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German Pages [472] Year 2017
Der Deutsche Metallarbeiter-Verband 1891–1933
Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 94
Marco Swiniartzki Der Deutsche Metallarbeiter-Verband 1891–1933
Marco Swiniartzki
Der Deutsche MetallarbeiterVerband 1891–1933 Eine Gewerkschaft im Spannungsfeld zwischen Arbeitern, Betrieb und Politik
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT
Zugl.: Dissertation Friedrich-Schiller-Universität Jena (2015) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Die Hartmannsche Maschinenhalle in Chemnitz im Jahre 1868 (Wikimedia Commons).
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Für Andrea, Greta und Theo
Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die leicht erweiterte und aktualisierte Version meiner Dissertation, die im Wintersemester 2015/16 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen wurde. In ihrer Entstehung profitierte ich direkt und indirekt von vielen Personen, die mir mit Rat und Tat, einem offenen Ohr, nicht enden wollender Geduld und finanzieller Unterstützung zur Seite standen. Ihnen möchte ich hier besonders danken: Zunächst gilt mein Dank vor allem meinem Doktorvater Professor Dr. Thomas Kroll, der mir durch seine theoretisch fundierte, nüchterne und pragmatische Sicht so manches Gedankenknäuel entwirrte und seit meiner Studienzeit immer wieder die Möglichkeit gab, meine Ideen und Fortschritte im Rahmen zahlreicher Veranstaltungen vorzustellen, zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Ohne seinen methodischen und theoretischen Unterricht sowie die Hinweise zur Durchquerung des unübersichtlichen Forschungsfeldes würde die Arbeit heute mit Sicherheit noch nicht einmal vorliegen. Weiterhin gilt mein Dank den Verantwortlichen der Hans-Böckler-Stiftung, ohne deren materielle Förderung diese Studie unmöglich gewesen wäre. Daneben boten mir die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten im Rahmen der Stiftung sowohl wissenschaftlich als auch privat jederzeit viele Chancen, Aspekte der Arbeit „neu zu denken“. Gleiches gilt für den guten Kontakt zu meinem Vertrauensdozenten Dr. Jörg Neuheiser, der von Beginn an wichtige Erweiterungen vorschlug und vor allem die Einbeziehung des Eigen-Sinns anmahnte. Es war ein großes Glück für mich, während meiner Arbeit an dieser Studie auf ein privates Umfeld bauen zu können, das es mir jederzeit erlaubte, Schwierigkeiten auszusprechen, und dabei half, Lösungswege zu suchen. Ein besonderer Dank gilt in dieser Hinsicht meinem guten Freund Jens Hagen, der von der ersten Idee bis zum letzten Satz jeder noch so wirren Konstruktion mit Geduld und ehrlicher Kritik begegnete. Unsere Gespräche halfen mir stets, den roten Faden nicht zu verlieren. Der größte Dank gilt an dieser Stelle meinen Eltern, die mich in meinen Vorhaben stets bestärkten und auf jede nur denkbare Art unterstützten, und besonders meiner Frau, die mir wichtigster Ruhepol, mentaler Beistand in festgefahrenen Situationen und größte Kritikerin zugleich war. Wesentlich zum Gelingen der vorliegenden Studie hat nicht zuletzt die Geburt unserer Zwillinge beigetragen, die in der Schreibphase wichtige von unwichtigen Problemen schlagartig trennten und für die nötige Distanz zum Projektalltag sorgten. Meiner Frau und meinen Kindern ist diese Arbeit daher gewidmet. Marco Swiniartzki
Jena, den 14. Dezember 2016
Inhalt Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................ 11 Tabellenverzeichnis ................................................................................................... 12 Abbildungsverzeichnis ............................................................................................. 13 1. Einleitung . . ............................................................................................................. 15 1.1 Gewerkschaftsgeschichte gestern und heute . . .......................................... 15 1.2 Untersuchungsgegenstände und theoretische Einordnung . . ................ 18 1.3 Vergleich und Aufbau ................................................................................... 27 1.4 Quellen und Literatur .................................................................................. 32 2. Die handwerkliche Phase von 1891 bis ca. 1900 .. ....................................... 36 2.1 Im Chemnitzer Maschinenbaubetrieb um 1890 ..................................... 36
2.2 Der Chemnitzer DMV und der Maschinenbetrieb in der handwerklichen Phase ...................................................................... 70 2.3 Im Hütten- und Walzwerk des Ruhrgebiets um 1890 ........................... 90 2.4 Der DMV und die Hüttenwerke im Ruhrgebiet in der handwerklichen Phase ...................................................................... 102
3. Migration als Organisationsfaktor ................................................................ 115
3.1 Arbeitsmigration und gewerkschaftliche Organisation im Verhältnis ......................................................................... 115 3.2 Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau ................................................................... 118 3.3 Der DMV und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet . . ........................................................... 144 4. Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914 ...................................................... 160 4.1 Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre .......................................... 160 4.2 Die Blütezeit des DMV in Chemnitz ....................................................... 177
4.3 Der Wandel in den Hüttenwerken zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg ............................................... 220 4.4 Überbetrieblich-politische Initiativen und ein Konflikt mit dem Vorstand – Der DMV im Ruhrgebiet zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg ............................................... 226
10
Inhalt
5. Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924 ............................................ 245
5.1 Fortgesetzte Beschleunigung – Betriebliche Entwicklungen im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit .. .................................... 245 5.2 Der DMV und die Arbeiterschaft während des Ersten Weltkriegs . . .. 258 5.3 Die Gefahren der „Organisation als Selbstläufer“ – Der DMV in der Nachkriegszeit ............................................................... 292 6. Die Rationalisierungsphase von 1925 bis 1933 . . .......................................... 343
6.1 Die „Rationalisierungswelle“ in Maschinenbau und Hüttenindustrie ..................................................................................... 6.2 Der DMV in der Rationalisierungsdebatte ............................................. 6.3 Das „Rote DINTA“? – Mitglieder und Verband in der Rationalisierungsphase ..................................................................... 6.4 Zusammenfassende Schlussbetrachtung – Der DMV von 1925 bis 1933 und das Ende des Verbandes ........................................................
343 362 374 405
7. Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................. 418 8. Sach- und Personenregister ............................................................................. 466
Abkürzungsverzeichnis ADAV ADGB
Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund AfS Archiv für Sozialgeschichte APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte AWF Ausschuss für wirtschaftliche Fertigung BRG Betriebsrätegesetz BRZ Betriebsräte-Zeitschrift CMV Christlicher Metallarbeiterverband DIN Deutsche Industrie-Norm DINTA Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung DMV Deutscher Metallarbeiter-Verband DNVP Deutschnationale Volkspartei FAH Friedrich-Alfred-Hütte FAU Freie Arbeiter-Union FN Fußnote GG Geschichte und Gesellschaft GHH Gutehoffnungshütte GM Gewerkschaftliche Monatshefte HAK Historisches Archiv Krupp H.-D. Hirsch-Duncker’sche Gewerkvereine HStA Hauptstaatsarchiv IG Industriegewerkschaft KPD Kommunistische Partei Deutschlands MAZ Metallarbeiter-Zeitung MDI Ministerium des Innern REFA Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung RKW Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit in Industrie und Handwerk RWWA Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei SM Siemens-Martin-Verfahren SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StA Staatsarchiv USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VDA Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände VDI Verein Deutscher Ingenieure VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte WA Werksarchiv W. N. O. Walzwerk Oberhausen ZUG Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
Tabellenverzeichnis Tab. 1: Mitgliederzahl des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Chemnitz (1891 – 1900) .............................................................. Tab. 2: Mitgliederzahlen der DMV – Verwaltungsstellen im Ruhrgebiet (1895 – 1900) .................................................................................. Tab. 3: Berufliche Gliederung der gelernten Metallarbeiterzuwanderung nach Chemnitz 1904/05 ................................................................ Tab. 4: Altersstruktur der zugewanderten gelernten Metallarbeiter nach Chemnitz 1904/05 ................................................................ Tab. 5: Die regionale Herkunft der zugewanderten Metallarbeiter nach Chemnitz 1904/05 ................................................................ Tab. 6: Geburtsorte der bei Haubold eintretenden Arbeiter 1884 – 1929 ..... Tab. 7: Letzte Arbeitsstelle der neueintretenden Arbeiter bei Hartmann (Sommer 1909 bis Januar 1911) ...................................................... Tab. 8: Die regionale Herkunft der Arbeiter der Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen (1906) ............................ Tab. 9: Berufliche Zusammensetzung und Wochenlöhne bei Reinecker (1912) ...................................................................... Tab. 10: Organisationsgrade der Chemnitzer Metallbetriebe 1913 nach Betriebsgröße ....................................................................... Tab. 11: DMV-Mitglieder in Chemnitz 1900 – 1913 ..................................... Tab. 12: Prozentualer Anteil einzelner Berufe an der Chemnitzer DMV-Mitgliedschaft 1907 – 1913 .................................................... Tab. 13: Andere Metallarbeitergewerkschaften in Chemnitz (1912) ............. Tab. 14: Besucher, Organisationsgrad, Auskünfte und Anteil der Metall arbeiter im Arbeiter-Auskunftsbüro und Arbeiter-Sekretariat des Gewerkschaftskartells Chemnitz 1900 – 1915 ............................. Tab. 15: Hochofen-, Hütten- und Walzwerkarbeiter im DMV (1907 – 1913) . Tab. 16: Hochofen-, Hütten- und Walzwerkarbeiter im siebenten Bezirk (1908/09, 1911 – 1913) ....................................... Tab. 17: Arbeiter, Arbeiterinnen und Kriegsgefangene auf der FAH in Bliersheim 1917/18 .....................................................................
74 113 125 126 127 129 131 150 162 197 201 202 206 210 227 227 284
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Maschinenhalle der Maschinenfabrik Richard Hartmann (um 1868) – eine der meistgenutzten Abbildungen zur Geschichte des deutschen Maschinenbaus; Quelle: http://de.wikipedia.org/ wiki/Albert_Christian_Weinlig#/media/File:Hartmann_ Maschinenhalle_1868_%2801 %29.jpg> am 4.4.15 um 11.42Uhr ..... Abb. 2: Grobgliederung und Abteilungen in einem Maschinenbaubetrieb; Quelle: Benad-Wagenhoff, Volker/Paulinyi, Akos/Ruby, Jürgen, Die Entwicklung der Fertigungstechnik, in: Wengenroth, Ulrich (Hrsg.), Technik und Wirtschaft, Düsseldorf 1993, S. 210 .... Abb. 3: Punkt-,Werkstatt-, Linien- und Fließfertigung als Formen der Arbeitsorganisation; Quelle: Benad-Wagenhoff, Volker, Fertigungsorganisation im Maschinenbau, in: Wengenroth, Ulrich (Hrsg.), Technik und Wirtschaft, Düsseldorf 1993, S. 245 ........................... Abb. 4: Das Werbeplakat als Mittel der Agitation; Quelle: Nestriepke, Siegfried, Werben und Werden. Geschichte und System der gewerkschaftlichen Agitation, Nürnberg 1914, S. 139 ............... Abb. 5: Karte: Die Einteilung des Königreichs Sachsen in Amts- und Kreishauptmannschaften; Quelle: Lange-Diercke. Sächsischer Schulatlas, Ausgabe für Dresden, Braunschweig/Dresden 1930 ...... Abb. 6: Karte: Gewerbestruktur des Ruhrgebiets um 1840; Quelle: Prossek, Achim (Hrsg.), Atlas der Metropole Ruhr. Vielfalt und Wandel des Ruhrgebiets im Kartenbild, Köln 2009, S. 43. Kartographie: U. Beha ......................................................... Abb. 7: Eines der zentralen Narrative der gesamten Verbandsgeschichte: der faule und feige Unorganisierte; Quelle: MAZ 42 (1924) 12, S. 27 ............................................................................................. Abb. 8: Die Montage von Großmaschinen im Kolonnensystem; Quelle: Fuchs, Jürgen, Chemnitz. Bilder erzählen aus vergangenen Tagen, Fotos vor und nach der Jahrhundertwende, Horb am Neckar 1991, S. 24 .......................................................... Abb. 9: Das Volkshaus „Kolosseum“ im eingemeindeten Kappel; Quelle: Schaller, Karlheinz, Einmal kommt die Zeit. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Bielefeld 2001, S. 298 ........................... Abb. 10: Ein typisches Monatsprogramm der Jugendabteilung des DMV in Dresden; Quelle: Nestriepke, Werben und Werden, S. 181 ........
38
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 11: Eine in der MAZ selten so klar formulierte Rationalisierungskritik: Die Rationalisierung als arbeitervertreibendes Ungeheuer; Quelle: MAZ 49 (1931) 17, S. 135 ................................................... 368 Abb. 12: Mitgliederentwicklung des DMV in Chemnitz , Duisburg, Dortmund, Essen (1922 – 1931) und der freigewerkschaftlich organisierten Hüttenarbeiter (1922 – 1930) ...................................... 406
1. Einleitung 1.1 Gewerkschaftsgeschichte gestern und heute Noch vor einigen Jahren schien es so, als sei die Geschichte der Arbeiterbewegung aus der historiographischen Mode gekommen. Seit dem relativ abrupten Ende von mehreren Dekaden sozialwissenschaftlicher Erforschung verschoben sich die Schwerpunkte und Herangehensweisen. Vor allem die Geschichte der Gewerkschaften und insbesondere deren Entwicklung im 19. Jahrhundert waren etwas angestaubt und galten vielen als abgeerntetes Feld. So bildeten Studien wie jene von Thomas Welskopp das vorläufige Ende einer breitangelegten Beschäftigung mit einem Forschungsfeld, dessen Potentiale jedoch nicht zuletzt in diesen Arbeiten aufgezeigt und erweitert worden waren.1 Die Ausrichtung auf den „Betrieb als soziales Handlungsfeld“,2 die konsequente Einbeziehung des außerbetrieblichen Milieus und die Nutzung betriebs- und organisationssoziologischer Ergebnisse deuteten bestehende Möglichkeiten an. Gewerkschaftsgeschichte schien sich nicht mehr länger nur in institutionen- und vorstandszentrierten Blickwinkeln zu erschöpfen – sie wurde immer stärker auch eine Geschichte der Arbeit und des Betriebs. In vielerlei Hinsicht machte dies den historischen Erklärungswert dynamischer: Mikropolitische Ansätze schufen neue Einsichten in die Potentiale arbeitsbezogener Solidaritätsbeziehungen der Basis und eröffneten Sichtweisen auf den organisatorischen Wandel, die im Grunde genommen erstmals sozialhistorisch waren. Denn in der gleichberechtigten Wahrnehmung der Ebene alltäglicher Arbeit und der „Politikhaltigkeit von bisher als politikfrei geglaubten Beziehungen“ 3 schien die Chance durch, die gewerkschaftlichen Entwicklungen im Einklang zweier Organisationsebenen zu interpretieren. Das Aufeinandertreffen der Verwaltungsdisziplin und der „großen“ Prozesse in Politik, Streik und Unterstützungswesen einerseits mit dem betrieblichen Arbeiterverhalten andererseits zeigte einen Weg auf, Gewerk-
1 Gerade weil es sich bei Welskopps Studie nicht um eine „klassische“ Gewerkschaftsgeschichte, sondern um eine Geschichte innerbetrieblicher Prozesse und industrieller Beziehungen handelte, eröffnete sie für die Geschichte der Gewerkschaften in der Hüttenindustrie viele neue Perspektiven. Vgl. Thomas Welskopp, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisenund Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn 1994. 2 Vgl. ders., Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: GG 22 (1996), S. 118 – 142. 3 Martin Birke, Betriebliche Technikgestaltung und Interessenvertretung als Mikropolitik. Fallstudien zum arbeitspolitischen Umbruch, Wiesbaden 1992, S. 51.
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Einleitung
schaftsgeschichte „von oben“ und „von unten“ zu synthetisieren. Eine Antwort auf die Frage, wie Arbeiterbewegung „gemacht“ wurde, konnte im Anbetracht der betrieblichen Schnittstelle und der damit einhergehenden Vermittlungsnotwendigkeit zweier Ebenen nun eher befriedigen als im Kontext der beinahe chronischen Einseitigkeit des Streits von Sozial- und Kulturgeschichte.4 Seit einigen Jahren wendet sich das Blatt nun wieder und die Geschichte der Gewerkschaften drängt zurück in die geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen. Sie profitiert dabei von der wachsenden Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeit, die nach einem langen Tief in der historiographischen Konjunktur eine erneute Renaissance feiert.5 In ihrem großen Facettenreichtum knüpft sie an ältere Ergebnisse an, erweitert aber den Horizont des Feldes auch beständig. So erfreuen sich grundlegende Fragestellungen der Debatte der 1980er Jahre einer ungebrochenen Attraktivität – wie die Neuauflage der Aufsatzsammlung Alf Lüdtkes 6 und die offenkundige Anziehungskraft E. P. Thompsons,7 aber auch die Titel vergangener Tagungen beweisen.8 Hinzu treten sowohl Gender- und Emotions- als auch transnationale Ansätze, mit denen die Etablierung der Migrationsgeschichte eng verknüpft ist.9 Es existiert aber auch ein explizit betrieblicher Forschungstrend, in dem die Elemente des technisch-arbeitsorganisatorischen Wandels als Herrschaftstech
4 Dennoch wurde über die theoretische Ausrichtung der Arbeitergeschichte auch noch um die Jahrtausendwende kontrovers diskutiert. Vgl. z. B. Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte jenseits des Produktionsparadigmas. Überlegungen zu Geschichte und Perspektiven eines Forschungsfeldes, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), S. 5 – 36; vgl. Thomas Welskopp, Klasse als Befindlichkeit? Vergleichende Arbeitergeschichte vor der kulturhistorischen Herausforderung, in: AfS 38 (1998), S. 301 – 336; vgl. ders., Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: GG 24 (1998), S. 173 – 198. 5 Vgl. Kim Christian Priemel, Heaps of Work. The Ways of Labour history, in: H-Soz-uKult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2014-01-001, 23. 1. 2014. 6 Alf Lüdtke (Hrsg.), Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster 2015. 7 Vgl. Staughton Lynd, Doing History from the bottom up. On E. P. Thompson, Howard Zinn, and Rebuilding the Labour Movement from below, Chicago 2014. 8 Vgl. z. B. den Band, der aus der 3. Jahrestagung des Projekts „Jüngere und jüngste Gewerkschaftsgeschichte“ hervorgegangen ist. Knud Andresen u. a. (Hrsg.), Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2014. Vgl. außerdem die Tagung der Promovierenden der HansBöckler-Stiftung 2015: „Das bedrohte Selbst. Formen der Subjektivierung zwischen Kontrolle und Eigen-Sinn 1915 – 2015“. 9 Vgl. dazu den Band, der aus der wissenschaftlichen Tagung der Promovierenden der HBS hervorgehen wird: „Subjekte in Bewegung, Organisationen in Bewegung? Gewerkschaften und Migration“ (im Erscheinen).
Gewerkschaftsgeschichte gestern und heute
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niken entlarvt und auf ihren disziplinierenden Einfluss hin untersucht werden.10 Im Mittelpunkt steht dabei ein an Foucault angelehntes, sehr weitgehendes soziales Rationalisierungskonzept, das in der Anordnung von Körpern im Betrieb Akte der „Modernität“ erblickt.11 Aus Sicht der Gewerkschaftsgeschichte haben die aktuellen Ansätze der Geschichte der Arbeit allerdings eines gemeinsam: Sie behandeln die Verbände meistens nur en passant und als Teil eines größeren Zusammenhangs, der innerorganisatorischen Wandel oft außen vor lässt. Dezidierte Gewerkschaftshistoriographie sucht man meist vergebens. Darüber hinaus konzentrieren sich nur noch wenige Arbeiten auf die Entwicklungen vor 1933. Bis heute gibt es keine Studien zu gewerkschaftlichen Einzelverbänden (nicht einmal der größten) in Kaiserreich und Weimarer Republik, die keine Auftragsarbeiten wären.12 Von Arbeiten der „neuen Sozialgeschichte“ ganz zu schweigen: Die Geschichte der Arbeiterbewegung verharrte in den letzten Jahren in ihren festgefügten Bahnen,13 und Interpretationen, die über den politischen und überbetrieblichen Tellerrand hinausgehen, sind rar gesät.14 Auch Biographien berühmter Gewerkschafter konnten darüber kaum hinwegtäuschen.15 Das ist bedauerlich, bieten doch die Ergebnisse der letzten historiographischen „Welle“ ebenso wie jene der letzten Jahre genügend Anlass, sich gewerkschaftlichen Organisationen neu zu nähern. Mit der Stärkung der Rolle des Betriebs für die Gewerkschaftsbewegung, der gebührenden Wertung der Migration als wesentlicher Erfahrung im Konstituierungsprozess eines (wie auch immer gearteten) Arbeiterbewusstseins und der Abwägung subjektiver Handlungspotentiale und struktureller Aspekte kann eine Gewerkschaftsgeschichte gelingen, die nach den Schnittmengen zwischen Verband und Arbeiterschaft fragt und Wandel nicht 10 Vgl. Karsten Uhl/Lars Bluma, Arbeiter-Körper-Rationalisierung. Neue Perspektiven auf den historischen Wandel industrieller Arbeitsplätze, in: dies. (Hrsg.), Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012, S. 19 – 34; vgl. Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014. 11 Vgl. Timo Luks, Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010. 12 Vgl. für den DMV: Kurt-Thomas Schmitz, 100 Jahre Industriegewerkschaft 1891 bis 1991. Vom Deutschen Metallarbeiter-Verband zur Industriegewerkschaft Metall, ein Bericht in Wort und Bild, Köln 1991. 13 Vgl. Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007. 14 Vgl. Joachim C. Häberlen, Vertrauen und Politik im Alltag. Die Arbeiterbewegung in Leipzig und Lyon im Moment der Krise 1929 – 1933/38, Göttingen 2013. 15 Vgl. z. B. Karl Christian Führer, Carl Legien 1861 – 1925. Ein Gewerkschafter im Kampf um ein „möglichst gutes Leben“ für alle Arbeiter, Essen 2009.
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Einleitung
nur auf politische Prozesse, sondern auf Elemente der Annäherung und Entfernung, der Agitations- und Mobilisierungsfähigkeit sowie der geschickten Kanalisierung zurückführt. Kurz: Indem man den betrieblichen Voraussetzungen und gewerkschaftlichen Transmissionsriemen auf den Zahn fühlt, kann erklärt werden, unter welchen Bedingungen und wie Gewerkschaften „gemacht“ wurden.16
1.2 Untersuchungsgegenstände und theoretische Einordnung In diesem Zusammenhang soll in der vorliegenden Arbeit versucht werden, einen Beitrag zur Geschichte des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) zu leisten. Als Vorgängerorganisation der IG Metall und über viele Jahre hinweg größte deutsche Gewerkschaft, in der sich die Umbrüche technisch-organisatorischer, wirtschaftlicher, politischer und nicht zuletzt gesellschaftlicher Natur zwischen ihrer Gründung 1891 und ihrem Verbot 1933 besonders scharf ausprägten, bildet die Geschichte dieser Organisation sicherlich eines der größten Desiderate der Arbeiterbewegungsforschung.17 Das Ziel soll im Folgenden keine reine Institutionengeschichte sein, sondern es gilt, einen Bogen zu schlagen: Von den betrieblichen Basisstrukturen über deren Einfluss auf die Organisationsbedingungen bis hin zu den verbandlichen Strategien zu deren Beeinflussung wird nach Faktoren gewerkschaftlichen Wandels gefragt. Im Zusammenspiel vorgewerkschaftlicher, arbeitsplatznaher Beziehungen und der Möglichkeiten gewerkschaftlicher Kanalisierung soll es nicht nur um die Rolle der Arbeit für die Gewerkschaftsentwicklung, sondern auch um die Entwicklung gewerkschaftlicher Arbeit gehen. Den Kern der Arbeit bilden daher drei zusammenhängende Fragestellungen: 1. Wie wirkte sich 16 Ein Anspruch, der, obgleich bereits 1963 prominent von Thompson formuliert, bis heute häufig unerfüllt blieb. Vgl. E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963. Aktuell lassen jedoch einige Studien eine historische Hinwendung zu der „Praxis“ und den Methoden der Arbeiterbewegung aus alltagsgeschichtlicher Perspektive erkennen. Vgl. Joachim C. Häberlen, Die Praxis der Arbeiterbewegung in Lyon und Leipzig. Überlegungen zu einer vergleichenden Alltagsgeschichte, in: Agnes Arndt (Hrsg.), Vergleichen, verflechten, verwirren?, Göttingen 2011, S. 295 – 316. 17 Umfassendere Studien zum DMV haben meist ein (selbst für historische Forschung) biblisches Alter erreicht, während sich „aktuellere“ Arbeiten eher mit kleineren Untersuchungseinheiten befassen. Vgl. Otto Hommer, Die Entwicklung und Tätigkeit des Deutschen Metallarbeiterverbandes. Ein Beitrag zum Gewerkschaftsproblem, Berlin 1912; vgl. Fritz Veitinger, Der deutsche Metallarbeiterverband. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Erlangen 1924; vgl. Elisabeth Domansky-Davidsohn, Arbeitskämpfe und Arbeitskampfstrategien des Deutschen Metallarbeiterverbandes von 1891 bis 1914, Bochum 1981.
Untersuchungsgegenstände und theoretische Einordnung
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der technisch-organisatorische Wandel auf die betriebsinternen Arbeits- und Sozial beziehungen aus und welches organisatorische Startkapital wurde dadurch für den DMV geschaffen? 2. Wie positionierte sich die Gewerkschaft gegenüber diesen Prozessen? Und davon abhängend schließlich 3. Welche Strategien entwarf man im DMV, um vorgewerkschaftliches Basispotential in gewerkschaftliches Vorgehen zu kanalisieren oder gar um dieses Potential selbst zu generieren? Der Ort, an dem diese beiden Organisationsebenen täglich aufeinandertrafen, war der Betrieb, dessen Bedeutung für die deutschen Gewerkschaften lange Zeit unterschätzt wurde. So gehörte die Einschätzung ihrer Betriebsferne, vor allem im Vergleich zu ihren französischen und britischen Pendants, zu den selten hinterfragten und oft wiederholten „Wahrheiten“ der älteren Sozialgeschichte.18 In Bezug auf die politische Qualität der deutschen Verbände und die Art und Weise, wie sie Lohn- und Arbeitszeitverbesserungen zu erreichen versuchten, traf sie auch zweifellos zu – hinsichtlich der alltäglichen Verwaltungsarbeit, der Agitation und damit der Anschlussfähigkeit an die Arbeiterschaft jedoch nicht. Hier spielte der Betrieb (oft widerwillig) auch in den höchsten Gewerkschaftskreisen eine entscheidende Rolle und veranlasste die Sekretäre zu Überlegungen, wie man betriebliches Handeln im Sinne der gewerkschaftlichen Agenda einsetzen konnte. Denn von Ideen linearer Kontrolle und Disziplinierung mussten sich neben den Unternehmern gegenüber der Belegschaft auch die Sekretäre gegenüber der Mitgliedschaft sehr früh verabschieden. Der DMV war eine Organisation und das hieß (genauso wie im Betrieb), dass jedes Mitglied über Machtressourcen verfügte, die zwar ungleich verteilt, aber dennoch jederzeit ausschlaggebend sein konnten.19 Es gehört zum freiwilligen Charakter der Gewerkschaften, dass dabei auch immer die potentiellen Mitglieder und damit die unorganisierte Arbeiterschaft im Auge behalten werden musste. Die dafür erforderlichen Inklusionsleistungen sollen im Folgenden als jene Maßnahmen begriffen werden, durch die es dem DMV gelang, die Metallarbeiter an „Kommunikationszusammenhänge“ 20 anzubinden, das heißt über Agitationsmaßnahmen in Teile des gewerkschaftlichen Diskurses einzubeziehen. Um eine „Integration von Menschen durch geteilte Normen und
18 Zuletzt noch bei Klaus Tenfelde, Arbeitsbeziehungen und gewerkschaftliche Organisation im Wandel, in: APuZ (2010) 13 – 14, S. 16 – 18. 19 Vgl. Karl Lauschke/Thomas Welskopp (Hrsg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen 1994; vgl. Heiner Minssen, Soziale Muster von Rationalisierung – Umrisse eines Konzeptes, in: ders. (Hrsg.), Rationalisierung in der betrieblichen Arena. Akteure zwischen inneren und äußeren Anforderungen, Berlin 1991, S. 49 – 61. 20 Armin Nassehi/Gerd Nollmann, Organisationssoziologische Ergänzungen der Inklusions-/ Exklusionstheorie, in: Soziale Systeme 3 (1997) 2, S. 394.
