zentrum in den meisten Fällen aus Opportunitätsgründen unterlassen.145 Kompetenzfragen wurden allein in einer Reihe von Einzelfällen entschieden,146 ohne dabei Grundprobleme des Föderalismus, wie den Sta141 Vgl. zu den Einzelproblemen, nicht zuletzt die zahlreichen Rechtsfragen, die die Verträge aufwarfen: Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 229 ff. 142 Heinemann-Grüder, Integration durch Asymmetrie, in: Osteuropa 7/1998, S. 688. 143 Vgl. Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 237 ff. 144 Die Verfassung sieht in Art. 11 III Verf RF vor, dass zur Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen der staatlichen Macht der RF und den Organen der staatlichen Macht der Subjekte der RF entsprechende Vereinbarungen getroffen werden können. Darüber hinaus regelt Art. 78 Verf RF, dass die föderalen Organe der Exekutive ihre Kompetenzen an die Organe der Exekutive in den Subjekten per Vereinbarung übertragen können. Dies gilt auch umgekehrt. Angesichts der nicht immer zweifelsfrei verständlichen, indes aber ausführlichen Kompetenzverteilungsregelungen in Art. 71 ff. Verf RF ist unklar, wieweit eine zusätzliche vertragliche Kompetenzverteilung gehen kann. Unklar bleibt darüber hinaus, ob die Vertragsschlusskompetenz auf der föderalen Ebene allein beim Präsidenten liegen kann. Dies ist insbesondere fraglich, wenn es sich bei den abgetretenen Kompetenzen um Regelungsbereiche der Legislative handelt. 145 Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 243. 146 Vgl. zu den einzelnen Entscheidungen Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, S. 36 ff., 250.
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 225
tus der Subjekte und des Zentrums, abschließend zu klären. Dabei wurde das Föderalismusprinzip selbst in seinem Inhalt und in seinem Wesen vom Verfassungsgericht nur ansatzweise theoretisch entwickelt. Aufgrund der unbedeutenden Rolle der Gerichte in der Sowjetzeit mag durch die erlassenen Urteile im Vergleich bereits eine „Konstitutionalisierung der Zentrum-Regionen-Beziehungen“ eingetreten sein.147 Das Vertrauen in das Recht und das Verfassungsgericht, Machtkonflikte innerhalb der RF zu entscheiden, blieb dabei unvollkommen, wie die Folgeentwicklung unter Putin zeigt. So fand die beidseitige Dynamik der asymmetrisch gestalteten Beziehungen zwischen Zentrum und Regionen mit dem Regierungsbeginn Vladimir Putins sein politisches Ende. In seinen Augen stand das „chaotische System“ zwischen Zentrum und Regionen für politische Schwäche. Die Widersprüche zwischen den Gesetzen in Zentrum und Regionen wurden als defizitäre Herrschaft des Rechts wahrgenommen.148 Vor allem das föderale Gesetz wurde dementsprechend ausdrücklich als „Recht“ angesehen. Die entstandene Asymmetrie, die damit teilweise verbundene Rechtsunsicherheit sowie der Übergangscharakter dieser Entwicklung suchte Putin unter dem Stichwort des ,einheitlichen Rechtsraums aufzuhalten.149 Dieser Begriff implizierte das weitgehende Ende des Vertragsföderalismus.150 Insgesamt ist deutlich, dass nicht nur die Judikative, sondern die einheitlich organisierte Exekutive Mittel zur Durchsetzung des einheitlichen Rechtsraums sein soll. So heißt es z. B. im Parteiprogramm von „Einheitliches Russland“ im Jahr 2007, politisches Ziel sei die politisch-rechtliche Einheit des Landes (politiko-pravovoe edinstvo). Darunter versteht man den Aufbau der Vertikale der Macht als effektives Instrument zum Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger sowie der Verfassung. Auf diese Weise habe man die föderalen Beziehungen ordnen können. Durch die Priorität der föderalen Gesetze sei die Verantwortung der regionalen Staatschefs zur Einhaltung der Menschenrechte gesichert worden.151 Dabei begreift sich Putin als Präsident maßgeblich für die Durchsetzung der Verfassung verantwortlich. Nach dieser Argumentation dient auch der Krieg in Tschetschenien der Wiederherstellung des einheitlichen russischen Rechtsraums.152 147 So Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 255, der insgesamt in den 90er Jahren eine Akzeptanz des Konstitutionalismus im Rahmen der Kompetenzauseinandersetzungen feststellt. 148 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 16. 5. 2003, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2003/05/44623.shtml. 149 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 16. 5. 2003, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2003/05/44623.shtml. 150 Vgl. Schneider, Die Kompetenzabgrenzungsverträge zwischen der Föderation und den Föderationssubjekten: Dynamik und Asymmetrie, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 74. 151 Rossija, kotoruju my vybiraem, http://edinros.ru/er/rubr.shtml?110100. 152 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 26. 5. 2004, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2004/05/71501.shtml.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
In diesem Sinne definiert Fruchtmann die neue föderale Konzeption Putins als das „Prinzip des Einheitsraums“, das „kein weiteres Auseinanderstreben, vor allem der rechtlichen und fiskalischen Bedingungen in den verschiedenen Regionen des Landes“ mehr zulässt. Er sieht darin eine „Depersonalisierung“ der föderalen Beziehungen in Form einer notwendigen Schwächung der „bis dahin kaum gestörten selbstherrlichen Autokraten“ sowie eine Entscheidung gegen das „individualistische“, allein vom partikularistischen Standpunkt gesteuerte Verhalten des Präsidenten Jelzin.153 Unabhängig von der Frage, wieweit das Jelzinsche System der föderalen Beziehungen politisch besser oder verfassungsmäßiger war, ist das „neue Konzept des Föderalismus“154 von Putin aber weder neu155 noch, nach westlichem Verständnis, föderalistisch.156 Wie die Gesamtbetrachtung zeigen wird, umschreibt der „einheitliche Rechtsraum“ vielmehr das bekannte Subordinationsverhältnis innerhalb der Beziehungen der Regionen zum Zentrum.
cc) Der einheitliche Markt als Voraussetzung für eine starke Weltmarktposition Auch der einheitliche Wirtschaftsraum (edinoe ekonomicˇeskoe prostranstvo) bildet bei Putin eine Voraussetzung, um sich international durchsetzen zu können. Dabei umfasst der wirtschaftliche Aspekt der staatlichen Einheit die starke Positionierung Russlands auf dem internationalen Markt157 und die Möglichkeit des Landes, die internationale Wirtschafts- und Handelspolitik mitzugestalten.158 Um die Rolle eines starken Akteurs auf dem internationalen Markt wahrnehmen und um konkurrenzfähig bleiben zu können, müssten die Ressourcen notwendigerweise wirtschaftlich genutzt und entsprechend der Möglichkeiten des Landes gewinnbringend eingesetzt werden, so Putin.159 Voraussetzung für eine starke Wirtschaftsmacht am Weltmarkt ist nach Putins Auffassung ein „einheitlicher“ Markt im Innern des Landes. Um konkurrenzfähig zu sein, müsse man vor allem den wirtschaftlichen Interessen des gesamten Staates gerecht werden.160 Wie der einheitliche Rechtsraum ist auch der einheitliche Wirtschaftsraum durch eine Entscheidungseinheit auf dem gesamten Territorium gekenn153
Fruchtmann, Die Entwicklung des russischen Föderalismus, in: Buhbe/Gorzka (Hrsg.), Russland heute, S. 72. 154 Fruchtmann, Die Entwicklung des russischen Föderalismus, in: Buhbe/Gorzska (Hrsg.), Russland heute, S. 71. 155 Vgl. dazu Kap. B.III.10.b). 156 Vgl. dazu Kap. C.IV.4. 157 Garadzˇa, Suverenitet, S. 14 ff. 158 ˇ Cadaev, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 133. 159 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 3. 4. 2001, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2001/04/28514.shtml. 160 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 3. 4. 2001, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2001/04/28514.shtml.
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zeichnet. Neben der Errichtung unterschiedlicher Verfassungsräume kritisiert Putin die Schaffung von eigenen Wirtschafträumen mit Hilfe von Handelsbarrieren und unterschiedlichen Investitionsanreizen durch die Subjekte.161 In diesem Zusammenhang begreift Putin die extrem liberale Phase in den 1990er Jahren als Quelle der wirtschaftlichen Instabilität. Wie in Bezug auf die unterschiedlichen Rechtsräume wird die Durchsetzung von regionalen Interessen der Subjekte für die wirtschaftliche Krise verantwortlich gemacht. Darüber hinaus werden die Partikularinteressen der Oligarchen als mitschuldig erklärt. Ziel sei es nun, den durch die Oligarchen zerstörten „einheitlichen Markt“ wiederherzustellen.162 Auch hier werden die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Akteure nicht akzeptiert und über gegenseitige Rechtsbeziehungen reguliert. Die Möglichkeit, regionale Investitionspolitik oder einen Finanzausgleich durchsetzbar gesetzlich zu organisieren, ist für Putin keine politische Option. In diesem Sinne werden partikulare Wirtschaftsinteressen moralisch und politisch pauschal als falsch verworfen. Als Weg aus dem Chaos diene allein der „einheitliche Markt.“ Auf diesem dagegen spielen Einzelinteressen keine Rolle, da solche nur auf eine Schwächung der Wirtschaftskraft des Staates hinausliefen. Nur der allgemeine Wohlstand des Landes sei von Bedeutung und wird deshalb von Putin zur Hauptaufgabe seiner Regierung erklärt.163 Damit stehen sich der allgemeine und der individuelle Wohlstand gegenüber. Unter wirtschaftlicher Freiheit versteht Putin vor allem den Machtverlust der Oligarchen sowie die wirtschaftliche Unabhängigkeit Russlands von anderen Staaten.164 Wohlstand und Wirtschaftsfreiheit betreffen in dieser Rhetorik vor allem das Volk als kollektive Interesseneinheit. d) Staatliche Einheit als Voraussetzung für Gerechtigkeit und Freiheit Wenn die Parteilosung verkündet „Ein einheitliches Russland ist ein starkes Russland“, („edinaja Rossija – silnaja Rossija“) impliziert der einheitliche, starke Staat nach der Parteivorstellung ausdrücklich keinen Angriff auf die Freiheit des Einzelnen. Ausdrücklich betont Putin, dass der starke Staat für ihn kein totalitärer Staat sei.165 Wie im Zusammenhang mit dem Demokratiebegriff bereits angesprochen, ist die staatliche Einheit nach den Putinschen Vorstellungen vielmehr Voraussetzung für Gerechtigkeit und die Einhaltung von Menschenrechten. Sei der Staat schwach und ineffektiv, so zerfalle das Land und der Einzelne verliere seinen Schutz und sei feindlichen Gewalten ausgeliefert. Ein starker Staat und Gerechtigkeit stellen damit keinen Widerspruch dar. Um die Gesamtinteressen des Volkes gegenüber Partikularinteressen zu verteidigen, müsse die staatliche Macht vielmehr stark und effek161
Putin, Vlast dolzˇna byt rabotajusˇcˇej, in: Rossijskaja gazeta, 19. 5. 2000, S. 3 ff. Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 163 ˇ Cadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 22. 164 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung, 26. 5. 2004, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2004/05/71501.shtml. 165 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 162
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
tiv sein. Der Staat ist nach Putin insofern die Antwort auf die allgemein beklagte Rechtsunsicherheit und das verbreitete Empfinden der Rechtlosigkeit. Nur ein „starker und demokratischer Staat“ sei in der Lage, bürgerliche, politische und wirtschaftliche Freiheiten zu sichern und die Bedingungen für das Wohlergehen der Menschen und das Wachstum des Vaterlandes zu schaffen.166 Insofern sei auch die gewaltsame Auseinandersetzung in Tschetschenien notwendig gewesen, um die russländische Staatsgewalt durchzusetzen, die allein Gerechtigkeit garantieren könne. Ohne das russische Eingreifen hätte weiterhin Unfriede geherrscht, sagt Surkov: „Die Banditen von Itschkeria waren allmächtig: Sie organisierten „Scharia“-Gerichte, öffentliche Hinrichtungen, schlugen ihre Glaubensgenossen mit Stöcken, schnitten Hände und Köpfe ab.“167 Der Bürgerkrieg in Tschetschenien habe die Menschen dort ihrer „Grundrechte beraubt“. Die Konsolidierung der russischen Staatsmacht in Tschetschenien habe dagegen die Gerechtigkeit und den Sozialstaat wiederhergestellt.168 Mit der Vorstellung, dass staatliche Einheit Voraussetzung von Gerechtigkeit (spravedlivost) sei, wird auch die starke soziale Komponente des russischen Gerechtigkeitsbegriffes zum Ausdruck gebracht. Wenn soziale Gerechtigkeit nach Putin nur durch eine starke Macht garantiert werden könne,169 so beinhaltet der Begriff vor allem den Anspruch auf gerechte Verteilung und Chancengleichheit.170 Wenn Surkov nach der Legitimation der Oligarchen fragt, beinhaltet dieser Ansatz, dass sich der Einzelne das Recht, wirtschaftlich zu handeln, vom Staat herleiten lassen muss. In diesem Sinne ist die Staatsmacht auch zur Überwindung des oligarchischen Systems ermächtigt, das einen Widerspruch zur Gerechtigkeit darstelle. Wenn staatliche Einheit nach der Meinung der russischen Führungsschicht die Voraussetzung von Freiheit darstellt, so gibt dies auch Aufschluss über ein besonderes Freiheitsverständnis. Surkov entgegnet dem Vorwurf, in den 1990er Jahren habe in Russland im Gegensatz zur Regierungszeit Putins ein höheres Maß an Freiheit geherrscht, mit Hinweisen auf die persönlichen Bereicherungen der Oligarchen. Seiner Ansicht nach könne nicht von Freiheit gesprochen werden, wenn die Oligarchen alles beherrschten.171 Angesichts der Macht von privaten Akteuren sei wahre Freiheit nicht vorstellbar.172 Freiheit wird hier nicht als Anspruch gegen den Staat verstanden, Freiheit ist vielmehr wie bei Marx an die wirtschaftlichen Verhältnisse gebunden.
166
Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja, Komsomolskaja pravda, 28. 9. 2004. 168 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 26. 4. 2004, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2004/05/71501.shtml. 169 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij, in: Nezavisimaja gazeta, 30. 12. 1999, http://www. ng.ru/politics/1999-12-30/4_millenium.html. 170 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2005/04/87049.shtml. 171 Surkov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 52. 172 Tretjakov, in: Garadzˇa (Hrsg.), Suverenitet, S. 86. 167
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In Bezug auf die persönliche Freiheit zitiert Putin in der Ansprache an die Föderalversammlung im Jahr 2005 den Staatsphilosophen Ivan Ilin mit den Worten, staatliche Macht könne nicht die kreativen Seiten von Seele und Geist übersehen, wie innere Liebe, Freiheit und gute Absicht. Der Staat könne von den Bürgern nicht Glaube, Gebet, Liebe, Güte und Überzeugung verlangen. Er könne weder wissenschaftliches, religiöses noch künstlerisches Schaffen regulieren. Der Staat sollte sich nicht in Fragen der Moral, der Familie und des täglichen Privatlebens einschalten und nur in extremen Situationen wirtschaftliche Initiative und Kreativität beeinflussen.173 Auch wenn Putin den Ilinschen Staatsvorstellungen ansonsten nicht ausdrücklich folgt und insofern nicht geschlussfolgert werden kann, dass Putin dieses System insgesamt bejaht, bleibt festzuhalten, dass es Ilin in diesem Zitat nicht um eine Rechtsstellung des Einzelnen zur Sicherung seines Freiheitsraums gegen den Staat ging, sondern um einen bloßen Appell an den von außen unbeschränkten Staatschef zur Selbstbindung aus Verantwortlichkeit für das Seelenheil seines Volkes. Freiheit wird hier nicht von staatlicher Macht gesichert, sondern von ihr gewährt. e) Die „geistige“ Ebene staatlicher Einheit: Ideelle Homogenität durch eine gemeinsame Idee Die Idee der staatlichen Einheit beinhaltet nach Präsident Putin eine gemeinsame staatliche Idee. Notwendige Voraussetzung für den von ihm angestrebten Staat ist danach auch eine staatliche Wertegemeinschaft. Wie dargestellt, hat sich Präsident Putin bereits im Jahr 1999 positiv für die sog. russländischen Idee als einer integrierenden, „Identität stiftenden Staatsidee“ ausgesprochen.174 Er geht dabei von der Notwendigkeit aus, dem Volk nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion zu einer gemeinsamen Identität zu verhelfen. Die Russische Idee gibt für ihn die Antworten auf die Fragen, die sich Russland gegenwärtig stellt. Politisch aktuell war dieses Thema schon unter Präsidenten Jelzin. Dieser hatte im Jahr 1996 durch einen Wettbewerb die „beste Ideologie zur Einigung der Nation“ gesucht.175 Indem Präsident Putin die Inhalte der russischen Idee zur Grundlage des gemeinsamen politischen Konsensus machte, ist deutlich, dass er die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nötig gewordene Auseinandersetzung mit der Geschichte und den neuen Idealen der russischen Gesellschaft nicht allein den Diskussionsforen einer pluralistischen Gesellschaft überlässt. Diesen Ansatz teilt die von der Kreml-Administration autorisierte Schrift „Putin-Ego ideologija“ (Seine Ideologie). Der Autor ist der Meinung, dass die politischen Vorstellungen Putins auf der Grundannahme aufbauen, mit der Wahl zum Präsidenten wähle das Volk seine Ideologie.176 Zwar lehnt 173 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml sowie das Originalzitat bei Ilin, Sobranie socˇinenij v 10 tomach, Band II, S. 411 f. 174 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 175 Kto my? Kuda idem? in: Rossijskaja gazeta, 30. 7. 1996. 176 ˇ Cadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 7 f., 139 f.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Vladimir Putin einerseits eine offizielle Staatsideologie ab, gleichzeitig spricht er sich für einen einheitlichen „Legitimation stiftenden Konsens zwischen Werten und Zielen innerhalb der Gesellschaft“ aus:177 Grundlage der Ideologie sind die gemeinsamen Werte.178 Inhaltlich werden diese Werte durch den Rückgriff auf die russische Idee bestimmt. Insofern kann angenommen werden, dass die Idee der souveränen Demokratie selbst als eine Art Ideologie zu begreifen ist.179 Wie bereits erörtert, ist diese als unablässig wiederholte Identitätsvorstellung faktisch an die Stelle der kommunistischen Ideologie getreten.180
f) Staatliche Einheit durch Einmütigkeit und Solidarität hinsichtlich des gemeinsamen Ziels Der starke Staat bedeutet für Putin schon deshalb keinen Angriff auf die Freiheit, weil es keine Widersprüche zwischen dem Willen des Staates und dem Willen des Volkes in politischen Fragen gibt. Wenn Putin von der schwachen Macht spricht, meint er damit ein schwaches „wir“ in Bezug auf das russische Volk.181 Das gemeinsame Interesse des Volkes beruht in dem einheitlichen Willen zum russischen Staat. Staatliche Einheit beschreibt Putin deshalb auch als „Vereinigung im gemeinsamen Stolz auf das Land“ bzw. „den gemeinsamen Wunsch, Russland innerhalb der internationalen Konkurrenz nicht untergehen zu lassen“.182 Innerhalb dieses Systems ist keine passive Haltung des Volkes erwünscht. Wichtig sei vielmehr, dass das Volk am gemeinsamen Ziel mitarbeite und den Präsidenten stütze. Surkov führt dazu aus, dass die terroristische Bedrohung die Wachsamkeit, Solidarität, die gegenseitige Hilfe und die Vereinigung der Anstrengungen von Bürger und Staat erfordere.183 Nach der „sittlichen Krise des pseudokollektivistischen kommunistischen Regimes“ gelte es nun vielmehr eine neue „moralische Mehrheit“ für einen „echten Kollektivismus aufzubauen, die sich durch zivilgesellschaftliches Engagement und Privatinitiative in den Aufbau und die Stärkung des Staates einbringe.184 Russischen Studenten sagt Putin anlässlich des Tags der nationalen Einheit im Jahr 2005: „Indem wir Einheit in uns spüren, werden wir unbezwingbar sein.“185 177
Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. Kommentar zum Manifest der Jugendorganisation „Nasˇi“. 179 So Smith, Sovereign Democracy: the Ideology of Yedinaja Rossiya, Conflict Studies research centre, Russian Series 6/27, S. 9. 180 So Scherrer, Ideologie, Identität und Erinnerung, Eine neue Russische Idee für Russland?, in: Osteuropa 8/2004, S. 27 ff. 181 ˇ Cadaev, Putin. Ego Ideologija, S. 36. 182 Putin, Ansprache zum Tag der nationalen Einheit 2007, http://www.kremlin.ru/appears/ 2007/11/04/1643_type122346_150256.shtml. 183 Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja, Komsomolskaja pravda, 28. 9. 2004. 184 Surkov, Putin ukrepljaet gosudarstvo, a ne sebja, Komsomolskaja pravda, 28. 9. 2004. 185 Putin, Ansprache zum Tag der nationalen Einheit 2005, http://archive.kremlin.ru/text/ appears/2005/11/96690.shtml. 178
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 231
Kollegiale Zusammenarbeit sei Voraussetzung für eine große Zukunft.186 Generell sei das Handeln des Führers (lider) jeweils nur so effektiv, wie es gelinge, im Volk in Anbetracht der getroffenen Entscheidungen zum Wohlergehen des Landes Einigkeit herzustellen (obedinit vokrug resˇenij). Nur wenn Einheit hinsichtlich der gemeinsamen Werte bestünde und taktische Meinungsverschiedenheiten vergessen würden, könne man Resultate erreichen. Nur so werde Russland Wohlstand und einen Platz in der Welt erreichen.187 Wie die Abneigung gegen die Oligarchen an anderer Stelle zeigt, darf das soziale Engagement nicht Privatinteressen dienen, sondern allein den Interessen des ganzen Volkes. Das Streben nach eigenem Glück sei zurückzustellen, um Russland noch mächtiger zu machen.188 Zivilgesellschaft und Privatinitiative sind hier nicht Ausdruck eines offenen pluralistischen Systems, sondern der Solidarität mit dem Staat. Wie schon vielfach deutlich wurde, kommt gerade hier eine Grundhaltung zum Ausdruck, die innere Einheit widersetzlichen Positionen gegenüber moralisch voranstellt. Gegensätze und Streit gelten darin als schädlich. Mehrfach spricht er sich für Einigkeit anstelle von „taktischen Meinungsverschiedenheiten“ aus.189 Putin wendet sich dabei nicht nur gegen Partikularinteressen durch die Oligarchen und die Regierungschefs der Regionen. Er geht davon aus, dass alle Gegensätze in der Gesellschaft überwunden werden müssen. Fruchtbare und kreative Arbeit sei in einer „geteilten und innerlich zerrissenen Gesellschaft“ nicht möglich.190 Er stellt die Ablehnung der föderalen Konflikte ganz allgemein in eine Reihe mit gleichfalls abzulehnenden ideologischen und parteilichen Gegensätzen (protivorecˇie). Dabei geht seine Skepsis gegenüber dem Meinungs- und Interessenstreit zwar nicht soweit, Parteien und das Parlament ganz abzuschaffen. Vielmehr hält Putin sie als einendes Element für erforderlich. Jedoch geht es primär um die Sicherung des Gesamten. Insofern dürfen auch Parteien ihre Rolle nur soweit spielen, wie sie dem Ganzen dienen. Regionale Parteien sind nach der neuen Wahlgesetzgebung faktisch verboten.191 Parallel dazu wirbt die Partei „Einheitliches Russland“ im Wahlkampf im Herbst 2007 mit der Aus186 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung 26. 5. 2004, http://www.kremlin.ru/text/ appears/2004/05/71501.shtml. 187 Putin, Interview zum Tag der nationalen Einheit 2007, http://archive.kremlin.ru/appe ars/2007/11/04/1620_type63376type82634_150255.shtml. 188 Es ginge darum, nicht die eigene Person in den Vordergrund zu stellen, sondern zu verstehen, dass man in einem großen (velikaja) Land lebe, das hervorragende Perspektiven habe. Wenn man „taktische Meinungsverschiedenheiten vergessen könne und eine Werteeinheit herrsche, warte noch größerer Erfolg auf alle“, Putin, Interview zum Tag der nationalen Einheit 2007, http://www.kremlin.ru/appears/2007/11/04/1620_type63376_150255.shtml. 189 So gleich zwei Mal im Interview zum Tag der nationalen Einheit Putin, Interview zum Tag der nationalen Einheit 2007, http://archive.kremlin.ru/appears/2007/11/04/1620_type 63376type82634_150255.shtml. 190 Putin, Rossija na rubezˇe tysjacˇeletij. 191 Vgl. Nußberger/Marenkov, Wahlgesetzgebung als Steuerungsmechanismus, zu den neuen rechtlichen Grundlagen der Duma-Wahlen im Dezember 2007, in: Russland-Analysen, Nr. 146 vom 26. 10. 2007, S. 3.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
sage, sie vertrete die ganze Gesellschaft und nicht nur einzelne Gruppeninteressen.192 Dies beinhaltet, dass abweichende Meinungen zwar nicht verfolgt werden, die kontrollierte Medienlandschaft193 und das politische System jedoch dafür sorgen, dass sie ohne Einfluss bleiben. Dies kommt auch zum Ausdruck, wenn Putin an anderer Stelle sagt, die geistige Einheit (duchovnoe edinstvo) und die gemeinsamen Werte seien ein wichtiger Faktor in der Entwicklung des Landes und seiner politischen und wirtschaftlichen Stabilität.194 Ebenso wird die Einmütigkeit zum historischen russischen Erfolgsprinzip erklärt: In der Rede zum Tag der Einheit 2006 beschwört Putin die historische Einmütigkeit des Volkes hinsichtlich eines starken Staates. Auch wenn dieser historische Vergleich nicht dem Forschungsstand der Geschichtswissenschaft entspricht,195 sieht Putin darin den Beweis für die Einheit des Willens als Voraussetzung für die Existenz des Staates: „Die Befreiung wurde durch den Zusammenschluss des Volkes möglich, dessen Vertreter unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen und Nationalitäten und sozialen Schichten angehörten. Das ist besonders symbolisch und wichtig für unseren Vielvölkerstaat. Solange wir eine solche Einheit im Innern spüren, wird Russland unbesiegbar sein.“ Dieser Zusammenschluss formiere sich freiwillig: „Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse vereinigten sich nicht auf Anordnung von oben, sondern aus freiem Herzen, um gemeinsam und unabhängig über das eigene Schicksal und das Schicksal der Vaterlandes zu entscheiden.“196 Aus gleichem Anlass sagt er im Jahr 2007, wie die Ereignisse zur Überwindung der Zeit der Wirren zeigten, sei die Bedingung für Russlands Erfolg nicht nur das wirtschaftliche Potential des Landes, sondern die Einheit des Volkes, das solidarisch zusammensteht.197 Wenn er auch die Freiwilligkeit betont, lässt Putin keinen Zweifel, dass es zu dieser Entscheidung keine Alternative gibt. Der Zusammenschluss ist vielmehr historisch notwendig.198 In die gleiche Richtung geht der Appell Putins an die Solidarität seiner Bürger. Am Tag der nationalen Einheit stellt Putin die Begriffe „Einheit“, „Solidarität“, „gegenseitige Hilfe und Wohlfahrtspflege“ in eine Reihe. Diese „russischen Traditionen“ seien hervorzuheben, weil sie nach seiner Auffassung 192 Edinaja Rossija-partija vsego obsˇcˇestva – a ne otdelnych socialnych grupp, http:// www.edinros.ru/news.html?id=125275. 193 Mommsen/Nußberger, Das System Putin, S. 52 ff., Rabitz, Gelenkte Demokratie – gelenkte Medien. Beobachtungen im russischen Wahlkampf, Russland-Analysen, Nr. 147 vom 2. 11. 2007, S. 2 ff. 194 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung, 26. 4. 2007, http://archive.kremlin.ru/ text/appears/2007/04/125339.shtml. 195 Vgl. Scherrer, Russlands neue-alte Erinnerungsorte, in: APuZ 11/2006, S. 25. 196 Putin, Vystuplenije na torzˇestvennom prieme, posvjasˇzˇennom Dnju narodnogo edinstva, 4. 11. 2005, http://archive.kremlin.ru/text/appears/2005/11/96690.shtml. 197 Putin, Ansprache zum Tag der nationalen Einheit 2007, http://archive.kremlin.ru/text/ appears/2007/11/150256.shtml. 198 Der Chef der Moskauer Eurasien-Bewegung, Aleksander Dugin bemerkt dazu, es könne keine Gegner Putins mehr geben und wenn es welche gäbe, so wären diese geisteskrank (zitiert nach Reitschuster, Nach Putin ist vor Putin, Focus vom 14. 9. 2007).
I. Politische Zielbestimmung bei Vladimir Putin und der Partei „Edinaja Rossija“ 233
nicht nur für das Gemeinsame stünden, sondern dieses auch immer wieder festigten.199 Dabei kommt es zu einer moralisch aufgewerteten Trennung, einerseits in die Mitstreiter des Präsidenten und andererseits in deren Gegner, die als die „Anderen“ bezeichnet werden. Offensichtlichstes Beispiel dafür ist der Name der Jugendorganisation „Nasˇi“ – zu Deutsch die Unsrigen. Es gibt demzufolge keine Wahl zwischen verschiedenen politischen Optionen, sondern nur die Kategorien von Freund und Feind. Moralisch richtig handelt insofern nur derjenige, der Teil der Einheit ist. g) Staatliche Einheit als Zielzustand und Teil einer besseren Zukunft Letztlich ist die „staatliche Einheit“ im staatstheoretischen Diskurs Vladimir Putins nicht nur Mittel zur Bewältigung der gegenwärtigen Probleme. Vielmehr steht der Begriff auch als Synonym für eine zukünftige bessere Welt (velikoje buducˇsˇee). Dies geht insbesondere aus den Zielen der Partei „Einheitliches Russland“ hervor.200 Ohne die Begriffe näher zu konkretisieren, heißt es dort, politisches Ziel der Partei sei die „große Zukunft“ (velikoje buducˇsˇee), wie auch ganz allgemein die „Einheit“.201 Die „Einheit“ steht im Ergebnis gleichbedeutend mit der „großen Zukunft“. Sie beinhaltet die andauernde Sicherung der Einheit von Volk, Territorium und Zielen: „Das Volk Russlands und sein Territorium verbindet eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Tradition, Prioritäten und Interessen“, diese „Einheit Russlands“ sei aber nichts Gegebenes (eto ne dannost), vielmehr müsse man dafür in Form einer wirtschaftlichen, politischen und geistigen Festigung des Landes202 kämpfen. Damit macht Putin deutlich, dass die Einheit nach seinem Verständnis noch nicht vollständig umgesetzt ist und deklariert sie zur gemeinsamen Aufgabe. Indem er die Einheit als Bestandteil einer besseren Zukunft sieht, wird sie ein unumgänglich zu erringendes Ziel. Es sei folglich unerlässlich, alle, die dieses Ziel erreichen wollen, zu einem Subjekt zu formen. Dies geht insgesamt mit der bereits dargestellten und auch im heutigen öffentlichen Diskurs in Russland erkennbaren Vorstellung einher, dass die Geschichte in ihrer gesamten Entwicklung eine Einheit bildet und deshalb Fortschritt notwendig auf Vereinigung gerichtet sein muss. Einheit und Vereinigung des Volkes stehen dabei als Bild für den erstrebenwerten Endzustand der hergestellten Gerechtigkeit. Spaltung ist dagegen ein Unrechtszustand, der wiederum historische Überwindung erfordert.203 Das Streben nach allgemeiner Einheit stellt Putin letztendlich als 199
Putin, Vystuplenije na torzˇestvennom prieme, posvjasˇzˇennom Dnju narodnogo edinstva, 4. 11. 2005, http://archive.kremlin.ru/text/appears/2005/11/96690.shtml. 200 Partei „Einheitliches Russland“, nasˇi celi , http://old.edinros.ru/news.html?id=109011. 201 Partei „Einheitliches Russland“, nasˇi celi, http://old.edinros.ru/news.html?id=109011. 202 Partei „Einheitliches Russland“, nasˇi celi, http://old.edinros.ru/news.html?id=109011. 203 So sagte Präsident Boris Jelzin die Ermordung der letzten russischen Zarenfamilie sei das Ergebnis einer „Spaltung der Gesellschaft zwischen „uns“ und „ihnen“ und diese Spaltung müsse überwunden werden. Rossija providla v poslednij put svoego poslegnogo imperatora, Nezavismaja gazeta, 18. 7. 1998. Das anschließende Begräbnis ist Ausdruck dafür, die „Einheit der Geschichte“ wiederherzustellen (Scherrer, Ideologie, Identität und Erinnerung, in: Osteuropa, 8/2004, S. 35). Die Überführung der sterblichen Überreste des Philosophen Ivan Iliins
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
einen unumgänglichen Schritt in Richtung einer besseren Welt dar, bzw. eines gerechten Endzustands, in dem allgemeiner Ausgleich herrscht. 3. Zwischenergebnis Staatliche Einheit ist nach Vladimir Putin die Antwort auf die angenommene Bedrohungssituation und das innere Chaos. Dabei wird der Begriff „Einheit“ im politischen Diskurs der föderalen Elite sehr vielfältig gebraucht. Einheit ist in mancher Hinsicht Voraussetzung, aber gleichzeitig auch Ziel. Wenn auch die einzelnen politischen Begriffe „Einheit des Staates“, „nationale Einheit“, „Einheitliches Russland“, „Einheit Russlands“, „Souveränität“, „Unabhängigkeit“ und „territoriale Integrität“ sowie „große Zukunft“ nicht klar definierbar und voneinander abgrenzbar sind, gruppieren sie sich um das Bild von einem wirtschaftlich erfolgreichen und im internationalen Gefüge starken russischen Staat. Die Einheit des Staates ist für Putin Garantie für die Überwindung des Ausnahmezustands. Dies wird mit der Losung der Partei „Einheitliches Russland“ zum Ausdruck gebracht, wonach ein „einheitliches“ gleichzeitig auch ein „starkes Russland“ ist. Ein starkes Russland wiederum ist ein Staat, der wirtschaftlich erfolgreich und von globalen Prozessen relativ unabhängig existiert und in dem die demokratisch gewählte einheitliche Macht effektiv das Land lenkt, ohne von Einzelinteressen beeinflusst zu werden. Sinnbildlich für die Ablehnung von Einzelinteressen steht der Kampf gegen die Oligarchen. Fortschritt bedarf dagegen einer nach innen und außen unabhängigen staatlichen Macht. Gerade der dynamische Aspekt der Einheitslosung eint Putin mit der Marxschen Forderung nach der Vereinigung des Proletariats. Durch einen Zusammenschluss sollen bestehende Systeme aufgebrochen werden. Einheit ist in beiden Fällen das Kampfmittel für den gesellschaftlichen Fortschritt. Anders als bei Marx, dafür aber in Anlehnung an die russische staatstheoretische Tradition ist dabei der Staat selbst das Instrument, mit dem Vereinigung zur Überwindung von äußerer Bedrohung möglich ist. Hier ist das große, wirtschaftlich starke, souveräne Russland die objektive Idee, die durch ein vor allem effektives System staatlicher Macht durchgesetzt wird. Es wird vorausgesetzt, dass das Erfordernis der Einheitsherstellung erkannt und akzeptiert wird. Aufgrund der Tatsache, dass sich Russland in den Augen des Kremls von anderen Ländern und Kulturen unterscheidet, kann die ideale Staatsform nicht im Vergleich mit anderen Ländern, sondern allein in der Analyse der russischen Geschichte gesucht werden. Die offizielle russische Geschichtsanalyse ergibt wiederum, dass die effek-
sowie des ebenfalls im Exil verstorbenen Generals der Weißen Armee, A. I. Denikin, nach Moskau bezeichnete Patriarch Alexej II. als Symbol der „Einheit und des Ausgleichs“, als Ausdruck der Überwindung der Trennung während der kommunistischen Zeit, http://www. mospat.ru/index.php?page=27811. Auch hier geht es darum, durch Rehabilitierung von Opfern einen Ausgleich für die frühere Verfolgung zu schaffen, was mit Vereinigung (edinstvo) umschrieben wird.
II. Staatliche Einheit nach der russisch-orthodoxen Sozialdoktrin
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tivste Form staatlicher Organisation für Russland der Zentralismus mit einer handlungsfähigen, einheitlich gestalteten Gewalt ist. Hinter der politischen Notwendigkeit des Subjekts Russland bleibt der Einzelne zurück. Diskutiert wird nicht, wie staatliche Einheit entsteht, sondern dass staatliche Einheit entsteht.204 Interessenkonflikte dürfen insofern nur soweit stattfinden, als sie das Ganze nicht gefährden und dementsprechend vom Zentrum beherrschbar sind. Einzelinteressen, die das Gesamte gefährden, müssen sich faktisch dem vom Präsidenten repräsentierten gemeinsamen Willen unterordnen. Die Notwendigkeit eines starken Russlands aufgrund der kulturellen Einzigartigkeit seines Volkes und der permanenten Bedrohung wirkt dabei letztlich nicht nur identitätsstiftend für das nach dem Untergang der Sowjetunion nach neuer Orientierung suchende russische Volk, sondern auch legitimitätsstiftend für den weitgehend autokratisch regierenden Präsidenten: Die Notwendigkeit der Errichtung eines „einheitlichen Staates“ dient als Herrschaftsrechtfertigung für das quasi autokratische präsidentielle System.
II. Staatliche Einheit nach der russisch-orthodoxen Sozialdoktrin 1. Der Staatsbegriff der Kirche Die Analyse des politischen Diskurses über die konzeptionellen Grundlagen von nationaler und staatlicher Einheit bliebe unvollkommenen, wenn man die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche in diesem Zusammenhang heute völlig ausblendete. Wie insbesondere bei Solovev und Ilin, aber auch bei Cˇicˇerin und Novgorodcev deutlich wird, ist die Verflechtung mit dem orthodox bestimmten sittlichen Ideal für ihren Staatsbegriff entscheidend. Gleichermaßen ist der Staatsbegriff für das orthodoxe Sozialdenken selbst zentral.205 Dies kommt gegenwärtig in der Sozialdoktrin aus dem Jahr 2000206 sowie der sog. „Russischen Doktrin“, dem kirchlichen Programm für die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Russlands,207 zum Ausdruck. Danach verkörpert der Staat in seiner idealen Form die einheitliche gute Substanz der Gemeinschaft und ist daher in der Lage, vom profanen Ausgangszustand zu befreien und den Einzelnen zum göttlichen Ideal zu lenken.208 Charakteristisch für das russisch-orthodoxe Verständnis sind insofern die Geschlossenheit, die Lenkungs204 Zum Tag der nationalen Einheit 2006 sagt Putin: „Wir sind alle Kinder unseres Landes und seiner Geschichte. Und diese historisch-genetische Erinnerung des Volkes ruft uns zu Einheit und allgemeiner Verantwortung für das Schicksal Russlands, ruft uns auf, die Kräfte zu bündeln und zu vereinigen im Namen des gegenwärtigen und des zukünftigen Russlands.“ http://archive.kremlin.ru/text/appears/2006/11/113418.shtml. 205 Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 273. 206 Sozialdoktrin der Russisch-orthodoxen Kirche, http://www.kas.de//db_files/dokumen te/7_dokument_dok_pdf_1369_1.pdf?050120163338. 207 http://www.rusdoctrina.ru. 208 Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 276.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
fähigkeit und die Sittlichkeit des Staates. Der Begriff Einheit umfasst diese wesentlichen staatlichen Eigenschaften. „Einheit“ steht nicht nur für Geschlossenheit und die Entscheidungs- bzw. Führungseinheit, sondern im Gegensatz zur Zwietracht auch für das Gute allgemein.209 Zweck des Staates ist der notwendige Schutz des Menschen vor der Sünde: „Die Heilige Schrift ruft die Machthabenden auf, die staatliche Gewalt zur Abwehr des Bösen und zur Unterstützung des Guten zu gebrauchen, worin der moralische Sinn der Existenz des Staates gesehen wird (Röm 13. 3 – 4). Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass Anarchie die Abwesenheit von gebührender Ordnung von Staat und Gesellschaft ist, während Aufrufe hierzu, ebenso wie Versuche, diese zu errichten, der christlichen Weltanschauung zuwiderlaufen (Röm 13. 2).“210 Diese Vorstellung beinhaltet auch den Lenkungsanspruch staatlicher Macht gegenüber dem Volk, der wiederum die Unterordnung des Volkes voraussetzt: „Die Kirche gebietet ihren Kindern nicht nur, der staatlichen Gewalt unabhängig von den Überzeugungen und Glaubensbekenntnissen ihrer Träger Gehorsam zu leisten, sondern sie betet auch für sie, ,damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können (1 Tim 2. 2).“211 Dabei lehnt die Kirche die absolute Gewalt des Staates ausdrücklich ab: „Nach der Lehre der Kirche hat auch die Staatsgewalt nicht das Recht, sich durch Ausweitung ihrer Grenzen bis zur vollen Autonomie gegenüber Gott und der von Ihm geschaffenen Ordnung der Dinge selbst zu verabsolutieren, was zu Machtmissbrauch und sogar zur Vergöttlichung der Herrschenden führen könnte.“212 Staatliche Macht soll danach nicht in alle Lebensbereiche dringen. Auffällig ist das ähnliche Zitat Ivan Ilins, das Putin in seiner Ansprache an die Föderalversammlung gebrauchte und mit dem er ebenfalls herausstellte, dass der Staat dem Individuum Freiräume lassen müsse.213 Umso erstaunlicher scheint es, dass die Kirche den Freiheitsraum des Einzelnen und dementsprechend auch den Schutz dieses Raumes gegenüber der staatlichen Gewalt ablehnt: „Auch wenn die Kirche der weltanschaulichen Entscheidung nichtreligiöser Menschen sowie ihrem Recht auf Mitgestaltung der gesellschaftlichen Prozesse Achtung zollt, ist sie zugleich nicht in der Lage, eine Weltordnung gutzuheißen, die ihren Ausgang bei der durch die Sünde verdorbenen menschlichen Person nimmt.“214 In diesem Zusammenhang erkennt die Kirche die Menschenwürde als grundlegenden Wert an. Sie sieht diese jedoch nicht durch den Schutz der Freiheit, sondern durch die Teilnahme an der Gemeinschaft gewährleistet. Dabei stellt sie auch heute das slawophile Prinzip der Gemeinschaft der westlichen Idee der absolu-
209 Ganz ausdrücklich heißt es in der Sozialdoktrin der Russisch-orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2000, Einheit sei das Gute und Zwietracht das Böse. 210 Sozialdoktrin der Russisch-orthodoxen Kirche (III.). 211 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (III.2). 212 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (III.2). 213 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml. 214 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (XVI.4.).
II. Staatliche Einheit nach der russisch-orthodoxen Sozialdoktrin
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ten Freiheit gegenüber.215 Danach betrachtet sie die Menschen „als Glieder des einheitlichen gesellschaftlichen Körpers“ „in welchem die Krankheit eines Organs zum Siechtum und zum Tod des ganzen Organismus führt. Im letzteren Fall kann und muss sich der Einzelne sowohl vor der Gemeinde als auch vor der Welt verantworten, sofern die Handlungen von dem Einen Auswirkungen auf die Vielen haben“.216 In diesem Sinne führe absolute Freiheit im westlichen Sinne zum Verfall (razval) der Gesellschaft und damit auch zu einer Beeinträchtigung der orthodox verstandenen Menschenwürde.217 Die Grenze für die Staatsgewalt ist in diesem Zusammenhang nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern das Monopol der Kirche als Erkenntnisquelle von Sittlichkeit. In diesem Sinne begreift die Kirche auch die staatlichen Gesetze als unzulänglich, solange sie nicht mit den sittlichen Gesetzen übereinstimmen: „Das Recht ist dazu bestimmt, eine Erscheinungsform des göttlichen Schöpfungsgesetzes im sozialen und im politischen Bereich zu sein. Zugleich ist jedes durch die menschliche Gemeinschaft hervorgebrachte Rechtssystem – als Ergebnis einer historischen Entwicklung – durch eine gewisse Beschränktheit und Unvollkommenheit gekennzeichnet. Das Recht ist ein eigenständiger Bereich, der sich von dem ihm benachbarten Bereich der Ethik unterscheidet: es regelt nicht den inneren Zustand des menschlichen Herzens, da einzig Gott Herr unserer Herzen sein kann.“218 Diese Einschätzung der Kirche führt soweit, dass sie die Geltungskraft von – in ihren Augen – nicht sittlichen Gesetzen bezweifelt: „In solchen Fällen allerdings, in denen das menschliche Gesetz die absolute göttliche Norm von Grund auf verwirft und diese durch ihr Gegenteil ersetzt, hört es auf, ein Gesetz zu sein und wird zur Gesetzlosigkeit, ungeachtet der Wahl seines jeweiligen rechtlichen Gewandes.“219 Von ihrem Zweifel gegenüber der menschlichen Freiheit und der Fähigkeit der Menschen, Gesetze zu verabschieden, leitet sie die Vorstellung ab, dass der Mensch außerhalb der staatlichen Einheit nur beschränkt in der Lage sei, sich aus dem profanen Ausgangszustand selbst zu befreien. Ganz im Gegensatz zum lutherischen „solus Christus“, „sola fide“, „sola scriptura“ und „sola gratia“ brauche der Mensch nach der russisch-orthodoxen Auffassung nicht nur die Kirche, sondern den (idealen) Staat. Diesbezüglich ist der neue alte Staatsbegriff der russisch-orthodoxen Kirche widersprüchlich. Einerseits kann die Kirche den gegenwärtigen russischen Staat aufgrund der formalen religiösen Neutralität nicht als Wirklichkeit der sittlichen Idee anerkennen. Insofern weist sie auf die Gefahren hin, die ihrer Ansicht nach mit dem säkularisierten Staat verbunden sind. Freiheitliche Demokratie und Menschenrechte ohne 215 Metropolit Kirill, Die Religion im gegenwärtigen System der internationalen Beziehungen, http://www.mospat.ru/index.php?page=27793. 216 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (IV.3). 217 Metropolit Kirill, Die Religion im gegenwärtigen System der internationalen Beziehungen, http://www.mospat.ru/index.php?page=27793. 218 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (IV.2). 219 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (IV.3).
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
jede Beziehung zum sittlichen Ideal der Kirche können nach ihrer Auffassung nicht richtig sein. Einem Staat, der das göttliche Gebot nicht achte, sei der Gehorsam zu verweigern.220 Vor diesem Hintergrund sieht sie eine Trennung von Kirche und Staat als Gefahr für den Menschen. Die Hinwendung zum sittlichen Ideal könne allein aus der Freiheit des Menschen heraus nicht gewährleistet werden. Freiheit, Recht und Demokratie ohne Rückkoppelung im sittlichen Ideal der orthodoxen Kirche betrachtet sie als heidnisch, weswegen sie den Staat nicht per se als sittlich begreift.221 Umso erstaunlicher ist es, dass diese Erkenntnis für die Kirche heute kaum Konsequenzen hat. Gerade nach den Erfahrungen der Sowjetzeit erscheint es kaum nachvollziehbar, dass sich die Kirche theologisch nicht gänzlich vom Staatsbegriff emanzipiert und eine Heilslehre entwickelt, in der der Staat abdingbar ist. Es ist bemerkenswert, dass die Kirche zwar einerseits die „Fehlerhaftigkeit“ des säkularisierten Staats wahrnimmt, aber anderseits nicht von ihren idealen Staatsvorstellungen abweicht. So hält die Kirche ganz ausdrücklich am Ideal der alten Symphonielehre fest.222 Danach greifen Staat und Kirche im gemeinsamen Bemühen ineinander, das russische Volk zu leiten. Während die Kirche grundsätzlich für das „ewige Heil der Menschen“ zuständig ist, kümmert sich der Staat um das irdische Wohlergehen. Allerdings ist letzteres nicht vom ewigen Heil unabhängig, da das irdische Wohlergehen an die moralische Norm gebunden ist. Insofern muss es letztlich mit dem Heilsauftrag der Kirche übereinstimmen. Darüber hinaus braucht die Kirche den Staat, der ihre Arbeit auf der Erde ermöglicht. Im Rahmen der Symphonielehre ist der ideale Staat Bedingung für die Kirche. Die Kirche vergleicht die gegenseitige Abhängigkeit insofern mit der Metapher „Leib und Seele“.223 Die Kirche ist bemüht, dieses Modell nach Kräften im politischen Alltag umzusetzen und die Symphonielehre praktisch anzuwenden.
220
Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (III. 1). Vgl. Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 306. 222 In der sechsten Novelle des hl. Justinianos ist das der Symphonie zwischen Kirche und Staat zugrunde liegende Prinzip formuliert: „Die erhabensten Güter, die den Menschen durch die höchste Gütigkeit Gottes verliehen sind, sind das Priestertum und das Königtum, von denen ersteres (das Priestertum, die kirchliche Macht) sich um die göttlichen Angelegenheiten kümmert und letzteres (das Königtum, die Staatsmacht) sich der menschlichen Anliegen annimmt und diese leitet, während beide, in Ansehung ihres gemeinsamen Ursprungs, eine Verschönerung des menschlichen Lebens bewirken. Deshalb liegt den Königen nichts mehr am Herzen als die Ehrung der Geistlichen, die ihrerseits ihren Dienst an den Königen durch ununterbrochene Fürbitte vor Gott erfüllen. Und wenn einerseits die Geistlichkeit in allem wohlgeordnet und gottgefällig ist, andererseits auch die Staatsmacht den ihr anvertrauten Staat wahrhaftig leitet, so wird sich zwischen ihnen vollkommene Eintracht in Bezug auf alles einstellen, was dem Nutzen und dem Wohlergehen des menschlichen Geschlechts dient.“ (Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche). 223 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (III.4). 221
II. Staatliche Einheit nach der russisch-orthodoxen Sozialdoktrin
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2. Friedensfähigkeit als Voraussetzung – Einheit als Seinsgrund Wie sehr Kirche und Staat tatsächlich heute schon „ineinandergreifen“ zeigt sich in den Feiern zum Tag der nationalen Einheit: Die Einführung des Tages der nationalen Einheit am 4. November geht auf eine Initiative der Kirche zurück.224 Wie bereits angedeutet, feiert die Kirche nach dem Kirchenkalender an diesem Tag die Mutter Gottes von Kazan, der einen unmittelbaren Anteil am Sieg Minin und Pozˇarskijs über die katholischen Polen zugeschrieben wird.225 Gleichermaßen beteiligt sich die Kirchenelite regelmäßig an den Feierlichkeiten zum Tag der nationalen Einheit mit zahlreichen Veranstaltungen und Medienauftritten z. B. in den Hauptnachrichten des staatlichen Fernsehkanals „Rossija“.226 Besonders an diesem Feiertag wird deutlich, dass die russisch-orthodoxe Kirche ganz ausdrücklich in weiten Teilen die Staatsvorstellungen Vladimir Putins teilt. So ist eine starke Machtvertikale auch für die Kirche Voraussetzung für einen starken, unabhängigen Staat.227 Gleichzeitig rühmt die Kirche die Funktion der Machtvertikale als Quelle der Orientierung und der Werte.228 Der Staat wird dementsprechend weiterhin als Instrument zur Durchsetzung der Sittlichkeit verstanden.229 Metropolit Kirill stellt den Tag der nationalen Einheit in einen Zusammenhang mit dem 9. Mai 1945, dem Tag des sowjetischen Sieges über das faschistische Deutschland. Dabei sei der Sieg über die Polen im Jahr 1612 ungleich herausragender gewesen als der Sieg im Jahr 1945. Im Zweiten Weltkrieg sei weder Moskau eingenommen worden, noch die Staatlichkeit ernsthaft gefährdet gewesen. Im Jahr 1612 aber habe der Feind direkt in Moskau im Kreml gestanden und die „Vertikale der Macht“ vernichtet. Dadurch sei die „Ganzheit des nationalen Lebens“ (celostnost nacionnalnoj zˇizni) zerstört worden, weswegen die Menschen Werte und Orientierung verloren hätten.230 Die staatliche Macht garantiert auch hier Werteorientierung und Gemeinschaft als Voraussetzung für den Einzelnen. Bemerkenswert ist für die Kirche, dass sich die Gesellschaft trotz der „großen Wirren“ zusammengeschlossen und dem Feind entgegengestellt habe. Nur dadurch sei Russland wieder eine Großmacht geworden (velikaja derzˇava). Dies kommt für den Metropoliten einem Wunder gleich und zeige das außergewöhnliche Potenzial 224
Pressekonferenz des Rats der russischen Kirchen vom 2. 11. 2005, http://www.mospat. ru/index.php?page=28225. 225 Aleksij II., Ansprache zum Tag der nationalen Einheit 2005, http://www.mospat.ru/ index.php?page=28236. 226 Interview mit dem Metropoliten Kirill in der Nachrichtensendung „vesti“ vom 3. 11. 2005 http://www.mospat.ru/index.php?page=28224. 227 Interview mit dem Metropoliten Kirill in der Nachrichtensendung „vesti“ vom 3. 11. 2005 http://www.mospat.ru/index.php?page=28224. 228 Pressekonferenz des Rats der russischen Kirchen vom 2. 11. 2005, http://www.mospat. ru/index.php?page=28225. 229 Vgl. dazu auch Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition, S. 290. 230 Pressekonferenz des Rats der russischen Kirchen vom 2. 11. 2005, http://www.mospat. ru/index.php?page=28225.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
des russischen Volkes. Insofern diene der Tag der nationalen Einheit dazu, zur geistigsittlichen Orientierung durch den Blick auf die Geschichte zurückzufinden: Die Einigung und Stärkung des russischen Staates sei auch heute Voraussetzung.231 Insofern seien die Feierlichkeiten nicht als antipolnische Handlung, sondern allein als Erinnerung daran zu verstehen, dass sich das Volk in schwierigen Momenten selbständig zum Schutze des Vaterlandes vereint habe.232 Die nationale Einheit könne demnach alle Probleme des Landes überwinden.233 Die Betonung der Ereignisse um Minin und Pozˇarskij dienen als Gleichnis: Im Sieg über die Polen im Jahr 1612 sieht auch die Kirche nicht nur ein allgemeines historisches Prinzip, sondern ausdrücklich eine Vorbildsituation für die gegenwärtige Zeit. Interessanterweise betrachtet Patriarch Aleksij II. die Krise im Jahr 2005 bereits als überwunden und die einheitliche Staatlichkeit Russlands als wiederhergestellt. Wie der Philosoph Ivan Ilin vorausgesagt hatte, habe sich Russland nach der Krise aus eigener Kraft wieder aufgerichtet und sei groß und frei geworden (velikaja i svobodnaja). Nach der „tragischen Zeit“ lebe Russland nun wieder in Einheit mit der Kirche. Erneut vereine sich die Kirche, vereine sich das Land und werde daher siegen.234 Noch klarer als bei Putin steht Einheit im kirchlichen Diskurs für das Gute und Richtige, während Zerfall für das Schlechte steht. Dabei erweitert die Kirche den Putinschen Diskurs um die Komponente, dass nationale Einheit nur durch Gott möglich sei. Erst die Anrufung der Gottesmutter von Kazan235 und die göttliche Gnade haben den Sieg über die Polen möglich gemacht.236 Erst der göttliche Wille habe die Menschen der verschiedenen Glaubensrichtungen vereint und zum Sieg geführt. 3. Brüderliche Einheit als Ziel Die Kirche betrachtet Einheit zugleich als metaphysischen Idealzustand. Über das religiöse Bewusstsein soll die brüderliche Einheit aller Menschen herbeigeführt werden, da die Menschenwürde nicht in der Freiheit, sondern in der Gemeinschaft verwirklicht werde: „Je tiefer die Wurzeln des religiösen Bewusstseins in der menschlichen Gemeinschaft sind, desto stärker ist auch das Bewusstsein für die Einheit und 231 Pressekonferenz des Rats der russischen Kirchen vom 2. 11. 2005, http://www.mospat. ru/index.php?page=28225. 232 Pressekonferenz des Rats der russischen Kirchen vom 2. 11. 2005, http://www.mospat. ru/index.php?page=28225. 233 Interview mit dem Metropoliten Kirill in der Nachrichtensendung „vesti“ vom 3. 11. 2005 http://www.mospat.ru/index.php?page=28224. 234 Ansprache des Patriarchen Aleksij II. anlässlich der Rückführung der Särge Ivan Ilins und General Denikins nach Russland vom 3. 10. 2005, http://www.mospat.ru/index.php?pa ge=27811. 235 Aleksij II., Ansprache zum Tag der nationalen Einheit 2005, http://www.mospat.ru/ index.php?page=28236. 236 Interview mit dem Metropoliten Kirill in der Nachrichtensendung „vesti“ vom 3. 11. 2005 http://www.mospat.ru/index.php?page=28224.
II. Staatliche Einheit nach der russisch-orthodoxen Sozialdoktrin
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Ganzheitlichkeit der Welt.“237 Geistige Einheit steht dabei für den ewigen Frieden: „,Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden (Röm 12. 18) und ,bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält (Eph 4. 3). Der neutestamentarische Aufruf zu Friedensschaffung beruht auf dem persönlichen Beispiel des Erlösers und Seiner Lehre. Wenn also die Gebote des Nicht-Widerstands gegen das Böse (Mt 5. 39), der Liebe zu den Feinden (Mt 5. 44) und der Vergebung (Mt 6. 14 – 15) primär an die einzelne Persönlichkeit appellieren, so weist das Gebot der Friedensschaffung – ,Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden (Mt 5. 9) – einen unmittelbaren Bezug zur sozialen Ethik auf.“238 Ganz allgemein macht die Kirche in der Sozialdoktrin darauf aufmerksam, dass nicht nur Zwietracht falsch sei, sondern dass der Zerfall oder die Abspaltung von einzelnen Landesteilen die ideale Einheit gefährden. So formuliert sie, dass die aus dem „Gegensatz“ von Souveränität und territorialer Integrität resultierenden Streitigkeiten und Konflikte auf friedlichem Weg und auf der Grundlage des Dialogs gelöst werden müssten. In Erinnerung daran, dass die Einheit Gutes, die Zwietracht Böses sei, spricht sich die Kirche ganz allgemein für eine „Vereinigung der Völker“ aus.239 In diesem Sinne heißt es: „Die Kirche trauert, wenn mit der Auflösung multiethnischer Staaten die historische Gemeinschaft von Menschen zerstört wird, ihre Rechte verletzt werden und großes Leid über ihr Leben kommt.“ Dies erinnert deutlich an Vladimir Putins Ansprache an die Föderalversammlung im Jahr 2005, als er den Zerfall der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“240 bezeichnete. Gleichwohl wäre es wenig nachvollziehbar, würde die Kirche hier tatsächlich um die atheistische Sowjetunion „trauern“. Die negative Bewertung des Niedergangs der Sowjetunion kann demnach vielmehr als Warnung an die Zukunft verstanden werden: Die Russische Föderation dürfe durch Abspaltungen einzelner Regionen nicht „zerfallen“. Klarer wird dies an der ebenso allgemein formulierten Kritik an der Abspaltung Tschetscheniens: „Die Auflösung multinationaler Staaten kann nur in solchen Fällen als gerechtfertigt gelten, in welchen eines der Völker offensichtlich unterdrückt wird oder die Mehrheit der Bewohner des Landes an einem Fortbestand der staatlichen Einheit mit Sicherheit kein Interesse bekundet. Die jüngste Geschichte hat gezeigt, daß die Abspaltung einer Reihe von Staaten Eurasiens einen künstlichen Bruch zwischen Völkern, Familien und beruflichen Gemeinschaften verursacht und in der Praxis zur zwangsweisen Umsiedlung und Vertreibung verschiedener ethnischer, religiöser und sozialer Gruppen geführt hat, was vom Verlust der Heiligtümer der Völker begleitet war. Der Versuch, auf den Trümmern der Bünde eth237
Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (IV.3). Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (VIII.5). 239 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (XVI.1). 240 Putin, Ansprache an die Föderalversammlung vom 25. 4. 2005, http://www.kremlin.ru/ text/appears/2005/04/87049.shtml. In der im Sommer 2007 veröffentlichten „Russischen Doktrin“ teilen Vertreter der Kirche diese Einschätzung und machen dies zum Ausgangspunkt ihrer Vorstellungen über die Zukunft, http://www.rusdoctrina.ru/index.php?subject=4&t=1. 238
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
nisch homogene Staaten zu gründen, geriet zur Hauptantriebskraft der blutigen interethnischen Konflikte, die Osteuropa erschütterten.“241 Die orthodoxe Kirche betont auch hier, dass das Ideal der brüderlichen Einheit den großen multiethnischen russischen Staat voraussetzt. Ganz ausdrücklich verweist Metropolit Kirill im Rahmen einer Auseinandersetzung über Religion und Menschenrechte im Jahr 2005 auf die historische Sammlung der Russischen Erde als Schicksalsprinzip. Danach hätten die Russen bereits früh begriffen, dass innere Friedfertigkeit und gemeinschaftlicher Zusammenschluss unter der zentralisierten Macht notwendig seien, um die Feinde zu besiegen. In diesem Sinne stehen die Sammlung der russischen Erde und die Sicherung der Einheit Russlands nicht für das Streben nach neuen Territorien, sondern nach brüderlicher politischer Vereinigung.242 4. Volkssouveränität als neue Einheit von Volk und Herrscher Die brüderliche Einheit der Welt könne also nur unter russisch-orthodoxen Vorzeichen verwirklicht werden. Jede andere Form von Universalisierung bzw. Globalisierung wird als Gefahr für das Russisch-Orthodoxe dargestellt. Trotz des universalistischen Ziels hält die Kirche Volksouveränität und territoriale Integrität „als grundlegend bei der Verteidigung der berechtigten Interessen des Volkes sowie als Eckstein zwischenstaatlicher Verträge, folglich auch des gesamten Völkerrechts.“243 Ausdrücklich wehrt sich die Kirche gegen fremde Einmischung in die eigenen Angelegenheiten.244 Ähnlich wie die russische Rechtswissenschaft sieht auch die Kirche eine enge Verbindung der Prinzipien Volkssouveränität und territoriale Integrität. Der Schutz der Volkssouveränität hat dabei auch für die Kirche einen innerstaatlichen Aspekt. Dabei kommt dem Begriff der Volkssouveränität die gleiche Bedeutung zu wie die vorrevolutionäre Einheit von Volk und Zar: Er steht für die Identität von Volk und Herrschaft. Wie die Einheit von Volk und Zar im vorrevolutionären Russland versteht die Kirche den Begriff „Volkssouveränität“ heute als Kampfbegriff gegen „nicht-staatliche“Akteure. In den Augen der Kirche ist die wirtschaftliche Elite der bedeutendste gegenwärtige Gegner für das Verhältnis von Volk und Herrscher. In diesem Zusammenhang verbindet sie mit der Macht der Wirtschaft „das Schwinden der Priorität der Arbeit und des Menschen vor dem Kapital und den Produktionsmit-
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Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (XVI.1). Metropolit Kirill, Die Religion im gegenwärtigen System der internationalen Beziehungen, http://www.mospat.ru/index.php?page=27793. 243 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (XVI.1). 244 „Bei der Einführung einer Politik aufgrund der Annahme bindender internationaler Verträge oder der Tätigkeit internationaler Organisationen wird von den Regierungen erwartet, daß sie die geistige, kulturelle und sonstige Eigenart ihrer Länder und Völker wahren wie auch die berechtigten Interessen ihrer Staaten vertreten.“ 242
II. Staatliche Einheit nach der russisch-orthodoxen Sozialdoktrin
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teln.“245 Die globale Macht der Wirtschaft246 umfasse „Versuche, die Herrschaft der reichen Elite über andere Menschen sowie bestimmter Kulturen und Weltanschauungen über andere durchzusetzen (…). Infolgedessen nehmen Tendenzen zu, eine universale Kultur als alternativlos darzustellen, die bar jeder Spiritualität allein auf die Freiheit des abtrünnigen und keinerlei Schranken unterliegenden Menschen als des absoluten Wertes und Maßstabs der Wahrheit setzt.“247 „Internationale“ Wirtschaftseliten versinnbildlichen hier den Angriff auf die „national“-russländische Herrschaft des Volkes. Die Lösung für dieses Problem sieht die Kirche in der Verstaatlichung der Wirtschaft. In diesem Sinne erhebt sie die Forderung „nach einer allseitigen Kontrolle der transnationalen Korporationen sowie der im Finanzsektor der Wirtschaft ablaufenden Prozesse. Eine solche Kontrolle – mit dem Ziel der Unterwerfung jeglicher Unternehmens- und Finanzaktivitäten unter die Interessen des Menschen und des Volkes – soll unter Einsatz aller der Gesellschaft sowie dem Staat verfügbaren Mechanismen durchgeführt werden.“248 5. Zwischenergebnis Nach der Vorstellung der russisch-orthodoxen Kirche realisiert sich die Menschenwürde erst in der sittlich orientierten Gemeinschaft (sobornost). Allein die Kirche vermittelt der Gemeinschaft die notwendige Orientierung. Diese wiederum braucht den (idealen) Staat als Garantie für ihre Existenz. Insofern hat der Staat nach wie vor auch die Garantenstellung für die Werteorientierung des Einzelmenschen. Weder Präsident Jelzin noch Präsident Putin haben die weltanschauliche Neutralität des russischen Staates je in Frage gestellt. Unter Präsident Putin wird diese Grundhaltung jedoch relativiert, indem er mit der Russländischen Idee eine Tradition beschwört, die zweifelsohne orthodoxe Wurzeln hat. In der Öffentlichkeit – vor allem mit Hilfe der Massenmedien – unterstreicht er das enge Verhältnis von Kirche und Staat. Auch wenn die Ursachen und Folgen der kirchlichen Vorstellungen von staatlicher und nationaler Einheit auf den politischen Diskurs und auf die Rechtswissenschaft hier nicht abschließend ergründet werden können, so bleibt das Ineinandergreifen der jeweiligen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft bemerkenswert. Es geht der Kirche um den Zusammenschluss des Volkes unter eine hierarchisch organisierte 245
Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (XVI.3). Vgl. die ähnliche Argumentation zum notwendigen Schutz der Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion vor der Bedrohung des internationalen Kapitalismus. Die marxistischleninistische Literatur bezieht sich hier auf das Lenin Zitat, wonach der „Kapitalismus … eine internationale Macht“ ist, Farberow (verantwrtl. Red.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 3, S. 110. 247 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (XVI.3). 248 Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (XVI.3). 246
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
starke Staatsgewalt zur Verteidigung gegen innere und äußere Gefahren. In der gemeinsamen Abwehr bilden Volk und Herrscher ein identisches Ganzes, das durch pluralistische Strukturen gefährdet würde. Deshalb sind Einzelinteressen nur soweit denkbar, wie sie die Ganzheit des Staates nicht in Frage stellen. Die Kirche erweitert das Modell lediglich durch die Vorstellung, dass sich der Zusammenschluss auf Gottes Fügung hin vollzieht. Der starke russische Staat hat dabei die Funktion, das christlich bestimmte ewige Heil zu garantieren.