20
Einleitung
Werte“ 21 ging es dabei zunächst nicht: Viel eher befanden sich der Verband und die Arbeiterschaft in einem sich ständig wandelnden Prozess des Entgegenkommens und Auseinanderbewegens, der für erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit vor allem voraussetzte, Kompromisse einzugehen. Dieses „Inklusionsarrangement“ 22 des DMV musste also nicht nur die Mitglieder integrieren, sondern den Unorganisierten diese Leistung zumindest in Aussicht stellen – ein überaus heikler Spagat für die verbandliche Agitation. Um dem Industrieverbandsprinzip gerecht zu werden, die Mitgliedschaft zu binden und gleichzeitig weiter auszubauen, bedurfte es der Einspielung sozialer Normen und des Aufbaus von Vertrauen. Der Grad der Unsicherheit zwischen handelnden Personen musste minimiert werden 23 – etwas, das nur gelingen konnte, wenn der DMV über einen Vermittler in die personellen Vertrauensbeziehungen am Arbeitsplatz einbrach und sich auf die Ebene der täglichen Arbeitererfahrung begab. Wollte der Verband erfolgreich sein, mussten daher Anschlussleistungen an die Arbeiterschaft vollbracht werden, die sich am direktesten auf der Ebene der täglichen Arbeit verwirklichen ließen. Die Kapitelgliederung der vorliegenden Arbeit versucht, dieser historischen Annäherung Rechnung zu tragen, und soll zugleich verdeutlichen, dass sich bei der Herstellung eines „Inklusionsarrangements“ die grundlegenden Ideen und Entscheidungen über Agitation und Partizipation stets im Wandel befanden. Sie veränderten sich in ihrer Beziehung zur Ebene der alltäglichen Arbeitserfahrung und den betrieblichen Strukturen immer wieder aufs Neue, sodass sich Organisationsund Betriebsebene sowohl aus Sicht der Sekretäre als auch aus Sicht der Arbeiter nähern und entfernen konnten. Für eine Geschichte des DMV hat dieser Ansatz mehrere Vorteile. Zum einen kann er dabei helfen, gewerkschaftlichen Wandel zu entmystifizieren. Interpretiert man den Verband als Ort fortlaufender Definitions-, Lern- und Aushandlungsprozesse, erscheinen Veränderungen wie der starke Mitgliederanstieg im Vorkriegs 21 Ebd., S. 393. 22 Eine von Armin Nassehi entwickelte Kategorie. Vgl. u. a. ders., Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 2006. Er verweist auf die Möglichkeit, „dass Erfahrungen wie Arbeitslosigkeit oder fehlende soziale Mobilität oder Partizipation nicht per se Ausdruck gesellschaftlicher Krisen sein müssen, sondern ihren Ursprung ebenso in der Tatsache haben können, dass die Organisationen nicht in angemessener Weise inklusiv wirken“. Zitiert nach: Dietmar Süß, Arbeitergeschichte und Organisationssoziologie. Perspektiven einer Annäherung, in: Friederike Sattler/Georg Wagner-Kyora/Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.), Die Mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert, Halle 2005, S. 83. 23 Vgl. Sean Lux u. a., A Multi-Level Conceptualization of Organizational Politics, in: Julian Barling u. a. (Hrsg.), The Sage Handbook of Organizational Behavior, Bd. 1, Los Angeles 2008, S. 352 – 370.
Untersuchungsgegenstände und theoretische Einordnung
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jahrzehnt und die Mobilisierungsprobleme der 1920er Jahre in einem neuen Licht, das sie gewerkschaftlichem Handeln, erfolgreichen Strategien und Fehlern öffnet. Unterschiedliche Auffassungen über agitatorischen Handlungsbedarf und die Wege der Einflussnahme auf die Ebene der Arbeit sorgten für einen Charakter des DMV, der nicht nur eine fortwährende Auseinandersetzung um den Ort der Gewerkschaft in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit sich brachte, sondern auch den Platz des Verbandes in der Arbeiterschaft definierte. Dabei spielten zu jeder Zeit aktive und passive Konzeptionen eine Rolle, die sich auch nach 1918 nie völlig unter den reformistisch-revolutionären Gegensatz subsumieren ließen. Weiterwirkende Vorstellungen der älteren Verbandsgeschichte wurden ideengeschichtlich und methodisch von dynamischeren Trends des Kontakts zur Arbeiterschaft herausgefordert und verbanden sich dabei jeweils mit Entwicklungen im politischen, wirtschaftlichen und vor allem innerorganisatorischen Raum, die ihre Reichweite ausdehnen oder begrenzen konnten. Die Fühlungnahme mit der Arbeiterschaft blieb also immer ein umstrittener Punkt auf der gewerkschaftlichen Agenda. Zum anderen ermöglicht die Idee eines Brückenschlags zwischen zwei Organisationsebenen, den Aspekt der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft neu zu verorten und der historischen Multikausalität anzupassen. Denn für viele Arbeiter dürfte der DMV nur ein „ergänzendes Element“ 24 gewesen sein, für dessen Attraktivität mehr nötig war als geeignete sozioökonomische und soziokulturelle Zusammenhänge. Dem von der älteren Sozialgeschichte transportierten Bild, nach dem sich Gewerkschaftsmitgliedschaft aus einem Komplex von Qualifikation, handwerklicher Erfahrung, Lohn, Arbeitszeit, Unternehmerstärke, Betriebsgröße usw. ergab und das quasi auf der Suche nach den Idealbedingungen für eine objektive Beitrittsmotivation war,25 soll daher ein Kontaktmodell zwischen Organisation und Arbeiterschaft zur Seite gestellt werden. Darin war ein Gewerkschaftsbeitritt keine logische Konsequenz bestimmter Verhältnisse, sondern eine aktive Übersetzungsleistung,26 die auf verbandlichem Vorgehen und bestimmten Verhältnissen beruhte. Der DMV war demnach dort am erfolgreichsten, wo es gelang, in innerbetriebliche
24 Alf Lüdtke, Die Ordnung der Organisation. Das Private und die Politik bei Industriearbeitern im kaiserlichen Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Eigen-Sinn, S. 169 f. 25 Diesen Eindruck konnte man gewinnen bei: Jürgen Kocka, Einführung und Auswertung, in: Werner Conze/Ulrich Engelhardt (Hrsg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozess. Herkunft, Lage und Verhalten, Stuttgart 1979, S. 235. 26 Vgl. Simone Lässig, Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung. Überlegungen zu einem analytischen Konzept und Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft, in: GG 38 (2012), S. 196. Danach könnte man die Prozesse um die Anschlussfähigkeit gewerkschaftlichen Vorgehens an die Arbeiterschaft als „kulturelle Übersetzung“ analysieren.
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Solidaritätsbeziehungen personell einzubrechen und diese programmatisch zu beeinflussen. Konnte man diese Betriebsverankerung sogar noch um eine Integration in das außerbetriebliche proletarische Milieu erweitern, erwies sich das Verhältnis vieler Arbeiter zur Gewerkschaft bald nicht mehr als Ergänzung und Pragmatik, sondern als eine individuelle Mitgliedschaft, die wohl am ehesten als Gewerkschaftsbewusstsein bezeichnet werden könnte und die das Ziel der Verbandsleitung war. Eine zentrale Frage der Arbeit betrifft den Einfluss der technisch-organisatorischen Entwicklungen auf die Art und Weise, wie sich diese in Arbeits- und Solidaritätsbeziehungen umsetzen ließen. Technik wird dabei vor allem als Institution verstanden, die Arbeiter in bestimmte Fertigungsrhythmen einbinden und Arbeitsteilungsprozesse anstoßen konnte. Indem sie „Handlungskorridore“ schuf, „die nicht einfach ignoriert werden“ konnten, entfaltete sie eine „regelbasierte, individuelle und kollektive Verhalten steuernde Wirkung“,27 begrenzte die Handlungsoptionen von Akteuren und prägte somit auch die Grenzen ihrer Verhaltensweisen. Auf diese Weise beeinflussten die massiven technisch-organisatorischen Umwälzungen im Maschinenbau und in der Hüttenindustrie nicht nur die betrieblichen und industriellen Prozesse ihrer Zeit – sie waren der Schrittmacher eines mehrdimensionalen Wandels, der auch die Gewerkschaft einschloss. Technik, Betrieb und Gewerkschaft trafen sich dabei an drei Schnittstellen:28 Zum einen folgten den technisch-organisatorischen Entwicklungen Prozesse der Verarbeitung in der Arbeiterschaft, die sich in einer wandelbaren und berufsspezifischen Positionierung gegenüber dem technischen „Fortschritt“ niederschlugen. Gleiches galt aber auch für den DMV: Denn indem in den Köpfen der Gewerkschafter bestimmte Bilder technischer Verheißung und organisatorischen Fortschritts existierten, beeinflussten diese auch die gewerkschaftliche Agenda und die Positionierung im betrieblichen Wandel. Klafften beide Wahrnehmungsformen auseinander (ein zentrales gewerkschaftliches Problem der 1920er Jahre), führte dies schnell zu einer Störung im „Inklusionsarrangement“. Zum anderen besaß der technisch-organisatorische Wandel bedeutenden Einfluss auf die betrieblichen Interaktionsmuster, die Art und Weise, wie sich Qualifikationsanforderungen veränderten, Arbeitsteilungs- und Beschleunigungstendenzen auftraten und wie sich somit die formelle und informelle Aushandlungsposition der einzelnen Arbeiter verschieben konnte. Für den DMV berührte er daher den Kern des vorgewerkschaftlichen Raumes: Er zertrennte und schuf Kommunikationswege, kappte oder intensivierte persönliche Kontakte und 27 Ulrich Dolata/Raymund Werle, „Bringing technology back in“: Technik als Einflussfaktor sozioökonomischen und institutionellen Wandels, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaft und die Macht der Technik. Sozioökonomischer und institutioneller Wandel durch Technisierung, Frankfurt am Main 2007, S. 21 ff. 28 Nach dem Modell in: ebd., S. 25 f.
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bestimmte dadurch maßgeblich darüber mit, ob und wie sich Arbeitsbeziehungen in Solidarbeziehungen umwandelten und auf welcher Grundlage gewerkschaftliche Agitation aufbauen konnte. Dies bedeutete aber auch, dass Technik und Arbeitsorganisation im Moment der Installation gewerkschaftlicher Betriebsstrukturen zu direkten Problemen gewerkschaftlicher Arbeit wurden: Sie umrissen die Zeiten und Räume, in denen Werbungs- und Verwaltungsarbeit stattfinden konnten, und tangierten die Chancen unternehmerischer Kontrolle, die besonders vor 1918 oft mit polizeilicher Überwachung gleichzusetzen war. Die Beziehung zwischen dem DMV und dem technisch-organisatorischen Wandel gestaltete sich daher nicht nur programmatisch im Sinne einer verbandlichen Technologiepolitik – der Einfluss auf das betriebliche Basispotential, die betriebliche Gewerkschaftsarbeit und damit auf die Umstände der Vermittlung zweier Ebenen bildete einen strukturellen Handlungsrahmen, der nicht ohne weiteres ignoriert werden konnte. Mit der strategischen Ausrichtung der verbandlichen Agitation auf die Metallbetriebe nach der Jahrhundertwende gingen deshalb auch immer Überlegungen einher, wie sich diese Ausrichtung mit bestimmten betrieblichen Verhältnissen in den Metallbranchen vereinbaren ließ. Auf einer dritten und ökonomischen Ebene hatte der technisch-organisatorische Wandel schließlich Einfluss auf Marktbeziehungen und Nachfragemuster von Produkten, auf die Formen der Zusammenarbeit oder Konkurrenz der Wirtschaftsunternehmen und damit auf die Lage der Märkte, die Höhe der Produktion und den Grad der betrieblichen Auslastung. Obgleich diese Ebene nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht, war ihre Verbindung mit den Geschicken des DMV zu jeder Zeit zu spüren: Ob als Arbeitslosigkeit, als chronische Überkapazität mit geringer Anlagenauslastung, als Anlass für Fusionen und Übernahmen oder als Zuschnitt von Produktionspaletten – bei all diesen Faktoren zeigte sich immer wieder, welch gewaltige Auswirkungen es auf den Erfolg des DMV hatte, was, wie und wie viel mit wie vielen Arbeitern produziert wurde. Es verwundert daher auch nicht, dass die Themen der ökonomischen Systemabhängigkeit und des Systemwechsels zu den Gretchenfragen der Geschichte des DMV gehörten und die Phase des Aufscheinens einer Systemalternative zwischen 1918 und 1920 in ihrer Bedeutung und ihren Folgen kaum zu überschätzen ist. In diesen Jahren verdichteten sich komprimiert mehrere Jahrzehnte gewerkschaftlicher Entwicklung zur Suche nach dem Ort der Bewegung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Fragt man auf die eben skizzierte Weise nach der Rolle des technisch-organisatorischen Wandels für die Herausbildung eines vorgewerkschaftlichen Basispotentials und geht den Bedingungen gewerkschaftlicher Betriebsarbeit auf den Grund, ist trotz aller Vorsicht der Vorwurf des Technikdeterminismus nicht weit entfernt. Und in der Tat zählte es zu den Kernergebnissen der Industrie- und Organisationssoziologie der 1970er Jahre, dass Technik weder eine bestimmte Form der
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rbeitsorganisation noch ein bestimmtes Arbeiterverhalten begründet.29 Vielmehr A müsse, so der berechtigte Einwand, die Politikhaltigkeit betrieblicher Prozesse gestärkt und der Akteur in den Fokus gerückt werden. Erst dadurch könne die Strukturlogik durchbrochen und der Blick für die Handlungsmöglichkeiten geschärft werden. Dass die Ausprägungen von Technik und Arbeitsorganisation – im betrieblichen Herrschaftssystem genauso wie auf der höchsten Verbandsebene – als etwas „Objektives“ und kaum Veränderbares erscheinen konnten, änderte daran nichts. Sie bildeten lediglich den vorläufigen Endpunkt eines bisherigen Aushandlungsprozesses in einer diffusen sozialen Ordnung, in der ständig Aushandlungs- und machtförmige Definitionsprozesse ablaufen, in der Autonomiespielräume und informelle Machtbasen ebenso existieren wie gebrochene Informationsströme, in der Strukturwissen, Durchsetzungsfähigkeit und Steuerungskompetenz zwar ungleich verteilt, aber auch nicht annähernd monopolisiert sind und in der Marktabhängigkeit, Produktionszweck und die Eigenarten des Produktionsprozesses den Fertigungsablauf und die mit ihm verbundenen Interaktionsprozesse einer totalen Kontrolle und einer auf Permanenz abzielenden Organisation von oben recht weit entziehen.30
Neben vielen anderen Aspekten weist dieser umfassende Blickwinkel darauf hin, dass die technisch-organisatorischen Bedingungen, unter denen sich betriebliche Arbeitersolidarität ausprägen konnte, ebenso „gemacht“ waren wie die Solidarität selbst. Die Prozesse, die Arbeit und Organisation beeinflussten, basierten auf Handlungen, die sie stützten, erweiterten, unterliefen und brachen, in den meisten Fällen ihnen aber wohl einfach nur folgten. Sie waren Teil eines Spiels um die Regeln, um Deutungshoheit und Macht, in dem jeder Akteur etwas in die Waagschale zu werfen hatte und wodurch sich Sozialbeziehungen, Machtbeziehungen und das gesamte betriebliche Koordinatensystem beständig im Fluss befanden.31 In kaum einem Umstand dürfte dieser Zusammenhang betriebshistorisch so offensichtlich geworden sein, wie in der dynamischen Gegensätzlichkeit von Dispositionsspielräumen und Kontrolle: Die (umkämpfte oder bruchlose, auf jeden Fall sozial vermittelte)
29 Vgl. Rainer Trinczek, Zur Bedeutung des betriebshistorischen Kontextes von Rationalisierung, in: Heiner Minssen (Hrsg.), Rationalisierung in der betrieblichen Arena, S. 63 – 76. 30 Thomas Welskopp, Ein modernes Klassenkonzept für die vergleichende Geschichte industrialisierender und industrieller Gesellschaften, in: Karl Lauschke/ders. (Hrsg.), Mikropolitik im Unternehmen, S. 86. 31 Vgl. dazu die umfassende Literatur zur Mikropolitik in Organisationen. z. B. Oswald Neuberger, Mikropolitik und Moral in Organisationen. Herausforderungen der Ordnung, 2. Aufl., Stuttgart 2006; vgl. Wolfgang Stapel, Mikropolitik als Gesellschaftstheorie? Zur Kritik einer aktuellen Variante des mikropolitischen Ansatzes, Berlin 2001.
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Etablierung technisch-organisatorischer Entscheidungen eröffnete Arbeitern in schwankendem Maße Spielräume, die sich während der Arbeitszeit auftun konnten und die es den Unternehmern schwer machten, das Ideal der Rentabilität zu verfolgen. Was diese Möglichkeit anstieß, war der Kampf um die Frage, „inwiefern es gelingt, das Arbeitsvermögen in wirkliche Arbeit umzusetzen“.32 Gleichzeitig war es eine Auseinandersetzung um die „Ungewissheitszonen“,33 die Arbeiter für ihre Interessendurchsetzung und Kommunikation nutzen konnten und auf die eine gewerkschaftliche Betriebsarbeit dringend angewiesen war. Auf der Suche nach den Ursachen für die Genese und gewerkschaftliche Instrumentalisierung solidarischen Arbeiterverhaltens wird daher im Folgenden neben arbeitsinduzierten Kooperations- und Solidaritätsbeziehungen auch nachverfolgt, wie sich solche Freiräume entwickelten und wie sie genutzt wurden. Dafür ist es unumgänglich, die Rolle eigen-sinnigen Arbeiterverhaltens auszuloten.34 Von der älteren Sozialgeschichte nicht selten disqualifiziert, entfaltete die Forschung über Formen der Subjektivierung im Angesicht übergeordneter Zwänge seitdem eine rege Tätigkeit.35 Für die Fragestellungen dieser Arbeit besitzt der Eigen-Sinn von Arbeitern, Gewerkschaftsmitgliedern und auch Gewerkschaftssekretären deshalb eine entscheidende Bedeutung, weil die Akte solchen Verhaltens die individuelle Grenze zwischen selbstbestimmtem Raum und „objektiver“ Zumutung markierten. Sie sollen organisationsgeschichtlich gewürdigt werden, weil in ihnen die ganze Widersprüchlichkeit, aber auch das ganze Potential des Individuums in einem Herrschaftssystem aufscheint – womit im Folgenden nicht nur der Industriebetrieb, sondern auch die Gewerkschaftsorganisation gemeint ist.36 Im Betrieb und in Bezug auf solidarisches 32 Minssen, Soziale Muster von Rationalisierung – Umrisse eines Konzeptes, S. 52. 33 Ebd., S. 54. 34 Alf Lüdtke schärfte diese Kategorie im Zuge seiner zahlreichen Beiträge immer weiter. Vgl. ders. (Hrsg.), Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 35 Eine Tätigkeit, die das Feld der Arbeitergeschichte meist weit hinter sich gelassen hat. Vgl. Tagungsbericht: Eigen-Sinn: Herrschaft als soziale Praxis in Ostmitteleuropa nach 1945. Ein internationaler Workshop für Nachwuchswissenschaftler, 16. 10. 2014 – 18. 10. 2014 Frankfurt an der Oder, in: H-Soz-Kult, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/ tagungsberichte-5717, 5. 12. 2014. 36 Bereits 1982 wies Dieter Langewiesche vorsichtig auf Folgendes hin: „Denn was in der vertrauten Sicht als ‚Fortschritt‘ erscheint, kann in einer veränderten Sichtweise auch als ein Prozeß der Disziplinierung verstanden werden, der manches verschüttete, was heute als eine Möglichkeit wiederentdeckt wird, sich dem Ordnungsanspruch von Organisationen und Institutionen zu entziehen.“ Vgl. Dieter Langewiesche, Politik-Gesellschaft-Kultur. Zur Problematik von Arbeiterkultur und kulturellen Arbeiterorganisationen in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg, in: AfS 22 (1982), S. 367.
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Verhalten von Arbeitern offenbarte sich diese Widersprüchlichkeit in der Tatsache, dass sich der individuelle Rückzug aus den Zwängen der Fabrik sowohl in innerer Einsamkeit als auch in spontaner Verbrüderung manifestieren konnte. So wurden Arbeitsgruppenkooperationen, Arbeiter-Meister-Beziehungen und letztlich auch das Verhältnis zur Gewerkschaftsorganisation zwar immer wieder durch Eigen-Sinn gefährdet und unterlaufen, erwiesen sich aber unter bestimmten Konstellationen auch als kollektiv integriert und überraschend militant. Obwohl Eigen-Sinn keinen kalkulierten Widerstand hervorbrachte, beinhaltete er daher eine große Bandbreite möglicher Arbeiterreaktionen auf eine geteilte Verhaltenszumutung. Er sollte aus diesen Gründen zu den konstituierenden Faktoren für Solidarität gezählt werden, mit dem umzugehen sicherlich kompliziert war, der aber dennoch immenses gewerkschaftliches Potential besaß. Im Kontaktmodell zwischen Arbeiterschaft und DMV, in dem es besonders auf die informelle Etablierung von Vertrauensbeziehungen ankam, war der richtige Umgang mit eigen-sinnigen Verhaltensweisen deshalb so wichtig, weil Eigen-Sinn quasi dem Prototyp einer „informellen Logik“ 37 entsprach. Vor allem in Zeiten rechtlicher Unsicherheit und staatlicher Verfolgung erwiesen sich manche Formen der Aneignung der eigenen Arbeit als gangbarer Hebel leiser und vorsichtiger Betriebsarbeit der Gewerkschaft, durch die Kommunikationskanäle und Verhaltensorientierungen beeinflusst werden konnten. Die dafür notwendige Übersetzungsleistung erbrachten überzeugte Kollegen, Werkstattvertrauensmänner, Arbeiterausschussmitglieder und in gewisser Weise auch die Betriebsräte. Als Teil der betrieblichen Arbeits- und Sozialbeziehungen, der Gruppenstrukturen und auch des Eigen-Sinns hatten sie den Vorteil, Gewerkschaftsarbeit ohne den zentralistischen und politischen Stallgeruch betreiben und den Brückenschlag zwischen Arbeiterinteressen und der Organisation meistern zu können. In dieser Hinsicht waren sie die einzige Klammer, durch die es möglich wurde, „querliegende, verschüttete oder verdeckte Identitäten von Gruppen“,38 emotionale Wahrnehmungen und symbolische Deutungen sowie auf den ersten Blick interessenwidrige Verhaltensweisen mit einem „ordnende[n] Zugriff von oben“ 39 halbwegs zu vereinbaren. Geschickte gewerkschaftliche Betriebsarbeit konnte demnach nicht nur arbeitsimmanente solidarische Potentiale kanalisieren – sie war auch begrenzt an die Elemente der Nichtarbeit anpassbar, die sich in technisch-bedingten Freiräumen oder gar in „illegalen“ Pausen abspielten.
37 Alf Lüdtke, Erfahrung von Industriearbeitern. Thesen zu einer vernachlässigten Dimension der Arbeitergeschichte, in: Conze/Engelhardt (Hrsg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozess, S. 500. 38 Ebd. 39 Ebd.