III. Rechtstheoretische Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität (celostnost) 1. Einleitung Der folgende Abschnitt widmet sich der aktuellen theoretischen Auseinandersetzung mit den Begriffen „staatliche Einheit“ und „territoriale Integrität“ in der russischen Rechtswissenschaft. Als wesentlicher Untersuchungsgegenstand aus dieser Richtung soll die 2005 von Verfassungsrichter Boris Safarovicˇ Ebzeev herausgegebene „programmatisch auftretende“249 Monographie „Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii“ (Die staatliche Einheit und Ganzheit der Russischen Föderation)250 dienen. Diese Monographie beruht in weiten Teilen auf den Schriften von I. N. Barcic251 und Igor V. Levakin,252 die zusätzlich herangezogen werden sollen. Die hier vertretene Grundkonzeption findet sich in einer Reihe juristischer Dissertationen zu diesem Thema wieder.253 Die herausgesuchten Autoren wählen in der Darstellung des Prinzips der staatlichen Einheit einen breiten Ansatz. Ausgangspunkt ist vor allem das politische Sollen. Dazu wird die staatliche Einheit in Form eines organischen Zusammenwirkens als Notwendigkeit begriffen.254 Im Vorwort seines Werkes bringt Ebzeev zum Ausdruck, 249 Luchterhandt, Die Ernennung der regionalen Exekutivchefs durch den Präsidenten Russlands auf dem Prüfstand des föderalen Verfassungsgerichts, WGO-MfOR, 2007, S. 27. 250 Ebzeev/Krasnorjadcev/Levakin/Radcˇenko, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, Konstitucionnno-pravovye problemy, Moskau 2005. 251 Barcic, Pravovoe Prostranstvo Rossii, Barcic/Levakin, Territorialnaja celostnost RF: problemy teorii, zˇurnal rossijskogo prava 2002, Nr. 20. 252 Levakin, Osnovy gosudarstvennogo edinstva sovremennoj Rossii: problemy teorii. 253 S. I. Nekrasov, Edinstvo i razdelenie vlastej, Moskau 1999, M. A. Rachmetov, Gosudarstvennaja celostnost kak obekt, konstitucionnoj zasˇcˇity, Moskau 2003, M. G. Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principi, Machacˇkala 2004, S. V. Vitrjanjuk, Territorjalnja celostnost gosudarstvo v mezˇdunarodnom pravovom u geopoliticˇeskom izmerenijach, Moskau 2003, R. M. Kozˇkarov, Konstitucionnye osnovy narodov i nacii i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, Moskau 1997, Ju. M. Ermakova, Pravovoj status RF, problema ukreplenija i gosudarstvennogo edinstva, Moskau 1997, Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvennoj pravovoj sistemy Rossii, Moskau 2002. 254 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 17.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 245
dass die Monographie demjenigen helfen möge, dessen Aufgabe es sei, die Einheit und die Ganzheit des Staates zu schützen, „die dauerhafte Grundlage einer stabilen Entwicklung und des Wohlstands der russischen Vielvölkernation, als einem einheitlichen Staatsvolk im russischem Staat“. Argumentationsgrundlage sind soziale, philosophische und historische Aspekte. Der hier verwendete Begriff der staatlichen Einheit geht so inhaltlich über eine rein funktionale Umschreibung dessen, was staatliche Einheit nach der Verfassung konstituiert und was sie inhaltlich ausmacht, weit hinaus. Insbesondere ragt der Begriff staatliche Einheit deutlich in gesellschaftliche Belange hinein. Die Monographie Ebzeevs255 sieht sich nicht als Teil eines ausschließlich juristischen Diskurses, sondern eingebunden in eine gesamtgesellschaftliche Fragestellung. Sie richtet sich entsprechend nicht nur an Studenten, Doktoranden und Rechtswissenschaftler, sondern an „einen breiten Leserkreis“, an „Praktiker aus dem Staatsapparat“ und Parlamentarier.256 Nach Levakin ist es ganz ausdrücklich „unmöglich“, ein derartiges „kardinales“ Problem wie die staatliche Einheit „rein unter juristischen Gesichtspunkten“ zu betrachten.257 Insgesamt wird aus der Darstellung des Begriffs staatliche Einheit deutlich, dass sich die wissenschaftliche Methode der Begründung und Definition stark am Prinzip des dialektischen Materialismus orientiert, der wissenschaftlichen Grundlage des Marxismus-Leninismus, nach dem alles Bestehende einen einheitlichen Zusammenhang bildet (Monismus).258 Levakin bekennt sich ganz ausdrücklich zur dialektischen Methode.259 Staatliche Einheit ist in diesem Zusammenhang kein juristisches Prinzip sondern ein philosophisch betrachteter Entwicklungsprozess260 hin zum ausschließlich Guten (velikoe buducˇsˇee), in dem alles Partikuläre aufgeht. Immer wieder spricht Ebzeev vom „Staat in seiner gegenwärtigen Etappe“ und stellt den Staat in einen Entwicklungszusammenhang.261 Überdeutlich schimmert hier die Hegelsche Idee vom Ende der Geschichte durch. Vor dem Hintergrund des dialektischen Materialismus kann die staatliche Einheit nicht als rechtswissenschaftliches Problem betrachtet werden, wie Levakin bemerkt, sondern bedarf nicht nur der Heranziehung aller wissenschaftlichen Kategorien, sondern außerdem auch aller geistigen Bewusstseinsebenen. Entscheidend ist das gesamte Sein. In diesem Zusammenhang zitiert Levakin Karl Marx mit den Worten: „Die Produktions-
255 Während grundsätzlich für das Werk das Autorenkollektiv Ebzeev/Krasnorjadcev/Levakin/Radcˇenko steht, geht nicht hervor, welcher Autor welchen Teil verfasst hat. Deshalb werden die Argumente des Buches im Folgenden allein Ebzeev als Erstgenanntem zugeschrieben. 256 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 19. 257 Levakin, Osnovy gosudarstvennogo edinstva sovremennoj Rossii: problemy teorii. 258 Stichwort: Materielle Einheit der Welt, in: Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie, S. 183. 259 Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 24. 260 So ausdrücklich Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 74. 261 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, passim.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
weise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.“262 Vor Kritik an dieser Methode schützt man sich auch in der Literatur mit dem Argument, dass die ganzheitliche Rechtsfindungsmethode eine eigene russische Rechtskultur zum Ausdruck bringe. In der slawophilen Tradition gibt es auch heute Ansätze in der russischen Rechtslehre, die ihre Vorstellungen mit dem Hinweis auf die Selbständigkeit des russischen Rechts als eigener Rechtsfamilie begründen, die dem „römisch-germanischen Rechtskreis“ nur ähnlich sei.263 Wenn die Monographie Ebzeevs inhaltlich auch sehr radikal sein mag, ist der ganzheitliche Ansatz in der Staatstheorie nicht Ausdruck einer bestimmten Meinung, sondern in Russland allgemein anerkannte Wissenschaftsdisziplin und juristische Unterrichtseinheit „Theorie von Staat und Recht“ (teorija gosudarstva i prava).264 Nach dieser Herangehensweise bilden Staat und Recht heute eine dialektische Einheit, sind aber gleichzeitig auch selbständige Elemente. Dabei ist der Staat für das Recht notwendig, da das Recht den Staat wie auch der Staat das Recht voraussetze.265 Wie noch ausführlicher darzustellen sein wird, ist der Staat danach Garant für die Effektivität und die Stabilität des Rechts.266 Ohne den Staat sei das Recht nicht denkbar, es erhält erst durch den Staat seinen absoluten Charakter.267 Hier ist der Staat ein soziales Gebilde, das eine vom Recht unabhängige Existenz hat. Insofern ist der Staatsbegriff nicht an die Verfassung gebunden, sondern vielmehr Ergebnis einer fächerübergreifenden Diskussion. Nicht unerhebliche Folge der dargestellten Wechselbeziehung für die Rechtstheorie ist es, dass auch die Ergebnisse der Theorien von Staat und Recht nicht getrennt voneinander behandelt werden dürften. Dies ist auch ein entscheidender Unterschied zur deutschen Rechtswissenschaft, die Rechtstheorie und Rechtsdogmatik weitgehend trennt. Während in Russland Uneinigkeit herrscht, wie die hier anzuwendende Methode der Staatstheorie zu benennen ist,268 wird insgesamt deutlich, dass der Ansatz jedenfalls sehr breit zu wählen ist.269 Die Grundlagen 262
Levakin, Osnovy gosudarstvennogo edinstva sovremennoj Rossii: problemy teorii und Marx, Kritik der politischen Ökonomie, Marx/Engels, Werke, Band 13, 1963, S. 3 ff. 263 Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 270. 264 Vgl. dazu u. a. die Lehrbücher mit dem Titel von M. N. Marcˇenko, Moskau 2005, R. Ch. Makuev, Moskau 2006, N. I. Matuzov/A. V. Malko, Moskau 2006, M. M. Rassolov, Moskau 2005, A. I. Vasilenko/M. V. Maksimov/N. M. Cˇistjakov, Moskau 2007. 265 Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 9, Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 24 f., Matuzov/Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 14, Rassolov, Teorija gosudarstva i prava, S. 9. 266 Vasilenko/Maksimov/Cˇistjakov, Teorija gosudarstva i prava, S. 7. 267 Rassolov, Teorija gosudarstva i prava , S. 9. 268 Vgl. Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 35. 269 Vgl. das umfangreiche Methodenschema bei Matuzov/Malko, S. 18, das der Theorie von Recht und Staat u. a. „allgemeine philosophische Methoden“ wie die „Metaphysik“, die „Dialektik“, materialistische und idealistische Methoden wie daneben die Analyse und die Synthese, die soziologische und die statistische und letztlich „privatrechtliche Methoden“ wie die „formal-juristische“ zugrunde legt.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 247
von Staat und Recht müssten methodisch immer „allseitig“, „historisch“, „allgemein“ und „komplex“ erarbeitet werden.270 Dabei wird herausgestellt, dass die Theorie von Staat und Recht die Grundlage für die gesamte Rechtswissenschaft bildet, auf der alles beruhe.271 Für die Diskussion um staatliche Einheit bedeutet dies, dass der Begriff „staatliche Einheit“ durch den breiten methodischen Ansatz für die Rechtswissenschaft nicht nur anhand der Verfassung zu erörternder Rechtsbegriff ist. Insofern sollen die einzelnen Aspekte der Theorie der staatlichen Einheit zunächst entsprechend dem russischen Ansatz zusammenhängend dargestellt werden. Insofern als die hier dargestellten verschiedenen Aspekte staatlicher Einheit verschiedenen Wissenschaftsrichtungen zuzuordnen sind, soll auch die Analyse unterschiedlich ansetzen. Soweit sich die hier zu behandelnden Aspekte staatlicher Einheit der juristischen Ebene gänzlich entziehen, beschränkt sich die Arbeit auf eine reine Darstellung. Dies betrifft vor allem die Funktionen, die staatlicher Einheit zugeschrieben werden. Soweit die theoretischen Ausführungen die Rolle von Recht und Verfassung insgesamt in Frage stellen, soll dies auch bereits in diesem Kapitel problematisiert werden. Dem nächsten Kapitel vorbehalten bleibt die Frage, wieweit die Verfassung selbst die staatliche Einheit zu ihrem Thema macht und wieweit diese Inhalte den von der Theorie von Staat und Recht entwickelten Konzepten widersprechen. 2. Der Staatsbegriff in der russischen Staats- und Rechtstheorie Grundlegend für das theoretische Konzept von staatlicher Einheit ist der russische Staatsbegriff. Indem das Konzept von staatlicher Einheit auf dem Staatsbegriff aufbaut, finden sich die Inhalte des Staatsbegriffs im Konzept staatlicher Einheit wieder. a) Methodische Grundlagen des Staatsbegriffes Ausgangsidee für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Staatsbegriff ist der Begriff des Ganzen bei Hegel.272 In der Literatur unwidersprochene Grundannahme ist dabei, dass sich das Wesen des Staates durch die Synthese auszeichnet und der Staat insofern als Vielzahl der hier verbundenen Prozesse zu verstehen ist.273 Die Form der Synthese drückt nicht nur das Wesen des Staates aus, sondern bestimmt auch die Methode der Begriffsbildung. Inhalt des Begriffs sind daher alle erkannten Wesens- und Seinsformen des Staates. Dabei untersucht die Lehre den Staat nicht aus 270
Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 10 f. Matuzov/Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 13, umfassend zuletzt Bajtin, O metodologicˇeskom znacˇenii i predmete obsˇcˇej teorii gosudarstva i prava, in: Gosudarstvo i pravo, 2007, Nr. 4, S. 5 ff. 272 „Der Begriff des Ganzen ist der, Theile zu enthalten; wird dann aber das Ganze als das gesetzt, was es seinem Begriff nach ist, wird es getheilt, so hört es damit auf ein Ganzes zu seyn“ (Hegel, Sämtliche Werke, Band 8, S. 305 f.). 273 Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 105. 271
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
einer bestimmten Blickrichtung, sondern hat vielmehr alle erkannten Ansatzpunkte im Auge. Dabei bildet die Menge der dementsprechend in der Literatur zur Staatsidee dargestellten Theorien, Ansätze und Ergebnisse keinen Widerspruch, da sie sich alle im Staatsbegriff wiederfinden. Demzufolge sieht es die Wissenschaft nicht als ihre Aufgabe an, verschiedene Staatsbegriffe, wie z. B. einen eher juristischen, einen eher soziologischen einander gegenüberzustellen. Wenn der Staatsbegriff auch die verschiedenen methodischen Ansätze beinhaltet, so verfolgt er das Ziel, eine aus allen Blickwinkeln allgemeingültige Aussage über den Staat zu treffen und mögliche Gegensätze zu verbinden. Insofern kann der Staatsbegriff nicht einmal zwei unterschiedliche Seiten haben, wie bei Georg Jellinek,274 er ist vielmehr eine alle „Seiten“ verbindende Synthese. Die Theorie ist sich der prinzipiellen und fundamentalen Verschiedenartigkeit ihrer Ansätze durchaus bewusst. Die inhaltliche Übereinstimmung der realen und idealen Staatsebene und damit ihrer wissenschaftlichen Methoden begründet sie mit der Konkretheit des Begriffes „Staat“ selbst. Dieser Begriff gibt den verschiedenen rechtlichen und nicht-rechtlichen Ebenen eine verbindende Identität. Während sich z. B. die „Zwei-Seiten-Lehre“275 Jellineks zwei verschiedene Fragen stellte, die Frage nach dem „juristischen“ Staat und dem „soziologischen“, stellt sich die russische Rechtswissenschaft allein die eine Frage, „was ist Staat?“, die sie sogleich mit dem synthetisierenden Wesen beantwortet. Die Kritik an einem derartigen Staatsbegriff beginnt damit, dass ein Begriff, der alle möglichen Inhalte zulässt, generell wissenschaftlich kaum hilfreich ist. Vielmehr ist er dem allgemeinen Wortsinne nach alles andere als „konkret“. Das Ergebnis einer entsprechenden Untersuchung des Begriffs ist identisch mit seiner Ausgangsidee für die Methode: der Staat ist die absolute Synthese. Alle Einzelaspekte stehen dazu relativ. Während die Darstellung der verschiedenen Einzelaspekte regelmäßig breiten Raum einnimmt,276 bleibt es in der Regel bei einer abstrakten und schematischen Darstellung, ohne insbesondere die modernen Ansätze zu problematisieren. Vieles bleibt insofern widersprüchlich. Dies kann nur so verstanden werden, dass es nicht darum geht, die verschiedenen Aspekte in allen Einzelheiten zu erläutern oder zu hinterfragen. Vielmehr geht es allein um ein umfangreiches Bild der verschiedenen Einzelaspekte in ihrer Gesamtheit. Entscheidend ist dabei nicht der Widerspruch, sondern die begriffliche Synthese. b) Der Staat als politisches Sein Aufgrund des allumfassenden Wesensbegriffs ist es deshalb kein Widerspruch zum Staatsbegriff, wenn Marcˇenko den Staat in seiner tatsächlichen Existenz als „Or274 Danach ist der Staatsbegriff für verschiedene Herangehensweisen zur Erkenntnis offen, die jeweiligen Methoden müssen bei der Definition des Staates jedoch streng unterschieden werden (Jellinek, Staatslehre, S. 27 ff., 51, 174 ff.). 275 So Kelsen, Der juristische und der soziologische Staatsbegriff, S. 105 ff. 276 Vgl. dazu die Lehrbücher: Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, Makuev, Teorija gosudarstva i prava, Matuzov/A. V. Malko, Teorija gosudarstva i prava, Rassolov, Teorija gosudarstva i prava, Vasilenko/Maksimov/Cˇistjakov, Teorija gosudarstva i prava.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 249
ganisation der politisch souveränen Macht“ beschreibt, die die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und geistigen Prozesse des gesellschaftlichen Lebens bestimmt.277 Gleichermaßen stellt Makuev den Staatsbegriff in eine Reihe mit dem Machtbegriff, den er historisch erläutert. Im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion beschreibt er den Staat als Organisation politischer Macht auf einem bestimmten Territorium zur Sicherung bestimmter Interessen wie z. B. Klasseninteressen, das Interesse „sozialer“ Gruppen, sowie religiöse oder nationale Interessen. Die Konkretisierung wird hier irrelevant, da auch dies nur ein Ansatz ist. So kann der Staatsbegriff zwar das abstrakte Sein beschreiben, wenn z. B. Marcˇenko ausdrückt, der Staat sei Resultat der sozial-geistigen, politischen, kulturellen, psychischen Bedingungen der Gesellschaft. Gleichzeitig wird aber nie ausgelassen, dass der Staat in seiner konkreten Ausgestaltung dabei sich stets wandelnder Raum der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt.278 Dafür, dass das Verhältnis von Recht und Staat als grundlegend für die Rechtstheorie eingeordnet wird, finden sich keine ausdrücklichen Hinweise darauf, ob der Begriff vom Staat als Synthese auch dann verwendet werden soll, wenn die Verfassung vom „Staat“ spricht. Auffällig ist innerhalb der verschiedenen Ansätze vor allem, dass der allgemeine Staatsbegriff nicht im Widerspruch zum Staatsbegriff begriffen wird, den die Verfassung zeichnet. Insgesamt werden Theorien, die den Staat als die Summe seiner Rechtssätze begreifen, in der Literatur kaum genannt. Wenn auf den Staatsbegriff Kelsens279 verwiesen wird, dann als ein besonders enger westlicher Ansatz, der nicht in der Lage ist, die verschiedenen Aspekte und Funktionen des Staates in seinem Verhältnis zu Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum angemessen zu umschreiben.280 Unabhängig von der Auseinandersetzung um den Staatsbegriff findet sich in der Theorie jeweils eine politische Auseinandersetzung mit den Aspekten des Rechtsstaates (pravovoe gosudarstvo). Während die Verfassung der RF in Art. 1 festlegt, dass die Russische Föderation ein Rechtsstaat ist, fällt in der Literatur die Tendenz auf, das Rechtsstaatsmodell rechtspolitisch in Frage zu stellen. Dies hat zur Folge, dass der Rechtsstaatsbegriff nicht nur an die Voraussetzung verschiedener Rechtsgarantien wie Grundrechte, Gewaltenteilung, Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes geknüpft wird, sondern auch anhand seiner Folgen für die Gesellschaft beschrieben wird. Nach Makuev sind dies Pluralismus, eine „harmonische soziale Welt“, die Verhinderung von geistigem Dogmatismus, eine hohe Rechtskultur, das Wahlrecht und eine regulierende Rolle des Staates in der Wirtschaft.281 Während Makuev so einerseits ausführlich die Vorzüge des Rechtsstaats erläutert,282 zieht er gleichzeitig das 277 278 279 280 281 282
Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 106. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 105. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 289 f. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 195 f. Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 213. Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 208 f.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Beispiel der Weimarer Republik heran, um darzulegen, dass auch der Rechtsstaat keine Garantie dafür bilde, dass er sich nicht in einen anti-demokratischen Staat wie den deutschen Staat unter Adolf Hitler verwandele.283 Insgesamt fällt auf, dass innerhalb des Rechtsstaatsmodells stärker die rechtsdurchsetzende Funktion der Staatsgewalt betont wird als die Bindung der Staatsgewalt an das Recht. Wenn es um Bindung geht, dann vor allem um Selbstbindung. So wird V. M. Hessen zitiert, der den Rechtsstaat wie folgt charakterisiert: „Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der sich als Regierung, an die von ihm als Gesetzgeber geschaffenen juristischen Normen gebunden erklärt.“284 Im Lehrbuch von Rassolov heißt es, der Rechtsstaat sei insofern an das Recht gebunden, als er sich verpflichtet, die Grundrechte zu schützen.285 Hier zeigt sich, dass ein dermaßen vollumfänglicher Staatsbegriff nicht nur überflüssig, sondern auch hinderlich für das Verständnis der Verfassung ist. So relativiert er die Verfassung und die hier niedergelegte Charakterisierung des Staates, trägt aber zur Erklärung der Verfassung nichts bei. Dabei hat beispielsweise die weit verbreitete historische Herleitung des Staats- oder des Rechtsbegriffs oder die politische Diskussion um den Rechtsstaat in Russland allenfalls sekundäre Bedeutung für das Verständnis des gegenwärtig geltenden Rechts. Insgesamt ist der Nutzen einer derart umfassenden Herangehensweise für die Rechtswissenschaft fragwürdig. Wenn die Theorie von Staat und Recht als entscheidende Grundlage für die Rechtswissenschaft gilt, so kann nicht beantwortet werden, wie ein Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Funktionen des Staates z. B. für die Verfassungsanalyse verwertet werden kann. Auffällig ist darüber hinaus, dass es kaum eine abschließende Auseinandersetzung um einen konstitutiven Begründungsakt für den Staat gibt. In der Theorie von Staat und Recht gibt es keine Übereinstimmung darüber, ob die Verfassungsgebung als Stiftungsereignis für den Staat zu werten wäre. Vielmehr werden auch hinsichtlich der Begründung des Staates eine Reihe von Theorien wie die Naturrechtstheorie, die Vertragstheorie und die Gewalttheorie allein nebeneinander dargestellt, ohne sie jedoch abschließend zu bewerten und ohne sich für ein Modell zu entscheiden.286 So bleibt es bei einer Bestätigung des Staates als politischem Sein mit einer Verantwortung für die Vergangenheit wie für die Zukunft.287 Der Staat wird hier vor allem als ein andauernder Prozess verstanden. c) Die Funktionen des Staates In diesem Zusammenhang kommt es auch regelmäßig zu einer Herausstellung der einzelnen Funktionen (funkcija) des Staates, im Sinne konkret zu bewältigender Aufgaben. Diese Aufgaben werden unabhängig von der Verfassung aus der politischen Notwendigkeit heraus entwickelt. Makuev nennt die ökonomische, die kulturell-er283 284 285 286 287
Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 194. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 222. Rassolov, Teorija gosudarstva i prava, S. 62. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 64 ff. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 53 f.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 251
zieherische, die soziale, die ökologische und die steuererhebende Funktion des Staates. Aufgabe des Staates ist es dabei auch, die Rechte und Freiheiten der Menschen zu schützen. Es wird auf internationale Menschenrechtspakte wie auch auf die russische Verfassung verwiesen, so dass unklar bleibt, wieweit dieser Aspekt primär als rechtliche Verpflichtung und nicht als politische Aufgabe betrachtet wird.288 Rechtswissenschaftlich fraglich bleibt auch hier, warum Aufgaben und Funktionen des Staates nicht durch normative Zurechnung aus der Verfassung ermittelt werden können. So kann jedes staatliche Organ seine Funktion nur soweit erfüllen, wie es die Verfassung und das Gesetz mit Befugnissen ausgestattet hat. d) Der Staat als Synthese der Gesellschaft Prägnanter wird der Staatsbegriff in der Definition des Verhältnisses zur Gesellschaft sowie zum Individuum. Die Prägnanz resultiert daraus, dass gerade im Verhältnis zu Gesellschaft und Individuum das Wesen des Staates als Synthesenstifter herausgestellt wird: Dabei wird deutlich, dass erst die Synthese Organisation ermöglicht. So wird der Staat im Anschluss an den Marxismus-Leninismus als Mittel des effektiven gesellschaftlichen Fortschritts der Gesellschaft beschrieben. Die zehn Jahre der Krise in Russland hätten die Notwendigkeit des Staates noch einmal verdeutlicht. Er sei unverzichtbare Organisationseinheit. Während alle gesellschaftlichen Gruppen, Parteien und Religionen innerhalb des Staates nur verschiedene Gruppeninteressen verfolgten, verbinde der Staat diese. Wichtig sei der Staat auch insofern, als er der Gesellschaft die Apparate der Judikative und der Exekutive, die Staatsanwaltschaft, die Gesetzgebung, die Organe der Justiz sowie die Steuerbehörden zur Verfügung stelle. Die staatliche Souveränität garantiere, dass der Staat über die einzelnen Gruppen des politischen Systems herrsche und keine Gruppe auf den Staat Einfluss nehmen könne.289 Auch für Marcˇenko spielt der Staat eine wichtige Rolle für das Individuum und die Gesellschaft. Der Staat sei nicht nur eine Organisationsform. Der Staat sei vielmehr der „innere Aufbau“ der Gesellschaft, wobei er als das Ganze die territoriale, juristische und politische Einheit sichere.290 Der Staat sei der offizielle Repräsentant der Gesellschaft. Von daher ist es nach Marcˇenko nicht möglich, die gegenwärtige Gesellschaft und das Individuum ohne die vielfältigen Beziehungen der Menschen zum Staat zu verstehen. e) Der Staat als Voraussetzung für das Recht Die breite theoretische Auseinandersetzung mit dem Staat, aufbauend auf der Grundthese, der Staat sei Synthese, wäre weniger problematisch, wenn sie nicht erhebliche Folgen für das Verständnis des Rechts hätte. Die Rolle des Staatsbegriffs ist 288 289 290
Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 100 ff. Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 97 f. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 105.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
dabei für die russische Rechtstheorie fundamental. Wie bereits angedeutet, geht die russische juristische Theorie von Staat und Recht davon aus, dass Staat und Recht als selbständige Faktoren eine dialektische Einheit bilden. Dabei gilt das Recht nicht nur als Voraussetzung für den Staat, der Staat gilt ebenso als Voraussetzung für das Recht. Während staatliches Handeln an das Recht gebunden ist, ist das Recht wiederum Ausdruck des staatlichen Willens. Der Staat setzt danach nicht nur das Recht, er garantiert es auch. Insofern braucht das Recht den Staat als Existenzvoraussetzung. Recht ist ohne den Staat nicht denkbar, weil er das Recht setzt und garantiert. Dabei schaffen die Organe der staatlichen Gewalt die Grundstrukturen, kontrollieren die Durchsetzung des Rechts und sanktionieren seine Verletzung.291 Rassolov schreibt, der Staat gebe dem Recht seinen allgemeingültigen und regulierenden Charakter.292 Anders gesagt, sichere der Staat den direkten Einfluss auf das Recht (okazyvaet prjamoe vozdejstvie na pravo).293 Die Bedeutung des Staates für das Recht wird auch an der Diskussion deutlich, wieweit Recht selbst Zwangscharakter haben könne. Marcˇenko stellt die sozialistische Rechtstheorie der Theorie Jherings gegenüber. Während das sozialistische Recht nicht nur durch Methoden des Zwangs gewirkt habe, sondern auch eine erzieherische Funktion hatte, beschreibe Jhering den Charakter von Recht allein als Zwang. Wenn Marcˇenko allerdings im Hinblick auf das Recht von „staatlichem Zwang“ (gosudarstvennoe prinuzˇdenie) spricht, wird deutlich, dass hier nicht das Recht selbst zwingt (gar den Staat), sondern der Staat allein durch das Recht Zwang ausübt. Insofern zitiert er unkommentiert Lev Petrazˇickij, der von zwei unterschiedlichen Aspekten staatlichen Zwangs zur Rechtsdurchsetzung spricht: den physischen und den psychischen Zwang. Während der physische Zwang Maßnahmen wie Freiheitsentziehung einschließe, würde der psychische Zwang den Bürger aus Angst davor bewahren, das Recht zu brechen.294 Der Zwangscharakter des Rechts geht insofern von der staatlichen Gewalt aus. Während das Sein des Rechts als Gesamtheit der Normen beschrieben wird, ist es seinem Wesen nach „effektiver Regulator des gesellschaftlichen Lebens, wichtiger sozialer, kultureller und moralischer Wert, freiheitssichernde und verpflichtende Maßnahme (mera).295 Dieses Problem wird auch nicht durch die Grundannahme überwunden, der Staat sei genauso Voraussetzung für das Recht, wie der Staat vom Recht abhänge. Wenn staatliches Handeln an das Recht gebunden ist, fragt sich, was den vorrechtlichen bzw. den vorkonstitutionellen Staat legitimiert? Wenn der historische Staat im vorkonstitutionellen Zustand die Voraussetzungen für das Recht schafft, würde sich die Fragen stellen, ob denn Recht nur im Staat möglich sei, d. h. Gesellschaften ohne Staat kein Recht hätten, und gleichzeitig, ob denn in diesem vorrechtlichen 291 292 293 294 295
Matuzov/Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 45. Rassolov, Teorija gosudarstva i prava, S. 9. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 9. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 513 f. Matuzov/Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 143.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 253
Staat zunächst kein Recht herrsche. Es scheint aber nicht darum zu gehen, den Staat als etwas zu konstruieren, was zeitlich vor dem Recht da ist. Soweit der Staat seinerseits an das Recht gebunden ist, gibt es keinen Anhaltspunkt anzunehmen, dass die Lehre davon ausgeht, es gäbe einen vorrechtlichen Staat. Vielmehr scheinen beide Prozesse gleichzeitig zu laufen: Während der Staat das Recht setzt, durchsetzt oder „realisiert“, ist er an das Recht gebunden. Marcˇenko spricht ausdrücklich von der Gleichzeitigkeit der Prozesse.296 Aber gerade in der Gleichzeitigkeit scheint die Dialektik nicht zu funktionieren. Die Gleichzeitigkeit setzt voraus, dass beide Subjekte bereits bestehen. Dass der Staat Schöpfer des Rechts ist und das Recht gleichzeitig Schöpfer des Staates, würde zumindest den Gesetzen der Logik widersprechen. Auch wenn beide bereits bestehen, muss angenommen werden, dass der Staat unabhängig vom Recht handeln kann, wenn er das Recht realisieren soll. Dies schränkt die Annahme ein, der Staat handele nur im Rahmen des Rechts. Auch in der Wechselbezüglichkeit bleibt das Recht zumindest auch Objekt des Staates. So ist fraglich, wie der Staat auf der Grundlage von etwas handeln kann, was er schützen und verteidigen soll. Wenn ausgedrückt werden soll, dass der Staat das Recht im Rahmen des Rechts setze, so ist dies überflüssig, weil das Recht schon da zu sein scheint. Soweit man von einem metajuristischen Staatsbegriff ausginge, wäre auch unklar, warum dieser vom Recht abhängen sollte. Dies kann nur für den juristischen Staat gelten. Insofern ist die eigenständige Rolle des Staates als Voraussetzung für das Recht im demokratischen Rechtsstaat nicht nur überflüssig, sondern als Grundlage für die Rechtsdogmatik auch problematisch. Es wird zwar deutlich, dass diese Lehre von der rechtsgarantierenden Funktion des Staates vom Schutz des Rechts motiviert wird und ihm zumindest nicht schaden soll. Dabei werden die Fähigkeiten des Rechts jedoch verkannt. Darüber hinaus trägt die Lehre zu dem Problem kaum etwas bei, wenn man nicht gelten lassen will, dass der Staat im vorrechtlichen bzw. nichtrechtlichen Zustand legitimiert sei. Letztlich ist der Begriff „Staat“ zu abstrakt, um konkrete Lösungsmethoden für eine mögliche Geltungsschwäche des Rechts anzubieten. Er vernebelt vielmehr die Funktionen der Recht setzenden, der Recht ausführenden und der Recht schützenden Gewalten. Vor allem vernebelt die Dialektik von Staat und Recht, dass das Recht staatlichem Handeln vorausgeht und der Staat nicht ohne das Recht handeln kann. Aus der Perspektive des Rechts wird der Staat nicht gebraucht, weil das Recht ihn durch die Verfassung selbst schafft und der Staat nur durch das Recht juristisch in Erscheinung treten und handeln kann. Insofern sichern die Organe der Staatsgewalt die Rechtsdurchsetzung und sind zur Rechtssetzung berechtigt, dies ist aber allein Folgeerscheinung des Rechts. Problematisch ist die Rolle des Staates im Verhältnis zum Recht auch für das Demokratieprinzip der Verfassung.297 So ergibt sich die Implausibilität einer vom Recht 296
Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 9. Vgl. zum Verhältnis vom Staat als Verfassungsvoraussetzung und Demokratie Möllers, Staat als Argument, S. 261 ff. 297
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
unabhängigen Durchsetzungsmacht nicht zuletzt im Zusammenhang mit Art. 1 der Verfassung, der Russland einen demokratischen Staat nennt. Dies ausgefüllt durch die Vorschriften, wonach das Volk den Präsidenten, ein Parlament sowie regionale und örtliche Volksvertreter wählt, die ihrerseits Recht setzen, wird von der Aussage, der „Staat“ setze das Recht, nur geschmälert. Der Rückgriff auf den Staatsbegriff verschleiert die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und seine Rolle bei der Legitimation staatlichen Handelns, ohne das dem ein Erklärungsgehalt zu entnehmen wäre. Es wird deutlich, dass in der Wechselbezüglichkeit von Staat und Recht, wie aber auch im interdisziplinären Staatsbegriff zwei verschiedene Ideen miteinander verbunden werden sollen: Einerseits die Idee des Staates als empirisch-soziale Einheit mit lenkendem und synthetisierendem Charakter, der als sittliches Ganzes alle Einzelinteressen beinhaltet und daher legitimiert ist, selbständig Recht zu setzen sowie auf der anderen Seite die des demokratischen Rechtsstaats, den die Verfassung konstituiert. Während im ersten Ansatz das Gesetz Folge des politischen Seins des Staates ist, konstituiert die Verfassung als juristische Sollordnung im zweiten Fall das Sein des Staates. Durch die Verschmelzung mit dem Sein verliert das Sollen aber seine Relevanz. Wenn die Rechtsordnung als Sollordnung verstanden werden soll, dient ihr die Synthese mit dem Sein kaum. In der Identität von Sein und Sollen verliert die Norm ihren spezifischen Gegensatz zum Sein. Aufgabe des Rechts ist es danach, dem Sein zu entsprechen und den grundsätzlichen Gegensatz zu überwinden. Richtig ist, dass der interdisziplinäre Ansatz beiden Kategorien, dem Sein und dem Sollen widerspricht. Insofern kann es die Rechtswissenschaft heute kaum mehr als Vorwurf verstehen, wenn schon Kant die Rechtswissenschaft als dogmatische Disziplin nur eingeschränkt für wissenschafts- und wahrheitsfähig hielt.298 Die juristische Diskussion um den Staatsbegriff in Russland zeigt indes, dass man hier mit dieser Kantschen Erkenntnis nicht leben möchte. Man strebt weiter danach, die Rechtspraxis durch Wahrheiten „aufzuwerten“, die jenseits der Rechtsordnung gewonnen werden. Dabei muss immer wieder betont werden, dass sich die Rechtstheorie in Russland nicht als Addition zur Rechtsdogmatik versteht, sondern mit ihr eine Einheit bilden möchte. So gewinnen jenseits der Verfassung entdeckte Wahrheiten theoretisch unmittelbare Wirkung für die Verfassungsauslegung. Vor allem die Vermischung macht die hier dargestellten Vorstellungen staatlicher Einheit problematisch. 3. Qualität: Staatliche Einheit als sittliche Idee: Der Staat als Gesamtheit Während der Staatsbegriff allgemein bleibt, konkretisiert sich heute in Russland hinter dem Konzept „staatliche Einheit“ auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur ein politisches Wertemodell mit Folgen für die Rechtsordnung. Dabei baut das Konzept von staatlicher Einheit auf dem Staatsbegriff auf. Wie bei Putin steht das 298 Vgl. Möllers, Staat als Argument, S. 419, Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke, Band 9, S. 263, 287 f., 289 ff.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 255
Konzept von „staatlicher Einheit“ auch in der Wissenschaft für die Idee vom Staat als der notwendigen Synthese für die von der Gefahr des Auseinanderfalls bedrohte Gesellschaft. Ohne den Staat ist das Zusammenleben danach nicht möglich. Vielmehr verhindert der Staat durch seine Existenz den Untergang. Der Staat ist insofern Voraussetzung für das Sein der Gesellschaft. Diese Qualität erhält der Staat nach der russischen Lehre insofern, als er für das Allgemeine (celoe) steht und damit dem Privaten (cˇastnoe) als dem Besonderen gegenüber gestellt ist. Dabei betont die russische Lehre allgemein den Nutzen des philosophischen Begriffs „celostnost“ für die Rechtswissenschaft. Mit dem Hinweis auf ein entsprechendes Zitat in Sˇersˇenevic Lehrbuch „Gosudarstvo i Pravo“ (Staat und Recht) von 1910 wird die Philosophie als Grundlage aller Wissenschaften bezeichnet, so dass deren Erkenntnisse allgemein wegweisend seien. Ohne dass die Bedeutung für den verfassungsrechtlichen Begriff „staatlicher Ganzheit“ klar würde, wird „Ganzheit“ dabei als philosophische Kategorie beschrieben, nach der das Ganze bestimmend sei, die Existenz der einzelnen Teile ohne das Ganze unmöglich mache, die die Priorität des Ganzen über seine Teile impliziere und wonach bestimmte Dinge nur der Gesamtstaat möglich mache. Rachmetov zitiert Platon mit den Worten „Alles was ist, ist durch das Ganze“.299 Der Staat symbolisiert nach dieser Vorstellung die Ganzheit und die Einheit der Institutionen und Teile mit ihren verschiedenen Aufgaben. Während die Parteien und andere Institutionen im politischen Prozess Einzelinteressen vertreten, stünde der Staat für den allgemeinen Willen.300 In Anlehnung an den Marxismus-Leninismus wird staatliche Einheit letztlich als Überwindung der Gegensätze der sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklung begriffen.301
4. Funktionen von staatlicher Einheit a) Einheitsstiftung Die Herstellung staatlicher Einheit bedeutet nach der russischen Lehre vor allem gesellschaftliche Integration.302 Marcˇenko beschreibt den „synthetisierenden“ Charakter des Staates. Dabei geht es vor allem um das Zusammenbringen der verschiedenen Tätigkeiten der Organe der staatlichen Gewalt.303 Staatliche Einheit synthetisiert nach Ebzeev aber auch die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Gemeinsamkeiten Russlands.304 Nach Ebzeev beinhaltet die staatliche Einheit die Vereinigung der unterschiedlichen „sozialen Gruppen“ im Staat, zu denen er die Klassen sowie bemerkenswerterweise auch die unterschiedlichen Nationalitäten zählt. Mit Hegel geht Ebzeev davon aus, dass gerade die moderne Gesellschaft 299 300 301 302 303 304
Rachmetov, Gosudarstvennaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 9. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 201. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 70. Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 32. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 196. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 71.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
einen Staat braucht, der die sich immer individueller entwickelnden Teile der Gesellschaft zusammenhält und ihren Auseinanderfall verhindere.305 Bewusst wird hier mit den sozialen, politischen, wirtschaftlichen und historischen Voraussetzungen argumentiert. Dabei wird auf die „nationalistischen, wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Probleme“ verwiesen, denen das Land in den vorausgegangenen Jahren ausgesetzt gewesen sei.306 Gesellschaftliche Heterogenität wird als Gefahr wahrgenommen, da sie den staatlichen Zusammenhalt und die Stellung Russlands als souveräne starke Macht bedrohe. So wussten nach Ebzeev schon Platon und Aristoteles, dass ohne „staatliche Integrität und Einheit Desorganisation und Anarchie“ herrschten.307 Darauf folgt die rhetorische Frage, ob die nun selbständigen Republiken der früheren UdSSR nach dem Auseinanderfall (razedinenie) besser leben könnten.308 Der russische Leser, der die ethnischen und politischen Auseinandersetzungen in Estland, Georgien und der Ukraine sowie die wirtschaftlichen Probleme in Weißrussland vor Augen hat, wird dies wohl verneinen. Organisation durch Zusammenschluss ist nicht nur Mittel gegen den politischen Untergang, sondern gleichzeitig auch Mittel für den gesellschaftlichen Fortschritt.309 Damit macht Levakin deutlich, dass das gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen die Lösung der Probleme ist und staatliche Einheit ein Mittel zu dieser Gemeinschaftlichkeit. Obwohl Ebzeev eingesteht, dass die Integration durch den technischen Fortschritt am Ende des 20. Jahrhunderts über die diesem Prozess entgegenstehenden Faktoren „Nationalität, religiöser Extremismus, wirtschaftliche Krise und bewaffnete Konflikte“ „gestolpert“ sei, ist die Vereinigung für ihn der wichtigste Richtung weisende Begriff für die Entwicklung der Weltgesellschaft in Russland. Der Staat wird hier als tauglichstes Mittel begriffen, die gesellschaftliche Existenz durch Vereinigung weiterzuentwickeln.310 Dabei geht es nicht darum, dass sich die Gesellschaft einmalig auf bestimmte Inhalte geeinigt hat, die nun dem Staat als Grundlage dienen und durch ihre Umsetzung in Recht die Menschen im Staat verbinden und einen, vielmehr hat der Staat hier eine aktive „ordnende“ Rolle. Integration ist hier nicht nur Folge staatlichen Handelns oder staatlichen Seins, sondern Aufgabe, aktiv politisch tätig zu werden. Matusov schreibt, dass die Politik „in ihrer abstraktesten Form“ Klassen, Parteien, Nationen, Staaten und soziale Gruppen eint.311 Ausdrücklich wird die „staatlich-politische Integration (edinenija) der Gesellschaft“ als Aufgabe der Organe der föderalen Macht umschrieben, die „den Einsatz der Instrumente der Einheit des Rechtssystems zur Re305
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 196 f. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 16. 307 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 7. 308 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 17. 309 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 7. 310 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 7. 311 Matusov, Ponjatie i osnovnye prioritety rossijskoj pravovoj politiki, in: Pravovedenie 1997, Nr. 4, S. 6. 306
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gulierung des gesellschaftlichen Systems sowie die Unterstützung und die Koordination der nicht-staatlichen Institutionen des politischen Systems“ beinhaltet.312 Ebzeev schreibt gleich zu Beginn, Ausdruck des historischen Begriffes der „Sammlung der russischen Erde“ sei es, dass die zentrale Macht Russland in der Vergangenheit wie auch in Zukunft „integrierende Kräfte“ hervorbringe, die die Einheit des Staates sicherten.313 Es geht darum, die vorfindliche Heterogenität der Gesellschaft zu ordnen und zu einem einheitlichen Willen zu formen. Dabei bleiben die Ausführungen zur Integrationsfunktion des Staates vage und unkonkret. Deutlich wird allein, dass auch die Rechtswissenschaft gesellschaftliche Heterogenität als Gefahr wahrnimmt, der sie den Staat entgegensetzt. Dabei ist die Idee, dass nur ein homogenes Staatsvolk einen stabilen Staat möglich macht, als solche nachvollziehbar. Gleichermaßen nachvollziehbar erscheint der integrative Effekt als Folgeerscheinung des staatlichen Zusammenschlusses. Problematisch für den Demokratie- und den Rechtsstaatsgedanken der Verfassung aber ist die Schlussfolgerung, das Volk durch Integrationsmaßnahmen in die Lage dazu bringen zu müssen. Hier wird das Volk vom Subjekt zum Objekt staatlichen Handelns. Ausgehend von einem freiheitlichen Demokratiebegriff wird auch ein nichtdemokratisches Volksverständnis deutlich. Ein solches Demokratieverständnis schließt ein, dass das Volk die richtige Ordnung selber bestimmt und im Rahmen der Verfassung durchsetzt. Soweit in diesem Zusammenhang aber nicht auf die demokratische Willensbildung nach Vorgabe der Verfassung verwiesen wird, bleiben diese Ausführungen unvollständig. Wenn man aber die Förderung gesellschaftlicher Homogenität zum Inhalt staatlichen Handelns macht, ist problematisch, dass gerade in einer rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der integrierenden Funktion des Staates eine Debatte über die Grenzen der Integration unterbleibt. In den zitierten Darstellungen werden Integrationsmaßnahmen des Staates nicht als Grundrechtsgefahr wahrgenommen. Auch ein Problem für die Minderheiten des Staates wird nicht gesehen. Dies kann nur dann akzeptiert werden, wenn der einheitsstiftende Charakter des Staates eine philosophische Kategorie bleibt.
b) Stabilitätsstiftung Wie im politischen Diskurs wird staatlicher Einheit auch von der Wissenschaft ein stabilisierender Effekt für die Gesellschaft zugeschrieben. Nur mittels staatlicher Einheit sei es möglich, auch in Krisensituationen effektiv zu entscheiden. Die staatliche Einheit sichert das effektive Entscheiden über die anstehenden Fragen und die Lösung der Probleme. Staatliche Einheit garantiert ein stabiles Funktionieren des Staates, die Bewältigung der inneren Probleme, wie die Sicherung der äußeren Souveränität.314 312 313 314
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 207. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 5. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 71.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
c) Kontinuitätsfunktion Darüber hinaus impliziert der Begriff staatliche Einheit einen Kontinuitätsgewinn in einer Zeit, in der sich Recht und Politik dramatisch ändern. Für Russland gälte dies insbesondere insofern, als der Staat mit Hegel immer nur aus dem Blickwinkel seiner jeweiligen geschichtlichen Etappe betrachtet wird. Ebzeev selbst setzt seiner Analyse der Kernfragen staatlicher Einheit voran, dass das Wesen der staatlichen Einheit die Tatsache sei, dass Russland nicht homogen aufgebaut sei, aber einen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, geistigen und juristischen Organismus bilde, dessen Grundlage der Staat sei. Diese gemeinsame Grundlage schaffe Identität.315 Hier wird der Staat als beständiger Raum beschrieben, der trotz innerer und äußerer Veränderungen bestehen bleibt und daher Orientierung bietet. Ein Staatsbegriff als Funktionseinheit verschiedenartig handelnder Akteure scheint hier nicht auszureichen. Vielmehr herrscht ein Bedürfnis nach darüber hinausgehenden Institutionen, die die geschichtliche Substanz und Kontinuität wahren und den Zerfall aufhalten. d) Der „humanitäre Aspekt“ der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität: staatliche Einheit als Voraussetzung von Grundrechtsschutz Letztlich beinhaltet die Dogmatik der staatlichen Einheit den Gedanken, dass nur ein großer einheitlich organisierter russischer Staat innerhalb des jetzt bestehenden Territoriums in der Lage ist, den Schutz der Menschenrechte zu sichern. Diese Argumentation teilt das Verfassungsgericht, das im Tschetschenienurteil316 darlegt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei durch die „föderale Intervention“ in Tschetschenien nicht verletzt, da das Verfassungsprinzip der staatlichen Integrität den Schutz der Menschenrechte auf dem Gebiet der RF beinhalte und sichere. Würde das Selbstbestimmungsrecht der Völker durchgesetzt, sei der Menschenrechtsschutz gefährdet. In diesem Sinne ist Ebzeevs Aussage zu verstehen, dass nur die Sicherung der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität die Rechte und Freiheiten der Menschen schützen könne.317 Dies nennt Ebzeev den „humanitären Aspekt“ der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität.318 Baglaj schreibt dementsprechend, Separatismus widerspräche den Werten des Rechtsstaats.319 Die Verbindung der Komplexe Selbstbestimmungsrecht der Völker, staatliche Integrität und Menschenrechte wird hergestellt, indem indirekt auf die Ähnlichkeit der föderalen Intervention in Tschetschenien mit der „humanitären Intervention“ im früheren Jugoslawien ver-
315 316 317 318 319
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 5 ff. SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 163. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 163. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 134.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 259
wiesen wird.320 Wie die „humanitäre Intervention“ in Ex-Jugoslawien dem Menschenrechtsschutz gedient habe, so habe auch der Krieg in Tschetschenien dem Schutz von Menschenrechten gedient. Über die Verbindung von territorialer Ganzheit als Voraussetzung für die Durchsetzung von Menschenrechten auf dem gesamten Territorium der RF werden die Menschenrechte mit dem Prinzip staatlicher Einheit in seiner Bedeutung als gesellschaftliches Ideal zueinander in Bezug gesetzt. Dies geht deutlich auf die Grundannahme zurück, wie der Staat das Recht voraussetze, setze das Recht den Staat voraus, was um die Annahme ergänzt wird, dass ein tschetschenischer Staat das (richtige) Recht nicht garantieren könne, vielmehr setze das Recht den russischen Staat voraus. So sind Menschenrechte nach Levakin in einer wirtschaftlich schwachen Situation für den Menschen wenig nützlich. Erst die Herstellung von staatlicher Einheit als Zustand von Sicherheit und Ordnung schaffe die Voraussetzungen für die Realisierung von Menschenrechten.321 Die Durchsetzung von Menschenrechten wird so an die Voraussetzung eines bestehenden starken russischen Staates geknüpft. 5. Inhaltliche Ausgestaltung a) Staatliche Einheit als Ganzheit des Territoriums Häufig wird der Begriff staatliche Einheit mit der territorialen Integrität Russlands in einem Atemzug genannt,322 ohne dass eine herrschende Meinung darüber besteht, wie die beiden Begriffe konkret einander zugeordnet sind. So wird die territoriale Integrität einerseits als Grundlage des Prinzips der staatlichen Einheit bezeichnet.323 An anderer Stelle werden die beiden Begriffe wiederum alternativ gebraucht und Rachmetov schreibt, das Konzept der „celostnost“ würde aus den zwei Aspekten „Einheit der staatlichen Macht“ und „Einheit des Territoriums“ bestehen.324 Hier wird celostnost als eine Art Überbegriff für den Komplex staatliche Einheit gebraucht. Wenn „gosudarstvennaja celostnost“ auch in der Regel mit staatlicher Integrität übersetzt wird, so führt der Begriff doch weiter in einen innerstaatlichen Anwendungsbereich. Anders als der deutsche völkerrechtliche Begriff „territoriale Integrität“, der vor allem Schutz vor Handlungen anderer Staaten meint, die in die Gebietshoheit von Territorialstaaten ohne deren Einwilligung bzw. ohne völkerrechtlichen Rechtstitel ein320 Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 125. 321 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 129. 322 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii (konstitucionnopravoye problemy), Moskau 2005, Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 5, Safanov/Safanova, Rol sudov v mechanisme obespecˇenija celostnosti gosudarstva, in: Rossijskaja Justicia, 4/2005, S. 69 f. 323 Ebezeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 70. 324 Rachmetov, Gosudarstvennaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 27.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
greifen,325 drückt das russische Wort celostnost Ganzheit bzw. Gesamtheit des Staatsgebildes in Bezug auf ein Territorium aus. So wird in der russischen Rechtslehre ausdrücklich auf die Ableitung des Begriffs celostnost von „celoe“ (ganz, das Ganze, das Ungeteilte) und sein Verhältnis zum Teil (cˇast) hingewiesen.326 Wie schon dargestellt, steht das Ganze (celoe) als das Vollkommene in Relation zum Partikulären (cˇastnoe). Gosudarstvennaja celostnost ist die Ganzheit des russischen Territoriums, das durch den Verlust eines Teils nicht mehr vollkommen ist. Diese Aussage versinnbildlicht Ebzeev durch den Vergleich des staatlichen Territoriums mit dem menschlichen Körper: Wie das Leben des Menschen ohne seinen Körper unmöglich ist, so ist das Leben des Staates undenkbar ohne Territorium. Durch den Vergleich wird verdeutlicht, dass – wie im menschlichen Organismus – alle Teile notwendig sind, um die volle Funktionsfähigkeit zu entfalten. Der Verlust eines Teils wird indirekt mit dem Verlust eines Köperteils verglichen. Insofern umfasst das Prinzip der staatlichen Integrität den Schutz der Ganzheit des Territoriums nach innen. Ganz ausdrücklich weist Baglaj darauf hin, dass in einem einheitlichen Staat (edinoe gosudarstvo) ein bestimmter Teil des Territoriums nicht als Eigentum einer bestimmten Nation innerhalb der RF verstanden werden könne.327 Während der Vergleich mit dem menschlichen Körper einerseits die Bedeutsamkeit der Ganzheit und Unteilbarkeit des Territoriums verdeutlicht, zeigt sich, dass dem Territorium darüber hinaus ein hoher Wert zukommt. Wie schon der Vergleich mit dem menschlichen Körper offenbart, ohne den ein Mensch biologisch nicht existieren kann, ist staatliche Existenz nach der russischen Rechtslehre ohne das staatliche Territorium nicht überlebensfähig. Dazu versucht man, eine besondere Bedeutung des Territoriums wissenschaftlich herzuleiten. Dabei werden regelmäßig328 verschiedene historische völker- und staatsrechtliche Gebietstheorien angerissen, die versuchen, die Funktion des Staatsgebiets begrifflich und theoretisch zu fassen. Die dargestellten Theorien charakterisieren die langwierige theoretische Entwicklung vom Personenverbands- zum Flächenherrschaftsstaat in Westeuropa. Während sich die Hoheitsgewalt des Staates zunächst an der Befugnis orientierte, die eigenen Staatsangehörigen zu verpflichten, trat dabei immer mehr das Gebiet als Angelpunkt von staatlichen Befugnissen in den Vordergrund. Immer stärker bezog sich die Berechtigung des Staates darauf, Sachverhalte zu regeln, die auf einem bestimmten Territorium angesiedelt waren.329 Die russische Rechtslehre orientiert sich an diesen Gebietstheorien. So beruft man sich nicht nur auf Georg Jellineks Drei-Elemente-Lehre, wonach Staat die drei Ele325
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 456. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii S. 21. 327 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 134. 328 Vgl. die teilweise wörtlich identischen Abschnitte zum Staatsgebiet u. a. bei Barcic, Pravovoe Prostranstvo Rossii, S. 17 ff., Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 136, Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 5. 329 Graf Vitzhum, Staatsgebiet, in: HStR I, 2004, § 16, Rn. 5. 326
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mente Staatsvolk, Staatsgewalt und eben das Staatsgebiet voraussetzt.330 Regelmäßig greift die russische Staatslehre insbesondere auch die von Carl V. Fricker begründete Raumtheorie331 auf, wonach alle staatliche Tätigkeit nur aufgrund räumlicher Entfaltung stattfinden kann. Im Gegensatz zur Lehre vom Eigentum des Herrschers am Boden sowie dessen souveräner Beherrschbarkeit, ist das Staatsgebiet nach der Raumtheorie die räumliche Grundlage für die Entfaltung von Staatsgewalt über die auf diesem Territorium lebenden Menschen.332 Danach gibt es keine Herrschaft unmittelbar über Personen, sondern nur über Menschen auf einem bestimmten Raum. In dieser Lehre sieht die russische Staatslehre ganz allgemein die Bedeutung des Bodens für den Staat manifestiert. Immer wieder zeigt sie auf, dass das Territorium in diesem Sinne nicht nur Element des Staates sei, sondern sein Objekt,333 was mit dem Hinweis auf die Diskussion über das Verhältnis von Territorium und staatlicher Macht bei Bluntschli, Seidel, Laband sowie Gärtner und mit einem Zitat aus Hallers „Restauration der Staatswissenschaft“ verbunden wird, wonach das Recht des Monarchen auf das staatliche Territorium gerechtfertigt wird.334 Mit dem Hinweis auf den Ausgangspunkt der modernen Völker- und Staatswissenschaft, wonach das Territorium durch Völkerrecht geschütztes quasi privatrechtliches Objekt ist, will sie offensichtlich auf den besonderen Schutz des Territoriums durch Recht hinweisen. Genauso wird immer wieder die Theorie vom Eigentum des Staates am Staatsgebiet angesprochen. Dazu bringt die russische Literatur dann die sowjetische Kritik an dieser These, die darin liegt, dass Völker nicht bourgeois-kapitalistische Eigentümer des Staates sein können, sondern nur politischer Souverän über das Territorium.335 Von da aus gelangt man zu modernen Theorien, die das Territorium als räumlichen Kompetenzbereich staatlicher Macht begreifen.336 So definiert die Lehre mit staatlichem Territorium den territorialen Raum, in dem der Staat die territoriale Oberhoheit hat.337 Danach ist Territorium nicht Objekt, sondern räumlicher Zuständigkeitsbereich von Macht. Auch wenn man letztlich zur modernen Vorstellung vom Staatsgebiet als Anwendungs- und Geltungsraum von Staatsgewalt kommt, suggeriert die in der Literatur zur 330
Jellinek, Staatslehre, S. 394 ff. Fricker, Vom Staatsgebiet, 1867. 332 Ipsen, Völkerrecht, S. 277. 333 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 136, ebenso Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 5, Barcic, Pravovoe Prostranstvo Rossii, S. 17 ff. 334 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 136, ebenso Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 5, Barcic, Pravovoe Prostranstvo Rossii, S. 17 ff. 335 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 136, ebenso Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 5, Barcic, Pravovoe Prostranstvo Rossii, S. 17 ff. 336 Insbesondere Kelsen/Tucker, Principles of International Law, S. 307. 337 Usˇakov, Mezˇdunarodnoe pravo: osnovye i ponjatija, Moskau 1996, S. 38. 331
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
staatlichen Einheit konsequent wiederholte umfangreiche Darstellung der rechtshistorischen Auseinandersetzung um den Staatsgebietsbegriff, dass diesem mehr Bedeutung zukommen müsste, als dies tatsächlich der Fall ist. Dass die verschiedenen Theorien immer wieder ohne Analyse und ohne ausdrückliches Ziel dargestellt werden, kann nur das Ziel haben, die besondere Bedeutung des Territoriums zu unterstreichen. Dies wird deutlich, wenn in der Monographie von Ebzeev eine notwendige Voraussetzung zum Bestehen des Staates als Basis für die im Staat organisierte Gesellschaft angesehen wird.338 Bei Marcˇenko ist das Staatsgebiet „materielle Basis“, die für das „Funktionieren“ des Staates unablässig ist.339 Insofern wird ganz schlicht auf den von der Verfassung geschützten Wert von Boden und Natur als Ressourcen für Menschen und Leben der Völker verwiesen (Art. 9 I Verf RF).340 Dies geht im Endergebnis weit über das Verständnis vom Territorium als räumlichem Kompetenzbereich staatlicher Macht hinaus. Hier ist das Territorium für den Staat, was der Körper für den Menschen: Existenzvoraussetzung und somit dauerhaft zu schützendes Rechtsgut. Levakin zieht dazu heute unkommentiert Ivan Ilin mit den Worten heran: „Russland bleiben zwei Möglichkeiten: es wird zerrieben und verschwindet oder es befriedet seine unübersehbaren Ränder mit Gewalt und durch staatliche Macht.341 Danach braucht Russland sein Territorium, um sich verteidigen zu können, als Garantie, um „zu überleben“. Nach dieser extensiven Auslegung der territorialen Integrität ist die Ganzheit des russischen Bodens Grundlage für gesellschaftliches Leben und insofern innerstaatlich zu schützendes Verfassungsgut. Für Belavina ist das Territorium grundlegendes Objekt der staatlichen Sicherheitsgewährung. Es steht dabei nach Belavina in der Triade der Schutzgüter Mensch mit seinen Rechten und Freiheiten, Gesellschaft mit ihren zu schützenden materiellen und geistigen Werten und Staat mit dem verfassungsmäßigen Aufbau, der Souveränität und der territorialen Integrität.342 Andere wählen einen noch weiteren Ansatz. Für Rachmetov ist celostnost, wie erwähnt, Einheit der staatlichen Macht und Einheit des Territoriums. Dabei geht er von der Einheitlichkeit der auf dem gesamten Volk als einheitlicher Quelle beruhenden, sich auf das ganze Gebiet des Staates erstreckenden Macht sowie des Territoriums als Raum für eine einheitliche Wirtschaft und eine gemeinsame Kultur aus.343 Mit dem Historiker Klucˇevskij, der den gemeinsamen Boden im 19. Jahrhundert bereits
338
Ebzeev zitiert hier Djugi, Konstitucionnnoe pravo, Moskau 1908, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 128. 339 Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 40. 340 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 61. 341 Levakin, Osnovy gosudarstvennogo edinstva sovremennoj Rossii: problemy teorii sowie Ilin, O Rossii, S. 12. 342 Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, S. 11. 343 Rachmetov, Gosudarstvennaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 27.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 263
als das wichtigste, den Staat einende Element beschrieben hatte,344 wird auch in der gegenwärtigen russischen Literatur das gemeinsame Territorium indirekt als das angesehen, was aufgrund der verschiedenen Völker und Kulturen in der RF alle zu einem „Russländischen Staat“ verbindet.345 Auch weil Russland nicht Nationalstaat, sondern Territorialstaat sei, habe das gemeinsame Territorium eine vereinende Aufgabe.346 Der Raum auf dem russischen Territorium wird insgesamt zur geschlossenen Rechtssphäre, die dem Individuum Entfaltung erst ermöglicht und es nach außen sichert. Als große territoriale Einheit wird dem russischen Volk ein Platz in der Weltgemeinschaft ermöglicht, der nach außen zu verteidigen ist.347 Staatliche Einheit ist in diesem Sinne nach O.G. Morozova ein eigener Wert, der die Fähigkeit habe, die gemeinsamen Werte der Gesellschaft und des Staates nach außen zu schützen.348 Gleichzeitig ist er nach innen zu sichern. Abspaltungen einzelner Teile des Staates sind zu verhindern. Innerstaatliche Probleme wie Separatismus und Föderalismus (!) sind bei Annenkova Hauptgefahren für das Territorium.349 Neben den geradezu mystischen Aspekten der russischen Diskussion über das Territorium wird deutlich, dass dieses in der Tat wesentliches Anknüpfungskriterium für den Staat ist. Die Volksherrschaft des multinationalen russländischen Volkes wird vor allen über die Verbindung des Einzelnen mit dem Territorium definiert. Es zeigt sich, dass der russische Staat weniger als Willenseinheit, denn als territoriale Einheit definiert wird. Die Notwendigkeit des Territoriums hat dabei vor allem einen sozialwissenschaftlichen Hintergrund. Es geht um einen Integrationsfaktor für die Gemeinschaft sowie um die Sicherung außenpolitischen Gewichts. Dabei bleibt das Territorium politisches Sollen, das sich insofern der demokratischen Revision des Status quo entzieht. b) Der soziale Aspekt der Formierung staatlicher Einheit: Solidarität und Gemeinschaft Ausgangspunkt für den sozialen Aspekt der staatlichen Einheit ist für Ebzeev die Tatsache, dass das Problem der Teilung der Gesellschaft in Klassen aufgrund des Bestehens von Privateigentum immer noch aktuell sei. Die gegenwärtigen sozialen Strukturen in Russland, wörtlich die soziale Isoliertheit (razobsˇcˇennost), sind für ihn ein Haupthindernis der wahren staatlichen Einheit in Russland.350 Deutlich negativ wird das Bestehen von Unterschieden in der Gesellschaft eingeordnet, die es zu 344
Kljucˇevskij, Geschichte Russlands, 1. Band, S. 206 f. Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 59 f. 346 Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 5. 347 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 8. 348 Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 18. 349 Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 12. 350 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 81. 345
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
überwinden gälte. Gleichzeitig konstatiert Kocˇkarov, dass es in Russland historisch eine Tendenz der Vereinigung gäbe (obedinitelnye tendencii), und den Wunsch der Völker zusammenzuleben, wobei er Tschetschenien als Sonderfall ausschließt.351 Hier wird die lebendige Idee von der Gemeinschaftlichkeit als russische Charaktereigenschaft deutlich. Levakin benutzt in dem Sinne den in Russland derzeit beliebten Begriff der „Bürgerlichen“ – oder „Zivilgesellschaft“ (grasˇdanskoe obsˇcˇestvo), wenn er sagt, diese sei die Grundlage von staatlicher Einheit im sozialen Kontext.352 Dabei wird die bürgerliche Gesellschaft auch hier nicht politisches Gegenüber des Staates, sondern seine Voraussetzung. Antwort auf die soziale Isoliertheit und den daraus entstehenden sozialen Fragen kann nach Ebzeev nur der Staat bieten.353 Die verfassungsmäßige Grundlage für diese Auffassung sieht er in der Niederlegung des Sozialstaatsprinzips in den Verfassungen vieler europäischer Staaten, wie auch in der russischen Verfassung. Ganz allgemein fordert der Sozialstaatsgedanke nach der Theorie Ebzeevs soziale Gerechtigkeit und beinhaltet für den Staat das Gebot, diese durchzusetzen.354 Erforderlich sei, dass der Staat eingreife, um Bürgerkrieg und das Auseinanderfallen der Gesellschaft zu verhindern. Ebzeev führt an, dass die Resultate der russischen Privatisierung nicht zur Sicherung der sozialen Stabilität und der Einheit in der Gesellschaft beigetragen hätten.355 Bei der Privatisierung des Volkseigentums sei die Gleichheit der Bürger deutlich verletzt worden. Indem er die Verfassungswidrigkeit anspricht und mit dem Misserfolg der Privatisierung vermengt, suggeriert er, dass die Privatisierung dem demokratischen Willen des Volkes entgegensteht und nur Einzelinteressen diene, was die soziale Gerechtigkeit in Russland verletzt habe. Das Sozialstaatsprinzip beinhaltet für ihn letztlich auch die Durchsetzung der Privatisierung unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung der Bürger. Wie genau die entscheidende Trennlinie zwischen sozialer Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit im modernen Russland nach der Vorstellung von Verfassungsrichter Ebzeev rechtlich verläuft, bleibt ungeklärt. Deutlich wird allein, dass die Vorstellung von staatlicher Einheit soziale Gleichheit umfasst, die wirtschaftlichen Einzelinteressen in der Abwägung vorgeht. In diesem Sinne ist staatliche Einheit gesellschaftliche Einheit.356 Der „soziale“ Inhalt der Vorstellungen von staatlicher Einheit umfasst insofern die Idee einer vom Staat organisierten gerechten Welt, in der sich unklar formulierte Ideale von Gleichheit durch Einheit zulasten von wirtschaftlichen Einzelinteressen durchsetzen.
351 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 66. 352 Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 122, dabei wird die Zivilgesellschaft jedoch nicht in Opposition oder alternativ zum Staat gedacht, sondern geht in der Synthese staatlicher Einheit auf. Nur insofern ist sie Grundlage für die staatliche Einheit. 353 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 85. 354 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 81. 355 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 82. 356 Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 4.
III. Grundlagen des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität 265
c) Der einheitliche Wirtschaftsraum Die hier dargestellte Lehre der staatlichen Einheit begreift die Einheit des wirtschaftlichen Raums als Teilaspekt der staatlichen Einheit und insbesondere als Teilaspekt der staatlichen Ganzheit. Der einheitliche Markt sei die Voraussetzung und das Ziel der staatlichen Einheit. Bedauerlicherweise argumentiert Ebzeev auch hier nur vom Ziel her, so dass nicht klar wird, ob die Sicherung des „einheitlichen Markts“, inhaltlich die Kontrolle über die Wirtschaft und gar eine Enteignung wie im Fall Yukos357 umfasst. Nach Ebzeev folgt aus der Zuständigkeit des Bundes für den einheitlichen Wirtschaftsraum, dass es zu den wichtigsten Aufgaben des Staates gehört, die Wirtschaft zu regulieren.358 Nach eigener Aussage weicht dies nicht vom verfassungsmäßig geschützten Prinzip des Privateigentums ab, sondern fordert allein, dass der Staat unterstützend eingreift, wenn durch die Globalisierung die Schere zwischen armen und reichen Ländern der Erde immer breiter wird und es darum geht, Russland mit einer stabilen Position im Weltmarkt zu integrieren (z. B. durch Forcierung des Beitritts zur WTO).359 Die wirtschaftliche Einheit ist hier nicht Rechtsfrage, sondern politische Aufgabe. Dabei wird der einheitliche Markt als Teilaspekt staatlicher Ganzheit begriffen.360 d) Der einheitliche Rechtsraum Wie bereits die Ausführungen zu staatlicher Einheit als Voraussetzung für den Grundrechtsschutz deutlich gemacht haben, schließt die staatliche Einheit mit ein, dass das Recht auf dem gesamten Territorium der RF einheitlich angewandt wird. Dabei wird es als erforderlich angesehen, dass alle Bürger der RF den gleichen Rechtsanspruch haben und es keinen Unterschied der Rechtsdurchsetzung in den einzelnen Regionen gibt.361 In diesem Zusammenhang wird die föderale Ordnung als Problem begriffen, die eine einheitliche Rechtsdurchsetzung erschwert. Dabei wird nicht nur der unterschiedliche rechtliche Status der Subjekte als Hindernis gesehen, problematisch gilt vor allem der Widerspruch zwischen der Gesetzgebung der Regionen und der Gesetzgebung des Bundes.362 e) Einheit als Gleichheit Damit einher geht die Annahme, dass Einheit Gleichheit voraussetze. So wird in der Vereinigung der Völker im russischen Staat keine Verletzung von Minderheitenrechten gesehen, die darin bestehen könnte, dass Kulturen und Sprachen von einzel357 Vgl. die umfangreiche rechtliche Würdigung des Yukos-Falls: Luchterhandt, Rechtsnihilismus in Aktion. Der Jukos-Chodokovskij-Prozeß, Osteuropa 7/2005, S. 7 ff. 358 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 77. 359 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 78 f. 360 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 134. 361 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 163. 362 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 96, 97.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
nen Völkern innerhalb der RF benachteiligt würden. Vielmehr garantiere erst die russländische Staatlichkeit durch die Geltung der Verfassung auf dem ganzen Staatsgebiet den Schutz dieser Kulturen und ihrer Sprachen.363 Eine derartige Argumentation verdeutlicht die enorme Bedeutung des Gleichheitsgedankens im Zusammenhang mit Rechten im russischen Rechtsverständnis. Gerade die Gleichberechtigung garantiere die wirksame Durchsetzung der Grundrechte. So steht für Annenkova „Einheit“ für Gleichheit des Rechts. Dabei beruft sie sich auf Cicero, der zu dem Ergebnis gekommen sei, die Loyalität der Menschen zum Staat hinge davon ab, ob er von Geburt an gleich sei und von daher den Staat als „einheitlich“ anerkennt. Daraus begründet sie, dass der Gleichheitsaspekt von Einheit diese mit einer Stabilitätsgarantie für den Staat ausstatte.364 6. Die führende Rolle des russischen Volkes innerhalb der staatlichen Einheit Wie bereits in früherer Zeit und nicht zuletzt von Stalin propagiert, nimmt das russische Volk auch in Teilen der neueren Literatur ausdrücklich eine führende Rolle ein. So gibt die Verfassung zwar die Gleichberechtigung der Völker vor, Kocˇkarov kommt jedoch zu der Ansicht, dass eine absolute Gleichheit unmöglich sei. Insofern kommt dem russischen Volk eine führende (vedusˇcˇij) und einende (obedinjajusˇcˇij) Rolle zu. Wichtig für den Erhalt der staatlichen Einheit sei dabei insbesondere die russische Sprache.365 In der führenden Rolle sieht er keine juristische oder faktische Überlegenheit (prevoschodstvo) des russischen Volkes innerhalb der RF.366 Vor allem sei die russische Kultur nicht höher stehend. Es sei insofern zu vermeiden, dass die verschiedenen Kulturen der Völker innerhalb der russischen Kultur zu einer einheitlichen Kultur verschmelzen. Gerade dies würde durch den russländischen Staat und seinen Minderheitenschutz aber garantiert.367 Levakin kann in der leitenden Rolle der Sprache zu Einheit und Harmonie und der Wichtigkeit von Minderheitenschutz keinen Widerspruch erkennen.368 Gerade weil hier kein Widerspruch gesehen wird, wird die absolute Selbstverständlichkeit von der Notwendigkeit staatlicher Einheit unterstrichen. Diese Notwendigkeit besteht so absolut, dass Rechte von Minderheiten nicht verletzt werden können. Hier wiederum schließt sich der Kreis mit der oben dargestellten Ar-
363 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarsvennosti, S. 60. 364 Annenkova, Konstitucionno-pravavye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 104. 365 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 50, sowie Annenkova, Federaliszm RF, S. 68. 366 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarsvennosti, S. 60. 367 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarsvennosti, S. 60. 368 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost. S. 51.
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gumentation, dass nur die Einheit des Staates Einzelrechte überhaupt begründen kann. 7. Staatliche Einheit als politische Notwendigkeit Insofern als die staatliche Einheit die Gegensätze der Gesellschaft überwindet und dabei gesellschaftliche Einheit, Stabilität, Kontinuität und Recht schafft, ist sie, wie bereits gezeigt, politische Notwendigkeit. Aufgrund der fortgeschrittenen Entwicklung sei gesellschaftliches Leben ohne Staat heute nicht mehr denkbar. Außerhalb des Staates könne Gesellschaft nicht existieren.369 Wenn man an die Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft glaube, bliebe keine andere Wahl als die Vereinigung. Der Auseinanderfall in einzelne kleinere Staaten (Ebzeev benutzt hier den historischen Begriff und spricht vom Zerfall in „udely“) ist dagegen gleichbedeutend mit historischem Rückschritt und behindere die Entwicklung der Weltgesellschaft. Nur ein starkes und einheitliches Russland könne sich wirksam in die Weltpolitik einbringen und diese mitgestalten, zitiert Ebzeev Putin.370 Ganz ausdrücklich wird diese Notwendigkeit dabei mit dem Argument begründet, die gegenwärtig fehlende Identifikation in der Transformationszeit erfordere einen Staat, der unabhängig von der politischen und rechtlichen Ausgestaltung als historische Konstante Identität stifte. Es wird deutlich, dass man davon ausgeht, dass aufgrund der beschriebenen Funktionen der Zusammenschluss im Staat alternativlos bleibt. Daneben besteht die Ansicht, dass staatliche Einheit notwendig sei, Russland nach außen zu stabilisieren. Es geht darum, dass die Russische Föderation in den internationalen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielt. Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das russische Volk die Form des Staates als Organisationsstruktur brauche, um Völkerrechtssubjekt zu werden und internationale Verträge abzuschließen. Nur so könne es auch die Sicherung des staatlichen Territoriums garantieren.371 Dabei ist der Schutz der Ganzheit des Territoriums seinerseits wieder politische Notwendigkeit, um die Existenz des russischen Staates zu sichern.372 8. Fazit: Staatliche Einheit als Voraussetzung für den idealen Staat Wie gesehen, entwickelt sich die moderne Vorstellung von staatlicher Einheit vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und sozialer Probleme im Zusammenhang mit dem Auseinanderfall der früheren Sowjetunion und der Neugründung der Russischen Föderation. Unter dem Begriff „staatliche Einheit“ verbirgt sich insofern nach den hier dargestellten Autoren in der modernen russischen Rechtswissenschaft eine ideale Vorstellung vom Staat, in dem die gegenwärtigen sozialen, wirtschaftlichen und au369 370 371 372
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 168. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 17. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 159. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 135.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
ßenpolitischen Probleme durch Zusammenhalt, Einmütigkeit und daraus resultierender Stärke überwunden werden.373 Allein der Staat garantiert gesellschaftliche Einheit, Stabilität, Kontinuität und die Menschenrechte. Staatliche Einheit wird mit Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Voraussetzung für das Bestehen und Wohlergehen Russlands begriffen. In der Gesamtheit ist die staatliche Einheit auch Voraussetzung für die soziale und wirtschaftliche Existenz des Einzelnen. Inhaltlich zeichnet sich die staatliche Einheit durch einen einheitlichen Rechtsraum und eine einheitlich beherrschte Wirtschaftszone aus. Dabei bedingen sich die einzelnen Faktoren immer wieder gegenseitig: So schafft soziale und ideelle Einheit im Ergebnis Staat,374 der Staat wirkt durch seine Organe wiederum als Einheitsstifter hin zu einer noch vollkommeneren Einheit.375 Auf historisch-philosophischer Grundlage unter Heranziehung der Verfassung als „rechtlichen Ausdruck der politischen Verhältnisse“376 ist die staatliche Einheit damit gleichzeitig soziologischer Fakt, Ziel sowie immer wieder zu bewältigende Aufgabe.377 In Anlehnung an die Gesellschaftsvertragslehren ist der Staat Ausweg aus der zunehmenden gesellschaftlichen Heterogenität und dem Individualismus. Der Einzelne braucht den Staat, der innerhalb dieser Heterogenität ordnet. Der Zusammenschluss im Staat als Willens- und Entscheidungseinheit beruht dabei nicht primär auf dem freien Willen, als vielmehr auf der Verpflichtung gegenüber der politischen Notwendigkeit. Der Staat in seiner dargestellten Form bleibt nach der hier zu erörternden Lehre alternativlos. Nur staatliche Einheit garantiert eine bessere Zukunft. Diese Konzeption von staatlicher Einheit hat Folgen für den Rechtsbegriff: Indem der Staat in der hier beschriebenen politischen Konzeption von staatlicher Einheit Voraussetzung für das Recht ist, wird der Rechtsbegriff deutlich relativiert. Es geht in der hier dargestellten Konzeption darum, den Staat zunächst als stabile Einheit gerade unabhängig vom Recht zu festigen, damit dieser dann Recht und Ordnung garantieren kann. Erst wenn staatliche Einheit als politischer Fakt garantiert ist, herrscht auch das Recht. Das Grundproblem ist insofern der allgemein-empirische Staatsbegriff. Es zeigt sich, auch wenn die Wechselbezüglichkeit von Staat und Recht behauptet wird, dass der Staat letztlich allein aus politischer Notwendigkeit geschaffen wird. Dabei ist er zwar an das Recht gebunden, er ist aber nicht allein Folge des Rechts, sondern hat auch unabhängig vom Recht ein eigenes Sein. Dabei erweist sich die Lehre von der Wechselbeziehung von Staat und Recht als Vermengung von rechtspolitischen, rechtssoziologischen, philosophischen und verfassungsrechtlichen Erkenntnissen zu einer Kurzformel ohne jeden eigenen Erklärungswert. Die Feststel373 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 198, so i.E. auch Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacii i edinstvo Rossijskoj gosudarsvennosti, S. 142 und 129 ff. 374 Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 35, Annenkova, Federalizm RF, S. 20, 144. 375 Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 268. 376 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 198. 377 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 70.
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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lung, das Recht brauche den Staat, reduziert vielmehr die Rolle des Rechts, wie auch den Demokratiegedanken neben einem übermächtigen Staatsbegriff. Indem der Begriff der staatlichen Einheit als Voraussetzung für das Recht vorgibt, Recht und Ordnung herzustellen, wird insbesondere die Rolle der Verfassung geschmälert. Die Vermengung ist ein gefährliches Einfalltor für Versuche, das Recht neben dem Staatsbegriff herabzusetzen. In diesem Sinne wird die Verfassungsordnung um ihrer selbst willen letztlich gegen sich selbst ausgespielt. Es ist auffällig, dass der Staatsbegriff hier als stabilitätsstiftender Faktor für die Gesellschaft gebraucht wird. Wie sich noch ausführlicher zeigen wird, verhält sich das Konzept staatlicher Einheit widersprüchlich zum demokratischen Verfassungsstaat. Richtiger scheint es dagegen, die Verfassung bei der Erkenntnisgewinnung, was den Staat ausmacht, einzubeziehen. So muss sich gerade der russische Staat angesichts der erheblichen gesellschaftlichen Heterogenität fragen, was seiner Einheit mehr Legitimation vermitteln könnte, als deren Normativierung.
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung Entscheidender Gradmesser für die Beurteilung des Putinschen Staatsverständnisses sowie für die hier dargestellten Vorstellungen vom Prinzip der Einheit und Ganzheit des Staates in der Rechtswissenschaft ist die Verfassung der Russischen Föderation. So besitzt die Verfassung in der RF nach Art. 15 I höchste Rechtskraft. Staatliches Handeln muss insofern in der Verfassung ihre Grundlage finden bzw. darf der Verfassung nicht widersprechen (Art. 15 II Verf RF). Es soll deshalb hier dargestellt werden, in welchem Umfang das sich hinter dem Begriff der staatlichen Einheit verbergende politische Konzept Putins sowie das dargestellte Konzept der Wissenschaft den Wertungen der Verfassung entspricht. Nicht anhand der Verfassung überprüft werden können die metajuristischen Aspekte staatlicher Einheit, wie ihre stabilitätsund einheitsstiftende Kraft. Auch können die Inhalte der Verfassung insoweit nicht entgegengehalten werden, als das Konzept der staatlichen Einheit die Rolle der Verfassung insgesamt relativiert. Der Verfassung gegenüber gestellt werden können nur die Aspekte, die inhaltlich in den Regelungsbereich der Verfassung fallen. Insofern soll hier allein untersucht werden, wieweit die Verfassung selbst die staatliche Einheit zu ihrem Thema macht und wie sich dies zu den dargestellten theoretischen Grundlagen der Staatslehre verhält. Dabei soll vor allem die Idee des wirtschaftlichen und rechtlichen Einheitsraums mit dem Föderalismusprinzip der Verfassung in Bezug gesetzt werden. Es soll gezeigt werden, wie es der Verfassungslehre argumentativ gelingt, der Verfassung die Einheit des Staates als Verfassungsziel zu entnehmen, das die Beziehungen zwischen föderalem Zentrum und Regionen allein im Lichte einheitlicher Beherrschbarkeit erscheinen lässt. Hierdurch verliert das Föderalismusprinzip seinen freiheits- und demokratiefördernden Aspekt und wird allein als Organisationsprinzip des quasi-unitarischen Staates begriffen.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Der Umgang mit der russischen Verfassungsanalyse ist nicht unproblematisch. Während sich der „Dunstschleier“378 über den politischen Ordnungsvorstellungen Vladimir Putins sechs Jahre nach seinem Amtsantritt weitestgehend gelüftet hat, wird das Verfassungsverständnis in Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts teilweise nebulöser. Gerade die theoretischen Grundlagen des Staates bleiben für den nichtrussischen Leser der russischen Lehre häufig floskelhaft. Ausgangspunkt für das schwierige Verständnis der russischen Lehre ist zunächst die Verbindung von neuen westlichen Verfassungsprinzipien wie Demokratie, Föderalismus und Grundrechtsschutz mit Gedankenstrukturen, die aus der alten sowjetischen bzw. vorrevolutionären Lehre übernommen wurden. Mit der Gründung der RF wurde zwar eine neue, dem Wortlaut nach freiheitlich-demokratische Verfassung verabschiedet, einige dort verwendete Begriffe knüpfen jedoch an sowjetische Strukturen an, ohne dass deutlich wird, wie dies zu verstehen ist. So taucht das „einheitliche System der Organe der Staatsgewalt“, aus Art. 89 der sowjetischen Verfassung von 1977, das für ein zentralistisch-hierarchisches Gefüge stand, heute als „einheitliches System der exekutiven Gewalt“ in Art. 77 II Verf RF und als „Einheit des Systems der staatlichen Macht“ (Art. 5 III) in der Verfassung der Russischen Föderation von 1993 wieder auf. An anderer Stelle wird in der neuen Verfassung dagegen vom föderalen Staatsaufbau gesprochen, der gerade die Zweiteilung von staatlicher Macht in eine regionale und eine Bundesebene unmittelbarer Staatsgewalt beinhaltet. Die russische Staatstheorie bleibt in Bezug auf den möglichen Widerspruch dieser Formulierungen sehr vage. Grund für die aus der Sicht der deutschen Verfassungslehre unzulängliche Klärung dieser Widersprüche scheint zu sein, dass die Rechtswissenschaft in der RF methodisch noch immer bemüht ist, die verschiedenen (dem Wortlaut nach widersprüchlichen) verfassungsrechtlichen Prinzipien nicht in Konkurrenz zueinander zu untersuchen, sondern die verschiedenen Aspekte unter einem einheitlichen Verfassungsziel miteinander zu verbinden. Dies mag daher kommen, dass im Marxismus-Leninismus, aber auch in der vorrevolutionären Rechtslehre nicht anerkannt war, dass hinter den einzelnen Normen nicht eine Vielzahl von verschiedenen Interessen und Zweckrichtungen stehen, die sich im Rechtsstreit gegenseitig ausgleichen. Recht diente danach nie dazu, partikuläre Meinungen und Gegensätze durchzusetzen. Stattdessen wurde die gesamte Rechtsordnung bis zum Untergang der Sowjetunion monokausal aus dem einheitlichen, sittlich orientierten Zweck bestimmt. Dies ist z. B. bei Solovev die AllEinheit, bei Cˇicˇerin die ideell gedachte Freiheit und bei Novgorodcev das allgemeine Wohl. Ziel des Rechts im Marxismus-Leninismus ist die objektive Idee der klassenlosen Gesellschaft. Hier geht man davon aus, dass sich das Wesen des Einzelnen aus der Relation zum Ganzen ergibt und Widersprüche überbrückt werden müssen. Ziel ist danach nicht das Miteinander, sondern die absolute Einheit der Gegensätze.379 Dies 378 Vgl. Luchterhandt, Der Ausbau der föderalen Vertikale, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 275. 379 Stichwort: materielle Einheit der Welt, Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie, S. 83.
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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hat Folgen für die Rechts- und Staatsprinzipien. Der sozialistische Föderalismus wird in diesem Sinne nicht vom Prinzip der Einheit der staatlichen Macht abgegrenzt, sondern mit diesem zur notwendigen Errichtung der klassenlosen Gesellschaft in Einklang gebracht. Da sich der Zweck dieser Prinzipien immer aus dem Gesamtziel ergibt, haben die einzelnen Normen nach dieser Wissenschaftsmethode keinen eigenen Kerngedanken, der auch nicht herausgearbeitet werden muss. Vielmehr können sich die einzelnen Normen als Mittel zum monistischen Ziel beliebig gegeneinander aufheben. Dies macht es gleichzeitig auch möglich, nicht vom dem jeweiligen Grundgedanken der Norm, sondern vom Ergebnis aus zu argumentieren. Dieser Ansatz ist bis heute nicht überwunden. 1. Präambel: Die Wahrung der staatlichen Einheit Ausdrücklich findet sich der Begriff „staatliche Einheit“ (gosudarstvennoe edinstvo) in der Verfassung der Russländischen Föderation allein in der Präambel. Dort heißt es „Wir, das aus vielen Nationen bestehende Volk der Russländischen Föderation, vereint durch das gemeinsame Schicksal auf unserem Boden, die Rechte und Freiheiten des Menschen, den inneren Frieden und die Eintracht bekräftigend, die historisch herausgebildete staatliche Einheit wahrend (sochranjaja) … nehmen die Verfassung der Russischen Föderation an“. Danach geht die Präambel bereits von einer bestehenden, historisch gewachsenen staatlichen Einheit aus. Für den Staatsbegriff bedeutet dies, dass die Verfassung den Staat nicht als Ergebnis von den in der Verfassung begründeten Rechten und Pflichten ansieht, sondern dass der Staat bereits vorkonstitutionell besteht. Die Verfassung setzt den Staat bereits voraus und entzieht ihn somit der Disposition des Verfassungsgebers. Dabei besteht nicht allein schon der Staat, sondern auch bereits das Volk als geformte Willens- und Entscheidungsgemeinschaft. Die russländische Vielvölkernation spricht bereits im Moment der Verfassungsgebung von sich selbst als „wir“ und demnach als zum Subjekt geformter Einheit. Auch über die Entstehung der Einheit gibt sie Auskunft: Ursächlich für die Nationenbildung sind der gemeinsame Boden des Volkes sowie das gemeinsame Schicksal. Nach der Präambel ist der Begründungsakt der staatlichen Einheit nicht konstituierend für die Einheit, sondern nur Bestätigung einer bereits gewachsenen, homogenen Gemeinschaft. Hier existiert bereits ein vom „gemeinsamen Schicksal“ geschaffener Lebenszusammenhang, in den das Individuum eingebunden ist. Das „wir“ bezieht sich auf die Einheit aller Staatsbürger, aller Ethnien und aller Völker der Subjekte der Russländischen Föderation.380 Dies gibt der Text insofern her, als die staatliche Einheit als gemeinsame Idee der verschiedenen Völker beschrieben wird. Was Inhalt dieser Einheit ist, deutet die Präambel nur an, indem sie sich auf die Rechte und Pflichten der Menschen bezieht. Da sie das „wir“ aber dem Verfassungstext voranstellt, wird im Zusammenhang deutlich, dass es sich in380
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 69.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
haltlich auf den weiteren Text bezieht. Es wird deutlich, dass der eigentliche Verfassungstext die gemeinsamen Überzeugungen inhaltlich wiedergibt. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass die Präambel ganz ausdrücklich den inneren Frieden und die Eintracht des Volkes zum Ausdruck bringt, der so im Verfassungsgebungsprozess tatsächlich nicht vorhanden war. Vielmehr führten die extensiv ausgetragenen Machtkämpfe zwischen Präsident und Oberstem Sowjet im Herbst 1993 bis zur zwangsweisen Auflösung des Obersten Sowjets und seiner gewaltsamen Erstürmung.381 Wenn auch die Bevölkerung innerhalb dieser Auseinandersetzung eher passiv blieb, standen gerade die Bewohner der Republiken der neuen Verfassung sehr ablehnend gegenüber. In den Republiken votierten im landesweiten Plebiszit zur Annahme der Verfassung am 12. 12. 1993 im Durchschnitt nur 47,9 % der Bevölkerung für die Verfassung. Acht der 21 Republiken und zehn der übrigen 68 Regionen votierten gegen die Verfassung, in Tatarstan nahmen nach einem Wahlboykott nur 13,9 % der Wahlberechtigen an der Abstimmung teil und in Tschetschenien wurde sie ganz boykottiert.382 So suggeriert der Präambeltext bereits bestehende, sich in der Verfassung äußernde Interessenhomogenität, die angesichts der krisenreichen Entstehungszeit der Verfassung vor allem als politischer Wunsch zu lesen ist. Aus dem Präambeltext wird nicht ersichtlich, welchen Einfluss die Verfassung auf den nach der Präambel schon vorkonstitutionell bestehenden Staat hat. Deutlich wird allein, dass die Verfassung den Staat nicht als freie Willensübereinkunft konstituiert. Der Staat besteht bereits als Ergebnis der Geschichte unabhängig von der Verfassung. Insofern muss angenommen werden, dass die Verfassung allein die Aufgabe hat, den Staat juristisch auszugestalten. Ob der vorkonstitutionelle Staat aber für die Verfassung anschließend unabhängig von den Regelungen der Verfassung weiter besteht, bleibt unklar. Jedenfalls bleibt dafür kaum Raum. So dürfen die Organe staatlicher Macht nicht gegen die Verfassung (Art. 15 II Verf RF) handeln. Insofern ist das Verhältnis von Verfassung und vorkonstitutionellem Staat wohl am Ehesten als Selbstverpflichtung des Staates im Sinne der Jellinekschen Lehre zu verstehen.383 Danach besteht der Staat zunächst in einer undefinierten faktischen Urform, um anschließend durch die Verfassung zuzusichern, sich als bereits bestehende Willenseinheit an die Verfassungsnormen zu binden. Problematisch ist, wieweit die Präambel beinhaltet, dass die Einheit des Staates dauerhaft zu gewährleistendes Schutzgut ist. Insbesondere lässt der Wortlaut offen, ob der Fakt, dass die Verfassung „zur Wahrung der Einheit“ angenommen wird, beinhaltet, dass durch die Verfassungsgebung die Einheit bereits gewahrt wird und mit der Verfassung zum Ausdruck kommt oder ob es oberstes Ziel der Verfassung ist, die Einheit anzustreben. Letzteres würde bedeuten, dass der gesamte Inhalt der Verfassung keinen eigenständigen Wert bildet, sondern nur dem Ziel der Einheitsbildung 381
Vgl. dazu ausführlich Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 158 ff. Zitiert nach Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 175. 383 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 367 ff., Die Lehre von den Staatenverbindungen, S. 43 ff. 382
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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dienen würde. Diese Auslegung findet sich in der russischen Verfassungslehre. Der Terminus „Wahrung der historisch herausgebildeten staatlichen Einheit“ unterstreicht nach Topornin nicht nur den „Fakt der Einheit Russlands als Staat“ sondern zusätzlich das Ziel, jede Schwächung dieser Einheit zu verhindern. Eine Schwächung ist für ihn insbesondere die Zerstörung oder der Auseinanderfall des Staates.384 Für Ebzeev steht die staatliche Einheit als politische Absage an den Separatismus und darüber hinaus auch an eine Politik, die regionale Interessen vor die Interessen des Gesamtstaates stellt.385 Nach dieser Auslegung der staatlichen Einheit spricht sich die Präambel gar dauerhaft gegen das Auseinandergehen der einzelnen Teile aus. Wie dies gemeint ist, insbesondere ob dies auch bedeuten soll, dass einzelne Subjekte sich nicht abspalten dürfen, wird nicht deutlich. Insgesamt bleibt fraglich, ob die Wendung „die Einheit wahrend“ ein Imperativ für die zukünftige Sicherung der Einheit gegen kommende Bedrohungen ist oder ob nicht vielmehr gemeint ist, dass die Völker im Moment des Begründungsakts staatlicher Einheit durch die Verfassungsgebung ihre Einheit wahren, was einem späteren Auseinandergehen nicht widersprechen würde. Grammatikalisch steht das Verb (die Einheit) „wahren“ als Adverbialpartizip zum Verb (die Verfassung) „annehmen“. Insofern bezeichnet es zwar eine Zeitgleichheit von „wahren“ und „annehmen“, es ist sprachlich jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Handlung „wahren“ über die Handlung „annehmen“ zeitlich hinausgeht und die Wahrung der Einheit insofern nach der Annahme der Verfassung andauert. Indem der Präambeltext davon spricht, dass die historisch gewachsene staatliche Einheit zu schützen sei, geht Baglaj davon aus, hier sei die Unteilbarkeit des Territoriums gemeint. In diesem Sinne gibt er der Verfassung eine Kontinuitätsfunktion.386 Insofern ist nicht nur davon auszugehen, dass der Schutz der territorialen Einheit andauern muss, sondern auch, dass die Verfassung dazu beitragen soll. Indem mit der Annahme der Verfassung die staatliche Einheit gewahrt werden soll, hat die Verfassung insgesamt das Ziel, den territorialen Auseinanderfall zu verhindern und die Einheit und Unteilbarkeit zu sichern. Insofern sei die Verfassung „Instrument“ zur Stärkung der Einheit der Völker, die historisch auf dem Territorium Russlands zusammengefasst sind.387 Entscheidend ist jedoch, welche Rolle die Präambel im Gesamtzusammenhang der Verfassung spielt. In der Frage, wieweit die Präambel Teil der Verfassung ist, gehen die Meinungen in der russischen Lehre auseinander.388 Baglaj vertritt die Ansicht, dass die Präambel zwar keine „normative“, jedoch moralisch-politische Bedeutung habe. Barchatova schreibt, die Präambel sei Teil der Verfassung, aber nicht eigene Rechtsnorm. Insofern kann sie nicht eigenständig Recht begründen, hat aber 384 Topornin (verantwrtl. Red.), Konstitucia Rossijskoj Federacii: naucˇno-prakticˇeskij kommentarij, S. 90. 385 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 70. 386 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 65. 387 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 67. 388 Kutafin, Konstitucija Rossijskoj Federacii, postatejnyj naucˇno-praktiecˇskij kommentarij konstitucii, S. 22.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
trotzdem große Bedeutung, indem sie als Einführungstext die Ziele, Prinzipien und den Geist der Verfassung ausdrückt. Diese Ziele seien die Hauptaufgaben des Staates. Dies sind die Achtung der Rechte und Freiheiten des Menschen, die Erhaltung des inneren Friedens, die Erhaltung der historisch gewachsenen staatlichen Einheit, die Wiederherstellung (vozrozˇdenije) der souveränen Staatlichkeit Russlands, die Demokratisierung und die Sicherung des Wohlstands.389 Stärker noch ordnet Ebzeev diese Werte als „führende Grundsätze und Ziele der Hierarchie der staatlichen Werte“ ein. Sie sind damit „allgemeine Prinzipien des Rechts“. Die Präambel gibt insofern die „Strategie“ für die Verfassung vor.390 Wäre die Präambel nach Barchatova tatsächlich Teil der Verfassung, so wäre problematisch, wieweit diesen „Prinzipien“ gar als „Verfassungsprinzipien“ neben den eigentlichen Normen Geltung einzuräumen wäre, da sie als Teil der Verfassung höchste Rechtskraft hätten (Art. 15 I Verf RF). Ausdrücklich ist die Präambel gerade nicht selbst Verfassungsnorm, sondern der Verfassung vorangestellt. Dies drückt neben dem Begriff Präambel (lateinisch, von praeambular – vorangehen) selbst insbesondere die Tatsache aus, dass erst Art. 1 Verf RF mit Teil 1, Kapitel 1 überschrieben ist. Diese Überschrift findet sich nach der Präambel und macht insofern deutlich, dass die Verfassung nicht mit der Präambel, sondern mit Art. 1 Verf RF beginnt. Die Präambel ist somit möglicherweise Teil des Textes „Verfassung“ oder des Buches „Verfassung“, nicht aber Teil der Verfassung im engeren Sinne. Wenn die Präambel nicht Teil der Verfassung ist, dann kann sie auch nicht, wie Kutafin meint, den „Geist der Verfassung“ zum Ausdruck bringen.391 Der Geist der Verfassung entspringt allein den in der Verfassung selbst niedergelegten Prinzipien. Die Präambel dagegen kann höchstens den „Geist der Verfassungsgebung“ beinhalten. Insofern kann die Präambel allein in Zweifelsfragen als Auslegungshilfe im Rahmen einer teleologischen Auslegung zur Analyse des eigentlichen Verfassungstexts herangezogen werden. Eine Auslegung unter Heranziehung der Prinzipien der Präambel kann indes nicht soweit gehen, dass die eigentlichen Verfassungsprinzipien wie z. B. das Föderalismusprinzip (Art 1 Verf RF) durch die Prinzipien der Präambel, wie die staatliche Einheit, inhaltlich aufgehoben werden. Ansonsten wäre nicht verständlich, warum die Verfassungsgeber das Föderalismusprinzip in der Verfassung normiert hätten und nicht die Erhaltung der staatlichen Einheit. Trotzdem geht man in der russischen Lehre davon aus, dass alle Regelungen der Verfassung mit den Zielen der Präambel übereinstimmen müssen (sootvetstvovat).392 Dies hat zur Folge, dass sämtliche Normen der Verfassung so ausgelegt werden sollen, dass sie mit der Wahrung der Einheit des Staates vereinbar sind. Wie sich 389
Barchatova, Kommentarij k Konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 6. Ebzeev, in: Lazarev (verantwrtl. Red.), Konstitucija Rossijskoj Federacii, kommentarij, S. 22 f. 391 Kutafin, Konstitucija Rossijskoj Federacii, postatejnyj naucˇno-prakticˇeskij kommentarij konstitucii, S. 22. 392 Barchatova, Kommentarij k Konstitucii Rossijskoj Ferderacii, S. 6. 390
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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zeigen wird, führt dies dazu, dass auch das Föderalismusprinzip durch die russische Verfassungslehre vom Ziel „staatliche Einheit“ ausgelegt wird. 2. Der Schutz der staatlichen und territorialen Integrität (celostnost(Ganzheit)) Deutlich häufiger als von „staatlicher Einheit“ spricht die Verfassung von „territorialer“ (territorijalnaja) und „staatlicher Integrität (gosudarstvennaja celostnost) bzw. vom Schutz des Territoriums der RF und der Ganzheit des Staates. Der Hinweis auf die staatliche Integrität findet sich in der russischen Verfassung in Art. 5 III als Aufbauprinzip für den Föderalismus; die Notwendigkeit ihres Schutzes bringen die Art. 4 III Verf RF, Art. 13 V Verf RF, Art. 80 II Verf RF und Art. 82 I Verf RF zum Ausdruck. Obwohl die Verfassung nur in der Präambel von „staatlicher Einheit“ und ansonsten von „territorialer“ oder „staatlicher Integrität“ spricht, werden die Begriffe in der Literatur häufig alternativ mit demselben Inhalt verwandt.393 Insgesamt wird aus diesen Vorschriften der Schutz des gesamten Territoriums vor Zerfall sowie gleichzeitig vor politischer und gesellschaftlicher Zersplitterung herausgelesen. Die Bedeutung der Integrität des Territoriums wird eng verwoben mit dem Prinzip der einheitlichen Souveränität, der „höchsten und unabhängigen“ Macht394 des russischen Volkes (Art. 3 I Verf RF), die sich über das ganze Territorium erstreckt (Art. 4 I Verf RF).395 So steht die Souveränität, wie der Verfassungsrechtler Marat Baglaj erläutert, gleichbedeutend mit der „Unversehrtheit des Territoriums“.396 Dies mag erstaunen, da Souveränität entsprechend des westlichen Verständnisses vor allem als unabhängige höchste Gewalt im Staat eingeordnet wird. Baglaj führt indes aus, dass ein Angriff auf ein bestimmtes Territorium ein Angriff auf die gesamte Unabhängigkeit der staatlichen Macht darstelle, da sich die staatliche Macht nach Art. 67 Verf RF über das gesamte Territorium erstreckt.397 Die Bedeutung, die der Verknüpfung von territorialer Integrität mit der Souveränitäts-Theorie zugemessen wird, verwundert. Tatsächlich ist das staatliche Territorium die räumliche Grenze von staatlicher Hoheitsmacht. Ein Angriff auf das Territorium ist insofern immer auch ein Angriff auf die Souveränität eines Staates.
393
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, passim, Rachmetov, Gosudarstvennaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 27, Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 5, Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecˇenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, passim. 394 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 28. 395 Kabysˇek, in: Lazarev (verantwrtl. Red.), Konstitucija Rossijskoj Federacii, kommentarij, S. 50. 396 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 135. 397 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 135.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Nach der russischen Verfassungslehre ist die einheitliche Souveränität des Volkes auf dem gesamten Territorium Argument für die einheitliche Beherrschung des gesamten Territoriums auf der politischen, der wirtschaftlichen, der rechtlichen und der gesellschaftlichen Ebene. Die einheitliche Souveränität des Volkes über das gesamte Territorium ist auch Grund dafür, dass die Staatsgewalt das gesamte Territorium zusammenhalten muss. Demgemäß sieht der Moskauer Verfassungsrechtler Avakjan im Prinzip der staatlichen Ganzheit ein Gebot zur Erhaltung des „einheitlichen und unteilbaren Territoriums“, die Erstreckung der staatlichen Macht über das ganze Territorium, die Nichtgewährung eigener Souveränität an die Subjekte sowie das Verbot eines Austritts der Subjekte aus der RF.398 Insofern beinhaltet das Prinzip der „staatlichen Integrität“ ein innerstaatliches Gebot an die Organe der Staatsgewalt. So heißt es bei Ebzeev, dass das Prinzip für die Exekutive399 das Verbot beinhalte, Teile des Territoriums anderen Staaten zu übereignen, bzw. zu überlassen, Vereinigungen und Handlungen zu verbieten, die auf die Zerstörung der staatlichen Einheit gerichtet sind, Maßnahmen zu ergreifen, um die territoriale Integrität, die Souveränität und die Unabhängigkeit des Staates zu schützen und im Zweifelsfall eine „föderale Intervention“ durchzuführen, um die Verletzung der territorialen Integrität durch den Austritt eines Subjekts aus der RF zu verhindern.400 Insofern unterstreicht der Souveränitätsbegriff nach der russischen Verfassungslehre die Bedeutung der staatlichen Ganzheit.401 Das Erklärungsmuster vom Schutz des einheitlich beherrschten Territoriums aufgrund der einheitlichen Volkssouveränität ist aus der marxistisch-leninistischen Literatur bekannt. Die Herrschaft des ganzen Volkes stand hier gleichbedeutend mit dem Sieg der klassenlosen Gesellschaft über den Ausbeuterstaat und hatte absoluten Charakter. Je größer das Territorium war, über das das Volk einheitlich herrschte, umso deutlicher brachte dies den Sieg der Idee zum Ausdruck. Der Zerfall des Territoriums oder eine Abspaltung hätte das Scheitern der Idee zum Ausdruck gebracht. Teilweise bleibt die moderne russische Lehre ganz ausdrücklich bei den sowjetischen Erklärungen von einheitlicher Souveränität. So wird nach Amirov mit der einheitlichen Souveränität der ursprünglich antiabsolutistische Grundgedanke der Entstehung der Volkssouveränität besonders betont.402 Auch Kocˇkarov zitiert diesbezüglich die sowjetische Literatur, die 398
Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 2, S. 94. Obwohl der Text ausdrücklich von der Exekutive spricht, kann das Verfassungsprinzip nur alle drei Gewalten staatlicher Macht gleichermaßen binden. Der Begriff Exekutive scheint hier nur insofern gewählt, als dass er in Russland häufig als Umschreibung staatlicher Macht insgesamt dient. 400 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 148 f., Lazarev, Naucˇno-prakticˇeskij kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 40. 401 Kutafin, Konstitucija Rossijskoj Federacii, postatejnyj naucˇno-prakticˇeskij kommentarij konstitucii, S. 28. 402 Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 25 f. 399
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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übereinstimmend der Ansicht war, dass Souveränität nur einheitlich bestehen kann und nicht geteilt werden darf.403 Auch er führt dies auf den Ausgangsgedanken der Volkssouveränität zurück, wonach das Volk gemeinsam unmittelbar und nicht durch Stände die Macht einheitlich innehat. Dies untermauert er mit einem Hinweis auf Art. 3 der französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, wo es heißt: Der Ursprung der Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volk. Keine Körperschaft und keine andere Macht kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht.404 Dieses Prinzip verbindet die marxistisch-leninistische Lehre in Russland mit dem russischen Bodenprinzip. Art. 1 der Verfassung von 1905, mit dem Auftrag an die Staatsgewalt, Russlands „Einheitlichkeit und Unteilbarkeit“ zu sichern, wird hier mit dem Prinzip der Volkssouveränität in Einklang gebracht. Aus dem Blickwinkel der russischen Verfassungslehre erhält das Schutzprinzip des Territoriums damit ein demokratisches Gesicht. Insofern wird der Schutz der Ganzheit des Territoriums nunmehr auf die einheitliche unmittelbare Macht des Volkes zurückgeführt. Vor diesem Hintergrund schließt der gegenwärtig geltende russische Verfassungsauftrag zum Schutz der territorialen Ganzheit die Zersplitterung in ganz unterschiedlicher Hinsicht aus. Es geht um einheitliche Beherrschbarkeit in ganz verschiedenen Bereichen. Für die neue russische Verfassungslehre hat der einheitliche Raum z. B. auch einen wirtschaftlichen Aspekt. So sieht Kutafin in Art. 4 I Verf RF die Grundlage für die Sicherung eines gemeinsamen Marktes ohne Handelsbeschränkungen wie Zollgrenzen auf dem Gebiet der RF.405 Entscheidend ist, dass er sich hier ausdrücklich nicht auf Art. 8 I Verf RF (Einheitliche Wirtschaftszone innerhalb der RF) beruft, sondern direkt auf die allgemeinere Norm, den Schutz der staatlichen Ganzheit. Daran wird deutlich, dass celostnost nicht allein als einheitliches Territorium verstanden wird, sondern allgemeiner als gemeinsamer Raum, in dem sich eine einheitliche Politik, getragen von gemeinsamen Zielen entfaltet. Hinsichtlich einer eventuellen verfassungsrechtlichen Problematik wird allein auf Art. 8 Verf RF und auf Art. 71 lit. g Verf RF verwiesen, in denen die Einheit des wirtschaftlichen Raumes und die Zuständigkeit der föderalen Ebene für den einheitlichen Markt niedergelegt sind.406 Das Prinzip der Ganzheit des Territoriums beinhaltet auch den Schutz des einheitlichen Rechtsraums. So wird die notwendige Einheitlichkeit der Rechtsordnung aus dem Schutz der Ganzheit des Territoriums hergeleitet.407 Die Höherrangigkeit der 403
Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 31, er zitiert dort Ebzeev, Konstitucionnoe osnovy svobody licˇnosti SSSR, S. 115. 404 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 32. 405 Kutafin, Konstitucija Rossijskoj Federacii, postatejnyj naucˇno-prakticˇeskij kommentarij konstitucii, S. 30. 406 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 77. 407 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 224.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Verfassung und der föderalen Gesetze auf dem gesamten Gebiet der RF wird von Ebzeev dem Begriff des Rechtsstaats zugeordnet. Aspekte des Rechtsstaats sind insofern die einheitliche Durchsetzung der Rechte und Freiheiten auf dem gesamten Gebiet der RF, die Höherrangigkeit der Verfassung und der föderalen Gesetze auf dem gesamten Gebiet der RF und die Einheit der drei Teile staatlicher Gewalt (Legislative, Exekutive und Judikative).408 In deutlicher Kontinuität mit der sowjetischen Verfassungslehre kommt die Literatur insgesamt zu dem Ergebnis, dass aus dem Schutz des Territoriums in Verbindung mit dem Prinzip der Volkssouveränität das Prinzip eines einheitlichen politischen Raumes herausgelesen wird, der einheitlich vom Volk zu beherrschen ist und der nicht geteilt werden darf. 3. Exkurs: Das Völkerrecht als Grundlage für den Schutz staatlicher Ganzheit Methodisch erstaunt in diesem Zusammenhang, dass sich die russische Verfassungslehre für das Verständnis des Verfassungsbegriffs „gosudarstvennaja celostnost“ ganz ausdrücklich auf das Völkerrecht beruft. Es wird Art. 2 Nr. 4 Charta der Vereinten Nationen (UNC) zitiert, wonach alle Mitglieder in ihren internationalen Beziehungen jede, gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen haben. Genauso herangezogen409 wird die Resolution vom 24. Oktober 1970 (sog. Friendly Relations Declaration [FRD]).410 Danach dürfen die Bestimmungen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker „nicht als Ermächtigung zu Maßnahmen“ aufgefasst werden, „welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten teilweise oder vollständig auflösen oder beeinträchtigen würden, die sich von dem oben erwähnten Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker leiten lassen“. Es folgt der Hinweis auf die Helsinki-Schlussakte vom 1. 8. 1975 mit der Bestätigung der bestehenden Grenzen sowie der Bestätigung des Schutzes der territorialen Integrität und der Souveränität in Art. 1, 2 UNC, durch die Satzung des Europarats und „anderer internationaler Verträge“.411 Dabei ist der Ansatz bemerkenswert, das Völkerrecht als zwischenstaatliches Recht für die Auslegung des verfassungsmäßigen Schutzes der staatlichen Integrität von innerstaatlicher Seite heranzuziehen. So verpflichtet das Völkerrecht Staaten nur, 408
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 224 f. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 134. 410 Anhang der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 2625 (XXV) vom 24. 10. 1970, Dt. Übersetzung in: Vereinte Nationen, Heft 4/1978, S. 138. 411 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 147 f., ebenso Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 70. 409
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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die territoriale Integrität anderer souveräner Staaten nicht zu verletzen, und konstituiert andersherum ein subjektives Recht für den verletzten Staat gegenüber dem Verletzenden bzw. für den Sicherheitsrat, gegenüber dem Verletzenden einzugreifen. Es heißt in Art. 2 Nr. 4 UNC ganz ausdrücklich, dass die „Mitglieder“ in ihren „internationalen Beziehungen“ gegen die territoriale Unversehrtheit gerichtete Maßnahmen unterlassen. Keinesfalls aber bereitet das Völkerrecht eine Staatenpflicht, in den bestehenden Grenzen fortzuexistieren und den Schutz der staatlichen Integrität auch nach innen gar militärisch zu schützen. Insgesamt scheint es methodisch wenig hilfreich, einzelne Rechtssätze des Völkerrechts eklektisch als Argumentation für die Richtigkeit von nationalem Recht heranzuziehen.412 Das Völkerrecht kann für das innerstaatliche Verständnis von territorialer Integrität nicht einmal als Auslegungshilfe herangezogen werden, da die zwischenstaatliche Sicherung der Souveränität der Staaten mit dem innerstaatlichen Ziel, Separatismus zu verhindern, eindeutig nichts gemeinsam hat. Wenn sich ein Staatsvolk aber unabhängig und selbständig zu einer Teilung des Territoriums oder zur Abtrennung eines Gebietsteils entscheidet, so ist völkerrechtlich weder die Souveränität dieses Staates noch die staatliche Integrität verletzt. Der Verweis auf das Völkerrecht beinhaltet auch hier den methodischen Ansatz, den Verfassungstext mit der politischen, philosophischen oder eben auch völkerrechtlichen „Wirklichkeit“ in einen konsistenten Gesamtzusammenhang zu bringen. Davon unberührt bleibt die an anderer Stelle diskutierte Frage, wie umfangreich das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht der Völker als subjektives Recht der Völker der RF eine Grenze für den verfassungsmäßigen Schutz der territorialen Integrität zieht.413 4. Staatliche Einheit und celostnost als Wesen des russischen Föderalismus Entscheidend für das verfassungsmäßige Verständnis des Prinzips der staatlichen Einheit und der territorialen Integrität ist deren Verhältnis zu dem in der russischen Verfassung niedergelegten Grundsatz der vertikalen Gewaltenteilung. In Art. 1 Verf RF heißt es, dass Russland ein föderaler Staat ist. Bevor die Gewaltenteilungsidee dem Konzept der einheitlichen Macht gegenübergestellt werden soll, muss zunächst untersucht werden, wie das Föderalismusprinzip mit dem Schutz der staatlichen Ganzheit, als dem oben charakterisierten einheitlich beherrschten Raum im Einklang steht. Da es einerseits Ziel ist, das gesamtstaatliche Territorium durch eine der Volkssouveränität entsprechende einheitliche Politik zu sichern, das Föderalismusprinzip aber gleichzeitig die Vielheit von politischen Entscheidungsräumen im Staat schützen will, ist unklar, wie diese ganz unterschiedlichen Ansätze zusammengebracht werden. 412
Vgl. dazu Nußberger, Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge, Band 54, 2006, S. 45. 413 Vgl. dazu Kap. C.V.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
a) Universalismus des westlichen Föderalismusbegriffes? Die schlichte Feststellung in Art. 1 Verf RF, dass die RF ein föderaler Staat ist, scheint wenig konkret und bedarf der Auslegung. Gleichwohl gibt es in der russischen Lehre oder Rechtsprechung keine einheitliche Definition für den Föderalismusbegriff. Wenn der Föderalismusbegriff in Russland auch aus der westlichen Staatslehre importiert wurde, so ist der Rückgriff auf das ursprüngliche westliche Verständnis des Begriffes nicht unproblematisch. Die westliche Föderalismusdefinition versteht das Föderalismusprinzip als Hinweis auf eine machtbegrenzende Verteilung von Staatlichkeit auf zwei Ebenen. Danach verfügen Bund und Länder jeweils über komplementäre Teile von Staatsmacht. Die Bundesverfassung sorgt dabei dafür, dass das kompetenzteilige Handeln des Bundes und der Länder sich ergänzt und die Wirkungseinheit und Rechtseinheit des Gesamtstaates hervorbringt.414 Im Föderalismus ist die Staatsgewalt verdoppelt, sie unterteilt sich in zwei selbständige Zweige unmittelbarer Staatsgewalt auf Bundes- und Regionalebene. Das jeweilige Wirkungsfeld der zwei Staatsebenen ist streng getrennt.415 Die Verfassungsräume von Bund und Ländern stehen selbständig nebeneinander.416 Aufgelöst wird diese Dualität durch die Staatstheorie Kelsens, nach der der Gesamtstaat über dem Zentralstaat und dem Gliedstaat steht und beide zu einer Einheit verschmelzen lässt. Er koordiniert die beiden Bereiche (Kompetenz-Kompetenz), subordiniert aber nicht.417 Trotzdem ist der Gesamtstaat neben Bund und Regionen nicht dritte Ebene. Nach der in Deutschland herrschenden Lehre vom zweigliedrigen Bundesstaat ist der Bund zugleich oberstaatliche Organisation, wie auch im Verhältnis zu den Gliedstaaten der Zentralstaat.418 Hintergrund der Machtverteilung ist die Pluralität der staatlichen Macht im weitesten Sinne. Die Einrichtung von doppelten Entscheidungszentren, bzw. „two centers of government“ nach der US-amerikanischen Lehre verfolgt neben dem staatsorganisatorischen einen freiheitsschützenden Grundgedanken. Formal sichert Bundesstaatlichkeit durch die in der Verfassung angelegte Dezentralisierung von Macht „überschaubare Lebens- und Funktionsbereiche“. Materiell dient sie der Sicherung der Freiheit und der Pluralität durch die doppelte Mitwirkung an der politischen Entscheidungsfindung der Demokratie, schafft eine größtmögliche Durchschaubarkeit von staatlichem Handeln und schützt als vertikale Variante der Gewaltenteilung vor Gewaltenmonismus. Durch die Verteilung von staatlicher Macht an verschiedene Organe, die in ein Miteinander treten, werden Wettbewerb, Kontrolle, 414
Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 1990, § 98, Rn. 14. 415 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 1990, § 98, Rn. 63. 416 BVerfGE 4, 178 (189); 6, 376 (382); 22, 267 (270); 41, 88 (118); 60, 175 ( 209); 64, 301 (317). 417 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 1990, § 98, Rn. 82. 418 BVerfGE 13, 54 (78) sowie m.w.N. Stern, Staatsrecht, Band I, § 19.I.3.
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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die Eindämmung von Machtmissbrauch sowie ein stärkerer Ausgleich von Minderheit und Mehrheit in der politischen Verantwortung gefördert. Negative Folgen, wie eine an Lähmung grenzende Verlangsamung des politischen Prozesses sowie zusätzliche Kosten werden durch das Ziel, der verstärkten Teilnahme an der politischen Gestaltung, überwogen. Gleichzeitig sichert der verlangsamte Entscheidungsfindungsprozess durch die verstärkte Teilhabe des Einzelnen eine höhere Übereinstimmung der getroffenen Entscheidung mit Mindermeinungen. Im funktionierenden Föderalismus wird insofern auch eine hohe Konfliktverarbeitungskapazität gesichert.419 Die einheitliche monopolistische öffentliche Gewalt wird deshalb um der individuellen und demokratischen Freiheit Willen gegliedert und verteilt.420 Ein entsprechend verstandenes Föderalismusprinzip fordert indes nicht allgemeine Geltung. Grundsätzlich gibt es keine universelle Definition von Föderalismus. Insofern kann auch bei der Auslegung der russischen Verfassung nicht auf die deutsche Föderalismus-Theorie zurückgegriffen werden. Vielmehr wurzelt das Prinzip der Bundesstaatlichkeit stets auf den besonderen historischen Gegebenheiten, wie der territorialen Gliederung und der Bevölkerungsstruktur des jeweiligen Landes. So haben verschiedenste politische Traditionen weltweit ganz unterschiedliche Formen von Föderalismus herausgebildet. Indem der Bundesstaat von räumlichen, politischen, historischen und kulturellen Voraussetzungen determiniert wird, unterscheidet er sich von anderen universal hinreichend bestimmbaren Prinzipien wie den Menschenrechten oder der Gewaltenteilung. Föderalismus hingegen bleibt immer „radizierte Staatsidee“.421 b) Föderalismus als doppelte unmittelbare Staatsgewalt Trotzdem geht man zumindest in Deutschland davon aus, dass der FöderalismusBegriff nicht völlig offen für eine nationalspezifische Interpretation ist. Als deskriptiver Idealtypus dient das Modell des Bundesstaates im internationalen Staatenvergleich heute vielmehr dazu, um vom Einheitsstaat auf der einen Seite und dem Staatenbund auf der anderen Seite abzugrenzen. So verfügt der Bundesstaat anders als der unitarische Staat nicht nur über zentral gebündelte Staatsgewalt, gleichzeitig findet sich Staatsqualität auch nicht nur auf der Ebene der Teilverbände. Die Besonderheit des föderalen Prinzips ist vielmehr die doppelte Staatlichkeit auf zwei Ebenen, der Bundesebene sowie der regionalen Ebene.422 Da sich der russische Staat als föderaler Staat bezeichnet, ist fraglich, wie die russische Staatslehre die Idee der Trennung von Staatsgewalt auf die Bereiche Subjekt und Föderation mit den dargestellten Vorstellungen von staatlicher Einheit als einheitlich beherrschtem Raum verbindet. 419 420 421
Stern, Staatsrecht, Band I, § 19.I.5 ff., 8. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: HStR II, § 27, Rn. 3. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 1990, § 98,
Rn. 2. 422
Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 14.I.1.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Vor dem Hintergrund eines entsprechenden Föderalismusbegriffes sind die weiteren Bestimmungen über den föderalen Aufbau eine Konkretisierung der Idee der doppelten Staatsgewalt. Als Hinweis auf zwei Ebenen von unmittelbarer, gleichberechtigter Staatsgewalt sind neben Art. 1 Verf RF u. a. Art. 11 I Verf RF, der ausdrücklich von Organen staatlicher Macht der Subjekte spricht, die Bestimmungen über den föderalen Aufbau in Art. 65 Verf RF mit der Aufzählung der Subjekte in Art. 65 Verf RF, Art. 6 II Verf RF, der die formelle Verfassungsautonomie der Subjekte festlegt, sowie Art. 77 I Verf RF mit der materiellen Verfassungsautonomie für die Republiken zu beachten. Maßgeblich sind weiter die Regelungen über die Kompetenzverteilung zwischen Subjekten und Föderation in Art. 71 ff. Verf RF mit 11 III Verf RF, der zusätzlich die Möglichkeit einer vertraglichen Kompetenzabgrenzung aufweist. c) Die Ganzheit als Wesen des russischen Föderalismus Entscheidend für das Föderalismusverständnis weiter Teile der russischen Literatur ist indes Art. 5 III Verf RF. Nach Art. 5 III Verf RF ruht der föderative Aufbau der RF auf der staatlichen Ganzheit (celostnost), der Einheit des Systems der staatlichen Macht, der Kompetenzverteilung zwischen der RF und ihren Subjekten sowie auf der Gleichheit und Selbstbestimmung der Subjekte. Dies führt verschiedene russische Verfassungsrechtler dazu, die Qualität des russischen Föderalismusprinzips in der Einheit und Ganzheit des Staates auszumachen: Nach Babaev ist das Wesen bzw. der Kern (sucˇsˇnost) des russischen Föderalismus die staatliche Integrität und das einheitliche System der staatlichen Macht.423 Indem die staatliche Ganzheit als „Prinzip des Föderalismus“424 aufgefasst wird, folgt daraus entsprechend der Auslegung des Prinzips der staatlichen Ganzheit die Priorität der Werte „Einheit des Territoriums, einheitliche staatliche Souveränität, Einheit des wirtschaftlichen Raums und Einheit des Rechtsraums“. Für Suren Avakjan bedeutet „staatliche Ganzheit“, dass die RF mehr sei als die Summe ihrer Subjekte und zwar ein einheitlicher Staat mit einem Territorium und einer Souveränität.425 Annenkova nennt die Ganzheit des Staates über den Wortlaut von Art. 5 III Verf RF hinausgehend sogar das „führende Prinzip des Föderalismus“, wobei sie nicht zwischen staatlicher und territorialer Ganzheit differenziert, sondern die Begriffe „territoriale“ und „staatliche Ganzheit“ alternativ gebraucht.426 Indem er den Freiheits- und Demokratiegedanken von Föderalismus ausblendet schreibt Ebzeev, der föderative Aufbau sei mehr als nur das Problem der Kompetenzverteilung, er sei wichtigstes Mittel zur Sicherung der politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und territorialen Einheit des Staates.427
423
Babaev, in: Lazarev (verantwrtl. Red.), Konstitucija Rossijskoj Federacii, Kommentarij,
S. 26. 424 425 426 427
Cˇirkin, Konstitucionnoe pravo, S. 199 f. Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 2, S. 94. Annenkova, Federalizm RF, S. 13. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 324.
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In diesem Zusammenhang ist für den Föderalismus nach Teilen der russischen Verfassungslehre erstaunlicherweise die Einheitlichkeit der Subjekte nach Art. 5 IV Verf RF charakteristisch. Der Moskauer Verfassungsrechtler Avakjan sieht im Föderalismusprinzip zuallererst den Grundsatz der Gleichberechtigung der verschiedenen Republiken, Kreise und Bezirke und Gebiete verankert.428 Die Gleichberechtigung der Völker bezieht sich auf die von der Verfassung zugesicherten Kompetenzen. Dabei geht es jedoch um das Verhältnis der Subjekte zueinander. Der Gleichberechtigungsgrundsatz regelt nicht, was tatsächlich die eigene Staatsgewalt des Subjektes ausmacht. Auch bei Cˇirkin liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der Gleichberechtigung der Subjekte. Ausführlich beschreibt er die Gleichberechtigung der Völker und Subjekte der RF, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Verteilung der Kompetenzen sowie die gleichmäßige Anerkennung der Grundrechte auf dem ganzen Territorium als die grundlegenden Prinzipien des russischen Föderalismus.429 Allerdings sind diese nicht in jeder Hinsicht eindeutig. Obwohl die Verfassung z. B. die Gleichberechtigung aller 83 Republiken, Regionen, Gebiete, föderaler Städte, autonomer Gebiete und autonomer Bezirke (Subjekte) festschreibt (Art. 5 I Verf RF), nennt sie die Republiken unter den Subjekten Staaten (gosudarstvo) und gewährt ihnen eine eigene Verfassung, anderen Subjekten aber nur ein Statut (Art. 5 II Verf RF).430 Letztlich wird im Rahmen des Föderalismusprinzips regelmäßig auf die gleiche Durchsetzung der Bürgerrechte auf dem Gebiet der RF hingewiesen. Danach dürfe der Grundrechtsschutz in einer Region nicht besser sein als in einer anderen. In diesem Zusammenhang wird auf die Verfassungswidrigkeit einer regionalen Vorschrift verwiesen, nach der für die Kandidaten bei örtlichen Wahlen die Kenntnis der örtlichen Sprache vorausgesetzt wurde.431 Die Voraussetzung der Beherrschung der Sprache einer Minderheit in der RF würde ganz eindeutig Gleichheitsrechte verletzen. Amirov unterstreicht, dass die russische Sprache nicht allein Sprache des russischen Volkes sei, sondern Sprache der gesamten russländischen Nation (Art. 68 I Verf RF).432 . d) Föderalismus und einheitliche Souveränität Charakteristisch ist für das Föderalismusprinzip nach Stimmen in der russischen Lehre neben dem Verweis auf die Prinzipien in Art. 5 III Verf RF die einheitliche 428
Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 345. Cˇirkin, Konstitucionnoe pravo, S. 199 f. 430 Dazu ausführlich Dost, Die russische Verfassung auf dem Weg zum Föderalismus – und zurück (unveröffentlicht), Kap.4.2.3.1. 431 ˇ irkin, KonstitucVgl. das Kapitel „die Prinzipien des russischen Föderalismus“ bei C ionnoe pravo, S. 199 ff. 432 Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 57. 429
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Souveränität.433 Bei Baglaj ist die Idee des Föderalismus ganz im Lichte der einheitlichen Souveränität auszulegen. So seien die Grundlagen der Souveränitätstheorie434 besonders wichtig zum Verständnis des „neuen russländischen Föderalismus“.435 In Avakjans Verfassungsrechtslehrbuch erscheint das Föderalismusprinzip als grundlegendes Staatsorganisationsprinzip aus Art. 1 Verf RF gar unter der Überschrift „der föderale und souveräne Staat“,436 wenngleich Art. 1 Verf RF Russland einen „demokratischen föderalen Rechtsstaat“ nennt und die Souveränität an dieser Stelle nicht ausdrücklich erwähnt. Auch Avakjan setzt das Föderalismusprinzip in enge Verbindung mit der Souveränitätsfrage und beginnt seine Ausführungen damit, dass nur die RF als Ganzes staatliche Souveränität besitze und sich die staatliche Gewalt über das ganze Territorium erstrecke. Mit Verweis auf die verschiedenen (deutschen) theoretischen Ansätze, die Souveränitätsfrage im föderalen Staat zu lösen, argumentiert Ebzeev, die Souveränität könne weder geteilt werden, noch den Subjekten gehören, weil dies die Separatismusgefahr erhöhen und die staatliche Einheit schwächen würde.437 Aus der einheitlichen Souveränität des Volkes über das gesamte Territorium wird auch die Vorrangigkeit der staatlichen Macht der Bundesebene vor der Staatsgewalt der Regionen abgeleitet (territorialnoe verchovenstvo). Eigene Souveränität der Subjekte lehnt die russische Staatsrechtslehre in diesem Zusammenhang in Übereinstimmung mit dem Verfassungsgericht438 strikt ab. Wenn Art. 4 I Verf RF ausdrücklich festhält, dass sich die Souveränität auf das ganze Territorium erstreckt und das ganze Territorium die einzelnen Territorien der Subjekte miteinschließt (Art. 67 I Verf RF), dann bedeutet dies für die russische Literatur, dass nur die RF souverän sein kann, nicht aber ihre Regionen. Entscheidend ist jedoch, dass die russische Lehre aus der fehlenden Souveränität der Subjekte eine nachrangige Stellung der Subjekte gegenüber der Russischen Föderation als Ganzem ableitet. Rechtlicher Status der Subjekte sei es allein, Teil der RF zu sein. Da sie über keine eigene Souveränität verfügten, wird gefolgert, dass es keine zwei Ebenen unabhängiger Staatsgewalt geben kann.439 Die Souveränität realisiert sich durch die höchste und unabhängige
433
Vgl. z. B. Gligicˇ-Solotareva, Pravovoje osnovy federalizma, S. 216, hier wird die Darstellung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des russischen Föderalismus mit einer Darlegung des Souveränitätsbegriffs begonnen, Annenkova, Federalizm RF, S. 18. 434 Nach Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 132): 1. Die Souveränität der RF erstreckt sich auf das gesamte Territorium Russlands; 2. die Verfassung der RF und die föderalen Gesetz besitzen Höherrangigkeit auf dem Gebiet der RF; 3. die RF sichert die Ganzheit und die Unversehrtheit des ganzen Territoriums. 435 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S 132 f. 436 Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 311. 437 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 150 f. 438 SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728. 439 Kutafin, Konstitucija Rossijskoj Federacii, postatejnyj naucˇno-prakticˇeskij Kommentarij konstitucii, S. 28.
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Macht des Staates in den Grenzen des staatlichen Territoriums.440 Dabei beruft man sich auf Art. 73 Verf RF, wonach den Subjekten die ganze Fülle der staatlichen Macht nur in den Bereichen der eigenen und der gemeinsamen Zuständigkeiten zugesprochen ist.441 Gerade aufgrund der großen Bedeutung, die die Literatur dem Prinzip der Volkssouveränität und der Unabhängigkeit der daraus resultierenden einheitlichen höchsten Macht des Staates beimisst, ist für sie die Souveränität in der Souveränität undenkbar. Jede Teilung der auf dem Demokratieprinzip beruhenden einheitlichen Macht des Volkes ist wie in der sowjetischen Literatur eine Schwächung der Demokratie.442 Als Ausdruck dieser gemeinsamen Souveränität wird die verfassungsmäßige Festlegung der Höherrangigkeit der einheitlichen Verfassung gegenüber der restlichen Gesetzgebung des Landes begriffen (Art. 2 IV Verf RF). Sie wird als Ausdruck des Prinzips der Priorität des Ganzen über das Partikuläre als Konsequenz der Herrschaft des ganzen Volkes über das gesamte Territorium begriffen und gilt im Ergebnis als Argument, die Ganzheit auch territorial zu schützen.443 Dies führt in der Lehre zu dem Ergebnis, dass es somit überhaupt keine eigene unmittelbare Staatsgewalt der Subjekte geben könne. Vielmehr leitet das Subjekt eigene Macht allein aus der einheitlichen staatlichen Macht im Rahmen seiner ihm durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzen ab.444 Auch für das Verfassungsgericht der RF spielt der Souveränitätsbegriff eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Zentrum und Regionen.445 Die Souveränität ist danach unter Heranziehung der Verfassung „die Höherrangigkeit, die Unabhängigkeit, die Selbständigkeit und die Ganzheit der staatlichen Macht, bestehend aus Exekutive, Legislative und Judikative über das Territorium sowie die Unabhängigkeit in den internationalen Beziehungen und damit grundlegendes qualitatives Merkmal des Staates sowie Charakteristikum seines verfassungsrechtlichen Status.“446 Regelmäßig setzt das Verfassungsgericht bei den Artt. 3 I und 4 I Verf RF an, wonach der Träger der Souveränität das multinationale Volk ist und sich die Souveränität auf das gesamte Territorium erstreckt: „Die Verfassung der RF kennt keinen anderen Träger der Souveränität und keine andere Quelle der Macht als das multinationale Volk. Daraus folgt, dass es auch keine andere souveräne Macht im Land als die der RF geben kann. Die Souveränität der RF schließt 440 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 139. 441 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 133. 442 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarsvennosti, S. 39 f. 443 Safanov/Safanova, Rol sudov v mechanisme obespecˇenija celostnosti gosudarstva, in: Rossijskaja Justicija, 4/2005, S. 69, 72. 444 ˇ Cirkin, Konstitucionnoe pravo, S. 212 f. 445 Vgl. zur Frage der Souveränität in der russischen Verfassungsrechtssprechung: Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtssprechung des Verfassungsgerichts, S. 7 ff. 446 SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 2.1, SZ RF 2000, Nr. 29, Pos. 3117 Punkt 2.1.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
zwei Ebenen souveräner Macht im Staat innerhalb des einheitlichen Systems staatlicher Macht aus.“447 Die Verfassung trifft die Entscheidung, dass ursprünglich allein der RF die Souveränität zukommt und sich die Subjekte deshalb nicht souverän bezeichnen dürfen. Etwas anderes folge auch nicht aus der Tatsache, dass die Republiken nach Art. 5 II Verf RF als Staaten (gosudarstvo) bezeichnet werden. Es wird deutlich, dass dem Verfassungsgericht bei der Anerkennung verschiedener Träger staatlicher Macht der Souveränitätsbegriff im Wege steht. Dies entspricht dem Problem, das sich Rousseau als Folge der Idee des allgemeinen Willens stellte. Nach Rousseau zeigt sich die Souveränität allein in Ausübung des Allgemeinwillens des ganzen Volkes. Staatlicher Wille muss allgemein sein, um eine Existenzberechtigung zu erlangen. Wenn eine staatliche Entscheidung allein dem Interesse eines Teils des Volkes entspricht, widerspricht sie dem allgemeinen Willen und ist bloßes Sonderinteresse. Insofern ist auch hier Souveränität unteilbar.448 Indem auch das russische Verfassungsgericht beim Souveränitätsbegriff ansetzt, verharrt es in der Darstellung und Untermauerung der Bedeutung des Gesamtstaates als Willens- und Entscheidungseinheit, ohne dabei den damit verbundenen Problemen für Freiheit, Demokratie und Föderalismus ins Auge zu sehen. So begründet des Verfassungsgericht die einheitliche Souveränität mit den Prinzipen der staatlichen Ganzheit sowie der Einheit des Systems der staatlichen Macht, der Höherrangigkeit der Verfassung und der föderalen Gesetze auf dem ganzen Gebiete der RF, das die Territorien der Subjekte miteinschließt.449 Wie sich der Souveränitätsbegriff aber zur Staatsgewalt der Subjekte, zur territorialen Gliederung sowie zur Verfassungskompetenz der Republiken verhält, konkretisiert das Verfassungsgericht indes nicht direkt. Eine deutliche Sprache spricht das Gericht insbesondere, wenn es das Verhältnis von Zentrum und Regionen mit dem einheitlichen Willen darlegt. So ergebe sich auch aus der Verfassung, dass die Souveränität der RF und ihr verfassungsrechtlicher Status mit der Kompetenzverteilung zwischen Zentrum und Regionen nicht Ergebnis einer Willensbekundung in Form eines Vertrages sei, sondern „einer Willensbekundung des ganzen multinationalen russländischen Volkes als Träger und als einheitlicher Quelle der Macht in der RF“. In der Präambel sowie auch in Art. 3 III Verf RF wird unterstrichen, dass die Verfassung der RF durch die Stimmabgabe des ganzen Volkes (vsenarodnoe golosovanie) angenommen sei und sich die Souveränität auch deshalb allein in der höchsten Macht des multinationalen russländischen Volkes als Ganzes (v celom) zeigen könne.450 Dabei wird dem Verfassungsgericht selbst bewusst, dass insbesondere die Ganzheit der staatlichen Macht in der Souveränitätsdefinition eines föderalen Staates nicht 447
SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 2.1, Absatz 3. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II. Buch, 1./2. Kapitel. 449 SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 2.1, Absatz 8, SZ RF 2000, Nr. 29, Pos. 3117 Punkt 2.1, Absatz 10. 450 SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 2.1, Absatz 5, 1, SZ RF 2000, Nr. 29, Pos. 3117 Punkt 2.1, Absatz 6, 13. 448
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unproblematisch ist. So muss das Gericht der Verfassung entnehmen, dass auch die Subjekte staatliche Macht besitzen, nur die RF allerdings souverän ist. In einem Beschluss aus dem Jahr 2001 revidiert das Verfassungsgericht seine Auffassung dahingehend, dass es nunmehr nicht länger die Gesamtheit der staatlichen Gewalt als Voraussetzung für die Annahme von Souveränität verlangt. So kommt es in dem Beschluss über Baschkortostan zu dem Ergebnis, dass die einheitliche Organisation der Staatsgewalt nicht Voraussetzung für die Annahme von Souveränität sein könne, da die Staatsgewalt in der RF ja auf zwei Ebenen verteilt sei. Da die RF zwar souverän sei, aufgrund der Kompetenzverteilung aber nicht über die gesamte Gewalt verfüge, könne Letzteres nicht Voraussetzung sein. Gleichzeitig wird die Souveränität der Subjekte aber mit dem Hinweis abgelehnt, dass die Subjekte über kein eigenes Gerichtssystem verfügten und insofern nicht letztentscheidungsfähig wären.451 Diesen Widerspruch löst das Gericht mit der Annahme, dass die Föderation ursprünglicher Träger der Staatsgewalt war und diese erst an die Subjekte abgegeben hat.452 Im Zusammenhang mit der Souveränitätsfrage wird deutlich, dass auch das Verfassungsgericht die föderale Ebene und die staatliche Ebene der Subjekte nicht als gleichberechtigte Ebenen unmittelbarer Staatsgewalt betrachtet. Daran wird es durch die einheitliche Souveränitätskonzeption gehindert. Es wird deutlich, dass die föderale Ebene einerseits zwar nur parallel zum Gliedstaat föderale Aufgaben wahrnimmt, gleichzeitig aber aufgrund der Souveränität die Obergewalt hat.453 Indem die Souveränität des einheitlichen Volkes über das ganze Territorium als Argument gegen eine eigene unmittelbare Staatsgewalt der Subjekte herangezogen wird, übersieht die russische Lehre wie auch das Verfassungsgericht, dass der Souveränitätsbegriff insgesamt nicht in der Lage ist, die Staatsqualität der Regionen festzustellen oder abzulehnen, bzw. das Verhältnis zwischen Zentrum und Regionen inhaltlich auszugestalten.454 Die Frage, wie die vom Volk ausgehende souveräne Staatsgewalt auf Bund und Länder verteilt wird, ist keine Frage der Souveränität, sondern der Kompetenzverteilung durch die jeweilige Verfassung. Die deutsche Staatsrechtslehre stellt sich die Frage der möglichen Teilbarkeit von Souveränität nicht mehr, da sie Souveränität nur noch in Relativität zu außerstaatlicher sowie nichtstaatlicher Macht feststellt.455 So besitzt der Staat einerseits (äußere) Souveränität im Verhältnis zu anderen Staaten sowie andererseits innerstaatlich im Verhältnis zu Verbänden nichtstaatlicher Gewalt. Innerstaatlich kann sich Souveränität insofern nur einheitlich 451
SZ RF 2002, Nr. 4, Pos. 374, Punkt 3 ff. SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 2.1, SZ RF 2000, Nr. 29, Pos. 3117 Punkt 2.1. 453 SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 2.1 sowie in gleichem Wortlaut in SZ RF 2000, Nr. 29, Pos. 3117, Punkt 2.1. 454 Vgl. Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtssprechung des Verfassungsgerichts, S. 265. 455 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 1990, § 98, Rn. 65 – 68. 452
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
gleichermaßen über alle Teile unmittelbarer staatlicher Macht erstrecken. Davon unabhängig ist aber die Frage, ob die Macht dem Zentralorgan oder den Teilorganen zugeordnet wird. Schnittstelle ist hier die Verfassung. Sie verteilt die Macht des Volkes auf verschiedene Ebenen und Organe. Die Frage, wer Träger der staatlichen Macht ist, sagt nichts aus über die innere Verteilung der Macht und das Verhältnis seiner Träger zueinander. Während der Souveränitätsbegriff vor allem die pouvoir constituant beschreibt, ist das Verhältnis von Zentrum und Regionen eine Frage der pouvoir constitu, bzw. der pouvoirs constitus. Insofern darf der irreführende Begriff von der doppelten Staatlichkeit des Bundesstaates nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle Teile und Organe der Staatsgewalt auf die einheitliche Souveränität des Volkes zurückzuführen sind. Andersherum darf die Idee des einheitlichen Willens des ganzen Volkes als Grundlage der Verfassung nicht dazu führen, Kompetenzfragen einseitig zugunsten des Gesamtstaates zu entscheiden. Die Qualität der Teile ist allein aufgrund ihrer Eigenschaft, Teil eines ursprünglich Ganzen zu sein, kaum konkretisiert. Andersherum zeigt die Dominanz der einheitlichen Souveränitätskonzeption in der modernen russischen Föderalismusdiskussion, wie vorherrschend der Gedanke des einheitlichen Willens sowie der Gedanke des Staates als Gesamtheit seiner Teile bis heute ist. Es zeigt sich auch, wie problematisch es vor dem Hintergrund der dominanten Idee einheitlicher Volksherrschaft ist, den positiven Effekten der Gewaltenteilung bzw. der doppelten Staatlichkeit Rechnung zu tragen. Indem die Literatur von der höchsten Macht des Volkes als Ganzem ausgeht, kann sie nicht anders, als jede Form von Machtverteilung allein als Ergebnis der ursprünglichen Einheit zu begreifen. In die Idee der einheitlichen Beherrschbarkeit des Territoriums müssen sich andere Prinzipien heute vielmehr einfügen. e) Der russische Föderalismus als Subordinationssystem mit dem Ziel, die Einheit zu sichern Im Zusammenhang mit der Frage der Souveränität wird deutlich, dass es in der russischen Staatslehre eine auffällig starke Tendenz gibt, die staatliche Macht der Subjekte der staatlichen Macht des Bundes untergeordnet oder gar als Bestandteil der staatlichen Macht des Bundes zu begreifen. Während die vom einheitlichen Willen des Volkes getragene höchste Macht des Staates mit der föderalen Gewalt gleichgesetzt wird, ist die regionale Ebene staatlicher Macht dieser nachrangig. Aus dem Prinzip der Souveränität und der staatlichen Ganzheit folgt insofern, dass sich die Subjekte dem ganzen Staat unterordnen müssen. In diesem Sinne nennt auch Avakjan die Höherrangigkeit der russischen Verfassung über die regionalen Gesetze wesentliches Föderalismusprinzip.456 Nach Amirov beinhaltet das Föderalismusprinzip ganz ausdrücklich die Teilung der Macht in eine „höhere“ und eine „nie-
456
Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 2, S. 105.
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dere“ Ebene.457 Bei Safonov/Safonova wird, ohne dies zu erläutern, vom Prinzip der Priorität des Staates als einheitlichem System über seine Teile gesprochen.458 Soweit eigene Staatlichkeit der Subjekte bejaht wird, folgt in der russischen Lehre regelmäßig der Hinweis, die Subjekte würden ihre Macht dem Zentrum „verdanken“. Kocˇkarov schreibt, die Tatsache, dass das Territorium der RF nach der Verfassung die Territorien seiner Subjekte umfasse (Art. 67 I Verf RF), sei Argument dafür, dass die staatliche Macht des Zentrums gegenüber der der Subjekte höherrangig sei.459 Die ausdrückliche Unterordnung der Subjekte unter den Gesamtstaat bringt zum Ausdruck, dass föderale und regionale Ebene sich als Träger unmittelbarer Staatsgewalt nicht gleichberechtigt gegenüber stehen. Damit geht einher, dass das Föderalismusprinzip weniger als Rechtsprinzip der Subjekte, denn als reine Dezentralisierungsmaßnahme verstanden wird.460 Föderalismus ist Organisationsprinzip der höchsten Macht des einheitlichen Staates.461 Der Föderalismusbegriff beschreibt vor allem die Aufbauform des Staates.462 Der Begriff der Dezentralisierung impliziert, dass die Subjekte staatliche Macht nicht unmittelbar aus der Verfassung besitzen, sondern vom föderalen Zentrum ableiten. Dies setzt voraus, dass die staatliche Macht ursprünglich vollumfänglich beim Zentrum liegt. Dabei kommt insgesamt zum Ausdruck, dass das Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung in der russischen Verfassung inhaltlich vor allem Kompetenzregel ist. Der Föderalismus steht hier allein für eine Rationalisierung der staatlichen Macht durch eine partielle Dezentralisierung. Eigene Staatsgewalt der Subjekte wird dabei, wie noch darzustellen ist, vor
457 Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 65 f. 458 Safanov/Safanova, Rol sudov v mechanisme obespecˇenija celostnosti gosudarstva, in:Rossijskaja Justicija, 4/2005, S. 69. Wenn auch die Qualität einer im Verhältnis zu den Subjekten „höheren“, bzw. „prioritären“ Staatsgewalt nicht charakterisiert wird, so bleibt ganz allgemein festzuhalten, dass die russische Verfassung für ein grundsätzliches Über-/Unterordnungsverhältnis hier keinen Raum lässt: Bis auf den Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit werden die jeweiligen Wirkungskreise durch die Zuständigkeitsverteilung der Verfassung voneinander getrennt. Nicht einmal die auf Bundesebene angesiedelte KompetenzKompetenz kann eine Überordnung des Bundes in der normalen Verfassungslage, d. h. nach der Kompetenzverteilung durch die Verfassungsgebung etwas ändern (so Isensee als Kritik an der Über-Unterordnungstheorie Paul Labands in: Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, § 98, Rn. 87 ff. 459 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 61. 460 Kabysˇek, in: Lazarev (verantwrtl. Red.), Konstitucija Rossijskoj Federacii, kommentarij, S. 49. 461 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 52. 462 Kabysˇek, in: Lazarev (verantwrtl. Red.), Konstitucija Rossijskoj Federacii, kommentarij, S. 49.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
allem im Bereich der gesetzgebenden Gewalt bejaht, da Exekutive und Judikative sowieso in einem engeren Verhältnis zueinander stünden.463 Das Über-Unterordnungsverhältnis sowie die Reduktion des Föderalismusprinzips auf ein pures Organisationsprinzip zeigt, dass das Ziel des russischen Föderalismus nach Teilen der Literatur auch heute nicht primär die Sicherung von Freiheit und Demokratie ist, sondern dass der russische Föderalismus zum Ziel hat, das ursprünglich heterogene Volk im Staat zusammenzuhalten.464 Dies führt zu Äußerungen, wonach Russland seine staatliche Einheit in Form der Föderation realisiere.465 Dabei bleibt die staatliche Einheit Sinn und Zweck des Föderalismusgedankens.466 Föderalismus diene allein als Garant467 bzw. als Grundlage468 für staatliche Einheit und stünde ihr nicht entgegen. Es kann insofern festgehalten werden, dass das Wesen des russischen Föderalismus vor allem über die staatliche Einheit charakterisiert wird und der Sinn von vertikaler Machtverteilung dahinter zurückbleibt. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Föderalismus als bloße Zuständigkeitsregelung zur Verteilung staatlicher Macht beschrieben wird, die dazu dient, eine effektivere Politik zu sichern.469 Bezeichnend dafür sind auch die Anmerkungen Barchatovas, die den Föderalismus in Russland an den gemeinsamen Faktoren festmacht: Sie fasst neben den Prinzipien aus Art. 5 III Verf RF sog. äußere Anzeichen (priznaki) für den föderalen Aufbau zusammen. Diesen ist gemeinsam, dass sie die Einheit des Staates betonen und gerade nicht die eigentlich charakteristische Heterogenität der föderalistisch organisierten Staatsgewalt. „Anzeichen“ des Föderalismus sind danach die staatlichen Symbole und die Hauptstadt der RF, eine einheitliche Währungszone, einheitliche Militärstreitkräfte, die Staatssprache, die einheitliche Staatsangehörigkeit, das ganzheitliche und unverletzliche staatliche Territorium, föderale Organe staatlicher Macht mit Herrschaftsbefugnissen über das gesamte Territorium, die föderale Verfassung und föderale Gesetze sowie die Souveränität über das gesamte Territorium und die Höherrangigkeit der föderalen Verfassung und der föderalen Gesetze.470 Alle diese Anzeichen finden sich indessen auch in einem unitarischen Staat und sind nicht Charakteristikum einer Föderation. Nach dieser Einordnung bleibt die dem Föderalismusprinzip in seiner Ausgangsidee immanente Gleichrangigkeit von staatlicher Macht in Zentrum und Region deutlich unterbelichtet. Der Begriff der Dezen-
463 Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 65 f. 464 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 140. 465 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 70. 466 Annenkova, Federalizm RF, S. 18. 467 Kabysˇek, in: Lazarev (verantwrtl. Red.), Konstitucija Rossijskoj Federacii, kommentarij, S. 49. 468 Annenkova, Federaliszm RF, S. 144. 469 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 121. 470 Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 117.
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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tralisierung als Umschreibung von Föderalismus widerspricht der Vorstellung von ursprünglich eigener unmittelbarer Staatsgewalt der Subjekte. Während die dargestellte Lehre und das Verfassungsgericht bei der einheitlichen Souveränität des Gesamtstaates ansetzen und aus der Gleichstellung der höchsten Macht des ganzen Volkes mit der Staatsgewalt der föderalen Ebene eine allgemeine Unterordnung der Subjekte unter die Staatsgewalt der Föderation ableiten, bleibt die Rechtsstellung der Subjekte weitgehend undifferenziert. Die Ausführungen zum Föderalismusprinzip beschreiben in aller Regel den einheitlichen Grundgedanken der Staatsgewalt und das Ziel, den Staat zusammenzuhalten. Kompetenzfragen werden nicht aus der Gegenüberstellung der Rechtspositionen von Zentrum und Regionen beantwortet, sondern letztlich allein über das Subordinationsprinzip. So wird auch die einheitliche föderale Verfassung nicht in erster Linie als Grundlage für eine näher zu bestimmende Rechtsposition der Subjekte herangezogen, sondern als Grenze genannt, wenn es darum geht, die Höherrangigkeit der föderalen Verfassung über die Gesetze der Subjekte deutlich zu machen. f) Die Einheit des Staates als Schranke für den Föderalismus Dabei wird die Sprengwirkung des Föderalismusprinzips weiterhin gefürchtet. In diesem Sinne spricht man sich dafür aus, die föderalistische Struktur so abzusichern, dass das Föderalismusprinzip nicht zum Zwecke des Separatismus und der Gewinnung von Souveränität einzelner Subjekte missbraucht werden kann. So heißt es, der Föderalismus finde dort seine Grenze, wo versucht würde, die einheitliche souveräne Macht zu zerstückeln.471 Separatismusbestrebungen sind danach abzulehnen, weil sie nicht die Interessen des Gesamtstaates beachten.472 Vor dem Hintergrund des Konflikts in Tschetschenien wird Separatismus in einem Atemzug mit Terrorismus genannt. Unter Terrorismus wird u. a. eine Aktion definiert, die dazu diene, die Einheit des Staates zu zerstören.473 5. Ergebnis Die Verfassung spricht von staatlicher Einheit allein in der Präambel. Hier wird staatliche Einheit als schützenswerter historisch gewachsener Zusammenschluss des ganzen Volkes begriffen. Daneben gibt es im eigentlichen Verfassungstext keine ausdrückliche Erwähnung des Begriffs der „staatlichen Einheit“. Gleich an mehreren Stellen ist indes niedergelegt, dass die territoriale, bzw. staatliche Ganzheit (celostnost) zu schützen sei. Die häufige Nennung des Staatsziels, die Gesamtheit des staatlichen Territoriums zu garantieren, kann nur als Ausdruck der enormen Bedeutung dieser staatlichen Aufgabe gewertet werden. In diesem Zusammenhang ist 471
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 116. Avakjan, Konstitucionnoe pravo, Enciklopedicˇeskij slovar, S. 144. 473 Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 114 f. 472
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
auffällig, dass die Literatur die Begriffe „Einheit“ und „Ganzheit“ oft alternativ verwendet. Wenn die russische Literatur den Schutz der staatlichen Einheit fordert, ist dies also insofern verfassungskonform, als darunter der Schutz des gesamtstaatlichen Territoriums verstanden wird. Zu fragen war insofern, was das Schutzprinzip der staatlichen Ganzheit in Russland nach der russischen Verfassungsrechtsliteratur ausmacht. Während der Wortlaut der Vorschriften über den Schutz der staatlichen Ganzheit zunächst vor allem ein Gebot an die Träger staatlicher Macht assoziieren lässt, das staatliche Territorium zu schützen, entnimmt die russische Verfassungslehre wie auch das Verfassungsgericht diesen Vorschriften ein inhaltlich umfangreicheres Prinzip: Im Zusammenhang mit der Idee der Volkssouveränität geht man davon aus, dass das multinationale Volk seine höchste Macht über die Träger der föderalen Staatsgewalt einheitlich über das ganze Territorium wahrnimmt. Daraus folgt nicht nur der Schutz des ganzen Territoriums, sondern auch die Höherrangigkeit der föderalen Staatsgewalt über die Staatsgewalt der Subjekte. Eine solche Auslegung ist insofern verwunderlich, als die Verfassung bereits in Art. 1 bestimmt, dass Russland eine Föderation ist. Versteht man das Föderalismusprinzip aus seinem freiheitlichen Ursprungsgedanken heraus, wirkt es auf den ersten Blick erstaunlich, dass die hier dargestellte russische Lehre vor allem die einheitliche Beherrschbarkeit des gesamten Territoriums zu ihrem Thema macht, während die Verfassung vom Bundesstaatsprinzip spricht, das gerade von unterschiedlichen Trägern staatlicher Macht und unterschiedlichen territorialen Gliedern ausgeht und deren rechtlichen Schutz beinhaltet. Dessen ungeachtet steht das Föderalismusprinzip nach der herrschenden Meinung in der Verfassungslehre jedoch nicht im Widerspruch zum Prinzip der staatlichen Ganzheit. Tatsächlich wird der russische Föderalismusbegriff durch das Prinzip der staatlichen Einheit inhaltlich ausgestaltet. Zusammenfassend liegt dem russischen Föderalismusgedanken eine staatliche Gesamtstruktur zugrunde, die von einer einheitlich ausgeübten Volkssouveränität über das gesamte Territorium ausgeht und vor diesem Hintergrund etwas anderes als die Vorrangigkeit der Staatsgewalt des Gesamtstaates nicht zulässt. Nach den hier dargestellten Stimmen in der russischen Rechtslehre umschreibt das in der Verfassung niedergelegte Prinzip des „Föderalismus“ ein reines Aufbauprinzip staatlicher Macht mit dem Ziel, die staatliche Einheit zu erhalten. Grund dafür ist eine extrem teleologische Auslegung des Föderalismusprinzips, wobei der Zweck des Prinzips vom Schutz der staatlichen Einheit474 geleitet wird. Als moralisch-politische Forderung ist die Sicherung der staatlichen Einheit Verfassungsziel. So divergiert auch der Zweck des russischen Föderalismus von dem des westlich geprägten Föderalismus: Wesen des Föderalismus ist die staatliche Einheit: Der Föderalismus ist nach Ebzeev die Grundlage der staatlichen Einheit, weil er dafür sorgt, dass alles, was auf dem Territorium besteht, zu einer Einheit verschmilzt.475 Es 474 475
Vgl. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 11 f. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 70.
IV. Staatliche Einheit als Thema der Verfassung
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komme allein darauf an, dass staatliche Macht so verteilt ist, dass das Zusammenbleiben des Staates effektiv gesichert ist. Die Analyse der russischen Föderalismusliteratur zeigt insofern insgesamt, dass die Idee der Bundesstaatlichkeit mit der Idee der Ganzheit des Staates eng verwoben ist. Insofern bleibt festzuhalten, dass die in der Präambel beschworene Sicherung der staatlichen Einheit sowie der Gedanke der einheitlichen Herrschaft des Volkes über das ganze Territorium heute einem Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips im Wege steht, das Machtbegrenzung beinhaltet. Die Idee des einheitlichen Willens des ganzen Volkes als höchste Macht, die sich über das ganze Territorium erstreckt, ist zu dominant, um das Prinzip des Gewaltenpluralismus darin zur Geltung zu bringen. Vor dem Hintergrund des notwendigen Schutzes der territorialen Einheit und des einheitlichen Willens findet das freiheitlich verstandene Föderalismusprinzip mit seiner machtbegrenzenden und demokratischen Grundidee keinen Raum. Dabei verhalten sich die Prinzipien staatliche Einheit und Föderalismus generell nicht per se widersprüchlich zueinander. Gerade ein föderaler Staat muss definieren, was seine Einheit ausmacht. Hier allerdings beherrscht die Notwendigkeit des Zusammenhalts alles. Nach der dargestellten Verfassungsauslegung bleibt insofern letztlich unklar, warum das Föderalismus- und das Gewaltenteilungsprinzip in der Verfassung ausdrücklich niedergelegt wurden, wenn es tatsächlich allein um die Erhaltung der Einheit des Staates geht. Es fragt sich, warum das Föderalismusprinzip überhaupt in die Verfassung aufgenommen wurde, wenn es anschließend durch Auslegung in seinem demokratisch-liberalen Wesen gegen Null reduziert wird. Aufbauprinzipien müssten nicht mit Begriffen bezeichnet werden, deren Ursprungsidee fast gegenteilige Inhalte hat. Wenn sich die RF „föderalistisch“ nennt, gleichzeitig aber allein die einheitliche Beherrschbarkeit anstrebt und den Subjekten kaum eigene unmittelbare Staatsgewalt, so kann das Föderalismusprinzip in der Verfassung allein politisch-propagandistische Funktion haben. In der hier dargestellten russischen Interpretation werden Föderalismus und Gewaltenteilung ihrem eigentlichen Sinn weitgehend entfremdet und dienen vornehmlich als politische Sprechblase, deren Rechtsgehalt darauf beschränkt ist, wie jedes andere Organ der Staatsgewalt bestimmte Kompetenzen zu beanspruchen. Soweit der Präambel entnommen wird, dass es Verfassungsziel sei, die staatliche Einheit zu schützen, werden die Folgen dieser Annahme durch die Literatur allein am Föderalismusprinzip verdeutlicht. Nicht diskutiert wird indes, ob die politische Notwendigkeit einer wie auch immer definierten staatlichen Einheit möglicherweise auch ein Notstandsrecht auslöst oder den Grundrechtsschutz begrenzt. Auch soweit die staatliche Einheit als Ziel der Verfassung verstanden wird, können mit Blick auf die normativ-geregelten Inhalte der Verfassung entsprechende Schranken nicht entdeckt werden.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
V. Völkerrechtliche Grenzen der staatlichen Einheit/ territorialen Ganzheit Aus völkerrechtlicher Sicht fragt sich, wie die russische Literatur den Schutz der Ganzheit des Staates mit dem völkerrechtlich anerkannten Selbstbestimmungsrecht der Völker (self-determination of peoples, droit des peuples disposer eux-mÞmes) in Übereinstimmung bringt. Der russische Staat umfasst eine Vielzahl von auf seinem Territorium lebenden ethnisch, kulturell und religiös unterschiedlichen Völkern, deren Recht auf politische Selbstbestimmung sich im Widerspruch zum Schutz des Gesamtstaates verhalten könnte. 1. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker – internationaler Schutz Seinen historischen Ursprung findet der heute im internationalen Völkerrecht anerkannte Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen. Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. 7. 1776 gehen davon aus, dass jeder Mensch gleich ist und ein unveräußerliches Recht hat, an der Staatsmacht zu partizipieren und die richtige Regierungsform zu wählen. Wenn ein Volk insofern beeinträchtigt sei, berechtige es das Naturrecht sowie das göttliche Recht, sich vom Gesamtstaat zu lösen, um dem Einzelnen politische Partizipation zu gewährleisten. Wenn ein Volk despotisch regiert würde, hätte es ein Recht auf Sezession, um sich selbst freiheitlich zu regieren. Dies zu respektieren, gebiete die Achtung vor dem Menschen und seinen autonomen Entscheidungen. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes entspringt damit dem naturrechtlich gegebenen politischen Mitspracherecht des Einzelnen. Dem Sezessionsrecht geht die Rousseausche Idee der Volkssouveränität voraus, die dem Volk und nicht allein dem Herrscher die Letztentscheidungsgewalt zuspricht, wobei der Volksbegriff hier vor allem eine politische Kategorie umschreibt. Erst allmählich setzte sich in diesem Zusammenhang das Nationalitätsprinzip durch, das jeder ethnischen Volksgruppe das Recht zuspricht, freiheitlich ihren Staat zu gründen.476 Im 20. Jahrhundert wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker Teil des positiven Völkerrechts. Dabei wird es zunächst weder zu einem einklagbaren Recht ausgestaltet noch in seinem Umfang definiert. Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 der Charta der Vereinten Nationen (UNC) definieren die Anerkennung des Grundsatzes der Selbstbestimmung der Völker als Ziel der zwischenstaatlichen Beziehungen der Vereinten Nationen. Darüber hinaus ist nicht geklärt, welche Rolle den Zielen innerhalb des Gesamtsystems der UN-Charta zukommen soll, ob sie den Rang von Rechtsgeboten haben oder als Ziele gar rangmäßig höher stehen.477 In Art. 1 des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte sowie des Internationalen Pakts über 476 477
Döhring, Völkerrecht, Rn. 779. Döhring, Völkerrecht, Rn. 778.