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1.3 Vergleich und Aufbau Die vorliegende Arbeit ist chronologisch aufgebaut und folgt mit ihrer Phasengliederung dem Verhältnis, das in dem jeweiligen Zeitabschnitt zwischen dem DMV und der Metallarbeiterschaft an Chemnitz und Ruhr herrschte bzw. um dessen Etablierung sich der DMV bemühte. War die Geschichte des Metallarbeiter-Verbandes vor der Jahrhundertwende noch von organisatorischen Einstellungen und methodischen Vorstellungen geprägt, die aus der Frühphase der deutschen Gewerkschaften stammten (handwerkliche Phase), wurden besonders die Agitation und Versammlungsarbeit des Verbandes Stück für Stück um die Sphäre des Betriebs erweitert, sodass sich das Verhältnis zur Arbeiterschaft bis zum Ersten Weltkrieg maßgeblich veränderte (Betriebsphase). Wie stark die Gewerkschaftssekretäre dabei auf ein betriebliches „Entgegenkommen“ in Form anschlussfähiger Sozialbeziehungen und die Rückendeckung des Verbandsvorstands angewiesen waren, veranschaulichte die Entwicklung des DMV in der Hüttenindustrie, wo sich die Betriebsphase nur unvollständig ausprägte und die Sekretäre auf der Suche nach Wegen aus der Krise einen Konflikt mit der Stuttgarter DMV-Führung schürten. Diesen „Weg aus der Krise“ sahen viele DMV-Beamte 1918/19 verwirklicht, und tatsächlich bildeten der Erste Weltkrieg, die Revolution und die ersten Nachkriegsjahre eine Zäsur für das Verhältnis zwischen der Gewerkschaft und der Metallarbeiterschaft, wie sie schärfer kaum vorstellbar ist. In dieser „Phase der Orientierung“ sorgten die systemtragende Funktion des Verbandes und die neue Verantwortung seiner Sekretäre gemeinsam mit einer fundamentalen Politisierung der Verbandsarbeit und den Herausforderungen der beginnenden Rationalisierung sowie fortwährenden Arbeitsbeschleunigung für einen Bruch mit der Vergangenheit des DMV. In der Erweiterung der Organisationsmotivation um das Politische manifestierte sich ein Arbeiter-Gewerkschaft-Verhältnis in einer Bandbreite, das die Gewerkschaftsarbeit enorm verkomplizierte und dessen Folgen auch in dieser Arbeit spürbar sind: Im Gegensatz zu den vorherigen Abschnitten bildet die „Phase der Orientierung“ den differenziertesten Erklärungsansatz und versucht dadurch, der politischen Entwicklung der Jahre 1914 bis 1924 gerecht zu werden. Demgegenüber ging mit der „Rationalisierungsphase“ eine weniger umstrittene Gewerkschaftsposition einher, die sich vor allem durch ihre positive Rationalisierungserwartung auszeichnete und nach dem tiefen Einbruch der Jahre 1923/24 fast vollständig ohne revolutionäre Rhetorik auskam. Im Verhältnis zur Arbeiterschaft bedeutete sie fast durchweg eine Gratwanderung zwischen der im Grunde genommen integrierten Position des DMV in das kapitalistische System und der Abfederung von dessen Folgen für die Metallarbeiter. Dass viele Mitglieder mit der Reduktion auf Lohn- und Arbeitszeitfragen nicht einverstanden waren und eine Rückkehr zu alten Formen des Zusammenhalts forderten, belegen die Zuschriften
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dieser Jahre an die Redaktion der Metallarbeiter-Zeitschrift eindrücklich. Sie geben Zeugnis ab von einem „blutleeren“ Verband, der den Herausforderungen der Jahre 1929 – 1933 letztlich ideell nichts mehr entgegenzusetzen hatte. In diesen kurz skizzierten Abschnitten wird im Folgenden jeweils nach der komparativen Methode vorgegangen. Die Entwicklung der betrieblichen Bedingungen und damit das Startkapital, mit dem aktive Gewerkschaftsarbeit ansetzen konnte, werden zunächst vergleichend untersucht und mit der Analyse gewerkschaftlichen Vorgehens in Verbindung gesetzt. Auf beiden Seiten des Kontaktmodells zwischen DMV und Arbeiterschaft ergibt sich dadurch eine große historische Bandbreite, aus der sich Rückschlüsse auf die Abhängigkeit gewerkschaftlicher Organisierung von betrieblichen Bedingungen genauso ziehen lassen wie auf die verbandlichen Handlungsoptionen innerhalb des betrieblichen Raumes. Die Vergleichsebenen sind dabei räumlich und industriell angeordnet. Sie umfassen mit der Maschinenbauindustrie von Chemnitz und der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets zwei der am stärksten wachsenden regionalen Industrien des Kaiserreichs und gleichzeitig zwei der krisenhaftesten Industrien während der Weimarer Republik.40 Während das Ruhrgebiet jedoch vollkommen zu Recht zu den traditionellen Forschungsschwerpunkten der Sozialgeschichte der 1960er bis 1980er Jahre gehörte, traf sowohl Sachsen als auch Chemnitz nicht annähernd eine solche historiographische Aufmerksamkeit innerhalb der nichtmarxistischen Geschichtswissenschaft.41 Dies ist höchstens mit Aspekten des Quellenzugangs oder der Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigung zu erklären 42 – an einer geringeren Bedeutung sächsi-
40 Vgl. Rainer Fremdling, Eisen, Stahl und Kohle, in: Hans Pohl (Hrsg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, S. 358 ff; vgl. ders., Standorte und Entwicklung der Eisenindustrie, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Westfalens Wirtschaft am Beginn des „Maschinenzeitalters“, Dortmund 1988, S. 297 – 316; vgl. Hubert Kiesewetter, Industrielle Revolution in Deutschland. 1815 – 1914, Frankfurt am Main 1989, S. 205 ff. 41 Anfang der 1990er Jahre deutete sich für kurze Zeit ein Bedeutungsanstieg der sächsischen Regionalgeschichte an, der auch Erweiterungen der Reichweite historischer Erklärung für die Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiterbewegung versprach. Eingelöst wurden die darin gesetzten Hoffnungen bisher kaum. Vgl. z. B. die Sammelbände: Helga Grebing/Hans Mommsen/Karsten Rudolph (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis 1933, Essen 1993; Werner Bramke/Ulrich Heß (Hrsg.), Sachsen und Mitteldeutschland. Politische, wirtschaftliche und soziale Wandlungen im 20. Jahrhundert, Weimar u. a. 1995. 42 1961 formulierte der marxistische Regionalhistoriker Max Steinmetz: „[…] nutzen wir es, gleichfalls dazu, die Anmaßung westdeutscher Landesgeschichtsschreibung zurückzuweisen, die glaubt, unsere ureigenste Heimat- und Landesgeschichte bearbeiten zu müssen, um damit, ganz im Sinne der aggressiven Bonner Politik, zu demonstrieren, daß der Westen
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scher Geschichte für die „großen“ Prozesse Industrialisierung, Demokratisierung und Emanzipation konnte es jedenfalls nicht liegen. Ganz im Gegenteil: Sachsen war im späten 19. Jahrhundert eine der erfolgreichsten wirtschaftlichen Regionen Europas und führte das Reich in beinahe allen Indizes an.43 Gleichzeitig deuten Titel wie „Wiege der Partei“ oder etwa das „Rote Sachsen“ an, welchen Stellenwert das Königreich innerhalb der Arbeiterbewegung besaß.44 Die Stadt Chemnitz nahm dabei noch einmal eine Sonderrolle ein: Als „Wiege und Zentrum des Werkzeugmaschinenbaus“,45 als führende Region in Textilindustrie und Maschinenbau in Sachsen und Mitteldeutschland bis in die 1930er Jahre, aber auch als frühe Gewerkschaftshochburg 46 und als eine der am besten organisierten Orte des Kontinents vollzogen sich im „sächsischen Manchester“ 47 wichtige wirtschaftliche, politische, demographische und soziale Entwicklungen mit besonderer Geschwindigkeit und Vehemenz. Eine gebührende geschichtswissenschaftliche Behandlung erfuhr Chemnitz dennoch lange Zeit nicht. Ähnlich wie bei der Geschichte Sachsens begnügten
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allein Deutschland verkörpere.“ Max Steinmetz, Die Aufgaben der Regionalgeschichtsforschung der DDR bei der Ausarbeitung eines nationalen Geschichtsbildes, in: ZfG 9 (1961), S. 1764. Zitiert nach: Peter Friedemann, Regionalgeschichtliche Forschungen als Wegweiser für ein neues Geschichtsbild? Forschungen zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Sachsen und Thüringen, in: Helga Grebing/Hans Mommsen/Karsten Rudolph (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe, Essen 1993, S. 332. Vgl. Volker Hentschel, Erwerbs- und Einkommensverhältnisse in Sachsen, Baden und Württemberg vor dem Ersten Weltkrieg (1890 – 1914), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 66 (1979), S. 28 ff.; vgl. Hubert Kiesewetter, Regionale Lohndisparitäten und innerdeutsche Wanderungen im Kaiserreich, in: Jürgen Bergmann (Hrsg.), Regionen im historischen Vergleich, Opladen 1989, S. 133 – 181. Vgl. Helga Grebing, Zur Aktualität von regionalen Forschungen zur Geschichte der demokratischen Bewegung in Ostdeutschland, in: dies./Hans Mommsen/Karsten Rudolph (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe, Essen 1993, S. 331; vgl. Karsten Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871 – 1923), Weimar 1995. Hans-Joachim Naumann, Werkzeugmaschinenbau in Sachsen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Chemnitz 2003, S. 21. Die politische Arbeiterbewegung besaß ihr sächsisches Zentrum dagegen von vornherein in Leipzig und der Kreishauptmannschaft Zwickau, in der die Chemnitz umgebende Textilregion lag. Vgl. Toni Offermann, Die regionale Ausbreitung der frühen deutschen Arbeiterbewegung 1848/49 – 1860/64, in: GG 13 (1987), S. 431 f.; vgl. Hartmut Zwahr, Die deutsche Arbeiterbewegung im Länder- und Territorienvergleich 1875, in: GG 13 (1987), S. 464 f. Zur Einordnung dieser vielzitierten zeitgenössischen Bezeichnung vgl. Hubert Kiesewetter, Die Industrialisierung Sachsens. Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell, Stuttgart 2007, S. 389 – 422.
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sich Historiker hier lange Zeit damit, die Bedeutung der Region für wirtschaftliche Entwicklung und organisierte Arbeiterbewegung zwar anzuerkennen, aber nicht weiter zu vertiefen.48 Dies hat sich leicht verändert, trifft die Gewerkschaften aber immer noch stärker als die politische Arbeiterbewegung, da sie im Stammland der Sozialdemokratie entweder analytisch untergingen oder als „schmückendes Beiwerk“ daherkamen – eine Schieflage, die angesichts der herausragenden gewerkschaftlichen Entwicklung von Chemnitz, Dresden und Leipzig vor 1933 unbedingt der Korrektur bedarf. Zu Beginn eines jeden Kapitels werden mit dem technisch-organisatorischen Wandel und den Arbeits- und Sozialbeziehungen jene Prozesse untersucht, die für die Genese eines vorgewerkschaftlichen Basispotentials im Betrieb entscheidend sein konnten. In Anbetracht bisheriger historischer Forschungsergebnisse wird dabei asymmetrisch vorgegangen: Für die Hüttenindustrie 49 fällt die Analyse dieser Faktoren weniger umfangreich aus als für den Chemnitzer Werkzeugmaschinenbau. Sie soll dabei jedoch nicht zu einem Korrektiv degradiert werden, veranschaulichen sie doch vor allem für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, wie innerbetriebliche Verhältnisse einer gewerkschaftlichen Durchdringung der Belegschaften massiv entgegenstehen konnten. Ganz im Gegensatz dazu gehört die industrielle, aber auch die gewerkschaftliche Geschichte der Stadt Chemnitz zu einer besonders schmerzlichen Forschungslücke. Das (zumindest vor 1914) gewerkschaftlich erfolgreichere Fallbeispiel des Chemnitzer Werkzeugmaschinenbaus nimmt daher im Folgenden etwas mehr Platz in Anspruch als die Organisation in der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets. Die Analyse kommunikativer Arbeitsbeziehungen, betrieblicher Sozial- und Machtkonstellationen sowie des eigen-sinnigen Verhaltens der Arbeiter, die in jedem Abschnitt der verbandlichen Organisationsebene vorangestellt wird, soll einerseits verdeutlichen, wie sich Organisationsvoraussetzungen im Betrieb bilden und verändern konnten. Andererseits ist dieser Aufbau auch als Korrektur einer älteren Schwerpunktsetzung der Gewerkschaftshistoriographie zu verstehen: Denn jahrzehntelang gehörte es in der Verbandsforschung zu den ungeschriebenen Gesetzen, für die gewerkschaftlichen Probleme vor allem in der Hüttenindustrie zunächst 48 Vgl. Hans Mommsen, Einleitung: Ein „drittes Deutschland“, in: ders./Helga Grebing/ Karsten Rudolph (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis 1933, Essen 1993, S. 11 – 16. 49 Hier sei auf die Arbeiten von Christian Kleinschmidt, Karl Lauschke, Thomas Welskopp, Irmgard Steinisch, Hans Mommsen, Klaus Tenfelde u. v. a. verwiesen, die die Geschichte des Ruhrgebiets und die Erforschung seiner Eisen- und Stahlindustrie in den 1980er und 1990er Jahren stark vorangetrieben haben.
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auf die Stärke der Unternehmer und ihrer Organisationen hinzuweisen.50 Der Vergleich mit den industriellen und gewerkschaftlichen Prozessen in Sachsen kann hier insofern aufschlussreich wirken, als dass die Arbeitgeber der Maschinenbetriebe auch dort versuchten, aus einer gewerkschaftsfeindlichen Extremposition heraus die Vertretung der Arbeiterschaft durch den DMV zu verhindern,51 mit diesem Ansatz jedoch vor 1914 spektakulär scheiterten. Es steht daher zu vermuten, dass sich Erklärungsfaktoren für gewerkschaftlichen Erfolg bei Industriearbeitern weniger simpel aus der Stärke unternehmerischer Gegenwehr gewinnen lassen, als dies oft postuliert wurde – besonders weil einige Werke des Chemnitzer Maschinenbaus in Größe und Arbeiterzahl fast an ein durchschnittliches Hüttenwerk heranreichten und damit den Verweis auf die Unternehmensdimension entkräften. Das in diesem Kontext entstandene Narrativ einer gewerkschaftlichen Opferrolle trifft zwar partiell zu, vereinfachte ein historisch nachweisbares Beziehungsgeflecht aber auch einseitig und folgte darin häufig den gewerkschaftlichen Quellen. Vielmehr zeigt jedoch das Chemnitzer Vergleichsbeispiel im Folgenden eindrucksvoll, wie sich eine Gewerkschaft im Rahmen technisch-organisatorischer und betriebssozialer Prozesse aktiv auch gegen die Gewerkschaftsfeindschaft der Arbeitgeber durchsetzen konnte. Der DMV war demnach weniger ein „Kind der Verhältnisse“ als ein handlungsfähiger Player innerhalb der betrieblichen Beziehungen. Im Anschluss an die Analyse der technisch-organisatorischen Entwicklung und ihrer Brechung im betrieblichen Aushandlungsprozess folgt in jedem Kapitel eine Darstellung der Methoden und Konflikte bei der Herstellung von Anschlussfähigkeit durch den DMV. Die gewerkschaftliche Herangehensweise war dabei von einem bisher kaum beachteten Wandel geprägt, während sich zentrale Elemente und Methoden in der Arbeit des DMV konstant beobachten ließen. Eine bestimmte Nähe oder Ferne zur betrieblichen Ebene von Metallfabriken folgte darin nicht zentralen Vorstandsentscheidungen – sie mussten intern ausgehandelt werden und trafen immer wieder auf den Widerstand handwerklicher Gewerkschaftsmentalitäten und Bildungsvorstellungen. Besonders der Übergang in die 50 Vgl. dazu z. B. Walter Neumann, Die Gewerkschaften im Ruhrgebiet. Voraussetzungen, Entwicklung und Wirksamkeit, Köln 1951; diese Tendenz herrscht jedoch auch vor bei: Hans-Peter Ullmann, Unternehmerschaft, Arbeitgeberverbände und Streikbewegung 1890 – 1914, in: Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann (Hrsg.), Streik, München 1981, S. 194 – 208. 51 Sowohl die Unternehmensquellen als auch die Gewerkschaftsperiodika weisen die Chemnitzer Maschinenbauunternehmer als ausgesprochen gewerkschaftsfeindliche Gruppe aus, die über Werkvereine, sofortige Maßregelungen, Arbeitgeberverbände und politische Initiativen versuchte, den Einfluss des DMV auf die Arbeiterschaft so gering wie möglich zu halten. Zu den schärfsten Gegnern zählten dabei die Arbeitgeber der größten Unternehmen wie Hartmann, Zimmermann, Reinecker, Wanderer, Kappel oder Union.
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„Betriebsphase“ mit seiner Öffnung gegenüber Betrieb und individueller Agitation oder die verbandliche Positionierung in der „Rationalisierungsphase“ waren keinesfalls unumstritten. Sie gingen jeweils mit höchst unterschiedlichen Ideen über den Platz des Mitglieds, des Unorganisierten und ihrer Familien einher. Gewerkschaft und (potentielles) Gewerkschaftsmitglied waren daher wandelbare Kategorien, die sich in ihrem Verhältnis zueinander immer wieder an gesellschaftlichen Trends, kulturellen Zuschreibungen, dem politischen Feld und dem Vorgehen der Unternehmer neu orientierten und veränderten. Nicht zuletzt bedeutet dies auch, dass ein „Inklusionsarrangement“ für die Organisation keinen statischen Charakter besaß und dessen Installation keinem Top-down-Schema folgte: Innerhalb eines Rahmens exogener Faktoren, auf die der Verband jedoch bedingten Einfluss hatte, arbeiteten sich unter wechselnden Mehrheiten verschiedene Deutungshoheiten gegeneinander ab und sorgten dafür, dass sich der Gewerkschaftsbegriff in unterschiedlichen Gewerkschaftsmentalitäten wiederfand, deren Ideen von Führung und Folgschaft, Kontrolle und Freiraum sowie Integration und Exklusion stark differieren konnten. Der DMV war eine Gewerkschaft im Fluss. An wenigen exogenen Faktoren wurde dies so deutlich wie an der Arbeitsmigration. Sie begleitete die Geschichte des Verbandes phasenübergreifend und hatte in ihrer Erfahrungen prägenden Funktion große Auswirkungen auf die Genese eines vorgewerkschaftlichen Potentials innerhalb betrieblicher Belegschaften und außerbetrieblicher Lebensräume. Gleichzeitig war sie aber auch immer eine Kernthematik gewerkschaftlicher Politik selbst und beeinflusste die Art und Weise, wie Gewerkschafter über Herkunft, Kultur und Organisierbarkeit dachten. In einer komplizierten Gemengelage, in der sich strukturelle und kulturelle Elemente untrennbar verquickten, fand der Umgang mit der Arbeitsmigration daher Eingang in organisationsmethodische Überlegungen, deren Etablierung und Folgen im Maschinenbau und in der Hüttenindustrie kaum unterschiedlicher hätten ablaufen können. Da die vielfach gebrochene Transformation von Wanderungserfahrungen in Organisationspotential einen unverkennbar betrieblichen Charakter besaß, wird den Migrationsphänomenen im Folgenden zwar ein separater Exkurs zuteil, sie werden darin jedoch immer auf die Phasengliederung der Arbeit bezogen, um zu klären, welchen Einfluss die Wanderungen auf das Verhältnis von Verband und Arbeiterschaft ausübten.
1.4 Quellen und Literatur Die Literatur zur deutschen Gewerkschaftsbewegung zu überblicken ist schwer. Die jahrzehntelange Beschäftigung der westdeutschen historischen Forschung produzierte eine Unmenge größerer und kleinerer Arbeiten. Selbst innerhalb der
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Geschichtswissenschaft und Soziologie der Weimarer Republik spielte die Entwicklung der Gewerkschaften bereits eine größere Rolle – Studien, die heute weitestgehend unberücksichtigt bleiben, in vielerlei Hinsicht aber immer noch mit interessanten Einsichten aufwarten können. In der vorliegenden Arbeit erfolgte die Auswahl der Literatur entsprechend der Fragestellungen anhand eines Kriteriums des Ebenenbezugs: Denn während die Geschichtsschreibung über die deutschen Gewerkschaften vor 1933 meist betriebsfern und politisch sowie mitglieds- und arbeiterfern ausgerichtet war und in der Regel nicht die (immer wesentlich größere Masse) der Unorganisierten ins Auge fasste, beschäftigte sich die Arbeits- und Arbeiterhistoriographie während der Ära der Sozialgeschichte zwar mit der Suche nach den sozialen Grundlagen der Gewerkschaftsorganisationen, aber selten mit den Organisationen selber. Jene Arbeiten, die die Verbindung, die im Folgenden im Zentrum stehen soll, behandelten oder zumindest anschnitten, gehören daher zur Literaturauswahl. Einen zentralen Bestandteil der Quellengrundlage der Arbeit bilden darüber hinaus die Veröffentlichungen und Periodika des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. Dazu zählen unter anderem seine Jahrbücher, Generalversammlungsprotokolle, Leitfäden, Denkschriften, größeren Einzelstudien sowie natürlich die Metallarbeiter-Zeitung und (ab 1920) die Betriebsräte-Zeitschrift. Sie werden jeweils um die gewerkschaftlichen Publikationen und Protokolle jener Verwaltungsstellen und Kartelle erweitert, die mit der Organisationsarbeit in und um Chemnitz und im Ruhrgebiet beschäftigt waren. In vielen Fällen war dabei die Auswertung scheinbar nebensächlicher Sachverhalte, beiseite geschobener Gegenmeinungen und abgeschmetterter Einzelstimmen erforderlich. In ihnen scheint – anders als im Hauptteil gewerkschaftlicher Veröffentlichungen – durchaus ein Bild auf, das den DMV nicht allein zu einer disziplinierten Organisation zur Durchsetzung von Lohn- und Arbeitszeitforderungen reduzierte, sondern den Verband als Ort interner Deutungskonflikte zeigte, die sich häufig auf die Ebene der täglichen Arbeit bezogen. Innerhalb der Pole „Disziplin“ und „Dienstleister“ transportierten sie völlig verschiedene Ideen von Gewerkschaft, von Agitation und Bildung sowie von der eigenen Handlungsreichweite. Gerade auf Grund ihrer kritischen Qualität zeugen diese Stimmen davon, dass sich der DMV entgegen des Anscheins wachsender Zentralität und Machtkonzentration ständig in einer Auseinandersetzung um die Frage befand, was eine Metallarbeitergewerkschaft ausmachte. Auf der Suche nach betrieblichen Sozialbeziehungen, die eine Organisierbarkeit begünstigten, fallen solche Quellen natürlich weitestgehend aus. Neben Literatur zur technischen und organisatorischen Entwicklung besteht der Quellenfundus diesbezüglich daher aus Archivalien der betreffenden Unternehmen, die sich im Ruhrgebiet in separaten Unternehmensarchiven finden lassen und in Sachsen meistens Bestandteil der Staatsarchive geworden sind. Auch hier glich die Suche
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Einleitung
eher jener nach der Nadel im Heuhaufen. Denn Aussagen zu den Beziehungen der Arbeiter untereinander, ihrem Eigen-Sinn und auch den gewerkschaftlichen Organisations- und Agitationsversuchen finden sich an oft unvermuteten Stellen und in Schriftstücken, die eigentlich zu einem ganz anderen Zweck angefertigt worden waren. Nur selten weisen Verzeichnistitel auf einen betriebssozialen oder gewerkschaftlichen Kontext hin – vielleicht auch ein Grund dafür, dass der Betrieb für die Gewerkschaftsgeschichtsschreibung nie eine größere Rolle gespielt hat. Akte betriebssozialen Verhaltens und ihre Überlieferung erweisen sich auch insofern als problematisch, als dass sie schon für die Zeitgenossen häufig unter dem Signum der Normalität daherkamen. Selten überhaupt festgehalten, ist es für den Historiker deshalb schwer abzuschätzen, wie ein alltäglicher Arbeitstag im Metallbetrieb aussah. Auf diese Weise hatte das überragende Interesse an Aspekten, die einen Bruch der Normalität beinhalteten, massive Auswirkungen auf die historische Beurteilung. Zum einen betrifft dies die schon angesprochene Arbeitsnormalität, da eine quellengestützte Rekonstruktion des Arbeitsganges einer Maschinenfabrik, der Arbeitsorganisation und des betriebssozialen Verhaltens in einer Aufmerksamkeitslage, in der das technische Interesse seit jeher der Erfindung und dem Erfinder galt, lückenhaft bleiben muss.52 Die spätere als selbstverständlich empfundene Arbeit mit der omnipräsenten Errungenschaft wurde (und wird) dabei leicht vergessen. Zum anderen gilt dies auch für das tägliche Arbeiterverhalten jenseits der Arbeitsverrichtung und die gewerkschaftliche Betriebsarbeit: Quellen erwecken hier allzu leicht den Eindruck des spektakulären Konflikts, weil Akte der Normalität seitens der Unternehmer und seitens der Gewerkschaften gar nicht als erwähnungswürdig empfunden wurden. Umso schöner (der kritische Vorbehalt bleibt natürlich auch hier bestehen) ist es, auf Erfahrungsberichte zurückgreifen zu können, die sich dieser „Normalität“ verpflichtet sahen. Manche davon fanden sich in den Archiven; die ergiebigsten stammen für den Maschinenbau jedoch von Paul Göhre,53 52 Vgl. Markus Haas, Spanende Metallbearbeitung in Deutschland während der Zwischenkriegszeit (1918 – 1939), Hamburg 1997, S. 257 f.; vgl. Werner Rammert, Technik und Industriearbeit in der soziologischen Forschung, in: GG 4 (1978), S. 234. 53 Paul Göhre (1864 – 1928) war evangelischer Theologe, mit Naumann, Rade und Weber befreundet, Mitarbeiter der Zeitschrift Die Christliche Welt, Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses (1891 – 94), Pfarrer in einer Arbeitergemeinde in Frankfurt an der Oder (1894 – 97), zusammen mit Naumann Begründer des National-sozialen Vereins (1896). Er trat 1900 in die SPD ein, nach Androhung eines Disziplinarverfahrens verlor er seinen Pfarrertitel, von 1910 bis 1919 war er Mitglied des Reichstages. 1905 trat er aus der Kirche aus, war 1918 Unterstaatssekretär im Kriegsministerium und 1919 bis 1923 Staatssekretär im Preußischen Innenministerium. Sein bis heute wichtigstes Werk legte er mit „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche: eine praktische Studie“ bereits 1891 vor. Vgl. Joachim Brenning/Christian Gremmels, Kommentar, in: Paul Göhre. Drei
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Adolf Levenstein 54 oder wurden von Paul Göhre herausgegeben.55 Sie werfen wie keine andere Quellengattung einen Blick auf die alltägliche Art und Weise, wie Arbeiter miteinander umgingen, welche Beziehungsmuster für gewerkschaftliche Beeinflussung geeignet waren und wie die Verbände auf der Ebene täglicher Arbeit vorgingen. Sie stehen daher im Folgenden an vielen Stellen der Argumentation im Mittelpunkt.
Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Sozialreportage eines Pfarrers um die Jahrhundertwende, mit einem Vorwort und einem Kommentar herausgegeben von Joachim Brenning und Christian Gremmels, Gütersloh 1978, S. 117 – 157; zu dieser Quellengattung generell und zur Einordnung Göhres, Brommes, aber auch Adolf Levensteins vgl. Sigrid Paul, Arbeiterbiographien in Deutschland, Österreich, Polen und Schweden als Vorläufer Mündlicher Geschichte, in: Botz, Gerhard (Hrsg.), Muendliche Geschichte und Arbeiterbewegung, Wien/Köln 1984, S. 86 – 91. 54 Vgl. Adolf Levenstein, Aus der Tiefe. Arbeiterbriefe: Beiträge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter, Berlin 1909. 55 Vgl. Moritz Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, herausgegeben und eingeleitet von Paul Göhre, Jena 1905. Vgl. aber auch: Carl Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Paul Göhre, 2. Aufl. Leipzig 1903; Wenzel Holek, Lebensgang eines deutschtschechischen Handarbeiters, mit einem Vorwort herausgegeben von Paul Göhre, Jena 1909; Franz Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters, herausgegeben und eingeleitet von Paul Göhre, Jena 1911.
2. Die handwerkliche Phase von 1891 bis ca. 1900 2.1 Im Chemnitzer Maschinenbaubetrieb um 1890 2.1.1 Fertigungsprinzipien, Arbeitsorganisation, Arbeitstätigkeiten Die Entwicklung des Maschinenbaus in Sachsen und Chemnitz
Zur Zeit der Gründung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes war Chemnitz bereits seit vierzig Jahren ein Zentrum der deutschen Maschinenindustrie. Neben der gewerblichen Tradition und der geographischen Lage war es die Dichte der Besiedlung und des Städtenetzes, die den westlichen Teil des Königreichs Sachsen und das Umland von Chemnitz geprägt und diese frühe wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht hatten.1 In den Jahren von 1810 bis 1820 bildeten sich hier dank der günstigen Bedingungen die ersten Werkstätten zum Bau von Textilmaschinen, 2 und auch in den folgenden Jahrzehnten waren es die Impulse der Baumwollindustrie, die den Maschinenbedarf generierten und besonders Chemnitz zur „Mutter des sächsischen Maschinenbaus“ aufsteigen ließen. Mit der Umwandlung der Werkstatt Carl Gottlieb Haubolds in eine Spinnmaschinenfabrik erlebte diese Entwicklung im Jahre 1826 einen frühen vorläufigen Höhepunkt.3 Bis zur Jahrhundertwende kennzeichneten dann vor allem Neugründungen und Produktdifferenzierungen den Maschinenbau der Stadt. Mit Richard Hartmann (1837) und Johann Zimmermann (1844) etablierten zwei Schüler Haubolds eigene Unternehmen und gingen kurz darauf dazu über, auch Werkzeugmaschinen herzustellen.4 So baute die Sächsische Maschinenfabrik (Hartmann)5 neben Textilmaschinen
1 Vgl. Katrin Keller, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2002, S. 308 ff. 2 Vgl. Rainer Karlsch/Michael Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Leipzig 2006, S. 37; Rudolf Forberger, Die industrielle Revolution in Sachsen. 1800 – 1861, Leipzig 1999, S. 173 – 235. 3 Vgl. Wolfgang Uhlmann, Vor 225 Jahren wurde Carl Gottlieb Haubold geboren, in: Sächsische Heimatblätter 54 (2008) 1, S. 31 – 34; vgl. Günter Spur, Vom Wandel der industriellen Welt durch Werkzeugmaschinen. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung der Fertigungstechnik, München 1991, S. 233 ff. 4 Vgl. Kiesewetter, Die Industrialisierung Sachsens, S. 398 – 406; vgl. Spur, Vom Wandel, S. 235 – 247. 5 Auf Grund der längeren und für eine Darstellung sperrigen Firmennamen sollen im Folgenden alle Chemnitzer Unternehmen nach einer ersten, kompletten Nennung mit ihren geläufigen Kürzeln angeführt werden, so z. B. Hartmann, Zimmermann, Reinecker, Union, Escher, Wanderer usw.
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seit 1840 auch Dampfmaschinen, seit 1848 Lokomotiven und stieg 1857 in den Werkzeugmaschinenbau ein.6 Im Gegensatz zu dieser breiten Produktpalette, die das Unternehmen auch später beibehielt, spezialisierte sich die Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik (Zimmermann) schon 1848 auf Werkzeugmaschinen und kann damit als erster Vertreter des deutschen Werkzeugmaschinenbaus angesehen werden. Aus weiteren Unternehmensgründungen dieser Jahre entstanden die Werkzeugmaschinenfabrik Union, vormals Diehl (gegründet 1852) und die Deutsche Werkzeugmaschinenfabrik, vormals Sondermann & Stier (1857). Zusammen mit der Firma J. E. Reinecker (1859) etablierten sie den Werkzeug- und Werkzeugmaschinenbau in Chemnitz und machten die Stadt zur Wiege dieses Industriezweigs in Deutschland.7 Dabei profitierten die frühen Maschinenbauunternehmer ebenso wie ihre Hütten-Kollegen aus dem Ruhrgebiet von englischem Know-how, das teilweise legal, teilweise auf dem Wege der Industriespionage gewonnen wurde und lange als Vorlage galt. So war Chemnitz strenggenommen um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht das Zentrum des deutschen Werkzeugmaschinenbaus, sondern das Zentrum des Nachbaus und der Anpassung englischer Werkzeugmaschinen. Denn da sich jenseits des Kanals schon 1850 alle wesentlichen Typen an Werkzeugmaschinen und zerspanenden Bearbeitungsverfahren entwickelt hatten, war man in Sachsen bis in die 1860er Jahre vor allem damit beschäftigt, diesen Vorsprung aufzuholen.8 Waren die Chemnitzer Unternehmer darin zwar überaus erfolgreich, ließen sie sich aber dennoch vergleichsweise lange von den englischen Vorbildern leiten und vernachlässigten den sich parallel entwickelnden amerikanischen Maschinenbau.9 Dieser zu enge Fokus verursachte die schwere Krise der 1870er Jahre mit und führte anschließend zu einer Orientierung an den USA und damit zur „zweite[n] take-off-Phase“ 10 im Werkzeugmaschinenbau. Führend wurde
6 Vgl. Wolfgang Uhlmann, Richard Hartmann – ein Pionier der Chemnitzer Industrie, in: Sächsische Heimatblätter 45 (1999) 1, S. 41 – 47. 7 Vgl. Naumann, Werkzeugmaschinenbau in Sachsen, S. 21 – 31; vgl. Spur, Vom Wandel, S. 248. 8 Vgl. Hans–Joachim Braun, Der deutsche Maschinenbau in der internationalen Konkurrenz 1870 – 1914, in: Technikgeschichte 53 (1987) 3, S. 211; vgl. Volker Benad-Wagenhoff/Akos Paulinyi/Jürgen Ruby, Die Entwicklung der Fertigungstechnik, in: Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Technik und Wirtschaft, Düsseldorf 1993,S. 218 f. 9 Vgl. Hasso Wulffen, Die Entwicklung des Werkzeugmaschinenbaues in Chemnitz und seine Produktions- und Absatzverhältnisse bis zur Neuzeit, Würzburg 1924, S. 54 ff. 10 Ralf Richter, „Is friendly co-operation worth while?“ – Die Netzwerke der Werkzeugmaschinenbauer von Chemnitz (Deutschland) und Cincinnati (USA). 1890er bis 1930er Jahre, in: Hartmut Berghoff/Jörg Sydow (Hrsg.), Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007, S. 146.
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Die handwerkliche Phase von 1891 bis ca. 1900
Abb. 1: Maschinenhalle der Maschinenfabrik Richard Hartmann (um 1868) – eine der meistgenutzten Abbildungen zur Geschichte des deutschen Maschinenbaus
in Chemnitz nun vor allem die Firma Reinecker,11 wo man sich anders als bei den städtischen Kollegen schon seit der Gründung in den 1870er Jahren intensiver mit den amerikanischen Maschinen befasst hatte. Allerdings sollte die gestiegene Bedeutung der amerikanischen Vorbilder (ebenso wie jene der englischen zuvor) auch nicht überschätzt werden, da sie sowohl die Entwicklungsleistungen des deutschen Maschinenbaus verdeckt als auch die regionalen Unterschiede nicht genügend berücksichtigt.12 Zwischen den 1860er und den 1890er Jahren erlebte der Maschinenbau in Sachsen einen einschneidenden Strukturwandel. Zum einen betraf dies die Mechanisierung der Fabriken: Hatte 1861 noch mehr als ein Drittel aller Maschinenbetriebe in Sachsen im reinen Handbetrieb gearbeitet, gehörten 1895 die Dampfmaschine und teilweise auch schon der elektrische Antrieb zur Grundausstattung. Zum anderen waren auch die Betriebsgrößen beträchtlich gewachsen, sodass nun mehr als fünfmal so viele Arbeiter im Maschinen- und Apparatebau beschäftigt waren. Gleichzeitig stieg die Zahl der Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten von 30 auf 11 Vgl. Hans Münch, Julius Eduard Reinecker (1832 – 1895). Begründer des Präzisionswerkzeug- und Werkzeugmaschinenbaus in Chemnitz, in: Sächsische Heimatblätter 41 (1995) 3, S. 137 – 141. 12 Vgl. Braun, Konkurrenz, S. 211.
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etwa 180.13 Innerhalb dieser Entwicklungen nahm der Chemnitzer Maschinenbau eine Sonderstellung ein. Nirgendwo sonst in Sachsen war seine Bedeutung für eine Stadt und Region so groß 14 und schritt auch das Wachstum der Werke so schnell voran. 1870 arbeiteten bei der Sächsischen Maschinenfabrik, vorm. Richard Hartmann AG bereits 3000 und bei der Sächsischen Werkzeugmaschinenfabrik, vorm. Johann Zimmermann AG 1000 Arbeiter. Daneben existierten in der Stadt zahlreiche mittlere und kleinere Maschinenbetriebe und Gießereien.15 Nach dem Ende der Absatzkrise, der zwischen 1878 und Ende der 1880er Jahre drei große und viele kleine Maschinenfabriken zum Opfer gefallen waren, stellten in Chemnitz 179 Betriebe mit 11.622 Arbeitern Werkzeuge und Werkzeugmaschinen her.16 Die durchschnittliche Chemnitzer Maschinenfabrik war also um 1890 von mittlerer Größe, beschäftigte etwa 65 Arbeiter und produzierte ganze Maschinen und/oder Teile für die Textil-, Holz-, Werkzeug- oder Fahrradindustrie. Dass ein solcher für diese Phase vergleichsweise sehr großer Mittelwert erreicht wurde, verdankte die Region vor allem einigen Riesenunternehmen, die den Weltruhm des Chemnitzer Maschinenbaus begründeten und bis heute mit der Stadt identifiziert werden. Zu diesen Vorreitern zählte unter anderem die Maschinenfabrik Kappel (benannt nach dem Chemnitzer Vorort, in dem sie lag), wo seit 1860 Stickmaschinen, seit 1876 Holzbearbeitungsmaschinen und seit 1887 Tüllmaschinen produziert wurden.17 Es war sehr wahrscheinlich diese Fabrik, in der der evangelische Pfarramtskandidat Paul Göhre 1890 drei Monate lang inkognito als Handlanger arbeitete, um sich einen unverfälschten Einblick in die tatsächlichen Arbeits- und Lebensumstände der arbeitenden Bevölkerung zu verschaffen. Seine Aufzeichnungen, die 1891 veröffentlicht wurden, können bis heute als die ergiebigste Quelle für Fragen zur betrieblichen Alltagswirklichkeit des späten 19. Jahrhunderts gelten.18 Hier muss jedoch zunächst differenziert werden, da Göhre nur die Arbeit und die Sozialbeziehungen der Abteilung für Werkzeugmaschinenbau beschrieb. Bezieht man neuere Untersuchungen ein, dürften seine Aussagen für diesen Bereich des Maschinenbaus auch 13 Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens, S. 77 f. 14 Noch 1930 war Chemnitz das unangefochtene Zentrum sowohl des Textil- als auch des Werkzeugmaschinenbaus in Sachsens, vgl. Erich Ficker, Die Maschinenindustrie Sachsens auf Grund der gewerblichen Betriebszählung vom 16. Juni 1925, Leipzig 1930, S. 100 – 103. 15 Vgl. Rudolph Strauss, Die Chemnitzer Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz, Berlin 1954, S. 5. 16 Zahlen für 1892. Vgl. Naumann, Werkzeugmaschinenbau in Sachsen, S. 23 f. 17 Vgl. Fr. Freytag, Der Chemnitzer Maschinenbau, in: Königliche Gewerbe-Akademie Chemnitz (Hrsg.), Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens der Königl. GewerbeAkademie Chemnitz, Chemnitz 1911, S. 151 f. 18 Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie, Leipzig 1891.
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als durchaus repräsentativ für die Zeit um 1890 gelten. Er wies jedoch selbst darauf hin, dass man diese Verhältnisse nicht eins zu eins auf andere Zweige, vor allem den Stickmaschinenbau übertragen könne. Anhand eigener Beobachtungen schätzte er die Möglichkeiten für repetitive Teilarbeit, Kontrolle und Beschleunigung dort viel größer ein.19 Die folgenden Aussagen über Arbeitsorganisation, Sozialbeziehungen und Eigen-Sinn haben ihren Fokus daher im Werkzeugmaschinenbau. Doch selbst dort erweist sich das Urteil Ritters und Tenfeldes, dass die Vielzahl der Arbeitsplätze im Maschinenbau „auch nur einen Versuch der Beschreibung von Arbeitsverrichtungen in dieser Branche nicht geraten erscheinen“ 20 lassen, als zutreffend. Denn im Grunde genommen bestand ein Werkzeugmaschinenunternehmen entlang der Produktionsfolge aus mehreren Betrieben, in denen sich Technik, Arbeitstätigkeiten, Qualifikation, Herkunft und Organisation grundlegend voneinander unterschieden. Angesichts dieser Heterogenität, der Quellenlage und der Ausrichtung der Arbeit beziehen sich alle weiteren Ausführungen daher besonders auf die mechanischen Werkstätten und damit auf den Kern des Maschinenbaus im Wortsinne. Die vorgelagerten Schritte sollen der Vollständigkeit halber eine kurze Erwähnung finden. Die Grobgliederung und Organisation der Maschinenbetriebe
Räumlich folgten die meisten Werkzeugmaschinenfabriken seit den 1850er Jahren einem ähnlichen Muster, welches wohl zuerst in der Zimmermann’schen Fabrikhalle zwischen 1852 und 1854 realisiert wurde. Da sich der mehrgeschossige Aufbau älterer Gebäude für den spezialisierten Bau von Werkzeugmaschinen nicht mehr eignete, ging man dazu über, hohe und großflächige Hallen zu errichten, die über einen tragfähigen Betonfußboden verfügten und keinen Etagenaufbau mehr besaßen.21 In solchen Galeriehallen von meist länglichem Grundriss konnte den neuen Erfordernissen des Strukturwandels am besten genüge getan werden: Mittig verliefen Schienen und Krananlagen, die den Transport der Teile zu den an den Hallenseiten befindlichen Arbeitsmaschinen gewährleisteten. An mindestens einer Außenseite erhielt die Fabrik Anschluss an das Eisenbahnnetz. Die Schmiede, Werkzeugschlosserei und Gießerei (sofern das Werk über eine solche verfügte) lagen separat entweder außerhalb, zwischen oder an den Enden der Komplexe. Der große Innenhof, der durch die dreieckige oder parallele Gesamtanordnung der Hallen entstand, diente als Verkehrsbereich und als Lagerplatz für die unterschiedlichen Materialien der 19 Vgl. ebd., S. 55. 20 Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 341. 21 Vgl. Dieter Bock, Die Werkzeugmaschinenfabrik von Johann Zimmermann in Chemnitz, in: Sächsische Heimatblätter 48 (2002) 1, S. 45.
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angrenzenden Werkstätten. Die Bearbeitung der Werkstücke erfolgte in den Sälen der mechanischen Werkstätten oberhalb und unterhalb der Emporen an den durch Fenster besser ausgeleuchteten Hallenseiten. Hier lagen die Stoß- und Hobelwerkstatt, die Bohr- und Fräswerkstatt sowie die Dreherei.22 Der Antrieb der Maschinen erfolgte durch eine Dampfmaschine, die sich im Maschinenhaus meist am Ende der langen Halle befand und über Transmissionsriemen mit den beiderseitig der Kranlaufbahn auf den Emporen aufgestellten Bearbeitungsmaschinen verbunden war. Über die gesamte Halle verteilt lagen dagegen die Arbeitsplätze der Schlosser, deren Schraubstöcke man in der Nähe der spanenden Werkzeugmaschinen montierte. Weitere Abteilungen waren der Probierstand und die Montage. An diesem Grundaufbau orientierten sich in den Folgejahrzehnten die Maschinenfabriken relativ einheitlich, obwohl es dabei freilich verfahrensbedingte Abweichungen gab. Während Göhres Arbeit in der Kappel’schen Fabrik befanden sich an den beiden Langseiten ebenfalls Emporen, von denen die eine die Dreherei und den Probiersaal beherbergte und die andere auf Grund der Konjunkturflaute leer stand. Der Weg auf die Emporen führte über brüchige Holzleitern. Alle anderen Arbeitsmaschinen standen dagegen mehr oder weniger ungeordnet durcheinander, was auch deren unterschiedlicher Größe geschuldet war. So legte sich die größte Bohrmaschine durch den gesamten Raum und blockierte die Halle längsseitig fast vollständig. Fräs-, Stoß- und Hobelmaschinen waren je nach den günstigsten Lichtbedingungen innerhalb der Möglichkeiten der Transmission ausgerichtet. Die Schraubstöcke der Schlosser lagen an den beiden Langseiten. Die Schmiede befand sich auch hier separiert außerhalb der Galeriehalle.23 Bei diesen Schilderungen wird mit Blick auf die Arbeitsorganisation des Werkzeugmaschinenbaus zweierlei deutlich: Zum einen war die Grobstruktur des Produktionsprozesses dreigliedrig. Denn aus der Charakteristik der Produkte als „komplexe[n] Stückgüter[n]“,24 deren zahlreiche metallische Einzelteile passend ineinandergefügt werden mussten, resultierte die Notwendigkeit der Schritte Rohteilefertigung, Fertigteileherstellung und Zusammenbau.25 Zunächst wurde der Arbeitsschritt der Rohteilefertigung von den Schmieden und Gießereien besorgt, indem sie den Urprodukten, die man von den Hütten- und Walzwerken bezog, 22 Plan der Zimmermannschen Fabrik bei: Volker Benad-Wagenhoff, Fertigungsorganisation im Maschinenbau, in: Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Technik und Wirtschaft, Düsseldorf 1993, S. 249. 23 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 40 – 43. 24 Volker Benad-Wagenhoff, Industrieller Maschinenbau im 19. Jahrhundert. Werkstattpraxis und Entwicklung spanabhebender Werkzeugmaschinen im deutschen Maschinenbau 1870 – 1914, Stuttgart 1993, S. 13. 25 Vgl. ebd., S. 17 ff.
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Abb. 2: Grobgliederung und Abteilungen in einem Maschinenbaubetrieb
eine Grundform gaben, die dem letztlichen Maschinenteil nur rudimentär entsprach. Diese Form der Zielvorgabe anzunähern war anschließend die Aufgabe der Fertigteileherstellung, die das Werkstück an spanenden Maschinen bearbeitete, bis es in etwa der Konstruktion genügte. Auf Grund der mangelnden Genauigkeit der Maschinenarbeit und den groben Messmethoden musste die Fertigteileherstellung bis zur Umbruchphase 1895 – 1914 aber durch Nachbearbeitung per Hand ergänzt werden. Im Zusammenbau wurden die Teile schließlich nicht einfach zusammengefügt, sondern Stück für Stück nachbearbeitet, bis sie zueinanderpassten.26 Vor allem die beiden letzten Schritte gaben dem Maschinenbau den Charakter eines Versuchsfelds, in dem man sich vorsichtig an eine Vorgabe herantastete. Zum anderen zeigt die räumliche Gestaltung der Fabriken schon ansatzweise, wie man diesen dreigliedrigen Prozess auf der Ebene der Fertigungsorganisation ausgestaltete. So arbeitete man in den Chemnitzer Betrieben meistens im Werkstattprinzip. Dazu bildeten sich verschiedene Abteilungen heraus, die jeweils einen Schritt in der Bearbeitung der Teile übernahmen. Neben den getrennten Schmieden und Gießereien kamen auf diese Weise die Modelltischlerei, Hoblerei, Fräserei, Dreherei, Bohrerei und andere Spezialabteilungen hinzu. Das Werkstück durchlief eine Abteilung, indem man es an der im Moment freien Maschine spante, und wurde dann an die nächste weitergegeben. Die Nachteile dieses Systems lagen natürlich auf der Hand: Einerseits waren die Transportzeiten gewaltig, andererseits war die Bewegung der Teile alles andere als ein Fluss – gleiche Teile konnten verschiedene
26 Vgl. ebd., S. 18.
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Abb. 3: Punkt-,Werkstatt-, Linienund Fließfertigung als Formen der Arbeitsorganisation
Wege durch die Fabrik nehmen und sich in manchen Fällen sogar wieder zurückbewegen.27 Dennoch überwogen Ende des 19. Jahrhunderts die Vorteile dieser Organisation. Denn im Gegensatz zur Hüttenindustrie, deren Endprodukte quasi endlos und von geringer Komplexität waren und wo die Produktion daher schon früh fließend strukturiert werden konnte, befanden sich in den Maschinenbetrieben gleichzeitig viele Teile eines komplizierten Endprodukts in Bearbeitung und mussten zur gleichen Zeit fertiggestellt werden. Diese Produktionsstruktur in mehreren, nebeneinanderlaufenden Strängen, die sich erst zuletzt vereinigten, erschwerte die
27 Vgl. ders., Fertigungsorganisation, S. 247.
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Durchsetzung des Ideals der fließenden Fertigung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Auch konnte von seiner Grundvoraussetzung, der Austauschbarkeit der Teile, um 1890 noch keine Rede sein. Jedes Teil war ein Unikat, da es per Hand angepasst wurde. Deshalb herrschte ein Gleichgewicht zwischen qualifizierter Maschinen- und Handarbeit.28 Hinzu kam, dass man von einer Serienfertigung weit entfernt war: Die Markt- und Absatzbedingungen begünstigten viel stärker die Einzelfertigung oder den Bau sehr kleiner Serien nach Kundenwünschen.29 Aus diesen technischen wie wirtschaftlichen Gründen erwies sich das Prinzip der Fließfertigung während des Untersuchungszeitraums als undurchführbar. Als Mittelweg zwischen der ökonomischen Effizienz und der Flexibilität als oberstem Gebot etablierte sich daher im Maschinenbau neben der Punktfertigung für Einzel- und Großmaschinen vor allem die Werkstattfertigung als vorherrschendes Organisationsprinzip.30 An beiden Grundprinzipien, der dreiteiligen Grobstruktur und dem Werkstattprinzip, änderte sich auch im „zweiten Umbruch der Fertigungstechnik“ 31 nichts, der zwischen etwa 1895 und dem Ersten Weltkrieg den Einstieg in die Maschinisierung der Passarbeit und den Austauschbau mit sich brachte.32 Die Arbeitsschritte in der Maschinenproduktion
Aus den Erfordernissen der Dreiteilung und Werkstattorganisation im flexiblen Maschinenbetrieb resultierten die Bearbeitungsfolge, das jeweilige Tätigkeits- und Qualifikationsprofil der Arbeitergruppen sowie ein Großteil der Arbeitsorganisation. Der Weg einer zukünftigen Maschine begann zunächst in der kaufmännischen und technischen Abteilung des Unternehmens. Waren alle finanziellen Entscheidungen getroffen, entwarfen die Konstrukteure die notwendigen Teile der Maschine und gaben diese in Form bemaßter Werkstattzeichnungen an die Fertigung weiter. Schon bei diesem ersten Schritt in die Werkstatt entstanden noch bis ins 20. Jahrhundert 28 Vgl. Volker Benad-Wagenhoff, Industrieller Maschinenbau im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Entfaltung des Maschinenwesens als Triebfeder für den Werkzeugmaschinenund Werkzeugbau, in: Verein für sächsische Landesgeschichte e. V. (Hrsg.), Geschichte des sächsischen Werkzeugmaschinenbaus im Industriezeitalter. Beiträge der Tagung am 19. März 1998 in Dresden, Dresden 2000, S. 15. 29 Bis 1890 produzierte man zum Beispiel in der Werkzeugmaschinenfabrik Union fast zweihundert verschiedene Maschinen in einer regelrechten „Warenhausproduktion“. Vgl. Dieter Bock, 150 Jahre Werkzeugmaschinenfabrik UNION Chemnitz, in: Sächsische Heimatblätter 48 (2002) 3, S. 150 f. 30 Vgl. Benad-Wagenhoff, Fertigungsorganisation, S. 246. 31 Ders., Industrieller Maschinenbau, S. 359 – 379. 32 Da trotz der Überschneidungen die wesentlichen Veränderungen in die Betriebsphase ab 1900 fallen, wird der Umbruch im zweiten Kapitel ausführlich behandelt.
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hinein Probleme, deren Ursache in der weitgehenden Trennung von Konstruktion und Werkstatt lagen und die entscheidende Auswirkungen auf den Arbeitsprozess besaßen. Denn seit sich in den 1870er Jahren eigenständige Konstruktionsbüros entwickelt und diese viele vorbereitende Arbeiten aus der Werkstatt abgezogen hatten, wurde die Konstruktionspraxis zunehmend fertigungsunfreundlicher. Innerhalb dieser Phase der „Konstrukteurskonstruktion“ 33 nahmen die „Techniker“, wie sie von den Arbeitern abwertend bezeichnet wurden, selten Rücksicht auf den eigentlichen Arbeitsvorgang. Ihre Entwürfe änderten sich von Maschine zu Maschine selbst bei Teilen gleicher Funktion, waren oft sehr kompliziert und beachteten kaum, welche Modelle, Maschinen und Spannvorrichtungen in den Fabriken schon vorhanden waren. Auf diese Weise wurden Beschwerdegänge der Meister in die Konstruktion zu einer alltäglichen Erscheinung: Die Modelltischler beklagten sich über die komplizierten Formen, und nachdem die Teile gegossen waren, wurde bekannt, dass ihnen Spannstellen oder Aussparungen für die weitere Bearbeitung fehlten. Weil der Guss aber schon abgeschlossen war, wurden nun auch die Werkzeuge speziell für diese Teile angefertigt und die Produktion ging weiter. Nicht selten wurden dann bei der nächsten Bestellung sowohl die Zeichnungen als auch die Modelle und Werkzeuge wieder verändert.34 War diese Praxis, die sich erst mit dem langsamen Einzug der „Firmenkonstruktion“ 35 in den 1890er Jahren änderte, aus betriebswirtschaftlicher Sicht höchst ineffektiv, hatte sie für die Arbeit in den Werkstätten einen entgegengesetzten Effekt: Die Produktion blieb auf allen Ebenen Tüftelei, machte ein hohes Qualifikationsniveau notwendig und behinderte die Ausdehnung rein repetitiver Teilarbeiten. Zwar hatten die Meister in hohem Maße technische Kompetenzen abgegeben, doch bezog sich dieser Verlust „nur“ auf das Erdenken einer Maschine und berührte den Bereich der Herstellung durch die Arbeiter kaum. Hier behielt die Arbeit den Charakter des Herantastens und Probierens, auch weil noch nicht maschinenfertig ohne manuelle Nachbearbeitung produziert werden konnte. Darüber hinaus zementierte die mangelnde Kommunikation auch die vorherrschende Kundenproduktion in Einzel- oder Kleinstserienfertigung, da der ständig wechselnde Aufbau der Konstruktionen eine Rationalisierung von Bauformen und -typen erfolgreich unterband. 33 Wolfgang König, Konstruieren und Fertigen im deutschen Maschinenbau unter dem Einfluß der Rationalisierungsbewegung. Ergebnisse und Thesen für eine Neuinterpretation des „Taylorismus“, in: Technikgeschichte 56 (1989) 3, S. 185 f. sowie umfassender: ders., Künstler und Strichezieher, Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930, Frankfurt am Main 1999, S. 121 – 128. 34 Vgl. König, Konstruieren und Fertigen, S. 190. 35 Ders., Künstler und Strichezieher, S. 128.
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Obgleich der Fokus im Folgenden eher auf der betrieblichen Einheit von Fertigteileherstellung und Montage liegt, sollen zuvor die davon getrennten Schritte der Rohteilefertigung wenigstens angeschnitten werden. Die erste Arbeitergruppe im Fertigungsprozess, deren handwerkliche Qualifikation auch durch die obigen Verhältnisse von hoher Bedeutung blieb, waren die Modelltischler. Sie arbeiteten, je nachdem, ob die Maschinenfabrik über eine Gießerei verfügte,36 entweder dort oder, wie in Göhres Beschreibung, in einer Abteilung des Galeriekomplexes. Mit Hilfe von Holzsägen und Hobelmaschinen schälten sie die Grobformen der Gussmodelle heraus und verwandten danach den Hauptteil ihrer Zeit auf die Feinbearbeitung per Hand. Dies erforderte neben einer hohen Geschicklichkeit auf Grund der komplizierten Formen auch ein breites Wissen über die Konstruktion und den Zweck der späteren Maschine. Insgesamt gehörte ihre Tätigkeit zu den verantwortungsvollsten Arbeiten im Produktionsprozess und ging mit einem hohen Grad an Selbstbestimmung und mit Spielräumen einher. So unterstanden die Tischler zwar einem Meister, doch beschränkte sich deren Kontakt nicht „auf eine disziplinarische Kontrolle […], sondern bestand notwendig auch in einem Austausch der Ansichten über die bestmögliche Herstellung der geforderten Körper“.37 Die Meister traten den Arbeitern trotz des Rangunterschiedes und freilich oft rauen Umgangstons zusehends „kollegial“ gegenüber, weil sie in der Regel nicht auf deren Ideen und Fähigkeiten verzichten konnten. Außerdem waren sie sich der für den Betriebsablauf zentralen Stellung der Tischler und deren schwerer Ersetzbarkeit bewusst. Der innerbetriebliche Kontakt dieser Gruppe zu den eigentlichen Maschinenbauern war aber sehr gering. Durch die spezialisierte Tischlerarbeit im Vorfeld der Maschinenwerkstatt und der räumlichen Abgrenzung in separaten Abteilungen beschränkte sich ihre Kommunikation während der Arbeit auf ein Minimum. Dies galt auch für die Arbeiter in den Gießereien, die ebenfalls in räumlicher Trennung zu den Maschinenfabriken produzierten. Hier wurden die Holzmodelle der Tischler von den Formern dazu benötigt, Sandformen herzustellen, die anschließend in Formkästen oder Formgruben ausgegossen wurden.38 Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Tätigkeit der Former reine Handarbeit geblieben und setzte großes Fingerspitzengefühl und metallurgisches Verständnis voraus. Um 1890 36 Die großen Maschinenfabriken machten sich in Chemnitz schon relativ früh gussunabhängig und erwarben eine Gießerei, z. B. Zimmermann 1873. Vgl. Bock, Werkzeugmaschinenfabrik von Johann Zimmermann, S. 48. Dagegen blieben die kleineren Werke in der Regel von auswärtigem Guss abhängig. 37 Göhre, Drei Monate, S. 46. 38 Für einen detaillierten Einblick in Arbeitsverrichtung und das Sozialverhalten der Gießereiarbeiter vgl. Rudolf Vetterli, Industriearbeit, Arbeiterbewusstsein und gewerkschaftliche Organisation, Göttingen 1978, S. 35 – 92.