V. Völkerrechtliche Grenzen der staatlichen Einheit/territorialen Ganzheit
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Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte heißt es: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“ Der General Comment Nr. 12 der Menschenrechtskommission 13/ 03/84 führt dazu aus, das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei Voraussetzung und Garantie für die Durchsetzung individuellen Menschenrechtsschutzes sowie die Stabilität friedlicher, zwischenstaatlicher Beziehungen. Für die Praxis problematisch bleibt dabei insbesondere die fehlende Definition des Volksbegriffes. Es fragt sich, wer das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nehmen kann. Träger des Rechts auf Selbstbestimmung ist ohne Zweifel das Staatsvolk eines organisierten, souveränen Staates.478 Des Weiteren kann das Selbstbestimmungsrecht bei einem Volk im ethnischen Sinn bejaht werden, wenn der Gesamtstaat aus mehreren gleich großen Völkern besteht und die Verfassung der nationalen oder ethnischen Gruppe einen bestimmten Status einräumt. Die grundsätzlich subjektive Selbstidentifikation eines Volkes wird dabei von objektiven Kriterien wie Territorium, Sprache, Kultur, Religion, Mentalität und eigenes geschichtliches Erbe mitgeprägt. Ein ausdrückliches Recht auf Selbstbestimmung für autochthone Völker konnte allerdings bisher noch nicht zum völkerrechtlichen Standard werden. Nach wie vor Probleme bereitet der internationalen Völkerrechtslehre dementsprechend die Frage, inwiefern das Recht auf Selbstbestimmung ein Recht auf Sezession eines Volkes durch Loslösung von einem Gesamtstaat gegen diesen gegeben ist. Mit Ausnahme der Dekolonialisierung, also des Rechts einer Kolonie auf einen unabhängigen Staat, verhält sich die Staatengemeinschaft hier zögerlich. In der Praxis wird ein Sezessionsrecht von den Vereinten Nationen auch dann nicht anerkannt, wenn die überwiegende Mehrheit der Volksgruppe eine Sezession anstrebt.479 Es gibt in der Staatengemeinschaft keinen Willen dahingehend, Minderheiten generell ein Sezessionsrecht zuzuerkennen.480 Während die NATO beispielsweise 1999 im Kosovo aus humanitären Gründen intervenierte, unterblieb die Anerkennung eines kosovarischen Selbstbestimmungsrechts ausdrücklich.481 Jedoch bleibt allen Völkern das Recht auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ohne Diskriminierung im Rahmen eines Gesamtstaates als innere Selbstbestimmung.482 Nur Letztere wird unwidersprochen anerkannt. Vor diesem Hintergrund gibt es allerdings eine Meinung, die in extremen Unterdrückungsfällen ein Sezessionsrecht vom Gesamtstaat als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts in Erwägung zieht.483 Im fünften Grundsatz der Friendly Relations Declaration484 478
Friendly Relations Declaration (FRD), Res GA 2625 vom 24. 10. 1970, 5. Grundsatz. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 511. 480 Cassese, Self-Determination of Peoples, S. 348. 481 Ipsen, Völkerrecht, § 28, Rn. 16. 482 Lombardi, Bürgerkrieg und Völkerrecht, S. 181 ff. 483 Herdegen, Völkerrecht, S. 245 f., Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 118. 479
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
heißt es über die Selbstbestimmung, ein entsprechendes Recht dürfe nicht als Ermächtigung oder Ermunterung zu Maßnahmen aufzufassen sein, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten teilweise oder vollständig auflöse oder beinträchtige, die sich in ihrem Verhalten vom Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker leiten lassen und eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebiets ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt.485 Im Umkehrschluss kann nicht hingenommen werden, dass sich ein Volk rassischer Diskriminierung, Unterdrückung, militärischer Gewalt oder gar Völkermordes ausgesetzt sieht. Aufgrund des Selbstbestimmungsrechts erhält das der Gewalt ausgesetzte Volk ein Notwehrrecht als naturgegebenes Recht (inherent right), wenn ein Verbleiben im Gesamtstaat nicht mehr zugemutet werden kann. Ohne ein solches Sezessionsrecht wäre das Selbstbestimmungsrecht funktionslos. Insofern besteht ein eingeschränktes Sezessionsrecht mit Ausnahmecharakter im Fall der Verletzung von internationalem Recht. „In such cases, the peoples have the right to regain their freedom and constitute themselves independent sovereign states.“486 In diesem Sinne nennt die Aggressionsdefinition der Generalsversammlung den Kampf für das Selbstbestimmungsrecht als Ausnahme vom allgemeinen Gewaltverbot.487 Dies bestätigt auch der Internationale Gerichtshof (IGH).488 Dass die Sezession zumindest an sich nicht völkerrechtswidrig sein kann, ergibt sich darüber hinaus aus der Konvention zur Staatensukzession.489 2. Die marxistisch-leninistische Doktrin des Selbstbestimmungsrechts der Völker Im Marxismus-Leninismus traten die Rechte einzelner Völker hinter dem politischen Gesamtziel zurück. Dies gilt auch für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Marx und Engels betrachteten die nationale Idee als rückständig und traten stattdessen für die internationale Verschmelzung des Weltproletariats ein. Auch Lenin empfand den Nationalismus zunächst als „bürgerlich“ und gab der sozialistischen Internationale den Vorzug.490 Allerdings gewinnt das Selbstbestimmungsrecht der Völker für ihn in der Revolution politisch an Bedeutung. Im Kampf gegen die großrussisch orientierte Weiße Bewegung und als Abgrenzung zum zaristischen „Völkergefäng-
484
Res. GA 2625 vom 24. 10. 1970. Dt. Übersetzung in Vereinte Nationen 1978, S. 138. 486 So UN-Sonderberichterstatter zum Selbstbestimmungsrecht Cristecu UN Doc E/CN.4/ Sub.2/404/Rev.1 para 173. 487 Res. GA 3314 (XXIX) vom 14. 12. 1974. 488 ICJ Rep. 1971, S. 31 ff. (Namibia), ICJ Rep. 1975, S. 12 ff. (Western Sahara, Advisory Opinion), ICJ Rep. 1986, S. 566 f (Burkina Faso vs. Republic of Mali), ICJ Rep. 1995, S. 90 (Ost-Timor). 489 Ipsen, Völkerrecht, § 29 Rn. 11. 490 Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 126. 485
V. Völkerrechtliche Grenzen der staatlichen Einheit/territorialen Ganzheit
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nis“491 bekommt das Recht einer Nation auf Loslösung vom Gesamtstaat für ihn taktische Bedeutung. Lenin will die zwangsweise Einheit der Völker im Russischen Zarenreich durch eine neue Einheit unter sowjetischen Vorzeichen ersetzen. Insofern benutzt er den Nationalismus vor allem als Reaktion auf die zaristische Unterdrückung. Am 15. 11. 1917 wird deshalb die Gleichberechtigung und Souveränität der Völker Russlands, die Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Sezession, die Aufhebung aller nationalen Vorrechte sowie die freie Entfaltung der Minderheiten deklariert.492 Mit diesen Aussagen verstand man es, sich die Kraft der nationalen Befreiungsbewegung für die Weltrevolution nutzbar zu machen. Ausgiebig diskutiert wurde, wer aus marxistisch-leninistischer Sicht Träger des Selbstbestimmungsrecht sein kann. Während Bucharin dafür eintrat, allein die werktätige Klasse zum Träger des Rechts auf Selbstbestimmung zu erheben, setzt sich Lenin durch und macht die Nation zum Rechtsträger.493 Stalin definiert das Selbstbestimmungsrecht 1913 als Recht einer Nation, sich nach eigenem Gutdünken einzurichten. Er schreibt, jede Nation habe das Recht, ihr Leben nach den Grundsätzen der Autonomie einzurichten, mit anderen Nationen in föderative Beziehungen einzutreten oder auch sich gänzlich loszutreten. Die Nation sei souverän und alle Nationen gleichberechtigt.“494 Dabei wird die Nation (nacia) von der Begriffen nacionalnost (Nationalität) und narod (Volk) abgegrenzt. Nur die Nation, d. h. die Nation als Territorialverband besaß nach Lenin und Stalin das Recht auf kollektive Selbstbestimmung. Anders als bei dem politischen Nationsbegriff im westlichen Raum, der Nation und Staatsvolk zusammenfallen lässt, ist der sowjetische Nationsbegriff grundsätzlich kulturell und ohne konkrete Staatsbezogenheit. Der Begriff der Nation steht eher für die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Volksgruppe als für die Staatsangehörigkeit.495 Dabei muss die Nation nicht zwingend mit dem Staatsvolk identisch sein. Nach Stalin ist die Nation „eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Kulturgemeinschaft offenbarenden physischen Eigenart.“ Den eigenen gesonderten Nationalstaat der Nation lehnt Stalin als fünftes Kriterium ab, da das Selbstbestimmungsrecht dann als Sezessionsrecht für unterdrückte Völker seine Kraft verlöre.496 Dem Nationalen wird jedoch nach der Revolutionszeit nur noch eine befristete Existenz zugestanden. Anschließend gilt es, das Proklamierte wieder zurückzunehmen. Wenn Lenin im Dekret „Über den Frieden“ 1917 dem Selbstbestimmungsrecht im internationalen Vergleich früh zu Anerkennung verhalf, reduzierte sich dessen Bedeutung im Marxismus-Leninismus aus politischen Gründen auf ein Recht, das allein zum Vorteil des Klassenkampfes, also gegenüber einer kapitalistischen Nation aus491 492 493 494 495 496
Zitiert nach Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 19. Meder, Das Sowjetrecht, S. 40 f. Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 28. Stalin, zitiert nach Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 42. Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 46 ff. Stalin, zitiert nach Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 176 f.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
geübt werden durfte. Das Ziel blieb die klassenlose Gesellschaft als „einheitliches Menschheitskollektiv“497. Wenn man die unterdrückten Völker des Zarenreiches zunächst in ihrem Selbstbestimmungsrecht bestärkte, dann nur als Übergangsstufe zum sozialistischen Unitarismus.498 Lenin schreibt: „Wir wollen eine revolutionär-proletarische Einheit, Vereinigung, nicht Verstückelung. Wir wollen aber eine revolutionäre Vereinigung. Darum stellen wir nicht die Losung der Vereinigung sämtlicher Staaten überhaupt auf, denn die soziale Revolution stellt nur die Vereinigung jener Staaten auf die Tagesordnung, die zum Sozialismus übergegangen sind und übergehen, der sich befreienden Kolonien usw. Wir wollen eine freie Vereinigung. Und darum sind wir verpflichtet, die Freiheit der Loslösung anzuerkennen.“499 Insofern hat das Selbstbestimmungsrecht keinen eigenen Wert, sondern ist Mittel zur Durchsetzung der Diktatur des Proletariats. Lenin und Stalin machten deutlich, dass nationale Autonomien und föderale Strukturen grundsätzlich Zersetzung und Separatismus förderten und insofern nur bei politischer Notwendigkeit zu gewähren und dabei jedenfalls als Übergangsform zur völligen Einheit zu betrachten seien.500 Dies hat insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zur Folge, dass die Völker der Sowjetunion und des Warschauer Paktes faktisch weder ein Selbstbestimmungsnoch ein Sezessionsrecht geltend machen konnten. Sie waren überhaupt nur soweit souverän, wie dies der Errichtung des Kommunismus diente (Brezˇnev-Doktrin). Dabei bleibt das Selbstbestimmungsrecht offiziell als gefeierte Errungenschaft Lenins in der Sowjetlehre ein wichtiger Grundsatz des Völkerrechts.501 Insofern gewährt die Verfassung der UdSSR von 1977 jeder Unionsrepublik in Art. 72 das Recht auf freien Austritt. Dieses stand allerdings unter der Bedingung des Prinzips der Einheitlichkeit der Union (Art. 70 „Die UdSSR ist ein einheitliche multinationaler Bundesstaat“) sowie dem Verfassungsgebot der territorialen Einheit (Art. 75). Während die westliche Lehre das sowjetische Sezessionsrecht insofern als „leere Fiktion“502 einordnete, hatte die sowjetische Lehre ihre eigene Auslegung: Im Zusammenhang mit der Lehre von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit waren die Unionsrepubliken frei, wollten aber die Sowjetunion nicht verlassen, weil alle Menschen in den verschiedenen Republiken das gemeinsame Ziel hätten, den Kommunismus zu errichten. Da nur innerhalb der Sowjetunion dieses Ziel erreicht werden könne, hing das Wohlergehen von der Zugehörigkeit zum Zentrum ab. Faktisch konnte ein Austritt in Anbetracht des ideologischen Ziels nur eine Schwächung bedeuten. Da der Austritt das Ziel der Revolution verraten hätte, musste er durch staatliche Lenkung verhindert werden. Dies geschah zu Beginn der Sowjetunion sogar ausdrücklich durch strafrechtliches Gebot. Bis 1958 stellte Art. 58 StGB RSFSR von 1926 die 497 498 499 500 501 502
Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 33. Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 140. Lenin, zitiert nach Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 188. Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 196, 202, 205. Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 41 ff. Uibopuu, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Art. 72, Rn. 7.
V. Völkerrechtliche Grenzen der staatlichen Einheit/territorialen Ganzheit
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Machtergreifung unter separatistischer Absicht unter Strafe. In den Schauprozessen gegen Bucharin, Jagoda und Rykov wurde die Norm Ende der 1930er Jahren auch angewandt. Später war der Straftatbestand nicht mehr eigenständig, sondern unter den weiten Anwendungsbereich des Vaterlandsverrats nach Art. 1 des Gesetzes über Staatsverbrechen gefasst.503
3. Russische Literaturmeinung zum Verhältnis Selbstbestimmungsrecht und territoriale Integrität Von diesen Grundgedanken hat sich die Völkerrechtslehre heute in Russland kaum wegbewegt. Die russische Literatur erkennt das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung der Völker zwar an und nennt es wie zu Sowjetzeiten euphemistisch „eines der grundlegendsten Prinzipien des Völkerrechts“.504 In Bezug auf die Völker innerhalb der RF versucht die Literatur aber vor allem deutlich zu machen, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht absolut wirkt, sondern in Relation zu den anderen Schutzgütern der russischen Verfassung und des Völkerrechts. Seinem Gegenstand nach wird das Selbstbestimmungsrecht für die verschiedenen (ethnischen) Völker der RF dabei teilweise gegen Null reduziert. Insofern führt schon die Frage nach dem Träger des Selbstbestimmungsrechts in Russland zu eingeschränkten Ergebnissen. Teilweise wird die Frage, ob es neben dem russländischen Staatsvolk weitere Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker innerhalb der RF geben könne, in der russischen Literatur ganz abgelehnt. Träger des Rechts sind danach überhaupt nur souveräne und unabhängige Nationen und Völker.505 Hinsichtlich der Frage nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker innerhalb der RF versucht die russische Völkerrechtslehre die beiden gleichwertigen Prinzipen des Völkerrechts506 „territoriale Integrität“ und „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ einander nicht gegenüber zu stellen, sondern inhaltlich zusammenzubringen. Dies entspräche dem Völkerrecht. Ebzeev begründet dies schlicht mit einem „allgemeinen Völkerrechtsprinzip“, wonach sich einzelne Völker selbstbestimmt zu einem Ganzen zusammenschlössen. Er vergleicht die Charta der Vereinten Nationen mit der Russischen Verfassung und weist auf die Ähnlichkeit hin: Während es in der UNC hieße „Wir, die Völker der Vereinten Nation“, spräche die Präambel der russischen Verfassung vom aus vielen Nationen bestehende Volk der Russischen Föderation (mnogonacionalnij narod RF). Darin erkennt er das Prinzip, dass es auf der Welt Völ503
Uibopuu, in: Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Art. 72, Rn. 12. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 158, so auch Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 113. 505 Kolosov, Mezˇdunarodnoe Pravo, S. 49. 506 Prinzipien des Völkerrechts sind nach der russischen Völkerrechtslehre Normen des Völkerrechts, die für alle Subjekte des Völkerrechts verpflichtend (objazatelno) sind. Sie können sich aus Gewohnheitsrecht oder Völkervertragsrecht ergeben. Vgl. Kolosov, Mezˇdunarodnoe pravo, S. 27. 504
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
ker gibt, die sich in Staaten und internationalen Gemeinschaften zusammenschließen.507 Da die Völker innerhalb der Gemeinschaft selbstbestimmt agierten, wären das Selbstbestimmungsrecht und die Integrität des Ganzen kein Widerspruch. Zum gleichen Ergebnis kommt auch Kocˇkarov.508 Inhaltlich hat die von der Literatur angestrebte Verbindung der beiden Prinzipien zur Folge, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker für die Völker innerhalb der RF nur soweit anerkannt wird, als die staatliche Ganzheit nicht gefährdet sei.509 Dabei werden zwar in beiden Prinzipien unterschiedliche Schutzrichtungen gesehen, d. h. einerseits die Sicherung der bestehenden Grenzen und andererseits das Recht der Völker, ihre Geschicke selbständig zu regeln, der Schutz dieser beiden Anliegen müsse aber miteinander verbunden werden. Insofern wird davon ausgegangen, dass die Völker zur Verwirklichung ihrer Selbstbestimmung nicht unbedingt eines eigenen Staates bedürften, vielmehr könne sich die ˇ irkin reduziert Selbstbestimmung auch innerhalb der Grenzen der RF entfalten.510 C das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf den Schutz, der ihm durch die russische Verfassung zukommt. Er schreibt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei insgesamt nicht verletzt, weil die Russische Verfassung in Art. 5 III a.E. nur von der Selbstbestimmung der Völker „in der Russischen Föderation“ spräche. Die Verfassung lege fest, dass die Selbstbestimmung der Völker nur innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation verwirklicht werden könne.511 Die Grenzen der RF dürften durch das Selbstbestimmungsrecht nicht gefährdet werden. Auch für Annenkova ist das Wort „in“ in Art. 5 III a.E. Verf RF ein Hinweis darauf, dass die Verfassung der RF den Willen des ganzen Volkes über die Recht von einzelnen Völkern innerhalb der RF einordnet.512 Das verfassungsmäßige Selbstbestimmungsrecht innerhalb der RF beinhalte, dass die verschiedenen russischen Völker in der Föderation ihren Status (Republik, Kreis, Gebiet, autonomes Gebiet usw.) frei wählen könnten und dass neue Subjekte gegründet werden könnten. Die Veränderung von Grenzen bedürfe dabei allerdings das Einverständnis aller Beteiligten auf dem Gebiet.513 Kocˇkarov sagt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker werde nicht automatisch in jedem Vielvölkerstaat verletzt. Eine Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung sei nur dann zu bejahen, wenn eine Diskriminierung vorliege, was in der RF nicht der Fall sei. Auch Barchatova sieht das Recht auf Selbstbestimmung der Völker nur verletzt, wenn ein Volk in seinen nationalen Besonderheiten diskriminiert würde, in dessen Folge Menschenrechte ver507
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 150. Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 123. 509 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 114 f. 510 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 117 f. 511 ˇ Cirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 202. 512 Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 15. 513 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 162. 508
V. Völkerrechtliche Grenzen der staatlichen Einheit/territorialen Ganzheit
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letzt würden. Dies ist für sie dann der Fall, wenn das Recht eines Bürgers verletzt wird, am staatlichen Organismus teilzuhaben (ucˇastvovat v gosudarstvennych del).514 Was dies bedeutet, bleibt unklar. Soweit ein Selbstbestimmungsrecht für die Völker innerhalb der RF bejaht wird, hat es klare Grenzen. Ausdrücklich seien die Subjekte nicht berechtigt, eine eigene Wirtschaftszone, ein eigenes soziales oder politisches System zu errichten oder eine eigene Staatsideologie anzunehmen. Das Prinzip der Selbstbestimmung solle nicht dahingehend ausgenutzt werden, Separatismus zu fördern und die territoriale Ganzheit und die Einheit der souveränen Staaten zu zerstören.515 Vor allem wird das Recht auf Austritt aus der Föderation ausgeschlossen.516 Ein darüber hinausgehendes Recht auf Sezession setze voraus, dass die Rechte der anderen Völker im Gesamtstaat nicht verletzt würden. Außerdem müsse ein Recht auf Sezession in der Verfassung des Ausgangsstaates mit angelegt sei. Letzteres träfe auf die Verfassung der RF nicht zu, die nur vom Selbstbestimmungsrecht der Völker spricht, nicht aber von einem Recht auf Sezession.517 Auch für Belavina verletzt das Recht auf Sezession ganz grundsätzlich das verfassungsmäßig geschützte Prinzip der Ganzheit des Territoriums und könne insofern nur bejaht werden, wenn das gesamte Staatsvolk einstimmig mit der Sezession eines Teils einverstanden ist.518 In der Ablehnung des Sezessionsrechts argumentiert sie jedoch rein politisch-pragmatisch mit der historisch-gewachsenen gemeinsamen Kultur und des gemeinsamen Wirtschaftsraums sowie einer Gefahr der durch die Sezession entstehenden Schwächung der staatlichen Macht des Gesamtstaates.519 Auch für sie wirkt das Prinzip der Ganzheit des Territoriums gegenüber dem Sezessionsrecht absolut. Nach der russischen Rechtslehre hat ein Recht auf Sezession neben dem Verfassungsprinzip der staatlichen Ganzheit keinen Raum. Fraglich ist, warum es aber in einem Fall, da alle beteiligten Völker einverstanden sind und auch die Verfassung die Sezession bejaht, überhaupt noch ein „Recht“ auf Sezession erforderlich ist. So ist es grundsätzlich gerade Eigenschaft eines subjektiven Rechts, sich durchzusetzen, wenn andere Beteiligten nicht einverstanden sind. Hier jedoch ist der Rechtsbegriff noch deutlich von der sowjetischen Rechtslehre geprägt, nach der sich stets das „richtige“ Recht, das Recht, dessen „soziale Bestimmung wichtiger“ ist, gegenüber dem anderen absolut durchsetzt.520 Dies ist hier ganz deutlich die brüderliche Geschlossenheit der beteiligten Völker. In diesem Zusammenhang ist es folgerichtig, dass teilweise in der Literatur nicht vom „Recht“ 514
Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 13. Kolosov, Mezˇdunarodnoe Pravo, S. 50. 516 ˇ Cirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 202. 517 Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 19 f. 518 Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecˇenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, S. 38. 519 Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecˇenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, S. 38. 520 Vgl. Silnizki, Geist der russischen Herrschaftstradition, S. 188. 515
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
(pravo) der Völker auf Selbstbestimmung gesprochen wird, sondern vom Prinzip der Selbstbestimmung.521 Bemerkenswert ist letztlich der bei Ebzeev im Zusammenhang mit der Frage des Verhältnisses des Selbstbestimmungsrecht und der Ganzheit des Staates gebrauchte Vergleich, wonach sich das einzelne Volk zum Staat wie das Individuum zur Gesellschaft verhalte: Wie das Individuum nicht ohne Gesellschaft auskäme, kämen Völker nicht ohne rechtsstaatliche Organisation aus.522 Im Zusammenhang mit der Diskussion um das Verhältnis vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zur Erhaltung des Hoheitsgewalt der staatlichen Macht der RF über das Territorium seiner Völker ist dieser Vergleich vernichtend für das Selbstbestimmungsrecht. Die Aussage beinhaltet die Annahme, die Völker innerhalb der Russischen Föderation könnten ohne den russischen Staat nicht existieren. Die Aussage ist insofern als Hinweis auf die großrussische Vorstellung zu sehen, wonach allein der zentral organisierte russische Staat die Grundlage für das Leben der Menschen in diesem Raum schafft. Ähnlich geht das Verfassungsgericht der RF im Tschetschenien-Urteil vom 31. 7. 1995523 davon aus, die staatliche Ganzheit sei Voraussetzung für die Durchsetzung von Menschenrechten.524 4. Zwischenergebnis Wie in der Sowjetunion wird dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auch heute in der abstrakten Diskussion große Bedeutung zugemessen. Die heutige Zurückhaltung bei der Gewährung des Sezessionsrechts entspricht dabei dem internationalen Völkerrechtsstandard. Allerdings werden die internationalen Völkerrechtspakte zu diesem Thema in Russland kaum thematisiert. Schwerpunkt der Debatte in Russland ist vor allem nicht, unter welchen Voraussetzungen ein Sezessionsrecht für die Völker innerhalb der RF gegeben sein könnte. Es wird nicht geklärt, wann ein Recht auf politische Teilhabe verletzt ist und eine Diskriminierung vorliegt. Stattdessen wird mit der russischen Verfassung argumentiert, dass der Schutz des Gesamtstaates mit der Selbstbestimmung vereint werden sollte. Dabei gibt der notwendige Schutz der staatlichen Einheit, auch soweit er in der russischen Verfassung verankert ist, kaum eine Grundlage für die Frage nach den Voraussetzungen für ein völkerrechtliches Sezessionsrecht. Insofern verwundert insgesamt die Eindeutigkeit, mit der das Selbstbestimmungsrecht einerseits als wichtige Errungenschaft gewürdigt wird und mit der andererseits ein Sezessionsrecht für die Völker der RF abgelehnt wird. Erklärung dafür mag das Konzept der staatlichen Einheit bieten, dass als „richtige Ordnung“ den Völker ein selbstbestimmtes Zusammenleben erst ermöglicht.
521 522 523 524
Kolosov, Mezˇdunarodnoe pravo, S. 48. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 159. SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424. Vgl. Kap. C.XII.
VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes
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VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes Wesentlicher Bestandteil des rechtstheoretischen Prinzips der staatlichen Einheit ist der gemeinsame Wille als „geistige Sphäre staatlicher Einheit“.525 Diesen gemeinsamen Willen zeichnet aus, dass er sich nicht nur einmalig, im Moment der Staatsgründung, d. h. als Verfassungsvoraussetzung äußert. Vielmehr ist der gemeinsame Wille des ganzen Volkes nach der Lehre dauerhaft notwendig, um dem „staatlichen Willen“ als Grundlage der Gesetze auch in täglich neuen Einzelfragen Legitimation zu verleihen. Ausgangspunkt dafür ist die Annahme, dass der Staat das Recht garantiert. Dies wiederum setzt die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Staates voraus. Insofern muss der demokratische Staat mit einem Willen ausgestattet sein, der im Volk Legitimation findet. Der Wille des Volkes muss in diesem Sinne dem staatlichen Willen entsprechen. Dabei wird diskutiert, wieweit der gemeinsame Wille des ganzen Volkes als neue „Ideologie“ verstanden werden kann. Die Diskussion um eine gemeinsame Ideologie umfasst aber andersherum auch die Frage, ob eine objektiv herausgearbeitete staatliche Ideologie dem Volk als gemeinsame Idee im Rahmen der demokratischen Entscheidungsfindung als Orientierung dienen kann. In diesem Zusammenhang beruft sich die Rechtswissenschaft auch auf die nationale Idee. Dabei ist festzustellen, dass der russische Begriff „Ideologie“ (ideologija) nicht in gleicher Weise wie der deutsche Begriff verwendet wird. Während das Konzept der Ideologie in Westeuropa seit der Aufklärung regelmäßig der Kritik ausgesetzt ist526 und zuletzt als Bestandteil eines totalitären Systems begriffen wird,527 steht der russische Begriff „Ideologie“ wertneutral und rein deskriptiv für eine politische Ideenlehre. So bekennen sich die Jugendorganisation, Parteien und Politiker in Russland heute zu ihrer „Ideologie“.528 1. Der gemeinsame Wille in der Rechtstheorie a) Der allgemeine Wille als andauernde gesellschaftliche Übereinstimmung zur Sicherung der Einheit des Staates Mit dem Auseinanderfall des Sowjetstaates und der Unabhängigkeitserklärung Russlands sowie den damit verbundenen Bestrebungen einzelner Teile des neuen russischen Staates, sich selbständig zu machen, suchte die russische staatsrechtliche Li525
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 85. Vgl. Baruzzi, Stichwort „Ideologie“, in: Staatslexikon, Band 3, insbesondere mit dem Hinweis auf die Idealismuskritik von Napoleon und Karl Marx, die Ideologien als „Hirngespinste“ und als „Ausgeburten des Kopfes“ dem tatsächlichen Sein gegenüberstellten und allein in Letzterem Orientierung suchten. 527 Vgl. die Einordnung der Ideologie als Bestandteil eines totalitären Systems z. B. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, passim. 528 Vgl. www.edinoros.ru, www.nashi.su. 526
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
teratur die Fundamente dieses russischen Staates argumentativ neu zu untermauern. Zur Legitimation von Regierung und Gesetz stützt man sich dabei auf den Willen des ganzen Volkes. So beruft sich Ebzeev auf die Staatstheoretiker Bodin, Grotius, Hobbes, Montesquieu, Locke und Rousseau und deren gemeinsamer Idee eines Staatsaufbaus, dessen Grundlage vom gemeinsamen Willen aller geschaffen wird.529 Wie seinen geistigen Vätern dient die Idee des Gesellschaftsvertrags im modernen russischen Staat der Verklammerung der aufgebrochenen pluralistischen Gesellschaft und als Grundlage der Volksherrschaft. Es geht darum, den Staat auch in Krisensituationen zu einer handlungsfähigen Willenseinheit zu machen. Durch den Zusammenschluss aller entsteht Entscheidungs- und Organisationseinheit. Dabei ist nicht immer eindeutig, wieweit der Zusammenschluss zum Staat heute in Russland als Folge einer freien Willensentscheidung oder eher als Folge politischer Notwendigkeit angesehen wird. Indem die Einheit des Staats aufgrund der beschriebenen Funktionen für Sicherheit, Fortschritt und Problembewältigung steht, geht man vermittelnd davon aus, dass ein gemeinsamer Wille hinsichtlich dieser Einheit jedenfalls notwendig sei.530 Dabei wird die staatliche Einheit als Willens- und Entscheidungseinheit nicht positiv als konstitutiver Willensakt, sondern vor allem negativ aus dem status quo beschrieben: Ausgangspunkt ist die schwierige Ausgangslage. Ebzeev schreibt, dass der gemeinsame Wille in Russland in den 90er Jahren nicht vorherrschend gewesen sei. Hier hätten stattdessen Einzelinteressen dominiert. Weil dies nicht akzeptabel war, wird vorausgesetzt, dass nun ein allgemeiner Wille herrsche, um diesen Zustand zu überwinden.531 Hier wird deutlich, dass die Idee des gemeinsamen Willens nicht nur den konstitutiven Konsens als einmalige übereinstimmende Willenserklärung zur Staatsgründung betrifft. Der gemeinsame Staat ist in den 90er Jahren bereits vorhanden. Die geistige Ebene der staatlichen Einheit betrifft vielmehr ein dauerhaftes Zusammengehörigkeitsgefühl, getragen vom Willen, das Ganze zu stärken. Hier wird der allgemeine Wille in Form von geistiger Übereinstimmung insgesamt notwendiges Attribut in einer Krisensituation des schon bestehenden Staates. Der gemeinsame Wille beinhaltet den Wunsch, die Krise zu überwinden und drückt insofern andauernde Staatsloyalität in schwierigen Zeiten aus. So äußere sich der gemeinsame Wille nicht einmalig bei der Staatsgründung, sondern andauernd als gemeinsame politische Zielsetzung, „wie der gemeinsame Wille des Proletariats“.532 Wenn gesagt wird, dass der gemeinsame Wille die fehlende Stabilität der 90er Jahre überwinden soll, wird deutlich, dass sich der allgemeine Wille als gemeinsame Idee oder als gemeinsame Ideologie am Interesse der Gesamtheit zu orientieren hat. Individualinteressen treten dahinter zurück. Über eine Identität stiftende nationale Idee entstünde die notwendige gesellschaftliche Homogenität. Sie ordnet die Heterogenität und hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Insofern ist die nationale 529 530 531 532
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 8, 51 f. Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 7. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 97. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 86.
VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes
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Idee notwendige Voraussetzung für die staatliche Einheit und die territoriale Ganzheit des russischen Staates.533 b) Der gemeinsame Wille als das sittlich Gute: Der Rückgriff auf die volont gnrale Wenn von andauernder Staatsloyalität gesprochen wird, zeigt sich der sittliche Charakter der „geistigen Ebene staatlicher Einheit“. Eine besondere Rolle spielt dabei auch heute wie bei Novgorodcev der auf Rousseau zurückzuführende Unterschied zwischen der volont gnrale, dem Allgemeinwillen, und der volont de tous, der Summe aller Einzelinteressen. In Analogie zu Rousseau soll die gemeinsame „Ideologie“ des ganzen Volkes für Ebzeev „allgemein“ sein und nicht eine „Ideologie für jeden“. Wenn Rousseau geschrieben habe, der Allgemeinwille solle Voraussetzung des Gesetzes sein und nicht der Wille aller, dann müsse dies auch für die Grundlage der Gesetze, die gemeinsame Ideologie, gelten.534 Der kurze Hinweis auf Rousseau ist äußerst aufschlussreich: An der Idee der volont gnrale wird die russische Vorstellung von der gemeinsamen staatlichen Ideologie als sittlicher Orientierung für die Herrschaft des Volkes verständlich. Wenn zunächst allein ein Konsens als Voraussetzung für staatliche Handlungsfähigkeit gefordert wird, so ist der Inhalt dieses Konsens nicht beliebig. Vielmehr geht es darum, dass die Willenseinheit bestimmte Werte einschließt. Dieses Verständnis entspringt vor allem dem Rousseauschen Unterschied zwischen der volont gnrale und der volont de tous. Entscheidend ist das „mehr“, das die volont gnrale gegenüber der volont de tous bietet. So ist die volont gnrale im Gegensatz zur volont de tous nicht nur die übereinstimmende Willensbekundung, einen Gesellschaftsvertrag zu schließen. Die volont gnrale geht vielmehr über die Summe der konvergierenden Einzelinteressen, den Konsens der Individualinteressen, den der neuzeitliche Kontraktualismus als Grundlage des Staates voraussetzt, hinaus.535 Deutlich wird, dass es Rousseau darum geht, der Herrschaft des Volkes dieselbe Fähigkeit zur einheitlichen und am Gemeinwohl orientierten Entscheidung zuzusprechen wie dem Monarchen. Vor allem aus diesem Grund wird die im monarchischen System bereits implizierte, aber auch in der Demokratie mögliche Entscheidungseinheit betont. Es verlangt die Fähigkeit, das Gesamtinteresse des Staates über das Individualinteresse zu stellen: „Wenn das soziale Band nachgibt und der Staat schwächer wird, wenn sich die Privatinteressen bemerkbar machen und die kleinen Parteien auf die Gesellschaft Einfluss auszuüben beginnen, dann verändert sich das Gesamtinteresse und erzeugt Gegner; es herrscht keine Einstimmigkeit mehr, und der Gemeinwille ist nicht mehr der Wille aller. Widersprüche und Einwände werden laut und die beste Ansicht wird nicht ohne Streit angenommen. Wenn schließlich der untergehende Staat nur mehr in einer 533
Jakunin, Gosudarstvennaja ideologija u nacionalnaja ideja: Konstitucionno-cennostnyj podchod, in: Gosudarstvo i pravo, 5/2007, S. 5. 534 Vgl. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 86. 535 Vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, S. 124.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Scheinform besteht und leer ist, das Gesellschaftsband in allen Herzen zerrissen ist und krasser Eigennutz sich schamlos mit dem heiligen Namen des Allgemeinwohls schmückt, dann verstummt der Gemeinwille und die Leute, von geheimen Beweggründen geleitet, argumentieren nicht mehr als Bürger, sondern als ob der Staat niemals existiert hätte, und unter dem Namen von Gesetzen treten gesetzlose Verordnungen in Kraft, die nur das Privatinteresse zum Ziel haben.“536 Während die volont de tous eine Aggregation der Einzelwillen ist, die nur individuelle Ziele verfolgen, ist die volont gnrale das Gute und dient damit der sittlichen Stabilität der politischen Einheit. Ähnlich wie Rousseau sieht die russische Staatstheorie in der geistigen Einheit des Staates ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Wesenseinheit des ganzen Volkes, getragen von dem einheitlichen Willen, das Beste für den Staat zu erreichen. Amirov sieht im Fehlen dieses Zusammengehörigkeitsgefühls die Ursache für Konflikte und Probleme innerhalb der RF, was zu einer abzulehnenden Einteilung in „ihr“ und „wir“ führe. Dies konstatiert er im Zusammenhang mit Separatismusbestrebungen, so dass aus dem Zusammenhang deutlich wird, dass eine gemeinsame Identität nach seiner Auffassung Separatismus vermeiden könne.537 An anderer Stelle wird die gemeinsame Idee mit Staatstreue gleichgesetzt. So schreibt Levakin, dass die gemeinsame Idee von einer Welt, in der jeder nur seine eigenen Ziele verfolgt, zu einem Staat führen müsse, in dem Verantwortung für das Gesamte übernommen wird.538 Darunter wird Einmütigkeit verstanden. Bleibt diese Einmütigkeit aus, folgt der Zusammenbruch und wirtschaftliche Not, wie nach dem Ende der UdSSR.539 Dabei richtet sich der gemeinsame Wille nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Zukunft: So ist staatliche Einheit in Form von gesellschaftlicher Übereinstimmung eine Kraft, die es möglich macht, sich zu entwickeln.540 Der gemeinsame Wille wird auch hier als etwas begriffen, das der pluralistischen Idee von Einzelinteressen entgegensteht und, da diese Zerfall und Untergang beschleunigen würden, die Fortexistenz sichert. Entscheidend ist für die Literatur die Fähigkeit des russischen Staatsvolkes zur ständigen politischen Konsensbildung. c) Der allgemeine Wille als Voraussetzung für das gute Gesetz Notwendig wird der allgemeine Wille als Voraussetzung für das Recht. So sei die gemeinsame Ideologie die Grundlage des Gesetzes wie auch die des gesamten Staates. Soweit die Ideologie den politischen Prozessen zugrunde liege, sei sie nicht we-
536
Rousseau, Gesellschaftsvertrag, IV. Buch, 1. Kapitel, 4. Absatz. Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 124. 538 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 60. 539 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 71. 540 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 75. 537
VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes
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niger wichtig als die Prozesse selbst.541 Wenn das Recht nach Marcˇenko auf die normativ-rechtlichen Akte des Staates zurückgeht,542 so ist Gesetz Ausdruck des staatlichen Willens.543 Der einheitliche staatliche Wille, der das Gesetz verabschiedet, legitimiert sich aus dem übereinstimmenden Willen des ganzen Volkes. Das Gesetz muss insofern den Willen und die Interessen des ganzen Volkes bezeugen.544 Alles andere würde bedeuten, dass der Staat und das Gesetz in Anlehnung an Marx und Lenin allein Ausdruck einer Klasse sei.545 Das Gesetz, wie auch staatliches Handeln ganz allgemein, setzt Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungseinheit voraus. Dementsprechend muss das Volk als Herrschaftsträger zunächst eine sittliche Einheit bilden, aus der Gesetze dann entstehen können. Der allgemeine Wille des ganzen Volkes als Grundlage des Rechts stimmt mit dem Wesen des Rechts überein. Es heißt allgemein, das Recht (pravo) sei „der grundlegende Regulator (reguljator) der gesellschaftlichen Verhältnisse (obsˇcˇestvennych otnosˇenij)“.546 Durch die Regulierungsfunktion stabilisiert das Recht die Gesellschaft.547 In diesem Sinne ist es Wesen des Rechts, der Gesamtheit zu dienen. Entscheidend ist, dass die Gesamtheit nicht Summe der Individualinteressen ist, sondern dem Interesse des ganzen Volkes entspricht. Während der Wille des Einzelnen entscheidet, ob ein subjektives Recht geltend gemacht wird, hängt die Möglichkeit, ein solches Recht geltend zu machen, vom Willen des Staates ab, der durch das Gesetz das subjektive Recht erst schafft.548 Insofern ist auch jedes einzelne subjektive Recht vom staatlichen Willen abhängig. Nicht das subjektive Interesse entspricht insofern dem Wesen des Rechts, sondern das höher stehende Gesamtinteresse. Dies zeigt sich auch, wenn gesagt wird, dass es innerhalb des Rechts als der Gesamtheit aller Normen keine Gegensätze geben dürfe.549 Nur durch die Fokussierung des Wesens des Rechts auf das Gesamtinteresse kann das Recht frei von Gegensätzen sein. Während die einzelnen Normen sehr wohl unterschiedlichen Interessen entsprechen, ist das Wesen des Rechts das Gesamtinteresse und insofern einheitlich. Insgesamt wird deutlich, dass die Lehre vom Wunsch getragen ist, dem Gesetz objektive Legitimation zu vermitteln. Dabei ist die Identität von Gesetz und allgemeinem Willem vor allem eine politische Zielvorstellung. Matuzov/Malko schreiben ganz ausdrücklich, dass das Gesetz allein „idealerweise“ dem Willen und den Inter541
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 86. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 591. 543 Rassolov, Teorija gosudarstva i prava, S. 218. 544 Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 599. 545 Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 499. 546 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 210, Matuzov/ Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 384, Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 413, Rassolov, Teorija gosudarstva i prava, S. 206. 547 Matuzov/Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 385. 548 Matuzov/Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 388. 549 Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 241. 542
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
essen des ganzen Volkes entsprechen sollte.550 Die Idealvorstellung, dem Recht sittliche Legitimation zu verleihen, zeigt sich auch aus der engen Verbindung, die Marcˇenko zwischen Recht und Moral festmacht. Er schreibt, das Gesetz brauche ein starkes moralisches Fundament.551 Insofern als der Wille des Volkes für die Gesetze grundlegend ist, bildet auch die in der Gesellschaft herrschende Moral eine Grundlage für das Gesetz. Dabei stehen Moral und Recht (als Gesamtheit der staatlichen Normen) in einer „organischen Verbindung“.552 Wenn Moral und Gesetz sich widersprechen, müsse das Gesetz geändert werden.553 Wenn dabei das individuelle Gewissen der innere Garant der Moral sei, so sei die Gesellschaft der „äußerer Garant“ für die Moral.554 Dies setzt voraus, dass es nicht nur individuelle Moralvorstellungen gibt, sondern eine kollektive, die von der ganzen Gesellschaft geteilt und vom Individuum übernommen wird. Dabei formen sich die moralischen Gesetze in einem historischen Entwicklungsprozess als Ergebnis des Kampfes mit dem Bösen.555 Bezeichnend ist insofern die Aussage von Barcic, ohne staatliche Einheit im Sinne ideeller Homogenität des Volkes sei die Diktatur des Guten nicht möglich.556 Problematisch ist auch an diesen Aussagen wieder der interdisziplinäre Ansatz in der russischen Theorie von Staat und Recht. Es mag politisch-philosophisch berechtigt sein, einen moralischen Anspruch an das Gesetz zu stellen. Es mag auch richtig sein, dass dieser moralische Anspruch dann erfüllt ist, wenn das Gesetz den Interessen des Gesamtstaates entspricht. Letztlich kann auch hier kaum abgestritten werden, dass das Recht eine gewisse soziale Homogenität voraussetzt. Aus juristischer Perspektive muss aber vor allem gefragt werden, was diese Erkenntnisse für das geltende Recht bedeuten. Soweit die Theorie vor allem den einheitlichen Willen als Grundlage des Rechts betont, verliert die Verfassung als Rahmen des Rechts an Bedeutung. So wird es letztlich auch schwieriger zu begründen, dass das Recht den Staat begrenzt. Als Ergebnis des allgemeinen Willens kann das Recht nicht staatliches Handeln, das seinerseits Ausdruck des allgemeinen Willens ist, hemmen. d) Der allgemeine Wille im Verhältnis zum Mehrheitswillen Der allgemeine Wille im Sinne Rousseaus ist aufgrund seines ideellen Charakters politisch kaum umsetzbar. Schon deshalb bestimmt die Verfassung insofern einen demokratisch-parlamentarischen Gesetzgebungsprozess mit einer Mehrheitsentscheidung. Wie schon Cˇicˇerin, Novgorodcev und der Marxismus-Leninismus entnimmt auch die moderne russische Staatslehre der Beschäftigung mit Rousseau eine Ableh550 551 552 553 554 555 556
Matuzov/Malko, Teorija gosudarstva i prava, S. 297. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 518. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 577. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 577. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 578. Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, S. 575. Barcic, Pravovoe Prostranstvo Rossii, S. 164.
VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes
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nung ungebremster Herrschaft von Parteien und Fraktionen als Ausdruck von rivalisierenden Individualinteressen. Mehrheitsentscheidungen verlangen bei Rousseau nicht die „Ich-“ sondern die „Wir-“Perspektive. Sie setzen den mündigen Bürger voraus, der in der Lage ist, nicht nach den eigenen Interessen, sondern nach dem Gemeinwillen zu entscheiden.557 Die „Wir“-Perspektive würde aber durch das Parteiensystem und parlamentarische Debatten nicht gefördert: „Je mehr Übereinstimmung bei den Volksversammlungen herrscht, d. h. je mehr sich die Ansichten der Einstimmigkeit annähern, umso dominanter wird der Allgemeinwille. Lange Debatten dagegen, Streitigkeiten und Tumulte zeigen das Anwachsen von Privatinteressen und den Niedergang des Staates.“558 Parteien könnten nicht dazu beitragen, diese Fähigkeit auszubilden, da sie den Bürgern allein Sonderinteressen aufdrängten. Die skeptische Einstellung gegenüber der Auseinandersetzung zwischen den Parteien, bzw. divergierenden Partikularinteressen allgemein findet sich auch heute in der russischen Literatur wieder. Das Parlament wird nicht als Raum verstanden, Partikularinteressen zu vertreten, sondern erhält seine Bedeutung durch die hier vollzogene Vereinigung der verschiedenen Interessen im Land zur Sicherung der staatlichen Einheit.559 Eine Bedrohung für den gemeinsamen Willen sei dementsprechend auch der „ethnonationale Charakter der Subjekte in der RF“. Darin erblickt Ebzeev deutlich eine Gefahr von ethnischen Konflikten sowie ein erhöhtes Konfliktpotential für alle weiteren Ebenen des menschlichen Zusammenlebens.560 Aus dem Zusammenhang wird deutlich, dass die Partikularinteressen der Subjekte dem gemeinsamen Willen entgegenstehen. Die Entscheidung zum gemeinsamen Willen beruht mithin auch auf der Erkenntnis, dass die Verwirklichung von Einzelinteressen nicht förderlich sei. Etwas Neues könne man nur aufbauen, wenn die Gegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen und Klassen im Staat ausgeglichen seien.561 Das Prinzip der Mehrheitsherrschaft wie auch der parlamentarische Prozess finden in diesem Zusammenhang insofern kaum eigene Würdigung. Deutlich wird vielmehr das Ziel, die Gesamtheit aller Bürger ohne Ausschluss von Minderheiten in den politischen Entscheidungsprozess zu integrieren. Dabei geht man davon aus, dass die Mehrheit allein die willkürliche Konsequenz von unbegrenzt ausgelebtem Individualinteresse sei, die die Minderheit unterdrücken würde. Indem aber vor allem das Ziel der ideellen Homogenität unterstrichen wird, findet der konkrete Weg dorthin kaum Beachtung. Durch die Betonung des Einen unterbleibt auch die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Verhältnis von Mehrheit und Minderheit im demokratischen Mehr-Parteien-System. In der Ganzheit, der geistigen Einheit finden sich dagegen alle gleichberechtigt ein. Insofern als die hier dargestellte Literatur beim Ideal des allgemeinen Willens als Voraussetzung für staatliches Handeln stehenbleibt und 557 558 559 560 561
Kersting, Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, S. 131. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, IV. Buch, 2. Kapitel, 1. Absatz. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 262. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 97. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 87.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
der Mehrheitsentscheidung daneben kaum Aufmerksamkeit schenkt, muss auch die Rolle der in der Mehrheitsherrschaft unterliegenden Minderheit nicht diskutiert werden. Im allgemeinen Willen gibt es keine Minderheit. Insofern muss sie auch nicht vor dem Gesetz der Mehrheit, etwa durch Grundrechte geschützt werden. Dementsprechend wird deutlich, dass die Verankerung im allgemeinen Willen auch über Konflikte zwischen Partikularinteressen hinweghilft. Durch dessen Höherrangigkeit verhalten sich nicht nur die individuellen Interessen selbst, sondern auch Auseinandersetzungen zwischen ihnen relativ zum allgemeinen Willen. Deshalb können Interessenkonflikte mit dem Hinweis auf den allgemeinen Willen entschieden werden. So überragt die sittliche Qualität des Einen (edinoe) letztlich das Verhältnis der Minderheit zur Mehrheit.562 Der allgemeine Wille hat insofern die Aufgabe, zwischen Mehrheit und Minderheit auszugleichen. Dabei relativiert der allgemeine Wille auch die Funktion des Rechts, zwischen den verschiedenen Interessen zu vermitteln. Die praktische Realisierung von ideeller Homogenität bleibt dabei offen. Schon Rousseau hält es nicht für realistisch, dass der individuelle Wille in jeder Frage mit dem Gemeinwillen übereinstimmt.563 In der russischen Rechtstheorie bleibt aber ungeklärt, wie die Inhalte des gemeinsamen Willens zu bestimmen sind, wenn sie nicht durch Diskurs und Auseinandersetzung auch im Rahmen von Parteien ermittelt werden. So entwickelt die Verfassung Mechanismen, staatliches Handeln zu legitimieren sowie einen einheitlichen staatlichen Willen zu formieren. Dabei wird die staatliche Entscheidungseinheit in der Demokratie gerade aus der Auseinandersetzung der verschiedenen Einzelmeinungen produziert. Demokratische und föderale Elemente transformieren gesellschaftliche Konflikte in staatliche Handlungsfähigkeit. So produziert der demokratische Staat einen einheitlichen Willen, ohne dass die politische Pluralität zerstört wird. Dabei lässt die von der staatlichen Gewalt umgesetzte Mehrheitsmeinung die Meinung der unterlegenen Minderheit neben sich bestehen. Das Recht schützt sie. Innerhalb ihres rechtlichen Schutzraumes geht die Minderheit somit nicht in der staatlichen Einheit auf, sondern bleibt in ihr eigenständig bestehen. Im Gegensatz zum demokratischen Zentralismus im Sowjetsystem behält die Minderheit in der freiheitlichen Demokratie ihren rechtsstaatlichen Schutz. Sie hat dabei sogar die Chance, selbst Mehrheit zu werden, ohne dass dies die Einheit des Staates gefährdet. Staatliche Einheit resultiert damit aus der Unterwerfung unter die gemeinsame Rechtsordnung, die den individuellen Freiheitsraum schützt. Staatliche Einheit und gesellschaftlicher Pluralismus sind danach, anders als angenommen, kein Widerspruch mehr. Die Vorstellung vom allgemeinen Willen als Voraussetzung für staatliches Handeln und für das Recht bleibt andersherum zu abstrakt, um konkrete demokratische Prozesse zu erfassen und zu beschreiben. In der russischen Rechtstheorie wird dies nur kaum diskutiert. Insofern trägt die idealistische Lehre von der Überwindung der Mehrheitsherrschaft durch den allgemeinen Willen zur praktischen Problematik kaum etwas bei, wenn man nicht davon ausgeht, dass 562 563
Levakin, Gosudarstvennoe edinstvo v Rossii, S. 24 f. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II. Buch, 1. Kapitel, 3. Absatz.
VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes
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hier eine Unterordnung der Individualinteressen unter ein wie auch immer zu bestimmendes allgemeines Interesse gewollt ist. Dabei ist auch hier festzustellen, dass die vom Ideal geleitete Gesamtbetrachtung die Rolle der Verfassung schwächt. e) Die Konkretisierung und Realisierung der gemeinsamen Idee als Aufgabe des Staates Gegenstand der Diskussion ist nicht nur, wieweit ein allgemeiner Wille notwendige Voraussetzung für das Gesetz ist. Vielmehr geht es auch darum, den gemeinsamen Willen des Volkes inhaltlich zu identifizieren und einen gemeinsamen staatlichen Wertekanon herauszuarbeiten. Dabei orientiert sich die Lehre weniger am tatsächlichen (Mehrheits-)Willen des Volkes als an der politischen Notwendigkeit des Gesamtstaates. Die gemeinsame Ideologie wird so zur Richtschnur und zur inhaltlichen Bestimmung von gesellschaftlichen Problemen. Anschaulich formuliert Levakin, wie der Mensch nicht ohne Ziele leben könne, käme der Staat nicht ohne Ideologie aus.564 Bei Ebzeev zeichnet sich die Ideologie dadurch aus, dass sie in der Lage ist, die russische Gesellschaft durch gemeinsame sittliche Ziele zu vereinigen und den Bürger gleichzeitig im Rahmen seiner Beteiligung am Staat sittlich zu orientieren. Vom Einzelnen wird verlangt, diesen gemeinsamen „staatlichen Willen der Gesellschaft“ zu erkennen.565 Soweit hier eine gemeinsame Ideologie objektiv ermittelt werden soll, der sich das Volk anzuschließen habe, wird das Volk wiederum zum Objekt staatlichen Handelns. Zur Frage der inhaltlichen Bestimmung des allgemeinen Willens herrschen unterschiedliche Auffassungen. Einerseits werden die Inhalte in der Verfassung verortet. So wird gesagt, dass jede Verfassung insofern eine „ideologische Funktion“ habe, als sie die gemeinsamen Werte festhalte.566 Grundsätzlich folgt auch Ebzeev dem Gedanken, dass zumindest die Verfassung den Inhalt der „Ideologie“ bestimmt und sagt insofern, der Mensch sei entsprechend der Verfassung höchster Wert (so Art. 2 Verf RF). Daneben gibt es jedoch Stimmen, die allgemein anerkannten Werte jenseits der Verfassung suchen. Indem Ebzeev P.B. Struve zitiert, der in der nationalen Idee den Ausgleich zwischen der Macht und dem zur Selbständigkeit erwachenden Volk sieht, wird deutlich, dass die nationale Idee auch heute für ihn Mittel der Orientierung in einer Umbruchszeit ist.567 Gleichzeitig ruft Ebzeev dazu auf, nicht bei der „abstrakten Idee der Rechte und Freiheiten des Menschen“ des Rechtsstaates stehen zu bleiben. So könne die Rechtsstaatsidee heute nicht alleiniger Wert sein. Dabei beruft er sich auf den Staatsrechtler Sˇersˇenevicˇ, der den Rechtsstaat allein als historische Folge des Polizeistaates, nicht aber als ultima ratio angesehen hatte. Insofern sei für Russ564 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost. S. 55, ähnlich auch Jakunin, Gosudarstvennaja ideologija u nacionalnaja ideja: Konstitucionnocennostnyj podchod, in: Gosudarstvo i pravo, 5/2007, S. 5. 565 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 71. 566 Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 142 f. 567 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 87.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
land der Rechtsstaat zwar nach wie vor Aufgabe, aber als „Idee von gestern“ nicht der einzige Wert. Stattdessen idealisiert Ebzeev die soziale Idee, mit der „private Interessen“ hinter den „allgemeinen“ zurückstehen müssen.568 Soweit der gemeinsame staatliche Wertekanon nicht der Verfassung zu entnehmen ist, muss er herausgearbeitet werden. Ebzeev begreift das Herausarbeiten von ideologischen Orientierungshilfen als staatliche Aufgabe.569 Andere sehen diese Aufgabe konkreter beim Präsidenten. So konstatiert Levakin zu Beginn von Putins Amtszeit, im gegenwärtigen Russland habe sich noch keine gemeinsame Idee durchsetzen können, entscheidend für die Suche nach einer gemeinsamen Ideologie seien die demokratischen Wahlen zum Präsidenten.570 Wieweit dem Präsident als Repräsentant des ganzen Volkes nach der Verfassung und nach Meinung der Literatur die Aufgabe und die Kompetenz zukommt, dem gemeinsamen Willen des ganzen Volkes Ausdruck zu verleihen, soll im Einzelnen das Kapitel über die Einheit staatlicher Macht darstellen. 2. Verfassungslage a) Art. 13 Verf RF In Bezug auf die Ideologie lässt der Wortlaut der Verfassung im Gegensatz zum Problem des Schutzes der territorialen Ganzheit oder zu dem einheitlichen System der staatlichen Macht kaum Fragen offen. So bekennt sich die Verfassung in Art. 13 I Verf RF zur ideologischen Vielfalt. Art. 13 II Verf RF legt darüber hinaus fest, dass es keine „staatliche“, bzw. „allgemein verpflichtende“ Ideologie geben darf. Dabei ist anerkannt, dass eine Meinungsvielfalt im Staat grundsätzlich der Individualität der Menschen entspricht. Durch den Schutz der Ideologienvielfalt im Staat wird die Interessenpluralität anerkannt und gewürdigt. Dabei wird die Meinungsvielfalt als Voraussetzung für die geistige Entwicklung wahrgenommen.571 Die Ideologienvielfalt wird dabei auch dem totalitären sowjetischen Staat mit der verpflichtenden marxistisch-leninistischen Ideologie gegenüber gestellt.572 Auch Ebzeev macht deutlich, dass die „führende Rolle der Partei“ nach Art. 6 der Verfassung der UdSSR von 1977 der Vergangenheit angehöre.573 Nicht nur die Vertreter der Ansicht, dass Russland eine allgemeine Ideologie bräuchte, argumentieren, dass es zwar keine verpflichtende Ideologie geben dürfe, die Verfassung aber nicht verletzt wäre, wenn sich das Volk freiwillig aus sich selbst heraus zu bestimmten Werten bekenne. So wird betont, trotz des Verbots einer ver568
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 89 f. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 87. 570 Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 64. 571 Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 22, Baglaj, Konstitucionne pravo Rossijskoj Federacii, S. 154 ff. 572 Baglaj, Konstitucionne pravo Rossijskoj Federacii, S. 157. 573 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 85 f. 569
VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes
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pflichtenden Ideologie könne ein Staat nicht ideologiefrei sein.574 Ebzeev geht davon aus, die Verfassung lege nicht fest, dass der Staat überhaupt keine Ideologie haben dürfe. Vielmehr könne, wie dargestellt, ein ideologiefreies politisches System nicht existieren, da der Staat die Grundlage für die Struktur der Gesellschaft bilde.575 Wenn auch jeder Mensch seiner eigenen Ideologie folgen darf, so muss der Staat ein Orientierungsmuster für die innere und äußere Ordnung zur Verfügung stellen.576 Nach dieser Auslegung wird Art. 13 Verf RF vor allem als Absage an die Ideologiepolitik der kommunistischen Partei in der Sowjetunion verstanden. Insgesamt hält man die gemeinsame Überzeugung des ganzen Volkes jedoch für eine Voraussetzung staatlichen Handelns. Eine radikale, deutlich slawophil inspirierte Meinung zur Ideologie als Verfassungsfrage vertrat Jakunin 2007 in der Zeitschrift „Gosudarstvo i pravo“. Er sieht das Ideologieverbot aus Art. 13 Verf RF im Widerspruch zur politischen Kultur Russlands. Jakunin interpretiert Art. 13 Verf RF als widersprüchliches Ergebnis einer übereilten Verfassungsgebung im Jahr 1993. Während er anführt, dass verschiedene russische Rechtstexte als Ergebnis einer Übersetzung aus dem Englischen entstanden wären, übersetzt er „gosudarstvennaja ideja“ als „national idea“ selbständig zurück ins Englische und kommt zu dem Ergebnis, dass die Verfassung mithin in Art. 13 Verf RF eine nationale Idee verbieten würde. Damit widerspreche die Vorschrift dem historisch-soziologischen Sein des Staates. So sei die nationale Idee in Russland traditionell elementarer Gedanke der Gesellschaft und des Staates. Durch die Übernahme einer entsprechenden „neoliberalen“ Vorschrift aus der westlichen Verfassungskultur würde die geistige und nationale Orientierungsfähigkeit des Staates übersehen. Insofern sei die Vorschrift eine Gefahr für die staatliche Ganzheit und die nationale Identität des Landes.577 Tatsächlich ist eine gemeinsame Überzeugung, wie sie auch Putin vorschlägt, nicht prinzipiell verfassungswidrig. Selbstverständlich widerspricht ein gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich bestimmter Werte nicht dem staatlichen Neutralitätsgebot. Vielmehr ist ein gemeinsamer Wertekanon, wenn er auch klein sein mag, ohne Zweifel Voraussetzung für staatliche Einheit. Letztlich kann es regierenden Parteien nicht verwehrt werden, ihre Wertevorstellungen und Ideen im Staat durchzusetzen. Wesentlich ist dabei allein, ob die politischen Vertreter bei der Umsetzung einer bestimmten Ideologie in ihrer staatlichen Funktion zu der Handlung berechtigt sind und ob diese im Einzelnen nicht den sonstigen Bestimmungen der Verfassung widerspricht.578 574
Baglaj, Konstitucionne pravo Rossijskoj Federacii, S. 156. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 86. 576 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 86. 577 Jakunin, Gosudarstvennaja ideologija u nacionalnaja ideja: Konstitucionno-cennostnyj podchod, in: Gosudarstvo i pravo, 5/2007, S. 5. 578 So in der russischen Literatur auch Baglaj, Konstitucionne pravo Rossijskoj Federacii, S. 158 f. 575
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
b) Die Verfassung als Dokument einer gemeinsamen „Ideologie“ Wenn es philosophisch-politisch auch richtig sein mag, staatliche Einheit auf einer gemeinsamen Werteentscheidung aufzubauen, so bleibt insgesamt fraglich, warum der Konsens nicht in der Verfassung verortet wird. Es ist auffällig, dass die Verfassung nicht allein als konstitutiver Akt verstanden wird, der die Grundlage für den Gesetzgebungsprozess schafft. Stattdessen sucht man eine gemeinsame Grundüberzeugung, die ihrerseits das politische System als Ganzes stabilisieren soll und damit aus ihrem eigenen Sein heraus Grundlage des Gesetzes wird. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Verfassung im bestehenden Verfassungsstaat die alleinige Legitimationsgrundlage von staatlichem Handeln ist. Die Verfassung ist selbst Ausdruck der einenden Idee, die alle verbindet und somit auch „geistige Ebene“ der staatlichen Einheit. Die Analyse der Diskussion um den allgemeinen Willen zeigt indes, dass sich die auf Immanuel Kant zurückzuführende Reduktion des allgemeinen Willens auf den (Verfassungs-)Vertrag579 in Russland nicht vollends durchgesetzt hat. Dabei ist nicht zu übersehen, dass eine Reduktion auf den reinen Vertrag eher dem freiheitlich-individualistischen Weltbild entspricht als die russische Fokussierung auf das dauerhaft Gemeinsame und gesellschaftlich Vereinende. Die Betonung der andauernden überindividuellen Synthese wird der freiheitlichen Demokratieidee kaum gerecht. Der Appell an den gemeinsamen Willen bringt stattdessen zum Ausdruck, dass von der einmaligen Niederlegung des gemeinsamen Willens in der Verfassung keine ausreichende Verpflichtung zur Einheit auszugehen scheint. Gleichzeitig scheint der staatliche Wille nur durch die vertragskonforme Herrschaftsausübung nicht ausreichend legitimiert, vielmehr scheint die Verfassung in Russland als Verpflichtung gegenüber dem einmal verkündeten gemeinsamen Willen als nicht erschöpfend angesehen zu werden. Man müsste in den 90er Jahren nicht den gemeinsamen Willen beschwören, den Gesamtstaat zusammenzuhalten, wenn man sich stattdessen auf die gemeinsame Verpflichtung zu staatlicher Einheit aus der Verfassung berufen würde. Die Verfassung wird hier nicht als ausreichender Verpflichtungsgrund für den Einzelnen hinsichtlich der gemeinsamen Idee angesehen. Die Bekräftigung des allgemeinen Willens ist unabhängig von der Verfassung nötig. Eine durch staatliche Macht verwirklichte ideelle Einheit der Gesellschaft ohne Grundlage in der Verfassung steht der Verfassung kontradiktorisch gegenüber. So soll die Verfassung gerade die gemeinsame Grundlage schaffen, die das gemeinsame Handeln ermöglicht. Kaum hilfreich ist dabei auch der Ansatz, die Funktion der Verfassung als Ausdruck der gesellschaftlichen Werteüberzeugung zwar grundsätzlich anzuerkennen, die russische Verfassung in ihrer gegenwärtigen Form indes als Manifestierung des tatsächlichen Willen des Volkes in Frage zu stellen. In diesem Sinne erkennt Jakunin in der Verfassung westliche oder überkommene kommunistische Werte, die der rus-
579 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, S. 269 ff., 282.
VI. Staatliche Einheit als gemeinsamer Wille des ganzen Volkes
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sischen nationalen Idee nicht entsprächen.580 Hilfreich erscheint dagegen, die gemeinsamen Werte normativieren zu wollen. Ohne nähere Ausführungen kann indes nicht nachvollzogen werden, was eine entsprechende Änderung für das Recht bewirken würde. Über die Inhalte der beschriebenen Werte kann nur gemutmaßt werden. Übrig bleibt insofern von diesem Ansatz allein die Kritik, die gegenwärtige Verfassung träfe die falschen Werteentscheidungen. Diese Frage kann indes allein der Verfassungsgeber beurteilen. 3. Fazit: Verfassung vs. Ideologie Die generell schwierige Verbindung des freien Willens des Einzelnen auf der einen Seite und der einheitlichen staatlichen Entscheidung auf der anderen wird in der russischen Theorie von Staat und Recht kaum Gegenstand der Diskussion. Die fehlende Auseinandersetzung darüber erstaunt insofern, als unter Präsident Putin, wie dargestellt, eine Politik deutlich wird, die vom Einzelnen fordert, seine eigenen Belange hinter denen des Staates zurückzustellen und sich stattdessen solidarisch gegenüber dem Gesamtstaat zu verhalten. Wenn diese Politik von der Rechtswissenschaft nicht als offener Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Verfassung angegriffen wird, dann liegt das zumindest auch daran, dass die Staatstheorie teilweise selbst ein Konzept verfolgt, wonach das sittlich verankerte, allgemeine Interesse des Gesamtstaates und nicht eine bloße Mehrheit von Einzelinteressen entscheidendes Legitimationskriterium staatlichen Handelns ist. Staatliches Handeln muss auch in der Theorie die Übereinstimmung mit dem Willen des ganzen Volkes anstreben. Nach dieser Vorstellung ist der Putinsche Ansatz nicht falsch. Gerade weil sich die russische Rechtstheorie nicht als unabhängig von der Verfassungslehre begreift, sondern als ihre Grundlage, muss angemerkt werden, dass dieser 580
In diesem Sinne hält er es für unvollkommen, die menschliche Freiheit zum höchsten Wert zu erklären (Art. 2 Verf RF), ohne eine Verankerung der Freiheit in der Sittlichkeit zu fordern. So sei die Freiheit zu Pornographie, Mord und Todschlag sicherlich nicht „höchster Wert“. Hier widerspreche die Verfassung der nationalen russischen Ideologie. Es fehlen ihm der Verweis auf die gemeinsame religiöse Überzeugung des Volkes und die russische Staatlichkeit (gosudarstvennost) als Werte in der Verfassung (Jakunin, Gosudarstvennaja ideologija u nacionalnaja ideja: Konstitucionno-cennostnyj podchod, Gosudarstvo i pravo, 5/2007, S. 7 f.). Gleichermaßen sieht er in dem Verfassungsbegriff „multinationales Volk“ einen Widerspruch zum politischen Sein und insofern ein überkommenes ideologisches Produkt der Sowjetunion. Während in der UdSSR der Anteil der russischen Bevölkerung allein bei 50 % gelegen habe, sei er nun in der Russischen Föderation bei über 80 %. Insofern müsse die Präambel heute eher die Formulierung vom „russischen Volk und von den anderen Völkern der Russischen Föderation“ verwenden (S. 8). Vor diesem Hintergrund schlägt Jakunin vor, die russische nationale Idee folgendermaßen in der Verfassung zu verankern: „Höchste Werte des Russländischen Staates sind die staatliche Souveränität Russlands, ihre im Laufe der Jahrhunderte entwickelten kulturellen, religiösen, traditionellen und geistigen Werte sowie die Rechte und Freiheiten des Menschen. Die Realisierung eines dieser Ziele zulasten eines anderen ist untersagt. Die Anerkennung, die Einhaltung und der Schutz dieser höchsten Werte des Russländischen Staates ist eine Verpflichtung des Staates.“ (S. 7).
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Ansatz der Verfassungslehre nicht hilft. Vielmehr vernebelt er ihre Inhalte. Während am Ideal des allgemeinen Willens festgehalten wird, ist insbesondere problematisch, dass die Idee der bloßen Mehrheitsentscheidung daneben kaum diskutiert wird. Dabei kommt zum Ausdruck, dass auch heute die gesellschaftliche Heterogenität als politische Faktizität nicht durchweg akzeptiert wird. Deutlich wird, dass sich die Lehre vor allem vom Gedanken geleitet sieht, die Gesamtheit aller Bürger ohne Ausschluss von Minderheiten in den politischen Entscheidungsprozess zu integrieren. Dabei orientiert man sich jedoch nicht primär an der Verfassung, sondern versucht, die gesellschaftliche Heterogenität mit dem ausdrücklichen Festhalten an der gemeinsamen Idee zu überbrücken. Insofern kann die Überbetonung des einheitlichen staatlichen Willens gar als Flucht aufgefasst werden, die Problematik der gesellschaftlichen Heterogenität nicht durch eine funktionierende ausgleichende Herrschaft des (Verfassungs-)Rechts lösen zu müssen. Da, wo der einheitliche Wille angestrebt wird, werden gesellschaftliche Mehrheiten überwunden und für gesellschaftliche Minderheiten besteht keine Gefahr mehr. Hier wird deutlich, dass das Allgemeine die Aufgabe des Rechts übernimmt, die Minderheit vor der Mehrheit zu schützen. Entscheidend ist insofern auch, dass der Inhalt des allgemeinen Willens nicht allein in der Verfassung verortet wird. Vielmehr wird die sittliche Qualität des Staates nach wie vor auch jenseits der Verfassung gesucht. Das staatliche Gesetz findet seine Legitimation nicht in der Verfassung, das Gesetz ist vielmehr allein abstrakt durch die volont gnrale legitimiert. Dabei wird kaum wahrgenommen, dass das gesamtstaatliche Interesse in Einzelfragen demokratisch schwer bestimmbar ist und es insofern allein schon am Effektivsten wäre, es über die Verfassung zu bestimmen. Dies gilt umso mehr, als der allgemeine Wille in Form einer allgemeinen Ideenlehre (ideologija) von Wissenschaft und Politik objektiv herausgearbeitet wird. Der Idee des Allgemeinwillens bzw. die Ideologie als die vom Staat vermittelte objektive Idee, impliziert insofern deutlich die Gefahr der unreflektierten Staatsloyalität. Gerade nach den Erfahrungen mit der kommunistischen Staatsideologie erscheint es bemerkenswert, dass auch heute wieder eine „Identität stiftende Staatsidee“ forciert wird, die das Volk „einen“ soll. Es zeigt sich auch hier wieder, dass der faktische Staatsbegriff und die interdisziplinäre Methode der Verfassung kaum nützen. Indem man davon ausgeht, dass der Staat Voraussetzung für das Recht ist, braucht man eine Entscheidungseinheit, die im faktischen Staat nicht vorgefunden werden kann. Nur insofern wird der allgemeine Wille konstruiert, um das Gesetz sowie staatliches Handeln generell zu legitimieren. Diesen allgemeinen Willen zu ermitteln, ist wiederum Aufgabe des Staates. Welches Organ dazu in welcher Form legitimiert wird, bleibt problematisch. Würde man die Entstehung des Gesetzes und die Legitimation staatlichen Handelns stattdessen anhand einer Verfassungsexegese ermitteln, blieben derartige theoretische Schwierigkeiten erspart: Hier ist das Gesetz Ergebnis einer Mehrheitsentscheidung. Gleichzeitig schützt die Verfassung die unterliegende Minderheit durch ihre Vertretung im Parlament sowie durch Freiheitsrechte und entsprechende Rechtsdurchsetzungsansprüche. Nicht garantieren kann die Verfassung indes die von der Literatur geforderte Ver-
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“
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ankerung des Gesetzes in der Moral. Hier bleibt aber zu fragen, ob es denn jenseits der Verfassung etwas gibt, was dies garantieren könnte. Die hier dargestellte russische Lehre findet es jedenfalls im allgemeinen Willen.
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“ (edinaja vlast) 1. Einheitliche Macht als sittlich gerechtfertigte Macht Unabhängig vom Verfassungstext ist in der russischen Staatsrechtsliteratur bis in die heutige Zeit eine deutliche Favorisierung von „einheitlicher“ gegenüber „geteilter“ Macht festzustellen. In diesem Sinne ist es in Russland verbreitet, das einheitliche System der Macht als ein moralisch richtiges System zu verstehen. Dabei verleiht gerade das Adjektiv „einheitlich“ dem Machtbegriff eine sittliche Rechtfertigung. Macht, die einheitlich ist, ist eine gute Macht. Gligicˇ-Solotareva erläutert den Begriff „einheitliche Macht“ im Rahmen einer umfassenden Analyse des Wesens der Einheit. Einheit stehe für Übereinstimmung, Einstimmigkeit, Solidarität, Einheit der Seelen (edinodusˇie), Frieden (mir), Einverständnis (soglasˇenie), Angemessenheit (sorazmernost), Einklang (sozvucˇie), Harmonie, Eintracht (lad), Symmetrie, Einmütigkeit (unison), Zustimmung (odobrenie), Ähnlichkeit (schodstvo), Abbild (podobie), Übereinstimmung (sootvestvie), Gleichheit, Identität (tosˇdestvo), Gemeinsamkeit, Nähe (blizost).581 Einheitliche Macht wird hier deutlich mit Konsens und Frieden gleichgesetzt. Dabei hat eine derartige Auslegung keine juristische Grundlage. Die Qualität von Macht wird allein aus dem Begriff „Einheit“ hergeleitet. Fraglich ist, inwieweit eine solche Auslegung Folgen für das Machtverständnis der Verfassung hat. Vor allem bleibt unbeachtet, dass ein dementsprechendes Verständnis des Begriffs „Einheit“ nicht zwingend ist. Grundsätzlich lässt der Begriff Einheit verschiedene Inhalte zu. Man muss Einheit nicht ausschließlich positiv verstehen. Einheit kann genauso eine bloß funktionale Zusammengehörigkeit ausdrücken. So lange der Einheitsbegriff nicht aus der Systematik der Verfassung erörtert wird, hängt die Argumentation juristisch im luftleeren Raum. Insgesamt wird aber deutlich, dass die Betonung der Einheit der Staatsgewalt von dem Wunsch getragen ist, Einstimmigkeit zwischen den einzelnen Organen der Staatsgewalt zu betonen. Avakjan umschreibt die Idee der Einheit staatlicher Macht als gemeinsames Wesen, als gemeinsame Form und als einheitliche Handlungsweise auf allen Ebenen staatlicher Macht, die von gegenseitiger Bindung, Hilfe, Disziplin und Subordination gekennzeichnet sei. In diesem Zusammenhang
581 Gligicˇ-Solotareva, Pravovye osnovy federalizma, S. 228, die Synonyme werden dort zitiert nach Abramov, Slovar russkich sinonimov i schodnych po smysly vyrazˇenij, http:// www.gramota.ru.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
schließt er innerhalb des einheitlichen Systems widersprüchliches Verhalten der Organe untereinander aus.582 2. Einheitliche Macht als historisch-politisch gerechtfertigte Macht: Die Einheit der staatlichen Macht als Garantie für staatliche Einheit Indessen zeigt sich, dass das Verständnis des Begriffs „einheitliche Macht“ im Sinne von Einstimmigkeit und Zusammenhalt auch heute noch in Teilen der Literatur eng mit der Vorstellung verbunden ist, einheitliche Macht sei deshalb die richtige Herrschaftsorganisationsform, weil historisch erwiesen sei, dass nur eine einheitlich zusammengesetzte Machtstruktur Russland zusammenhalten könne: „Die gesamte Periode der Entwicklung des Russischen Reiches ist ein Prozess der ,Sammlung, der Vereinigung des Landes durch eine zentrale Macht, der Festigung durch das einheitliche Zentrum und der Unterordnung unter die Macht des Zentrums. Die zentrale Macht in Russland war in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart integrative Kraft in der Russischen Föderation.“ Die zentrale Macht würde die Einheit und die territoriale Integrität des ganzen Staates sichern, schreibt Ebzeev.583 Dabei schließt er aus, dass die einheitliche Herrschaftsorganisation für Freiheitsbeschränkungen und Unterdrückung gestanden habe. Er geht vielmehr davon aus, dass das Russische Kaiserreich unter einheitlicher Macht entgegen der Darstellung der Bolschewiki kein „Gefängnis der Völker“, sondern Grundlage für ein selbständiges Leben der in Russland lebenden Ethnien gewesen sei.584 Immer wieder wird ganz allgemein Thomas Hobbes zitiert, der die Einheit der Macht als Voraussetzung eines starken Staates betrachtet habe.585 3. Staatliche Einheit als Aufgabe staatlicher Macht Nach Morozova ist einheitliche Macht insofern auch heute die Voraussetzung für das Funktionieren, das Bestehen und die „Realisierung“ des Staates.586 Wichtigste Eigenschaft der einheitlichen Macht sei ihr verbindender Charakter. Auch Belavina sieht im Prinzip der Einheit des Systems der staatlichen Macht eines der wichtigsten Charakteristika der Einheit des Staates.587 Kutafin schreibt in diesem Zusammen582
Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 340. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 5. 584 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 245. 585 Rachmetov, Gosudarstvennnaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 107, Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 36, Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 22. 586 Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 111. 587 Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecˇenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, S. 30. 583
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“
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hang, einheitliche Macht sei die Voraussetzung für den Schutz der staatlichen Ganzheit (celostnost).588 Die Wahrung der staatlichen Einheit ist dabei gemeinsame Aufgabe aller Organe staatlicher Gewalt. Dabei kommen den verschiedenen Gewalten unterschiedliche Aufgaben zu.589 Die Bewahrung der territorialen Ganzheit als wichtigste Aufgabe des Staates ist dabei auch unmittelbare Aufgabe der Gerichte.590 Dem sei das Verfassungsgericht u. a. durch die Urteile 7. 6. 2000 (Altaj-Urteil), 16. 1. 2004 (Tatarstan) nachgekommen.591 Die Föderale Versammlung der RF schütze schon aus der Natur ihrer Zusammensetzung den Zusammenhalt. Ihre Besonderheit innerhalb der drei Gewalten ergebe sich daraus, dass hier das ganze Volk vertreten sei. Die Föderale Versammlung vertrete insofern auch die Interessen aller Subjekte als Ganzes.592 Hier würden die föderalen und die ganzheitlichen Strukturen (federalnoe i territorialnoe nacˇalo) des Staatsaufbaus wieder zu einem Ganzen zusammengeführt.593 Die föderalen Parlamentsgesetze hätten von daher eine besondere Bedeutung.594 Innerhalb der drei klassischen Gewalten wird die Fähigkeit, die staatliche Einheit zu sichern, am Deutlichsten bei der exekutiven Gewalt gesehen. So ist die Exekutive nach Ebzeev unter den drei Gewalten überhaupt am ehesten „Gewalt“ (samaja vlastnaja).595 Sie festige nicht nur die Einheit des Staates, auch das einheitliche System der Macht würde durch das einheitliche System der Exekutive garantiert.596 Dabei würde die Bedeutung der ausführenden Gewalt zur Sicherung der Einheit des Staates noch wachsen. Die Festigung des Staates sei eng verbunden mit der Effektivität der Exekutive.597 4. Einheitliche Macht aufgrund einheitlicher Volkssouveränität Während man es historisch für erwiesen hält, dass eine einheitlich organisierte Staatsgewalt für den Zusammenhalt des Staates politisch notwendig sei,598 stellt 588
Kutafin, Konstitucii Rossijskoj Federacii, postatejnyj naucˇno-prakticˇeskij Kommentarij konstitucii, S. 31. 589 Vgl. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 245 – 304. 590 Safanov/Safanova, Rol sudov v mechanisme obespecˇenija celostnosti gosudarstva, in: Rossijskaja Justicija, 4/2005, S. 69 f, Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 284 ff. 591 Safanov/Safanova, Rol sudov v mechanisme obespecˇenija celostnosti gosudarstva, in: Rossijskaja Justicija, 4/2005, S. 71. 592 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 259, 263. 593 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 263. 594 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 257 ff. 595 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 273. 596 Kutafin, Konstitucii Rossijskoj Federacii, postatejnyj naucˇno-prakticˇeskij Kommentarij konstitucii, S. 31. 597 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 277. 598 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 245.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
sich die Frage, wie die Entscheidungseinheit in der Demokratie zu sichern ist. So steht in der Demokratie an der Stelle des einen Herrscherwillens grundsätzlich eine Vielzahl von Einzelwillen, die die Entscheidungseinheit zunächst einmal zerstören. Die Divergenz von notwendiger Entscheidungseinheit und faktischer Willensvielfalt wird von der Literatur, wie dargestellt, auch heute wieder durch den Rousseauschen Gedanken der Volkssouveränität überbrückt. Der gewaltenmonistische Absolutismus kehrt hier im demokratischen Gewande wieder. Der Gedanke der Volkssouveränität steht dabei nach der russischen Lehre nicht nur für die Herrschaft des Volkes als Gegensatz zur monarchischen Herrschaft, sondern auch für die Fähigkeit der zusammengewachsenen Gesellschaft, gemeinsam einheitliche Entscheidungen zu treffen: So wird die Volkssouveränität als Herrschaft des ganzen Volkes über das ganze Territorium charakterisiert (vgl. Artt. 3 I, 4 I Verf RF). Entscheidend ist, dass die Macht beim ganzen Volk liegt.599 Die Idee der Volkssouveränität ermöglicht es insofern, die unzähligen Einzelwillen der Bürger als Einheit zusammenzufassen. Die Herrschaft des ganzen Volkes sichert dabei, dass alle Einzelinteressen beachtet bleiben. Sie verbindet die verschiedenen Individualinteressen zu einer Entscheidungseinheit. Die Volksherrschaft vereinige alle Nationen (nacii) im Staat zu einem Ganzen. Erst als Teil des ganzen (Staats-)Volkes könne der Einzelne insofern am politischen Leben teilhaben. Deshalb stünde die Souveränität des ganzen Volkes (narod) auch über der Souveränität einzelner Nationen (nacii).600 Diese Kurzformel von der einheitlichen Herrschaft des Volkswillens über das ganze Territorium ermöglicht den einfachen Schluss, die Einheit der Macht sei durch den einheitlichen Willen des Volkes legitimiert. Da der Wille des Souveräns einheitlich ist, kann auch der Machtapparat einheitlich gestaltet sein. Weil das Volk einheitlich über das ganze Territorium herrscht, rechtfertige dies ein System staatlicher Macht, das einheitlich über das ganze Territorium herrsche. Indem das einheitliche System der Macht durch die einheitliche Herrschaft des Volkes legitimiert wird, vertritt auch das einheitliche System der Staatsgewalt als Gesamtheit alle im Staat vertretenen Einzelinteressen. Insofern wird das einheitliche System staatlicher Macht als Ausdruck der ausschließlichen und einheitlichen Souveränität des Volkes über das ganze Territorium beschrieben.601 Dadurch, dass die Macht die Gesamtheit des Volkes repräsentiere, würde gesichert, dass die verschiedenen Interessen im Staat zu einem Ganzen zusammengeführt werden. Levakin ist in diesem Sinne der Auffassung, dass allein einheitlich organisierte Macht die Einheit des Staates garantieren könne, weil sie die Interessen des ganzen Volkes repräsentiere und nur von daher in der Lage ist, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu regeln.602 Die Einheit der Macht sei heute wichtig, um den gemeinsamen Wil-
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Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 332 f. Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 340 ff. 601 Leksin, Konstitucionnoe znacˇenie ponjatija „edinaja sistema ispolnitelnoj vlasti“, in: Sravnitelnoe konstitucionnoe obozrenije, Nr. 1, 2006, S. 119. 602 Levakin, Osnovy gosudarstvennogo edinstva sovremennoj Rossii: problemy teorii. 600
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“
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len der Menschen effektiv durchzusetzen.603 Die öffentliche Macht bringe die Interessen des ganzen Volkes zum Ausdruck.604 Weil das einheitliche System der Staatsgewalt auf dem einheitlichen Volkswillen aufbaut, ruft Narutto zur Stärkung der einheitlichen Macht durch Einstimmigkeit und Solidarität in der Gesellschaft auf. Gesellschaftliche Solidarität sei wichtig, um die Einheit der staatlichen Gewalt zu stärken und damit die Effektivität des Staates zu sichern. In diesem Sinne begreift Narutto das Prinzip der Einheit staatlicher Macht als den „sozialen Aspekt“ von staatlicher Einheit: Nur gesellschaftliche Solidarität könne die Einheit des Staates sichern.605 Dazu zitiert Narutto den deutschen Staatsrechtler Josef Isensee.606 Dieser nennt gesellschaftliche Homogenität und Solidarität im Zusammenhang mit allgemeinen Grundrechtstheorien eine Voraussetzung für die Einheit des Staates und die Verfassung. Dabei ist der Verweis auf Isensee irreführend. Isensee geht es nicht darum, den Staat durch einen Aufruf zu gesellschaftlicher Solidarität stärken zu wollen. Gesellschaftliche Einheit ist hier stattdessen vor allem Grundrechtsvoraussetzung. Es geht Isensee um eine gemeinsame Grundüberzeugung im vorkonstitutionellen Zustand. Vorkonstitutionelle staatliche Einheit im Sinne von gesellschaftlicher Homogenität ist hier Bedingung für das Letztentscheidungsprimat des Staates. Kein Staat könne sich allein aus der Gewährung rechtsstaatlicher Freiheit konstituieren und erhalten, notwendig sei vielmehr ein einigendes Band, eine homogenitätsverbürgende Kraft, die der Freiheit vorausgehe und den Staat als politische Einheit erhalte.607 In diesem Sinne verweist er auf den Verfassungsvertrag, der den Konsens festhält. Nach der Verfassungsgebung, sagt Isensee, verblasse das solidarische Moment angesichts der Ausdifferenzierung in grundrechtsgebundene Staatsgewalt und offene Gesellschaft. Bestehen bleibe allein der andauernde Konsens in Form der Solidargemeinschaft, wenn es beispielsweise darum geht, im Sozialstaat Leistungen zu transferieren.608 Darüber hinaus konkretisiert sich der gesellschaftliche Konsens bei Isensee auf die Grundrechte und die Sozialstaatsklausel. Keinesfalls kann diesen Ausführungen der Schluss entnommen werden, dass gegenüber der staatlichen Macht „unsolidarische“ Positionen die Legitimation verlören, wie die Darstellung bei Narutto suggeriert. Wenn die Solidargemeinschaft auch bei Isensee der Verfassung vorangeht, so bilden die Grund-
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Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 56, Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 111. 604 Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 333. 605 Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvennoj pravovoj sistemy Rossii, S. 123, wobei einheitliche Macht und staatliche Einheit vermischt werden. 606 Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvennoj pravovoj sistemy Rossii, S. 123. 607 Böckenförde, zitiert nach Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR V, 2000, § 115, Rn. 105. 608 Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR V, § 115, 2000, Rn. 108, 107.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
rechte nach der Verfassungsgebung die innere Struktur des Gemeinwesens.609 Während Narutto Solidarität mit der einheitlichen Macht als Voraussetzung für den starken einheitlichen Staat fordert, konstatiert Isensee gesellschaftliche Solidarität als Verfassungsvoraussetzung. Dabei bleiben hier die Aussagen über gesellschaftliche Homogenität und Solidarität als Voraussetzung für den Staat oder die Verfassung ohne juristisches Ergebnis.610 Es werden soziale Voraussetzungen beschrieben, die ohne Erklärungsgehalt für die Inhalte des Systems der staatlichen Gewalt bleiben. Dass die Gesellschaft nicht allein von rechtlichen Institutionen zusammengehalten wird, bleibt für die Normauslegung ohne Bedeutung. Bei Narutto dagegen werden diese Aspekte mit der Normauslegung verbunden. Die Aussage der Verfassung, staatliche Gewalt beruhe auf dem einheitlichen Willen des Volkes, wird hier zu einem Appell zu mehr Staatsloyalität. Grundrechtsaspekte werden in diesem Zusammenhang allerdings nicht diskutiert. 5. Einheitliche staatliche Macht als ausschließliche Macht Die Begriffe „Einheit der Macht“, „einheitliche Gewalt“ bzw. „einheitliches System der Staatsgewalt“ stehen nach Auffassung der russischen Literatur auch für die Ausschließlichkeit der verfassungsmäßigen Macht.611 Nach Narutto ist mit dem Begriff „Einheit des Systems der staatlichen Macht“ die ausschließliche Macht der staatlich legitimierten Organe gemeint.612 In diesem Sinne beruft man sich auf Art. 3 IV Verf RF, der festhält, dass sich niemand die Macht in der RF aneignen darf. In der Kommentarliteratur heißt es über Art. 3 IV Verf RF, dass der Wille des Volkes gegen unberechtigter Beeinträchtigung zu schützen sei. Die Zielrichtung des Artikels ist der Schutz vor Totalitarismus durch einen Staatsstreich.613 Hier ist die Einheit begrifflich Ausschlussgrund für die politische Macht von nicht-staatlichen Akteuren. In diesem Sinne wird die einheitliche Macht bis heute durch ihre Absolutheit innerhalb des gesamtstaatlichen Territoriums (celostnost) charakterisiert.614 Der absolute Charakter der Staatsgewalt wird dabei aus der Absolutheit der Volksherrschaft hergeleitet. Insofern als die Volkssouveränität die einheitliche 609 Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR V, § 115, 2000, Rn. 107. 610 So umfangreich Möllers in Bezug auf die u. a. von Josef Isensee vertretene Lehre von der staatlichen Einheit als Verfassungsvoraussetzung. Nach Möllers ist die Lehre heute in Deutschland vor allem zur Abgrenzung wissenschaftlicher Lager relevant. Während die Lehre von der vorausgesetzten Einheit in der Tradition Carl Schmitts angesiedelt ist (Völkische Homogenität als Voraussetzung für die Durchsetzungsfähigkeit des Staates) grenze sich diese von der Lehre der „aufgegebenen“ Einheit im Sinne Rudolf Smends ab (Möllers, Staat als Argument, S. 231, 234, 254, 430). 611 Rachmetov, Gosudarstvennnaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 107. 612 Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvennoj pravovoj sistemy Rossii, S. 122. 613 Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 111. 614 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 245.
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“
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Herrschaft des ganzen Volkes über das ganze Staatgebiet ausdrückt, ist das einheitliche System der Macht Ausdruck der einheitlichen Souveränität und der Ganzheit des Staates.615 In diesem Sinne sieht man in der einheitlichen Macht die Gesamtheit der Gewalten, die „effektiv zum Funktionieren des staatlichen Organismus“ beitragen. Dabei umschreibt einheitliche Macht auch die Gesamtheit aller Kompetenzen. Aufgrund der daraus erwachsenden Absolutheit begreift man die Einheit des Systems der staatlichen Macht letztlich gar als „Gesamtheit der Politik“.616 Wie nach der Lehre von der Einheit von Volk und Zar sowie der sowjetischen Volkssouveränität soll die Absolutheit der die Bevölkerung vertretenden Herrschaftsgewalt auch dazu dienen, das Volk gegenüber Partikularinteressen zu verteidigen. 6. Einheitliche Macht als Höherrangigkeit der föderalen Macht Das Argument der Absolutheit der Volksherrschaft als Grundlage staatlicher Macht wird auch gebraucht, um auszudrücken, dass die Macht des ganzen Staats, den „Partikularmächten“ in den russischen Regionen vorangehe. Wenn die Macht grundsätzlich auf der Herrschaft des ganzen Volkes beruhe, müsse die Macht des Zentrums über das ganze Territorium höherrangig als die politische Macht der Subjekte sein. Nach Avakjan kennzeichnet die Einheit der staatlichen Macht gegenseitige Bindung, Hilfe, Disziplin, Subordination sowie der Ausschluss widersprüchlichen Verhaltens der Organe staatlicher Macht untereinander.617 Dementsprechend sei das einheitliches System der Macht hierarchisch.618 Im heutigen Russland sei die Vertikale der Macht (vertikal vlasti) an die Stelle des einen Herrschers getreten. Darunter wird ein Subordinationsverhältnis verstanden, das mit dem Präsidenten an der Spitze über die staatliche Macht in den Subjekten bis hinunter in die unteren Verwaltungseinrichtungen reicht.619 Deutlich wird auch hier, dass das Prinzip der Einheit der staatlichen Macht von dem Gedanken der notwendig zu sichernden Entscheidungseinheit getragen wird. 7. Verfassungslage: Einheit des Systems der staatlichen Macht vs. Gewaltenteilung Die Ausführungen in der Literatur zur Bedeutung der Einheit des Systems staatlicher Macht bleiben großenteils theoretisch und vollziehen sich unabhängig von der Systematik der Verfassung. Auf die Frage nach der Übereinstimmung mit der Verfas-
615
Rachmetov, Gosudarstvennnaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 107. Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvennoj pravovoj sistemy Rossii, S. 124. 617 Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 340. 618 Kocˇkarov, Konstitucionnye osnovy suvereniteta narodov i nacij i edinstvo Rossijskoj gosudarstvennosti, S. 68. 619 Gligicˇ-Solotareva, Pravovye osnovy federalizma, S. 228. 616
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
sung verweist man lapidar auf Art. 5 III Verf RF.620 Dort heißt es, der föderale Staatsaufbau beruhe u. a. auf der „Einheit des Systems der staatlichen Gewalt“. Während die Verfassung diese Aussage durch andere Normen sowie das Föderalismus- und das Gewaltenteilungsprinzip konkretisiert, wird die Gewaltenteilungsidee in der Literatur aufgrund der Betonung der Ganzheit von staatlicher Gewalt zu schwach beleuchtet. Insofern gilt es, Art. 5 III Verf RF im Gesamtzusammenhang der Verfassung näher zu betrachten. a) Auslegung über den marxistisch-leninistischen Systembegriff Die Auslegung von Art. 5 III Verf RF, wonach der föderale Aufbau auf der Einheit des „Systems staatlicher Macht“ beruht, setzt heute teilweise bei einer umfassenden Untersuchung des Begriffs „System“ an.621 Für die Auslegung von Art. 5 III Verf RF ist der Systembegriff indes ein Stolperstein: Es ist ohne Zweifel anzunehmen, dass der Terminus „Einheit des Systems der staatlichen Macht“ auf die sowjetische Staatslehre zurückgeht. Schon in der letzten Verfassung der UdSSR von 1977 regelte Art. 89, dass die Sowjets auf allen staatlichen Ebenen „ein einheitliches System der Organe der Staatsgewalt bilden“. Diesen Begriff scheint man in der Verfassung der RF übernommen zu haben, ohne dass auf den ersten Blick klar wird, ob dem Systembegriff auch heute noch dieselbe Bedeutung zukommen soll wie in der sowjetischen Rechtslehre. Der sowjetische Systembegriff gehört zu den politischen Kernideen des Marxismus-Leninismus und war Gegenstand umfangreicher Untersuchungen. Entscheidend ist, dass das System in der sowjetischen Vorstellung nicht bloßes Ergebnis von zueinander in Beziehung gesetzten subjektiven Teilen ist, sondern vom Ziel eines effektiven dynamischen Zusammenwirkens her betrachtet wird. Schwerpunkt dieser Definitionen ist entsprechend der Idee der Einheit der Gegensätze nicht die Charakterisierung und das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander, sondern die Vereinigung im Ganzen. So ist der Systembegriff an Hegel orientiert622 die Umschreibung der marxistisch-leninistischen Vorstellung von der Bestimmung des Teils durch das Ganze. Der Systembegriff zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er Gesamtheit umschreibt. Die verschiedenen Definitionsvorschläge betonen die gegenseitige Verbindung der verschiedenen Teile zu einer Einheit sowie die Abgrenzbarkeit nach außen. So heißt es bei A. G. Spirkin: „Das System ist eine ganzheitliche Gesamtheit von Elementen, in der alle Elemente so eng verbunden sind, dass sie im Verhältnis zu den umgebenden Bedingungen und den anderen Systemen als ein einheitliches Sys-
620 ˇ irkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 296, Avakjan, Konstitucionnoe pravo U.a. C Rossii, Band 2, S. 103. 621 Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvenno-pravovoj sistemy Rossii, in Bezug auf die Exekutive: Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 273. 622 „Der Begriff des Ganzen ist der, Theile zu enthalten; wird dann aber das Ganze als das gesetzt, was es seinem Begriff nach ist, wird es getheilt, so hört es damit auf ein Ganzes zu seyn“ (Hegel, Sämtliche Werke, Band 8, S. 305 f.).
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“
325
tem auftreten.“623 Kerimov charakterisiert das Rechtssystem als „objektive Vereinigung (Verbindung) bestimmter rechtlicher Teile nach inhaltlichen Merkmalen zu einer strukturell geordneten ganzheitlichen Einheit, die über relative Selbständigkeit, Stabilität und ein relativ autonomes Funktionieren verfügt.“624 V. S. Tjuchin bringt die verschiedenen sowjetischen und ausländischen Ansätze zu folgender Definition zusammen: „Das System ist eine Vielzahl miteinander verbundener Elemente (beliebiger Natur), die in dieser oder jener Form nach bestimmten Eigenschaften und Beziehungen geordnet sind, über eine relativ stabile Einheit verfügen, und durch innere Ganzheitlichkeit charakterisiert werden, was sich in einer relativen Autonomie des Verhaltens und (oder) der Existenz dieser Vielfalt im umgebenden Milieu ausdrückt.“625 Für die Wissenschaft hatte dies zur Folge, dass sie sich einem Problem nur aus der systematischen Betrachtung nähern konnte, da sie, konzentrierte sie sich auf einzelne Organe, wesentliche Charakteristika übersehen musste. In der Auslegung von Art. 5 III Verf RF werden diese System-Definitionen heute aufgegriffen. Die Einheit des Systems der staatlichen Macht umschreibe nicht nur die Gesamtheit seiner Organe, sondern eine darüber hinausgehende Qualität. Nach Belavina entsteht zwischen den Elementen des Systems eine spezifische Beziehung. Das System kennzeichne eigene „integrierende Eigenschaften“, die bei einer Betrachtung der Einzelteile nicht zu sehen seien.626 Das System kommt bei Narutto nicht ohne gemeinsames Ziel aus, zu dessen Umsetzung es zusammenhält. Ziel des Systems der einheitlichen Macht sei die Stabilität und Weiterentwicklung des Staates,627 eine optimale Aufgabenverteilung, die Sicherung der Ganzheit, die Garantie der Rechte und die Effektivität der Macht.628 Der Staatsapparat umfasse alle Erscheinungsformen und Mittel der Macht, ihre Prinzipien und Mechanismen und Handlungsweisen der Organe der Staatsgewalt.629 Die Wendung „System der staatlichen Macht“ drückt nach Rachmetov nicht nur die Gesamtheit aller Organe der staatlichen Macht aus, vielmehr geht er davon aus, dass das „System“ dem Staat die Dynamik verleiht, um die Gesellschaft zu orientieren und sie so zu stabilisieren.630 b) Sowjetischer Systembegriff und Gewaltenteilungsidee Fraglich ist allerdings, welche Bedeutung der Vorstellung vom System der einheitlichen Macht heute noch zukommen kann, wenn in der Verfassung die vertikale und Spirkin, Kurs marksistkoj filosofii, S. 161, dt. Übersetzung in: Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, S. 202. 624 Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, S. 203. 625 Tjuchin, in: Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, S. 203. 626 Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, S. 40. 627 Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvenno-pravovoj sistemy Rossii, S. 334. 628 Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvenno-pravovoj sistemy Rossii, S. 33. 629 Narutto, Federalizm i edinstvo gosudarstvenno-pravovoj sistemy Rossii, S. 120. 630 Rachmetov, Gosudarstvennnaja celostnost kak obekt konstitucionnoj zasˇcˇity, S. 108. 623
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
die horizontale Gewaltenteilung statuiert werden.631 So hat die russische Verfassung zwar den sowjetischen Terminus vom System der staatlichen Macht übernommen, gleichzeitig aber auch die westliche Gewaltenteilungslehre. Unklar ist insofern, wie sich der dargestellte Ansatz auf die Gewaltenteilungsidee auswirkt, da beide Ideen unterschiedliche Ausgangspunkte haben. Die Grundidee der Gewaltenteilung geht in eine andere Richtung als Disziplin, Subordination und gegenseitige Bindung. Die Organe der Staatsgewalt werden nach der Gewaltenteilungslehre nicht durch das Ganze, sondern allein durch ihre eigene Funktion bestimmt. Die Gewaltenteilungsidee will gerade nicht eine Gesamtheit konstruieren, sondern die Gesamtheit staatlicher Macht aufbrechen. Dabei liegt der Sinn nicht allein in der Isolierung der Funktionen, sondern darin, dass Legislative, Exekutive und Judikative sich gegenseitig ergänzen, kontrollieren und begrenzen, damit die Staatsgewalt gehemmt.632 Die Machtteilung ist dabei nicht Selbstzweck sondern Bändigung der staatlichen Macht zur Freiheitssicherung. Ausgangsidee ist die Annahme, die Bündelung der Macht führe zu Missbrauch. Ziel ist es insofern, die Staatsgewalt durch gegenseitige Hemmung zu mäßigen. Insofern ist die Gewaltenteilungsidee vor allem vom Ziel geleitet, den Freiheitsraum des Einzelnen gegen eine übermächtige staatliche Gewalt zu schützen. Dies soll durch eine Pluralisierung der Entscheidungszentren durchgesetzt werden. Insofern sollen die verschieden Funktionen des Staates durch voneinander unabhängige Organe wahrgenommen werden. Die verschiedenen Interessen oder Funktionen sollen nicht in der Entscheidungsgewalt eines einzelnen absolut regierenden Organs liegen, sondern von unterschiedlichen unabhängigen Teilorganen selbständig entschieden werden. Ihre Bedeutung gewinnen die Organe insofern aus ihrer Funktion. Um sich wirksam hemmen zu können, sind die verschiedenen Gewalten mit Rechten ausgestattet, die es ihnen erlauben, ihre Kompetenzen auch durchzusetzen. Die Gewaltenkontrolle bietet neben der klassischen Teilung in Legislative, Judikative und Exekutive die vertikale Machtverteilung in Form des Föderalismusprinzips. Einheit entsteht dabei allein aus der Summe der Interessen und Funktionen. Nach dem sowjetischen Systemverständnis erhalten die einzelnen Organe dagegen, wie dargestellt, erst als gesamtes System der Staatsmacht ihre Qualität. Insofern können einzelne Teilgewalten nur soweit eigene Rechte erhalten, als gesichert ist, dass das Ganze effektiv gestaltet bleibt. Im Rahmen des sowjetischen Systems einheitlicher Macht werden Kompetenzabgrenzungen deshalb nicht als Rechtsgrundlage für staatliches Handeln begriffen, sondern als Aufgabe innerhalb des gesamten (staatlich-gesellschaftlichen) Systems. Indem es bei dieser Systemvorstellung vor allem darum geht, dass das System als Ganzes funktioniert, ist Kompetenz hier nicht rechtliches Können, sondern gesellschaftliches Müssen. Gewaltenteilung ist daher Aufgabenverteilung. Da in diesem System Partikularrechte nie stärker als 631
Nach Art. 10 Verf RF teilt sich die staatliche Macht in eine gesetzgebende, eine ausführende und eine rechtsprechende Gewalt. Darüber hinaus besteht nach der Verfassung eine föderale Ordnung, in der grundsätzlich unmittelbare staatliche Macht auf zwei Ebenen unabhängig voneinander angesiedelt ist. 632 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 13.III.1.
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“
327
die gemeinsame Aufgabe sein können, kann Gewaltenteilung auch nicht beschränken und Rechtspositionen schützen, sondern nur ein Prinzip der Obliegenheitenverteilung sein. Da man nicht von den einzelnen subjektiven Rechtspositionen ausgeht, sondern vom Funktionieren als Ganzes, muss die (hemmende) Gewaltenteilungsidee nach westlichem Verständnis als Hindernis für das Funktionieren des sowjetischen Systems gesehen werden. Wenn man davon ausgeht, dass der sowjetische Systembegriff und die Gewaltenteilungsidee im Sinne ihrer ursprünglichen Ziele inkompatibel sind, muss sich eine der beiden Ideen bei der Verfassungsauslegung durchsetzen. Ein Blick in die Verfassung spricht für die Gewaltenteilungsidee: Es fragt sich, welchen Sinn es macht, die Rechtsideen Föderalismus und Gewalteilung ausdrücklich in der Verfassung niederzulegen, wenn letztlich allein gesichert werden sollte, dass alle Organe staatlicher Macht als System zusammenwirken. Da, wo allein die Effektivität des Gesamtsystems das Ziel ist, wäre es überflüssig, die Gewaltenteilungsidee in die Verfassung aufzunehmen. Letztlich spricht schon die Niederlegung des Rechtsstaatsgedankens in Art. 1 Verf RF für die Durchsetzung der Gewaltenteilungsidee. Versteht man die Gewaltenteilungsidee nun in ihrem ursprünglichen Gedanken, bleibt für den sowjetischen Systembegriff kaum Raum. Das einheitliche System staatlicher Macht kann danach nur ein funktionales Zusammenwirken der verschiedenen unabhängigen und selbständigen Staatsorgane ausdrücken. c) Die russische Gewaltenteilungsdogmatik Dass der sowjetische Systembegriff trotzdem heute noch Bedeutung hat, liegt auch an der russischen Interpretation des Gewaltenteilungsprinzips. Die Literatur begegnet der „schrankenlosen“ Gewaltenteilung teilweise auch heute mit großer Skepsis. Mit der Idee der Gewaltenteilung wird die Angst verbunden, die verschiedenen Gewalten könnten sich zu stark hemmen, so dass der Staat nicht mehr handlungsfähig wäre. Ohne selbst Stellung zu nehmen, zählt O. G. Morozova umfangreich historische Kritik am Gewaltenteilungsprinzip auf. Tenor der Kritik ist dabei die Missbrauchsgefahr durch unabhängige Gewalten, die dazu führe, dass die Gesellschaft gegeneinander ausgespielt würde und künstlich Konflikte aufgebaut würden.633 Insofern kommt sie zu dem Ergebnis, Montesquieu könne das Prinzip gar nicht absolut gemeint haben, vielmehr könne es immer nur darum gegangen sein, ein System zu schaffen, in dem sich die verschiedenen Gewalten gegenseitig stützen.634 Ziel sei also in jeder Hinsicht, eine einheitliche Macht zu schaffen, die allein für sie eine stabile Gewalt ist.635 Die Einheit der staatlichen Macht sei insofern die wichtigste Idee der Gewaltenteilung.636 633 634 635 636
Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 20 ff. Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 32. Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 61. Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 76.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Indem immer wieder geschrieben wird, dass sich einheitliche Staatsgewalt auf die Gesamtheit des Volkes zurückführen lasse, wird deutlich gemacht, dass nur einheitliche Gewalt den Willen des Volkes ausführen könne. Dieser Wille dürfe nicht künstlich gespalten werden. Wenn die Gewalten auch selbständig handelten, dürften sie niemals isoliert stehen.637 Andere gehen davon aus, dass es überhaupt nur eine Staatsgewalt gibt, wobei den einzelnen Organen und Subjekten im Rahmen der Verfassung Kompetenzen zugesprochen werden.638 Immer wieder wird eingewandt, dass die Gewaltenteilung allein eine Aufteilung der grundsätzlich einheitlichen staatlichen Macht des Volkes sei. Dabei wird die Gewaltenteilung als effektives Prinzip begriffen, Aufgaben des Staates zu verteilen. Die Gewaltenteilung ist insofern nicht Rechtsidee, sondern allein Organisationsprinzip (princip organizacii).639 Nach Baglaj beinhaltet sie die Verteilung von Kompetenzen an die staatlichen Organe unter Sicherung des Prinzips der Einheit staatlicher Macht.640 Die Aufgabe der verschiedenen Vertreter staatlicher Macht ist es dabei, nicht gegeneinander, sondern zusammen zu arbeiten, was durch die Betonung des einheitlichen Systems der staatlichen Macht unterstrichen würde. Die Einheit der Staatsgewalt solle zwar nicht als Diktat der föderalen Organe gegenüber den Subjekten verstanden werden, aber immerhin als Aufruf zu gegenseitiger Hilfe hinsichtlich der gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben.641 Bei der konkreten Aufgabenverteilung herrschen unterschiedliche Vorstellungen. Avakjan legt dar, dass es über die drei klassischen Gewalten hinaus noch weitere Gewalten gäbe, wie die „präsidentielle“, die Macht der Staatsanwaltschaft (prokurorskaja vlast), die Macht der Wahlkommissionen, die Macht der Bank (finansovo-bankovskaja vlast), die Macht des Volkes (bei Referenden) sowie die verfassungsgebende Macht und die kontrollierende Gewalt (Verwaltungseinheiten zur Konˇ irkin die Annahtrolle von Natur, Atomanlagen etc.).642 Grundlegend anders vertritt C me, dass die Gewaltenteilung in Russland sich darauf beschränke, dass es auf beiden Ebenen Parlamente sowie auf der föderalen wie auch auf Subjektebene Organe der Exekutive gäbe.643 Es wird deutlich, dass es auf die Konkretisierung der einzelnen Organe auch gar nicht ankommt, entscheidend ist allein, die verschiedenen Gewalten letztlich wieder als Ganzheit zusammenzuführen.644 Es geht in erster Linie darum, Aufgaben zu verteilen, nicht aber darum, durch die Trennung in selbständige „kleinere“ Gewalten die Staatsgewalt zu hemmen. Dabei soll nicht bestritten werden, dass die Unabhängigkeit der Gewalten sicherlich eine erhebliche Missbrauchsgefahr birgt. Auch können weder Gewaltenteilungs637 638 639 640 641 642 643 644
Cˇirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 296. Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 12 f. Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 18. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 137. Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 40. Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossii, Band 1, S. 355 f. Cˇirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 295. Annenkova, Konstitucionno-pravovye instituty edinstva Rossijskogo gosudarstva, S. 39.
VII. Rechtstheoretische Grundlagen des Begriffs „einheitliche Macht“
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noch Rechtsstaatsprinzip ohne Restgefahr ausschließen, dass die letztentscheidende Gewalt ihre Macht im eigenen Interesse ausnutzt. Letztlich kann man die Gewaltenteilungsidee in der Demokratie für überflüssig halten, weil sie nicht mehr, wie ursprünglich bei Montesquieu gedacht, dazu dient, die Unabhängigkeit des sich durch das Parlament äußernden Volkswillens gegenüber dem Monarchen zu sichern. Man kann insofern wie Rousseau oder die Vertreter des Marxismus-Leninismus645 annehmen, dass die Gewaltenteilung in der Demokratie die absolute Gewalt des Volkes verwässert.646 Aber auch in der Demokratie hat das Gewaltenteilungsprinzip seine Begründung. Nicht zuletzt die Erfahrung mit totalitären Systemen im 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass auch bei frei gewählten Staatsorganen eine Missbrauchsgefahr besteht. Da wo das eine Organe Gesetze macht, die ein anderes Organ zum Handeln verpflichten, sind Konkurrenzstreitigkeiten systemimmanent. Will man verhindern, dass nicht ein Organ übermächtig wird, muss man auch in der Demokratie dafür sorgen, dass sich die Organe gegenseitig begrenzen und kontrollieren. Die Missbrauchsgefahr ist geringer als von der russischen Lehre angenommen. So garantiert die Durchsetzung des Rechts, dass jede Gewalt nur in ihrem gesetzlichen Rahmen handelt. Zwar ist auch hier eine letzte Sicherheit nicht gegeben, allerdings ist die Missbrauchsgefahr in einem System von sich gegenseitig hemmenden Gewalten deutlich niedriger als in einem System, in dem die Macht von einem Organ ausgeht. Wie bereits im Zusammenhang mit dem einheitlichen Willen dargestellt wurde, ist die Volksherrschaft inhaltlich auch kein Widerspruch zu Gewaltenteilung. Wenn Rousseau darstellen wollte, dass das Volk wie der Monarch zu einer einheitlichen Entscheidung fähig ist, so bedeutet dies nicht, dass sich der Volkswille nur in einem monistischen Herrschaftssystem äußern kann. Stattdessen ist zwischen der ursprünglichen Gewalt des Volkes (pouvoir constituant) und den Organen staatlicher Gewalt (pouvoir constitu) strikt zu trennen.647 Während das Volk die verfassungsgebende Gewalt ausübt, üben die Organe staatlicher Gewalt ihre Macht nach den von der Verfassung konstituierten Kompetenzen aus. Ansatzpunkt für die Unterscheidung ist die Verfassung. Mit der Verfassung wählt das Volk als Ganzes den ihm angemessen erscheinenden Aufbau des Systems der staatlichen Gewalt. Die Ganzheit der Macht ist so vor allem Charakteristikum der verfassungsgebenden Gewalt. Dabei kommt die Macht zwar ursprünglich aus dem Ganzen, die Organe staatlicher Macht müssen sich aber allein durch die Verfassung rechtfertigen und nicht mit dem allgemeinen Willen.648 In der Verfassung kann sich das Volk für eine Pluralisierung von Machtzentren entscheiden. Insofern kann die Synthese von Gewaltenteilung und Volksouveränität als Grundidee des Verfassungsstaates bezeichnet werden. Dieser von Abb Sieys entwickelte Gedanke führt in Westeuropa zu einer Abkehr von der Idee des 645 646 647 648
Vgl. Kap. B.III. Vgl. Kelsen, Staat und Sozialismus, S. 151 f. Stern, Staatsrecht, Band II, S. 529. Sieys, Was ist der vierte Stand? in: Politica, Politische Schriften, S. 165 ff.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
allgegenwärtigen Rousseauschen Volkswillens.649 Auf der Grundlage der Verfassung können Mehrheitsentscheidungen richtig sein, weil auch die Minderheit durch die Verfassung Schutz findet. Der andauernde Konsens des Volks als Legitimation (einheitlicher) Staatsgewalt wird dabei durch die Verfassung überflüssig. In der russischen Staatslehre wird jedoch in unterschiedlichem Zusammenhang die Tendenz deutlich, die Legitimation für staatliches Handeln stattdessen direkt aus der einheitlichen Volksherrschaft herzuleiten und dabei die verfassungsmäßige Ausgestaltung des Systems der Staatsgewalt zu übergehen. So wird hier zwar anerkannt, dass alle staatliche Gewalt auf die ursprüngliche Gewalt des Volkes zurückzuführen ist. Unbeachtet bleibt jedoch, dass der konkrete Aufbau allein der vom Volk gegebenen Verfassung zu entnehmen ist. 8. Ergebnis Aus dem Gesamtzusammenhang wird deutlich, dass die Analyse des Systems staatlicher Macht stark von der Vorstellung geprägt wird, die Organe der Staatsgewalt müssten in erster Linie den Zusammenhalt des Staates garantieren. Dabei herrscht die Auffassung, dass die Einheit des Staates am Effektivsten durch eine „einheitliche“ Entscheidungsstruktur gesichert werden könne. Eine Diversifizierung von politischen Entscheidungszentren wird als Gefahr für den Fortbestand des Staates wahrgenommen. Die einheitliche Entscheidungsstruktur sucht man mit der einheitlichen Souveränität des Volkes als Quelle staatlicher Gewalt zu legitimieren. Wie das Volk einheitlich über das ganze Territorium herrsche, müsse auch die staatliche Gewalt einheitlich über das ganze Territorium herrschen. Da der Wille des ganzen Volkes Ursprung der Staatsgewalt ist, sei die staatliche Macht des Gesamtstaates gegenüber regionalen Mächten höherrangig. Nach den hier dargestellten Ansichten umschreibt der Begriff „Einheit staatlicher Macht“ in Russland nicht die funktionale Gesamtheit eines aus Rechtsbeziehungen zusammengesetzten Systems verschiedener Akteure staatlicher Macht, sondern eine hierarchische Struktur, die die einzelnen Organe verpflichtet, ihre Aufgabe zum Schutz der staatlichen Einheit wahrzunehmen. Indem die Durchsetzung des gemeinsamen Willens angestrebt wird, scheint das Herausarbeiten von verschiedenen, sich im Sinne des Gewaltenteilungsprinzips hemmenden Gewalten nicht erforderlich. Der Blick auf die Ganzheitlichkeit vernebelt dabei den Blick auf die Rechtsstellung der Organe staatlicher Macht zueinander. Insgesamt bleiben die einzelnen Rechtspositionen der verschiedenen Organe staatlicher Gewalt ohne eigene Bedeutung. Indem vor allem die Notwendigkeit der effektiven Zusammenarbeit der Organe betont wird, wird nicht nur die Rolle der einzelnen Organe, sondern auch der Verfassungstext insgesamt irrelevant. Die Bestimmung der einzelnen Organe wird nicht der Verfassung entnommen, sondern dem einheitlichen Volkswillen und dem notwendigen Schutz der staatlichen Einheit.
649
Stern, Staatsrecht, Band II, S. 529.
VIII. Der einheitliche Rechtsraum
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Soweit hier mit der Verfassung argumentiert wird, scheint es methodisch kritikwürdig, den Verfassungsterminus „System der einheitlichen Macht“ heute allein normativistisch aus den Begriffen „Einheit“ und „System“ herzuleiten. Beide Begriffe sind grundsätzlich inhaltsoffen. Trotzdem wird hier ein Primat des Ganzen vor seinen Teilen herausgelesen. Dabei bleibt unbeachtet, dass Art. 5 III Verf RF, der von der Einheit des Systems der staatlichen Macht spricht, im Gesamtzusammenhang der Verfassung steht und insofern systemthematisch mit Blick auf das Gewaltenteilungsprinzip auszulegen ist. Letzteres ist in der russischen Verfassungslehre zwar grundsätzlich präsent, tritt aber hinter der einheitlichen und unteilbaren Volkssouveränität zurück und wird im Ergebnis bloßes Kompetenzverteilungsprinzip. Ziel des Prinzips ist es nach den hier zitierten Literaturmeinungen nicht, dass sich die Gewalten gegenseitig blockieren, sondern ihr Funktionieren als Einheit gewährleisten.
VIII. Der einheitliche Rechtsraum – einheitliche Gesetzgebung (zakonodatelstvo) durch Normenhierarchie Einen Schwerpunkt bildet die russische rechtswissenschaftliche Literatur auch in der Frage der Einheit des legislativen Systems. Umfangreich untersucht wird das Problem, wie die unterschiedlichen Rechtsakte in einem föderalen System pluralistischer Entscheidungszentren miteinander in Einklang zu bringen sind, in welchem Verhältnis die Rechtsakte vom föderalen Zentrum und von den Subjekten zueinander stehen und wie trotz verschiedener gesetzgebender Organe im Staat eine sich in den Normen ausdrückende Entscheidungseinheit des Gesamtstaates zu garantieren ist. In diesem Zusammenhang wird in Russland mit Nachdruck betont, wie wichtig die Einheit der Gesetzgebung sei. Die Einheit der Gesetzgebung wird dabei als Voraussetzung für die Umsetzung der Ziele der Verfassung angesehen. Sie diene der Durchsetzung der Verfassung auf dem gesamten Gebiet der RF und damit dem demokratischen, sozialen Rechtsstaat.650 Makuev nennt die Einheit der Gesetzlichkeit (zakonnost) eine entscheidende Voraussetzung für den Rechtsstaat. Dabei bezieht er sich auf Lenin, der unabhängig von der Möglichkeit, in Einzelfragen autonom zu entscheiden, grundsätzlich die Notwendigkeit einer für das ganze Land einheitlichen Gesetzgebung gesehen habe. Ohne dies auszuführen, setzt Makuev hinzu, das man sich auch in der postsowjetsiechen Epoche von der Notwendigkeit einer einheitlichen Gesetzgebung habe überzeugen können.651 Lebedev/Anciferova beschließen ihre zweihundertseitige Monographie über die Sicherung der Einheit der Gesetzgebung mit der Feststellung, allein die Einheit der Gesetzgebung könne die Menschenrechte im Staat garantieren.652 650 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 201. 651 Makuev, Teorija gosudarstva i prava, S. 434. 652 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 223.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Dabei wird die angestrebte Einheit der Legislative deutlich in Gefahr gesehen. Die Gefahr wird vor allem durch die verfassungsmäßige, eigene Gesetzgebungskompetenz der Subjekte angenommen. Insofern wird die aufgrund der asymmetrischen Entwicklung in den föderalen Beziehungen in den 90er Jahren entstandene Uneinheitlichkeit des Rechtsraums deutlich als Problem eingeordnet.653 Die Uneinheitlichkeit der Gesetzgebung beinhaltet nach der russischen Rechtswissenschaft im Gegenzug die Gefahr der Ungerechtigkeit und des Rechtsbruchs. Dabei wird die von der Verfassung abweichende Gesetzgebung auch als Gefahr für die Ganzheit des Staates wahrgenommen. Wenn einige Republiken innerhalb der RF in ihren eigenen Verfassungen Regelungen treffen, wonach sie selbst souverän sind oder gar per Gesetz den Austritt aus der RF beschließen, sei der Zerfall der RF nicht auszuschließen.654 Interessant ist auch hier die methodische Herangehensweise, mit der man sich teilweise dem Problem einer einheitlichen Gesetzgebung nähert. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Frage, was die Einheit des Rechtssystems garantiert und was sie beinhaltet, nicht ausschließlich anhand der Verfassung erörtert wird. Die Übereinstimmung der Normengesamtheit wird vielmehr über die theoretischen Grundlagen der marxistisch-leninistischen Systemtheorie bestimmt. Auch heute kommt es darauf an, dass die gesamte Gesetzgebung dem zuvor theoretisch entwickelten Systembegriff entspricht. Mit einem Verweis auf Aristoteles und Hegel nimmt man an, dass die Charakterisierung der einzelnen Elemente allein aus der Beziehung zum Ganzen möglich sei.655 1. „Rechtssystem“ und „System der Gesetzgebung“ a) Das einheitliche Rechtssystem Bevor die Literatur über den Systembegriff klärt, wie die Einheit der Gesetzgebung zu erzielen ist, muss sie erläutern, auf welchen Systembegriff sie sich stützt. Dabei wird deutlich, welche Schwierigkeit es der russischen Rechtswissenschaft bereitet, Begriffe wie „Rechtssystem“ (pravovoja sistema) und „System der Gesetzgebung“ (zakonodatelstvo) zu definieren und voneinander abzugrenzen.656 Wie der Staatsbegriff wird auch das legislative System nicht als selbständiges Konstrukt untersucht, sondern im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Die Gesamtheit der 653 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 210, Lebedev/ Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 52 f., Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 84 ff. 654 Amirov, Suverenitet i territorialnaja celostnost Rossii kak konstitucionno-pravovye principy, S. 65 f. 655 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 9. 656 Dieses Hindernis gipfelt bei Lebedev in der Forderung „Wir brauchen eine Gesetzgebung über die Gesetzgebung!“ (Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 25).
VIII. Der einheitliche Rechtsraum
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Normen existiere nicht völlig autonom, sondern eingebettet in einen sozialen Kontext. Dieser sei bei der Erörterung zu berücksichtigen.657 Im Unterschied zum System der Gesetzgebung (zakonodatelnaja sistema) charakterisiert der Begriff „Rechtssystem“ nicht nur den Normenkomplex, sondern alle Aspekte des Rechts. Das Rechtssystem wird als Rechtskultur begriffen, bzw. als Gesamtheit aller Erscheinungen (javlenija) des Rechts als Instrument der Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse.658 Wenn die einzelnen Definitionen des Begriffs „Rechtssystem“ teilweise leicht voneinander abweichen,659 so wird ein Verständnis deutlich, der die Gesamtheit aller Dinge ausdrückt, die Recht im weiten Sinne in einem Land begründen, ausmachen und durchsetzen. Insofern ist das Rechtssystem auch „die gesamte rechtliche Struktur des Landes“,660 wobei „rechtlich“ sich, wie die anderen Definitionen zeigen, nicht allein auf das Recht als normatives System bezieht, sondern faktische gesellschaftliche Beziehungen beschreibt. Das System der Gesetzgebung wird als Teil des Rechtssystems betrachtet.661 Nun wird die Frage gestellt, ob die RF aus einem oder mehreren Rechtssystemen bestehe. Wie die Einheit des Systems der Organe der Staatsgewalt wird auch die Einheit des Rechtssystems mit der Volkssouveränität als einheitlichen Ursprung der staatlichen Macht erläutert. Ju. I. Kolesov begründet dies ausdrücklich mit dem Hinweis auf Art. 3 Verf RF, wonach das aus vielen Nationen bestehende Volk der RF Träger der Souveränität und einheitliche Quelle der Macht ist. Aufgrund der einheitlichen souveränen Macht könne es nicht mehrere Rechtssysteme geben.662 Da es keine Souveränität innerhalb des souveränen Staates Russische Föderation geben könne, seien die Subjekte nicht souverän. und könnten nur soweit Gesetze erlassen, als der Gegenstand nach der föderalen Verfassung zu ihrem Kompetenzbereich zählt. Insofern haben die Subjekte die volle staatliche Macht nur innerhalb der ihnen zugewiesenen Gesetzgebungskompetenzen (Art. 73 Verf RF). Doch auch für diesen Bereich wird ihnen ein „eigenes Rechtssystem“ abgestritten, da diese Kompetenz nicht aus eigener Souveränität hergeleitet wird, sondern aus der föderalen Verfassung als höchstem normativem Rechtsakt.663 Einen weiteren Beweis für die Nichtexistenz eines eigenen Rechtssystems in den Subjekten sieht Lebedev darin, dass in den Sub657 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 201. 658 Vgl. die verschiedenen Definitionen bei Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 11 f. 659 Vgl. Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 11 f. 660 Marcˇenko, Teorija gosudarstva i prava, v voprosach i otvetach, S. 127. 661 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 7. 662 Kolesov, Pravovoe prostranstvo Rossii, Ucˇastie organov justicii v obespecˇenii ego edinstvo, S. 32. 663 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 14.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
jekten keine eigenen selbständigen Rechtsinstitutionen, wie beispielsweise eine selbständige Staatsanwaltschaft bestehen.664 Wie hinsichtlich des einheitlichen Systems der staatlichen Macht bereits gezeigt, ist das Prinzip der einheitlichen Volkssouveränität auch in Bezug auf das Verhältnis der Normen zueinander kaum in der Lage, Antworten zu liefern. Auf den ersten Blick scheint die einheitliche Volkssouveränität zwar nachvollziehbares Argument, wenn es darum geht, innerhalb einer Föderation nicht völlig unterschiedliche Rechtssysteme zu etablieren. Allerdings überschattet die Lehre von der einheitlichen Volkssouveränität die Entscheidung der Verfassung für die Föderation mit zwei unabhängigen Ebenen staatlicher Macht und insofern auch für zwei unabhängige Quellen legislativer Gewalt. Dies bedeutet, dass nicht nur das föderale Zentrum, sondern auch die einzelnen Teile Träger unmittelbarer, eigener Staatsgewalt sind und über ein gesetzgebendes Organ verfügen, das alternativ zum föderalen Parlament im Rahmen seiner Kompetenzen Gesetze verabschiedet. Insofern teilt die vom ganzen Volk angenommene Verfassung die ursprünglich einheitliche rechtssetzende Gewalt des Volkes in unterschiedliche Entscheidungszentren. Wie diese zwei eigenständigen Rechtsquellen in Einklang zu bringen sind, klärt der Begriff des einheitlichen Systems nicht. b) Einheitlichkeit des legislativen Systems? In Bezug auf das gesetzgebende System (zakonodatelnaja sistema) kommt man zu einem anderen Ergebnis. Auch hier wird untersucht, ob das gesetzgebende System einheitlich sei. Unter dem zakonodatelnaja sistema versteht die russische Rechtslehre nur die Gesamtheit aller normativen Rechtsakte des Staates, aufgeteilt in verschiedene Ebenen, abhängig vom Wesen des zu regulierenden Gegenstands und von den Organen, die sie im hierarchisch aufgebauten System der Organe der Staatsgewalt erlassen.665 Dabei beschreiben das System des Rechts und das System der Gesetzgebung zwei unterschiedliche Aspekte von Recht: einmal die innere Struktur des Rechts entsprechend seines die gesellschaftlichen Verhältnisse regulierenden Charakters (sistema prava) und die äußere Struktur, die Struktur der verschiedenen „Rechtsquellen“, d. h. der Normativakte.666 Die Frage, wieweit die Gesetzgebung (zakonodatelstvo) nicht nur materielles Recht im Sinne der deutschen Rechtstheorie (zakon), sondern auch untergesetzliche Normen und Richterrecht umfasst, ist dabei Gegenstand umfangreicher Diskussionen.667
664 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 16. 665 Sucharev/Krutskich, Bolsˇoj juridicˇeskij slovar, S. 558. 666 Marcˇenko, Obsˇcˇaja teorija gosudarstva i prava, S. 236. 667 Vgl. die verschiedenen Meinungen in: Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 19.
VIII. Der einheitliche Rechtsraum
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2. Begründung des legislativen Systems aus der Normenhierarchie Inhaltlich wird das System der Legislative auch über die Idee der Normenhierarchie beschrieben. Das System der Gesetzgebungsorgane zueinander wird dabei durch den Rang der jeweils von ihnen zu verabschiedenden Normen bestimmt. So wird wie im Marxismus-Leninismus dargelegt, dass das legislative System ein einheitliches Ganzes bildet, das sich im föderalen Verhältnis durch die Subordination der Normen auszeichnet.668 Nach der Normenhierarchie in der Russischen Föderation669 steht die Verfassung an der Spitze der Normenpyramide (Art. 15 I Verf RF). Danach folgen die Normen des Völkerrechts. Art. 15 IV Satz 2 Verf RF besagt, dass die Regelungen eines völkerrechtlichen Vertrages der RF auch dann Anwendung finden, wenn ihnen föderale Gesetze entgegenstehen. Darunter stehen die föderalen Verfassungsgesetze und die einfachen föderalen Gesetze (Art. 76 III Verf RF). Die föderalen Gesetze verhalten sich weitestgehend gleichrangig zueinander, in einigen Rechtsgebieten werden kann man jedoch innerhalb dieser Ebene Unterabstufungen erkennen, wenn die Duma einen sog. „Kodex“ (kodeks), d. h. ein Gesetzbuch wie z. B. das Zivilgesetzbuch, erlässt, der für bestimmte Bereiche auf ausführende Gesetze verweist, die später verabschiedet werden sollen.670 Weiter folgen die Normen der Subjekte, soweit sie nicht aufgrund deren ausschließlichen Zuständigkeit erlassen werden. Auch wenn die Regelungen aus dem Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Subjekte innerhalb der Normenhierarchie als autonom angesehen werden, werden sie dem einheitlichen System der Gesetzgebung zugerechnet.671 Nicht zum System der Gesetzgebung zählen die zahlreichen Normen, die von der föderalen Exekutive erlassen werden, die allerdings innerhalb der Normenhierarchie aus einer Gesamtschau von Artt. 15 I, 72 und 76 Verf RF unterhalb der föderalen Gesetze anzusiedeln sind.672 Indem man auf die Höherrangigkeit der Verfassung verweist, wird das Verhältnis der Legislative in den Subjekten zum Zentrum durch ein hierarchisches Mehr-Ebenensystem entschieden.673 In diesem Sinne sei die Einheit der Gesetzgebung auch Wesen der Einheit der Macht.674
668 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 50, vgl. Schaich, Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, S. 101. 669 Vgl. zur Normenhierarchie auch Schaich, Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, S. 102 ff., m.w.N. 670 So Schaich, Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, S. 103 f., m.w.N. 671 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 30. 672 Dazu ausführlich Schaich, Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, S. 102 ff. 673 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 35. 674 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 77.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
3. Das System der Gesetzgebung nach der Verfassung Es wird deutlich, dass weder der Begriff des Systems der Gesetzgebung noch der des Rechtssystems hilfreich sind, die Frage des Verhältnisses der Organe legislativer Macht im Zusammenhang mit der Gewährleistung eines einheitlichen Verfassungsraums innerhalb der Föderation zu beantworten. So gilt auch hier, dass dem Begriff „System“ ein Zusammenwirken als Einheit immanent ist. Geht man jedoch mit der Verfassung davon aus, dass die Russische Föderation aus verschiedenen Trägern unmittelbarer Staatsgewalt besteht, so ist vielmehr die Frage entscheidend, in welchen Bereichen die Subjekte konkret verfassungsgemäß Normen erlassen dürfen. Dies vermag der Systembegriff auch durch die Theorie der Normenhierarchie innerhalb des Systems nicht zu klären. Der Begriff der Einheit des legislativen Systems findet auch keinen Ursprung in der Verfassung. Dort wird zwar von der Einheit des Systems der staatlichen Gewalt (Art. 5 III Verf RF) und vom einheitlichen System der vollziehenden Gewalt im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit (Art. 77 II Verf RF), nicht aber vom einheitlichen System der Legislative gesprochen. Stattdessen sprechen das Föderalismusprinzip sowie die Regelungen in Artt. 10, 11 II Verf RF für eine eigene Legislative der Subjekte. Darüber hinaus legt Art. 5 II Verf RF ganz ausdrücklich fest, dass die Republiken innerhalb der RF ihre eigene Verfassung und ihre eigene Gesetzgebung sowie dass die Regionen, Gebiete, bundesbedeutsamen Städte, autonomen Gebiete und autonomen Bezirke ihr Statut und gleichermaßen ihre Gesetzgebung besitzen. Der Wortlaut lässt nach verschiedenen Stimmen in der russischen Literatur unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten zu. So wird angenommen, dass sich „Gesetzgebung“ allein auf ihre Verfassungen, bzw. ihre verfassungsähnlichen Dokumente (ucˇreditelnye) bezieht.675 Andere verstehen den Verweis auf die eigene Gesetzgebung der Subjekte in Art. 5 II Verf RF als Untermauerung des eigenen Zuständigkeitsbereichs nach Art. 73 Verf RF. Jedenfalls wird ausführlich dargelegt, dass die Gesetzgebung der Subjekte zwar autonom, aber dennoch Teil der gesamtrussischen Gesetzgebung ist.676 Auch wenn die legislative Gewalt der Subjekte Teil der gesamtstaatlichen Legislative ist, wird auch dadurch nicht geklärt, welchen Umfang die Gesetzgebung der Subjekte hat. Richtiger Ansatzpunkt für das Verhältnis der Gesetzgebung ist stattdessen die Kompetenzordnung der Verfassung in Art. 71 ff. Verf RF. Die Verfassung der RF kennt drei verschiedene Kompetenzbereiche: Die Kompetenzen der Föderation (Art. 71 Verf RF), die gemeinsamen Kompetenzen von Bund und Subjekt (Art. 72 Verf RF) und letztlich alle nicht in Artt. 71 und 72 Verf RF genannten Kompetenzen, die nach Art. 73 Verf RF den Subjekten zugesprochen werden. Diese Normen regeln die Kompetenzverteilung grundsätzlich für alle Gewalten, somit auch für die Legis675 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 43. 676 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 44 ff.
VIII. Der einheitliche Rechtsraum
337
lative. Dabei lässt die Zuständigkeitsregelung der Verfassung hinsichtlich der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Regionen viele Fragen offen. Art. 71 Verf RF ist noch am Eindeutigsten. Die hier zu regelnden Bereiche betreffen den Gesamtstaat. Es geht um das Bundesterritorium, den Bundeshaushalt, das Bundesvermögen etc. Insofern ist hier von einer ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes auszugehen. Auch wenn der Bund hier nicht gesetzgeberisch tätig wird, lassen die Regelungsbereiche aufgrund ihrer Natur keinen Raum für eine diesbezügliche regionale Gesetzgebung. Schwieriger ist dagegen der gemeinsame Zuständigkeitsbereich nach Art. 72 Verf RF zu bestimmen. Die Verfassung lässt offen, wie die gemeinsame Zuständigkeit gestaltet werden soll. Die Literatur verweist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit, jeweils die Interessen der anderen Seite zu berücksichtigen.677 In Frage kommen hier eine konkurrierende oder eine Rahmengesetzgebung. Die Verfassung gibt keine Anhaltspunkte, welche Grenzen die Föderation und die Subjekte zu beachten haben. Das Verfassungsgericht bringt allein zum Ausdruck, dass die Subjekte nur soweit tätig werden dürfen, wie der föderale Gesetzgeber von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht. Insofern werden dem föderalen Gesetzgeber, anders als bei einer streng verstandenen Rahmengesetzgebung, keine allgemein definierten Grenzen gesetzt.678 4. Der Kollisionsfall Gerade weil es im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten keine abschließende Regelung für den Einzelfall gibt, bedarf es in der Praxis einer Regelung im Fall widersprüchlicher Normsetzung von Bund und Regionen. Trotz der in der Theorie entwickelten Normenhierarchie bereitet der russischen Lehre die Herausbildung eines Mechanismus zur Überwindung des Problems der Normenkollision deutliche Probleme.679 Die Verfassung selbst gibt kaum Anhaltspunkte dazu. Art. 76 Verf RF regelt lediglich, dass das Bundesrecht dem Recht der Subjekte im Zuständigkeitsbereich der Föderation (Artt. 76 I, 76 V Verf RF) und im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit (Artt. 76 II, 76 V Verf RF) vorangeht. Ein Vorrang der Gesetze der Subjekte wird allein für den Fall bejaht, in dem den Subjekten die Zuständigkeit nach der Verfassung zusteht (Art. 76 IV, VI Verf RF). Im Kollisionsfall kommt es nach Art. 76 V, VI Verf RF nicht nur zu einem Anwendungs- sondern auch zu einem Geltungsvorrang der Norm des Subjekts. Trotz allem ist davon auszugehen, dass die prinzipiell höher677
Hartwig, Die Kompetenzverteilung zwischen der Russländischen Föderation und ihren Subjekten nach der föderalen Verfassung, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 48. 678 Vgl. Hartwig, Die Kompetenzverteilung zwischen der Russländischen Föderation und ihren Subjekten nach der Föderalen Verfassung, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 47 f., Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtssprechung des Verfassungsgerichts, S. 73 ff. 679 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 49 ff.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
rangige Norm verfassungsgemäß zustande gekommen sein muss. Das setzt voraus, dass der Normgeber nach der Verfassung für den Erlass der Norm zuständig war. Gerade bei einer Normenkollision im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit ist zunächst nach der Kompetenz zu fragen. Die Normenhierarchie kann dies nicht klären. Die russische Literatur klärt umfassend, aber gänzlich abstrakt die unterschiedlichen Formen der Normenkollision, ohne dass sie daher zu einem praktischen Ergebnis käme. Sie unterscheidet hier zwischen „Widersprüchen“, „Konflikten“ und „Kollisionen“. Im Anschluss an die Marxsche Dialektik wird dabei ohne Bezug zur Verfassung diskutiert, ob Widersprüche historisch notwendig seien, d. h. mit Karl Marx Springquelle der Entwicklung sind. Dabei kommen Lebedev/Anciferova zu dem Schluss, dass Widersprüche im Marxschen Sinne nur Quelle der Entwicklung sind, wenn sie als Rechtsfragen geklärt werden.680 Konkret anwendbare Kollisionsregeln werden nicht ausreichend entwickelt. Vor allem wird nicht geklärt, in welchem Umfang die föderale Verfassung den Subjekten eine Verfassungs- und Statutenautomonie zuspricht. Insgesamt wird bei der Verfassungsgebung der Subjekte nicht nur ein Mindestmaß an Homogenität verlangt, wie es für das Funktionieren eines Bundesstaats erforderlich ist, vielmehr wird die eigene Regelungsgewalt der Subjekte eng ausgelegt. Bemerkenswerterweise wird die Verfassungsautonomie nicht in ihren Grenzen bestimmt, d. h. es wird nicht positiv geklärt, in welchen Umfang die Subjekte ihrer Verfassung eigene Inhalte geben dürfen. Wenn es in Art. 77 I Verf RF heißt, dass die Subjekte ihre Organe nach „allgemeinen Prinzipien“ zu bilden haben, gibt das föderale Gesetz über die allgemeinen Prinzipien sehr umfassende Vorgaben. Die Grenze scheint allein der allgemeine Grundsatz zu sein, nachdem die Einheit des Staates durch die Verfassungsautonomie nicht gefährdet werden darf. Dieser Grundsatz bietet jedoch ein Einfallstor für die föderale Ebene, den Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten vollends zu dominieren und die Regelungsautonomie der Subjekte auf die eigenen Zuständigkeiten zu beschränken. Insofern legt die russische Literatur den Schwerpunkt auf die Frage, welches Organ staatlicher Macht für die Durchsetzung der Einheit der Legislative zuständig ist und welche Probleme sich für die jeweiligen Organe bei der Durchsetzung ergeben. Es geht darum, welches Organ der staatlichen Macht in welcher Weise die Einheit sichern kann. Als wesentlich wird hier das Verfassungsgericht genannt.681 Darüber hinaus gewinnt der Präsident aufgrund seiner Garantenrolle für die Verfassung nach Art. 80 II Verf RF Bedeutung für die Durchsetzung der Normenhierarchie.682
680 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 77. 681 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 159 ff. 682 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 95.
IX. Das einheitliche System der Exekutive – Art. 77 II Verf RF
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5. Zwischenergebnis Die Besorgnis um den einheitlichen Rechtsraum innerhalb einer Föderation ist nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang ist das Bemühen um die einheitliche Anwendung der Verfassung auf dem ganzen Territorium aus verfassungspolitischer Sicht konsequent. Kritikwürdig ist aber auch hier die methodische Herangehensweise. Der Begriff vom einheitlichen System der Legislative unterstreicht zwar die Zusammengehörigkeit der Rechtssetzungsräume von Bund und Regionen, klärt aber nicht, was die jeweiligen Rechtsetzungsräume eigenständig betrachtet ausmacht. Die Gesamtheit der Rechtsnormen (zakonodatelstvo obedinjajusˇcˇee v edinoe celoe)683 als Ansatzpunkt für die Untersuchung bietet nicht die nötige Schärfe, um die problematische Frage nach dem Umfang der Gesetzgebungskompetenz der Subjekte zu ergründen. Aus diesem Blickwinkel kann nicht geklärt werden, in welchem Umfang die Subjekte selbst Gesetze erlassen dürfen und an welchem konkreten Rahmen sie sich dabei orientieren müssen. Dass die Verfassung gerade im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten Fragen offen lässt, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Die Unschärfe der Verfassung rechtfertigt indes keinesfalls eine verfassungsfremde Lösung der Unklarheiten. Stattdessen erscheint es hilfreicher, den Gesamtzusammenhang der Normen über die Frage zu klären, welches Organ in welchem Umfang nach der Verfassung jeweils zur Normsetzung berechtigt ist. Die Einheit der Gesetzgebung im Sinne einer Widerspruchsfreiheit würde sich dann aus der Einheit der Verfassung ergeben. Dass über den hier dargestellten Ansatz aber weder das Verhältnis der normsetzenden Organe noch das Wirkungsverhältnis der Normen zueinander ausreichend diskutiert wird, mag Grund dafür sein, dass letztlich die Durchsetzung einer einheitlichen Gesetzgebung mehr und mehr als administrativ-politische Aufgabe begriffen wird.
IX. Das einheitliche System der Exekutive – Art. 77 II Verf RF Die Verfassung der RF kennt grundsätzlich zwei unabhängige Ebenen der Exekutive: Eine föderale und eine regionale. So ist geregelt, dass die Subjekte ihre Organe der vollziehenden Staatsgewalt auf der Grundlage des Föderalismusprinzips eigenständig bilden (Art. 11 II Verf RF), wobei die Organisation der klassischen Gewaltenteilung in eine exekutive, legislative und ein judikative Gewalt unterliegt (Art. 10 Verf RF). Gleichwohl sagt Art. 77 II Verf RF, dass die Bundesorgane der vollziehenden Gewalt und die Vollzugsorgane der Föderationssubjekte ein einheitliches System der exekutiven Macht bilden. Dies gilt für den Bereich der eigenen Zuständigkeiten der föderalen Ebene sowie den Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten von Bund
683 Lebedev/Anciferova, Obespecˇenie edinstva zakonodatelnoj sistemy Rossijskoj Federacii, S. 22.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
und Regionen.684 Das Verhältnis von Eigenständigkeit und Einheit der Organe der Staatsgewalt ist dabei nicht eindeutig. Bis heute herrscht keine Übereinstimmung darüber, wie ein „einheitliches System“ aus Exekutivorganen von Zentrum und Regionen im Rahmen der grundsätzlichen Gewaltenteilung zu verstehen ist. Es bleibt unklar, wieweit die Organe der Exekutive von Bund und Regionen jeweils eigenständig sind, bzw. wieweit sie ein zusammengehöriges System bilden und wie dies gestaltet werden soll. Die potentiellen Auslegungsmöglichkeiten variieren hier zwischen einem hierarchischen Aufbau der Exekutive vom Bund in die Regionen sowie jeweils eigenständigen Systemen, die allein eine funktionale Einheit bilden. 1. Das einheitliche System als Subordinationsverhältnis Von Teilen der russischen Literatur wird Art. 77 II Verf RF vor allem über die Begriffe „einheitlich“ und „System“ ausgelegt. Die Ausführungen dazu sind weitgehend identisch mit den Ausführungen zum einheitlichen System der Macht. Deutlich wird auch hier ein Verständnis von „Einheitlichkeit“, das Einmütigkeit im Sinne einer Unterordnung impliziert.685 Dabei wird zur Erläuterung von Art. 77 II Verf RF ausdrücklich auf Art. 5 III Verf RF und das dort verortete einheitliche System der Macht verwiesen.686 Wenn die Macht insgesamt einheitlich organisiert sei, so gelte das auch für die Exekutive als Teil der staatlichen Macht. Leksin versteht den Verweis auf die Einheitlichkeit in der Verfassung der RF als „Charakterzug“ der staatlichen Macht insgesamt.687 Von Ebzeev wird die Exekutive als die Gewalt umschrieben, die faktisch am stärksten „staatliche Gewalt“ sei.688 Auch die Exekutive solle einheitlich organisiert sein, soweit dies nicht der Verfassung widerspricht.689 Entsprechend wird auch die Einheit der Exekutive wieder auf die einheitliche Souveränität über das ganze Territorium gestützt. Insofern wird das einheitliche System in Art. 77 II Verf RF als ein „hierarchisches System“ angesehen.690 Auch Baglaj versteht unter dem einheitlichen
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Art. 77 II Verf RF: „In den Grenzen der Zuständigkeit der Rußländischen Föderation und der Befugnisse der Rußländischen Föderation im gemeinsamen Zuständigkeitsbereich der Rußländischen Föderation und der Subjekte der Rußländischen Föderation bilden die Bundesorgane der vollziehenden Gewalt und die Vollzugsorgane der Subjekte der Rußländischen Föderation ein einheitliches System der vollziehenden Gewalt in der Rußländischen Föderation.“ 685 Vgl. Kap. C.VII. 686 Leksin, Konstitucionnoe znacˇenie ponjatija „edinaja sistema ispolnitelnoj vlasti“, in: Sravnitelnoe Konstitucionnoe Obozrenie, 2006, Nr. 1 (54), S. 119, Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 273 ff. 687 Leksin, Konstitucionnoe znacˇenie ponjatija „edinaja sistema ispolnitelnoj vlasti“, in: Sravnitelnoe Konstitucionnoe Obozrenie, 2006, Nr. 1 (54), S. 119. 688 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 273. 689 Leksin, Konstitucionnoe znacˇenie ponjatija „edinaja sistema ispolnitelnoj vlasti“, in: Sravnitelnoe Konstitucionnoe Obozrenie, 2006, Nr. 1 (54), S. 119. 690 Barchatova, Kommentarij k Konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 115.
IX. Das einheitliche System der Exekutive – Art. 77 II Verf RF
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System ein Unterordnungsverhältnis,691 in dem die Subjekte durch die föderale Regierung koordiniert werden.692 In diesem Zusammenhang hätten sich die Subjekte an den Anweisungen der föderalen Exekutive zu orientieren.693 Im Rahmen der Teilung ˇ irkin davon aus, dass der föderalen zwischen föderaler und regionaler Macht geht C Macht eine „dominierende Rolle“ zukommt. Dies schließt er daraus, dass der föderalen Ebene im Rahmen der Kompetenzverteilung die wichtigen Bereiche zufallen.694 Ebzeev erläutert sein Verständnis von der Einheit der Exekutive gar allgemein mit der politischen Notwendigkeit der Einheit des Gesamtstaates und der Tatsache, dass die gegenwärtigen Verhältnisse in Russland für den Föderalismus noch nicht bereit seien.695 In diesem Zusammenhang sei der effektive Schutz der Ganzheit des Staates eng an das Funktionieren des einheitlichen Systems der Exekutive geknüpft.696 In dieser Ansicht stimmt er mit der aktuellen Politik überein. So berief man sich beispielsweise im Rahmen der Gesetzesänderung hinsichtlich der Abschaffung der Volkswahl der Regierungschefs der Subjekte zugunsten der Nominierung durch den Präsidenten auf den Schutz der Einheit des Gesamtstaates durch die Einheit der Exekutive.697 Insofern als die regionalen Amtschefs nunmehr faktisch vom föderalen Präsidenten eingesetzt werden, geht eine entsprechend verstandene „Einheit der Exekutive“ sehr weit.698 Dabei scheint es auch hier nicht angebracht, das Verhältnis der Organe der staatlichen Macht allein über den Begriff des einheitlichen System in Art. 77 II Verf RF zu definieren. 2. Art. 77 II i.V.m. Artt. 1, 11 II, 65 ff. Verf RF Vielmehr ist das einheitliche System der Exekutive nach Art. 77 II Verf RF nicht allein aus dem Wortlaut des Artikels selbst, d. h. aus den Begriffen „einheitlich“ und „System“ zu verstehen, sondern aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung. Vor allem sind die Regelungen über den föderalen Aufbau in den Artt. 71 – 79 Verf RF sowie das Föderalismusprinzip allgemein mit einzubeziehen.699 Der Grundsatz der vertikalen Gewaltenteilung manifestiert sich in den Regelungen über die Kompetenz691
Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 312. Kutafin, in: Lazarev, Konstitucija Rossijskoj Federacii, Kommentarij, S. 458. 693 Umnova, in: Okunov, Kommentarij k Konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 250. 694 ˇ Cirkin, Konstitutcionnoe pravo Rossii, S. 295. 695 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 275. 696 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 277. 697 Putin, Vlast dolzˇna byt rabotajusˇcˇej, Rossijskaja gazeta, 19. 5. 2000, S. 3 ff. 698 Vgl. zu dieser Gesetzesänderung: Nußberger, Verfassungsmäßigkeit der jüngsten Rechtsreformen im Russland, Russland-Analysen, Nr. 57 vom 25. 2. 2005, S. 3, Luchterhandt, Putins Perestrojka: Unitarisches Russland statt Föderation, in: WGO-MfOR 2005, S. 94 ff. 699 Blankenagel, Koncepcija edinoj sistemy ispolnitelnoj vlasti, cˇast 2 stati 77 Konstitucii Rossijskoj Federacii – kakaja sistema, a gde edinstvo? in: Sravnitelnoe Konstitucionnoe Obozrenie, 2006, Nr. 1 (54), S. 123. 692
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
verteilung zwischen beiden staatlichen Ebenen (Artt. 71 – 73 Verf RF). Dazu zählen auch die Kompetenzbereiche der gemeinsamen Zuständigkeit (sovmestnoe vedenie) von Bund und Subjekten (Art. 72 Verf RF), auf die sich Art. 77 II Verf RF bezieht. Eine systematische Auslegung der Verfassung muss deshalb zu dem Ergebnis kommen, dass die Verfassung grundsätzlich von der Unabhängigkeit der Organe der Exekutive der föderalen Ebene sowie der Ebene der Subjekte ausgeht. Das Föderalismusprinzip spricht auch im Bereich der Exekutive für zwei Ebenen der unmittelbaren Staatsgewalt, die nur als solche ein einheitliches System bilden. Bei der Auslegung ist letztlich auch zu beachten, dass Art. 77 II Verf RF zwischen dem einheitlichen System im Bereich der eigenen Zuständigkeit der RF und dem einheitlichen System im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten unterscheidet. Vor allem im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten ist das Bundesstaatsprinzip relevant. Über Art. 77 II Verf RF hinaus legt die Verfassung vier unterschiedliche Organisationsstrukturen exekutiver Macht an:700 Neben dem einheitlichen System der Exekutive im Bereich der eigenen Zuständigkeit der RF und dem einheitliche System der Exekutive im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten (Art. 77 II Verf RF) gibt es das System der Exekutive der Subjekte im Bereich ihrer Zuständigkeitsbereiche sowie letztlich die Möglichkeit der Exekutive der RF, territoriale Organe zu bilden (Art. 78 I Verf RF). Von den zwei Möglichkeiten, die die Verfassung für den Bereich der eigenen Zuständigkeit der föderalen Ebene lässt, dem einheitlichen System und der Gründung von territorialen Organen der Föderation, tendiert man in der praktischen Umsetzung zur Variante aus Art. 78 I Verf RF. Blankenagel weist darauf hin, dass mehr und mehr eigene Verwaltungsbehörden des Bundes (territoriale Organe) vor Ort gegründet werden,701 ohne dass den Subjekten hier ein Mitspracherecht zukommt702 (Art. 78 I Verf RF). Dabei spricht das Bundesstaatsprinzip und die Stellung des einheitlichen Systems in der Verfassung (Art. 77 Verf RF) vor den territorialen Organen (Art. 78 Verf RF) für die Priorität des einheitlichen Systems. Gleichermaßen legt Blankenagel dar, dass die einfachgesetzlichen staatsorganisationsrechtlichen Regelungen eine Struktur anlegen, nach der die gesetzgebende Macht im Zentrum konzentriert ist, die vollziehende Gewalt aber bei den Subjekten. Darüber hinaus weist Blankenagel auf eine Reihe von praktischen Vorteilen des einheitlichen Systems aus Organen der Subjekte und des Zentrums im Bereich der eigenen Zuständigkeit der Föderation hin: 700 Blankenagel/Kalinina, Sistema organov vnutrennich del v Rossijskoj Federacii. Kvadratura po-federalnomu, Institutionalnyj, pravovoj i ekonomicˇeskij federalizm v Rossijskoj Federacii, in:Ezˇekvartalnyj bjulleten, Nr. 5, S. 24. 701 Blankenagel, Some features of a Federal Law on the Integrated System of the Executive Organs of the Russian Federation and the Executive Organs of the Subjects of the Russian Federation on the Basis of Art. 77 2nd par of the Constitution of the Russian Federation (unveröffentlichtes Manuskript), S. 1. 702 Ein Mitsprachrecht der Subjekte bei der Besetzung der föderalen Organe in den Subjekten wurde auch vom Verfassungsgericht unter Hinweis auf das einheitliche System und die einheitliche Souveränität abgelehnt (vgl. auch SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 10).