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herrschte unter diesen Arbeitern ein hohes Qualifikationsniveau, da sich der Einsatz von Formmaschinen und die Serienproduktion nur langsam und uneinheitlich etablierten. Daneben wurden aber auch zahlreiche Hilfsarbeiter beschäftigt, die für den Transport, „die Beschickung und Reparatur der Öfen, das Ausschmieren der Gießpfannen, die Sandaufbereitung, die Kernmacherei, das Ausschlagen der Gussstücke aus den Formen und das Putzen“ 39 zuständig waren. Organisiert war die Arbeit der Former und Hilfsarbeiter meistens in der Kolonnenform, wobei sich unterschiedliche Lohnformen oft in einer kolonnenintern gegensätzlichen Interessenlage niederschlugen.40 Handelte es sich nicht um gusseiserne, sondern um schmiedeeiserne Maschinenteile, wurde die Bereitstellung der Rohteile von der Schmiede übernommen. In keinem anderen Bereich des Fertigungsprozesses waren die Arbeitsverhältnisse des Handwerks im Übergang zur Fabrikarbeit so stabil geblieben. Um 1890 rekrutierten sich noch fast alle Schmiede aus kleineren Handwerksbetrieben und verrichteten ihre Arbeit am Schmiedefeuer mit Hammer und Amboss. Erst langsam erhielten Kaltsägemaschinen und Gesenkschmieden Einzug in die Produktion. Die Schmiede formten das in Öfen auf Glut erhitzte Eisen noch komplett in Handarbeit, was neben einem breiten Erfahrungswissen und Geschicklichkeit eine vergleichsweise große Körperkraft erforderte. Darüber hinaus beinhaltete ihre Arbeit auch Wärmebehandlungen, indem sie Werkzeuge und Maschinenteile durch Erhitzen und Abkühlen dauerhaft härteten.41 Neben diesen Handschmieden arbeitete allerdings auch eine große Gruppe der Schmiede an Dampfhämmern, bei denen das Werkstück nur noch per Hand geführt werden musste. Die Dispositionsspielräume dieser Gruppe waren geringer, da sie ihre Handgriffe am Takt des Dampfhammers ausrichteten. Beide Tätigkeiten waren aber Gruppenarbeit im Stückakkord, bei der der Schmied den größten Anteil erhielt und sich die Zuschläger oder Hammerwärter den Rest untereinander aufteilten.42 Modelltischlerei, Gießerei und Schmiede waren allesamt fertigungstechnisch wie räumlich vom Hauptbetrieb der Maschinenfabriken getrennt. Sie ermöglichten die Rohteilefertigung, in deren Arbeitsprofil um 1890 handwerkliche Anforderungen und Qualifikationen vorherrschten, sich aber auch langsam die Maschinisierung bemerkbar machte. Hatte ein Maschinenteil diese Abteilungen durchlaufen, gelangte es in die mechanischen Werkstätten der Galeriehallen, wo 39 Vgl. Benad-Wagenhoff/Paulinyi/Ruby, Fertigungstechnik, S. 211. 40 Renate Martens, Das Dilemma des technischen Fortschritts. Metallarbeitergewerkschaften und technologisch-arbeitsorganisatorischer Wandel im Maschinenbau bis 1914, Wiesbaden 1989, S. 169. 41 Vgl. Benad-Wagenhoff/Paulinyi/Ruby, Fertigungstechnik, S. 212. 42 Vgl. Martens, Dilemma, S. 156 – 164.
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es nun strenggenommen zum ersten Mal mit jenen Maschinenbauarbeitern in Kontakt kam, denen die Industrie ihren Namen verdankte. Paul Göhre beschrieb den folgenden Arbeitsablauf wie folgt: Zunächst sichtete der Modellmeister die eingegangenen Gussteile und versah sie mit den entsprechenden Markierungen, die als Orientierung für den weiteren Weg des Teils dienten. Daraufhin überwies der Werkmeister die Rohteile und den Bau der Maschine einem Monteur – eine Auswahl, die sowohl vom Dienstalter und der Erfahrung als auch von der jeweiligen Spezialisierung des Monteurs auf bestimmte Maschinentypen abhing und bei der es auf Grund der Prozentbeteiligung für fertige Maschinen oft auf persönliche Kontakte und gute Beziehungen ankam.43 Jeder Monteur fungierte als Vorarbeiter für eine Arbeitsgruppe aus Schlossern und Hilfsarbeitern, die er relativ eigenständig anleitete und welche die Arbeitsschritte der Nachbearbeitung und Montage übernahm. Die Voraussetzungen für die Arbeit des Monteurs waren daher außerordentlich vielfältig, vor allem wenn man einbezieht, dass sie zu dieser Zeit in der Regel aus der Gruppe der Schlosser aufgestiegen und häufig noch sehr jung waren. Sie mussten neben organisatorischem Geschick und zeitlicher Kalkulationsfähigkeit auch technisches Verständnis für die Bearbeitungsschritte mitbringen und zur Not aushelfen können. Monteure galten deshalb wohl nicht umsonst als die „Elite der Maschinenbauer“.44 Infolge der voranschreitenden Arbeitsteilung in der boomenden Maschinenindustrie der 1890er Jahre beschränkte sich ihr Aufgabenbereich aber zusehends auf die Leitung und Kontrolle der Arbeit, während der manuelle Teil verstärkt auf die Gruppe ihrer Helfer überging, die meist qualifizierte Schlosser waren.45 Die weitreichendste organisatorische Folge dieses Systems lag darin, dass die Arbeiter in den „Montagen“ nicht durch ihren direkten Vorgesetzten, den Werkmeister, geleitet wurden, sondern die Monteure als „Untermeister“ 46 fungierten und damit der Meisterposition einen großen Teil des Einflusses auf den Arbeitsprozess entzogen. Dennoch blieben sie im Grunde genommen ein Teil der Arbeiterschaft und immer auch ein Ziel gewerkschaftlicher Organisationsbemühungen. Für Göhre bildeten die Monteure eine Zwischeninstanz, da ihr Verhältnis gegenüber den Arbeitern „halb das von Vorgesetzten, halb das von Genossen“ 47 war. Gegenüber den Meistern nahmen sie eine herausgehobene Stellung unter den Arbeitern ein, 43 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 46 f. 44 Hermann Beck, Lohn- und Arbeitsverhältnisse im deutschen Maschinenbau, in: Der Arbeiterfreund 40 (1902), S. 251. Zit. nach Martens, Dilemma, S. 140. 45 Vgl. Martens, Dilemma, S. 141. 46 Göhre, Drei Monate, S. 81. 47 Ebd. Ein bedeutender Teil dieser Beziehung rührte daher, dass es in der Regel die Monteure waren, die den ihnen unterstellten Schlossern Lohn zahlten.
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da sich ohne die Vorarbeiter kaum eine effektive technische Leitung durchführen ließ. Wenn man bedenkt, dass sich zu jeder Zeit Teile für mehrere Maschinenbestellungen in Umlauf befanden und der Materialfluss zwischen den Abteilungen und den Gruppen kaum überschaubar war, wird klar, warum sich die Meister auf die Monteure verlassen mussten und diese dadurch einen großen Gestaltungsspielraum besaßen. Sie waren für die Werkmeister unentbehrlich, da sie deren Stellung zur Betriebsleitung durch eine zügige und akkurate Arbeit erheblich erleichtern konnten. Dementsprechend beschrieb Göhre deren Verhältnis als durchaus intim.48 Von ihren Kenntnissen hing ebenso die Leistungsfähigkeit und damit der Lohn der Arbeitsgruppe ab. Alles in allem bekleideten sie daher die verantwortungsvollste, im Kontakt zu den Arbeitern und Meistern aber auch gefährlichste Position im Betrieb, weil ihr Ansehen von beiden Seiten keine Fehler verzieh. Erwies sich ein Monteur jedoch als fähiger Gruppenleiter, hatte er auf Grund des Fachkräftemangels zu keiner Zeit die Arbeitslosigkeit zu fürchten und befand sich in einer günstigen Verhandlungsposition gegenüber der Betriebsleitung. Über die entscheidenden betrieblichen Machtressourcen der Meister verfügten die Vorarbeiter aber nicht. Sie waren höchstens in der Lage, deren Kontrolle und Antreiberei auf ihre Gruppen abzudämpfen. Denn trotz der Notwendigkeit einer intermediären Instanz blieben die Meister die unumstrittenen „Herrscher“ über die Werkstatt. Als technische Leiter und Bindeglied zwischen Werkstatt und Unternehmensleitung hatten sie unter anderem großen Einfluss auf die Höhe der Stunden- und Akkordlöhne sowie das Tempo der Arbeit, sie bestimmten, wer bei schlechter Konjunktur entlassen wurde, und konnten je nach persönlichem Verhältnis Fehler vertuschen oder erst bekanntmachen. Das Verhältnis zu den Arbeitern war „das des Vorgesetzten zum Untergebenen“.49 Hatte der Meister die Zuständigkeit für eine Maschine einem Monteur übertragen und dieser seine „Montage“ eingeteilt, gelangten die Rohteile auf die Tische des Anreißers. Dessen Aufgabe war es,
48 Vgl. ebd., S. 85. 49 Ebd., S. 83. Wie weitreichend dieses Verhältnis interpretiert werden konnte, zeigen beinahe alle Geschäftsberichte des Chemnitzer DMV, in denen betriebliche Mitteilungen gemacht wurden. Von Beschimpfungen über tätliche Angriffe bis zu kurzfristigen spontanen Aussperrungen und willkürlichen Verboten genossen die Meister die Rückendeckung der Betriebsleitungen, solange das Soll erfüllt wurde. Von den Arbeitern wurden sie daher nicht selten als omnipräsente Kontroll- und Sanktionsinstitution wahrgenommen, die über quasi unbeschränkte Befugnisse während der Arbeitszeit verfügte. Vgl. z. B. die große Anzahl von Einzelfällen im Geschäftsbericht für das Jahr 1907, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1908, S. 1165 – 1240.
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nach den ihm vorliegenden, oft verwickelten Zeichnungen an den großen und kleinen Gußstücken mit Reißnadel und Grobzirkel alle Bohrungen, alle Hobelflächen, alle abzustoßenden Kanten und Ecken genau zu berechnen und zu bezeichnen. Von ihm hing es vor allem ab, ob schließlich die einzelnen Teile sich zusammenfügten und auf einander paßten, ob die ganze Maschine schließlich klappte.50
Die Verantwortung der Anreißer für das fertige Produkt und auch für die weitere Arbeit ihrer Kollegen war also sehr groß. Sie setzte ein umfängliches Verständnis von Aufbau und Wirkungsweise der herzustellenden Maschine, mathematische Fähigkeiten und einen breiten Erfahrungsschatz voraus. Weiterhin mussten sie in der Lage sein, sich über zehn Stunden hinweg im Lärm der Werkstatt konzentrieren zu können. Ihre Arbeit trug meistens den Charakter des stillen Grübelns und Probierens, wobei ihnen Hilfsarbeiter zur Hand gingen – eine Aufgabe, die auch Göhre als interessant empfand und gerne ausübte.51 Bis auf die Transportkräfte kamen die Anreißer aber während ihrer Arbeit nur selten mit anderen Kollegen in Kontakt, sie waren ortsfest beschäftigt und verfügten über geringe Chancen für informelle Kontakte.52 Dies sah freilich bei den meist unqualifizierten Handarbeitern, zu denen auch Göhre gehörte, anders aus. Sie waren in einer Kolonne organisiert, überall in der Fabrik zu finden und wurden zum überwiegenden Teil als Transportarbeiter und Reinigungskräfte beschäftigt. In einzelnen Fällen wurden sie von den Schlossern aber auch zu einfachen Aushilfsarbeiten herangezogen. Als „Diener für alle“ 53 mussten sie über ein hohes Maß an Körperkraft und Ausdauer verfügen und nicht zuletzt auch „ein dickes Fell“ haben, das sie dazu befähigte, ihre unterste Stellung im 50 Göhre, Drei Monate, S. 48. 51 Vgl. ebd. 52 Viele Untersuchungen zur betrieblichen Ebene der Maschinenfabriken erwähnen die Anreißer überhaupt nicht als separate Berufsgruppe. Vgl. etwa Wolfgang Renzsch, Handwerker und Lohnarbeiter in der frühen Arbeiterbewegung. Zur sozialen Basis von Gewerkschaften und Sozialdemokratie im Reichsgründungsjahrzehnt, Göttingen 1980, S. 147 – 158. Es steht daher zu vermuten, dass die von Göhre beschriebene Anreißerarbeit später häufig von den Maschinenarbeitern selbst übernommen wurde oder zu einer der vielen Tätigkeiten der Schlosser gehörte. 53 Göhre, Drei Monate, S. 10. Die als untergeordnet empfundene Position der Hilfsarbeiter bzw. Tagelöhner resultierte vor allem daraus, dass sie problemlos und schnell ersetzbar waren, keinerlei Anlernzeit bedurften und verglichen mit ihren Kollegen auch sehr wenig verdienten. So lagen ihre Wochenlöhne in Chemnitz seit den 1860er Jahren zwischen der Hälfte und zwei Dritteln des Wochenlohns eines durchschnittlichen Maschinenarbeiters. Vgl. Alfred Schröter/Walter Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie in der industriellen Revolution, Berlin (Ost) 1962, S. 273.
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Betrieb auf Dauer zu ertragen. Dem gegenüber besaßen sie die größten Möglichkeiten räumlicher Mobilität und waren an keinen festen Arbeitsplatz gebunden. In ihrer Zuarbeit ergaben sich reichlich Gelegenheiten zu Gesprächen und ihre Verbindungsfunktion nutzten die Kollegen an den Maschinen zum Informationsaustausch. Die schiere Quantität und Intensität der Kommunikation, zu der Göhre während seines kurzen Aufenthalts in der Lage war, zeigte anschaulich, wie rege sich der Kontakt zwischen den Handlangern und den anderen Arbeitern gestalten konnte. Im Anschluss an die Arbeit des Anreißers transportierten die Hilfsarbeiter die nun gekennzeichneten Gussstücke zu den spanenden Werkzeugmaschinen der Bohrer, Hobler, Stoßer, Dreher, Fräser und Schleifer. Je nach der Beschaffenheit des Teils durchlief es die Werkstätten in unterschiedlicher Reihenfolge – öfter auch mit mehrfacher Bearbeitung an einer Maschine. Auf Grund des Werkstattprinzips verursachte dieser Modus einen erheblichen Transportaufwand zwischen den Abteilungen. Bei Göhres Arbeit in Kappel findet sich dieses Prinzip jedoch nur unvollständig ausgeprägt, da die Dreherei als wichtigste Werkstatt zwar auf diese Weise organisiert war, sich die anderen Maschinen aber nicht in Werkstattform über die Halle verteilten. Die endgültige Ausbildung dieser Art der Verfahrensausrichtung ging hier wahrscheinlich (wie auch in anderen Fällen) mit der Umstellung der Energieversorgung auf den Elektroantrieb einher. Er ermöglichte das Auseinanderrücken der Werkstätten, eine vorteilhaftere Anordnung der Maschinen in der Werkhalle und räumte damit tendenziell mit der teilweise chaotisch anmutenden Organisation auf.54 Obgleich der Theologe Göhre bei seiner Kategorisierung der Arbeiten nach ihrer Anspruchsfülle die Bohrer und Hobler von den Drehern und Stoßern trennte, vereinte doch die verschiedenen Tätigkeiten in der mechanischen Werkstatt ein vergleichbarer Charakter: Denn der gesamte Arbeitsablauf wurde „völlig vom Arbeiter bestimmt, der alle Tätigkeiten allein und nacheinander ausführte“.55 Egal, ob es sich um eine Drehbank oder eine Bohrmaschine handelte, gliederte sich die Folge der Handgriffe an Werkstück, Werkzeug und Maschine ähnlich. Zunächst mussten Vorbereitungsarbeiten wie die Wartung und Reparatur der Maschine oder die Instandsetzung des Werkzeugs geleistet werden. Vor allem die Anpassung der Werkzeuge war dabei zeitraubend und gab den Arbeitern, die sich teilweise in der Schmiede oder am Schleifstein sogar anstellen mussten, einige Dispositionsspielräume.56 Darauf folgten das Einspannen des Werkzeugs und Werkstücks sowie die Einstellung der Maschine, was angesichts der flexiblen Kundenproduktion 54 Vgl. Theobald Demuth, Eine moderne Maschinenbauwerkstätte, in: Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 43 (1897) 41, S. 1213 – 1218. 55 Benad-Wagenhoff, Industrieller Maschinenbau, S. 155. 56 Vgl. ebd., S. 150 – 152.
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und wechselhaften Konstruktion viel Zeit in Anspruch nehmen konnte. Hatte der Arbeiter Werkzeug und Werkstück an- und zugestellt, begann der eigentliche Spanungsprozess, während dem gekühlt und geschmiert werden musste. Ansonsten beinhaltete die Steuerung und Kontrolle auch das Messen und damit die Beobachtung des Herantastens an die Zielvorgabe. Nach dem Spanungsvorgang wurden Werkzeug und Werkstück zurückgestellt und nachdem die Maschine abgeschaltet war, jeweils ausgespannt.57 Allen Maschinenarbeitern war durch diesen Grundablauf bis in die 1890er Jahre ein zwar anstrengendes und intensives, aber auch sehr vielfältiges und differenziertes Tätigkeitsfeld garantiert, bei dem sie großen Einfluss auf die Qualität des herzustellenden (Teil-)Produktes hatten. Der Stand der Maschinentechnik und die Form der Produkte begünstigten das Vorherrschen des Faktors Mensch, ohne dessen Entscheidung die Maschinen weder liefen noch selbsttätig die Arbeit verrichten konnten. Die Produktion war nichtautomatisch, flexibel und auf die Steuerung durch den Arbeiter angewiesen. Eine Simplifizierung der Arbeitsprozesse gestaltete sich daher ebenso schwierig wie deren Kontrolle, denn eine wirksame Arbeitsaufsicht hätte neben verfügbarer Zeit und umfangreicher Arbeitserfahrung auch vorausgesetzt, das Verhältnis von Arbeitsqualität und -geschwindigkeit messen zu können. Für den Arbeiter resultierte daraus die Chance, die Verausgabung seiner Arbeitskraft relativ einfach zu regulieren, weil er stets Herr über den eigenen Arbeitsrhythmus blieb. Bei allen Parallelen im Arbeitsablauf und den Dispositionsspielräumen unterschieden sich die Tätigkeiten der Maschinenarbeiter je nach Beruf und Maschine aber auch fundamental in Fragen der Qualifikation, Arbeitsintensität, Lohnform, Lohnhöhe und Rationalisierungsmöglichkeiten. Einzig die Dreher, die von vielen als bestqualifizierte Arbeiter der Maschinenbauindustrie bezeichnet wurden und sich diesen Status innerbetrieblich auch selbst beimaßen,58 hatten in der Regel eine drei- oder vierjährige Lehrzeit absolviert, während alle anderen Arbeiterkategorien (Hobler, Stoßer, Fräser, Bohrer, Schleifer) als „angelernt“ gelten mussten. Sie waren zum überwiegenden Teil aus der Gruppe der Hilfsarbeiter aufgestiegen und an einer Maschine tätig, deren Bedienung in wenigen Monaten erlernt werden konnte. Dieser Umstand machte sie in der Ausübung ihrer Tätigkeit zwar nicht weniger selbstständig, berührte in Form der Qualifikation aber die Möglichkeit ihrer leichten Ersetzbarkeit und damit ihren innerbetrieblichen Status. Im Gegensatz dazu entsprang der halbautonomen und hochanspruchsvollen Arbeit der meisten Dreher nicht nur ihre relative Sicherheit in Jahren des Facharbeitermangels, sie war auch Grundlage für die Herausbildung eines eigenen Dreher-Selbstbewusst-
57 Vgl. ebd., S. 151. 58 Vgl. Martens, Dilemma, S. 147.
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seins, das sich aus der eigenständigen Tätigkeit an komplizierten Maschinen und der hohen Bedeutung für den gesamten Industriezweig speiste.59 Sowohl für den Betrieb selbst als auch in den innerbetrieblichen Beziehungen besaßen die Dreher daher eine herausgehobene Position, die auch bis ins 20. Jahrhundert hinein stabil blieb. Die Ursache dafür lag im Charakter ihrer Arbeit begründet, die verglichen mit den anderen Maschinenarbeiten weniger rationalisierbar war und deren Besonderheit auch Göhre in Chemnitz auffiel. So urteilte er, dass die Dreher über eine „größere Selbstständigkeit und Selbstthätigkeit“ 60 verfügen würden als die Bohrer und Hobler der Werkzeugmaschinenabteilung. Ihre Aufgabe war es, „Bolzen, Wellen, Kurbeln und Hebel so zu kürzen, zu formen, so mit Nuten, Rissen, Einschnitten und Spitzen zu versehen, daß sie für die neue Maschine sofort verwendbar sind, jedenfalls aber nur noch geringer Nachhilfe durch die Schlosserfeile bedürfen“.61 Diese Arbeiten geschahen meistens an einer Universaldrehbank, die dem Arbeiter zwar die Funktionen des Haltens und Führens von Werkzeug und Werkstück abnahm und damit den Arbeitsprozess punktuell maschinisierte, jedoch „ohne die ziemlich autonome Stellung der menschlichen Arbeitskraft anzutasten“.62 Im Vergleich zu den Bohrern und Hoblern hob Göhre daher auch das Moment des Dirigierens bei den Drehern besonders hervor und traf damit ziemlich genau den qualitativen Unterschied: Denn zum einen waren die Werkstücke der Dreher von rotationssymmetrischer Form und in ihrer Bearbeitung meist komplizierter als das Hobeln von Flächen und Bohren von Löchern; zum anderen verfügte ihre Arbeit in weit größerem Maße über den Charakter der handgesteuerten Maschinenarbeit. Die Anforderungen beinhalteten neben dem Tastsinn für Mess- und Prüfvorgänge, dem Wissen über die Maschine und den mathematischen Kenntnissen auch die Fähigkeit zu verfahrensspezifischen Entscheidungen. „Der Dreher wußte, welche Schritte nötig waren, beherrschte sie, legte ihre Abfolge fest und konnte bei Alternativen die richtige Auswahl treffen.“ 63 Zusammenfassend bot die Arbeit an der Drehbank also weitreichende Kontrollmöglichkeiten, Abwechslungsreichtum und ein hohes Maß an Arbeitsautonomie.64 59 Vgl. Alf Lüdtke, Lohn, Pausen, Neckereien. Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900, in: ders. (Hrsg.), Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 127. 60 Göhre, Drei Monate, S. 50. 61 Ebd., S. 50 f. 62 Volker Benad-Wagenhoff, Arbeitsmaschinen als Vergegenständlichungen von Rationalisierungskonzepten. Dreharbeit im Maschinenbau 1800 – 1914, Ein Beitrag zur Diskussion um die soziale Konzeptionierung von Technik, Mannheim 1992, S. 28. 63 Ebd., S. 27. 64 Vgl. Harry Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß, Frankfurt am Main/ New York 1985, S. 91.
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Die Tätigkeiten der Bohrer und Hobler beschrieb Göhre dagegen als das Gegenteil geistig anregender Fabrikarbeit. In selten unterbrochener Monotonie steht der Bohrer oder Hobler an seiner kleinen oder großen Arbeitsmaschine und läßt die Löcher, immer Löcher bohren, Flächen, immer Flächen hobeln. Immer wieder sieht er den Stahlhobel die Flächen pflügen und glätten, den Bohrer wie spielend in das Gußeisen graben. Immer wieder führt er der erhitzten Stelle kühlendes Seifenwasser zu, immer wieder fegt er die groben Späne beiseite, bläst er die feinen mit dem Munde davon. Die einzige Thätigkeit, die dabei kurze Zeit ein wenig geistiges Nachdenken und Aufmerksamkeit fordert, ist das richtige Aufstellen der zu bohrenden und hobelnden Stücke. Die Löcher müssen nach der Vorschrift des Anreißers genau senkrecht, die Flächen genau waagerecht werden. Darum muß mit hölzernen Böcken, mit Brettern und Pflöckchen, mit Hammer und Wasserwaage, mit eines oder mehrerer Handarbeiter Unterstützung die rechte, genaue und feste Lage für das Stück gefunden werden. Ist das aber geschehen, so beginnt zum millionenstenmale der Bohrer und Hobel seine Arbeit, zu der des Menschen Auge nichts weiter thun als immer nur zusehen und sie überwachen kann.65
Selbst wenn dieses Urteil die Anspruchslosigkeit der Arbeit überbewertet 66 – auf der Ebene der reinen Arbeitsverrichtung trennten diese Arbeiter Welten von den meisten Drehern. Auch müssen die Möglichkeiten, bei diesem Ablauf Arbeitsfreude und Arbeitsstolz zu empfinden, wohl als geringer eingeschätzt werden. Doch waren die hier beschriebene repetitive Gleichförmigkeit der angelernten Maschinenarbeit sowie ihre damit weitaus geringeren Qualifikationsvoraussetzungen und leichtere Ersetzbarkeit innerbetrieblich weniger ausschlaggebend, als dies zunächst scheinen mag. Denn für das Maß an Dispositionsspielräumen und Kommunikationsmöglichkeiten, den Charakter der Sozialbeziehungen und sogar für die Höhe des Lohns spielten sie oft nur eine untergeordnete Rolle. So wunderte sich Göhre zum Beispiel darüber, dass die Bohrer und Hobler an den größten Maschinen zu den Spitzenverdienern der Fabrik gehörten und ihr Lohn häufig weit über jenem qualifizierter Kräfte lag.67 Denn im Gegensatz zu den Schmieden, Gießern, Schlossern und Handarbeitern wurden die Maschinenarbeiter in der Regel im Einzelakkord 65 Göhre, Drei Monate, S. 49. 66 Zur Arbeit der Hobler und Stoßer gehörte auch eine ausgezeichnete Kenntnis des Materials, um Verspannungen im Guss, die aus dem Gießprozess resultierten, zu erkennen und mit Erfahrung die Zerspanung zu lenken, da besonders die großen Werkstücke nicht verderben durften. Vgl. John T. Usher, Moderne Arbeitsmethoden im Maschinenbau (deutsche Bearbeitung von August Elfes), 3. erweiterte Auflage, Berlin 1908, S. 95. 67 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 49 f. Zu den Lohndifferenzen vgl. auch Hermann Beck, Lohn- und Arbeitsverhältnisse in der deutschen Maschinenbauindustrie am Ausgang
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beschäftigt und erhielten auf Grund ihrer relativ selbstständigen Arbeit dadurch die Möglichkeit zu erheblichen Zuverdiensten (wofür sie viele der Stundenlöhner beneideten).68 Des Weiteren bemerkte Göhre, wie stark neben dem Lohn auch die Chancen, sich Spielräume zu eröffnen, von der Größe der Werkstücke und damit der Dauer ihrer Bearbeitung abhingen. Der Hobler an der größten Maschine sei ein Arbeiter, „der mit Hilfe von uns Handarbeitern die Eisenteile auf die tadellose Platte seiner Hobelmaschine hob, sie nur einzurichten und festzumachen brauchte und dann den Dampf die manchmal halbe Tage lange Arbeit thun ließ“.69 Und auch unter den Bohrern „hatten es diejenigen leichter aber auch noch langweiliger, die an größeren Maschinen standen“.70 Dagegen war bei den Arbeitern an den kleinen Maschinen in der Regel nicht nur der Verdienst geringer. Ihre Tätigkeit verlangte auch eine beständigere Konzentration sowie schnellere und sich wiederholende Handbewegungen. Insgesamt war die Möglichkeit freier Zeiten daher weniger von der Qualifikation und dem beruflichen Status abhängig, sondern ergab sich eher aus der Geschwindigkeit des Teiledurchlaufs an der Maschine und dem Charakter der Teile selbst. Manch ein Dreher, der an einer kleineren Drehbank wiederholt ähnliche Kleinteile bearbeitete, mochte daher den „großen Bohrer“ 71 um seine Arbeit beneiden. Verglichen mit den Hütten- und Walzwerkarbeitern waren die Dispositionsspielräume und arbeitsorganisatorischen Freiheiten in den mechanischen Werkstätten um 1890 aber trotz aller Differenzierungen immens. Schon während der Bearbeitung in den spanenden Werkstätten kamen die Maschinenteile meist in Kontakt mit den Schlossern, deren Aufgaben- und Tätigkeitsspektrum von allen Arbeitergruppen im Maschinenbau am breitesten war. Es handelte sich in dieser Phase der Zwischen- und Nachbearbeitung um Einzelschlosser oder so genannte Bankarbeiter, deren Schraubstöcke in der Nähe der Werkstätten angebracht waren und die in reiner Handarbeit für die Feinheiten am Werkstück zuständig waren. Nur selten mussten sie bei der Beseitigung der Unregelmäßigkeiten auf kleinere Drehbänke und Bohrmaschinen zurückgreifen; in der Regel gingen sie dazu mit Sägen, Meißeln, Feilen und Zangen vor.72 Da sie immer jene
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des 19. Jahrhunderts (= Untersuchungen über Arbeitslöhne), Dresden 1902; vgl. Ludwig Bernhard, Die Lohnsysteme in der deutschen Holz- und Metallindustrie, München 1898. Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 60. Für Stunden- und Akkordlohnunterschiede vgl. Hans Meidlein, Der Akkordlohn in der großindustriellen Maschinenindustrie, Nürnberg 1914. Göhre, Drei Monate, S. 50. Ebd. Die immensen Unterschiede für einen Maschinenarbeiter, die aus den differierenden Anforderungen bei großen Einzelteilen und massenhaften Kleinteilen resultieren konnten, beschrieben auch befragte Arbeiter in Adolf Levensteins Studien. Vgl. ders., Aus der Tiefe, S. 119 – 125. Göhre, Drei Monate, S. 50. Vgl. Martens, Dilemma, S. 139.
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Stücke bearbeiteten, die im jeweiligen Moment anfielen und ihre Werkstücke aus den verschiedensten Werkstätten bezogen, lässt sich ihre Stellung im Arbeitsprozess wohl am ehesten als „Mädchen für alles“ bezeichnen. „Bankarbeiter“ waren fast ausschließlich hochqualifiziert und verfügten über ein breites Erfahrungswissen über die unterschiedlichen Maschinentypen, Maschinenteile und Bearbeitungsverfahren. Von allen Arbeiterkategorien bedurften sie der größten Geschicklichkeit. Dabei brachte es ihre abwechslungsreiche und anpassungsfähige Tätigkeit mit sich, dass sie mit allen anderen Arbeitern in Kontakt kommen konnten und beinahe die gesamte Fabrik zu ihrem Arbeitsbereich gehörte. Auf Grund dieser Vielfältigkeit wurden sie in der Regel im Stundenlohn bezahlt. Es ist daher auch fast überflüssig zu erwähnen, dass Einzelschlosser die größten Dispositionsspielräume besaßen und ihre Arbeitstätigkeiten mit hoher Autonomie ausführten. Weitere Aufgabenbereiche dieser Gruppe waren die Reparatur, das Werkzeugmachen und das Anzeichnen. Sie arbeiteten darüber hinaus auch als Mechaniker, Revisoren und Kontrolleure.73 Hatten die Einzelschlosser die Nachbearbeitung (und in manchen Fällen auch die Teilmontage) abgeschlossen, wurden alle fertigen Einzelteile und teilmontierten Stücke wieder dem Monteur überwiesen, der nun mit seiner Arbeitsgruppe die Fertigmontage erledigte. Diese Arbeitseinheiten organisierte man gewöhnlich in einer Kolonnenform, die (abhängig von der Maschine) aus einer variablen Anzahl von Montageschlossern, Hilfsarbeitern und Lehrlingen zusammengesetzt war. Im Großmaschinenbau, etwa für Hüttenwerke, konnte eine solche Kolonne hunderte Arbeiter umfassen, sie wird bei den meisten Werkzeugmaschinen aber wohl aus fünf bis zehn Arbeitern bestanden haben.74 Für Göhre begann mit deren Tätigkeit der eigentliche Bau der Maschine. Die Tüftelarbeit, die, durch die Ungenauigkeit der Maschinen- und Handarbeit bedingt, dazu notwendig war, beschrieb er folgendermaßen: Unter der Leitung ihres Monteurs, immer die Zeichnung vor Augen, die Feile, den Hammer, den Meißel in der Hand, wurde ein Stück auf und in das andere gefügt, häufig nicht ohne größte Mühe. Denn nur in den seltensten Fällen paßten die Teile sofort zu einander; meist konnte gar nicht von jenen anderen Arbeitern mit der Akkuratesse und Genauigkeit vorgearbeitet werden, die das allein ermöglicht hätte. Überall gab es darum nachzuhelfen, zehnmal zu probieren, zehnmal die Sache auseinanderzunehmen, um sie auch das elfte und zwölfte mal noch vergeblich zusammenzupassen. Die glatten Flächen, die, nur rauh gehobelt, aufeinander zu laufen bestimmt waren, mußten – eine schwere Mühe – mit Glassand, Öl und Eisenstaub so lange eingeschmirgelt werden, bis sie dicht und fest aufeinander schlossen 73 Vgl. ebd. 74 Vgl. Carl Redtmann, Die Organisation der Montageabteilung einer Maschinenfabrik, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis 4 (1911) 1, S. 11 – 19.
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und doch glatt und leicht funktionierten. Zu dieser gefürchteten Arbeit wurden wir Handarbeiter mit Vorliebe herangezogen. Dann mußten rauhe Stellen abgeputzt, große Scheiben auf eiserne Wellen gekeilt, mit dem Handbohrer die der Maschine unzugänglichen Löcher gebohrt, Gewinde geschnitten, Bolzen und andere Stücke eingesetzt werden.75
Die Bandbreite der Arbeiten in der Montage machte demnach sowohl qualifizierte Schlosserarbeiten als auch Hilfsarbeiten notwendig, die, vor allem in kleinen Kolonnen, vom Monteur relativ zentral angeleitet und überwacht wurden. Im Gegensatz zu den Einzelschlossern waren die Montageschlosser daher einer effektiveren Kontrolle unterworfen, aber auch in eine Gruppe von Arbeitern eingebunden, die für einen ganzen Arbeitsschritt selbstständig verantwortlich war. Göhre maß ihrer Arbeit daher einen geradezu freiheitlichen Charakter bei, der im Kontrast zu den Maschinenarbeitern den Fortschritt an einem großen Ganzen erkennen lasse und in höherem Maße zu einer Arbeitsfreude und Zufriedenheit führe.76 Auf Grund des ineinandergreifenden Charakters dieser Prozesse und der gegenseitigen Zuarbeiten und Verantwortungen entlohnte man die Montagekolonnen im Gruppenakkord, der das allseitige Interesse am schnellen und genauen Fortgang der Arbeit sichern und darüber hinaus die Zusammenarbeit intensivieren sollte.77 Wie sich die Beziehungen in diesen Gruppen gestalteten, hing indes in hohem Maße von der Person des Monteurs und der Art und Weise ab, wie dieser seine Position als „Untermeister“ interpretierte. War die Maschine erfolgreich zusammengesetzt, wurde sie von den Hilfsarbeitern in den Probiersaal transportiert und dort so lange untersucht und getestet, bis sie einwandfrei funktionierte. Abschließend wurde sie vom Werkführer und zuständigen Monteur abgenommen, von den Lackierern farblich aufgefrischt und von den Packern versandfertig gemacht. Daneben existierte noch eine ganze Reihe von Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten, die mit dem Produkt als solchem kaum etwas zu tun hatten und die von Sattlern, Zimmerleuten, Klempnern und Malern, manchmal aber auch von Schlossern und Schmieden übernommen wurden.78 75 Göhre, Drei Monate, S. 51 f. 76 Vgl. ebd., S. 52. Die Idee, dass hochqualifizierte und besonders vielseitige Arbeitsaufgaben zu einer höheren Arbeitszufriedenheit führen würden, gehörte zu einer der vielgeäußerten Meinungen der Zeit und beschäftigte neben Göhre auch Beobachter wie Levenstein oder später Hendrik de Man. Vgl. Hendrik de Man, Der Kampf um die Arbeitsfreude: eine Untersuchung auf Grund der Aussagen von 78 Industriearbeitern und Angestellten, Jena 1927. 77 Vgl. Martens, Dilemma, S. 143. 78 Der Berufsgliederung eines Maschinenbaubetriebs verliehen diese Tätigkeiten eine große Ausdifferenzierung, die sich erst im Zuge weitergehender Mechanisierung und des Austauschbaus etwas verringerte. Vor allem die Arbeiter- und Berufslisten des frühen Maschi-
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2.1.2 Arbeitsbeziehungen, Machtbeziehungen, Eigen-Sinn Das Verhältnis zwischen Meistern und Arbeitern
Auch wenn bisher vor allem die hohe Arbeitsautonomie und die technisch-organisatorisch bedingten Dispositionsspielräume der Maschinenbauarbeiter betont wurden, muss vor einer allzu romantischen Überschätzung des libertären Arbeitscharakters im flexiblen Werkstattsystem gewarnt werden. Denn auf der Ebene der Arbeitsbeziehungen konnten in den Betrieben genau wie in den Hüttenwerken der knallharte Befehlston und die Antreiberei durch die Meister vorherrschen. Besonders in Phasen schwacher Konjunktur, wenn die Ausweichmöglichkeiten selbst für Qualifizierte rar wurden, zeigte sich der betriebliche Umgangston von der härtesten Seite. Doch trotz der straffen Hierarchien im Arbeitsprozess unterschieden sich die produktiven Machtbeziehungen in der Maschinenbaufabrik fundamental von jenen in der Eisen- und Stahlindustrie zu dieser Zeit. Dies lag entscheidend daran, dass unter den geschilderten Bedingungen der Fertigungsorganisation ein großer Teil der Abläufe der Kontrolle durch den Arbeitgeber entzogen war – ein Umstand, der den Sozialbeziehungen im Betrieb ihre Prägung gab: Das aus Flexibilitätserwägungen heraus in Kauf genommene Kontrolldefizit schuf eine betriebliche Logik, die viele Züge eines „Produktionspaktes“ 79 zwischen Unternehmer und Arbeiterschaft aufweisen konnte und deren Rahmenbedingungen in einem immerwährenden Aushandlungsprozess aber auch tagtäglich neu (in der Regel auch informell) eingeschliffen werden mussten. So befanden sich die Arbeiter besonders mit den Meistern in einem ständigen Kleinkrieg um die Ausgestaltung eines Rahmens, der beiden Seiten von oben diktiert wurde. In diesem Konflikt, der sich oft nicht um die „harten Fakten“ wie Lohn und Arbeitszeit drehte, verfügten die Meister freilich über breitere Machtressourcen, konnten sich jedoch, wenn sie ihr befohlenes Soll erreichen wollten, den Wünschen und Meinungen ihrer Arbeitsgruppen auch nicht gänzlich entziehen. Es blieb für sie daher erzwungenermaßen zum Teil von Belang, wie die Arbeiter „tickten“ und wie es im Falle der Kolonnenarbeit in der Gruppe untereinander aussah. Aus Sicht der Arbeiter lässt sich dieses Verhältnis wohl am ehesten als „Entgegenkommen mit Voraussetzungen“ umreißen: Sie waren sich darüber im Klaren, dass selbst ihre täglich erfahrbare Gegenmacht „nur“ angestellt war und ihnen häufig, wie in der Situation des offenen Streits zweier nenbaus erhielten dadurch ihre besondere Vielfalt und Unübersichtlichkeit. Vgl. Rudolph Strauss, Die Lage und die Bewegung der Chemnitzer Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1960, S. 59. Vgl. auch Göhre, Drei Monate, S. 52. 79 Thomas Welskopp, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: GG 22 (1996), S. 133.
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eister zu ihrer Belustigung,80 auch uneinheitlich gegenübertrat. Sie ließen sich ihr M Entgegenkommen im Arbeitsprozess durch vergleichsweise hohe Löhne bezahlen, hielten den labilen Pakt aber auch nur ein, wenn die Meister und Ingenieure den Bogen nicht überspannten. Dies schloss auch ein langfristiges Erdulden harscher Behandlung und willkürlicher Lohnkürzungen nicht aus, hatte seine Grenze aber für viele Arbeiter in ihrer persönlichen Würde, also in einem nicht kodifizierten und von der Situation abhängigen Empfinden der Ungerechtigkeit und Verletzung des Anstands. Göhre schrieb hierzu: Hier aber, wo der ehemalige Meister selbst nicht mehr selbstständiger Herr ist, nahm die Sache sofort einen demokratischen Charakter an, der es bewirkte, daß der Arbeiter sich ohne geschriebene Satzungen und Paragraphen soweit den Anordnungen der nunmehr selbst subalternen Vorgesetzten beugt, als sie der Betrieb verlangt und seine persönliche Würde achtungsvoll anerkannt wird.81
Bereits in diesem Zitat werden zwei zusammenhängende Motivationen deutlich, die sich während des gesamten Untersuchungszeitraums immer wieder nachweisen lassen und auch für das Verhältnis zwischen Gewerkschaft und Mitgliedschaft einige Bedeutung besaßen: Zum einen ist damit der Umstand gemeint, dass die meisten Arbeiter wohl kaum etwas gegen eine betriebliche Unterordnung einzuwenden hatten, solange diese nur durch die Fachkenntnisse des Meisters oder Monteurs begründet war und dieser die unsichtbaren Linien der Klasse und der Würde nicht überschritt. Dieses spezifische Meisterbild, das zugleich als Spiegelbild der Interpretation der eigenen betrieblichen Position und Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe diente, ließ sich in Maschinenbau und Hüttenindustrie bis 1933 (und darüber hinaus) gleichermaßen beobachten. Der Schriftsteller Erik Reger, von 1919 bis 1927 als Pressereferent bei Krupp beschäftigt, brachte es 1931 in seinem Roman „Union der festen Hand“ auf den Punkt. Er hielt über das Verhältnis zwischen Arbeitern und Vorgesetzten fest: So wenig die Arbeiter wollen, daß der Vorgesetzte ein Knotenstock oder ein Klugscheißer sei, so wenig wollen sie, daß er ein Waschlappen sei, und so wenig sie vertragen, daß er sich hochmütig gebärdet, so wenig vertragen sie, daß er mit ihnen auf gleicher Stufe verkehrt. Sie wünschen niemanden, der von oben auf sie heruntersieht, aber sie wünschen jemanden, zu dem sie aufsehen können, wann und sooft ihnen das Bedürfnis aufzusehen kommt. Sie haben Achtung vor tüchtigem Fachwissen und sind vernarrt in die Formel: STRENG, ABER
80 Vgl. ebd., S. 85. 81 Ebd., S. 86 f.
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GERECHT. Das ist alles, was der Vorgesetzte zum Jonglieren braucht. Er darf seinen Unter-
gebenen nie das Gefühl verleihen, daß sie ihn erdulden müssen, weil sie die Schwächeren sind; er muß ihnen das Gefühl verleihen, daß sie ihn dulden können, weil er der Stärkere ist.82
In auffällig ähnlicher Weise hatte sich auch vierzig Jahre zuvor schon Paul Göhre über einen Meister in Kappel geäußert, der beliebt gewesen sei, weil er neben hohem Fachwissen und Erfahrung auch die Begabung besessen habe, den Spagat zwischen Inklusion und Exklusivität gegenüber seinen Arbeitern zu schaffen.83 Hier lag nämlich die besondere Schwierigkeit der Position des Meisters im Betrieb: Sein Verhältnis zu den Arbeitern verlangte eine Halbdurchlässigkeit, da die Grenze einerseits niemals völlig aufzulösen war, aber andererseits immer wieder Annäherungen nötig machte, die aus dem Druck des Managements und der Produktionsorganisation resultierten. Die Rolle des Meisters als Prellbock und Vermittler gehörte daher zu den kompliziertesten sozialen Aufgaben, die der Maschinenbaubetrieb zu bieten hatte, und wurde im Vergleich zur Hüttenindustrie eben dadurch erschwert, dass ein „Durchregieren“ mit harter Hand unter den Bedingungen der flexiblen Fertigung kaum möglich war. Sollte die Idee des „Produktionspaktes“ rentabel funktionieren, kam es also besonders auf ihre Person an. Zum anderen suggerierte Göhre mit seiner Hervorhebung der persönlichen Würde aber auch schon ansatzweise, welch einschneidende betriebliche Folgen aus der Übertretung der Grenzen des Anstandes resultieren konnten. Das ausdrucksstärkste Moment stellte dabei sicherlich der spontane Streik von Belegschaftsgruppen dar, wie er oft nach Maßregelungen der Kollegen durchgeführt und abrupt wieder abgebrochen wurde. Obgleich nur die wenigsten Fälle auf diese Weise endeten, wurden sie dennoch als akute Bedrohung des gewerkschaftlichen Disziplinanspruches betrachtet und daher von Unternehmern und Gewerkschaftern meist einmütig verurteilt. In den meisten informellen Auseinandersetzungen 82 Erik Reger, Union der festen Hand. Roman einer Entwicklung, Nachdruck der Neuauflage von 1946, Berlin 1991, S. 195. 83 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 84. Hinzu kam, dass sich die Meister und Ingenieure in Chemnitz scheinbar immer stärker dessen bewusst wurden, wie sich ihr Verhalten gegenüber den Arbeitern auf deren Organisations- und Konfliktbereitschaft auswirkte. So berichten die Korrespondenzen aus Chemnitz in der MAZ davon, dass Vorgesetzte an der Verhinderung einer Veröffentlichung bestimmter unpopulärer Maßnahmen in der „Volksstimme“ interessiert waren. Vgl. Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 26 (1908) 40, S. 327. (Die lokalen Korrespondenzen und Berichte in der Metallarbeiter-Zeitung blieben bis auf wenige Ausnahmen ohne Autorennennung. Zur Entwicklung der MAZ vgl. Kurt K oszyk, Die „Metallarbeiter-Zeitung“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs- Zur Geschichte der Gewerkschaftspresse, in: Heinz Oskar Vetter (Hrsg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung, Köln 1975, S. 175 – 197).
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mit dieser Ursache nutzten die Arbeiter allerdings die Möglichkeiten, die ihnen der Charakter des Arbeitsprozesses bot, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. War das Verhältnis zu einem Meister „gestört“, gehorchte man zwar auf den ersten Blick weiterhin ohne Widerrede, es bestand aber unter den Kollegen eine stille Übereinkunft, die eine kollegiale Meidung dieser Person vorsah und nach der man Neueintretende vor ihr warnte. Im Arbeitsprozess behielten die Kollegen „ihm gegenüber eine gewisse stolze Reserve, wiesen jede scheinbare Annäherung von seiner Seite zurück und hatten auf seine Anordnungen oft nur ein heimliches überlegenes Lächeln“.84 Auf das als entwürdigend empfundene „Du“ eines Meisters, das die Idee der Gruppenzugehörigkeit verletzte,85 brüllte man diese Anrede auch schon einmal zurück oder schnitt die Person für eine Weile; Grobheiten zahlte „man meist mit gleicher Münze“ 86 zurück – alles Anzeichen, die das innerbetriebliche Verhältnis trotz der formalen Befehl-Gehorsam-Kette eher als Spiel beinahe Ebenbürtiger mit gänzlich unterschiedlichen Machtmitteln ausweisen. An dessen Ende wogen die Befugnisse der Meister zwar schwerer; sie sahen sich auf Grund der informellen Strukturen in den Arbeitsgruppen im Maschinenbau aber einer wesentlich größeren Herausforderung gegenüber als in der Hüttenindustrie der 1890er Jahre. Handelte es sich bei solchen Methoden natürlich um vergleichsweise weiche Machtressourcen, die den Vorgesetzten vor allem persönlich trafen, entfalteten Praktiken wie die geschickte Herunterregulierung der Verausgabung durchaus zwingenderen Druck. Denn „Bummelei“ ließ sich im Maschinenbau nur schwer verfolgen und hatte bei der komplizierten, ineinandergreifenden Fertigungsorganisation zeitlich wie finanziell unabsehbare Konsequenzen. Das Verhältnis der Arbeiter untereinander
Die Sozial- und Machtbeziehungen zwischen Meistern und Arbeitern bildeten wohl für beide Seiten die als entscheidend empfundene Grenze im Betrieb, die sich insofern als ausgesprochen handlungsleitend herausstellte, als dass sich an der Bestimmung ihres Verlaufes alltäglich und auf verschiedensten Wegen abgearbeitet
84 Ebd. 85 Diese Grenze war natürlich beiderseitig: Ein Arbeiter, der sich bei einem Meister anbiederte oder „zu Kreuze kroch“, musste mit einer noch wesentlich härteren Behandlung rechnen. Er hatte alle Achtung verloren und konnte sogar völlig ignoriert werden. Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 67. 86 Ebd. In solchen Formen des Widerstands gegen alltägliche Unzumutbarkeiten erblickt Lüdtke jene Situationen im Arbeiterverhalten, die sich aus der individuellen Reaktion herauszulösen und eine kollektive Antwort herauszukristallisieren begannen. Vgl. Lüdtke, Lohn, Pausen, Eigen-Sinn, S. 138 – 143.
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wurde. Unterhalb der Meisterebene wurden die Strukturen von Kommunikation, Autorität und Macht hingegen verschwommener, komplizierter und meist weniger konfrontativ. Die betriebliche Stellung hatte nun nichts mehr mit einer empfundenen Klassenzugehörigkeit zu tun, sondern speiste sich aus Faktoren wie Qualifikation und handwerklichem Hintergrund, aber auch aus dem Alter, der Wertschätzung der Kollegen, der Herkunft und der Bedeutung der eigenen, möglichst anspruchsvollen Arbeit für den Betrieb. Eine besondere Position in diesem vieldimensionalen Koordinatensystem nahmen (wie schon angedeutet) die Monteure ein, deren Verortung in der Hierarchie auf Grund ihres intermediären Charakters noch am schwierigsten ist. Zum einen galten sie als „Untermeister“, verfügten über Kontroll- und Befehlsbefugnisse und pflegten meistens einen direkteren und persönlicheren Kontakt mit den Meistern. Zum anderen blieben sie ein Teil der Arbeiterschaft und ihrer Montagen. Durch diese Zwischenposition eröffnete sich ihnen ein großer Interpretationsspielraum und machte das Verhältnis zu den betrieblichen Instanzen nicht selten zu einer Frage des Personentyps. Vor allem im engen Arbeitskontakt zu ihren Arbeitsgruppen dürfte sich aber trotz des reellen Rangunterschiedes in der Regel die Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft herausgestellt haben. So berichtete Göhre: Ich hörte darum selten, daß einer von ihnen einem seiner Leute ein unzüchtiges Wort, einen Fluch, eine unedle Gesinnung verwies. Es war schon viel, wenn ein Monteur sich persönlich davon frei und dazu still verhielt; viel häufiger teilte man die Ansichten der Leute, fluchte und zotete selbst mit.87
Obgleich es dennoch viele Monteure gegeben haben dürfte, die ihre Stellung meistergleich auffassten und damit auch durchkamen, erlaubte ihnen die Fertigungslogik diese Haltung noch weniger als den Meistern. Durch die Beschränktheit ihrer Machtmittel und ihr „Stehen zwischen den Stühlen“ mit wechselseitigen Verantwortungen waren sie hochgradig auf ein funktionierendes Arbeitsklima in den Montagen angewiesen und sie wurden so konfliktscheuer gegenüber den Arbeitern. Bei diesen genossen sie je nach ihrer Art teilweise sehr hohes oder geringes Ansehen. 87 Göhre, Drei Monate, S. 82. Dennoch blieb die Monteursposition ein Spagat, denn machten die „Untermeister“ ihren Arbeitern zu viele Zugeständnisse (z. B. aus Sicht der Betriebsleitung oder der Meister zu hohe Löhne) wurden ihnen ihre Privilegien auch schnell entzogen. So entzog die Betriebsleitung der Werkzeugmaschinenfabrik Union im Jahre 1909 den Monteuren die Entlohnung der Schlosser, übertrug sie den Werkmeistern und nahm die Monteure noch dazu in Stundenlohn. Vgl. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1909, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1910, S. 1385.
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Darüber hinaus hing es ebenso von ihrer Person ab, wie stark sie eine Entlastungsfunktion für die Montagekollegen erfüllten; konnten sie doch den Kontrolldruck durch die Meister entscheidend reduzieren oder selbst zu einer strikten Kontrollinstanz werden. Über welche Kommunikationsmöglichkeiten und Dispositionsspielräume die Montageschlosser und Hilfsarbeiter verfügten, entschied sich daher meistens schon bei der Überweisung an einen bestimmten Vorarbeiter. Unter den Arbeitern existierten die Anweisungsstrukturen und Rangunterschiede vor allem zwischen den unqualifizierten Handarbeitern und den Maschinenarbeitern, Schmieden sowie Schlossern. Sie galten allerdings nur während der Arbeit: Außerbetrieblich und während der Pausen, darauf wies Göhre mehrfach hin, bestand zwischen ihnen keinerlei Hierarchie.88 Der Umgangston war auch hier rau und bestimmt, nahm aber ebenso Rücksicht auf die Regeln des Anstands und das persönliche Ehrgefühl eines jeden Kollegen. Wie diese soziale Praxis aussah und welche Folgen Verstöße gegen das „ungeschriebene Gesetz“ nach sich ziehen konnten, beschrieb der Theologe sehr anschaulich: Die Handarbeiter wieder gehorchten, sowie man sie nur anständig behandelte. Unteroffiziersmäßig anschnauzen ließ sich keiner. Wer es versuchte, wurde stillschweigend, ohne jede Verabredung, geboykottet; d. h. die Handarbeiter ignorierten ihn, kamen nicht in die Nähe seines Platzes, thaten als hörten sie ihn nicht, wenn er einen von ihnen anrief, und wenn dieser direkt an sie herantrat und eine Dienstleistung verlangte, hatte man immer angeblich etwas zu thun. In solchen Fällen mußte sich der Verlassene dann an den Meister wenden und diesen um Zuteilung einer Hilfskraft bitten. Beschwerte er sich aber dabei über einen von ihnen oder verdächtigte er ihn gar, und es kam heraus, so ging es ihm noch schlechter, und er wurde als „Fuchsschwanz“ erst recht beiseite liegen gelassen, hatte oft auch bei unserm Meister gar kein Glück. Darum war es immer auch für die Auftraggeber erwünscht, sich mit den Handarbeitern gut zu stellen, und wenn nötig, sie freundlich zu bitten. Die am meisten übliche Form der Aufforderung zur Hilfeleistung war die: He! Pst! Hast du Zeit? Ja.89
Die Maschinen- wie Handarbeiter der mechanischen Werkstätten waren sich also anscheinend bewusst, dass sie, zwar räumlich teilweise getrennt, gemeinsam an einem oder mehreren klar erkennbaren Endprodukten arbeiteten. Für die Erfüllung der jeweiligen Arbeitsaufgaben konnte deshalb auch auf keine der Teilarbeiten verzichtet werden. Man war durch die Art des Produkts und die Fertigungsorganisation zu einer Zusammenarbeit gezwungen, die alle Arbeitergruppen betraf und das Interesse am Ganzen aufrechterhielt. Besonders deutlich wurde diese „Notwendigkeits-
88 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 33, 80, 82 f. 89 Ebd., S. 80 f.