IX. Das einheitliche System der Exekutive – Art. 77 II Verf RF
343
Die Einbindung bereits existierender regionaler Strukturen erhöhe die Bürgernähe im Vergleich zur Nutzung von Bundesbehörden vor Ort. Darüber hinaus ist auch unter Einsatz regionaler Strukturen die angestrebte höhere Kontrolldichte zu garantieren, wenn man eine funktionierende Kontrolle schaffen würde. Die Nutzung regionaler Strukturen wäre zuletzt auch kostengünstiger. Dies spricht grundsätzlich für die Einbindung der Organe der Subjekte bei der Ausführung der Gesetze im Bereich der Zuständigkeit der Föderation, d. h. für das einheitliche System als Regelfall.703 Gerade soweit sich die föderale Ebene aber zur Ausführung ihrer Gesetze der Organe der Föderationssubjekte behelfen würde, wäre es notwendig, das Verhältnis der Organe zueinander rechtlich durch einfache Gesetze genau zu definieren. Stattdessen gibt es aber nicht einmal eine allgemein anerkannte Theorie darüber, wie die Hierarchie, bzw. das Subordinationsverhältnis der Exekutive im einheitlichen System auszugestalten ist. Es bleibt offen, wie die Hierarchie aufgebaut werden kann, welche Organe konkret in einem Weisungsverhältnis zueinander stehen, welchen Rechtscharakter mögliche Weisungen haben, wie sie durchgesetzt werden können, welcher Spielraum den Weisungsempfängern bei der Umsetzung der Weisungen bleibt und welche Rechtsmittel diesen im Falle einer rechtswidrigen Weisung zustehen. Denkbar wäre z. B. das „einheitliche System“ entsprechend der deutschen Bundesauftragsverwaltung gemäß Art. 85 GG auszugestalten.704 Danach handeln die Organe der Länder, sind durch die Unterscheidung in Sach- und Wahrnehmungskompetenzen in ihren Entscheidungen aber an den Bund gebunden. Während die Sachkompetenz zunächst beim Land liegt, vom Bund aber in Zweifelsfragen an sich gerissen werden kann, wenn er das von Art. 85 III GG angelegte Weisungsrecht wahrnimmt, bleibt den Ländern das Recht, die Aufgaben nach außen auszuführen, ohne dass dem Bund hier noch ein Selbsteintrittsrecht bleibt.705 Somit wird Entscheidungseinheit garantiert, ohne dass Entscheidungsgewalt der Länder gänzlich verloren geht. In Russland dagegen ist eine Unterscheidung in Sach- und Wahrnehmungskompetenz nicht vorhanden. Die fehlende Ausgestaltung der Rechtsstellung der Organe zueinander führt stattdessen dazu, dass auf die personalen Rangstrukturen zurückgegriffen wird, in der den höchsten Organen des föderalen Zentrums die absolute Letzentscheidungsgewalt bleibt. Darüber hinaus zeigt Blankenagel weitere Probleme auf, die zur Errichtung eines stabilen föderalistischen einheitlichen Systems nach Art. 77 II Verf RF gelöst werden müssen.706 Für problematisch hält er zum einen die fehlende 703
Blankenagel, Some features of a Federal Law on the Integrated System of the Executive Organs of the Russian Federation and the Executive Organs of the Subjects of the Russian Federation on the Basis of Art. 77 2nd par of the Constitution of the Russian Federation (unveröffentlichtes Manuskript), S. 1. 704 Hartwig, Die Kompetenzverteilung zwischen der Russländischen Föderation und ihren Subjekten nach der föderalen Verfassung, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 52. 705 BVerfGE 81, 310 (332) – Kalkar II. 706 Blankenagel, Some features of a Federal Law on the Integrated System of the Executive Organs of the Russian Federation and the Executive Organs of the Subjects of the Russian
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Rechtspersönlichkeit des Staates. Stattdessen gewährt die russische Rechtsordnung einzelnen Organen der Staatsgewalt Rechtspersönlichkeit, während ihnen gleichzeitig aber nur gewisse Rechte und Pflichten eingeräumt werden. So muss der Bürger, soweit er der Auffassung ist, er sei in seinen Rechten verletzt, nicht den Staat, das Subjekt oder die Gemeinde, sondern das einzelne Organ verklagen, obwohl dieses in eine Verwaltungshierarchie eingebunden ist und nicht direkt demokratisch legitimiert. Allerdings liegt die demokratische Verantwortung aber letztlich an der Spitze der jeweiligen Verwaltungshierarchie, während die Organe nur delegierte Macht ausüben. Darüber hinaus braucht ein einheitliches System ein Mindestmaß an Homogenität im Aufbau der Verwaltung von Föderation und Subjekt. So müssten Inhalte eines Homogenitätsgebots definiert werden, wie es Art. 72 Verf RF vorgibt, ohne sofort Details zu regulieren, wie es das AllgPG tut. Letztlich problematisch ist für Blankenagel zu Recht die Tendenz, die Ausführung von Gesetzen Kommissionen und Komitees zu übertragen. Bei seiner Untersuchung des Systems der vollziehenden Gewalt nimmt Blankenagel neben der fehlenden Ausgestaltung der Verwaltungshierarchie folgendes Kernproblem wahr: So sieht er das sowjetische Prinzip der doppelten Unterordnung, der Doppelstruktur von Parteiund Staatsorganen, heute in der Doppelstruktur zwischen Exekutive in Bund und Subjekten einerseits, sowie der Präsidialadministration mit den Gouverneuren auf der anderen Seite wieder lebendig. Dadurch werden die demokratische Verantwortung gegenüber dem Parlament sowie die öffentliche Kontrolle allgemein eingeschränkt, es entsteht Konkurrenz zwischen den Strukturen und es fallen erhöhte Kosten an.707 Versuche, diese Probleme zu überwinden und ein funktionierendes Modell für ein einheitliches System zu entwickeln, waren bisher wenig erfolgreich. Das in diesem Zusammenhang von der russischen Literatur Ausgeführte bleibt „fragmentarisch“.708 Mit dem Hinweis auf Art. 90 II Verf RF, wonach Ukaze auf dem ganzen Territorium ausgeführt werden müssen sowie auf Art. 115 II Verf RF, nach dem Verordnungen und Verfügungen der Regierung der Russländischen Föderation in der Russländischen Föderation der verbindlichen Ausführung unterliegen, zieht Leksin lediglich den Schluss, dass andere Organe der föderalen Ebene als die in den Artikeln genannten nicht das Recht haben, den Subjekten Aufträge zu erteilen.709
Federation on the Basis of Art. 77 2nd par of the Constitution of the Russian Federation (unveröffentlichtes Manuskript), S. 7 ff. 707 Blankenagel, Some features of a Federal Law on the Integrated System of the Executive Organs of the Russian Federation and the Executive Organs of the Subjects of the Russian Federation on the Basis of Art. 77 2nd par of the Constitution of the Russian Federation (unveröffentlichtes Manuskript), S. 13. 708 Vgl. Blankenagel, Koncepcija edinoj sistemy ispolnitelnoj vlasti, cˇast 2 stati 77 Konstitucii Rossijskoj Federacii – kakaja sistema, a gde edinstvo? Sravnitelnoe Konstitucionnoe Obozrenie, 2006, Nr. 1 (54), S. 127. 709 Leksin, Konstitucionnoe znacˇenie ponjatija „edinaja sistema ispolnitelnoj vlasti“, in: Sravnitelnoe Konstitucionnoe Obozrenie, 2006, Nr. 1 (54), S. 120.
IX. Das einheitliche System der Exekutive – Art. 77 II Verf RF
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Gleiches gilt für das von Art. 77 II Verf RF postulierte einheitliche System im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten. Während der Gesamtzusammenhang nahe legt, dass die Organe der Staatsgewalt in Bund und Regionen grundsätzlich eigenständig organisiert sein sollten, bleibt uneindeutig, was das einheitliche System im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten beinhaltet. Dabei ist insbesondere problematisch, dass auch die Kategorie der „gemeinsamen Zuständigkeiten“ (Art. 72 Verf RF) von der Verfassung selbst nicht definiert wird und das AllgPG keinen allgemeinen Grundsatz aufstellt. Insofern als das Föderalismusprinzip vertikale Gewaltenteilung implementieren möchte, widerspricht dem ein rein personales Subordinationssystem von der föderalen Regierung bis in die Organe der Subjekte im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit noch stärker als im Bereich der eigenen Zuständigkeit der Föderation. Das Föderalismusprinzip spricht für eine größtmögliche Selbständigkeit der regionalen Exekutive. Dies muss zu dem Ergebnis führen, dass das einheitliche System im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten eng auszulegen ist und im Zweifel eine Eigenständigkeit der Organe der Subjekte anzunehmen ist. Ein vor diesem Hintergrund betrachtetes „einheitliches System“ lässt nicht ohne jeden Zweifel auf ein hierarchisches System schließen. So spricht Art. 77 II Verf RF selbst von eigenständigen Organen des Bundes und der Regionen innerhalb des einheitlichen Systems. Dies geht mit Art. 11 II Verf RF einher, wo es heißt, dass die Subjekte die Staatsgewalt durch die von ihnen gebildeten Organe der Staatsgewalt ausüben. Allein in Erfüllung ihrer Aufgaben können die Organe insofern ein System bilden.710 Dass die Organe der föderalen und der regionalen Exekutive im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten eigenständige Organe bleiben, ergibt auch ein Blick auf Art. 78 Verf RF. Nach den Vorschriften in Art. 78 II, III Verf RF können die Bundesvollzugsorgane und die Organe der vollziehenden Gewalt ihre Befugnisse jeweils an die andere Ebene staatlicher Gewalt übertragen. Insofern als hier von „ihren“ Befugnissen gesprochen wird, ist davon auszugehen, dass es sich nur um die eigenen Befugnisse handelt.711 Dass die Abgabe von eigenen Befugnissen ausdrücklich geregelt ist, spricht dafür, dass die Kompetenzen im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten nicht automatisch unter die Letztentscheidung der föderalen Ebene fallen. In der praktischen Ausgestaltung fehlt es auch hier an einer allgemein verbindlichen Konkretisierung der Rechtsstruktur der Organe zueinander oder gar der Ausgestaltung einer rechtlich abgesicherten Ausführungskompetenz. Stattdessen wird der konkrete Aufbau der Hierarchie in Russland jeweils per Gesetz für die einzelnen Kompetenzbereiche entworfen. Die praktische Umsetzung eines einheitlichen Systems der Exekutive im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten untersuchen Blankenagel/Kalinina am Beispiel des Innenministeriums. Dabei 710
Siehe auch Luchterhandt, Russland – Putins Perestrojka, in: WGO-MfOR 2/2005, S. 99. Vgl. Blankenagel, Koncepcija edinoj sistemy ispolnitelnoj vlasti, cˇast 2 stati 77 Konstitucii Rossijskoj Federacii – kakaja sistema, a gde edinstvo? Sravnitelnoe Konstitucionnoe Obozrenie, 2006, Nr. 1 (54). 711
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
kommen sie zu dem Ergebnis, dass hier die föderale Ebene das System faktisch als streng hierarchisches Subordinationssystem von oben nach unten organisiert.712 Hartwig veranschaulicht dies am Beispiel der Polizei. Nach der russischen Verfassung zählt die Polizei zu den gemeinsamen Aufgaben von Föderation und Subjekten. Nach einem föderalen Gesetz unterstehen die Milizen allerdings dem Innenministerium der RF, ohne dass dem Subjekt Ausgestaltungsrechte bleiben.713 Während in der Theorie die Einheit der Exekutive angestrebt wird, bleibt der Verwaltungsaufbau dabei in der Praxis insgesamt unübersichtlich und komplex.714 So gibt es heute völlig unterschiedliche Systeme in den unterschiedlichen Verwaltungsbereichen. Es herrscht ein nebeneinander von Ministerien, Diensten und Agenturen. Dabei sind die Hierarchien selbst, und die sich kennzeichnenden Weisungsrechte nicht einheitlich definiert und geregelt. So bestimmt sich die Subordination letztlich vor allem durch personelle Unterordnung. Gerade wenn man richtigerweise davon ausgeht, dass die Verfassung der RF zwei gleiche Ebenen der unmittelbaren Staatsgewalt kennt, sind die Begriffe „einheitlich“ und „System“ auch hier nicht ausreichend erklärungsstark, um das Verhältnis der jeweiligen Organe zueinander rechtlich zu konkretisieren. Gerade diese Unklarheiten bieten indes die Gefahr, mit dem Hinweis auf die Einheit des Systems die hierarchische Struktur auszuweiten und im Zweifel für die Rechtmäßigkeit der föderalen Anweisungen zu entscheiden. Dies gilt umso mehr, als auch das Verfassungsgericht von der generellen Letztentscheidungsgewalt der Föderation innerhalb des einheitlichen System ausgeht, da ein wie auch immer ausgestaltetes „einheitliches System“ der Exekutive zum Schutz der Einheit des Staates aus politischen Gründen notwendig sei und dem einheitlichen Willen des ganzen Volkes sowie der Souveränität der Föderation entspräche.715
X. Das einheitliche System der Judikative 1. Das einheitliche Gerichtssystem Kaum diskutiert wird in der russischen Verfassungsliteratur die Einheit der Judikative. Dies mag daran liegen, dass die Gewaltenteilung im Bereich der Judikative am schwächsten ausgeprägt ist. Andersherum formuliert, ist die rechtsprechende Gewalt 712 Blankenagel/Kalinina, Sistema organov vnutrennich del v Rossijskoj Federacii. Kvadratura po-federalnomu, Institutionalnyj, pravovoj i ekonomicˇeskij federalizm v Rossijskoj Federacii, Ezˇekvartalnyj bjulleten, Nr. 5, S. 24 ff. 713 Hartwig, Die Kompetenzverteilung zwischen der Russländischen Föderation und ihren Subjekten nach der föderalen Verfassung, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 53. 714 Schaich, Der föderale Verwaltungsaufbau in der Russischen Föderation, in: JOR, 2001, S. 323 ff., m.w.N., ders., Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, S. 247. 715 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336.
X. Das einheitliche System der Judikative
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der RF von allen Bereichen staatlicher Gewalt am einheitlichsten organisiert. Die Einheit des Systems der Judikative wird in der Literatur mit der Notwendigkeit einer unabhängigen Gerichtsbarkeit begründet. Ziel ist die Einheit der (Verfassungs-)Rechtsordnung. Umzusetzen sucht man dieses Ziel durch einen weitgehend vom föderalen Zentrum gesteuerten hierarchischen Aufbau der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Ein einheitliches System könnte am ehesten sichern, dass die Verfassung der RF auf dem ganzen Staatsgebiet der RF durchgesetzt würde.716 Das Verfassungsgericht versteht den Hinweis auf die Einheitlichkeit des Gerichtssystems als einen von der Verfassung gewollten Ausschluss verschiedener selbständiger Gerichtssysteme. Dass es tatsächlich in Form der Friedensrichter sowie der regionalen Verfassungs- und Statutengerichte selbständige regionale Gerichte gibt, bleibt dabei außer Betracht.717 Obwohl die Verfassung die staatliche Gewalt nach Art. 10 Verf RF in drei Gewalten unterteilt und Art. 11 Verf RF besagt, dass die Subjekte ihre eigenen Organe der Staatsgewalt bilden, gilt dies im Ergebnis nicht für die Judikative. Während die Verfassung ausdrücklich von der Staatsanwaltschaft als einem einheitlichen, zentralisierten System spricht, bestimmt die föderale Verfassung die Ausgestaltung des Gerichtssystems dagegen nicht selbst. So legt die Verfassung die Kompetenz für die Regelung des Gerichtsystems in die Hand des föderalen Gesetzgebers (Art. 118 III Verf RF, Art. 71 lit. d Verf RF). Gemäß Art. 71 lit. n Verf RF hat die Föderation darüber hinaus die ausschließliche Zuständigkeit für die Gerichtsverfassung, die Staatsanwaltschaft, die Straf-, Strafprozess-, und Strafvollzugsgesetzgebung; Amnestie und Begnadigung; die Zivil-, Zivilprozess- und Wirtschaftsprozessgesetzgebung. Der föderale Gesetzgeber konkretisiert das Gerichtssystem durch das föderale Gesetz über das Gerichtsystem von 1999 (GVG).718 Durch dieses Gesetz macht der föderale Gesetzgeber seine Regelungskompetenz zu einer weitgehenden Ausführungskompetenz der föderalen Ebene. In Art. 3 GVG wird der Aufbau der Gerichte als ein einheitliches System beschreiben. Das einheitliche System wird danach durch die (einheitliche) Regelung des Gerichtssystems durch die föderale Verfassung und das Föderationsverfassungsgesetz gewährleistet, des Weiteren durch die Bindung aller Föderationsgerichte und aller Friedensrichter an die durch das Föderationsgesetz bestimmten verfahrensrechtlichen Regeln, die Anwendung der föderalen Verfassung, der föderalen Gesetze der allgemeine Prinzipien und Normen des Völkerrechts und der internationalen Verträge der RF sowie der Verfassungen (Statuten) und der sonstigen Gesetze der Föderationssubjekte, die Anerkennung der obligatorischen Vollstreckung der rechtskräftigen Entscheidungen auf dem gesamten Gebiet der RF, die gesetzliche Verankerung der Einheitlichkeit des Richterstatus sowie die Finanzierung der Föderationsgerichte und der Friedensrichter durch den föderalen 716
Bezlepkin, Sudebnaja sistema, pravoochranitelnye organy i advokatura Rossii, S. 56. Vgl. Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, S. 240 f. 718 SZ RF 1997, Nr. 1, Pos. 1, deutsche Übersetzung von der Fassung vom 15. 12. 2001 (SZ RF 2001, Nr. 51, Pos. 4825) in: JOR 2002, S. 361 ff. mit einer Einführung von Solotych, in: JOR 2002, S. 357 ff. 717
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Haushalt. Dabei steht die Einheitlichkeit des Gerichtssystems im Ergebnis für ein hierarchisch-zentralistisches Organisationsprinzip. Eine Ausnahme bildet das Recht der Subjekte, eigene Verfassungs- oder Statutengerichte zu gründen sowie Friedensrichter einzusetzen (Art. 4 IV GVG). So heißt es in Artt. 4 II, 27 I GVG, dass Verfassungs- und Statutengerichte in den Subjekten gegründet werden können, die Gesetze sowie Normativakte der Staats- und der Selbstverwaltungsorgan der Subjekte auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung bzw. dem Statut des Subjekts überprüfen.719 Raum für Kompetenzen der Subjekte bleibt darüber hinaus auf der untersten Ebene der allgemeinen Gerichtsbarkeit. Der sog. Friedensrichter verhandelt Zivil-, Strafund Verwaltungssachen in seinem Zuständigkeitsbereich als Gericht erster Instanz (Art. 28 I GVG). Allerdings ist auch hier die Kompetenz der Subjekte nicht unbegrenzt. Vielmehr regelt der föderale Gesetzgeber die Einteilung der Gerichtsbezirke und die Bezahlung der Friedensrichter.720 Dagegen sind alle sonstigen Gerichte, wie das Oberste Gericht der RF, die Obersten Gerichte der Republiken, die Regions- und Gebietsgerichte, die Gerichte der Stadt föderaler Bedeutung sowie die Wirtschaftsgerichte der Föderationssubjekte nach Art. 4 III Unterabsatz II, III GVG föderale Gerichte. Das mit Ausnahme der Friedens- und Verfassungsgerichte zentral organisierte Gerichtssystem wird vom Verfassungsgericht gebilligt. Ein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip wird hier vom Verfassungsgericht nicht festgestellt. Der Regelungskompetenz des Bundes hinsichtlich des Gerichtssystems entnimmt das Verfassungsgericht auch eine Ausführungskompetenz. Das Gewaltenteilungsprinzip müsse bei der Regelung des Gerichtsprinzips insofern nicht beachtet werden. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts enthält die Verfassung stattdessen keine Bestimmungen, auf die sich die Errichtung anderer als föderaler Gerichte stützen lasse.721 2. Das einheitliche System der Staatsanwaltschaft Das einheitliche zentralisierte System (edinaja centralizovannaja sistema) der Staatsanwaltschaft nach Art. 129 I Verf RF ist von einer straffen Hierarchie gekennzeichnet, an dessen Spitze der Generalstaatsanwalt (generalnyj prokuror) steht (vgl. Art. 11 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft),722 der die Verantwortung für die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben der Staatsanwaltschaft trägt.723 Im von 719 Vgl. umfassend Gäßner, Zur Verfassungsgerichtsbarkeit in den Subjekten der Russischen Föderation unter besonderer Berücksichtigung der Normenhierarchie, Berlin 2004. 720 SZ RF 2000, Nr. 1, Pos. 1. 721 SZ RF 1998, Nr. 18, Pos. 2062. 722 Generalnaja Prokuratura RF, Kommentarij k federalnomu zakonu „O prokurature RF“, S. 45. 723 Vgl. Bezlepkin, Sudebnaja sistema, pravoochranitelnye organy i advokatura Rossii, S. 183.
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates
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der Generalstaatsanwaltschaft der RF herausgegebenen Kommentar zu diesem Gesetz wird „Einheitlichkeit“ ganz allgemein mit der Gleichheit der Ziele, die dem ganzen System auferlegt worden sind, umschrieben. Ziel des Systems der Staatsanwaltschaft sei die Sicherung der Einheitlichkeit der Gesetzgebung auf dem Territorium des ganzen Landes, die wiederum der Sicherung seiner sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, der Höherrangigkeit des Gesetzes und dem Schutz der Rechte und Freiheiten des Bürgers dient. Die Staatsanwaltschaft fügt hinzu, der Grundrechtsschutz stünde dem Schutz der Interessen des ganzen Staates und der Gesellschaft nicht entgegen, als der Staat seinerseits die Grundrechte erst ermögliche.724
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates und der Einheit der staatlichen Macht 1. Einleitung: Gewaltenteilung und Kontrolle Neben dem Verfassungsgericht ist der Präsident der RF in den Augen der russischen Staats- und Verfassungslehre heute zentrale Kontrollinstanz für die Sicherung des einheitlichen Rechtsraums. Dabei ist die Garantenstellung des Präsidenten zur Sicherung der Einheit des Staates eng an die Aufgabe gebunden, ein effektives Zusammenspiel der Organe der Staatsgewalt zu sichern. Da die Einheit des Systems der staatlichen Macht die Einheit des Staates sichern soll, wird die Kontrollfunktion des Präsidenten innerhalb des Systems der Staatsgewalt vor allem zum Schutz der staatlichen Ganzheitlichkeit wahrgenommen. Wenn geschrieben wird, dass der Präsident durch seine Kontrollfunktion über die Organe der Staatsgewalt die staatliche Einheit garantiere,725 kommt zum Ausdruck, dass nur die „einheitlich“ organisierte Macht die Einheit des Staates schützen kann. Tatsächlich bedarf gerade ein föderales System eines funktionierenden Mechanismus, der das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen staatlicher Macht garantiert. Dazu müssen die Organe der Staatsgewalt in den Regionen mit den Organen der Staatsgewalt des Bundes derart miteinander in Einklang gebracht werden, dass eine gemeinsame Politik möglich ist. Vor allem muss gesichert sein, dass die föderale Verfassung auch in den einzelnen Subjekten des Staates Anwendung findet. Insgesamt gilt es für jeden föderalen Staat einen Weg zu finden, der die staatlichen Befugnisse auf die zwei Ebenen von Staatsgewalt verteilt und gleichzeitig die Vereinbarkeit dieser beiden Ebenen sichert. Aber auch eine wohldurchdachte und von den Verfassungssubjekten durchweg akzeptierte und verstandene föderale Ordnung braucht eine Letztentscheidungsinstanz, die in Zweifelsfragen Kompetenz- und Verfahrensstreitigkeiten zwischen Bund und Regionen zu lösen vermag. Zu Recht schreibt 724
Generalnaja Prokuratura RF, Kommentarij k federalnomu zakonu „O prokurature RF“,
S. 2. 725
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 248.
350
C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Ebzeev, dass ein föderales System unvollkommen sei, wenn es nur die Kompetenzverteilung regele. Vielmehr verlange jedes föderale System nach Regelungen über die Sicherung der politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und territorialen Räume des Staates, d. h. Regelungen, die die Einheit des Staates durchsetzen.726 Dies gilt umso mehr, wenn man davon ausgeht, dass es dem Zweck des Föderalismus entspricht, die Staatsgewalt durch die Verteilung von Macht auf voneinander unabhängige Zentren zu binden und durch gegenseitige Hemmung nicht übermächtig werden zu lassen.727 Ausgehend von einem derartigen Föderalismusverständnis ist es unerlässlich, über ein Organ zu verfügen, das bei den grundsätzlich politisch gewollten Kompetenzstreitigkeiten letztlich aber auch wieder die Grenze zieht. Es ist offensichtlich, dass eine solche Instanz weder außerhalb der Staatsgewalt von Bund und Regionen, noch auf der Ebene der nur durch einen Teil des Volkes legitimierten Staatsgewalt der Regionen angesiedelt werden kann. Aufgrund der voneinander unabhängigen Funktionsräume von Bund und Regionen besteht aber auch für eine permanente allgemeine Übergeordnetheit des Bundes im Verhältnis zu den Ländern kein Raum. Jedenfalls müssen Maßnahmen des Bundes zur Sicherung der Einheit einem strengen Vorbehalt des (gemeinsamen) Gesetzes unterliegen. Nur so können die Länder ihre Kompetenzrechte gegen rechtswidrige Eingriffe des Bundes verteidigen. In nicht wenigen Staaten kommt dem Verfassungsgericht die entscheidende Garantenstellung für die Wahrung der bundesstaatlichen Ordnung zu.728 Nach der deutschen Verfassungsdoktrin ist das Verfassungsgericht nicht allein Organ des Bundes, sondern Verfassungsorgan (§ 1 I Verfassungsgerichtsgesetz).729 Als solches zählt es zwar zu den Organen des Bundes, handelt jedoch allen anderen Organen staatlicher Gewalt gegenüber unabhängig. Legitimation als Letztentscheidungsorgan gewinnt es durch die strenge Bindung an das vom Volk gesetzte positive Recht.730 Auch die russische Verfassung von 1993 sieht das Verfassungsgericht grundsätzlich als oberstes Kontrollorgan der verfassungsmäßigen Ordnung vor (Art. 125 Verf RF). Klassische Verfahrensarten im Konflikt zwischen dem Subjekt und dem Zentrum sind in diesem Zusammenhang insbesondere das Normenkontrollverfahren (Art. 125 II Verf RF) und das Organstreitverfahren (Art. 125 III Verf RF). Letztlich bietet Art. 125 V Verf RF auf Antrag die Möglichkeit einer verbindlichen Verfassungsauslegung durch das Gericht in einem bestimmten Punkt. Darüber hinaus enthält die Verfassung keinen dem deutschen Grundgesetz vergleichbaren Bundeszwang, der die Entscheidungen des Verfassungsgerichts gegenüber einem Subjekt bei Nichtbefolgen erzwingt (Art. 37 GG). Tatsächlich bereitete 726
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 324. Stern, Staatsrecht, Band I, § 19 I 5 ff., 8. 728 Stern, Staatsrecht, Band II, § 44 III, IV 6. 729 Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: HStR II, § 53 Rn. 10. 730 Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: HStR II, § 53 Rn. 21. 727
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates
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die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts in Russland in der Praxis häufig Schwierigkeiten. Gerade im Zusammenhang mit den Verfassungsgerichtsentscheidungen in der Frage der Übereinstimmung verschiedener Subjektsverfassungen bzw. einfacher regionaler Gesetze mit der föderalen Verfassung kam es nicht zur unmittelbaren Vollstreckung. Dadurch wurde die Autorität des jungen Gerichts stark geschwächt.731 Diese Schwäche wird durch eine starke Rolle des föderalen Präsidenten kompensiert. Von der Literatur wird dem Präsidenten die Kompetenz zugesprochen, im Rahmen der föderalen Beziehungen zum Schutz der Verfassung und der Einheit des Landes tätig zu werden. Die präsidentielle Gewalt sei in der Lage, pluralistische Interessen zu überwinden, weil sie nicht nur über den Gewalten stehe, sondern auch ihre Einheit verkörpere. So wird das Präsidentenamt als Ausdruck des gemeinsamen Willens aller Bürger verstanden, das die Herrschaft des ganzen Volkes zulasten einer Verwirklichung von bloßen Einzelinteressen garantiert. Insofern sei der Präsident notwendiges Gegengewicht zur pluralistischen Gesellschaft und zum mehrstufigen Organisationsaufbau des Staates. Der Präsident ist die Instanz, die den „Geist der Verfassung“ gegen einfache verfassungswidrige Gesetze und Partikularinteressen schützt.732 Die dem Präsidenten zustehenden Vollmachten seien die Instrumente zur Umsetzung des Imperativs „staatliche Einheit“.733 Legitimiert wird die umfassende Entscheidungsmacht darüber hinaus mit der Garantenstellung des Präsidenten für den einheitlichen Rechtsraum.734 Damit wird bewusst nicht die Judikative zum Garanten der Verfassung, sondern eine Gewalt, die gesetzgebende, ausführende und kontrollierende Gewalt in sich vereint und damit umfassend staatlich handeln kann. Dabei bleibt die Diskussion in der russischen Literatur auch hier weitgehend abstrakt, ohne auf die politische und gesetzgeberische Entwicklung unter Vladimir Putin Bezug zu nehmen. Gleichzeitig ist offenkundig, dass die Rolle des Präsidenten innerhalb des Systems der Organe der Staatsgewalt u. a. durch zahlreiche Änderungen im Gesetz „Über die allgemeinen Prinzipien der gesetzgebenden und exekutiven Organe der Staatsgewalt der Subjekte der Russischen Föderation“ (AllgPG)735 und die Ernennung von sieben bevollmächtigten Präsidentenvertretern in den neu geschaffenen föderalen Bezirken (federalnyi okrug)736 deutlich gestärkt wurde.737
731
Vgl. Kerber, Konfliktlösungsmechanismen, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 288. 732 Vgl. den Ansatz in der deutschen Staatslehre zuletzt am Deutlichsten bei Carl Schmitt, Hüter der Verfassung, in: AöR NF 1929, S. 232, 161 ff. 733 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 257. 734 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 254. 735 SR RF 1999, Nr. 42, Pos. 5005, u. a. mit den folgenden Änderungen SZ RF 2000, Nr. 31, Pos. 3205, SZ RF 2004, Nr. 50, Pos. 4950. 736 SZ RF 2000, Nr. 20, Pos. 2112. 737 Vgl. Luchterhandt, Der Ausbau der föderalen Vertikale unter Putin – das Ende der Dezentralisierung?, in: Brunner (Hrsg.) Der russische Föderalismus, S. 241 ff.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
2. Die Stellung des Präsidenten innerhalb der Einheit des Systems der staatlichen Macht als Kompetenzgrundlage a) Der Präsident als Spitze des Systems der einheitlichen Macht Wenn die Funktionen der Gewalten im System der einheitlichen Macht sowie ihr Verhältnis zueinander von der russischen Literatur auch wenig konkretisiert werden, herrscht in weiten Teilen der Literatur kein Zweifel, dass der Präsident kein Organ einer der drei in Art. 10 Verf RF genannten klassischen Gewalten ist. Dabei wird die Frage nach der Stellung des Präsidenten innerhalb der Gewalten in der Regel mit dem Hinweis eingeleitet, der Präsident der RF sei nicht Teil einer bestimmten Gewalt, sondern „glava gosudarstva“ (Staatsoberhaupt, wörtlich „Kopf des Staates“).738 Die Rolle des Staatsoberhauptes wird einer alleinigen Zugehörigkeit zu anderen Staatsgewalten quasi als Ausschlussgrund entgegengesetzt.739 Dabei wird vor allem ausgeschlossen, der Präsident sei allein Teil der Exekutive. Dies geht insofern mit der Verfassung einher, als der Präsident nach Art. 110 I Verf RF nicht als Teil der exekutiven Gewalt der föderalen Ebene genannt wird. In Art. 110 Verf RF heißt es lediglich, die exekutive Gewalt würde von der Regierung der RF ausgeübt. Der Präsidenten ist aber ausdrücklich nicht Mitglied der Regierung, sondern ernennt sie (Art. 111 I Verf RF). Auf der anderen Seite wird der Präsidenten als Organ der staatlichen Macht der RF bezeichnet (Art. 11 I Verf RF), die wiederum auf der Grundlage der Teilung in Exekutive, Legislative und Judikative beruht (Art. 10 Verf RF). Dass der Präsident zur Judikative oder zur Legislative gehören soll, muss aus der Natur der Sache ausgeschlossen werden. Daraus folgert man nun, dass der Präsident, als qualitativ vierte Macht740 eine besondere Rolle innerhalb des Systems der staatlichen Macht innehat, die in Art. 10 Verf RF nicht genannt wird. Für Avakjan ist klar, dass der Präsidenten außerhalb der drei Gewalten steht. Er sei weder Legislative, Exekutive noch Judikative, sondern habe seine „eigene Macht“ (svoja forma vlasti).741 Wenn auch weiterhin fraglich bliebe, warum die vierte Gewalt nicht in Art. 10 Verf RF aufgezählt worden ist, so könnte man sich die präsidentielle Gewalt dennoch grundsätzlich als „neutrale Gewalt“ vorstellen. Dies wäre der Fall, wenn der Präsident keine eigenen Kompetenzen hätte. Allerdings wird die Rolle des Präsidenten gerade als eine Gewalt beschreiben, die nicht neutral, sondern „dominierend“ ist. So heißt es, der Präsident vereine in sich Kompetenzen aus allen Funktionsbereichen.742 Er habe rechtssetzende, ausführende und kontrollierende Funktionen. Dies entspricht der Verfassungsrealität. Wenn der Präsident auch heute anders als der Vorsitzende des Prä738
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 247, Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 439. 739 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 247. 740 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 258. 741 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 299. 742 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 249.
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates
353
sidiums des Obersten Sowjets nicht mehr formal „glava ispolnitelnoj vlasti“ (Haupt der Exekutive) ist, so übt er diese Funktion heute faktisch aus.743 Außerdem setzt der Präsident Normen744 und kontrolliert die Anwendung (vgl. Art. 85 Verf RF, AllgPG). Deshalb kommt man in der Literatur zu dem Ergebnis, der Präsident stünde über den Gewalten und kontrolliere sie.745 Er sei Inhaber der „höchsten Macht“.746 Dass er nicht allein zu einer der drei Gewalten gehöre, bedeutet für Avakjan automatisch, dass er nicht außerhalb, sondern über den Gewalten steht.747 Die Verfassung legt die Höherrangigkeit gegenüber den anderen Gewalten indes nicht ausdrücklich nieder. Die Rolle des Präsidenten an der Spitze des einheitlichen Systems der Macht begründet man dabei aus den von der Verfassung beschriebenen Aufgaben des Präsidenten und ihrem Gesamtzusammenhang. Insofern als er die verschieden Funktionen in sich vereine, symbolisiere der föderale Präsident die Einheit der Macht.748 Die starke Stellung des Präsidenten innerhalb der anderen Gewalten sei Ausdruck der Wichtigkeit der Einheit der staatlichen Macht.749 Dies führt zu dem Ergebnis, dass der Präsident nicht nur als neutrale Macht den Staat außerhalb der drei Staatsgewalten steht, sondern den regulären Gewalten übergeordnet an ihrer Spitze. Darüber hinaus sei Rolle des Präsidenten bedingt durch die Bedeutung der Einheit der Gewalten. Da es die Einheit der staatlichen Macht zu schützen gelte, bedürfe es eines starken Präsidenten.750 b) Der Präsident als „Schiedsrichter“ (arbitr) In diesem Sinne macht man den Präsidenten zu einem Koordinator und Schiedsrichter im Zusammenspiel der Gewalten. Aufgabe des Präsidenten sei es zu verhindern, dass ein Inhaber staatlicher Gewalt die gesamte Macht an sich reiße und despotisch regiere. Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass keine Gewalt über ihre Kompetenzen hinaus handelt. Dadurch verhindere der Präsident Absolutismus.751 Ganz ausdrücklich habe der Präsident die Aufgabe des Schiedsrichters zwischen den Organen der staatlichen Macht (arbitr). Auch Cˇirkin sieht den Präsidenten als Schiedsrichter, bzw. Koordinator.752 Der Präsident habe die Rolle eines Vermittlers und Koordinators zwischen den drei Gewalten Legislative, Judikative und Exekutive.753 Diese Rolle 743
Vgl. zur Entstehung der Rolle des Präsidenten, Schaich, Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, S. 16 ff., Schmoll, Die Dekretmacht des Russischen Präsidenten, S. 70, m.w.N. 744 Vgl. Schaich, Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, S. 24 ff. 745 Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 119. 746 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 247. 747 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 299. 748 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 248. 749 Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 119. 750 Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 119. 751 Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 18. 752 ˇ Cirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 298. 753 Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 20.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
würde vor allem in den föderalen Beziehungen wichtig.754 Dabei hält der Präsident die anderen Gewalten nicht nur auseinander, sondern hat auch eine integrierende Wirkung (on integriruet).755 Auch anhand der Rolle des Präsidenten zeigt sich insofern ein problematisches Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips: Indem der Präsident einerseits Funktionen der drei von der Verfassung genannten Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative wahrnimmt, gleichzeitig aber das Zusammenspiel der Gewalten koordinieren und regulieren soll, verliert das Gewaltenteilungsprinzip an Bedeutung. Das Gewaltenteilungsprinzip dient seinem Grundgedanken nach dazu, die Existenz verschiedener unabhängiger Gewalten im Staat zu sichern, die sich gegenseitig hemmen. Soweit sich die Gewalten gegenseitig kontrollieren, soll zum Schutz der Freiheit des Einzelnen verhindert werden, dass eine Gewalt übermächtig wird.756 Wenn der föderale Präsident als höchste Macht im Staat die anderen Gewalten koordinieren soll, widerspricht das dem Gewaltenteilungsprinzip seiner ursprünglichen Idee nach grundlegend. Stattdessen wird das „Gewaltenteilungsprinzip“ in Russland allein zwischen der legislativen, exekutiven und der judikativen Gewalt vollzogen. Dabei trägt der Präsident die Mitverantwortung, dass keine der drei „Partikularmächte“ übermächtig wird und die Einheit der Staatsgewalt zugunsten einer starken Individualmacht aufbricht. In diesem Zusammenhang wird aber zunächst nicht klar, warum auf den „unteren“ Ebenen der Staatsgewalt, in den drei klassischen Gewalten, Totalitarismus bzw. Autoritarismus verhindert werden soll, wenn es darüber ein Organ gibt, das berechtigt ist, die anderen Organe „übermächtig“ zu kontrollieren. Richtigerweise soll die Gewaltenteilung ja gerade verhindern, dass eine Gewalt allmächtig wird. An der fehlenden Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips für die Grenzen der präsidentiellen Macht ändert auch die Tatsache nichts, dass die Unabhängigkeit des Gerichtssystems vom russischen Präsidenten respektiert wird. Wie bereits an anderer Stelle gezeigt, verdeutlicht auch die Stellung des föderalen Präsidenten innerhalb der Gewalten, dass das Gewaltenteilungsprinzip in Russland vor allem ein Aufgabenverteilungsprinzip oder möglicherweise ein politischer Programmsatz zur Veranschaulichung der Abkehr von der Allmacht der Sowjets ist,757 nicht aber ein Rechtsprinzip gegen eine übermächtige staatliche Gewalt. Das Gewaltenteilungsprinzip wird vielmehr noch heute von der Vorstellung bestimmt, die Herrschaft des ganzen Volkes vor mächtigen Individualinteressen zu schützen. Nur insofern soll keine Macht stärker werden als die andere. Insofern als das Gewaltenteilungsprinzip nicht der Gewaltenhemmung zur Sicherung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sondern vielmehr dazu dient, einzelne, Partikularinteressen vertretende Organe der Staatsgewalt nicht übermächtig werden zu lassen, ist das Ge754 755 756 757
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 247. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 247. Stern, Staatsrecht, Band I, § 19.I.5 ff., 8. So Schmoll, Die Dekretmacht des Russischen Präsidenten, S. 78.
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates
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waltenteilungsprinzip durch die mächtige Rolle des Präsidenten als dem Vertreter des ganzen Volkes nach der russischen Ansicht auch nicht verletzt. c) Die föderale Intervention Aufgrund seiner Schiedsrichterrolle in den föderalen Beziehungen ist der Präsident zur föderalen Intervention berechtigt. Unter dem Begriff „föderale Intervention“ (federalnoe vmesˇateltsvo) fasst die Literatur Maßnahmen des föderalen Zentrums gegenüber den Subjekten zur Sicherung des einheitlichen Rechtsraums zusammen.758 Die föderale Intervention soll helfen, Widersprüche in der regionalen Gesetzgebung zur Verfassung zu bekämpfen, um so den verfassungsmäßigen Schutz der Menschenrechte zu sichern und die Volkssouveränität zu verteidigen.759 Als objektives Kontrollorgan komme dem Präsidenten in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle zu.760 Unter Bezugnahme auf Art. 80 Verf RF ergreift danach vor allem der Präsident Maßnahmen zum Schutz der Souveränität der RF, ihre Unabhängigkeit und der staatlichen Ganzheit. In diesem Sinne sei die föderale Intervention nicht nur wichtige Voraussetzung für die föderalen Beziehungen, sondern effektives Kontrollmittel der zentralen Gewalt.761 Ganz allgemein gesprochen geht es um eine Stärkung der Vertikale der Macht.762 Dabei bleiben die Ausführungen zu den tatsächlichen Maßnahmen abstrakt. In Ebzeevs Monographie heißt es, die Mechanismen der föderalen Intervention seien vielgestaltig (raznoobraznij).763 Mittel der föderalen Intervention sind nach Belavina alle Rechte der föderalen Macht, die Souveränität und die Höherrangigkeit der Verfassung und der föderalen Gesetze mit dem Ziel der Einheit und Ganzheit des staatlichen Raums wiederherzustellen.764 Als konkrete Maßnahmen auf Grundlage des Prinzips der Verantwortlichkeit werden die im AllgPG verankerten Rechte des föderalen Zentrums gegenüber den Regionen genannt. Salenko zählt dazu insofern die Auflösung des regionalen Parlaments, die Amtsenthebung eines Exekutivchefs der Subjekte sowie die Errichtung einer Exekutive durch Ukaz wie dem vom 8. 6. 2000765 „Über die Errichtung einer zeitweise exekutiven Macht in der Tschetschenischen Republik“.766 Bei Ebzeev umfasst der Katalog von möglichen Interventionsmaßnahmen den Ausnahme- und den Kriegszustand und geht bis zur „Liquidierung“ (likvidacija) des Subjekts als selbständige politische Einheit.767 Die Ausführun758
Vgl. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 319 ff. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 327. 760 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 336. 761 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 325. 762 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 330. 763 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 329. 764 Belavina, Konstitucionnye osnovy obespecˇenija edinstva Rossijskoj Federacii i ee territorialnoj celostnosti, S. 70. 765 SZ RF 2000, Nr. 24, Pos. 2545. 766 Salenko, Federalizm v Rossii i Germanii, Sravnitelnyj analiz, S. 26 f. 767 Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 329. 759
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
gen zur föderalen Intervention machen deutlich, dass die Organisation des Zusammenspiels der Organe der Staatsgewalt auf den verschiedenen Ebenen als politisch-administrative Aufgabe des Präsidenten verstanden wird. Dabei ist auffällig, dass die föderale Intervention in der Rechtsliteratur als politisch notwendig erachtet wird, ohne dass ihr rechtlicher Rahmen konkret abgesteckt ist.768
3. Rechtsgrundlagen für die Handlungskompetenz des Präsidenten zur Sicherung der staatlichen Einheit und der einheitlichen Staatsgewalt a) Art. 80 II Verf RF Zentrale Legitimationsgrundlage für Interventionsrechte des Präsidenten zur Sicherung der Einheit des Staates ist Art. 80 II Verf RF. In Art. 80 II Verf RF heißt es, der Präsident der RF sei „Garant der Verfassung, der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers. Nach der Vorschriften der verfassungsmäßigen Ordnung ergreift er Maßnahmen zum Schutz der Souveränität der RF, ihrer Unabhängigkeit und ihrer staatlichen Integrität.“ Aus dieser Norm werden weit reichende Kompetenzen hergeleitet. Zum Schutz der staatlichen Einheit und der Rechte und Freiheit der Menschen habe der Präsident nach Art. 80 II Verf RF dafür zu sorgen, dass die Organe staatlicher Macht nicht außerhalb ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen tätig werden. Er habe zu garantieren, dass alle Organe der staatlichen Macht auf föderaler Ebene sowie in den Subjekten nach der Verfassung handeln. Grundlage für diese Norm sei die Durchsetzung und der Schutz des souveränen Willens des Volkes innerˇ irkin leitet die Schiedsrichterrolle halb des gesamten Territoriums der RF.769 Auch C des Präsidenten aus Art. 80 II Verf RF ab.770 Die Garantenstellung für die Verfassung steht dabei in unmittelbarem Zusammenhang mit den in Art. 80 II S. 2 Verf RF genannten Aufgaben, wonach der Präsident „Maßnahmen zum Schutze der Souveränität der Russischen Föderation, ihrer Unabhängigkeit und staatlichen Ganzheit“ sowie für die Sicherung des Funktionierens der Organe der staatlichen Macht unternimmt. Insofern muss der Präsident nach Baglaj als Garant der Verfassung eingreifen, wenn z. B. auf dem Gebiet der RF „verbrecherische Banden“ oder „ungesetzliche bewaffnete Formierungen“ die territoriale Ganzheit Russlands bedrohen. Des Weiteren verlange die Garantenstellung vom Präsidenten ständige Arbeit an der Effektivität des Gerichtssystems.771 Darüber hinaus ist er in Fragen der Grundrechte aus der Verfassung „letzte Instanz“,772 da er Gnadengesuche annehmen kann. Seine Aufgabe zum Schutz der Souveränität, der Unabhängigkeit und der Ganzheit des Staates nimmt er vor allem durch das Oberkommando und den Vorsitz im Sicherheitsrat wahr.773 Nach 768 769 770 771 772 773
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 319 ff. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 254. Cˇirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 298. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 441. Cˇirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 300. Cˇirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 300.
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates
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Baglaj sind die Kompetenzvorschriften der Verfassung jedoch nicht abschließend. So könnten andere Fälle denkbar sein, in denen der Präsident seiner Garantiefunktion nachkommen müsse.774 Zu dieser Annahme kommt er insofern, als Art. 80 Verf RF für ihn nicht nur eine Kompetenzgrundlage ist, vielmehr begründet Art. 80 II Verf RF für Baglaj eine Verpflichtung des Präsidenten, die verfassungsmäßige Ordnung immer wieder herzustellen.775 Die Norm beinhalte eine Verantwortlichkeit des Präsidenten über die Verfassung hinaus für das „gesamte System der verfassungsmäßigen Gesetzlichkeit im Land“.776 In diesem Sinne ist der Präsident auch bei Barchatova für die Realisierung der der verfassungsmäßigen Ordnung „persönlich verantwortlich“.777 Was dies bedeutet, bleibt unklar. Eine derartige Ansicht ist mit der Verfassung kaum vereinbar. Vielmehr ist der Präsident als Garant der Verfassung in seinem Handlungsspielraum gemäß der Verfassung eben gerade nicht uneingeschränkt. So heißt es in Art. 80 II S. 2 Verf RF ausdrücklich, dass der Präsidenten Maßnahmen zum Schutze der Souveränität der Russischen Föderation, ihrer Unabhängigkeit und staatlichen Ganzheit sowie Sicherung des Funktionierens der Organe der staatlichen Macht nur innerhalb der festgesetzten Ordnung der Verfassung bestimmen kann. Dies bezieht sich klar auf die in Art. 87 II und Art. 88 Verf RF genannten Kompetenzen. Für weitergehende Kompetenzen allein aus der Garantenstellung oder gar eine Verpflichtung des Präsidenten zum Schutz der in Art. 80 II Verf RF genannten Güter alles zu tun, was die Verfassung nicht ausdrücklich verbiete, besteht schon nach dem Wortlaut kein Raum. Richtigerweise kann Art. 80 II Verf RF allein die Rolle des Präsidenten festlegen, nicht aber unbegrenzte Kompetenzen begründen. Andernfalls machten die konkreten Kompetenzregelungen für das Präsidentenamt in den Art. 83 ff. Verf RF keinen Sinn. b) Art. 78 IV Verf RF Baglaj bezieht sich im Hinblick auf das Verhältnis des Präsidenten zu den Subjekten auf Art. 78 IV Verf RF. Danach gewährleisten der föderale Präsident und die Regierung der Russländischen Föderation in Übereinstimmung mit der Verfassung der RF die Durchführung der Kompetenzen der staatlichen Macht der föderalen Ebene auf dem ganzen Territorium der RF. Nach seiner Meinung beinhaltet Art. 78 IV Verf RF nicht nur die Rechtfertigung für ein Eingreifen bei besonders schweren Verletzungen wie dem Austritt einzelner Subjekte aus dem staatlichen Verbund der Föderation wie in Tschetschenien, vielmehr verlange jede Abweichung und jede Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung nach Art. 78 IV Verf RF vom Präsidenten und der Regierung ein energisches Einschreiten.778 774 775 776 777 778
Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 442. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 441. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 441. Barchatova, Kommentarij k konstitucii Rossijskoj Federacii, S. 120. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 457 f.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Richtigerweise wird in Art. 78 IV Verf RF jedoch allein klargestellt, dass Präsident und Regierung die Ausführung der in Art. 71 Verf RF genannten alleinigen Zuständigkeitsbereiche der Föderation zu sichern haben. Keinesfalls ist Art. 78 IV RF eine allgemeine Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur Sicherung der Bundesgesetzgebung in den Subjekten. Schon der Wortlaut sagt, dass Präsident und Regierung hier nur in Übereinstimmung mit der Verfassung tätig werden dürfen. Somit ist Art. 78 IV Verf RF keine zusätzliche Kompetenznorm, sondern hat allein Klarstellungsfunktion hinsichtlich der exekutiven Zuständigkeiten der föderalen Ebene im ausschließlichen Kompetenzbereich. c) Art. 4 III Verf RF i.V.m. dem Prinzip der Verantwortlichkeit (otvetstvennost) Eine weitere Begründung findet das Institut der föderalen Intervention mit dem Hinweis auf die Verantwortlichkeit der Subjekte gegenüber dem ganzen Staat.779 Nach der in Russland entsprechend der sowjetischen Ideologie heute herrschenden Lehre der Verantwortlichkeit sind alle Organe staatlicher Macht für ihr verfassungsmäßiges Handeln verantwortlich. In der marxistisch-leninistischen Lehre entsprach das Bedürfnis nach juristischer Verantwortlichkeit dem allgemeinverbindlichen Charakter der Gesetze als Verhaltensregeln zur Sicherung des Aufbaus der idealen politischen Ordnung. Entsprechend bedurfte es einer Verantwortlichkeit des Einzelnen bzw. des einzelnen staatlichen Organs gegenüber dem Gesamtstaat, diese Verhaltensregeln einzuhalten. Jegliche Normübertretung begründete danach eine Verantwortlichkeit gegenüber dem ganzen Staat und das Recht auf eine Reaktion des Gesamtstaates als Folge der Regelverletzung. Dadurch sollte die sozialistische Ordnung als Ganzes gewährleistet werden. Für den Rechtsverletzer sieht die juristische Verantwortlichkeit nach der marxistisch-leninistischen Lehre die Pflicht vor, für das Abweichen vom verbindlich geforderten Verhalten einzustehen und die festgelegten Folgen der Rechtsverletzung zu tragen.780 Die juristische Verantwortlichkeit wird somit nicht als Selbstzweck verstanden, sondern als Mittel zur Durchsetzung bestimmter Ziele, die nicht individuell, sondern allgemein bestimmt werden. Das anschließende Tätigwerden des Gesamtstaates gegenüber dem Rechtsverletzter wird von der marxistisch-leninistischen Lehre als „Erziehungserfolg“ gewertet, den das Vertrauen des Bürgers in den durchsetzungsfähigen Staat notwendig macht. Dementsprechend wird es als notwendig betrachtet, dass der Staat denjenigen, der sich den Regeln widersetzt und sich dadurch in den Widerspruch zum Ganzen setzt, sanktioniert. Verantwortlichkeit versteht insofern weniger die Pflicht des Einzelnen entsprechend dem gemeinsamen Willen aller zu handeln, als
779 780
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 319 ff. Haney u. a., Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 504.
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das Recht des Ganzen, den Einzelnen, der nicht entsprechend handelt, in die Pflicht zu nehmen.781 Ohne dass deutlich wird, wie weit an die marxistisch-leninistische Tradition angeknüpft wird, ist die Lehre von der Verantwortlichkeit präsentes Thema in der gegenwärtigen russischen Rechtslehre.782 Vor dem Hintergrund der nicht entschiedenen Machtfragen zwischen Zentrum und Regionen argumentiert die Lehre deutlich rechtspolitisch für eine Haftung der regionalen Organe der öffentlichen Gewalt gegenüber föderalen Organen. Über die rechtliche Grundlage einer solchen Haftung besteht kein Einvernehmen. Klarheit besteht indes über ihre Notwendigkeit.783 Diese bezieht sich jedoch nicht auf den Schutz einer bestimmten Rechtsstellung, nicht einmal die des föderalen Zentrums, sondern allein auf das Erfordernis der effektiven Organisation und des Funktionierens der staatlichen Macht. In diesem Sinne werden dem Prinzip der innerföderalen Verantwortlichkeit auch nicht konkrete Rechtsstellungen der Subjekte aufgrund des Föderalismusprinzips gegenüber gestellt: Da das Prinzip der Organisation des Ganzen dient, kann das Bundesstaatsprinzip nicht verletzt sein, weil es seinerseits nur einer optimalen Sicherung des Ganzen dient.784 Das Anknüpfen an die marxistisch-leninistische Lehre der Verantwortlichkeit zeigt, dass staatsorganisationsrechtliche Konflikte auch nach der gegenwärtigen Lehre nicht zwischen den streitenden Parteien auszutragen sind, sondern vom Gesamtstaat geklärt werden sollen. Dies geschieht heute durch seinen Repräsentanten, den Präsidenten. Das Prinzip der Verantwortlichkeit wird von der Verfassung der RF nicht erwähnt. Ganz ausdrücklich sagt Gligicˇ-Solotareva, dass die russische Verfassung die föderale Intervention „als Mechanismus der Verantwortlichkeit“ zwar nicht vorsehe, leitet dann aber aus Art. 4 III Verf RF, wonach die Russische Föderation die Ganzheit und die Integrität ihres Territorium zu schützen hat, eine Kompetenznorm zum Eingreifen auf die regionale Ebene ab.785 Dadurch kommt nicht nur die Verknüpfung von Schutz des gesamten Territoriums und Gehorsam gegenüber dem Zentrum zum Ausdruck, unproblematisch wird hier auch angenommen, dass der Schutz der Ganzheit durch Interventionsmaßnahmen Aufgabe der föderalen Ebene ist. Aus dem Kontext wird deutlich, dass Träger des Rechts der föderalen Intervention vor allem der föde-
781
Haney u. a., Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre, S. 504. Vgl. u. a. die Zusammenfassung bei Nekrasov, Konstitucionno-pravovaja otvetstvennost subektov vnutrifederativnych otnosˇenij v Rossijskoj Federacii.specifica konstitucionnogo delikta primenjaemych sankcij, klassifikaci, in: Gosudarstvo i pravo 8/2005, S. 5 ff. 783 Nekrasov, Konstitucionno-pravovaja otvetstvennost subektov vnutrifederativnych otnosˇenij v Rossijskoj Federacii.specifica konstitucionnogo delikta primenjaemych sankcij, klassifikaci, in: Gosudarstvo i pravo 8/2005, S. 5 ff. 784 Vgl. Kap. C.IV.4. 785 Gligicˇ-Solotareva, Pravovye osnovy federalizma, S. 230. 782
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
rale Präsident ist. Auch Ebzeev begreift die föderale Intervention als Ergebnis der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit des Subjekts.786 d) Der Präsident als Verkörperung des gemeinsamen Willens des Volkes – Verabsolutierung der Mehrheitsentscheidung Entscheidend für die Begründung der Machtfülle des Präsidenten ist letztlich die Lehre, der Präsident verkörpere den gemeinsamen Willens des ganzen Volkes. Insofern personifiziere er die russische Staatlichkeit und sei umfassend berechtigt.787 Diese Lehre wird teilweise auch als Grundlage für die Garantenstellung nach Art. 80 II Verf RF herangezogen und mit dieser verbunden.788 Als Legitimation für die weit reichenden Kompetenzen des Präsidenten und seine Rolle jenseits der Gewaltenteilung wird darauf verwiesen, dass der Präsident (durch seine direkte Wahl) am Besten den gemeinsamen Willen und die Interessen des gesamten Volkes vertreten könne.789 Als direkt vom ganzen Volk gewähltes Organ staatlicher Macht brächte er die Interessen der gesamten Gesellschaft am Besten zum Ausdruck. Die gemeinsamen Interessen hätten im Staat wiederum den höchsten Rang, da das Volk nur in seiner Gesamtheit Quelle der staatlichen Macht ist.790 Da allein das Volk als Gesamtheit Quelle von einheitlicher Gewalt sei, stünde der gemeinsame Wille Einzelinteressen grundsätzlich entgegen.791 Indem die Macht ursprünglich beim ganzen Volk liege und der gemeinsame Wille insofern Einzelwillen voranginge, müsste die Gewalt des Präsidenten als Vertreter des Willens des ganzen Volkes auch den verschiedenen Einzelinteressen sowie anderen Organen der Staatsgewalt vorangehen.792 Eine besondere Bedeutung gewinnt diese Vorstellung in den föderalen Beziehungen. Ebzeev schreibt, als Staatsoberhaupt stünde der Präsident über den Gewalten, als sich in seiner Person die Interessen des gesamten Volkes konzentrieren. Unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen Regionen sei der Präsident „Präsident aller Russländer“. Während die Föderalversammlung das russische Volk nur entsprechend der Mehrheiten in den einzelnen Verwaltungseinheiten repräsentiere, erhalte der Präsident sein Mandat aufgrund der gemeinsamen Interessen des ganzen Volkes und ganz Russlands (vsja Rossija). Daraus leitet Ebzeev nicht nur die Rolle, sondern konkrete Befugnisse für den Präsidenten ab. So legitimiere ihn seine Wahl durch das ganze Volk, die Präsidenten der Teilrepubliken bzw. die Chefs der Exekutive in den einzelnen Subjekten der RF zu kontrollieren. Ohne 786 787 788 789 790 791 792
Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 321. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 247. Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 108. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 254. Annenkova, Federalizm RF, S. 145. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 254. So i.E. Morozova, Edinstvo gosudarstvennoj vlasti, S. 106.
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates
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dass dies begründet werden müsste, ergibt die Tatsache, dass der Präsident „Lobby des ganzen Volkes“ sei, automatisch die Kompetenz, in regionalen Konflikten zu intervenieren und die „Einheit der allgemeinen Interessen“ zu sichern.793 Die Verfassung untermauert nach der russischen Auslegung diese Rolle, indem sie nach Art. 80 II Verf RF weder einem Gericht noch dem Volk die Garantiefunktion hinsichtlich der Verfassung und den Schutz der wichtigsten Verfassungsgüter anvertraut, sondern gerade dem Präsidenten.794 Grundlage seiner Macht ist insofern seine besondere politische Legitimation im System staatlicher Macht. Gerade aufgrund der verfassungsmäßigen Entscheidung für den föderativem Aufbau sei die Notwendigkeit einer dahingehenden Rolle des Präsidenten umso größer: Gerade in diesem System bedarf es der Harmonisierung. Dies kann weniger ein gleichberechtigter Teil leisten, als ein Präsident, der höher steht und all die verschiedenen Interessen in sich vereint.795 Andersherum schreibt der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident M. V. Baglaj in seinem Lehrbuch, dass der Präsident deshalb nicht der Kontrolle des Parlaments unterliegen dürfe, da er sein Mandat vom Volk erhalte.796 Die Berufung auf den Willen des gesamten Volkes macht ihn insofern über Kritik erhaben. So kann der vom ganzen Volk gewählte Präsident schon deshalb nicht rechtswidrig handeln, weil die Legitimation durch den Willen des ganzen Volkes in Form von Wahlen ausreicht, um in den einzelnen Amtshandlungen als Ausdruck des Willens des ganzen Volkes zu begreifen, wenn er im Anschluss konstatiert, starke präsidentielle Macht sei kein Widerspruch zu dem „demokratischen Charakter der Rechtsstaats“, sondern stärke diesen, weil dessen Macht einziges Instrument zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Ordnung sei.797 Die Legitimation durch den Volkswillen reicht hier für die Unfehlbarkeit des präsidentiellen Willens aus. Dabei ist es auch hier problematisch, die Legitimation aus dem gemeinsamen Willen des Volkes herzuleiten und nicht aus der Verfassung. Hier wird der gegenwärtige Wille des Volkes höher eingeordnet als die einmal verabschiedete Norm. Dies widerspricht Art. 15 I Verf RF, auch wenn die Macht ursprünglich vom Volk ausgeht (Art. 3 I Verf RF). Mit der Verfassungsgebung hat das Volk seinen Willen in der von der Verfassung festgehaltenen Gewaltenverteilung geäußert, so dass die Träger staatlicher Macht ihre Tätigkeit nunmehr allein nach den in der Verfassung festgelegten Kompetenzbereichen wahrnehmen können. Darüber hinaus ist auch problematisch, dass der Präsident ja tatsächlich nicht vom ganzen Volk gewählt wird, sondern seine Wahl in der Regel eine bloße Mehrheitsentscheidung oder gar eine Minderheitsentscheidung auf Grundlage von Art. 81 Verf RF 793 794 795 796 797
Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 439. Levakin, Sovremennaja edinaja Rossijskaja federativnaja gosudarstvennost, S. 108. Ebzeev, Gosudarstvennoe edinstvo i celostnost Rossijskoj Federacii, S. 247. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 437. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 437 f.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
ist. Anders als nach der Theorie totalitärer Systeme kann ein demokratisch legitimierter Regierender deshalb auch theoretisch nicht für sich in Anspruch nehmen, automatisch den Willen des ganzen Volkes zum Ausdruck zu bringen. Stattdessen ist weder seine Wahl und noch viel weniger sein Handeln automatisch Ausdruck des allgemeinen Willens des Volkes. Insofern kommt es hier zu einer problematischen Verabsolutierung der bloßen Mehrheitsentscheidung. Dabei wird übersehen, dass in einer freiheitlichen Demokratie auch nach der Wahl-Entscheidung der Mehrheit alle unterlegenen Überzeugungen gleichmäßig zu achten sind. Der wahlberechtigte Bürger verliert mit seiner Entscheidung für eine Minderheitsmeinung nicht rückwirkend das Recht der politischen Mitwirkungsfreiheit. Indem aber die Entscheidung der Mehrheit zur Entscheidung aller postuliert wird, wird das Vorhandensein von Mindermeinungen ex post negiert. Das widerspricht dem Demokratiegedanken. Wenn die verschiedenen Minderheiten sich nach der Wahl auch grundsätzlich mit der Entscheidung der Mehrheit arrangieren müssen, so verbietet es sich in der Demokratie, dass die jeweilige Mehrheit sich selbst als das Ganze begreift und damit „die offene Tür durch die sie eingetreten ist, hinter sich zuschlägt“.798 Das Recht der Mehrheit, Entscheidungen zu treffen, darf nicht so verstanden werden, dass es der Minderheit verweigert, selbst Mehrheit zu werden. Alles andere wäre keine Demokratie sondern eine Mehrheitsdiktatur. Insofern finden Mehrheitsentscheidungen dort ihre Grenzen, wo für Auffassungen und Zielvorstellungen ein Alleingeltungsanspruch angenommen wird und die Auffassung der Minderheitsmeinung jegliche Bedeutung abgesprochen wird.799 Wenn die russische Staatsrechtstheorie teilweise einen anderen Weg wählt, ist deutlich die marxistisch-leninistische Parlamentarismuskritik spürbar. Der Parlamentarismus stand hier für die Herrschaft einer Klasse über eine andere, die das Sowjetsystem durch einen fingierten einmütigen Willen des ganzen Volkes als Herrschaftsgrundlage zu überwinden suchte. Wie dargestellt, rühmte sich die sowjetische Führung damit, nicht nur eine herrschende Klasse zu vertreten, sondern den Willen des ganzen Volkes. Indem der Präsident heute „Präsident des ganzen Volkes“ genannt wird, ist keine Distanzierung von der sowjetischen Lehre feststellbar. Dabei hat die Demokratie als Mehrheitsherrschaft auch gar keinen Grund, sich auf eine breitere Masse zu berufen als auf die Mehrheit. So folgt die innere Notwendigkeit der Mehrheitsentscheidung für die Demokratie aus dem Prinzip der Freiheit und der Selbstbestimmung sowie der demokratischen Gleichheit. Indessen wäre die Rechtsstaatlichkeit ein deutlich effektiveres Mittel zur Verhinderung einer Mehrheitsdiktatur als die Annahme, es gäbe keine Minderheit, sondern nur einen einheitlichen Willen. In einer freiheitlichen Demokratie gilt es, die Minderheit nicht zu verleugnen, sondern vor der Mehrheit zu schützen. Die Volkswahl mag eine starke Rolle des
798
Mit Verweis auf den Gedanken bei Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 30 ff. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR, II, 2004, § 24, Rn. 54. 799 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, 2004, § 24, Rn. 56.
XI. Die Rolle des Präsidenten als Garant der Einheit des Staates
363
Präsidenten in der Verfassung rechtfertigen,800 nicht aber beliebigen politischen Entscheidungen außerhalb der verfassungsmäßigen Kompetenztitel Legitimation verleihen. e) Der „Geist“ der Verfassung als Legitimationsgrundlage Nicht zuletzt bietet der „Geist der Verfassung“ für Stimmen in der russischen Lehre eine Rechtsgrundlage für den Präsidenten. Baglaj schreibt, das Recht des Präsidenten als Garant für die Verfassung nach eigenem Ermessen zu handeln, folge nicht allein aus den Buchstaben der Verfassung, sondern auch aus ihrem Geist.801 Auch Avakjan liest die besondere Rolle des Präsidenten aus dem Zusammenhang einer Reihe von Vorschriften heraus. Dies sind die Volkswahl, die Rolle außerhalb der Gewalten, seine Funktion zur Sicherung der Verfassung und der staatlichen Einheit, seine Unabhängigkeit von anderen Gewalten.802 Insofern habe der Präsident eine Schlüsselrolle bei der Führung des Landes. Aus der Gesamtheit der Verfassung sei er insofern Führer (lider) der Staates und der Gesellschaft. f) Art. 85 Verf RF Ausdrücklich werden Kontrollkompetenzen des Präsidenten gegenüber anderen Organen der Staatsgewalt dagegen nur in Art. 85 Verf RF genannt. Darin werden ein Vermittlungsverfahren und ein Suspensionsrecht gegenüber rechtswidrigen Rechtsakten angelegt. Das Vermittlungsverfahren nach Art. 85 I Verf RF ist indes in der Wirkung schwach. In diesem Verfahren wird dem Präsidenten von der Verfassung die Rolle eines neutralen Schlichters zwischen Organen des föderalen Zentrums und den Regionen bzw. zwischen zwei Regionen angetragen. Hier wird ein politisches Streitschlichtungsverfahren dem juristischen Verfahren in Form einer gerichtlichen Entscheidung vorgeschaltet. Problematisch ist hierbei, dass die Ausführungen der Verfassung hierzu relativ unkonkret bleiben und bisher auch nicht konkretisiert werden konnten. Es gibt weder eine Regelung darüber, wann ein solches Verfahren eingeleitet wird, noch wie es abzulaufen hat. Es wird nicht konkretisiert, ob und unter welchen Umständen der Präsident von sich aus in den Konflikt eingreifen kann oder ob der Beginn eines solchen Verfahrens allein bei den betroffenen Parteien liegt. Vor allem ist nicht klar, welchen Stellenwert eine mögliche Entscheidung des Präsidenten hätte. Da dies nicht konkretisiert wird, muss davon ausgegangen werden, dass der Sinn dieses Verfahrens allein in einer vermittelnden Tätigkeit des Präsidenten liegt, die darauf hinzielen soll, den Streit zu beenden. Sollte es aber darum gehen, Antworten auf rechtliche Fragen zu finden, wie sie Kompetenzstreitigkeiten in der Regel
800 801 802
Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossi, Band 2, S. 299. Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 441. Avakjan, Konstitucionnoe pravo Rossi, Band 2, S. 299 f.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
sein werden, so ist nicht ersichtlich, warum nicht alternativ der Weg zum Verfassungsgericht gewählt werden sollte.803 Daneben ist dem Präsidenten in Art. 85 II Verf RF die konkrete Befugnis zugesprochen, einzugreifen, wenn Akte der Exekutivgewalt der Subjekte der Föderation der Verfassung der RF, föderalen Gesetzen oder die Rechte und Freiheiten des Bürger (unter Einschluss der Normen des Völkerrechts) verletzten. Bis zu einer Klärung der rechtlichen Fragen durch ein Gericht kann der Präsident danach die betroffenen Rechtsakte suspendieren. 4. Zwischenergebnis Es ist überdeutlich, dass dem Präsidenten der RF auf der Suche nach wirkungsvollen Konfliktlösungsmechanismen im System der föderalen Beziehungen in der russischen Verfassungsrechtsliteratur eine bedeutende Rolle zukommt. Der Präsident ist oberster Repräsentant des Staates und trägt die Hauptverantwortung für die politischen Entscheidungen im Staat. Die Verantwortung umfasst die Einhaltung der Verfassung und den Schutz des Territoriums.804 Dies beinhaltet eine Koordinierungsfunktion innerhalb des einheitlichen Systems der staatlichen Macht. Dabei wird in der realen Machtposition des Präsidenten und seiner Rolle als unabhängiger Schiedsrichter grundsätzlich kein Widerspruch gesehen. Tatsächlich ist die Zuordnung des Präsidenten zu den drei Gewalten nach der russischen Verfassung nicht eindeutig. Insbesondere bleibt fraglich, ob der Präsident zur Exekutive zu zählen ist oder als vierte Gewalt verstanden werden muss. Jedenfalls wird die Rolle des Präsidenten als Hüter der Verfassung extensiv ausgelegt. In diesem Zusammenhang ist eine starke Tendenz spürbar, die Legitimation für politisches Handeln jenseits der verfassungsmäßigen Legalität zu suchen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem der Ansatz, Rechtfertigung aus dem Willen des ganzen Volkes herzuleiten. Durch seine direkte Wahl durch das Volk sei der Präsident „legitimierter“ als andere Organe der Staatsgewalt. Indem sein Handeln dem Willen des ganzen Volkes entspräche, könne er nicht rechtswidrig handeln. Dabei untergräbt diese Vorstellung das Kompetenzgefüge der Verfassung. Kompetenzen können allein aus konkreten Normen der Verfassung hergeleitet werden. Gleichermaßen kritikwürdig ist deshalb die Herleitung von Kompetenzen aus dem „Geist der Verfassung“, d. h. aus dem Gesamtzusammenhang verschiedener allgemeiner Normen der Verfassung. Auch dies lässt die ausdrückliche Kompetenzordnung der Verfassung verwässern. Die russische Lehre gibt dem Präsidenten indes aufgrund seiner Wahl durch das ganze Volk und seiner Garantenstellung für die Verfassung und die Einheit des Staates grundsätzlich einen unumschränkten Handlungsspielraum zur 803
Vgl. zu prozessualen Folgeproblemen insbesondere im Zusammenhang mit der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts als „entsprechendes Gericht“ nach Art. 85 I Verf RF: Kerber, Konfliktlösungsmechanismen, in: Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus, S. 293 ff. 804 ˇ Cirkin, Konstitucionnoe pravo Rossii, S. 295.
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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Erreichung dieser Ziele, der erst dort seine Grenzen findet, wo das Handeln ausdrücklich der Verfassung widerspricht.
XII. Staatliche Einheit und einheitliche Macht aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF 1. Staatliche Einheit und territoriale Ganzheit Die Liste der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen,805 in denen die Begriffe staatliche Einheit, Einheit des Staates sowie staatliche und territoriale Ganzheit auftauchen, ist lang.806 Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Föderalismusprinzip kommt kaum eine Entscheidung des Gerichts ohne den Verweis aus, dass die föderale Ordnung auf dem Prinzip des Schutzes der staatlichen Einheit beruhe. In einigen Entscheidungen wird es dabei lediglich als Argumentationshilfe für speziellere Normen, wie den einheitlichen Wirtschaftraum807 oder die Regelung über die Staatssprache808 herangezogen. Ohne Bedeutung für den Ausgang der Entscheidung, sucht sich das Gericht hier durch den Hinweis, dass auch der Schutz der staatlichen Einheit durch den Beschwerdegegenstand nicht gefährdet sei, abzusichern. Deutlich kritischer zu betrachten sind dagegen die Entscheidungen, die sich durch den Verweis auf den notwendigen Schutz der staatlichen Einheit über das Ergebnis widersprechender Bestimmungen der Verfassung hinwegsetzen. Dies trifft auf das TschetschenienUrteil von 1995,809 das Urteil über Suspensionsrechte gegenüber der regionalen Staatsgewalt vom 4. 4. 2002,810 die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes „Über die politischen Parteien“ aus dem Jahr 2005811 sowie die Entscheidung über die faktische Ernennung der regionalen Exekutivchefs durch den föderalen Präsidenten vom 21. 12. 2005812 zu. In diesen Urteilen wird staatliche Einheit als Staatsziel zum absoluten Wert, hinter dem andere fundamentale Prinzipien des Staates und gar Grundrechte und grundrechtsähnliche Rechte, wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker der russischen Verfassung zurücktreten müssen. Wie die
805
Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts ergehen grundsätzlich entweder als Urteil oder als Beschluss. Umfangreichen Überblick über die Föderalismus-Rechtsprechung bietet: Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, Hamburg 2006. 806 Alle Entscheidungen finden sich in der Online-Datenbank des Verfassungsgerichts (www.ksrf.ru). 807 SZ RF 2004, Nr. 27, Pos. 2803. 808 SZ RF 2004, Nr. 47, Pos. 4691. 809 SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424. 810 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497. 811 SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491. 812 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Literatur definiert auch das Verfassungsgericht nicht, was staatliche Einheit konkret bedeutet. a) Entscheidung vom 16. 11. 2004 (Sprachenurteil) – staatliche Einheit als Letztbegründung In seinem Urteil über die russische Sprache813 setzt das Verfassungsgericht die historisch gewachsene Einheit als das voraus, was der Verfassung zugrunde liegt. Der Präambeltext, der staatliche Einheit allein als vorkonstitutionelle historisch-soziale Tatsache annimmt, wird nach den Ausführungen des Gerichts auch für rechtliche Entscheidungen eine zu beachtende Größe. Es gilt als vorausgesetzt, dass das multinationale Volk zu einem Staatsvolk zusammengewachsen ist. Staatliches Handeln muss dieser Tatsache entsprechen und ihr gerecht werden. Indem das Gericht begrifflich zwischen „staatlicher Einheit“ und „territorialer Ganzheit“ wechselt, wird allerdings nicht eindeutig klar, ob es sich allein auf die Präambel oder auf den Schutz der territorialen Ganzheit in Art. 4 III Verf RF stützt. Entscheidend ist jedoch, dass es der Idee der historisch gewachsenen Vielvölkernation aus der Präambel zumindest auch einen eigenen Wert zuspricht, und sich nicht allein von Art. 4 III Verf RF leiten lässt. Das Urteil, das die Verfassungsmäßigkeit der einzelnen Gesetze der Republik Tatarstan untersuchte, die neben der russischen Sprache die tatarische Sprache als Staatssprache und als Unterrichtssprache in Schulen und Kindergärten zuließen (Art. 10 Nr. 2 Gesetz der Republik Tatarstan „Über die Sprachen der Völker der Republik Tatarstan“, Art. 9 II Gesetz der Republik Tatarstan „Über die Sprachen der Völker der Republik Tatarstan“, Art. 6 Punkt 2 Gesetz der Republik Tatarstan „Über die Ausbildung“ und Art. 3 Nr. 6 Gesetz der Russischen Föderation „Über die Sprachen der Völker der RF“) beruft sich nicht allein auf Art. 68 Verf RF,814 der das Verhältnis der Sprachen auf dem Gebiet der RF normiert. Stattdessen wird die historisch gewachsene staatliche Einheit herangezogen, um die Regelungen der Verfassung zur Staatssprache in Art. 68 I Verf RF zu erläutern. Die gesetzgeberische Entscheidung des Art. 68 Verf RF sichere die Harmonie und die Balance der Sprachen innerhalb des gemeinsamen Sprachraums der RF und diene so der Sicherung der staatlichen Einheit.815 Dabei ist die Sicherung der staatlichen Einheit nicht nur Interpretationshilfe für die speziellere Regelung in Art. 68 Verf RF, viel813
SZ RF 2004, Nr. 47, Pos. 4691. 1. Staatssprache der Russischen Föderation auf ihrem gesamten Territorium ist die russische Sprache. 2. Die Republiken sind berechtigt, ihre eigenen Staatssprachen festzulegen. Diese werden in den Organen der staatlichen Macht, den Organen der örtlichen Selbstverwaltung und den staatlichen Einrichtungen der Republiken gleichberechtigt neben der Staatssprache der Russischen Föderation verwendet. 3. Die Russische Föderation garantiert allen ihren Völkern das Recht auf Erhalt ihrer Muttersprache sowie die Schaffung von Bedingungen für deren Erlernen und der Entwicklung. 815 SZ RF 2004, Nr. 47, Pos. 4691, Punkt 4.2, Absatz 2. 814
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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mehr wird das angegriffene Gesetz auch direkt am notwendigen Einheitsschutz gemessen. Der Unterricht in russischer und tatarischer Sprache sei deshalb nicht verfassungswidrig, weil die Ganzheit des Staates durch die Gesetze nicht gefährdet würde.816 Dabei argumentiert das Gericht aus zwei Richtungen: Während die faktische staatliche Einheit einerseits als Ausgangspunkt und Rechtfertigung gilt, wird andererseits dargelegt, dass sich auch aus dem Föderalismusprinzip nichts anderes ergeben kann, weil der föderale Aufbau seinerseits auf dem Prinzip der staatlichen Ganzheit beruhe (Art. 5 III Verf RF).817 Deutlich ist, dass die staatliche Einheit nicht nur Ausgangspunkt der Argumentation ist, sondern dass sich das Verfassungsgericht vielmehr von dem Gedanken leiten lässt, diese historisch gewachsene staatliche Einheit auch für die Zukunft zu schützen. So spricht es von der Sicherung staatlicher Einheit als Ziel von politischem Handeln, das bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden muss. Dadurch, dass das Gericht zu dem Ergebnis kommt, die Harmonie der verschiedenen Sprachen diene der Sicherung dieses Ziels, erklärt es den Schutz der staatlichen Einheit indirekt zum entscheidenden Kriterium der Verfassungsmäßigkeit.818 b) Entscheidungen zum Parteiengesetz (1. 2. 2005) Der Schutz der staatlichen Einheit war auch Inhalt der Verfassungsgerichtsentscheidung vom 1. 2. 2005.819 Darin prüfte das Gericht die Verfassungsmäßigkeit des föderalen Gesetzes über die politischen Parteien“ (ParteiG) vom 11. 7. 2001 in der Fassung vom 21. 3. 2002. Ausgangspunkt war eine Beschwerde der Baltischen Republikanischen Partei (Baltijskaja Respublikanskaja Partija). Beschwerdegegenstand war insbesondere die Regelung, nach der eine Partei, um als Partei zugelassen werden zu können, in der Hälfte aller Subjekte über Regionalverbände verfügen und dabei nicht weniger als 10 000 Mitglieder nachweisen muss. Daneben soll die Partei in der Hälfte aller Subjekte über Regionalverbände mit mindestens 100 Mitgliedern verfügen (Art. 3 Punkt 2 ParteiG).820 Diese Regelungen erschweren eine Parteiengründung erheblich. Sie machen es gerade für Parteien wie die Baltische Partei, die die Interessen bestimmten Regionen vertreten, unmöglich, als Partei zugelassen zu werden. Die Gesetzesänderungen kommen insofern einem Verbot von regionalen Parteien gleich.821 Die Beschwerdeführerin rügte deshalb eine Verletzung der Vereinigungsfreiheit (Art. 30 I Verf RF), des Föderalismusprinzips (Art. 1 Verf RF), des 816
SZ RF 2004, Nr. 47, Pos. 4691, Punkt 4.3. SZ RF 2004, Nr. 47, Pos. 4691. 818 SZ RF 2004, Nr. 47, Pos. 4691, Punkt 2. 819 SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491. 820 Hier zitiert nach der der Entscheidung zugrunde liegenden Fassung des Gesetzes vom 21. 3. 2002. 821 Vgl. zu diesem Gesetz und nach den erneuten Änderungen im Jahr 2004: Golosov, Die Novellierung von Partei- und Wahlgesetz in ihren Folgen für das russische Parteiensystem, in: Russland-Analysen, Nr. 53 vom 28. 1. 2005, S. 2 ff. 817
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Prinzips der Meinungs- und Parteienvielfalt (Art. 13 III Verf RF), des verfassungsmäßigen Schutzes der Normen des Völkerrechts (Art. 17 I Verf RF) in Verbindung mit Art. 55 III Verf RF, wonach die Grundrechte nur eingeschränkt werden dürfen, wenn es zum Schutz der Verfassung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und gesetzlich geschützten Interessen anderer Personen, sowie zur Verteidigung des Landes und zum Schutz der Sicherheit des Staates notwendig (neobchodimo) ist.822 Das Verfassungsgericht beginnt seine Argumentation mit dem Hinweis auf den verfassungsmäßigen Grundsatz der Meinungsvielfalt und des Parteienpluralismus (mnogopartiinost) und mit einer umfassenden Erörterung der Zielsetzung des Rechts auf Mitgliedschaft in einer Partei (pravo na obedinenie v politicˇeskie partii). Dieses Recht leitet das Verfassungsgericht aus der Vereinigungsfreiheit in Art. 30 Verf RF in Verbindung mit den Artt. 1, 13, 15 V, 17, 32 I Verf RF her.823 Dabei beschreibt es die politischen Parteien als „eng verbunden“ mit der politischen Macht und als notwendiges Institut der repräsentativen Demokratie, weil es die Teilhabe des Bürgers am politischen Leben der Gesellschaft, das gegenseitige Verhältnis von Staat und Gesellschaft, die Ganzheit und die Stabilität des politischen Systems sichere.824 Mit Verweis auf die Entscheidung vom 15. 12. 2004825 entnimmt es der Vereinigungsfreiheit dabei auch das Recht, Parteien zu gründen (sozdanie). Korrespondierende Rechte erkennt das Gericht ausdrücklich auch im Völkerrecht.826 Trotzdem hält das Gericht das faktische Verbot regionaler Parteien nach dem ParteiG in der Fassung vom 21. 3. 2002 für verfassungsmäßig. Dies begründet es mit einem Blick in die Verfassung. Es führt aus, dass die Parteien nach Art. 15 II Verf RF an die Verfassung gebunden (objazny sobljudat) sind. Gleichermaßen dürften die Parteien nach Art. 13 V Verf RF durch ihre Ziele und Handlungen nicht auf die gewaltsame Änderung der Grundlagen der Verfassungsordnung, die Verletzung der staatlichen Ganzheit, die Gefährdung der Staatssicherheit, die Bildung bewaffneter Formierungen gerichtet oder in der Lage sein, soziale, rassische, nationale oder religiöse Zwietracht zu entfachen.827 Anstatt nun konkret zu prüfen, ob bei regionalen Parteien eine entsprechende Bindung an die Verfassung nicht gesichert sei oder ob sie eine Art. 15 V Verf RF gemäße Gefahr darstellten, argumentiert das Gericht, dass dem Einzelnen das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei ja insgesamt bliebe. Das Gesetz sichere die Teilhabe des Einzelnen am politischen Leben der gesamten RF und nicht nur eines Teils. Die Parteien formierten den Willen des gesamten Volkes (mnogonacionalnogo rossijskogo naroda kak celogo). Insofern müssten die gesamtstaatlichen Interessen herausgearbeitet werden und nicht nur die einer einzelnen Region. Diese Argumen822 823 824 825 826 827
SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 1, Absatz 2. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 2, Absatz 2. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.1. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 2, Absatz 2. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 2, Absatz 3. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 2, Absatz 4.