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Kooperation“,90 wenn Teile falsch bearbeitet worden waren, Unachtsamkeiten die Weiterarbeit einer anderen Gruppe behinderten und/oder am Ende in der Montage wenig zusammenpasste. In diesen Situationen „fürchtete [man] die berechtigten Vorwürfe und Klagen der Arbeitsgenossen, die einen […] zu unangenehmer Verantwortung zogen“.91 Das System der gegenseitigen Unentbehrlichkeit erzeugte auf diese Weise auch ein System gegenseitiger Kontrolle, in dem in der Regel die Schlosser der Nachbearbeitung die Beanstandenden waren, sich den jeweiligen Maschinenarbeiter einbestellten und ihn „nicht gerade in der zärtlichsten Weise von der von ihm verschuldeten fatalen Situation unterrichtet[en]“.92 Dass diese Vorwürfe aber dennoch jeden treffen konnten, verdeutlicht, wie ineinandergreifend und vernetzt die Produktion organisiert war und wie auf Grund dieser Tatsache jedem Arbeiter produktive Machtbeziehungen in unterschiedlichem Maße zuteil werden konnten. Der sich daraus entwickelnde Typ des Umgangs zwischen den Arbeitern ähnelte daher jenem mit den Meistern: Von oben oktroyierte Befehlsketten und Hierarchien hatten zwar ihre formelle Gültigkeit, schliffen sich aber unter den realen Kontroll- und Verantwortungsstrukturen zusehends ab und erzeugten ein widersprüchliches Nebeneinander, aus dem auch Göhre nicht so recht schlau wurde. Er zeigte sich verwirrt über „das wunderliche halb gleich halb untergeordnete Verhältnis der verschiedenen Arbeiterkategorien zu ihren Chargen, wenn ich so sagen darf, und zu einander“.93 Betriebssoziologisch betrachtet wunderte er sich über die manchmal chaotisch anmutende soziale Ausgestaltung eines Interaktionsrahmens, in dem jedes Individuum über Machtressourcen verfügte und in seinen Handlungsoptionen gebunden war.94 Meister wie Arbeiter sahen sich darin den gleichen Produktions 90 Alf Lüdtke, „Deutsche Qualitätsarbeit“, „Spielereien“ am Arbeitsplatz und „Fliehen“ aus der Fabrik: industrielle Arbeitsprozesse und Arbeiterverhalten in den 1920er Jahren – Aspekte eines offenen Forschungsfeldes, in: Friedhelm Boll (Hrsg.), Arbeiterkulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit, Wien 1986, S. 173. 91 Göhre, Drei Monate, S. 54. 92 Ebd., S. 52. Für die ideelle Grundlage eines Zusammengehörigkeitsgefühls der Maschinenbauarbeiter konnte dieser Umstand gegenseitiger Kontrolle sehr bedeutend sein. Er führte dazu, dass man sich nicht nur auf Grund der Klassenzugehörigkeit in einem Verhältnis zu den Kollegen befand, das für gemeinsame Interessen und deren Durchsetzung sprach – vielmehr war jeder Arbeiter Teil einer Schicksalsgemeinschaft über das zu produzierende Produkt, welches Einfluss auf das lohnbezogene Auskommen aller hatte. 93 Ebd., S. 86. 94 Vgl. Karl Lauschke/Thomas Welskopp, Einführung: Mikropolitik im Unternehmen. Chancen und Voraussetzungen beziehungsanalytischer Ansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: dies. (Hrsg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen
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zwängen unterworfen und führten formelle und informelle Auseinandersetzungen mit der ganzen Bandbreite der unterschiedlichen Methoden, die ihnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig zwang sie die Betriebs- und Arbeitsorganisation zur Kooperation, die vorangegangene Kontaktformen geradezu konterkarieren konnte. Diese wechselnden Formen der Zusammenarbeit und sozialen Interaktion waren Ausdruck von „Spielen“, bei denen weder die Teilnehmer und Regeln noch die Spielfelder und Ziele von vornherein feststanden.95 Im Kampf um die Spielregeln veränderte sich das Gleichgewicht der Spieler teilweise erheblich; es war aber auch abhängig von exogenen Faktoren wie der Konjunktur und der technischen Entwicklung, die als innerorganisatorischer Wandel die Kraftverhältnisse deutlich verschieben konnte. Eigen-Sinn
Dass die Beschäftigung im Betrieb für die Arbeiter (auch untereinander) einen Zwang darstellte, schlug sich in einem ganzen Komplex unterschiedlicher Verhaltensweisen nieder, die wiederum Ausdruck des „Spiels“ und Teil des Kampfes um die Regeln waren. Vor dem Hintergrund einer „Erfahrung der Fremdbestimmung“,96 den wohl alle Industriearbeiter in verschiedener Ausprägung geteilt haben dürften und der neben der Abhängigkeit als Lohnarbeiter auch die Unterwerfung unter ein betriebliches Herrschaftsverhältnis beinhaltete, konstituierten sich die Formen des Entfliehens aus diesem System. In ihnen manifestierte sich die empfundene Distanz zu den Zwängen der Industriearbeit; sie waren aber auch Ausdruck einer Schicksalsgemeinschaft, deren Umstände außerhalb ihres Einflusses lagen. Die Arbeiter zeigten Eigen-Sinn,97 der sich mehrdimensional in einem breiten Spektrum von Verhaltensweisen artikulierte, sich individuell und kollektiv äußern sowie gegeneinander oder gegen das Herrschaftsverhältnis selbst gerichtet sein konnte. Sein Charakter war fließend, entsprach in den seltensten Fällen einer rationalen Zielverfolgung und war daher auch meist nicht offen gegen die Betriebsordnung gerichtet. Eigen-Sinn verstieß zwar in der Regel gegen die Arbeitsordnungen, wollte aber nicht aktiv stören, sondern suchte nach einer Möglichkeit, den eigenen Platz und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen 1994, S. 9. 95 Vgl. Dietmar Süß, Mikropolitik und Spiele. Zu einem neuen Konzept für die Arbeiter- und Unternehmensgeschichte, in: Jan-Otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Karl Lauschke (Hrsg.), Kulturalismus, neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 123. 96 Jürgen Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800 – 1875, Bonn 1983, S. 139. 97 Vgl. Lüdtke, Lohn, Pausen, Neckereien, S. 138 – 143.
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in einem aufgezwungenen System zu finden und sich der eigenen Position zu versichern. Akte dieses Verhaltens geschahen deshalb oft im Stillen, besaßen überhaupt oft einen nichtsprachlichen Charakter und waren weit entfernt von einem Widerstandsgedanken. Man suchte nach verbliebener Deutungshoheit über sich selbst und die eigene Tätigkeit und wollte der Idee serviler Unterordnung und bloßer Dienerschaft etwas entgegensetzen. Eine lebhafte Folge dieser Suche zeigte sich vor allem in den Phasen der „Nichtarbeit“, die den Arbeitern Chancen bot, der empfundenen Zumutung punktuell zu entrinnen. So bildete das Zuspätkommen den am häufigsten sanktionierten Verstoß gegen die Arbeitsordnungen und verleitete in seiner Konstanz Generationen von Arbeitgebern zum Ersinnen funktionierender Kontrollmöglichkeiten. Gemeinsam mit den Versuchen der Arbeiter, ihren Arbeitsplatz früher zu verlassen – etwa durch das Putzen laufender Maschinen 98 – war es Sinnbild der Intention, keine Sekunde länger als nötig im Betrieb zu verbringen. Gleiches galt für die Pausengestaltung: Wenn es sich einrichten ließ, aß jeder Arbeiter zu Hause mit seiner Familie im angrenzenden Nichtwerksbereich, in einer Gaststätte oder generell an einem Platz, „der einem selbst gehörte“.99 Daraus entsprang die Möglichkeit, der zeitlichen und räumlichen Disziplin des Arbeitsprozesses für eine Weile zu entkommen. Während der Arbeitszeit war Eigen-Sinn dagegen zu einem großen Teil von der Existenz disponibler Zeit und von organisatorischen Spielräumen abhängig, die sich teilweise aus dem Produktionsprozess ergaben und teilweise illegal verschafft wurden. Besonders Ersteres weist deutlich darauf hin, dass es sich bei solchen Verhaltensweisen keinesfalls nur um die bedingungslose „anthropologische Konstante“ 100 und den Widerstand der kleinen Leute handelte. Eigen-Sinn hatte seine Voraussetzungen genauso wie die Arbeits- und Machtbeziehungen in den technisch-organisatorischen Zwängen der Produktion und kann als tägliche Reaktion auf den kapitalistischen Produktionsprozess daher auch vergleichend analysiert werden. Man sollte sich deshalb auch davor hüten, dieses Verhalten zum anekdotenhaften Anhängsel des betrieblichen Interaktions- und Aushandlungsprozesses zu degradieren. Nur weil sich einige Aspekte eigen-sinnigen Handelns konstant zeigten, bedeutet das nicht, den Begriff in seinem ganzen Potential verallgemeinernd anwenden und damit zur lästigen Begleiterscheinung „strukturellerer“ Beziehungen machen zu können. Denn je nachdem, wie die Zusammensetzung der Belegschaften, der Arbeitsprozess und 98 Über solche Praktiken berichtete die Chemnitzer Freie Presse bereits 1875. Vgl. Lothar Machtan, Zum Innenleben deutscher Fabriken im 19. Jahrhundert. Die formelle und die informelle Verfassung von Industriebetrieben, anhand von Beispielen aus dem Bereich der Textil- und Maschinenbauproduktion (1869 – 1891), in: AfS 21 (1981), S. 201. 99 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 33, S. 36; vgl. Lüdtke, Lohn, Pausen, Neckereien. 100 Welskopp, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld, S. 119.
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die Phänomene von Herrschaft und Kontrolle aussahen, konnte sich Eigen-Sinn verschieden artikulieren. Dies galt natürlich für die gemeinsamen Spielarten noch viel stärker als für die individuellen. Waren also Tagträumen, Fernweh, stilles Fluchen aber auch Diebstahl breit anzutreffen, stellten sich spontane Solidarisierungen und kollektive Aktionen als wesentlich voraussetzungsreicher heraus. So ist es demnach auch auffällig, wie stark sich die uns bekannten Zeugnisse aus dem Maschinenbau und der Eisen- und Stahlindustrie der 1890er Jahre unterscheiden: Im gemächlichen Arbeitstempo des Werkzeugmaschinenbetriebs,101 in dem produkttechnisch bedingt immer wieder konjunkturelle und technisch-organisatorische Spielräume auftraten, nutzten die Arbeiter die sich bietenden Zeiten zum Teil, um „bei sich selbst zu sein“.102 Besonders bei räumlich variablen Arbeiten der Schlosser und Hilfsarbeiter spazierte man gerne im Betrieb herum, machte schon einmal einen Weg mehr als notwendig und fing, wenn dem Arbeiter gerade danach war, mit Kollegen ein Gespräch an.103 Die Möglichkeiten dazu ergaben sich zum Beispiel durch den Weg in eines der Lager, durch das Nachbearbeiten der Werkzeuge und generell durch den immensen Transportaufwand im Werkstattprinzip. Man hing den eigenen Gedanken nach, hielt manchmal inne (Göhre sah den Zügen mit Fernweh hinterher)104 und füllte den Freiraum dadurch mit Alleinsein (als Wunsch der momentanen Distanzierung). Gleichzeitig ermöglichten die betrieblichen Umstände es aber auch oft, „mit anderen zu sein“: Lief ein Zerspanungsvorgang eines großen Werkstückes, kommunizierten der Dreher und seine Handlanger „von gleich zu gleich“ über alles, was momentan interessierte. Dabei spielten nun weniger die Machtbeziehungen eine Rolle als der Sachverstand, den man dem Kollegen beimaß. So bemerkten die Arbeiter in Kappel schnell, dass es sich bei Paul Göhre um einen „untypischen“ Arbeiter handelte, und konsultierten ihn auf Grund seines Wissens häufig bei lapidaren wie auch hochpolitischen und religiösen Angelegenheiten.105 Die Probier- und Tüftelatmosphäre der Fertigung schuf immer wieder Gesprächsphasen, in denen meist Zotenhaftes und Spaßiges im Mittelpunkt stand und sich die unterschiedlichen Vorlieben der Kollegen offenbarten, die aber in manchen Fällen auch politische und gesellschaftliche Fragen zum Gegenstand hatten. 101 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 59 f. 102 Alf Lüdtke, Arbeiterpolitik versus Politik der Arbeiter? Zu Unternehmensstrategien und Arbeiterverhalten in deutschen Großbetrieben zwischen 1890 und 1914/20, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986, S. 207. 103 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 76 ff. 104 Vgl. ebd., S. 40. 105 Vgl. ebd., S. 10 f.
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Daneben existierte eine Vielzahl von Verhaltensweisen, bei denen sich die Kollegen auf spielerische Art und Weise gegenseitig neckten, ärgerten und herausforderten. Einige dieser meist nonverbalen und dezidiert körperlichen Praktiken waren sogar ausgesprochen schmerzhaft und konnten für den Betroffenen peinlich enden. Vor allem Arbeiter mit stärkerem Bartwuchs, die sich nur am Wochenende rasierten, schnappten sich unvermittelt einen jüngeren Arbeiter ohne vergleichbare Gesichtsbehaarung, rieben ihre Wange schnell an der des Kollegen und waren sofort wieder verschwunden. Ein ähnlicher „Brauch“ in der Kappel’schen Fabrik war das so genannte Bartwichsen: Ein Kollege umschlang das „Opfer“ von hinten mit den Armen, und ein anderer strich ihm mit dem dreckigen Daumen den Oberlippenbart aus, woraufhin man sich köstlich amüsierte.106 Generell wiesen solche Spielchen eine unendliche Vielfalt auf und lassen sich im Werkzeugmaschinenbau während des gesamten Untersuchungszeitraums nachweisen.107 Man band Kollegen die Schnürsenkel zu, bewarf sie aus einem Versteck mit Sand oder Ton, zog ihnen den Stuhl weg, rieb riechenden Weichkäse unter die Drehbank oder lackierte Schlafenden die Brillengläser – kurz gesagt, man „meinte es miteinander gut“.108 Denn trotz der rauen Sitten und herben Späße dienten diese Formen nur in den seltensten Fällen der direkten Schädigung eines Kollegen; vielmehr wurde auf diese Weise ein existierendes Gruppenverhältnis ausgedrückt und eingerichtet, man vergewisserte sich der Zugehörigkeit und gegenseitigen Achtung (so seltsam das klingen mag). Aus diesem Grund trafen die Neckereien auch jeden Kollegen ungeachtet seines Alters und seiner betrieblichen Stellung, soweit er als Teil der Bezugsgruppe wahrgenommen wurde. Sie bildeten aber auch eine Art des Initiationsritus, mit dem Neueingetretene auf Herz und Nieren geprüft und in die Gruppe aufgenommen wurden. Verglichen mit dem Verhältnis zu den Meistern tat man hier genau das, was man den Angestellten versagte: Man trat sich gegenseitig „zu nahe“, tat dies aber kollektiv, immer nur punktuell und aus einem Gesichtspunkt der Gruppeninklusion heraus. Die dazu notwendigen Spielräume bot entweder der verworrene Arbeitsprozess selbst oder man rang sie „illegal“ der Arbeit ab, wobei man vom Kontrolldefizit in diesen Betrieben profitierte. Eigen-sinniges Verhalten schob sich also in die vorhandenen Zeitporen des Produktionsablaufes oder schuf sich diese Momente aus eigener Kraft, konnte sich in seiner sozial spielerischen Form aber in beiden 106 Vgl. ebd., S. 77 f. Bräuche wie das „Bartwichsen“ wiesen die Merkmale eigen-sinnigen Verhaltens beinahe prototypisch auf. Sie waren meist wortlos, dezidiert körperlich und richteten sich fast unbemerkt in Lücken des Arbeitsprozesses ein. 107 Vgl. Schilderungen des betrieblichen Eigen-Sinns in Kap. 4.1 und Kap. 5.1. 108 Ebd. Vgl. auch Wilhelm Richter, Allerlei Hänseleien, in: MAZ 29 (1911) 41, S. 329; vgl. Lüdtke, Lohn, Pausen, Neckereien; vgl. ders., „Deutsche Qualitätsarbeit“.
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Fällen nur unter eingeschränkten Überwachungsmöglichkeiten entwickeln. Da diese Voraussetzungen im Werkzeugmaschinenbau dieser Jahre häufig vorhanden waren, stand einer gruppeninternen Austragung eigen-sinnigen Verhaltens in Chemnitz weniger im Wege, als dies noch für das Ruhrgebiet zu zeigen sein wird. Es lassen sich aus Göhres Beschreibungen sogar Indizien dafür gewinnen, dass die verdeckte Widerständigkeit gegen die Verausgabung der eigenen Arbeitskraft hier solidarisch kontrolliert wurde: Es gab eine Reihe von Winkeln und Plätzen in der Fabrik, die einem auf eine halbe Stunde ein friedliches, auch vom Meister nicht bemerktes Ausruhen möglich machten. Oder ein guter Freund unter den Schlossern und Maschinenarbeitern betraute einen nur scheinbar mit einem Auftrag. Um dies zu verhüten, wurde ganz von selbst eine gegenseitige geheime Kontrolle geübt. Es gab unter uns besonders zwei, die sich gern einmal von der Arbeit drückten; auf sie hatten die andern ein besonders wachsames und scharfes Auge. Zwar sah man ihnen vieles nach; wenn sie es aber dann und wann einmal gar zu arg trieben, stellte man sie offen, ernstlich und nicht zart darüber zur Rede; das gab dann immer einen tüchtigen Streit und hatte zwischen den beiden Wortführern ein mehrtägiges oder mehrwöchiges Schmollen zur Folge.109
Ein solches Gruppenverhalten gegen die Zeitdisziplin des Betriebs veranschaulicht den fließenden, uneindeutigen und mehrdimensionalen Charakter von EigenSinn sehr treffend: Denn hier war man „mit anderen“ und Teil einer informellen, widersetzlichen Gruppenabsprache; gleichzeitig lag die Intention aber im „Beisich-selbst-Sein“ und dem kurzzeitigen Entfliehen aus dem Herrschaftssystem. Es scheint zumindest wahrscheinlich, dass das hohe Maß an wechselseitigem Vertrauen und Kontrolle bei solchen Aktionen nicht nur von der Arbeitsorganisation profitierte, weil sie die Dispositionsspielräume und das Kontrolldefizit mit sich brachte, sondern auch, weil auf der Ebene der Arbeits- und Machtbeziehungen eingeschliffene Verantwortungs- und Kontrollstrukturen sich auch auf den „außerdienstlichen“ Bereich erstreckten. Ein Beispiel mit weitreichenden Folgen für diese Abhängigkeit war etwa die kollektive Regulierung des Arbeitstempos durch die Maschinen- und Kolonnenarbeiter, in die auch ihre Monteure mit einbezogen werden konnten: Aus der technisch-organisatorisch bedingten Möglichkeit, über die Geschwindigkeit mitzubestimmen, entwickelten sich hier in manchen Fällen eingespielte und nonverbale Routinen abgestimmter Verausgabung, durch die sich Arbeiter kollektiv gegen eine Antreiberei schützten. Dadurch bewiesen sich die Kollegen gruppenintern gegenüber der Zeitdisziplin
109 Ebd., S. 80.
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und übten Verhaltensweisen ein, die sich manchmal auch auf mehr als den Arbeitsprozess erstreckten.110 Die gruppenintern kontrollierten Verhaltensweisen, die sich ja ebenfalls schon im Verhältnis zu den Meistern angedeutet hatten, zeigen damit auch, dass Eigen-Sinn kein rein individuelles und damit strukturell zu vernachlässigendes Arbeitermerkmal war – auf diese Weise konnte auch „langfristig angelegte (kollektive) Interessendurchsetzung begründe[t] und ermöglich[t]“ 111 werden. In dieser Eigenschaft wirkte Eigen-Sinn weit in den Bereich der Arbeits- und vor allem Machtbeziehungen hinein, indem Gruppenkontakte gefestigt, (positive) Zugehörigkeiten abgesteckt und sogar Widerstand im kleinen Rahmen organisiert wurde – allesamt Merkmale, von denen die gespaltenen Hüttenbelegschaften zu dieser Zeit weit entfernt waren. In beiden Fällen war Eigen-Sinn jedoch Teil des „Spiels“, und zwar nicht nur, weil die Facetten dieses Verhaltens eine zu kalkulierende Größe im Handeln der Betriebsleitungen darstellten, sich in unzähligen Beschwerden über die Renitenz der Arbeiter niederschlugen und daher auch zu einem der hintergründigen Motoren der Rationalisierung werden sollten. Vor allem in seinem solidarisch-kollektiven Potential übte Eigen-Sinn auch großen Einfluss auf den betrieblichen Arbeits- und Erfahrungsrhythmus aus und wirkte in die Aushandlungs- und Konfliktlogiken hinein. Gruppensolidaritäten und informelle Fabrikstrukturen zeigten sich demnach nicht nur im Rahmen der industriellen Gesellschaft und ihrer Spielregeln, sondern auch im versteckten Handeln gegen sie, wobei davon ausgegangen werden kann, dass diese Unterscheidung für die Arbeiter selbst keine große Rolle spielte; war doch ihr Verhalten in der Arena der betrieblichen Politik oft gerade nicht von der Intention der Störung getragen. Bei der Konstituierung einer realen Werkstattpraxis bildeten die anscheinend so divergenten Aspekte also nur zwei Seiten einer Medaille und sind deshalb für die Frage nach gewerkschaftlichen Anknüpfungspunkten auf betrieblicher Ebene beide von höchster Relevanz.
2.2 Der Chemnitzer DMV und der Maschinenbetrieb in der handwerklichen Phase Die Chemnitzer Metallarbeitergewerkschaftsbewegung vor 1891
Als sich im Juni 1891 in Frankfurt am Main auf dem Allgemeinen Metallarbeiter-Kongress der Deutsche Metallarbeiter-Verband als Industriegewerkschaft konstituierte,
110 Vgl. Lüdtke, Arbeiterpolitik versus Politik der Arbeiter?, S. 205 f. 111 Ebd., S. 208.
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blickte die Chemnitzer Gewerkschaftsbewegung schon auf eine mehr als zwanzigjährige Geschichte zurück. Mit dem Akutwerden der Gewerkschaftsfrage in den alten sozialdemokratischen Orten (um 1868) hatten sich hier die (für Sachsen typischen) vereinszentrierten Organisationen gebildet, deren Entwicklung in der Folgezeit auf das Engste mit der politischen Arbeiterbewegung verbunden war. Chemnitz nahm innerhalb dieser Prozesse in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle ein: Als frühe Hochburg der von Bebel und Liebknecht initiierten Partei war die Stadt eines der Zentren der Metallarbeitergewerkschaftsgründungen, die sich an der SDAP orientierten. Zwischen 1872 und 1874 war sie sogar Sitz der 1869 gegründeten „Internationalen Metallarbeiterschaft“.112 Allerdings offenbarte sich in der Verlegung des Vororts nach Braunschweig und der Kontrollkommission von Leipzig nach Hannover bereits ein weiteres wichtiges Charakteristikum der sächsischen Verhältnisse: Denn hier nahm die behördliche Repression besonders drastische Formen an. So ging der Mitgliederrückgang der Gewerkschaft zwischen 1872 und 1874 besonders auf Kosten der Metropolen im Königreich. In Chemnitz sank die Zahl der Mitglieder von 862 auf 370 und in Dresden von 250 auf 150.113 Die identitätsstiftende Funktion der Bewegung übernahmen bis in die frühen 1880er Jahre nun die älteren Krankenkassen, deren Führungspositionen schon zu dieser Zeit vor allem von Sozialdemokraten bekleidet wurden.114 Beide Faktoren, die Verfolgung durch die sächsischen Behörden wie auch der maßgebliche Einfluss der sozialdemokratischen Politiker, sollten bis 1918 prägendes Merkmal der sächsischen Metallarbeitergewerkschaften bleiben und ihnen ihren Platz in der stark polarisierten sächsischen Gesellschaft und Politik zuweisen.115 Nach der ersten Verbotswelle des Sozialistengesetzes wurde abermals die Pionierrolle der Chemnitzer Gewerkschaftsbewegung deutlich: Mit der Gründung des Vereins der Metallarbeiter für Chemnitz und Umgebung etablierte sich hier 1882 die nachweislich erste gemischte Lokalorganisation auf dem Reichsgebiet,116 auf die ähnliche Gründung in Dresden (1883) und Leipzig (1884) folgten. 1884 besaß der Verein ungefähr zweihundert Mitglieder und zählte damit zu den großen Vertretern seiner Art.117 Die sächsischen Vereine dieser politischen Richtung einte ihre
112 Der DMV in Zahlen, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Berlin 1932, S. 2. 113 Vgl. Willy Albrecht, Fachverein, Berufsgewerkschaft, Zentralverband. Organisationsprobleme der deutschen Gewerkschaften 1870 – 1890, Bonn 1982, S. 151. 114 Vgl. Ernst Heilmann, Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge, Chemnitz 1912, S. 214. 115 Vgl. Simone Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlreform in Sachsen 1895 – 1909, Weimar 1996, S. 62. 116 Vgl. Albrecht, Fachverein, S. 367. 117 Vgl. Emil Riemann, Correspondenzen. Chemnitz, in: MAZ 2 (1884) 23.
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gemeinsame Ausrichtung als Metallarbeiterfachvereine, die im Gegensatz zu den Branchenorganisationen in der Zusammenfassung aller Metallberufe die beste Möglichkeit des gewerkschaftlichen Aufbaus erblickten.118 Anders lagen die Meinungen jedoch im Streit zwischen Lokalismus und Zentralismus. Denn während Leipzig und Dresden wie die meisten sächsischen Delegationen auf dem Metallarbeiter-Kongress in Gera 1884 dafür stimmten, es bei lokalen Organisationen zu belassen, und dafür vor allem die restriktive vereinsgesetzliche Lage Sachsens ins Feld führten, war man in Chemnitz dazu bereit, das zentralgewerkschaftliche Experiment zu wagen. Unter besonderer Fürsprache Karl Riemanns trat der Chemnitzer Verein der Vereinigung der Metallarbeiter Deutschlands bei, die allerdings schon nach acht Monaten dem Sozialistengesetz wieder zum Opfer fiel.119 Die Fachvereine in Dresden und Leipzig wurden in der Folge ebenfalls verboten; der Chemnitzer Verein bestand mit stagnierender Mitgliederzahl bis 1891 weiter. Nichtsdestotrotz prägten diese Entwicklungen und Entscheidungen die Chemnitzer Gewerkschaftsbewegung der Metallarbeiter im Hinblick auf die Vorbedingungen des DMV in günstiger Weise: Bis auf die starke Branchenorganisation der Chemnitzer Former (1888 gegründet) fand der Branchengedanke bis 1891 kaum Eingang in die gewerkschaftliche Diskussion.120 Besonders die Schlosser als größte Berufsgruppe waren hier bereits sehr früh in berufsübergreifender Weise organisiert. Und mit dem Beitritt zur Vereinigung der Metallarbeiter Deutschlands verfügte man schon über zentralgewerkschaftliche Erfahrungen. Gegen beide Grundprinzipien der zentralen Industriegewerkschaft regte sich vielleicht auch deshalb in Chemnitz vergleichsweise wenig Widerstand.121 Die Verfolgungspraxis während der Jahre des Sozialistengesetzes 1878 bis 1890 schweißte den Metallarbeiterfachverein noch stärker mit der Sozialdemokratie zusammen, als dies ohnehin für die politische Gewerkschaft schon der Fall war. Unter dem Deckmantel des Fachvereins begann die örtliche SPD im Geheimen wieder mit der Arbeit und bezog auch einen großen Teil ihrer Gelder aus dieser Richtung. Um bei Versammlungsüberwachungen nicht aufzufallen, traten die Sozialdemokraten 118 Vgl. ebd. 119 Der DMV in Zahlen, S. 2; vgl. Albrecht, Fachverein, S. 372 ff., S. 389 ff. 120 Im Chemnitzer Fachverein der Metallarbeiter waren seit 1882 auch zahlreiche Former vertreten, die aber in den Jahren der Verfolgung und Stagnation (vor allem 1886 – 1887) zu einem großen Teil wieder austraten und zu Initiatoren der Branchenorganisation der Chemnitzer Former wurden. Ihr Vorsitzender war Ernst Grenz. Vgl. Correspondenzen. Chemnitz, in: MAZ 6 (1888) 26, S. 5. 121 Die frühen Jahre des DMV von 1891 bis 1893 waren von zahlreichen harschen Vorwürfen gegen den Hauptvorstand geprägt, die dem Unmut über das Prinzip der Zentralisation entsprangen, sich für Chemnitz aber nicht nachweisen lassen. Vgl. Verwaltungsbericht des Vorstandes zur I. ordentlichen Generalversammlung in Altenburg, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1893, S. 26.