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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tation deckt sich mit den Ausführungen der Literatur zur einheitlichen Souveränität und dem einheitlichen Willen des ganzen Volkes als Voraussetzung für das Gesetz. Neben den subjektiven Rechten des Bürgers auf Teilhabe an einer politischen Partei prüft das Gericht eine mögliche Verletzung der föderalen Ordnung. Verstünde man das Föderalismusprinzip als Regelung, um die politischen Interessen des Volkes in der Region im Gesamtstaat zur Geltung zu bringen, könnte man annehmen, dass das Föderalismusprinzip zumindest in Verbindung mit dem Recht auf Parteienteilhabe Argument für regionale Parteien und umgekehrt dafür wäre, ein faktisches Verbot von regionalen Parteien nur zur Abwehr besonders gravierender Gefahren zuzulassen. Stattdessen führt das Verfassungsgericht aus, dass der föderale Aufbau der RF gemäß Art. 5 III Verf RF seinerseits auf dem Prinzip der staatlichen Ganzheit beruhe.828 Dem scheint es entnehmen zu wollen, dass der föderale Gedanke in der Verfassung an den Erhalt der staatlichen Ganzheit gebunden ist und diese nicht gefährden dürfe. Ohne auch hier diese Prinzipien näher zu erläutern, stellt das Gericht im nächsten Absatz fest, dass die russische Gesellschaft „unter den gegenwärtigen Umständen“ (v sovremennych usloviach) nicht über die notwendige demokratische Haltung verfüge (esˇcˇe ne priobrelo procˇnyi opyt demokraticˇeskogo susˇcˇesvovanija), nach der gewährleistet sei, dass die staatliche Einheit auch ohne eine entsprechende Parteienregulierung gesichert wäre. Vielmehr böte die uneingeschränkte Möglichkeit zur Parteigründung separatistischen, nationalistischen und terroristischen Kräften freie Bahn, ihre „regionalen und örtlichen Interessen“ durchzusetzen.829 Im Interesse der Sicherung der staatlichen Ganzheit und der Einheit des Systems der staatlichen Macht, als der Grundlage des föderalen Aufbaus, sei dies zu verhindern. Das Gesetz ermögliche diesen Schutz, indem es derartigen Parteien ein Hindernis sei.830 Insgesamt wird das Recht auf Teilhabe an einer Partei insofern allein an gesamtstaatlichen Interessen ausgelegt, nicht aber im Lichte des Föderalismusprinzips. Entscheidend ist, dass das Gericht auch in dieser Entscheidung keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornimmt. Für die Argumentation ist es ausreichend, dass das Recht auf Teilhabe an (irgend)einer Partei und der Schutz der staatlichen Einheit gewahrt werden und dass regionale Parteien eine auch nur hypothetische Gefahr begründen, die staatliche Einheit zu vereiteln. Die Frage, ob sich zum Schutz der Einheit nicht mildere Mittel anböten, wie z. B. nur die Parteien zu verbieten, die nachweisbar separatistische, nationalistische oder gar terroristische Tendenzen zeigen, muss das Gericht insofern nicht erörtern. Im praktischen Ergebnis gilt diese Grundrechtseinschränkung somit nicht nur für den staatlichen Schutz der Rechte derer, die diese Einheit tatsächlich konkret gefährden, sondern auch für die Rechte nicht-nationalistischer, nicht-separatistischer und nicht-terroristischer Parteien. Auch deren Rechtsposition ist hier nachrangig. Die bloße Möglichkeit der Gefährdung der staatlichen Einheit wirkt hier verbotslegitimierend. 828 829 830
SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.2. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.2, Absatz 2. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.2, Absatz 2.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Darüber hinaus gibt das Gericht zu bedenken, dass die Errichtung regionaler und örtlicher Parteien in jedem Subjekt der RF zu einer Verkomplizierung und Zersplitterung des politischen Systems in der RF führe. Es befürchtet, dass die RF einen zusammengesetzten (slozˇnosostavnij) Charakter bekommen könnte. Dies sei eine Gefahr für die sich entwickelnde russische Demokratie, die Volksherrschaft, den Föderalismus, die Einheit des Landes und letztlich einen Schwächung des Grundrechtsschutzes. Insofern stimme das Gesetz mit den Zielen der Verfassung überein, der Formierung von Parteienvielfalt und der Institutionalisierung von Parteien „als wichtigem Faktor des Aufbaus der bürgerlichen Gesellschaft“ und ist darüber hinaus auch unbedingt notwendig (neobchodimo), um die Werte der Verfassung – „allen voran“ die Sicherung der Einheit des Landes vor dem Hintergrund der gegenwärtigen konkret-historischen Bedingungen des Aufbaus der Demokratie und des Rechtsstaats in der RF zu ermöglichen.831 Angesichts der Bedrohung durch Zersplitterung und Zerfall wird auf den Schutzbereich der möglicherweise verletzten Normen kaum eingegangen. Dass demokratische Grundrechte an dieser Stelle keine nennenswerte Erörterung erfahren und das Gericht hier allein politisch mit der Sicherung des Landes vor Chaos und Zerfall argumentiert, spricht eine deutliche Sprache. Hinter dem notwendigen Schutz der territorialen Einheit bleiben die Grundrechte zurück. Der von der Verfassung geforderte Schutz der Einheit und Ganzheit des Staates wird nicht im Verhältnis zu Föderalismus- und Demokratieprinzip ausgelegt und definiert, vielmehr scheinen Föderalismus- und Demokratieprinzip automatisch subsidiär zu sein. Statt einer inhaltlichen Auslegung dessen, was die Präambel mit dem Schutz staatlicher Einheit meint, bzw. aus welchen Normen der Verfassung ihr Schutz sonst hergeleitet wird, erscheint allein der Hinweis auf den gemeinsamen politischen Willen des multinationalen russländischen Volkes als einheitlichem Träger der Souveränität und ausschließlicher Quelle der Staatsgewalt in der RF. Bemerkenswert ist dabei auch an dieser Entscheidung die Herangehensweise, die Verfassungsauslegung an dem gegenwärtigen politischen Entwicklungsstand des russischen Staatsvolkes zu orientieren. So drückt das Gericht aus, dass das Volk zu regionalen Parteien „unter den gegenwärtigen Umständen noch nicht“ in der Lage sei, ein System mit regionalen Parteien ohne Gefahren für den Gesamtstaat zu errichten. Falsch ist dabei nicht der Ansatz, nach den Vorgaben der Verfassung Gesetze zu erlassen, die Bedingungen aufstellen, Parteien zu verbieten, die ihren Zielen und Handlungen nach der verfassungsmäßigen Ordnung widersprechen. Problematisch ist es vielmehr, die Vorgaben für diese Gesetze nicht allein in der Verfassung zu suchen, sondern anhand einer Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse. Es wird nicht allein nachgeprüft, ob das Gesetz der Verfassung entspricht, vielmehr untersucht man, ob die Gesellschaft bestimmte Regelungen „braucht“. Indes findet sich in der Verfassung kein Hinweis darauf, wonach die Rechte und Pflichten abhängig von den gegenwärtigen Verhältnissen zu bestimmen sind. Sinn der Verfassung ist es als Sollordnung 831
SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.3.
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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das Sein zu bestimmen. Hier indes bestimmt das Sein die Auslegung des Verfassungstextes. Der Verfassung nicht entnommen werden kann insbesondere der Ansatz, nach dem zwar theoretisch an der Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit festgehalten wird, das Gebot der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aber als Argument für lenkende Maßnahmen des Staates verstanden wird. So ist die unbeschränkte Parteienvielfalt für das Verfassungsgericht zwar das Ziel, unumgänglich sei aber zunächst der Schutz der Einheit des Landes. Nur wenn die staatliche Einheit gesichert ist, könnten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit überhaupt möglich werden. Wenn das Gericht argumentiert, dass durch diese Grundrechtseinschränkung zur Stabilisierung der staatlichen Einheit die Voraussetzungen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erst geschaffen werden sollen, geht es über den Verfassungstext selbst hinweg. Unabhängig von der politischen Frage, ob es überhaupt möglich ist, eine stabile, freiheitliche, demokratische Ordnung durch Lenkung und Einschränkungen durchsetzen zu können, übersieht das Verfassungsgericht, dass auch die russische Verfassung keine Möglichkeiten bietet, die Voraussetzungen zu schaffen, auf der sie beruht, nämlich die Fähigkeit der Bürger zu Demokratie und Freiheit. Die Verfassung bietet allein einen Rechtsanspruch für die Bürger, Demokratie und Freiheitsrechte (gegen die Organe der staatlichen Gewalt) durchzusetzen.
2. Die Rolle des Präsidenten als Hüter der staatlichen Einheit a) Entscheidung vom 31. 7. 1995832 Den Schutz der territorialen Ganzheit nimmt bereits die Tschetschenien-Entscheidung des Verfassungsgerichts der RF zum Ausgangspunkt. Anlass der Beschwerde war die Frage nach der Kompetenz des Präsidenten der RF zum Erlass des Dekrets Nr. 2166833 („Über Maßnahmen zur Unterbindung der Tätigkeit illegaler bewaffneter Verbände auf dem Territorium der Tschetschenischen Republik“) sowie die Regierungsverordnungen Nr. 1360834 (Über die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit und der territorialen Ganzheit der RF, der Gesetzlichkeit, der Rechte und Freiheiten der Bürger und der Entwaffnung illegal bewaffneter Verbände auf dem Territorium der Tschetschenischen Republik und in den angrenzenden nord-kaukasischen Regionen“), die die Grundlagen für den Einsatz der Streitkräfte in Tschetschenien bildeten.835 Gerügt wurde vor allem die fehlende Mitwirkung des Föderationsrats. Zu prüfen war, ob der Föderationsrat an der Entscheidung über die militärischen Maßnah832 SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, dt. Übersetzung Beknazar, Tschetschenien-Urteil des russischen VerfG vom 31. 7. 1995, in: ZaöRV 1997, S. 180 ff. 833 SZ RF 1994, Nr. 33, Pos. 3422. 834 SZ RF 1994, Nr. 33, Pos. 3454. 835 Das Verfahren über die ebenfalls gerügte Dekret Nr. 2137, Nr. 1833 und die Leitsätze der Militärdoktrin wurde eingestellt.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
men und die Grundrechtsverletzungen hätte beteiligt werden müssen und ob die Entscheidung allein von der Exekutive hätte getroffen werden dürfen. Dies könnte sich aus den Regeln über den Ausnahme- oder Kriegszustand ergeben. Grundrechtseingriffe, die nicht auf föderalem Gesetz beruhen, sind nur im Ausnahmezustand nach Art. 56 I Verf RF erlaubt. Darüber hinaus regelt die Verfassung in Art. 87 II Verf RF, dass der Präsident berechtigt ist, im Falle einer gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden Aggression gegen die Russische Föderation den Kriegszustand zu verhängen. Entscheidend ist jedoch, dass in beiden Fällen der Föderationsrat nach Art. 102 lit. b und c eine entsprechende Entscheidung des Präsidenten bestätigen muss. Eine derartige Entscheidung hatte der Föderationsrat verweigert. Fraglich war insofern, ob der Präsident die Dekrete auch ohne eine entsprechende Beteiligung des Föderationsrats verfassungsmäßig erlassen konnte. Diese Frage beantwortet das Verfassungsgericht mit dem Rückgriff auf die Garantenstellung des Präsidenten zum Schutz der staatlichen Einheit. Das Gericht argumentiert, die Regelung über den Ausnahmezustand sei hier nicht anzuwenden, weil das Notstandsrecht unvollständig ausgestaltet sei. Die Befugnis, den Ausnahmezustand innerhalb der RF zu verhängen, soll nach Art. 56 II Verf RF ein einfaches Gesetz regeln. Die Geschehnisse in Tschetschenien fielen nun jedoch nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes. Zwar beschreibt das Verfassungsgericht die Situation dort als „extraordinär“ (ekstraordinarnaja situacija),836 jedoch sei die Situation anders als vom Gesetz beschrieben. Das Gesetz „Über den Ausnahmezustand“ sei seinem Inhalt nach nicht auf Situationen zugeschnitten, in denen mit den neusten Waffen ausgestattete bewaffnete Verbände kämpfen.837 Anstatt die (angenommene) Regelungslücke durch eine Analogie der tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebung mit einem Kriegs- oder Ausnahmezustand auszufüllen,838 greift das Verfassungsgericht auf allgemeinere Normen zurück. Aus der Verfassung folge nicht, dass die Sicherung der staatlichen Einheit und der verfassungsmäßigen Ordnung in extremen Situationen ausschließlich im Wege der Einführung eines Ausnahme- oder Kriegszustands verwirklich werden könne. In der hier diskutierten Entscheidung kommt es so zu einer Suspendierung des Grundrechtsschutzes durch militärische Maßnahmen, die man jenseits der verfassungsmäßig erfassten Ausnahmesituation angesiedelt sieht. Dazu führt das Gericht aus, dass die territoriale Ganzheit nach Artt. 4 III, 5 III, 8, 65, 67 I, 71 lit. b Verf RF eine Grundlage der Verfassungsordnung bilde. Diese Bestimmung entnimmt das Gericht auch dem Völkerrecht. Die Bewahrung der Integrität des Russischen Staates sei auch in der am 24. 10. 1970 angenommenen „Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta
836
SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Nr. 2. SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Punkt 3, Absatz 2. 838 Nußberger, Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 54, S. 49. 837
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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der Vereinten Nationen (sog. Friendly Relations Declaration [FRD])839 niedergelegt.840 Im Anschluss an die Darlegung des notwendigen Schutzes der staatlichen Einheit prüft es, ob Präsident und Regierung jeweils zum Erlass der gerügten Rechtstexte befugt waren. Das Verfassungsgericht bejaht die Kompetenz des Präsidenten zur Anordnung von militärische Maßnahmen mit dem Verweis auf die Verpflichtung des Präsidenten, Maßnahmen zum Schutz der Souveränität, der Unabhängigkeit, der Sicherheit und der Ganzheit des russischen Staates zu treffen und belegt dies mit den Artt. 71 lit. m, 78 IV, 80 II, 82, 87 I, 90 III Verf RF. Es wird also allein festgestellt, dass die staatliche Einheit zu schützen sei und dass die Kompetenz dazu beim Präsidenten liegt. Anschließend wir untersucht, ob es Regeln gibt, die die Handlungsmöglichkeiten des Präsidenten zu diesem Ziel beschränken könnten. Dabei vertritt das Gericht den Ansatz, zum Schutz der staatlichen Einheit darf der Präsident alles tun, was nicht ausdrücklich verboten ist.841 Diese Annahme scheint zweifelhaft.842 Die Tatsache, dass die Verfassung in den Art. 56 Verf RF eine Notstandsverfassung eingerichtet hat, lässt darauf schließen, dass der Grundrechtsschutz grundsätzlich zu respektieren ist.843 Nur im Ausnahmefall sollen die Organe der Staatgewalt von ihrer Pflicht, die Grundrechte einzuhalten, suspendiert werden. Die Einzelheiten für ein derartiges Vorgehen sollen einfachgesetzlich geregelt werden (Art 56 II Verf RF). Wenn die Verfassung bestimmt, einfachgesetzliche Voraussetzungen für Ausnahmen vom generell unabdingbaren Grundrechtsschutz festzulegen, kann es nicht darauf ankommen, ob die tatsächliche Ausnahmesituation der gesetzlich festgelegten entspricht. Selbst wenn man annähme, dass der Bürgerkrieg in Tschetschenien kein Notstand im Sinne des Art. 56 I Verf RF war, scheint es zweifelhaft, auf allgemeinere Bestimmungen, wie die generelle Vorschrift über den Schutz der staatlichen Ganzheit zurückzugreifen (Art. 80 II Verf RF). So kann man zwar zu dem Ergebnis kommen, dass das Gesetz 839 Anhang der Resolution der Generalsversammlung der Vereinten Nationen Nr. 2625 (XXV) vom 24. 10. 1970, dt. Übersetzung in: Vereinte Nationen, Heft 4/1978, S. 138. 840 SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Punkt 2 Absatz 7. 841 Beknazar, Übergesetzliches Staatsnotstandsrecht in Russland: Staatsnotstand und Notstandsbefugnisse der Exekutive, Zum Tschetschenien-Urteil des Verfassungsgerichts vom 31. 7. 1995, in: ZaöVR 1997, S. 174. Den Ansatz kritisiert auch Verfassungsrichter Lucˇin in seinem Sondervotum. Man könne Befugnisse des Präsidenten nicht allein aus „seinem Status und seiner Funktion“ herleiten, dies sich inhaltlich nur nach der Zweckmäßigkeit orientieren. 842 So i.E. auch Beknazar, Übergesetzliches Staatsnotstandsrecht in Russland: Staatsnotstand und Notstandsbefugnisse der Exekutive, Zum Tschetschenien-Urteil des Verfassungsgerichts vom 31. 7. 1995, in: ZaöVR 1997, S. 178, Deppe, Das Tschetschenien-Urteil des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation und das Sondervotum des Verfassungsrichters Lucˇin, Osteuropa-Recht 2/1999, S. 109 ff., Nußberger, Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 54, S. 42 ff. 843 Beknazar, Übergesetzliches Staatsnotstandsrecht in Russland: Staatsnotstand und Notstandsbefugnisse der Exekutive, Zum Tschetschenien-Urteil des Verfassungsgerichts vom 31. 7. 1995, in: ZaöVR 1997, S. 178.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
nicht anwendbar sei, nicht aber kann man argumentieren, dass deshalb die Mitwirkungspflicht des Parlaments zu umgehen sei. Das Gericht selbst führt aus, dass durch die Situationen die verfassungsmäßige Ordnung zerstört und Menschenrechte verletzt seien. Dies kann zumindest kein „weniger“ als ein Ausnahmezustand sein. Wenn aber schon der Ausnahmezustand die Mitwirkung des Parlaments erfordert, so muss die Mitwirkungspflicht des Parlaments erst Recht für eine Situation wie in Tschetschenien gelten. Wenn es auch Regelungslücken gibt, dann nicht hinsichtlich der Verfahrensbeteiligung aus Art. 102 I lit. b und c.844 Genauso zweifelhaft ist es, die Zuständigkeit des Präsidenten zum Schutz der staatlichen Einheit ohne konkretisierende Verfahrensvorschriften mit Verweis auf Art. 80 II Verf RF allein „aus der Natur der Sache“845 herzuleiten. Hier ist der Schutz der staatlichen Einheit eine absolute Größe, deren Durchsetzung nicht an „einfache“ Kompetenzvorschriften gebunden ist. Dies bedeutet, dass ausdrückliche Befugnisnormen unberücksichtigt bleiben, wenn es um die Erfüllung der Aufgabe geht, die staatliche Einheit zu schützen. Ohne zwischen Aufgabe und Befugnis zu unterscheiden,846 wird die bloße Funktionsbeschreibung der präsidentiellen Gewalt zur ausreichenden Rechtsgrundlage. b) Entscheidung vom 4. 4. 2002847 Beschwerdegegenstand der Entscheidung vom 4. 4. 2002 sind die unter Präsident Putin vorgenommen Änderungen am föderalen Gesetz „Über die allgemeinen Prinzipien der gesetzgebenden und exekutiven Organe der Staatsgewalt der Subjekte der Russischen Föderation“ (AllgPG) vom 6. 10. 1999848 durch das Änderungsgesetz vom 19. 6. 2000.849 Danach erhalten föderale Organe die Möglichkeit, regionale Parlamente aufzulösen (Art. 9 IV AllgPG) und die Chefs der regionalen Exekutive ganz oder zeitweise abzusetzen (Art. 29 III i.V.m. Art. 19 III g AllgPG bzw. Art. 29 IV AllgPG).850 Rechtsgrundlage des Gesetzes ist Art. 77 I Verf RF, wonach die Subjekte das System der Organe der Staatsgewalt selbständig auf Grundlage von „allgemeinen Beknazar, Übergesetzliches Staatsnotstandsrecht in Russland: Staatsnotstand und Notstandsbefugnisse der Exekutive, Zum Tschetschenien-Urteil des Verfassungsgerichts vom 31. 7. 1995, ZaöVR 1997, S. 179. 845 Beknazar, Übergesetzliches Staatsnotstandsrecht in Russland: Staatsnotstand und Notstandsbefugnisse der Exekutive, Zum Tschetschenien-Urteil des Verfassungsgerichts vom 31. 7. 1995, ZaöVR 1997, S. 179. 846 Nußberger, Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 54, S. 50. 847 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497, ausführlich zu der Entscheidung Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, S. 217 ff., m.w.N. 848 SR RF 1999, Nr. 42, Pos. 5005. 849 SZ RF 2000, Nr. 31, Pos. 3205. 850 SZ RF 2000, Nr. 31, Pos. 3205. 844
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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Prinzipien der Organisation der legislativen und exekutiven Organe staatlicher Macht“ bilden, die durch föderales Gesetz festgelegt werden. Im Ergebnis bejaht das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Gesetze. Argumentationsgrundlage des umfangreichen Urteils ist die einheitliche Durchsetzung der Verfassung auf dem gesamten Gebiet der RF. Dies begründet für das Gericht die Notwendigkeit „adäquater Maßnahmen“ zum Schutz der Verfassung. Dabei wird deutlich, dass der Verfassung hier insbesondere die Sicherung der Einheitlichkeit und Ganzheit entnommen wird. Das Ziel ist nach dieser Entscheidung der einheitlich beherrschte Raum. Schlagwortartig wiederholt das Gericht insbesondere den notwendigen Schutz der Einheit des rechtlichen und wirtschaftlichen Raumes (edinstvo pravovogo i ekonomicˇeskogo prostranstva).851 Darüber hinaus hebt es mit Hinweis auf die Höherrangigkeit der Verfassung den notwendigen Schutz der Souveränität und der staatliche Ganzheit hervor. Auch die Durchsetzung des Verfassungsziels „Grundrechtschutz“ wird vor allem als Gleichbehandlungsgebot verstanden. Das Gericht schreibt insofern vom „einheitlichen Grundrechtschutz“ (edinstvo statusa licˇnosti). Daneben fallen Gesichtspunkte des Gewaltenteilungsprinzips kaum, Gesichtspunkte des Föderalismusprinzips gar nicht ins Gewicht.852 Aus der Notwendigkeit der Durchsetzung des entsprechend dargestellten einheitlichen Verfassungsraums entwickelt das Gericht nunmehr die Annahme, dass der Schutz der Verfassung und ihrer Grundwerte in die Kompetenz der Föderation falle (Art. 71 lit. a Verf RF). Hinsichtlich der konkret angegriffenen Maßnahmen kommt es zu dem Schluss, dass die Verfassung derartige Maßnahmen der föderalen Staatsgewalt zumindest nicht ausschließe.853 Erlaubt ist insofern auch hier, was nicht ausdrücklich verboten ist. Voraussetzung ist lediglich die Verletzung der entsprechenden Grundwerte der Verfassung durch die Organe des Subjekts. Während das Suspensionsrecht gegenüber dem regionalen Parlament in den angegriffenen Rechtsakten zu Recht bei der Judikative angesiedelt wird (Art. 9 IV AllgPG),854 verankert das Gesetz das Recht, den Chef der regionalen Exekutive seines Amtes zu entheben (Art. 29 III i.V.m. 19 III lit. g AllgPG)855 bzw. zu suspendieren 851
SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497, Punkt 2.1. Absatz 2, Punkt 3.2., Absatz 5, Punkt 3.3. sowie im Tenor Punkt 2. 852 Vgl. Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, S. 230. 853 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497, Punkt 2 Absatz 3,4. 854 Nach Art. 9 IV AllgPG kann ein regionales Parlament durch ein Gesetz der föderalen Staatsduma unter der Voraussetzung, dass ein Gericht feststellt, dass ein vom regionalen Parlament erlassener Rechtsakt gegen föderales Recht verstößt und das Gericht dem regionalen Parlament die Aufhebung des Rechtsakts auferlegt hat, sowie dass das regionale Parlament dieser Anordnung innerhalb einer Frist sowie nach einer Aufforderung des föderalen Präsidenten, den Rechtsakt aufzuheben, nicht nachgekommen ist, aufgelöst werden. 855 Verkürzt dargestellt ist die Amtsenthebung für den Fall vorgesehen, dass der Chef der regionalen Exekutive einen Monat nach einer diesbezüglichen Verwarnung durch den föderalen Präsidenten, den Grund für diese Verwarnung nicht beseitigt hat. Gründe für eine Verwarnung
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
(Art. 29 IV AllgPG)856, beim föderalen Präsidenten. Begründet wird dies mit seiner verfassungsrechtlichen Funktion als Staatsoberhaupt und Garant der Verfassung und der staatlichen Einheit der RF in dem Bereich der föderalen Kompetenzen der ausführenden Gewalt (Artt. 80 und 90 Verf RF), die er auch gegenüber den Vollzugsorganen der Subjekte auszuüben habe (Artt. 83 lit. a, b, c, e, 103 I lit. a, 111, 112, 113, 115 III, 117 Verf RF). Ohne weitere Erklärungen scheint dem Gericht auch hier eindeutig, dass die bloße Garantenstellung zu konkreten Eingriffen in die unabhängige Staatsgewalt der Subjekte berechtigt. Dies erscheint indes gerade im Hinblick auf Art. 85 Verf RF verwunderlich. Dieser Artikel nennt zwei konkrete Eingriffsrechte des Präsidenten zum Schutz der föderalen Ordnung. Danach kann der Präsidenten einerseits ein Streitschlichtungsverfahren zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten zwischen der föderalen und der regionalen Staatsgewalt einberufen und darüber hinaus verfassungswidrige Rechtsakte der Subjekte bis zu einer Verfassungsgerichtsentscheidung suspendieren. Die ausdrückliche Nennung dieser Interventionsrechte lässt darauf schließen, dass diese Aufzählung abschließend ist. Die Föderalismusidee hat neben dem Schutz des einheitlichen Raumes keinen eigenen Wert. Vielmehr zeigt sich hier, dass alle Organe der Staatsgewalt auf Bundesund Regionalebene dem Ziel „Einheitssicherung“ verpflichtet sind. So bringt das Verfassungsgericht zum Ausdruck, die regionalen Parlamente verlören bei der Missachtung von föderalen Gesetzen ihre Legitimation.857 Fraglich ist letztlich, warum das Gericht den Ansatz billigt, die Durchsetzung der Verfassungsordnung auf dem gesamten Territorium als Aufgabe der Exekutive einzuordnen. Wenn die hier angegriffene Regelung auch von der nachvollziehbaren Zielsetzung auszugehen scheint, die regionalen Vollzugsorgane an die Verfassung und die Gesetze binden zu wollen, scheint unklar, warum diese Aufgabe nicht bei der Judikative angesiedelt wird, sondern beim Präsidenten. So wird dem Präsidenten in diesem Zusammenhang die Fähigkeit zugesprochen, zur Sicherung der Verfassung die notwendige Balance zwischen den Verfassungsorganen herstellen zu können. Dabei scheint von einer Neutralität des Präsidenten ausgegangen zu werden, ohne dass klar ist, wie diese angesichts der Macht- und Entscheidungsfülle des Präsidenten zu realisieren sei. Darüber hinaus ist es fragwürdig, nicht gegen den verfassungs-, bzw. gesetzeswidrigen Rechtsakt selbst, sondern gegen das Organ vorzugehen, das diesen erlassen hat. Nicht der verfassungswidrige Rechtsakt, sondern das Organ selbst verliert durch den Verstoß gegen die verfassungsmäßige Einheit seine Berechtigung.858 Dabei wird allein die Verpflichtung des Organs gegenüber (den gesamtstaatlichen Zielen) sind gegeben, wenn ein durch den Amtschef erlassener Rechtsakt gegen die Verfassung der RF oder föderale Gesetz verstößt, bzw. wenn der Amtchef sich weigert, auf einen suspendierten Rechtsakt des Subjekts aufzuheben. 856 Der Amtschef des Subjekts kann auf begründeten Vorschlag des Staatsanwalts durch den föderalen Präsidenten von seinem Amt suspendiert werden, wenn gegen ihn wegen einer schweren Straftat Anklage erhoben wurde. 857 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497, Punkt 2.2. 858 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1797, Punkt 2.
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der Verfassung, nicht aber der hinter dem Organ stehende demokratische Wille des Volkes gewürdigt. Selbst wenn man das Eingreifen des Präsidenten gegenüber regionalen Staatsorganen angesichts separatistischer Tendenzen und der vermeintlichen Schwäche der Gerichte auch als politisch notwendig erachtete, hätte das Gericht zumindest deutlich machen müssen, dass ein entsprechender Ansatz ultima ratio bleibt. Hier jedoch wird der dargestellte Mechanismus Verfassungsnormalität. Im Ergebnis bedeutet dies die Billigung eines erheblichen Machtzuwachses für den Präsidenten allein aus dem Argument, die staatliche Einheit schützen zu müssen. c) Entscheidung vom 21. 12. 2005859 Besonders deutlich wird die Auffassung des russischen Verfassungsgerichts von der Rolle des Präsidenten als Garant der staatlichen Einheit durch das Urteil vom 21. 12. 2005, in dem das Gericht die Verfassungsmäßigkeit der faktischen Ernennung der regionalen Regierungschefs durch den föderalen Präsidenten bestätigte. Der Entscheidung liegt eine nach den Anschlägen in Beslan im September 2004 beschlossene Änderung des föderalen Gesetzes „Über die allgemeinen Prinzipien der gesetzgebenden und exekutiven Organe der Staatsgewalt der Subjekte der Russischen Föderation“ (AllgPG) vom 6. 10. 1999860 zugrunde. Durch das Änderungsgesetz vom 11. 12. 2004861 wird die Direktwahl der Chefs der regionalen Regierungen abgeschafft. Stattdessen sieht die Regelung in Art. 18 I, II AllgPG nunmehr vor, dass der Kandidat vom Präsidenten der RF vorgeschlagen und vom regionalen Parlament zu bestätigen ist. Da der Präsident auch berechtigt ist, das Parlament unter bestimmten Bedingungen nach dem gleichen Gesetz aufzulösen, kommt die Regelung einer faktischen Ernennung der regionalen Amtschefs durch den Präsidenten der RF gleich. Vor dem Hintergrund des deutschen oder amerikanischen Föderalismusverständnis ist eine Verletzung der föderalen Ordnung hier überdeutlich.862 Die Intervention des föderalen Präsidenten in die Regierungsbildung eines Subjekts verletzt das verfassungsmäßige Recht des Subjekts auf eine eigene Regierungsbildung als Kerngehalt des Föderalismusprinzips. Unzweifelhaft legt die Verfassung sogar ausdrücklich fest, dass die Bildung der Organe der staatlichen Macht in den Regionen selbständig (samostojatelno) erfolgt (Artt. 11 II, 77 I Verf RF). Deutlich ist damit auch eine Verletzung des horizontalen Gewaltenteilungsprinzips (Art. 10 Verf RF), da die nunmehr vom Präsidenten ernannten Staatschefs ihrerseits die zwei Vertreter des Sub859
SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336. SR RF 1999, Nr. 42, Pos. 5005. 861 SZ RF 2004, Nr. 50, Pos. 4950. 862 Luchterhand, Die Ernennung der regionalen Exekutivchefs durch den Präsidenten Russlands auf dem Prüfstand des föderalen Verfassungsgerichts, in: WGO-MfOR, 2007, S. 18 ff., Nußberger, Das Russische Verfassungsgericht zwischen Recht und Politik, in: Buhbe/ Gorzka, Russland heute, S. 222 ff., vgl. auch das Sondervotum von Verfassungsrichter Kononov zum Urteil des Verfassungsgerichts vom 21. 12. 2005, in: Vestnik konstitucionnogo suda, 2006, Nr. 1, 65 ff. 860
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
jekts im Föderationsrat, d. h. der Legislative bestimmen. Durch die Einschränkung des passiven und aktiven Wahlrechts in den Subjekten scheint letztlich durch die Gesetzesänderung das Demokratieprinzip verletzt (Artt. 3 II, 31 Verf RF). Dabei kann sich die Meinung, die Gesetzesänderung verletze das Demokratieprinzip, sogar auf eine ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts selbst stützen, das die Volkswahl der Exekutivchefs in den Regionen bisher für zwingend hielt. So hatte das Gericht bisher geurteilt, dass aus Art. 3 II Verf RF i.V.m. Art. 32 Verf RF folge, dass die Regierungschefs der Regionen vom Volk gewählt werden müssten.863 In seiner Entscheidung vom 21. 12. 2005 kann das Gericht indes weder eine Verletzung des Föderalismus- noch des Gewaltenteilungs- oder nur des Demokratieprinzips feststellen. Seine frühere Rechtssprechung über die zwingende Volkswahl der regionalen Regierungschefs gibt es auf. Argumentiert wird stattdessen mit dem notwendigen Schutz der Verfassungsziele. Gestützt auf die Theorie der einheitlichen Souveränität864 und die Präambel zählt das Gericht die Durchsetzung der Menschenrechte, die demokratische Grundlage, die „Wiedergeburt der souveränen Staatlichkeit und die Wahrung der historisch gewachsenen staatlichen Einheit“ zu den Zielen der Verfassung.865 Die Fundamentalnormen des Staates nach Art. 1 Verf RF (Demokratie, Föderalismus und Rechtstaatlichkeit) bilden danach mit den anderen Normen der Verfassung allein den Rahmen, um diese Ziele umzusetzen. Es geht allein darum, die Verfassungsziele, d. h. die Rechte und Freiheiten des Menschen, die souveräne Staatlichkeit und die Wahrung der historisch gewachsenen staatlichen Einheit zu schützen.866 Dies umzusetzen, obliegt der Russländischen Föderation als Ganzer. Argument dafür ist die einheitliche Volkssouveränität. Allein aus der Souveränität des Gesamtstaates leitet das Verfassungsgericht die Ermächtigung „des Staates“ ab, „in jeder konkreten Entwicklungsetappe seiner Staatlichkeit“ den staatlichen Mechanismus an die äußeren Bedingungen anzupassen.867 Ausdrücklich stellt das Gericht dabei noch einmal klar, dass die Souveränität nach ständiger Rechtsprechung beim Gesamtstaat liege und nicht bei seinen Regionen. Es ginge darum, zwischen Verfassung und Staatszielen eine Balance zu finden. Dabei bleibt unklar, was damit inhaltlich gemeint ist. Entscheidend ist aber, dass das Verfassungsgericht darlegt, die Verfassung lasse „zur Ausbalancierung von Demokratie, Souveränität, staatlicher Ganzheit und Föderalismus“ verschiedene Möglichkeiten bei der Ausgestaltung des Systems der Staatsgewalt. Die Entscheidung darüber liege allein beim souveränen Gesamtstaat. Wichtig sei dabei nur, dass ausdrückliche Vorschriften über die Bildung der Organe der Staatgewalt und die „anerkannten Grundrechte“ nicht verletzt würden.868 Wenn auch von einer Balance geschrieben wird, so fließt in diese Balance zumindest das Föderalis863 864 865 866 867 868
SZ RF 1996, Nr. 4, Pos. 409, Punkt 6. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 2. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 2, Absatz 2. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 2, Absatz 2. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 2, Absatz 3. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 2, Absatz 5.
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musprinzip nicht ein. So setzt eine Ausbalancierung voraus, dass die verschiedenen Faktoren erst einmal konkretisiert werden. Vor allem in Bezug auf das Föderalismusprinzip unterbleibt das ganz. Das Gericht meint zwar, dass föderale und demokratische Rechte durch die Beteiligung des Parlaments gesichert seien, dabei bleibt aber unbeachtet, dass das letzte Wort nunmehr beim Präsidenten liegt. Zur Herleitung der Aufgabe stützt sich das Gericht insofern vor allem auf das beschriebene Wesen der Verfassung, d. h. die primären Schutzprinzipien staatliche Einheit, Integrität, Souveränität, einheitliche Macht und einheitliche Exekutive.869 Nachdem der Aufgabenbereich eröffnet ist, lässt das Verfassungsgericht keinen Zweifel, dass es die Zuständigkeit tatsächlich beim Präsidenten sieht. Mehrmals sagt das Gericht, dass die Verfassung den streitgegenständlichen Mechanismus zwar „nicht unmittelbar“ vorsehe, dass sich entsprechende Rechte des Präsidenten aber aus dem Wesen der Verfassung ergäben. Indem das Gericht den Staat abstrakt ermächtigt sieht, die in der Präambel formulierten Staatsziele entsprechend des sich fortentwickelnden „sozio-historischen“ Kontextes zu verändern, gibt es auch keinen Hinderungsgrund mehr, die Aufgaben des Präsidenten entsprechend zu erweitern. Voraussetzung ist allein, dass dies notwendig erscheint und die Verfassung nicht „unmittelbar“ etwas anderes vorsieht. Das Gericht unterstellt dem Gesetzgeber in diesem Zusammenhang, dass er sich von der verfassungsmäßigen Funktion des Präsidenten nach Artt. 5 III, 72 lit. n, 77, 78 II, 80 I, II und 85 Verf RF habe lenken lassen. Vor allem die Regelung des Art. 80 II Verf RF, die den Präsidenten zum Garanten der verfassungsmäßigen Ordnung sowie der staatlichen Einheit und der territorialen Ganzheit macht, scheint die Rolle des Präsidenten in den Augen des Gerichts dafür zu prädestinieren, die Verfassungsziele selbst umzusetzen. Dabei lässt sich das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung auch von Art. 80 I Verf RF leiten, der den Präsidenten zum Staatsoberhaupt. Es bleibt festzuhalten, dass die Vorschriften, mit denen das Verfassungsgericht die neuen Befugnisse des Präsidenten für verfassungsmäßig erachtet, nur zitiert, nicht aber erläutert werden. Die konkrete Befugnis erwächst wie selbstverständlich aus seiner Funktion. Tatsächlich widersprechen derart umfangreiche Kompetenzen des Präsidenten der Verfassung. Zum einen kann die Kompetenz des Bundes zur Bestimmung der „allgemeinen Prinzipien“ der Staatsgewalt (Art. 77 I Verf RF) nicht soweit gehen, die konkrete Bildung der einzelnen Organe im Detail zu regeln. Durch die Bindung an allgemeine Prinzipien kann dem Subjekt nicht das Recht auf eine eigenständig und selbständig organisierte Staatsgewalt genommen werden. Vielmehr besagt Art. 11 II Verf RF im Einklang mit dem Föderalismusprinzip ausdrücklich, dass die staatliche Macht der Subjekte bei den von ihnen gebildeten (obrazumenye imi) Organen der Staatsgewalt liegt. Nach dem Wortlaut „von ihnen gebildet“ ist die Verfassungsnorm allein so zu verstehen, dass die Subjekte die Bildung der Organe ihrer eigenen Staatsgewalt selbständig und unabhängig vornehmen. Wenn sie die Organe bilden dürfen, 869 Deutliche Kritik daran im Sondervotum von Verfassungsrichter Kononov zum Urteil des Verfassungsgerichts vom 21. 12. 2005, in: Vestnik konstitucionnogo suda, 2006, Nr. 1, 65 ff.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
dann muss dies auch die Kompetenz umfassen, zu entscheiden, nach welchen Vorgaben sie zu bilden sind. Dieses Ergebnis ergibt sich jedenfalls aus der Systematik der Verfassung: Als grundlegende Verfassungsnorm ist Art. 11 II Verf RF gegenüber Art 77 I Verf RF eindeutig spezieller.870 Dies würde bedeuten, dass die Subjekte ihren Staatsaufbau grundsätzlich selber wählen, sich dabei aber an den vom Bund vorgegebenen „allgemeinen Prinzipien“ zu orientieren haben. Auch materiell widerspricht die Gesetzesänderung Art. 11 II Verf RF. Die Stellung von Art. 11 II Verf RF innerhalb der Grundlagen der Verfassung spricht dafür, dass auch das in Art. 77 II Verf RF niedergelegte „einheitliche System der Exekutive“ im Lichte von Art. 11 II Verf RF ausgelegt werden muss. Wenn die Exekutive der Regionen zu einem einheitlichen System gehört, so darf sie von den Regionen selbst gebildet werden. Letztlich begründet die bloße Garantenfunktion des Präsidenten noch keine konkreten Kompetenzen. Gegen derartig umfangreiche Kompetenzen des Präsidenten „zum Schutz der Staatsziele“ spricht, wie dargestellt, vor allem Art. 85 Verf RF. Für weitergehende Interventionsrechte des Präsidenten zum Schutz der staatlichen Einheit bleibt daneben wenig Raum. Insofern kann streng genommen auch unbeachtet bleiben, dass sich das einheitliche System aus Art. 77 II Verf RF nur auf den Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit erstreckt. Auch wenn Art. 11 II Verf RF nicht ausdrücklich festlegen würde, dass die Subjekte ihre Organe selbständig bilden, böte Art. 77 II Verf RF wenig Raum für eine Rechtsgrundlage zur faktischen Ernennung der regionalen Verwaltungschefs durch den föderalen Präsidenten. Während sich der föderale Gesetzgeber darauf beruft, dass er selbst gemäß Art. 77 I Verf RF i.V.m. 72 lit. m Verf RF871 die „allgemeinen Prinzipien“ zur Bildung der Organe der Staatsgewalt in den Subjekten bestimmen darf, wäre eine Verfassungsgerichtsentscheidung darüber notwendig gewesen, was mit der Befugnis, „allgemeine Prinzipen“ festlegen zu können, denn gemeint sein kann. Fraglich ist, ob dies beinhaltet, im Einzelnen genaue Regelungen über den regionalen Staatsaufbau zu treffen, wie dies das AllgPG tut oder ob Art 77 I Verf RF nicht allein bedeutet, grundlegende Entscheidungen, wie zur Demokratie oder zum Rechtsstaat treffen zu dürfen. So steht 870 Vgl. Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, S. 128, Luchterhandt, Putins Perestrojka. Unitarisches Russland statt Russländischer Föderation, in: WGO-MfOR, S. 95 ff., Nußberger, Verfassungsmäßigkeit der jüngsten Rechtsreformen im Russland, in: Russland-Analysen, Nr. 57 vom 25. 2. 2005, S. 2 ff. 871 In Art. 77 I Verf RF heißt es, dass die allgemeinen Prinzipien durch ein föderales Gesetz geregelt werden. Dies spricht für die Kompetenz des Bundes. Darüber hinaus fällt die Kompetenz zur Regelung „allgemeiner Prinzipien der Organisation des Systems der staatlichen Gewalt“ nach Art. 72 m Verf RF in die gemeinsame Zuständigkeit von Bund und Subjekt. Während die Verfassung selbst nicht regelt, was unter der gemeinsamen Zuständigkeit zu verstehen ist, gehen Literatur und Praxis davon aus, dass es sich um eine konkurrierende Gesetzgebung handelt und der regionale Gesetzgeber hier nur solange handeln darf, bis ein föderales Gesetz erlassen wird (Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, S. 61 ff.). Da schon Art. 77 I Verf RF eindeutig ist, ist die föderale Kompetenz zur Bestimmung der allgemeinen Prinzipien unzweifelhaft gegeben.
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in Art. 77 I Verf RF ja gerade, dass die Subjekte ihre Staatsorgane grundsätzlich selbständig bilden. Stattdessen stellt das Gericht fest, dass die regionalen Regierungschefs dem föderalen Präsidenten direkt unterstellt wären, da dieser die staatliche Einheit garantiere. Insofern kommt die Entscheidung einer Weigerung des Gerichts gleich, die Grundlagen und Grenzen des Föderalismus- und Gewaltenteilungsprinzips seinem Wesen nach zu bestimmen. Die Entscheidung, was richtiges politisches Handeln ist, wird nicht den Normen der Verfassung entnommen, sondern den Staatzielen und dem politischen Sein. Die Grundlage für politisches Handeln ist vor allem dem in der Präambel niedergelegten Geist der Normsetzung zu entnehmen. Indem die Kompetenz für staatliches Handeln aus der Präambel und nicht aus dem eigentlichen Normtext hergeleitet wird, werden die Organe der staatlichen Macht nicht durch die Verfassung selbst beauftragt. So scheint auch das Verfassungsgericht der Auffassung zu sein, dass der Staat zur Bestimmung seiner Staatsziele keine normative Grundlage braucht, sondern dass die Verfassung vor allem Grenze ist. So bringt die Präambel selbst zum Ausdruck, dass die Ziele nur ein Ergebnis von Schicksal und Geschichte sind. Letztlich wird der Gesetzgeber sogar ermächtigt, diese Ziele nicht nur anhand der Verfassung, sondern auch an der tatsächlichen Wirklichkeit ausgerichtet, umzusetzen. Das Gericht verzichtet dabei in Bezug auf die historischen Verhältnisse auf seine Prüfungskompetenz. Der Gesetzgeber ist hier frei, selbst zu entscheiden, was der Entwicklung entsprechend richtig ist. Aus den dargestellten Entscheidungen lässt sich insgesamt eine Herangehensweise herauslesen, wonach die Inhalte der Präambel zu politischen Aufgaben erklärt werden, die die jeweils zuständigen Organe der Staatsgewalt umzusetzen haben, wobei die einzelnen gesetzgeberischen Maßnahmen den Buchstaben und dem Geist des Gesetzes nicht widersprechen dürfen. Der Geist wird dabei jedoch seinerseits aus den gesamtstaatlichen Verfassungszielen ermittelt. Maßnahmen, die von den Verfassungszielen abgeleitet werden, können damit per se dem Geist der Verfassung nicht widersprechen. 3. Der Schutz der staatlichen Einheit als Verpflichtung der Organe staatlicher Macht Aus den dargestellten Urteilen wurde bereits deutlich, dass die Verfassungsziele alle Organe der Staatgewalt binden, während der Präsident diese Bindung (mit)garantiert. In einigen Entscheidungen wird ganz ausdrücklich von der Verpflichtung der Subjekte zu staatlicher Einheit gesprochen. In der Entscheidung vom 14. 7. 1997 über das Verhältnis eines autonomen Gebiets zu dem Subjekt, in dem es liegt, heißt es, die Verfassung der RF beruhe auf (izchodit iz) der Notwendigkeit des Schutzes der historisch gewachsenen staatlichen Einheit, der Stabilität und der verfassungsmäßigen Ordnung auf dem gesamten Gebiet der RF. Bei der Realisierung der Gleichheit der Subjekte sei zu beachten, dass neben der Volksherrschaft, den Grund-
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rechten, der Höherrangigkeit der Verfassung und der föderalen Gesetze sowie dem Föderalismus auch die Einheit und die territoriale Ganzheit der RF eingehalten würden.872 Das Einfügen (vchosˇdenie) des autonomen Gebiets in den Kreis setze die Verpflichtung der Organe der staatlichen Macht in beiden Subjekten voraus, die staatliche Ganzheit und Einheit des Gesamtstaates zu sichern.873 An anderer Stelle entnimmt das Verfassungsgericht Art. 5 III, 78 II und 77 II Verf RF, dass die Subjekte nicht zum Schaden der Einheit der staatlichen Macht tätig werden dürfen.874 Damit macht das Gericht deutlich, dass auch das Verhältnis der Subjekte zueinander von der Verantwortung gegenüber dem Ganzen bestimmt wird. Dabei ist die Bindung der staatlichen Organe an die Verfassung nicht grundsätzlich problematisch, schwierig ist allein die prioritäre Bindung an die gesamtstaatlichen Interessen. Es wird zwar immer wieder von der Verpflichtung der Subjekte gegenüber der staatlichen Einheit gesprochen, nicht aber von der Pflicht der föderalen Organe, das Föderalismusprinzip einzuhalten. 4. Inhaltliche Bestimmung des Schutzgutes „Staatliche Einheit und (territoriale) Ganzheit“ a) Ermächtigungsgrundlage für innerstaatliche Maßnahmen zum Schutz gegen Separatismus Zusammenfassend sind kaum ausführliche Angaben zum Inhalt und noch weniger zur Reichweite des Prinzips zum Schutz staatlicher Einheit zu machen. Insgesamt ist es erstaunlich, dass der Schutz staatlicher Einheit und territorialer Ganzheit dem Kerngedanken und dem Schutzbereich nach kaum erläutert und definiert werden. Dies ist jedoch keine Besonderheit, vielmehr ist es eine regelmäßig zu beobachtenden Vorgehensweise des Gerichts, einzelne Prinzipien nicht zu erläutern, sondern als bekannt vorauszusetzen.875 Obwohl das Prinzip staatlicher Einheit und territorialer Ganzheit auch für das Verfassungsgericht Grundlage für erhebliche Eingriffe ist, definiert es den Inhalt und den Schutzbereich kaum. Lediglich aus dem Kontext lässt sich in einigen Urteilen erschließen, wie das Prinzip der staatlichen Einheit und der territorialen Ganzheit vom Verfassungsgericht verstanden wird. Indem es zwischen den Formulierungen „historisch gewachsene staatliche Einheit“ aus der Präambel und „staatliche“, bzw. „territoriale Ganzheit“ aus den Artt. 4 III, 5 III, 80 II Verf RF begrifflich kaum trennt, steht das Prinzip staatlicher Einheit und staatlicher 872
SZ RF 1997, Nr. 29, Pos. 3581, Punkt 3, Absatz 2. SZ RF 1997, Nr. 29, Pos. 3581, Tenor, Punkt 2. 874 SZ RF 2006 Nr. 3, Pos. 336, Punkt 3. 875 Vgl. Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, S. 257 f., Nußberger weist in diesem Zusammenhang auf das schon unter Peter dem Großen nachweisbare russische Misstrauen gegenüber das Recht eigenständig auslegenden Richtern hin: Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 54, S. 50. 873
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Ganzheit dabei insgesamt für eine Verpflichtung aller Organe staatlicher Macht zum Schutz des Staates in seinen bestehenden Grenzen. Wie die dargestellten Entscheidungen zeigen, hat das Gericht bei der Argumentation mit dem Prinzip staatlicher Einheit insofern vor allem die Abwendung antiseparatistischer Gefahren vor Augen. Dies rechtfertigt die einzelnen Gegenmaßnahmen. Dabei bleiben die Entscheidungen stark einzelfallorientiert. Gerade die Reichweite der erlaubten Gegenmaßnahmen wird nicht generell definiert. Unklar bleiben auch die Ausführungen im Urteil über das Parteiengesetz aus dem Jahr 2005, nach dem eine Zersplitterung und Verkomplizierung des politischen Systems vermieden werden soll. Trotzdem bleibt auch im Einzelfall bemerkenswert, dass der Schutz der staatlichen Einheit soweit reicht, dass allein die hypothetische Gefahr für staatliche Ganzheit ein Verbot regionaler Parteien rechtfertigt, das dem Präsidenten ein Dekretrecht zum militärischen Vorgehen in Tschetschenien zugebilligt wird und dass der Präsidenten berechtigt ist, in die Bildung der regionalen Staatsorgane einzugreifen. b) Schutz des einheitlich beherrschten Raums Gleichermaßen wie die Literatur leitet das Verfassungsgericht aus dem Schutz der staatlichen Ganzheit das Prinzip des einheitlichen Wirtschaftsraums ab. In einer Entscheidung vom 17. 6. 2004 bringt das Gericht zum Ausdruck, dass das Prinzip der Einheit des wirtschaftlichen Raums eng mit den Grundsätzen des demokratischen föderalen Rechtsstaats verbunden sei. Die Sicherung der staatlichen Einheit und der staatlichen Ganzheit als Verfassungsvorgabe würden die Einheit des Haushaltssystems erfordern.876 Gerade die Entscheidung vom 4. 4. 2004 zeigt, dass darüber hinaus ein einheitlicher Verfassungsraum gewollt wird, in dem die Verfassung einheitlich durchgesetzt wird und die Bürger sich auf einen einheitlichen Grundrechtsschutz berufen können.877 Dies zeigen auch die Urteile über die Parteien, die vor einer Regionalisierung und einer Verkomplizierung des politischen Systems warnen. Der Schutz staatlicher Einheit impliziert insofern auch den Schutz einheitlicher Beherrschbarkeit des ganzen Raumes. 5. Staatliche Einheit und einheitlicher Wille In der Entscheidung über die Parteien aus dem Jahr 2005, die die Verfassungswidrigkeit des faktischen Verbots regionaler Parteien verneint, führt das Verfassungsgericht neben dem notwendigen Schutz der territorialen Einheit auch sein Verständnis des Verhältnisses vom individuellen Interesse zum gesamtstaatlichen Interesse aus. Danach wird das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei aus Art. 2 des Gesetzes über die politischen Parteien (ParteiG) vor allem als Teilhaberecht am „politischen Leben der gesamten Russischen Föderation und nicht nur ihrer Teile“ be876 877
SZ RF 2004, Nr. 27, Pos. 2803. SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497.
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schrieben. In der Entscheidung über das faktische Verbot regionaler Parteien verweist das Gericht auf seine frühere Entscheidung vom 15. 12. 2004, in der es bereits zu nationalen und religiösen Parteien Stellung genommen hatte. In dieser Entscheidung hatte das Gericht zum Ausdruck gebracht, dass sich diese Parteien nur an den Interessen ihrer Nationen oder Religion orientieren würden und dass die Zulassung entsprechender Parteien in der gegenwärtigen historischen Etappe des russischen Staates die Formierung eines einheitlichen politischen Willens des multinationalen Volke als Träger der Souveränität und als einheitlicher Quelle der staatlichen Macht der Russischen Föderation gefährden würde.878 Nach dieser Argumentation beinhaltet das von der Verfassung konstituierte Teilnahmerecht aber allein ein Teilnahmerecht an der Bildung des politischen Willens des multinationalen russländischen Volkes als Ganzem. Geschützt wird die Herausarbeitung des allgemeinen Interesses und nicht einzelner regionaler Interessen. Insofern dürften auch die Parteien nicht allein regionale Interessen vertreten, sondern müssten immer auch die gesamtnationalen (obsˇcenacionalnye) Interessen im Blick haben.879 Gleichermaßen wie in der Literatur ausdrücklich Verfassungsrichter Ebzeev bringt damit auch das Gericht die an die Gesellschaftsvertragslehre Rousseaus erinnernden rechtstheoretischen Ausführungen zum allgemeinen Willen ein, ohne dabei die Vorschriften der Verfassung zur Herausbildung des staatlichen Willens im Blick zu haben. Vielmehr kann der Entscheidung der Verfassung für Demokratie und Parlamentarismus sowie insbesondere für den Föderalismus und den Föderationsrat entnommen werden, dass gerade das Einbringen von regionalen Interessen den staatlichen Willen erst ermöglichen soll. Andererseits ist der Verfassung generell keine Vorschrift zu entnehmen, wonach einzelne Bürger oder einzelne Parteien bei ihrer Teilhabe am politischen Prozess grundsätzlich gesamtstaatlichen Interessen verpflichtet wären. Dabei ist letztlich problematisch, dass das Gericht das gesamtstaatliche Interesse nicht definiert. Allein aus der Gesamtbetrachtung der Entscheidung wird deutlich, dass hier Separatismus, Regionalismus und letztlich territorialer Auseinanderfall verhindert werden sollen. Dann jedoch ist methodisch fraglich, warum das Gericht diese Ziele nicht allein aus der Verfassung herleitet, sondern noch zusätzlich verfassungsfremde staatsphilosophische Argumente wie das zu sichernde gesamtstaatliche Interesse heranzieht. Wenn gesamtstaatliche Interessen zu beachten wären, müssten sich diese aus der Verfassung selbst ergeben. Keinesfalls kann jedoch aus der Verfassung abgeleitet werden, dass Parteien, die nur regionale Interessen vertreten, nach der Verfassung keine Legitimation hätten. 6. Staatliche Einheit als Grundrechtsvoraussetzung Seit der Tschetschenien-Entscheidung zeigt das Verfassungsgericht, dass es staatliche Einheit als Voraussetzung für den Grundrechtsschutz durch den russischen Staat 878 879
SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.2, Absatz 2. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.1, Absatz 2.
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begreift. Kern der Argumentation ist, dass die staatliche Integrität beinhalte, dass die Gebietshoheit des russischen Staates über das russische Territorium auf diesem den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten der Menschen nach der Verfassung der RF garantiere. Staatliche Ganzheit sichere so den gleichen rechtlichen Status für alle Bürger auf dem Gebiet der RF. Staatliche Einheit sei insofern die wichtigste Garantie der Rechte und Freiheiten der Bürger.880 Auch in der Entscheidung über die politischen Parteien aus dem Jahr 2005 erblickt das Gericht in der Zulassung allein regional agierender Parteien eine Gefährdung der staatlichen Einheit und der Grundrechte. Ein System mit regionalen Parteien würde die Entwicklung des Staates gefährden, die Demokratie, die Volksherrschaft, den Föderalismus und die Einheit des Landes schwächen und dadurch den verfassungsmäßigen Schutz der Grundrechte auf dem gesamten Gebiet der RF verhindern. Dabei kommt das Gericht gar zu dem Schluss, dass ohne die Einschränkung des Rechts auf Teilhabe an einer Partei zum Schutz der staatlichen Einheit letztlich auch das Recht auf die Vereinigung in einer politischen Partei ganz untergehen würde.881 In der Entscheidung vom 21. 12. 2005 bringt das Verfassungsgericht zum Ausdruck, dass jeder Bürger der RF auf deren Territorium dieselben Rechte und Pflichten habe und wegen der Einheitlichkeit des verfassungsrechtlichen Status des Bürgers aus Artt. 6 II, 15 IV, 19 I, II Verf RF ein für alle einheitliches System zur Wahl der höchsten Amtsträger vorgesehen sein müsse.882 Der verfassungsmäßig gesicherte gleiche Status aller Bürger wird dabei vor allem dahingehend verstanden, den Aufbau der Staatsgewalt in den verschiedenen Landesteilen möglichst zu nivellieren. Der Gleichheitsgrundsatz ist hier nicht Anspruch des Bürgers gegen den Staat, sondern Handlungsgebot an die föderale Gewalt, das System in den Regionen anzupassen.
7. Die Tschetschenien-Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Verhältnis staatlicher Integrität und Selbstbestimmungsrecht der Völker Mit der Tschetschenien-Entscheidung vom 31. 7. 1995883 erfuhr auch das Verhältnis der staatlicher Einheit, bzw. territorialer Integrität mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker seine verfassungsmäßige Klärung. Dabei prüft das Gericht nicht direkt, ob das tschetschenische Volk Träger eines Selbstbestimmungsrechts sei und ob der Schutz der staatlichen Ganzheit das Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzte, bzw. ob die einzelnen streitgegenständlichen Rechtssätze dem Selbstbestimmungsrecht widersprechen. Vielmehr macht das Verfassungsgericht den Menschenrechtsschutz zu einem Kerngehalt von staatlicher Ganzheit. Während der von „bewaffneten Verbänden“ ausgehende Bürgerkrieg in Tschetschenien die rechtsstaatliche Ordnung zerstöre und die in der russischen Verfassung gesicherten Grundrechte 880 881 882 883
SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424. SZ RF 2005, Nr. 6, Pos. 491, Punkt 3.2. Absatz 3. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 3, Absatz 5. SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424.
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nicht mehr durchsetzbar seien, würde der Schutz der staatlichen Ganzheit die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und die erneute Wiederherstellung des Grundrechtsschutzes bewirken. Insofern stellt das Gericht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker die Idee staatlicher Ganzheit als Menschenrechtsidee entgegen. Ganz allgemein formuliert es dabei, dass das Selbstbestimmungsrecht der Tschetschenen nicht zulasten des Menschenrechtschutzes ausgeübt werden dürfe. So stellt es vorweg, dass die Tschetschenische Republik die Geltung der Verfassung der RF in Tschetschenien bestreite, die „gesetzlichen Staatsorgane zerstört“ und bewaffnete Verbände gebildet worden seien. Abstrakt setzt es hinzu, dass dadurch die Grundrechte verletzt worden wären.884 Damit charakterisiert es eine offensichtlich nicht hinnehmbare Menschenrechtsverletzung, die beendet werden müsse. Es sei jedoch mit dem Völkerrecht unvereinbar, das Selbstbestimmungsrecht unter Verletzung der Menschenrechte durchzusetzen. So nennt es die Resolution der Generalsversammlung der Vereinten Nationen 41/117, in der festgestellt wird, dass die Durchsetzung einer Kategorie von Rechten die Staaten nicht von der Verpflichtung zur Durchsetzung anderer Rechte suspendiere.885 Letztlich zieht man die Resolution vom 24. Oktober 1970 (sog. Friendly Relations Declaration [FRD])886 heran.887 Aufgrund der darin enthaltenen sog. savings clause dürfen die Bestimmungen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker „nicht als Ermächtigung zu Maßnahmen“ aufgefasst werden, „welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten teilweise oder vollständig auflösen oder beeinträchtigen würden, die sich von dem oben erwähnten Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker leiten lassen“.888 Wie Wiebke Rückert hinweist,889 übergeht das Verfassungsgericht dabei gerade den letzten Satzteil der Bestimmung, wonach das Verbot von Maßnahmen gegen die territoriale Unversehrtheit für solche Staaten gilt, die „eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebiets ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt.“ Ausgerechnet dieser Satzteil wird in der internationalen Literatur als Hinweis darauf verstanden, dass die Begrenzung auf die innere Selbstbestimmung dann nicht gilt, wenn die Teilnahme an den demokratischen Rechten im Gesamtstaat nicht gewährleistet ist. In der völkerrechtlichen Literatur gibt es allerdings Stimmen, die gerade in solchen Fällen ein Sezessionsrecht annehmen.890 884
SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Punkt 2. UN GA Res 41/117 vom 4. 12. 1986. 886 Anhang der Resolution der Generalsversammlung der Vereinten Nationen Nr. 2625 (XXV) vom 24. 10. 1970, dt. Übersetzung in: Vereinte Nationen, Heft 4/1978, S. 138. 887 SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Punkt 2, Absatz 7, Baglaj, Konstitucionnoe pravo Rossijskoj Federacii, S. 134. 888 Vereinte Nationen, Heft 4/1978, S. 138. 889 Rückert, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Russischen Verfassungsgerichts, S. 213. 890 Z. B. Cassese, Self-determination of peoples, S. 112 f. 885
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Das Gericht bleibt jedoch bei dem Ansatz, dass zur Durchsetzung des völkerrechtsmäßigen Selbstbestimmungsrechts nicht die Menschenrechte verletzt werden dürften. Da die Menschenrechte allein durch den Schutz der staatlichen Einheit garantiert würden, dürfe die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts nicht die staatliche Integrität verletzen. Indirekt wird dabei vorausgesetzt, dass die russische Gebietshoheit auf dem tschetschenischen Boden der Sicherung der Menschenrechte dient und Menschenrechte durch einen tschetschenischen Staat nicht oder zumindest unterhalb des Standards der russischen Verfassung durchgesetzt würden. So führt das VerfG RF aus, dass die Verletzung „der territorialen Einheit des föderalen Staates und nationalen Einheit ihrer Völker“ durch den Austritt eines Subjekts der Föderation den verfassungsmäßigen Schutz des Bürger auf dem Gebiet der RF schädigen würde und deshalb mit internationalen Normen zum Schutz der Recht der Menschen und Völker unvereinbar sei.891 Vor dem Hintergrund dieses Argumentationsansatzes kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass das Selbstbestimmungsrecht ganz allgemein hinter dem Schutz der staatlichen Ganzheit zurücktrete und dass das Verfassungsziel „Schutz der äußeren Grenzen“ mit den Normen des internationalen Rechts und insbesondere mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker übereinstimmt (soglasuetsja).892 Insgesamt sind die Ausführungen zum völkerrechtlichen Schutz des Selbstbestimmungsrechts und dessen Normierung in internationalen Vertragswerken im Urteil recht beschränkt. Durch die bloße Feststellung, dass das Selbstbestimmungsrecht niemals die territoriale Integrität verletzen dürfe, unterbleibt eine Diskussion der Frage, wieviel Selbstbestimmung den Völkern innerhalb der staatlichen Einheit zugebilligt werden kann. Letztlich unterbleibt eine konkrete Prüfung der Frage, ob ein mögliches Selbstbestimmungsrecht des tschetschenischen Volkes hier tatsächlich verletzt wurde. Es wird weder geprüft, ob das tschetschenische Volk Träger des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts sein kann, noch ob ein solches Recht hier geltend gemacht wurde. Weder klärt das Verfassungsgericht für sich den Volksbegriff, noch die Grenzen der territorialen Ganzheit, bzw. was sie ausmacht und wieweit ihr Schutz gehen darf. Allgemein erwähnt das Gericht, dass den Völkern innerhalb der Russischen Föderation durch die Verfassung kein Austrittsrecht aus dem Gesamtverband zugebilligt sei.893 Zwar erklärt das Verfassungsgericht den Bürgerkrieg zu Beginn seiner Argumentation mit einem „berechtigten Gefühl“ des tschetschenischen Volkes, durch die Stalinschen Massendeportationen „tief gekränkt worden zu sein“.894 Wenn es dem Bürgerkrieg auch eine Art moralische Berechtigung zuspricht und gar eine Art Mitgefühl für die schwierige Situation äußert, führt das nicht zu rechtlichen Schlussfolgerungen.
891 892 893 894
SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424. SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Punkt 2, Absatz 7. SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Punkt 2, Absatz 5. SZ RF 1995, Nr. 33, Pos. 3424, Punkt 2, Absatz 4.
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Die russische Verfassungsrechtsprechung sieht die Priorität der staatlichen Einheit vor dem Sezessionsrecht damit ausreichend begründet. Wenn im Ergebnis die Ablehnung eines Sezessionsrechts mit der völkerrechtlichen Doktrin vertretbar sein kann, erscheint die Begründung doch zu kurz gegriffen. Vor allem die lückenhaften Ausführungen zum Völkerecht sind kaum geeignet, die unterschiedlichen Interessen von Gesamtstaat und Minderheit ausreichend zu würdigen. Letztlich geht das Gericht auch nicht auf die in Tschetschenien zu konstatierenden Menschenrechtsverletzungen ein, da es dem streitgegenständlichen Dekret dazu keine unmittelbare Wirkung zuschreibt. Insgesamt lässt sich aus der Gesamtbetrachtung der Auseinandersetzung um den Schutz der staatlichen Einheit im Verhältnis zu den Rechten einer Minderheit nur ein Bild vom Staat nachzeichnen, wonach allein dieser das Wohlergehen der Menschen garantieren kann und insofern als Menschenrechtsidee stark und durchsetzungsfähig sein muss. Nur angesichts dieses idealisierten Staatsverständnisses konnte das Gericht die Probleme, die das positive Völker- und Verfassungsrecht an die zu behandelnden Fragen stellte, in der Mehrheit895 im Ergebnis für so unproblematisch halten. Gerade das Tschetschenienurteil zeigt deutlich, dass die Menschenrechte nicht als Recht gegen den Staat begriffen werden, sondern als quasi abstraktes objektives Ideal, das die Politik in der Welt durchsetzt. Zur Durchsetzung dieses abstrakten Ideals können konkrete Rechte verletzt werden. Deshalb muss zunächst die Staatlichkeit gesichert werden, die dann Recht schaffen kann. Im Tschetschenienurteil argumentiert man mit dem Schutz der staatlichen Einheit, um die Regelungen über den Ausnahmezustand zu umgehen. Nur die (verfassungswidrige) Sicherung der staatlichen Ganzheit könne die erfolgreiche Durchsetzung der Menschenrechte erst ermöglichen. Dagegen ist einzuwenden, dass es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts sein kann, staatliche Einheit an der Verfassung vorbei zu schützen. Grundlage für das Verfassungsgericht ist auch der in der Verfassung normierte Menschenrechtsschutz und nicht allein die Stabilisierung der staatlichen Einheit als angenommene Voraussetzung für Menschenrechte. 8. Das einheitliche System staatlicher Macht und das einheitliche System der Exekutive Wiederholt musste sich das Verfassungsgericht auch mit seinem Verständnis der Einheit des Systems der staatlichen Macht (Art. 5 III Verf RF) auseinandersetzen. Die zu klärenden Fragestellungen betrafen dabei das Verhältnis des einheitlichen Systems der staatlichen Macht im Verhältnis zum Föderalismusprinzip.896 Fraglich war bei allen Entscheidungen, von welcher Qualität die Rechtsstellung der Organe staatlicher Macht in den Regionen innerhalb des einheitlichen Systems ist. Inhalt der Ver895
Beachte aber die abweichenden Sondervoten einzelner Richter zu diesem Urteil. Vgl. zur Föderalismusrechtsprechung des Verfassungsgerichts: Uebe, Das Profil Russlands als Bundesstaat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. 896
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fassungsrechtsprechung in Bezug auf das einheitliche System der Macht war vor allem das einheitliche System der Exekutive (Art. 77 II Verf RF). Es ging also darum, was die „Einheitlichkeit“ im Verhältnis der Exekutive des Bundes zur Exekutive auf der regionalen Ebene ausmacht. Gerade im Rahmen der Entscheidung über die faktische Ernennung der regionalen Amtschefs, die politisch mit einem Hinweis auf das einheitliche System der Exekutive und das einheitliche System der Macht in der Verfassung begründet wurde, war es notwendig, diese Verfassungsnormen auszulegen. So ist in dieser Arbeit wiederholt darauf hingewiesen worden, dass der Begriff „einheitlich“ an sich wenig aussagt, außer dass alle Teile dieser Einheit in irgendeiner Weise miteinander verbunden sind. Diese Verbindung kann jedoch marginal sein. Vor allem muss der Begriff die Teile nicht in ihrem Wesenskern charakterisieren oder ihr Verhältnis zueinander bestimmen. Wenn es letztlich doch Wesen der Teile sein sollte, Teil eines Ganzen zu sein, so ist dies zumindest keine Selbstverständlichkeit. Dies bedeutet, dass der Begriff „Einheit“ immer erst konkretisiert werden muss. Für den Einheitsbegriff der Verfassung der RF würde dies bedeuten, dass man nach Normen suchen müsste, die das Verhältnis der Organe der Staatsgewalt, also der „Teile“ konkretisieren. Entsprechende Normen finden sich vor allem in den Bestimmungen über die föderale Ordnung (Artt. 11 II, III, 65 ff. Verf RF). a) Die einheitliche Souveränität als Ausgangspunkt aa) Das einheitliche System der Macht als Wert der Verfassung Richtungsweisend für alle in diesem Zusammenhang dargestellten Entscheidungen des Gerichts ist indes der Ansatz, das Verständnis des Prinzip des einheitlichen Systems der Macht nicht aus dem Föderalismusprinzip zu entwickeln. Stattdessen beginnt das Gericht seine Darstellung regelmäßig mit Ausführungen über die einheitliche Souveränität, die einheitlichen Herrschaft des ganzen Volkes über das ganze Territorium. Ausgehend von dieser Grundlage und auch unter Hinweis auf Art. 5 III Verf RF herrscht die Auffassung, dass das einheitlichen System der staatlichen Macht der einheitlichen Volksherrschaft entspricht und das einheitliche System von daher wie die Volksherrschaft eine fundamentale Verfassungsbestimmung ist. Das einheitliche System der staatlichen Macht ist insofern Schutzgut der Verfassung, da es Ergebnis der einheitlichen Souveränität des Volkes ist. Nur deshalb wird die Einheit des Systems der staatlichen Macht immer wieder als schützenswertes Verfassungsziel herausgestellt.897 Dieser Ansatz charakterisiert nun seinerseits das Föderalismusverständnis. Das russische Verfassungsgericht hat eine Reihe von Entscheidungen hervorgebracht, in denen es der Verfassungsmäßigkeitsprüfung einer bestimmten Norm ganz grundsätzlich die Bedeutung von einheitlicher Souveränität und dem Prinzip
897
Vgl. SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497, Punkt 2.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
der einheitlichen Macht voranstellt898 und in einem zweiten Schritt die zu überprüfende Norm danach misst, ob sie sich in diese Prinzipien einpassen lässt. Regelmäßig setzt das Gericht in seiner Herleitung des Prinzips vom einheitlichen System der staatlichen Gewalt bei Art. 1 Verf RF an. Es erklärt sein Verständnis des dort verankerten demokratischen föderalen Rechtsstaats in Übereinstimmung mir der Literatur durch den Hinweis auf Art. 3 I, II, III Verf RF, wonach das multiethnische russländische Volk Träger der Souveränität und damit einheitliche Quelle der Macht sei. Die Souveränität erstrecke sich über das ganze Territorium (Art. 4 I Verf RF). So ergibt sich für das Gericht wiederum, dass die Verfassung auf dem gesamten Gebiet der RF Höherrangigkeit besitzt (Artt. 4 II, 15 I Verf RF). Für den föderalen Aufbau leite sich daraus in Übereinstimmung mit Art. 5 III Verf RF ab, dass diesem das Prinzip der staatlichen Ganzheit und die Einheit des Systems der staatlichen Gewalt zugrunde liege, genauso wie das Prinzip der Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen der staatlichen Macht des Zentrums und den Organen der staatlichen Gewalt der Regionen, die Gleichheit und das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker der RF. bb) Einheitliche Souveränität als Argument für die Höherrangigkeit der föderalen Gewalt Wie die Literatur leitet das Gericht aus der einheitlichen Souveränität des Volkes und der Geltungskraft der Verfassung über das gesamte Territorium der RF die Höherrangigkeit der föderalen Staatsgewalt über die regionale Staatsgewalt ab.899 Weil die Macht ursprünglich beim ganzen Volk liegt, ist die föderale Gewalt legitimierter als die regionale. Aus der Souveränität des Gesamtstaates und der Höherrangigkeit der föderalen Ebene leitet das Gericht Eingriffsrechte der föderalen Staatsgewalt gegenüber der regionalen ab. Wie bereits dargestellt, sieht das Verfassungsgericht alle Organe staatlicher Macht an die Staatsziele gebunden. Das Gericht schreibt: „Zur Gewährleistung der Verfassungssicherung und des Verfassungsaufbaus bestehen ausbalancierte und sich ergänzende Verpflichtungen der Russländischen Föderation und seiner Subjekte.“900 Entscheidend ist, dass das Verfassungsgericht die Wächterstellung hinsichtlich staatlicher Einheit auf der föderalen Ebene angesiedelt sieht. Es schreibt, die föderale Staatsgewalt müsse „einen Kontrollmechanismus schaffen, der effektiv gewährleistet, dass die Organe der Föderationssubjekte ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht nachkommen und die Verfassung der Russländischen Föderation und die föderalen Gesetze einhalten.“ Das Verfassungsgericht macht in seiner Prüfung der föderalen Interventionsmaßnahmen deutlich, dass „adäquate Maßnahmen“ der föderalen Gewalt gegenüber den Subjekten grundsätzlich notwendig 898 So z. B. in den Entscheidungen SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336), SZ RF, Nr. 47, Pos. 4691, SZ RF 2002, Nr. 29, Pos. 2909, SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, SZ RF 2000 Nr. 29, Pos. 3117, SZ RF 2002 Nr. 4, Pos. 374. 899 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, SZ RF, Nr. 47, Pos. 4691, SZ RF 2002, Nr. 29, Pos. 2909, SZ RF 2000, Nr. 25 Pos. 2728, SZ RF 2000, Nr. 29, Pos.3117, SZ RF 2002, Nr. 4, Pos. 374. 900 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497.
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sind.901 Der föderale Gesetzgeber dürfe nicht zulassen, „dass Gesetze erlassen werden, die der föderalen Verfassung widersprechen.“902 Eine ähnliche Argumentation führt das Gericht auch in Bezug auf die Wahl des Präsidenten durch das ganze Volk.903 Bereits in dem Urteil aus dem Jahre 2002904 erwog das Gericht, dass die Interventionsmöglichkeit des föderalen Präsidenten deshalb nicht verfassungswidrig sein könne, weil er vom ganzen Volk gewählt sei. Für das Verfassungsgericht ist der Präsident insofern „Vertreter des ganzen Volkes“.905 Wie es die einheitliche Souveränität über das ganze Territorium als Argument für die Höherrangigkeit des Föderalen über das Regionale begreift, sieht das Verfassungsgericht in der Wahl durch das ganze Volk ein Argument für die Übergeordnetheit des föderalen Präsidenten über die regionalen Staatschefs.906 Hier bringt das Gericht nicht nur das juristische Argument, dass die Herrschaft ursprünglich beim gesamten Volk liegt und deshalb allein der Gesamtstaat legitimiert sei. Vielmehr vermischt es diesen Gedanken mit der Idee, der Wille des ganzen Volkes sei ethisch vollkommener als der Wille von politischen Teilsystemen. Die Wahl durch das ganze Volk versteht das Gericht insofern auch als Garantie gegen Willkür und Unverhältnismäßigkeit. Als Vertreter des ganzen Volkes scheint der Präsident gar nicht anders, als im Interesse des Volkes handeln zu können. Allein aus seiner Wahl durch das ganze Volk garantiert er das Zusammenspiel der verschiedenen Organe der Staatsgewalt.907 b) Horizontale Gewaltenteilung In seiner Entscheidung vom 11. 12. 1998908 hat das Verfassungsgericht indirekt zum Ausdruck gebracht, dass es das Gewaltenteilungsprinzip der Verfassung nicht als Rechtsprinzip begreift, d. h. aus Art. 10 Verf RF keine besonderen Rechte der Gewalten herleitet. Die Frage, ob der Präsident der RF der Staatsduma nach Art. 111 IV Verf RF909 drei Mal den gleichen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten vorschlagen dürfe, bejahte das Verfassungsgericht. Da der Präsident die Duma nach dreimaliger Ablehnung eines Kandidaten auflösen kann, hatte die Duma argumentiert, die Auflösung erfordere, dass drei unterschiedliche Kandidaten vorgeschlagen worden seien. Das Gericht verneint dies mit der Argumentation, dass die effektive 901
SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497. SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1797, Punkt 2. 903 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336. 904 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1797. 905 SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497, Punkt 8, Absatz 2. 906 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 6. 907 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 4. 908 SZ RF 1998, Nr. 52, Pos. 6447. 909 „Nach dreimaliger Ablehnung der vorgeschlagenen Kandidaturen für das Amt des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation durch die Staatsduma ernennt der Präsident der Rußländischen Föderation den Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation, löst die Staatsduma auf und setzt Neuwahlen an.“ 902
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Zusammenarbeit der Staatsorgane wesentliches Prinzip der Gewaltenteilung sei. Da das multinationale russische Volk einheitlicher Träger der Staatsgewalt sei, dürften sich die einzelnen Zweige der Staatsgewalt nicht gegenseitig hemmen. Alles andere sei eine Gefahr für die Stabilität des verfassungsmäßigen Aufbaus und den demokratischen Rechtsstaat insgesamt. Insofern habe auch die Staatsduma die Pflicht, die Arbeitsfähigkeit der Regierung nicht zu blockieren, sondern stattdessen mit den anderen Organen der Staatsgewalt harmonisch zusammen zu arbeiten. Auch die dreimalige Ablehnung des gleichen Kandidaten rechtfertige insofern die Auflösung. Für das wirkungsvolle Zusammenspiel der Organe trage der föderale Präsident die Verantwortung, er habe insofern die Kompetenz für entsprechende Schritte.910 c) Das einheitliche System der Exekutive als Subordinationsverhältnis Wenn die Verfassung von einem einheitlichen System der Exekutive spricht (Art. 77 II Verf RF), versteht auch das Verfassungsgericht darunter ein Subordinationsverhältnis. Bereits im Urteil vom 10. 12. 1997 hatte das Verfassungsgericht die Beteiligung eines föderalen Organs bei der Ernennung des regionalen Innenministers mit Verweis auf das einheitliche System der Exekutive für maßgeblich gehalten. Schlicht heißt es in der Entscheidung vom 10. 12. 1997, die Einheit der vollziehenden Gewalt begründe die Priorität der Föderation.911 In diesem Sinne versteht das Gericht auch in seiner Entscheidung vom 7. 6. 2000 das einheitliche System der Exekutive als ein reines Subordinationsverhältnis, ohne jedoch Ausführungen dazu zu machen, was dies bedeutet. Ganz lapidar bringt es hier zum Ausdruck, das die Entscheidungen und Anweisungen der föderalen vollziehenden Gewalt im Rahmen ihrer Kompetenzen verpflichtend blieben.912 In einer Entscheidung aus dem Jahr 2002 argumentiert das Gericht, der Präsident der RF habe das Recht, die regionalen Verwaltungschefs zu suspendieren, weil sich die regionalen Chefs „wegen des Prinzips der Einheit des Systems der staatlichen Macht (Artt. 5 III, 77 II Verf RF) zum Präsidenten in einem unmittelbaren Subordinationsverhältnis befänden.“ Hinzugesetzt wird, dass der Präsident die Verantwortung für ein koordiniertes Zusammenwirken der staatlichen Organe aufgrund der Artt. 19 I, II, 77 I, 78 IV und 80 I, IV Verf RF habe.913 Das regionale Staatsoberhaupt sei als Teil der regionalen Exekutive Teil des einheitlichen Systems der exekutiven Macht der RF. Im sog. Altaj-Urteil qualifiziert das Gericht die Absetzung des höchsten Amtsträgers des Subjektes nicht als Verfassungsverstoß, weil der höchste Amtsträger des Subjekts grundsätzlich „an die Entscheidungen und Anweisungen der föderalen exekutiven Gewalt im Rahmen ihrer Kompetenzen“ gebunden sei.914 Der Präsident ist deshalb allein be910 911 912 913 914
SZ RF 1998, Nr. 52, Pos. 6447, Punkt 3. SZ RF 1997, Nr. 51, Pos. 5877, Punkt 5, Absatz 3. SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 9, Absatz 5. SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1797, Punkt 6. SZ RF 2000, Nr. 25, Pos. 2728, Punkt 9.
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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rechtigt, Amtsträger ihrer Macht zu entheben, weil föderale und regionale Ebene ein einheitliches System bildeten.915 Deutlich wird dieser Ansatz zuletzt im Urteil des Verfassungsgerichts vom 21. 12. 2005. Dort heißt es, dass das Haupt der regionalen Exekutive Glied des einheitlichen Systems der Exekutivgewalt sei. Dies genügt dem Gericht zur Annahme, dass er dem Präsidenten der RF nachrangig sein muss. Automatisch spricht das Gericht auch in dieser Entscheidung von einem „Subordinationsverhältnis“916 Als Teil dieses Systems sei der Exekutivchef der Länder dem Präsidenten als Oberhaupt des einheitlichen Systems der ausführenden Gewalt verantwortlich: „In seinem Status als Amtsträger befindet er sich kraft des Prinzips der Einheit des Systems der staatlichen Macht in einem unmittelbaren Subordinationsverhältnis zum Präsidenten der RF, der als unmittelbar durch das Volk gewählte Staatsoberhaupt das Funktionieren der Staatsorgane gemäß Artt. 19 I, II, 77 I, 78 IV, 80 I, II Verf RF garantiert.“917 Deutlich ist, dass die Frage nach einem Subordinationsverhältnis weitgehend davon beeinflusst wird, eine handlungsfähige Exekutive zu erwirken. So warnt das Gericht davor, die Beteiligung des Parlamentes an der Bildung der Exekutive dürfe nicht zu einer Paralysierung der Exekutive führen.918 Dies ist jedoch kein Argument. Was für das einheitliche System der Macht insgesamt gilt, gilt auch für das einheitliche System der Exekutive: Für ein Subordinationsverhältnis bietet die Verfassung keinen Anhaltspunkt. Die einheitliche Souveränität kann nicht auf das Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander schließen lassen. Darüber hinaus spricht das Föderalismusprinzip für eine grundsätzliche Gleichrangigkeit von föderalen und regionalen Staatsorganen. Ein Subordinationsverhältnis kann allein für den Bereich der gemeinsamen Zuständigkeiten begründet werden, versteht sich aber auch hier nicht von selbst. Entsprechend kritisiert Richter Kononov in seinem Sondervotum, die Einheit der Exekutive sei nicht „homogen hierarchisch (ierarchicˇeski-odnorodnoe), alles verschlingend“, sondern allein ein funktionaler Zusammenhang.919 d) Das einheitliche System staatlicher Macht als Homogenitätsgebot Kaum weiter konkretisiert hat das Verfassungsgericht den Ansatz, der das einheitliche System der Exekutive als Forderung versteht, dass der legislative und der exekutive Staatsaufbau der Subjekte dem föderalen Staatsaufbau entsprechen muss. So geht das Verfassungsgericht im Beschluss über die Altajregion vom 18. 1. 1996 davon aus, dass die Organe der vollziehenden Gewalt der gesetzgebenden Gewalt eines Subjekts auch deshalb nicht untergeordnet sein dürften, weil föderale und regionale Or915
SZ RF 2002, Nr. 15, Pos. 1497, Punkt 4, Absatz 8. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 4, Absatz 2. 917 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 4, Absatz 2. 918 SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 5. 919 Sondervotum von Verfassungsrichter Kononov zum Urteil des Verfassungsgerichts vom 21. 12. 2005, in: Vestnik konstitucionnogo suda, 2006, Nr. 1, 65 ff. 916
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
gane nach Art. 77 II Verf RF ein „einheitliches System der Staatsgewalt“ darstellten.920 „Das verfassungsrechtliche Prinzip der Einheit der Staatsgewalt fordert, dass die Föderationssubjekte grundsätzlich von dem föderalen Aufbau der gegenseitigen Beziehungen von vollziehender und gesetzgebender Gewalt ausgehen müssen.921 Zuletzt wurde die Ansicht, das einheitliche System begründe die Pflicht der Subjekte, ihren Staatsaufbau genauso wie den Aufbau föderalen Ebene zu gestalten, im Urteil vom 21. 12. 2005 wiederholt.922 Indes gibt es keinen Grund aus dem „einheitlichen System“ die Pflicht abzuleiten, in der Region einen entsprechenden Staatsaufbau zu errichten wie auf Bundesebene. Dies wird allenfalls durch die Regelung in Art. 77 I Verf RF gesichert, nach dem sich der Staatsaufbau in den Regionen an vom Bund zu bestimmenden allgemeinen Prinzipien zu orientieren hat. Der Rückgriff auf das einheitliche System ist hier nicht notwendig. 9. Ergebnis Nach den hier ausgewählten Entscheidungen zeichnet sich eine Staatsvorstellung ab, die den Staat auf seinem gegenwärtigen Territorium als an die Geschichte gebundenes, überkonstitutionelles Instrument gesellschaftlichen Wandels begreift. Zur Durchsetzung seiner Ziele bedient sich der Staat, seiner jeweiligen Entwicklungsetappe entsprechend, bestimmter Organisations- und Durchsetzungsformen, die er in Gesetzesform bringt. Indem auch die Rousseausche Idee vom allgemeinen Willen eingebracht wird, zeigt man, dass man die Teilnahme am politischen Prozess an die Fähigkeit des Individuums knüpft, ethisch zu handeln. Die moralische Fähigkeit zeichnet sich hier dadurch aus, das staatliche Gesamtinteresse im Auge zu haben. Indem man den politischen Parteien und damit ihren Mitgliedern abspricht, in der Lage zu sein, entsprechend zu handeln, wird es notwendig, diese ethischen Anforderungen durch entsprechende Gesetze zu sichern. Indem das Verfassungsgericht das historische Sein zum Entscheidungsfaktor macht, gibt es indes keine Auskunft darüber, was es dazu befähigt, die gegenwärtige Entwicklungsetappe zu diagnostizieren. Wenn das Gericht argumentiert, das Land sei für ein freies Parteiensystem nicht reif, fragt sich, woran das Gericht dies erkennt? Die Verfassung gibt dem Gericht dazu weder die Berechtigung, noch konkrete Anhaltspunkte. In der Entscheidung vom 21. 12. 2005 überlässt es das Gericht dem Gesetzgeber, zu entscheiden, welche Maßnahmen der politischen Entwicklung des Volkes gemäß sind. Begründet wird dies allein mit der staatlichen Souveränität. Ziel der Entwicklung ist die Sicherung des demokratischen souveränen Staates in seinen bestehenden Grenzen sowie die einheitliche Durchsetzung der Verfassung. Diese Ziele entnimmt das Gericht vor allem der Präambel. Der Inhalt der Verfassung charakterisiert sich nach Ansicht des Verfassungsgerichts deutlich durch eine Priori920 921 922
SZ RF 1996, Nr. 4, Pos. 409, Punkt 6, Absatz 6. SZ RF 1996, Nr. 4, Pos. 409, Punkt 6. SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336, Punkt 3, Absatz 5.
XII. Staatliche Einheit aus der Sicht des Verfassungsgerichts der RF
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tät von gesamtstaatlichen Interessen vor Sonderinteressen. Ihre Ziele sind der Schutz der staatlichen Einheit, die Durchsetzung von Bürgerrechten sowie der Verfassung insgesamt. In den Beschlüssen vom 3. 4. 2007 sowie vom 15. 5. 2007 nennt das Gericht die Sicherung der staatlichen Einheit ohne Erklärung schlicht einen „Imperativ der Verfassung“.923 Dabei wird nicht definiert, was staatliche Einheit bedeutet. Die Letztverantwortung für die Umsetzung dieser Ziele liegt beim Präsidenten. Aus der Garantenstellung für den Schutz der staatliche Einheit nach Art. 80 II Verf RF wird eine konkrete Rechtsgrundlage, die von dem Grundsatz umrissen wird „alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt“. Manchmal geht das Verfassungsgericht sogar darüber hinaus.924 Das Gewaltententeilungsprinzip wird auch im Diskurs des Verfassungsgerichts ganz durch das Ringen um staatliche Einheit bestimmt. Insofern werden die verschiedenen Organe der Staatsgewalt als Glieder eines einheitlichen, durch die Verfassungsziele bestimmten System verstanden, die vom Präsidenten gelenkt, diese Ziele herbeizuführen haben. Der rechtliche Status der einzelnen Organe verliert gegenüber dem durch die Präambel festgelegten Ziel seine Bedeutung. Nur so erklärt sich, warum das Gericht im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Ernennung der regionalen Amtschefs auf die Klärung der Frage verzichtet, ob das Gesetz das in der Verfassung niedergelegte Föderalismusprinzip verletze, obwohl sich diese Frage nach dem westlichen Bundesstaatsverständnis aufdrängt. Wenn die konkrete Befugnis des Präsidenten allein aus seiner Funktion als Garant der staatlichen Einheit basiert, fragt sich, warum die Rechtsstellung der Subjekte nicht auch aus ihrer Funktion entnommen werden kann. Immer wieder tritt die Herausarbeitung des Verhältnisses der Organe zueinander hinter die Notwendigkeit des Einheitsschutzes zurück. Das Verhältnis der Organe staatlicher Macht zueinander wird durch ihre Verpflichtung gegenüber den einheitlichen Verfassungszielen bestimmt. Da diese Ziele die Sicherung des Gesamtstaates im Auge haben, bleibt für eine Diskussion der Rechte der föderalen Staatsorgane kaum Raum. Regelmäßig bleibt die Erörterung des Gewaltenteilungsprinzips neben der Betonung der einheitlichen Souveränität unterbelichtet. Die Fokussierung auf das Ganze steht hier im Weg, um das Wesen und das Verhältnis der einzelnen Organe der Staatsgewalt zueinander zu bestimmen. Erstaunlich automatisch versteht das Verfassungsgericht das einheitliche System der staatlichen Macht nach Art. 5 III Verf RF als ein hierarchisches System, ohne dass der Wortlaut oder gar die Systematik des Gesetzes dazu zwingen würden. Gleiches gilt für das einheitliche System der Exekutive nach Art. 77 II Verf RF. Hier gilt es vor allem, die Funktionstüchtigkeit als Ganzes zu sichern.
923
SZ RF 2007, Nr. 21, Pos. 2561, Entscheidung vom 15. 5. 2007, abgedruckt in: Vestnik Konstitucionnogo Suda Rossijskoj Federacii 2007, Nr. 5. 924 So z. B. in der Tschetschenien-Entscheidung durch die Umgehung der Regelungen über den Ausnahmezustand oder, wie dargestellt, wiederholt durch Missachtung des Föderalismusprinzips.
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C. Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“
Insofern kann die Entscheidung vom 21. 12. 2005 trotz der Abweichung von der ständigen Rechtssprechung zur Volkswahl der Amtschefs der Subjekte nicht als inhaltlicher Wendepunkt der Verfassungsrechtsprechung angesehen werden. Vielmehr ist in den früheren Entscheidungen aus der Rückschau eine klare Tendenz erkennbar, die Interessen des föderalen Gesamtstaats den Interessen der Regionen vorzuziehen. Dabei blieb die Rolle des Präsidenten zum Schutz staatlicher Einheit immer unbegrenzt. Gleichermaßen wurde das Föderalismusprinzip immer aus dem notwendigen Schutz des Gesamtstaates erklärt. Letztlich wurde das Prinzip der einheitlichen Macht immer wieder als hierarchische Ordnung ausgelegt. Dies alles hat sich in der Entscheidung vom 21. 12. 2005 nur verdichtet. Der Meilenstein für die russische Föderalismusentwicklung ist insofern vielmehr das Gesetz selbst und nicht seine verfassungsrechtliche Bewertung. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass es für das Verfassungsgericht mit der Entscheidung vom 21. 12. 2005 an der Zeit gewesen wäre, sein Verständnis von der unbegrenzten Kompetenzfülle des Präsidenten zum Schutz der staatlichen Einheit sowie sein Verständnis der hierarchischen Konzeption des Systems der einheitlichen Macht mit einem Blick in die Verfassung zu revidieren.
D. Zusammenfassung und Schluss: „Einheit“ als Kontinuitätsbegriff der russischen Staatstheorie Die Begriffe „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ erweisen sich rechtsgeschichtlich als zentrale Begriffe der russischen Staatstheorie. Wie die Arbeit gezeigt hat, schaffen sie Zugang zu einer ganzen Reihe von Besonderheiten des russischen Staatsrechts. Wie in einem Brennspiegel laufen hier verschiedene Faktoren zusammen, die das Verhältnis von Staat, Macht und Recht in Russland charakterisieren. So ist Einheit allgemein das Ziel der politischen Entwicklung, Rechtfertigung von politischem Handeln und entscheidender Begriff, um die Organisation staatlicher Macht zu umschreiben. Wenn sich Einzelaspekte der Theorie von Staat und Recht in Russland im Laufe der verschiedenen politischen Epochen geändert haben, blieben die den Begriffen staatliche Einheit und einheitliche Macht zugrunde liegenden Konzeptionen erstaunlicherweise weitgehend unverändert. Sehr komprimiert ausgedrückt beinhalten diese die Vorstellung, dass sich Einzelinteressen in das staatliche Gesamtinteresse einordnen müssen, weil allein aus dem Gesamtstaat Freiheit und Gerechtigkeit entstehen und der Fortbestand des Staates garantiert werden kann. Dabei kann einheitlich organisierte Macht die gemeinsamen Ziele am Effektivsten umsetzen. Einheitliche Macht ist insofern nicht freiheitsgefährdend, als durch die Unterordnung der Einzelinteressen unter das gemeinsame Wohl eine Identität der Interessen von Volk und Regierenden gesichert ist. Diese bereits in der vorsowjetischen Staatstheorie herrschenden Lehren sind auch heute teilweise weiter präsent und überlagern die von der Verfassung angelegte Idee der Meinungs- und Gewaltenvielfalt. Soweit in Russland auch heute wieder die Notwendigkeit von Meinungs- und Gewalteneinheit unterstrichen wird, bleibt die Rechtsstellung der einzelnen Interessen und Gewalten im Staat unterbelichtet. Es hat sich auch gezeigt, dass die Entwicklung der Idee des subjektiven Rechts in Russland durch die Beschäftigung mit dem einheitlichen Gesamtinteresse lange Zeit deutlich gehemmt wurde. Dort, wo ein gemeinsames Interesse anvisiert wird, ist der Schutz von Einzelinteressen durch das Recht von untergeordneter Bedeutung. Insofern relativiert die Fokussierung auf die politische Notwendigkeit von gesellschaftlicher Einheit die Funktion der Verfassung, den Ausgleich von Interessendifferenzen zu regeln.
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D. Zusammenfassung und Schluss
I. Staatliche Einheit als politische Notwendigkeit gegen Chaos und Zerfall Ausgangspunkt für die staatstheoretische Diskussion ist eine permanent angenommene Gefahr der Zersplitterung der Gesellschaft. Diese findet sich auch heute wieder in der politischen Diskussion. Form der Überwindung dieser sozialen Heterogenität ist der Staat. Staatliche Einheit steht für einen Frieden garantierenden Idealzustand. Im Hobbesschen Sinne sichert der Staat die Beherrschung des ursprünglichen Chaos durch Lenkung und Rechtssetzung. In den verschiedenen historischen Epochen erfolgt die Subjektbildung des russischen Staates vor allem als Reaktion auf eine angenommene äußere Bedrohung. Innere Zersplitterung wird als Nachteil gegenüber dieser wahrgenommen. Dies entspricht dem früh von der russisch-orthodoxen Kirche entwickelten Ideal vom notwendigen Zusammenschluss unter der russischen Krone, um den Bedrohungen des orthodoxen Glaubens standhalten zu können. Begründet wird die Notwendigkeit der Kollektivbildung zunächst mit der äußeren Bedrohung durch den Islam und die benachbarten Großmächte.1 Diese Argumentationslinie zieht sich bis in den Marxismus-Leninismus. In der Sowjetzeit wird die äußere Bedrohung durch den Kapitalismus und den Faschismus Argument für die Notwendigkeit staatlicher Einheit.2 Heute wird an staatliche Einheit appelliert, wenn es darum geht, Russland vor Terrorismus zu schützen und dem Land eine starke Position in den internationalen Beziehungen zu verschaffen. Staatliche Einheit beinhaltet auch heute den Verzicht auf Egoismus und Konkurrenzkämpfe. Die permanente Ausnahmesituation durch äußere Bedrohung und inneren Zerfall mache den durch die Putinsche Politik unter dem Begriff „staatliche Einheit“ angestrebten Idealzustand alternativlos.3 In diesem Zusammenhang spielt das Territorium eine wichtige Rolle. Aus der Perspektive der russischen Herrscher wird das große Territorium Voraussetzung für eine starke, unabhängige Position Russlands in der Welt. Herrschaftsaufgabe ist es demnach, dieses Territorium zu halten. Die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Territoriums wird so z. B. in Art. 1 der Verfassung von 1906 prioritäres Herrschaftsziel.4 Auch heute gehen Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur, aber auch das Verfassungsgericht davon aus, dass der von der Verfassung geforderte Schutz der staatlichen Ganzheit den Organen der Staatsgewalt zum Schutz des Territoriums weite Kompetenzen einräumt.5 Für Präsident Putin ist der Auseinanderfall der Sowjetunion eine „geopolitische Katastrophe“. Seine Politik sieht er wesentlich davon geleitet, diesen Prozess aufzuhalten.6 1 2 3 4 5 6
Kap. B.I. Kap. B.III. Kap. C.I. Kap. B.II. Kap. C.XI., XII. Kap. C.I.
III. Die Synthese als Voraussetzung für Recht und Freiheit
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II. Der Staat als Synthese Während der nach innen geeinte Staat mit einem großen Territorium als Überlebensstrategie nach außen empfunden wird, entwickelt man im 19. Jahrhundert einen Staatsbegriff, der vor allem durch die Fähigkeit zu charakterisieren ist, zwischen allen seinen Teilen Einheit herzustellen. Staat ist danach vor allem Synthese. Die gesellschaftstheoretische Bedeutung der Gesamtheit (celostnost) kommt im 19. Jahrhundert zunächst durch die Slawophilen auf. Unabhängig vom Staatsbegriff beginnen sie die alte russische Dorfgemeinschaft („mir“) zu idealisieren und verstehen die Synthese nunmehr insgesamt als das besondere Russische, das sie dem Konzept eines egoistischen Westens gegenüberstellen. Gegenüber dem Individualismus in Westeuropa wird das sittlich Richtige in der russischen Ganzheitlichkeit und einer mystifizierten Gemeinschaftlichkeit (sobornost) festgemacht. Russisch ist nach dieser Ansicht auch die Fähigkeit des Individuums, sich in das Ganze einzufügen.7 Die sog. Westler unter den russischen Intellektuellen übertragen diese Idee auf den Staat. Dazu greift der russische Staatsbegriff ausdrücklich die Hegelsche Idee staatlicher Einheit im Sinne einer Gesamtheit aller seiner Teile auf. Die Vertreter der hisˇ icˇerin übernehmen die Vorstellung Hetorischen Rechtsschule, vor allem Boris N. C gels vom Staat als der alles überspannenden, Einheit stiftenden Synthese, wobei in den einzelnen russischen Staatsentwürfen nicht immer klar ist, ob die staatliche Einheit Summe aller Einzelwillen ist oder ob sie eine eigene Substanz hat. Weil der Staat alles umfasst, ist er Wirklichkeit der sittlichen Idee. Um dieses sittliche Ideal in der Realität zu ermöglichen, ist der Einzelne gefordert, sich in den Staat einzufügen, denn nur das Ganze ist auch das Richtige.8
III. Die Synthese als Voraussetzung für Recht und Freiheit sowie für das sittliche Ideal Die Vorstellung, der Staat sei Synthese allen gesellschaftlichen Seins bekommt ihre rechtswissenschaftliche Bedeutung vor allem aus der Folgerung, allein aus der vom Staat verkörperten Gesamtheit könne Recht durchgesetzt werden. Weil der Staat alle Einzelinteressen in sich vereint, ist er in Russland Bedingung für Freiheit, Gerechtigkeit und für das sittlich Richtige. Der bedeutende russische Jurist Boris ˇ icˇerin macht die Idee staatlicher Einheit zur Freiheitsidee. Durchsetzbare Freiheit C für den Einzelnen könne allein aus der Natur des staatlichen Bundes erwachsen.9 Bei dem einflussreichen russischen Philosophen Vladimir Solovev vermischt ˇ icˇerinsche Idee der staatlichen Einheit mit dem mystischen Ideal der slawosich die C philen Gemeinschaftlichkeit. Die staatliche Einheit wird zur Voraussetzung für die 7 8 9
Kap. B.II. Kap. B.II. Kap. B.II.
400
D. Zusammenfassung und Schluss
ideale All-Einheit (vse-edinstvo). Während Cˇicˇerin versucht hatte, Recht und Sittlichkeit zu trennen, wird seine Vorstellung vom Staat als Mittel des Zusammenlebens von Individuen durch Vl. Solovev wieder sittlich aufgewertet. Dabei wird die AllEinheit zur Umschreibung für das Gute. Diese wiederum braucht nach Vl. Solovev den Cˇicˇerinschen Staat, der auf Erden eint und ordnet. Die höchste Form der slawophilen Gemeinschaftlichkeit ist vor der absoluten Einheit in Gott die staatliche Einheit, die allein die christliche Einheit herzustellen in der Lage sei. Anders als Hegel trennt Vl. Solovev nicht zwischen Recht und Philosophie. Recht und Moral, Mystik und Realität werden in diesem Staatsbegriff vereint. Staatliche Einheit wird zur Bestimmung für den Einzelnen und ihre Durchsetzung zum antiindividualistischen Appell.10 Die Idee von staatlicher Einheit als Voraussetzung für die Umsetzung höherer mystischer Einheit, wird von dem heute wieder in Russland häufig zitierten Rechtsphilosophen Ivan Ilin ausgeweitet.11 Die Vorstellung von einer durch die staatliche Macht durchgesetzten Ideologie, die zu höherer Glückseligkeit führt, wird von Lenin auch im Widerspruch zu Karl Marx übernommen: Während Marx vorsah, dass das Proletariat den über ihm herrschenden Staatsapparat vernichtet und sich selbst organisiert, soll sich die Gesellschaft nach der bolschewistischen Revolution in Russland unter den Einheit durchsetzenden Staatsapparat unterordnen, weil allein der Staat die objektive Idee verwirklichen kann. In der sowjetischen Verfassung von 1977 ist der Staat Instrument der revolutionären Errungenschaften und des Aufbaus von Sozialismus und Kommunismus (Präambel Abs. I Satz 1). Zweck dieses Staates ist die Einheit des Proletariats. Der Staat ist das, was den Werktätigen auf eine höhere Stufe von Moral und Kultur verhilft. Während das vereinigte Proletariat bei Marx vor allem als freie Assoziation im Gegensatz zum Staat als einer Zwangsordnung zu sehen ist, wird die proletarische Vereinigung bei Lenin zum Sinn der Zwangsordnung.12 Die Vorstellung vom Staat als der Synthese hat eine entscheidende Legitimationsfunktion für staatliches Handeln und verdrängt freiheitlich- kontraktualistische Vorstellungen. Legitimation entsteht weniger aus einem rechtsetzenden Vertrag, als abstrakt aus der Natur des staatlichen Bundes. Der Gesellschaftsvertrag als Gründungsakt des Staates spielt daneben kaum eine Rolle. Stattdessen ist der Gesellschaftsvertrag schon bei Prokopovicˇ allein ein Herrschaftsvertrag zwischen Volk und Zar, Cˇicˇerin lehnt den Gesellschaftsvertrag durch gemeinsamen freie Willensübereinkunft aller ausdrücklich als „Fiktion“ ab, im Marxismus-Leninismus ist die freiheitliche Entscheidung durch die Einsicht in die Notwendigkeit determiniert. Insgesamt wird aus den verschiedenen westeuropäischen Gesellschaftsvertragslehren innerhalb der dargestellten Vorstellungen von staatlicher Einheit in Russland weniger die Funktion des Vertrages rezipiert, Recht zu setzen und die Vertragsparteien rechtlich zu binden. Betont wird vielmehr der Gedanke, dass der Zusammenschluss der Menschen 10 11 12
Kap. B.II. Kap. B.II. Kap. B.III.
V. Staatliche Einheit als Interessenidentität
401
Voraussetzung für das Gute sei, weil er sie aus dem bedrohlichen Ausgangszustand erlöse. Dieser Zusammenschluss ist nicht ein einmaliges Ereignis, der die Träger staatlicher Macht rechtlich verpflichtet. Den Zusammenschluss charakterisiert vielmehr eine dauerhafte Übereinstimmung der Einzelwillen, die den einheitlichen staatlichen Willen legitimiert. Heute spricht die Präambel der Verfassung von 1993 von einer bereits vorkonstitutionell gewachsenen staatlichen Einheit. Sie überdauert die verschiedenen politischen Epochen und Verfassungstexte.13
IV. Der Staat als Instrument der Entwicklung Wegweisend für den Einheitsbegriff ist das für die russische Staatstheorie charakteristische Denken in historischen Lagen. Insofern beschreibt der Staatsbegriff in Russland nicht nur ein rein-statisches Organisationsgeflecht, sondern einen politischen Prozess. Da es immer wieder darum geht, die Heterogenität zu überwinden, zu vereinen und dem sittlichen Ideal näher zu kommen, wirkt von den Hegelschen Vorstellungen auch die fortschrittsoptimistische Idee des Staates als dialektischer Entwicklungsstufe sinnstiftend. Nur der Staat kann Harmonie herstellen und das Volk für die richtige Organisationsform befähigen. Es kommt zum Ausdruck, dass der russische Staat (gosudarstvo, von russ.: gosudar- Herrscher) anders als der „statische“ westliche Staatsbegriff (state, tat) einen eher dynamischen Charakter hat und für soziale Entwicklung steht. Indem die ideale Gesellschaftsform erst auf einer höheren Ebene zu erreichen ist, bleibt das Freiheitsverständnis in der gegenwärtigen Einheit im Staat restriktiver. Zunächst geht es darum, sich in die staatliche Einheit als Dach unterzuordnen, das alles schützt und auf den richtigen Weg bringt. Dies beinhaltet, dass die Freiheit nicht am Anfang des politischen Zusammenschlusses steht, sondern Folge des staatlichen Zusammenschlusses ist. Auch insofern wird die absolute staatliche Macht immer wieder akzeptiert, weil der autokratische Staat allein als Übergangsetappe zum Ideal angesehen wird.
V. Staatliche Einheit als Interessenidentität Die Idee vom Staat als einer Synthese ist an die Vorstellung geknüpft, dass politisches Handeln vom Willen des ganzen Volkes gedeckt sein muss. Entsprechendes gilt schon für das Verhältnis von Volk und Zar. Da der Herrscher im Namen des Volkes die christliche Idee schützt und das Volk in dieser Idee verteidigt, ist er legitimiert. Ausgedrückt wird die Interessenidentität hinsichtlich des sittlichen Ideals im Konzept der „Einheit von Volk und Zar“. Je stärker und unabhängiger die Macht des Zaren ist, umso sicherer ist danach die Verwirklichung des sittlichen Ideals. Da das Volk das Ideal teilt, ist jede politische Konkurrenz für den Zaren auch eine Gefährdung für 13
Kap. C.VI.
402
D. Zusammenfassung und Schluss
das allgemeine Wohl.14 Neben die Vorstellung von der Einheit von Volk und Zar tritt unter Zar Peter I. das Konzept des Gesellschaftsvertrags. Der Inhalt bleibt indes mit der Idee der Einheit von Volk und Zar weitgehend identisch: Beide Konzepte umfassen die fiktive Identität von Volk und Herrschaft und dienen der Rechtfertigung einer nach außen und nach innen unabhängigen Macht. In beiden Konzepten handelt der Herrscher im Einvernehmen mit dem ganzen Volk und setzt Recht und Gesetz. Letzteres orientiert sich am allgemeinen Wohl.15 Letztlich findet sich der Kerngedanke des Prinzips des Einheit von Volk und Zar in der marxistisch-leninistischen Vorstellung der Volkssouveränität. Danach repräsentiert die höchste Macht die Einheit des Volkes in einer Idee, weshalb sie berechtigt ist, alles zu tun, um das Volk der Verwirklichung dieser Idee näher zu bringen. Die Volksherrschaft beinhaltet wie die Einheit von Volk und Zar die Abwesenheit von gesellschaftlichen Gegensätzen. Wie bei Vladimir Solovev ist auch im Marxismus-Leninismus die absolute Harmonie der Individuen in der richtigen Idee das Ziel.16 Die Betonung des vereinenden Zusammenschlusses muss indes als Ursache dafür gesehen werden, dass sich das Prinzip der Mehrheitsherrschaft in Russland schwer durchsetzt. Schon in der vorsowjetischen Rechtswissenschaft entsteht Legitimation allein aus dem Willen des ganzen Volkes. Auch in den freiheitlichen russischen Konzeptionen von staatlicher Einheit fehlt es an der konsequenten Bejahung von Interessenpluralität. Der allgemeine Wille bei Pavel Novgorodcev ist mehr als die Aufsummierung von Einzelwillen. Er ist vielmehr in der Sittlichkeit verankert, der der Einzelwille verpflichtet ist. Insofern kann die bloße Mehrheitsherrschaft erst recht nicht akzeptiert werden, weil sie keine sittliche Garantie bietet. Der ethische Anspruch wird allein im allgemeinen Willen verwirklicht. Nicht erst der Marxismus-Leninismus, sondern bereits die Konzeptionen staatlicher Einheit der bedeutenden russischen ˇ icˇerin und Novgorodcev implizieren insofern zwar die Freiheit, Rechtsphilosophen C nicht aber den Individualismus und unbegrenzte Meinungsvielfalt.17 Auch das Prinzip der sowjetischen Volkssouveränität steht im Widerspruch zu demokratischer Mehrheitsherrschaft. Kritisiert wird am Prinzip der kapitalistischen Demokratie, dass sie nicht an objektiven, sondern an subjektiven Interessen ausgerichtet sei. Aufgabe der sozialistischen Demokratie ist es, die Erkenntnis des gemeinsamen objektiven Interesses zu fördern und die subjektiven Interessen in Einklang mit diesem zu bringen. Ziel ist eine umfassende Interessenhomogenität hinsichtlich der objektiven Idee. Der extensive Appell an die „Einheit“ von Volk und Partei richtet sich gegen jede Form von Andersartigkeit. Die mangelnden Ausführungen zu Inhalt und Folgen der proletarischen Vereinigung bei Marx ermöglichen es den herrschenden Gruppen, sich selbst zum Garanten einer Marxschen Ideologie von höherer Einheit zu erklären und sich zu deren Durchsetzung zu bevollmächtigen. Mit der Entwicklung 14 15 16 17
Kap. B.I. Kap. B.I. Kap. B.II., III. Kap. B.II.
VI. Interessenidentität als Problem für die Entwicklung der Rechtsidee
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der Sowjetunion nimmt die Herrschaftsrechtfertigung durch bestehende Einmütigkeit aufgrund der offiziell eliminierten Klassengegensätze zu. Da jeder Unterschied in der Überzeugung auf Klassengegensätze zurückzuführen sei und die Einheit des ganzen Volkes in Frage stellte, hätten die Staatsführer durch Meinungsverschiedenheiten ihren eigenen Misserfolg ausgedrückt und damit ihre Rechtfertigung verloren.18 Beachtlich erscheint insofern, dass sich die Sowjetführung in ihrer Beschwörung der Einheit von Volk und Leitung letztlich in der gleichen Situation befindet, wie die eingangs von Lenin kritisierte „von oben“ verordnete Einheit von Volk und Zar. Die jahrhundertlange Beschwörung der Einigkeit hinterlässt in Russland die Vorstellung, dass Pluralismus grundsätzlich ein Widerspruch zur notwendigen Entwicklung des Staates sei. Dies zeigt sich auch in der Rechtspraxis. So erhält der Präsident nach der rechtswissenschaftlichen Theorie innerhalb der Organe der staatlichen Macht eine besondere Rolle, weil er allein vom ganzen Volk gewählt sei und deshalb die Interessen des ganzen Volkes und nicht nur Partikularinteressen vertrete. Dabei kommt es zu einer unter Minderheitengesichtspunkten fraglichen Verabsolutierung von Mehrheitsentscheidungen.19 Auch das Gesetz wird mit dem Willen des ganzen Volkes legitimiert. Da dieser allgemeine Wille nicht immer der Verfassung entnommen werden kann, besteht hier die praktische Frage, wie er zu ermitteln ist. Dies führt zu Meinungen, die den Willen des ganzen Volkes anhand der Russischen Idee, der traditionellen Lehre von der Besonderheit Russlands festmachen. Danach verklammert die Ideologie auch heute wieder Staat und Individuum und wirkt als Legitimationstheorie für staatliches Handeln.20
VI. Fiktive Interessenidentität als Problem für die Entwicklung der Verfassungs- und der Rechtsidee Es hat sich gezeigt, dass die idealistisch-philosophische Idee von der Gesamtheit des Staates als Quelle von Recht aus rechtswissenschaftlicher Sicht zu abstrakt ist und kaum konkrete Inhalte liefert, wie Recht und Gesetz tatsächlich entstehen. Da der Staat als Gesamtheit faktisch nicht handeln kann, wäre staatsrechtlich vor allem relevant, welche natürlichen Personen für welche staatlichen Organe zu handeln legitimiert sind. Weil der Staat als Gesamtheit Recht überhaupt erst produziert, fehlt es nach diesem Ansatz auch an akzeptierten Mechanismen darüber, wie der Einzelne sein Recht gegenüber dem Staat durchsetzen kann. Die Idee, individuelle Rechte und Freiheiten des Volkes auch gegenüber dem Staat bzw. seinen Organen zu sichern, setzt sich in Russland lange Zeit nicht bedingungslos durch. Recht und Gesetz sind ˇ icˇerin sieht den erst durch den Staat möglich und stehen für den sozialen Fortschritt. C 18 19 20
Kap. B.III. Kap. C.XI. Kap. C.VI.
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D. Zusammenfassung und Schluss
Zweck von Gesetzen monokausal in der Entwicklung zur Freiheit. Im Marxismus-Leninismus ist das Recht allein Mittel zur Verwirklichung der objektiven Idee. Damit wird auch die dem Wortlaut nach subjektive Schutznorm dem allgemeinen Interesse untergeordnet. Die Vorstellung, dass staatliche Einheit Freiheit garantiere, bleibt allein sittliche Wirklichkeit. Nicht das Recht verbindet die Gesellschaft untereinander wie aber auch das Individuum mit der staatlichen Macht, Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen schafft vielmehr allein der umfängliche Staatsbegriff. Ohne ein positiv niedergelegtes, durchsetzbares subjektives Recht bleibt der Einzelne vom Kollektiv, bzw. von der Staatsgewalt abhängig. Rechtstaatlichkeit findet vor allem die Form der zakonnost, nach der Regierung und Verwaltung sich verpflichten, ihre Gesetze einzuhalten.21 Zur Gefahr kann der Staat nach diesen Lehren nicht werden, weil er durch die Vereinigung aller Einzelinteressen Wirklichkeit der sittlichen Idee ist und daher nur moralisch richtig agieren kann. Hier eint Lenin, Solovev und Ilin die gemeinsame Erbschaft Hegels sowie der Rückgriff auf die Einheit von Volk und Zar. Aufgrund der Interessenidentität von Volk und Herrscher kann es nicht zum Konflikt kommen. Tatsächlich ist dieser mystische Ansatz nicht unproblematisch: So bleibt der allgemeine Wille wie auch die automatische Umsetzung dieses Willens durch die staatliche Gewalt ein Ideal. Nicht einmal die demokratische Wahl kann gewährleisten, dass der Gewählte tatsächlich nach dem Willen der Wähler handelt. In der Realität bedarf es nicht nur des Schutzes der Minderheit vor der herrschenden Mehrheit, vielmehr ist die staatliche Gewalt auch an den Willen der Mehrheit zu binden. Nur so kann die Mehrheitsmeinung umgesetzt und die davon abweichende Meinung geschützt werden. Dies hat der demokratische Rechtsstaat der Einheit von Volk und Herrschaft ˇ icˇerinschen staatlichen Einheit voraus. Trotzsowie auch der Solovevschen und C dem blieb er zumindest bis 1991 in Russland nicht verwirklicht. Der einende sittliche Anspruch an den Staat macht einen Herrscher über den Leviathan hier offiziell überflüssig.22 Gleichermaßen rechtswissenschaftlich problematisch ist es, staatliches Handeln sowie Normativakte heute wieder mit dem entsprechenden Willen des ganzen Volkes zu legitimieren. Die Lehre vom allgemeinen Willen vernebelt den Blick auf die wesentlich konkreteren Kompetenzvorschriften der Verfassung. Vor allem verdrängt der allgemeine Wille die Vorschriften der Verfassung, die die bloße Mehrheitsentscheidung für ein Gesetz als ausreichend erachten und die entsprechende Grundannahme der Verfassung, dass es unterschiedliche Interessen und Meinungen geben kann. Stattdessen fordert die Lehre vom Willen des ganzen Volkes, unterschiedliche Meinungen zu überwinden und ein gemeinsames Interesse zum Ausdruck zu bringen. Insofern als Legitimation im Ideal des einheitlichen Willens gesucht wird, wird die Verfassung deutlich in den Schatten gestellt. Die Verfassung selbst wird nicht konsequent in ihrer Eigenschaft als gemeinsamer Wertekonsens gewürdigt, der die Einmütigkeit 21 22
Kap. B.III. Kap. B.III.
VII. Einheitliche Macht
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hinsichtlich einer bestimmten Grundordnung und damit, wenn man so möchte, einer „Ideologie“ zum Ausdruck bringt.23 Entsprechendes gilt auch für die Annahme, dass dem Präsidenten als Vertreter des ganzen Volkes automatisch eine entscheidende Kontrollfunktion für die Durchsetzung des einheitlichen Rechtsraumes und den Zusammenhalt des einheitlichen Systems der Staatsgewalt zukommt, ohne dass es dazu ausdrückliche Kompetenznormen gäbe. Es konnte insofern gezeigt werden, dass die Überbetonung der nicht ausdrücklich klar definierten einheitlichen Macht sowie der Volkssouveränität der Durchsetzung von Gewaltenteilung und freiheitlichen Rechtspositionen inhaltlich entgegensteht. Der gemeinsame Wille des ganzen Volkes soll über fehlende Konfliktlösungsmechanismen hinwegtäuschen. Nicht das Recht verbindet die unterschiedlichen Interessen nach diesem Modell, Ausgleich wird wie in kommunistischer und vorkommunistischer Zeit einseitig durch eine mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattete „einheitliche“ Macht geschaffen. Die Frage, wie das Zusammenspiel der staatlichen Akteure zu gewährleisten ist, wird abstrakt mit dem System der einheitlichen Macht beantwortet, das durch eine Verwaltungshierarchie Ersatz für fehlende Streitschlichtungsmechanismen bietet.24
VII. Einheitliche Macht Das Prinzip von einheitlicher Macht steht in Russland über die Jahrhunderte in enger Beziehung zur notwendigen Sicherung der Einheit und Unteilbarkeit des Territoriums. Stark hält sich die These, die Verteilung von Macht auf verschiedene Träger würde die territoriale Einheit gefährden und damit den Untergang des Staates begünstigen. Um die territoriale Einheit des Landes garantieren zu können, bedürfe es eines starken, mit umfassenden Kompetenzen ausgestatteten Zaren. Während Ivan Grozny seine Alleinherrschaft damit begründet, als Abbild Gottes auf Erden allein und ohne die Bojaren das christliche Ideal am Effektivsten durchsetzen zu können, wirkt der Schutz der territorialen Einheit mehr und mehr sinnstiftend für den russischen Selbstherrscher: Zarin Katharina II. erklärt die Weite des Landes ganz ausdrücklich zum Argument für die Autokratie. Die ersten russischen Geschichtswissenschaftler bestätigen diese Theorie im 18. Jahrhundert. Insbesondere Vasilij Tatisˇcˇev und Nikolaj Karamzin festigen die mächtige These, dass Russland erst in dem Moment stark und unabhängig wurde, als die Macht einheitlich und zentral in der Hand eines einzigen Herrschers, des „Selbstherrschers“ Ivan III., organisiert war. Machtkämpfe und Streit zwischen den Fürsten in der Kiever Zeit hätten dagegen die mongolischen Eroberungszüge begünstigt und erst die Machtzentrierung hätte letztlich zum Sieg über die Mongolen geführt.25 Aus dem Bedürfnis, die Besonderheit Russlands insbesondere gegenüber dem Westen herauszustellen, sehen die Slawophilen in der Selbstherr23 24 25
Kap. C.VI. Kap. C.XI. Kap. B.I.
406
D. Zusammenfassung und Schluss
schaft die traditionelle und deshalb richtige russische Herrschaftsform.26 Die sog. Westler lehnen dagegen westliche Regierungsformen wie die Demokratie oder den Rechtsstaat nicht grundsätzlich ab. Vor dem Hintergrund der Hegelschen Geschichtsphilosophie ist der Herrscher für die russische historische Rechtsschule indes notwendige Lenkungsfigur zur Freiheit. Dabei ist die Einheitsherrschaft zwar nicht mehr absolute Größe, verliert ihren sittlichen Gehalt aber insofern nicht, als nur sie in der gegenwärtigen russischen Entwicklungsetappe die Entwicklung zur Freiheit ermöglicht, Machtverteilung würde die Lenkung erschweren.27 Begünstigt wird die geistige Lenkungsfunktion des Herrschers durch das besondere orthodoxe Herrscherbild in Russland. Danach sorgt der Zar für die Verteidigung des orthodoxen Glaubens. An der Spitze des Russischen Reiches sichert er die Verwirklichung des sittlichen Ideals. Nach der orthodoxen Symphonielehre ordnet sich die orthodoxe Kirche dem Zar unter und stilisiert ihn zum Wahrer der christlichen Gemeinschaft. Indem er das sittliche Ideal verwirklicht, zweifelt die Kirche seine Macht nicht an, sondern vermittelt ein Herrscherbild, nach dem die irdische Machtfülle des Zaren der unbegrenzten Macht des himmlischen Herrschers entspricht. Insofern als der Wille des Zaren dem göttlichen Willen entspricht, besteht hier keine Konkurrenz.28 Nach dem sowjetischen Verständnis der Volkssouveränität verbietet sich Gewaltenteilung, weil sie die Herrschaft des ganzen Volkes verschleiere. Indem die staatliche Gewalt den objektiven Interessen der Arbeiterklasse und im Volksstaat dem Willen des gesamten Volkes entsprechend handelt, kann es keinen Widerspruch zwischen Volk und Herrschenden geben. Jede Konkurrenz für die Staatsgewalt wird als Angriff auf die Volksherrschaft gewertet. Der Gedanke der Volkssouveränität ist heute noch in weiten Teilen prägend für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem System staatlicher Macht in Russland. Auch heute wird Gewaltenteilung teilweise als Gefahr für die einheitliche Volksherrschaft wahrgenommen. Man geht davon aus, dass die föderale Macht der regionalen Macht deshalb übergeordnet sei, weil sie die Macht des ganzen Volkes repräsentiere und damit legitimierter sei, als die staatlichen Organe einzelner Regionen. So wie Partikularinteressen in der Gesellschaft grundsätzlich mit Misstrauen betrachtet werden, stehen auch Organe staatlicher Macht unter dem Generalverdacht, nur ihre eigenen Interessen zu vertreten. Insofern wird auch die Verteilung von staatlicher Macht grundsätzlich als stabilitätsgefährdend für den Zusammenhalt wahrgenommen. In den hier behandelten Texten wird auch heute eine der marxistisch-leninistischen Lehre ähnliche staatsrechtliche Gesamtkonstruktion deutlich, wonach sich föderale Subjekte in das Gesamte einfügen, die vom Präsidenten garantiert und auch zentral kontrolliert wird. In der Verfassung ist dies so nicht angelegt. Vielmehr ist eine Hemmung der verschiedenen Organe der Staatgewalt durch das Gewaltenteilungsprinzip ausdrücklich gewollt. Durch die Verteilung von staatli26 27 28
Kap. B.II. Kap. B.II. Kap. B.I., C.II.
VIII. Die Bedeutung von Einheit als Ergebnis eines Methodenproblems
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cher Gewalt soll gesichert werden, dass kein Organ staatlicher Macht übermächtig wird und damit eine Gefahr für die Demokratie und die Freiheit des Einzelnen wird. Die Verfassung der RF spricht sich ausdrücklich für die horizontale Gewaltenteilung, aber auch für die vertikale Gewaltenteilung in Form des Föderalismus in Form von zwei gleichberechtigten Zentren staatlicher Gewalt aus, dem föderalen Zentrum und den Regionen. Indem die Lehre von der Volkssouveränität die staatliche Macht in den Regionen der föderalen Macht aber als nachrangig begreift, verwirft die russische Lehre den eigentlichen Zweck des Föderalismusprinzips zu weiten Teilen und macht es zu einem rein formellen Kompetenzverteilungsprinzip.29 Tatsächlich ist die Annahme falsch, dass die Volkssouveränität nur in kollektiven, „einheitlichen“ Entscheidungen zum Ausdruck zu bringen ist. Demokratische Bewegungen hatten in Westeuropa eher historisch zufällig unitarische Tendenzen, weil sie sich zugleich mit dem erwachenden Nationalstaatsgedanken verbanden und sich gerade in Deutschland gegen die monarchische „Kleinstaaterei“ richteten. Letztlich diente die Idee des allgemeinen Willens bei Rousseau dazu, eine dem Monarchen gleiche Entscheidungsfähigkeit des Volkes zu demonstrieren. Dies bedeutet aber nicht, dass demokratische Systeme heute zentralistisch organisiert sein müssen. Vielmehr haben sich die Vorurteile gegen Pluralismus, Gewaltenteilung und Parteiendemokratie als falsch erweisen. Heute kann als selbstverständlich gelten, das ein komplexer Leistungsbedarf und ein sensibles Freiheitsbewusstsein der Bürger ein ausdifferenziertes System der Staatsorganisation verlangen. Dieses wird vom Föderalismusprinzip aufgefangen und umgesetzt. Aus dieser Sichtweise erweist sich die Teilung von Gewalt dem Einheitsmodell deutlich überlegen. Den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Heterogenität, die auch im Staatsaufbau zum Ausdruck kommen soll, und notwendiger Entscheidungseinheit des Staates, löst die Verfassung. Durch die Einigung des ganzen Volkes auf eine Verfassung wird die einheitliche souveräne Gewalt des Volkes auf verschiedene Träger staatlicher Gewalt verteilt. Indem alle Organe staatlicher Macht an die Verfassung gebunden sind, bleibt auch in einem pluralistisch organisierten Staat gesichert, dass der Wille des ganzen Volkes gewahrt wird.
VIII. Die Bedeutung von Einheit als Ergebnis eines Methodenproblems Es ist deutlich geworden, dass der Einheitsbegriff seine Bedeutung für die russische Theorie von Staat und Recht vor allem aus politischen und philosophischen Erwägungen erhält. Dabei soll nicht bestritten werden, dass die metajuristische Diskussion über staatliche Einheit als sozialwissenschaftliche, wie auch als politische Frage generell wichtig und notwendig ist. Sie ist sogar ein typisches Merkmal von Staaten, deren Einheit nicht selbstverständlich ist und beinhaltet das Problem, wie aus gesellschaftlicher Heterogenität Entscheidungseinheit entsteht, was Individuen zu einem 29
Kap. C.IV.
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D. Zusammenfassung und Schluss
Staat verbindet. Entscheidend ist in Russland allerdings nicht nur die Tatsache, dass die Verfassung in der Theorie von Staat und Recht kaum als einheitsstiftender Faktor wahrgenommen wird, sondern vor allem, dass politische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse hier stark in die Rechtsauslegung einfließen. „Staatliche Einheit“ wird heute von der Rechtswissenschaft und vom Verfassungsgericht als soziales, historisches, philosophisches oder politisches Phänomen betrachtet. Die verschiedenen Aspekte werden methodisch verbunden. Staatliche Einheit wirkt danach deshalb herrschaftslegitimierend, weil sie politisch notwendig und sittlich richtig ist. In der Verfassung findet dieses Ergebnis kaum eine Grundlage. Die Verfassung fordert zwar den Schutz der staatlichen Einheit, räumt dazu aber keine unbeschränkten Kompetenzen ein. Wenn mit politischer Notwendigkeit und sittlicher Richtigkeit argumentiert wird, verliert die Verfassung ihre Bedeutung. Soweit selbst das Verfassungsgericht seine Ergebnisse jenseits der Verfassung ermittelt, wird die Rechtsidee insgesamt geschwächt. Staatliche Einheit mag als sittlich richtig oder als politisch notwendig erachtet werden, rechtlich kann politisches Handeln indes allein an den Wertentscheidungen der Verfassung gemessen werden. Politische Appelle haben keine rechtliche Bedeutung. Während der Begriff staatliche Einheit politisch und philosophisch überhöht wird, fehlt ihm ein realer rechtlicher Inhalt, so dass er als Rechtsbegriff richtigerweise nutzlos ist.30 Auch soweit der Einheitsbegriff in der Verfassung auftaucht und das Verhältnis der Organe staatlicher Macht charakterisiert (Artt. 5 III, 77 II Verf RF), hat er für die Verfassungsexegese kaum Erklärungswert. Wenn die Verfassung vom „einheitlichen System staatlicher Macht“ bzw. vom „einheitlichen System der Exekutive“ schreibt, kann dies grundsätzlich ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Insgesamt ist Einheit kein Begriff, der die Normenanalyse voranbringen kann. Dies gilt in Bezug auf den Staat wie aber auch auf das Organisationsgeflecht staatlicher Macht. Der Begriff „einheitlich“ gibt keinerlei Anhaltspunkte für die konkrete Rechtsstellung der einzelnen Organe zueinander. Möglich ist eine Verfassungsauslegung im Sinne einer rein formalen Einheit bis hin zu einem ideologischen Programm. Die konkrete Rechtsstellung muss stattdessen aus der Systematik der Verfassung, d. h. u. a. aus der Kompetenzordnung, dem Gewaltenteilungs- und dem Föderalismusprinzip entwickelt werden. Insofern ist es i.E. verfassungsfremd, wenn aus dem Begriff „einheitlich“ automatisch ein hierarchisches System herausgelesen wird, das sich durch Widerspruchsfreiheit, Geschlossenheit und Zusammenhalt auszeichnet. Würde man das „einheitliche System“ nicht philosophisch-historisch erklären, sondern sich stattdessen auf eine reine Normenanalyse beschränken, reduzierte sich die Bedeutung des Einheitsbegriffes für die Rechtsanwendung.31 Deshalb scheint letztlich entscheidend, dass die hier behandelte russische Rechtswissenschaft selbst, zumindest in dieser Kernfrage, auf alte Modelle zurückgreift und gesamtstaatliche Interessenhomogenität als Weg aus dem angenommenen Chaos be30 31
Kap. C.III., IV., V., XI. Kap. C.VII., VIII., IX., X.
IX. Ausblick
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schwört. Soweit man sich in der Rechtspraxis aber auch heute metakonstitutionell auf den Willen des ganzen Volkes stützt und Entscheidungen nur darauf aufbaut, dass man die Einheit des Staates und die einheitliche Macht als sittlich richtig und politisch notwendig erachtet, schafft der Einheitsbegriff Legitimation jenseits der Legalität.
IX. Ausblick So zeigt die Darstellung, dass traditionell gewachsene Staatsvorstellungen die eigenständige Wirkungsweise von Verfassungsrecht in Russland heute teilweise überlagern. Dabei kann hier nicht geklärt werden, wieweit die dargestellte Literatur und die Verfassungsrechtsprechung tatsächlich eine Mehrheitsmeinung wiedergeben und wieweit dabei aus politischen Zwängen heraus argumentiert wird. Bemerkenswert ist allerdings, dass die dargestellten Literatur- und Verfassungsgerichtsmeinungen in Russland wenig Kritik hervorrufen. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die russische Rechtswissenschaft noch deutlich vom eklatanten systematischen Widerspruch zwischen westlichen Prinzipen wie der Gewaltenteilung und einer das subjektive Interesse schützenden Rechtsidee auf der einen Seite sowie der traditional als richtig und notwendig erachteten gesellschaftlichen Geschlossenheit auf der anderen Seite gekennzeichnet ist. So sind zwar einerseits im Westen inhaltlich eindeutig verstandene Rechtsprinzipien wie Gewaltenteilung und Föderalismus in die Verfassung übernommen werden, gleichzeitig wird teilweise weiter an der Überzeugung von der Richtigkeit eines zentral-organisierten Herrschaftsapparats festgehalten, weil allein dieser die gemeinsamen Ideen durchsetzen und die territoriale Einheit sichern könne. Ob die Fokussierung auf das gemeinsame Interesse eine eigene, die Jahrhunderte überdauernde russische Rechtskultur ausmacht oder ob sich die Bedeutung des Partikularinteresses mit seinem notwendigen rechtlichen Schutz in Russland noch entwickeln wird, ist derzeit unklar. Die weitere Entwicklung wird zeigen, ob Meinungsund Interessenunterschiede im Staat in Zukunft als Faktum angenommen werden und man sich politisch darauf einlässt. Es scheint, dass solange Meinungs- und Interessenvielfalt nicht noch stärker als eigener Wert anerkennt werden, auch die Idee des subjektiven Rechts gegenüber dem Staat weiterhin nur von geringer Bedeutung bleiben wird. Die Entwicklung mag wesentlich davon abhängen, ob die russische Rechtswissenschaft in Zukunft durchweg zwischen der Beschäftigung mit der reinen Rechtsnorm und der metajuristischen Staatslehre trennen wird oder ob stattdessen die als politisch notwendig und sittlich richtig erkannte staatliche Einheit Verfassungsentscheidungen weiterhin überlagert.
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Sach- und Personenregister Absolutismus 59 ff., 70, 84 Absterben des Staates 121, 142 f., 147, 167 All-Einheit 107 ff., 116 f., 127, 129 Allgemeiner Wille 61, 303, 311 Allgemeinwohl 63 ff., 85, 92, 102, 306 Anarchismus 105 f. Basis-Überbau-Lehre 169, 196 Bewusstsein 75, 96, 106, 114, 119, 124, 126, 128, 130, 144 f., 147, 152, 158, 160, 168 f., 184, 201, 204, 206 Bojarenduma 54 ff., 64 Celostnost 239, 244, 255, 259 f., 262 ff., 275, 277 ff. Chomjakov, Aleksej Stepanovicˇ 103 f., 110 ˇ icˇerin, Boris Nikolaevicˇ 79, 81 ff., 87 ff. C Demokratie 68, 90 ff., 125, 145 f., 181, 188, 192 ff., 205 f., 209 f., 237 f., 269 f., 285 f., 314, 320, 329, 362, 368, 370 f., 378, 380, 384 f. – sozialistische 159 ff., 164 f., 172, 188, 215 ff. Demokratischer Zentralismus 191, 198, 217 Diktatur des Proletariats 142, 147 f., 152, 162, 165 f., 178, 188 Einheit der Partei 151 f., 155 Einheit von Recht und Moral 209 Einheit von Volk und Zar 132 f., 156, 158, 180, 242, 323 Einheitlicher Rechtsraum 222, 225 ff., 265, 268, 277, 282, 331 ff. Einheitlicher Wirtschaftsraum 226, 265, 301, 383 Einheitliches System der Exekutive 270, 339, 348 Einheitliches System staatlicher Macht 230, 234, 327, 388, 393 Einiges Russland 180, 218
Einparteiensystem 153 f. Einzelinteresse 88 f., 91, 94, 125, 128, 158, 160, 168, 188, 212, 216, 224, 227, 234 f., 244, 254 f., 264, 304 ff., 309, 315, 320, 351, 360, 397 Engels, Friedrich 143, 146, 151 f. Exekutive 71, 93, 135 ff., 192, 218 ff., 224 f., 251, 270, 276, 278, 285, 290, 319, 326, 328, 335, 339 ff., 351 ff., 360, 364, 372, 374 ff., 379 f., 388 f. Föderale Intervention 258, 276, 355 ff. Föderalismus 74, 172, 174, 181, 185, 193 ff., 205, 209, 217, 220, 224 ff., 263, 269 ff., 274 f., 279 ff., 286, 288 ff., 324, 326 f., 336, 341 f., 345, 350, 359, 365, 367, 369 f., 375 ff., 381 ff., 388 f. Freiheit 59 ff., 79 ff., 102 ff., 111 ff., 118 ff., 133 ff., 141 ff., 145 ff., 159 ff., 171 f., 183 f., 205 f., 209 f., 223 ff., 236 ff., 243, 251 f., 257 f., 269 ff., 280 ff., 290, 292 ff., 310 f., 314 ff., 367 f. Gerichtssystem 287, 346 ff. Geschichtsphilosophie 71, 76, 148 Gesellschaft 60 f., 78 f., 81 f., 89 f.,100 ff., 111, 119 ff., 125, 142 ff., 152 f., 159 ff., 190 ff., 216 f., 239, 243, 245, 249, 251 f., 255 ff., 262 ff., 302 ff., 310, 313, 320 ff. Gesellschaftsvertrag 60 f., 63, 65, 70, 81, 90, 92, 98, 102, 106, 125 f., 135, 164, 268, 304 f. Gesetz 53 f., 63 f., 67 ff., 76 f., 81 ff., 87 f., 90, 92 ff., 100, 106, 111, 113, 119, 121 ff., 125 ff., 131, 134 ff., 152, 165, 168, 170, 179, 181, 184, 191 f., 220 ff., 225, 237, 249, 251, 253 f., 278, 286, 288, 290 f., 299, 303 ff., 310 f., 314, 316 f., 319, 329, 332 ff., 337 ff., 343 ff., 355, 358, 364 ff., 372, 374 ff., 380 ff.
Sach- und Personenregister
429
Gesetzlichkeit (Zakonnost) 128, 134, 189, 331, 357, 371 Gewaltenteilung 51, 56, 62, 67, 69, 73, 92, 121, 126, 137, 158, 161, 168, 183 f., 191 f., 194, 249, 279 ff., 288 f., 293, 323 ff., 339 ff., 345 f., 348 f., 354, 360, 375, 377 f., 381 Gradovskij, Aleksander D. 30, 77, 118 f., 138 Großfürst 37 ff., 50, 58 f., 71, 96 f., 132, 140, 217 Grozny, Ivan 46, 65
Legislative 55 f., 71, 92 f., 135, 137, 183, 220, 224, 278, 285, 326, 331 f., 334 ff., 338 f., 352 ff., 375, 378 Legitimation 49 f., 53, 57 f., 61 f., 67, 89, 111, 122 f. 125, 130, 132, 149, 154 ff., 194, 197, 228 f., 254, 269, 303 f., 307 f., 314 ff., 321, 330, 350, 356, 360 f., 363 f., 376, 384 Lenin 147 ff., 151 ff., 168 f., 171 ff., 177 ff., 191 f., 194 ff., 210, 221, 296 ff. Lenkung 87, 91, 94, 96, 115, 161, 235 f. Liberalismus 101, 119
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 74 ff., 79 ff., 82 f., 90 f., 93 ff., 104 f., 108 ff., 142 ff., 148, 182 f., 186 f., 203, 245, 247, 255, 258, 324, 332 Herder, Johann Gottfried 100 Historischer Materialismus 149, 170, 245 Homogenitätsgebot 344, 393
Marx, Karl 141 ff., 158, 162 ff., 169, 172 ff., 194, 197 f., 203, 228, 234, 245, 296 Marxismus-Leninismus 141, 150 f., 157, 161, 169, 179, 188, 197, 217, 245, 251, 255, 270, 296 f., 308, 324, 329 Medvedev, Dmitrij 221 f. Mehrheit 121, 123, 125 f., 130, 152, 154, 159 ff., 165, 179 f., 216, 230, 241, 281, 295, 308 ff., 315 f., 330, 360 ff. Mongolenherrschaft 40 Moskauer Reich 42, 47, 49, 53
Ideologie 130, 148 f., 156 ff., 164, 166, 169, 172, 179, 191, 200 f., 206, 210, 229 f., 301, 303 ff., 311 ff., 358 Ilin, Ivan Aleksandrovicˇ 180 ff., 195, 207, 209, 214, 228, 233, 236, 240, 262 Individualismus 101, 104 f., 113, 119 ff., 126, 230, 270 Interessentheorie 76, 84, 113 Jelzin, Boris 200, 222 ff., 226, 229, 233, 243 Jhering, Rudolf von 76, 84 ff., 88, 91 ff., 113, 252 Judikative 71, 91, 93, 189, 225, 251, 278, 281, 290, 326, 339, 346 ff., 375 f. Kant, Immanuel 77, 81, 124 f., 254, 314 Katharina II. 67 ff., 405 Kavelin, Konstantin Dmitrievicˇ 75, 78 ff., 94 Kelsen, Hans 121, 145, 161, 165, 169, 192, 248 f., 261, 280, 329 Kiever Reich 36 f. Klasseninteressen 166, 249 Kommunismus 159, 161, 163 ff., 171, 173 ff., 180, 187 f., 194, 196 f., 206, 214, 298 Kommunistische Partei 148, 153
Nation 100, 105, 107, 114, 118 f., 131, 140 f., 146, 156, 162, 167, 172 ff., 185, 193, 195 ff., 208 ff., 216 f., 220, 229, 245, 258, 260, 271, 278, 283, 297, 299, 320, 333, 366, 384 Naturrecht 61 ff., 122 ff., 130, 181, 184, 187, 250, 294 Nikolaus II. 72, 132 f., 137 f. Notwendigkeit, politische 235, 250, 267, 293, 397 ff. Novgorodcev, Pavel 93, 118 ff., 170, 184, 235, 270, 305, 308 Oktoberrevolution 162, 207 Orthodoxie 96, 103, 129, 131 Partei 141, 148 f., 151 ff., 199, 367 ff. Peter I. 56, 58 f., 61, 64 ff., 69, 102 Philosophie 76 f., 121, 129, 150 Politik 171, 200 f., 205 f. Präsident der Russischen Föderation 199 f., 212 f., 216, 218, 220 f., 223 ff., 229 f.,
430
Sach- und Personenregister
233, 235, 243, 254, 272, 312, 315, 323, 338, 341, 349, 351 ff., 371 ff., 379 Prokopovicˇ, Feofan 59, 61 ff., 66, 70 f., 81, 102, 134 Proletariat 141 ff., 169, 172 ff., 178 ff., 187 ff., 196 ff. Putin, Vladimir 199 f., 207, 219, 225, 229, 233 f., 239, 241, 270, 351 Recht – als Instrument 122, 168 f., 171, 220, 273, 333 – des ganzen Volkes 157 f., 160, 188, 191, 286, 288, 300, 303 f., 307, 312, 315, 346, 360 ff., 364, 369 – sozialistisches 168 ff. – subjektives 86, 90, 279, 307 Rechtsbewusstsein 119, 124, 126, 130, 184 Rechtsidee 119, 125, 128, 136, 327 f., 386, 388 Rechtsphilosophie 94, 129 Rechtspositivismus 122 f. Rechtsstaat 83, 86, 89, 91, 96, 98, 101 f., 120 ff., 133, 135, 168, 205, 206, 215, 249 f., 253 f., 257 f., 278, 284, 302, 310 ff., 321, 327, 329, 331, 361 f., 370 f., 380, 383, 385 Rechtstheorie 75 f., 84, 118, 170, 246 f., 249 f., 252, 254, 303, 310, 315, 321, 334, 362 Rechtswissenschaft 75, 77, 99, 118, 130, 171, 242 ff., 250 f., 254 f., 257, 267, 269 f., 303, 315, 331 f. Russisch-Orthodoxe Kirche 235 ff. Savigny, Friedrich Carl von 74 f., 86, 88 Sein 57, 77, 83, 97, 101, 103 f., 119, 124, 143, 147, 185, 192, 213, 239, 245, 247 ff., 252, 254 ff., 268, 303, 313 ff. Selbstbestimmungsrecht der Völker 173 f., 210, 258, 278 f., 283, 294 ff., 299 ff., 365, 385 ff. Selbstherrschaft 41, 46, 51, 53, 57 f., 64 ff., 69 f., 73 f., 82, 97, 112, 131, 134 ff., 157 Sittlichkeit 79, 82, 87 f., 95, 101, 111 ff., 120 f., 123, 130, 159, 184, 209, 236 f., 239, 315 Slawophilentum 100
Sobornost 99, 101 ff., 107, 119 f., 129, 243 Solovev, Vladimir Sergeevicˇ 107 ff., 111 ff., 120, 129, 150, 155, 164, 175 f., 181, 184 f., 203, 208, 235, 270 Souveränität 157 f., 168, 177, 198, 200 ff., 209, 212, 215 ff., 219, 222, 234, 241 f., 251, 257, 262, 275 ff., 282 ff., 290 ff., 297, 315, 319 f., 322 f., 329 ff., 333 f., 340, 342, 346, 355 ff., 389 ff. Sozialismus 149 f., 159, 163 ff., 169 f., 174, 178, 188 f., 192, 298 Sprache 110, 115, 138, 148, 172, 175 f., 186, 202, 208 f., 265 f., 283, 286, 290, 295, 297, 365 ff., 370 Staat – des ganzen Volkes 166, 168, 191 – sozialistischer 161, 188 Staatsanwaltschaft 347 ff. Staatsgewalt 190 f., 218, 280 ff., 333 f., 349 ff., 356, 374 ff., 389 ff. Stalin, Josef 153 ff., 160 f., 164 ff., 172 ff., 187 f. Subjekte 218 ff., 282 ff., 291 ff., 331 ff., 335 ff., 376 ff. Surkov, Vladislav Jurevicˇ 201, 209 ff., 215 ff., 220 f., 228 Systembegriff 324 f., 327, 332, 336 Tatisˇcˇev, Vasilij Nikiticˇ 71 f. Territoriale Integrität 244, 259, 276, 279, 299, 318 Tschetschenien 383 ff., 388 Verfassung – der Russischen Föderation 269 ff., 312 ff., 324, 336, 363 f. – der Sowjetunion (1924, 1936 und 1977) 188 ff., 193, 196 ff. – von 1832 134, 136 – von 1906 136 f., 137 f. Verfassungsgericht der Russischen Föderation 365 ff. Völkerrecht 177 f., 294 ff. Volksdemokratie 145, 217 Volkssouveränität 157 f., 276 ff., 319 f., 322 f., 331, 333 f., 355, 378 Volksstaat 166, 188, 191
Sach- und Personenregister Volont gnrale 119 ff., 124 ff., 188 ff., 303 ff., 360 ff., 383 f. Westler 99, 101, 107, 118
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Zakonnost siehe Gesetzlichkeit Zentralismus 131, 141, 154, 162 f., 188 ff., 193, 198, 217, 235, 310