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geschlossen der Gewerkschaft bei, die nur unter der Bedingung streng unpolitischen Verhaltens weiterexistieren durfte. Da die Verbotsgefahr dennoch sehr hoch war, bestanden in Chemnitz meistens zwei Vereine gleichzeitig, sodass einer einspringen konnte, sollte der andere aufgelöst werden. Zu Versammlungen und der Organisation der Agitation wählte man in der Regel Orte in der Nähe von Chemnitz (wie zum Beispiel Kappel), wo die Kontrollwahrscheinlichkeit geringer ausfiel.122 Aus diesen Jahren der Zusammenarbeit resultierten schließlich die freundschaftlichen Verbindungen und personellen Überschneidungen, die auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes und in der Frühphase des DMV das politische wie gewerkschaftliche Leben der Stadt bestimmten. Wichtige Träger dieses Bündnisses waren unter anderem die Brüder Karl und Emil Riemann sowie (der später omnipräsente) Robert Krause.123 Trotz aller Überlappungen und Kontinuitäten handelte es sich bei Partei und Gewerkschaften in den frühen 1890er Jahren jedoch um sehr ungleiche Partner. So lässt sich die für die Zeit vor 1878 getroffene Feststellung, „dass die Sozialdemokratie organisatorische Konsequenz eines gewerkschaftlichen Schwächephänomens war“,124 durchaus noch für die Frühphase des DMV nachweisen; handelte es sich beim Deutschen Metallarbeiter-Verband in diesen Jahren doch um eine vergleichsweise kleine und beruflich isoliert-einseitig aufgestellte Gewerkschaft, die weder über betrieblichen Anschluss noch über die Kompetenzen zur wirksamen Beeinflussung des Organisationsmilieus verfügte. In Anbetracht der Mitgliedschaft und der Erfolge der SPD in ihrem Stammland nach 1890 nahmen sich die Mitgliederzahlen des DMV als geradezu winzig und seine Mitgliederstruktur als relativ „altmodisch“ aus: Zwei Monate vor der Verbandsgründung bestand die Chemnitzer Metallgewerkschaftslandschaft aus vier Fachvereinen mit 688 Mitgliedern.125 Der bedeutendste war dabei der Branchenverein der Former mit 320 Mitgliedern, der gleichzeitig der größte Formerverein des Reiches war. Erst dahinter rangierte der allgemeine Metallarbeiterfachverein mit 200 Mitgliedern, der jedoch in seiner Größe seit 1884 stagniert hatte und nur noch knapp zum obersten Drittel im Reich gehörte. Die 122 Vgl. Strauss, Die Chemnitzer Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz, S. 67 – 75. 123 Robert Krause (1861 – 1924) war nach einer Schlosserlehre und Wanderschaft von 1892 bis 1898 Gewerbegerichtsbeisitzer in Chemnitz und danach für mehr als zwanzig Jahre der Vorsitzende der Chemnitzer DMV – Verwaltungsstelle (1898 – 1919). Zwischen 1900 und 1907 war er dazu Vorsitzender des Chemnitzer Gewerkschaftskartells. Von 1914 bis 1919 war er Chemnitzer Stadtverordneter und seit 1919 bis zu seinem Tode besoldeter Stadtrat von Chemnitz. Vgl. Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867 – 1933. Biographien, Chronik, Wahldokumentation, Ein Handbuch, Düsseldorf 1995, S. 564. 124 Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 231. 125 Vgl. MAZ 9 (1891) 15, S. 3 – 4.
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Vereine der Klempner (104 Mitglieder), der Feilenhauer (64 Mitglieder) und der Schmiede (ca. 50 Mitglieder) komplettierten das örtliche Durcheinander, in das, so die Intention der DMV-Gründungsversammlung in Frankfurt, der neue Industrieverband Ordnung bringen sollte. Jedoch gelang dies nur mit Abstrichen, weil sich nicht nur die Kongresse der Former und Mechaniker gegen einen sofortigen Anschluss an den DMV aussprachen, sondern auch der Verband der Schmiede dem DMV fernblieb.126 Bei den Chemnitzer Verhältnissen beschränkten die organisatorischen Trennungen das Startkapital für den jungen Industrieverband daher ganz besonders, blieben doch der Former- und der Schmiedeverein zunächst außen vor. Da die anderen Vereine in den DMV überführt wurden, dürfte die Mitgliederzahl im Sommer 1891 also ungefähr zwischen 350 und 400 gelegen haben. Tab. 1: Mitgliederzahl des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 127
in Chemnitz (1891 – 1900) 1891
ca. 350 – 4 00
1895
1083
1896
1329
1897
1630
1898
1508
1899
1710
1900
1727
Instrumente und Probleme des Chemnitzer DMV
Trotz einer Wachstumsrate, die zwischen 1891 und 1900 bei über 300 Prozent lag, konnte der DMV – verglichen mit dem Anstieg nach 1900 – in den ersten zehn Jahren seines Bestehens die absoluten Mitgliederzahlen in Chemnitz nur geringfügig verbessern. Dass er im Gegensatz zur Sozialdemokratischen Partei wesentlich
126 Vgl. Protokoll des Allgemeinen Deutschen Metallarbeiter-Kongresses und der Kongresse der Klempner, Schlosser, Former, Feilenhauer und Mechaniker zu Frankfurt a. M. 1891. Abgehalten vom 1. bis 6. Juni, Reprint, Köln 1991. Die Mechaniker traten kurz nach dem Gründungskongress dem DMV bei. Der Verband der Former blieb allerdings bis 1901 und der Verband der Schmiede bis 1912 dem DMV fern. 127 Über die Mitgliederzahlen zwischen 1891 und 1895 liegen leider keine Angaben vor. Vgl. Geschäftsbericht für das Jahr 1914, herausgegeben vom Deutschen Metallarbeiter-Verband, Verwaltungsstelle Chemnitz, Chemnitz 1915, S. 36; vgl. Jahresabrechnung, in: MAZ 14 (1896) 20.
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langsamer wuchs,128 obwohl beide Organisationen personell verquickt waren und oft gemeinsam auftraten, lässt darauf schließen, dass auch im Stammland der SPD von einem sich gegenseitig verstärkenden Organisationsmoment keine Rede sein konnte. Zu einer echten „zweiten Säule der Arbeiterbewegung“ entwickelte sich der DMV für die Arbeiter der Metallindustrie dementsprechend auch erst nach 1900. Nicht nur im Verkehr untereinander, auch in der Wahrnehmung der meisten Metallarbeiter im Betrieb dürfte die Partei in den 1890er Jahren die Hauptrolle gespielt haben. So wies Göhre etwa darauf hin, in der Kappel’schen Maschinenfabrik unter den Arbeitern keine Anzeichen für die Existenz des Metallarbeiterfachvereins erkannt zu haben, während sich Unterhaltungen und Diskussionen über den sozialdemokratischen Wahlverein häufig entsponnen hätten.129 In der Frühphase des Verbandes drückte sich diese Überordnung der Partei, die teilweise mit einem gewerkschaftlichen Inferioritätsgefühl einherging, vor allem in Mahnungen von Gewerkschaftern während der DMV – Versammlungen aus: Kollege Flemming sprach über den Mangel der Theilnahme der politisch organisierten Genossen an den Gewerkschaften den Wunsch aus, daß dieselben in ihren Versammlungen auf die Nothwendigkeit und die Pflicht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, hingewiesen werden möchten.130
Da diese Aufforderung kein Einzelfall blieb und sich auch andere wichtige DMVMitglieder aus Chemnitz dafür aussprachen, „daß die Kollegen nicht blos der politischen, sondern auch der gewerkschaftlichen Organisation angehören sollten“,131 deutet vieles darauf hin, dass Partei und Gewerkschaft in den frühen 1890er Jahren noch vielfach als Alternativen wahrgenommen wurden.132 128 Vgl. Frank Heidenreich, Arbeiterkulturbewegung und Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933, Weimar 1995, S. 47. 129 Obgleich Göhre die Fabrik kurz vor der Gründung des DMV besuchte, muss doch sein Bericht als Ausdruck für die betriebliche Schwäche der Metallarbeitergewerkschaften von Chemnitz gewertet werden. Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 89 – 93. 130 Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 10 (1892) 47, S. 5. 131 Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 10 (1892) 21, S. 4. 132 Zumindest für die Metallarbeiterorganisation muss den Bausteinen, die Adelheid von Saldern für einen „sozialdemokratischen Idealtypus“ aufstellte, partiell widersprochen werden. Trafen auch fast alle von ihnen auf das Chemnitzer Organisationsmilieu zu, so kam doch hier eindeutig die Partei zuerst, und der DMV konnte erst im Windschatten und schließlich gemeinsam mit der SPD in den Belegschaften an Boden gewinnen. Vgl. Adelheid von Saldern, Wer ging in die SPD? Zur Analyse der Parteimitgliedschaft in wilhelminischer Zeit, in: Gerhard A. Ritter/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, München 1990, S. 183.
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Die wichtigste Ursache für den sehr langsamen Anstieg der Mitgliederzahlen lag jedoch im Fehlen eines gewerkschaftlichen Transmissionsriemens, der die Maschinenbetriebe mit der örtlichen Organisation und ihrer Programmatik verbunden hätte. Auf Grund der betrieblichen Schwäche des DMV bestanden Gewerkschaft und Metallarbeiterschaft deshalb zum größten Teil nebeneinander her. Indem man sich methodisch weiterhin an der Fachvereinsphase orientierte und wie zuvor vor allem jene Arbeiter organisierte, die aus alten Handwerksberufen in die Industrie überwechselten, gelang es nicht, den Organisationskreis qualitativ wie quantitativ zu erweitern und in den Kernbestand der Chemnitzer Industriearbeiterschaft einzubrechen. Man verharrte bis in die Jahre um die Jahrhundertwende in der handwerklichen Phase, die sich vor allem durch die Beschränkung des Rekrutierungsfelds, die fehlende betriebliche Verankerung und die Bedeutung „handwerklicher“ Unterstützungsleistungen auszeichnete.133 Es wirkten dabei gewerkschaftliche Prägungen weiter, die man eigentlich mit der Gründung eines die Ressourcen bündelnden und an die industrielle Konzentrationsbewegung sich anpassenden zentralen Industrieverbandes für beendet wähnte. Sie fanden ihren offensten Ausdruck im Weiterexistieren lokaler Fachsektionen einzelner Berufsgruppen, die innerhalb der Ortsverwaltungen eine beruflich-handwerkliche Selbstständigkeit konservierten und so quasi eine Klientelpolitik im Industrieverband betrieben.134 Das wichtigste Instrument dieser Phase war die Mitgliederversammlung. Hier bearbeitete man die gewerkschaftlichen Tagesaufgaben, wählte die örtlichen „Funktionäre“, diskutierte die aktuellen Ereignisse und beschloss die Resolutionen, deren Wirkungskreis aber meist nicht über den Abdruck in der Metallarbeiter-Zeitung hinausreichte. Und obwohl der Verband in Chemnitz Mitte der 1890er Jahre keineswegs mehr klein war, blieb man hier in der Regel unter sich, weil die Fluk 133 Die Chemnitzer Delegierten Riemann und Zuckschwerdt betonten auf der zweiten Generalversammlung des DMV die überlebenswichtige Funktion vor allem der Wanderungsunterstützung für den Verband. Sie sei eines der besten „Agitationsmittel“, und schaffe man sie ab, „so werde der Verband zerstört“. Ihre Redebeiträge und auch ihr persönlicher Hintergrund sprechen für eine tiefe Verwurzelung eines handwerkszentrierten Gewerkschaftsbildes in den Köpfen der führenden Gewerkschafter aus Chemnitz. Vgl. Protokoll der II. ordentlichen General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes zu Magdeburg Restaurant „Friedrichslust“. Abgehalten vom 15. bis 19. April 1895, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1895, S. 60 f. 134 Der Interpretation, mit dem Ende des Sozialistengesetzes sei die erste, handwerkliche Phase der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung beendet gewesen, muss daher mit Blick auf die Organisationsentwicklung und -strategien des Chemnitzer DMV tendenziell widersprochen werden. Für diese Interpretation vgl. Friedrich Lenger, Die handwerkliche Phase der Arbeiterbewegung in England, Frankreich, Deutschland und den USA – Plädoyer für einen Vergleich, in: GG 13 (1987), S. 233.
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tuation den Aufbau einer größeren aktiven Mitgliedergruppe verhinderte und sich Mitgliedschaft generell nicht zwingend mit Teilnahme verband. Konnten die Mitgliederversammlungen in Chemnitz daher zum Teil auch außerordentlich gut besucht sein, kamen dennoch immer dieselben Gewerkschafter, und der Kreis der „Meinungsführer“ unter ihnen umfasste selten mehr als zehn Personen. Ein entscheidendes Merkmal dieser Phase bestand nun darin, dass man diese „Wohlfühlzone“ nur ungern verließ: Agitationsmaßnahmen wurden zwar diskutiert, liefen aber letzten Endes auf das Verteilen von Flugblättern hinaus, auf denen zu den Versammlungen eingeladen oder Kernpunkte der Programmatik vorgestellt wurden. Das Hinaustreten aus dem vereinsmäßigen Turnus und die Fühlungnahme mit der unorganisierten Arbeiterschaft gestalteten sich so auf eine höchst unpersönliche Art und Weise und blieben der Idee einer „Versammlungsorganisation“ verhaftet. Dies galt auch für die Konstituierung so genannter Agitationskomitees, mit denen die Döbelner Konferenz der sächsischen Metallarbeiter 1892 versuchte, die Werbung für den Verband in den ländlichen Regionen zu forcieren: Man bat die örtlichen Vertrauensleute, dem Komitee, das von Chemnitz aus geleitet wurde, die Namen geeigneter Einzelmitglieder zu übermitteln, welche dann zur Abhaltung von Agitationsversammlungen angehalten wurden.135 An der Grundausrichtung veränderte sich dadurch natürlich nichts – die außerbetriebliche Versammlung blieb das Allheilmittel der handwerklichen Phase. Überbrückt wurde diese weitgehende Trennung der gewerkschaftlichen und betrieblichen Ebene auch nicht durch das sächsische Vereinsgesetz und die behördliche Repression, die sich in der Anfangszeit des Verbandes noch teilweise als hinderlich erwiesen, mit denen die Gewerkschafter aber schnell umzugehen lernten und aus deren Existenz sie langfristig machen unverhofften Nutzen zogen. Bis zum Erlass des Reichsvereinsgesetzes 1908 verhinderte nämlich das „sächsische Juwel“ den Aufbau von Verwaltungsstellen im Königreich und zwang den DMV, die Metallarbeiter als Einzelmitglieder aufzunehmen.136 Die organisatorischen Folgen dieser Regelung hatten dabei wesentliche Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Verband und Mitgliedern und gaben den sächsischen Organisationsverhältnissen eine besondere, persönlichere Note. Denn dort, wo mehrköpfige Verwaltungsstellen unmöglich waren, übertrug der Stuttgarter DMV – Vorstand 137 die Amtsgeschäfte einem Vertrauensmann, der neben der Aufnahme der Mitglieder 135 Vgl. Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 10 (1892) 28, S. 5. 136 Vgl. Verordnung das Vereins- und Versammlungsrecht betreffend vom 3. 6. 1850, in: Gesetzund Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen Nr. 9 (1850), S. 140. 137 Dem Vorstand des DMV gehörten der 1. Vorsitzende, 2. Vorsitzende, Hauptkassierer und ein Sekretär an. Dazu kam gesondert die Redaktion der Metallarbeiter-Zeitung und der Verbandsausschuss.
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als Einzelzahler der Hauptkasse auch die Bücher führte, Beiträge einzog und über tägliche Verwaltungs- sowie Agitationsmaßnahmen entschied.138 Die Wahl dieser Zwischeninstanz musste laut Vereinsgesetz in öffentlichen Mitgliederversammlungen stattfinden, bei denen sich die Anwesenden eine Leitung selbst bestimmten und wonach sie ihr Wahlergebnis dem Vorstand als Vorschlag mitteilten. Diesem oblag im Anschluss die endgültige Entscheidung. Darüber hinaus überwachten die Mitglieder in den Versammlungen die Verwendung der Verwaltungskosten, die sich aus einem Drittel der Ortsbeiträge zusammensetzten. Alles in allem ermöglichte die Vertrauensmännerorganisation den Mitgliedern daher sowohl die Bestimmung eines örtlichen Vorstandsvertreters mit weitreichenden Kompetenzen als auch die Ausübung einer (freilich begrenzten) finanziellen Autonomie. Hinzu kam, dass sich aus der Verfolgungspraxis der Polizei und der Notwendigkeit einer ständigen Anpassung der Organisationsstrukturen ein integratives Moment ergab, welches die tägliche Erfahrbarkeit der Repression und den Stolz auf die eigenen Beharrungskräfte zu einer innerorganisatorischen Kohärenz verband. Im andauernden Kleinkrieg mit den Behörden entwickelte man einen gewissen widerständigen Nimbus, der langfristig auch den Metallarbeitern nicht verborgen blieb und dessen häufigster Ausdruck wohl in Geschichten darüber gelegen haben dürfte, „der Amtshauptmannschaft ein Schnippchen geschlagen zu haben“. Als beispielhaft dafür können unter anderem die Auseinandersetzungen zwischen dem Chemnitzer DMV und der Amtshauptmannschaft und Polizei in den Jahren 1895 und 1896 gelten: Durch das Mitgliederwachstum in den Fokus der Polizeidirektion gerückt, wurden Chemnitz und die Vororte Kappel, Gablenz und Hilbersdorf seit 1895 schärfer kontrolliert und nach kurzer Zeit die Institution der Vertrauensmänner als „Leiter von Vereinen“ verboten. Dabei nahmen die Behörden besonders Anstoß am Vorschlagsrecht der Mitglieder, der Finanzverwaltung und dem uneingeschränkten Recht der Vertrauensmänner, Mitglieder aufzunehmen.139 Das Ziel dieser Maßnahmen war die organisatorische Trennung vom Gesamtverband und damit die Separierung der örtlichen Gewerkschaftskerne von überregionaler Unterstützung. Auf dieses „Auflösungsfieber“,140 das auch Leipzig, Reichenbach und Glauchau erfasst hatte, antwortete der Vorstand um Alexander Schlicke 141 mit der 138 Vgl. Verhaltungs-Reglement für die Ortsverwaltungen und Vertrauensmänner des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1894, S. 35 ff. 139 Vgl. Protokoll der II. ordentlichen General-Versammlung des Deutschen MetallarbeiterVerbandes, S. 24 ff. 140 Emil Riemann, Landesversammlung der Metallarbeiter Sachsens, in: MAZ 14 (1896) 31, S. 4. 141 Alexander Schlicke (1863 – 1940) war zwischen 1895 und 1919 die mit Abstand wichtigste Persönlichkeit des DMV und auch danach politisch sehr einflussreich. Sein Leben und
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Einsetzung von „Verbandsagenten“ oder „Bevollmächtigten“, die als direkte Vertreter des Vorstandes nun zwar nicht mehr eigenmächtig Mitglieder aufnehmen durften, ihre alten Aufgaben aber weiterführten und bei Eintritten eine kurze Rücksprache mit der Verbandsleitung hielten. Hatte sich demnach eigentlich nur wenig geändert, zog Emil Riemann aus Chemnitz auf der Landesversammlung der Metallarbeiter Sachsens ein sehr positives Fazit aus den Ereignissen: Die Organisation sei nicht nur nicht zurückgegangen, die Vorkommnisse seien sogar förderlich für die Verbreitung des DMV gewesen und die Agitationsverhältnisse seien in der Folge in Chemnitz ausgesprochen „günstige“.142 Besonders die verstärkte Versammlungstätigkeit habe große Erfolge mit sich gebracht. Scheinbar ließen sich in solchen Fällen (wie auch bei Streiks) vorherrschende Lagermentalitäten verstärken und über emotionale Rekrutierung Mitglieder gewinnen. Es könnten deshalb auch solche Beweggründe gewesen sein, die den sächsischen DMV dazu veranlassten, sich nicht nur mit dem Vereinsgesetz abzufinden, sondern immer stärker auch seine Vorteile auszuloten. Bis 1908 hatte man sich schließlich so gut mit dem Gesetz arrangiert, dass man dem neuen reichsweiten Gesetz relativ skeptisch gegenüberstand.143 Durch die Implikationen, die sich aus dem „sächsischen Juwel“ für das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsverband, Gewerkschaftsmitgliedern sowie unorganisierter Arbeiterschaft ergaben, hatten sich die Behörden jedenfalls langfristig einen Bärendienst erwiesen. Dennoch handelte es sich bei der Vertrauensmännerorganisation nicht um ein System, das den nötigen Brückenschlag zwischen Organisationshandeln und Belegschaftshandeln im Betrieb herstellen konnte. Es war höchstens ein verbindendes Glied zwischen Vorstand und lokaler Organisationsebene, welches den Mitgliedern seine Gewerkschaftsarbeit gehören sicherlich zu den größten Desideraten der Arbeiterbewegungsforschung. Nach einer Lehre als Feinmechaniker (1881 – 1884) und nach der Wanderschaft war er zwischen 1889 und 1891 Vorstandsmitglied des Metallarbeiter-Fachvereins und Bezirksvertrauensmann der Metallarbeiter in Frankfurt am Main. Nach Gründung des DMV arbeitete er bis 1895 als hauptamtlicher Sekretär und war danach bis 1919 Erster DMV – Vorsitzender sowie zwischen 1905 und 1920 nebenamtlicher Sekretär des Internationalen Metallarbeiterbundes. 1917/18 vertrat er die Gewerkschaften als Sachverständiger im Kriegs- und Demobilmachungsamt in Berlin, war 1919 Württembergischer Arbeitsminister und zwischen 1919 und 1920 Reichsarbeitsminister. Von 1920 bis 1928 war er Direktor des Zweigamtes Berlin des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, danach im Ruhestand. Vgl. Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898 – 1918. Biographisch-statistisches Handbuch, Düsseldorf 1986, S. 198. 142 Ebd. 143 Vgl. Bericht für 1907. Nebst dem Bericht des Arbeiter-Sekretariats, herausgegeben vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz 1908, S. 13 – 16.
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zum Teil lokale Vorteile sicherte und sich daher meistens nur auf bereits organisierte Arbeiter bezog. Eine über den Transport des Gedankens staatlicher Verfolgung und die erzwungene Öffentlichkeit der Sitzungen hinausgehende Werbewirksamkeit für unorganisierte Metallarbeiter besaß es nicht. Die Vertretung durch Vertrauensmänner änderte demnach, genau wie zum Beispiel die Chemnitzer Bemühungen um das Gewerbeschiedsgericht,144 nichts an der für die handwerkliche Phase typischen außerbetrieblichen Ausrichtung gewerkschaftlichen Handelns. Ein Eindringen in die zentralen Bereiche der Chemnitzer Metallindustrie, vor allem in die mechanischen Werkstätten der Maschinenfabriken, war auf diese Weise nicht möglich. Dem DMV fehlte in den 1890er Jahren in Chemnitz demnach besonders die Fähigkeit, ein heterogenes Organisationsmilieu, wie es die Metallbranche aufwies, zu integrieren und zu mobilisieren. Denn anders als bei vielen angloamerikanischen Gewerkschaften war hier weder der Betrieb der Ort für die Gewerkschaftsgründung gewesen noch spielte dieser Bereich in den taktischen Erwägungen eine große Rolle.145 Die Metallarbeitergewerkschaften waren aus einem politischen und vereinsmäßigen Debattenthema entstanden und mussten, um die Verbindung zwischen Betriebs- und Lebenswelt und ihrem angestrebten „organisationszentrierten Milieubündnis“ 146 herzustellen, ein Instrument installieren, dessen Einfluss bis in die betrieblichen Arbeitsgruppen reichte. War man dazu nicht in der Lage, konnten auch betriebliche informelle Vorfeldstrukturen nicht kanalisiert und das solidarische Potential der Fabrikarbeit nicht erschlossen werden. Gleichzeitig reduzierte sich die Stammmitgliedschaft beinahe automatisch auf jene Berufsgruppen, die über eine solche Vorfeldstruktur verfügten und diese, meistens aus dem Handwerk, mit in die Fabrikbetriebe brachten. Dementsprechend dürfte die berufliche Mitgliederstruktur der Gründungszeit in Chemnitz auch noch einige Jahre später dominant gewesen sein.147 Der Verband rekrutierte sich vor allem aus Schlossern, Feilenhauern, Nadelmachern und jenen Schmieden und Formern, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in 144 Vgl. Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 10 (1892) 35, S. 5. 145 Vielmehr führten schon in der Frühphase der deutschen Gewerkschaften viele Elemente im Handwerk dazu, dass sich die Verbände „nicht wie in England entwickeln [konnten], sondern […] gegründet werden [mussten]“. Christiane Eisenberg, Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich, Göttingen 1986, S. 259. Und auch in den 1870er und 1880er Jahren konnte in den entstehenden deutschen Industrien von einer „Workplace Organisation“ keine Rede sein. Im Gegensatz dazu: vgl. Neville Kirk, Labour and Society in Britain and the USA, Bd. 2: Challenge and Accomodation, 1850 – 1939, Aldershot 1994, S. 62 – 109. 146 Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 232. 147 Die Jahresberichte des Kartells und des DMV setzen in Chemnitz erst nach 1900 ein. Daher stehen uns leider kaum Daten zur Gründungszeit des DMV zur Verfügung.
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Abb. 4: Das Werbeplakat als Mittel der Agitation
ihre Branchenorganisationen eintreten wollten. Kontakt zu den Drehern bestand rudimentär, während angelernte Maschinenarbeiter noch gar keine Rolle für den DMV spielten. Darüber hinaus muss auch ganz generell angenommen werden, dass sich diese Mitgliedschaft auf kleinere bis mittlere Werke verteilte und eine Verwurzelung in den Werkstätten der großen Unternehmen überhaupt nicht vorhanden war. Von einem Industrieverband konnte also weder im qualitativen noch im quantitativen Sinne die Rede sein. Vor diesem Hintergrund musste die Reichweite anderer außerbetrieblicher Agitationsmaßnahmen von vornherein als begrenzt gelten. So unternahmen führende Gewerkschafter in den 1890er Jahren oft und gerne Agitationsreisen, die ganze Bezirke abdecken konnten und nach der Methode „Ein Abend – Eine Versammlung“ funktionierten. In Sachsen wurden solche Touren unter anderem von Emil Riemann im März 1894 und von Karl Massatsch im Sommer 1898 unternommen.
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Beide berichteten von großen Erfolgen in Chemnitz; Massatsch hielt dort sogar sechs Versammlungen hintereinander ab.148 Dennoch relativierten auch beide Agitatoren das Bild insofern, als dass die Veranstaltungen in kleineren Orten häufig ausfielen und in den größeren Orten meistens dieselben Gesichter zu sehen waren. Die Werbewirkung für den DMV war daher besonders mit Blick auf die noch unorganisierte Arbeiterschaft gering. Deshalb muss man, so Riemann, „so großen Agitationsreisen den Werth absprechen […], der ihnen noch vielfach beigelegt wird“.149 An der sicherlich als schmerzlich empfundenen Wahrheit einer fehlenden Milieueinbindung und der Selbstverantwortung für die Integration und Mobilisierung der Arbeiter änderte auch diese Einsicht Mitte der 1890er Jahre noch nichts. Nichtsdestotrotz machte die Äußerung Riemanns auch deutlich, dass die handwerkliche Phase kein Jahrzehnt strategischer Stagnation darstellte – sie war ein Lernprozess, in dem Methoden der Agitation hinterfragt wurden und sich der handwerkliche Denkhorizont vieler Amtsträger langsam verschob. Im Nebeneinander unterschiedlicher Organisationsprinzipien und Handlungslogiken offenbarte sich dabei das „Ausklingen der von Handwerkern geprägten Phase in der deutschen […] Arbeiterbewegung“.150 Vorgewerkschaftliche Basisbeziehungen im Betrieb
Im Gegensatz zur Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets waren die betrieblichen Vorfeldstrukturen für den DMV im Chemnitzer Maschinenbau aber teilweise vorhanden. Schon Göhre beschrieb, obgleich er keine Erwähnung des Fachvereins bemerkte, in ausführlicher Weise die informellen Agitations- und Kommunikationskanäle der Sozialdemokratie, die nach der Jahrhundertwende die Basis des Organisationserfolgs des DMV darstellen sollten.151 Denn obwohl der Betrieb und die Sphäre täglicher Arbeit für die Agitation der politischen Arbeiterbewegung keine große Rolle spielten, kamen deren „fliegende Agitatoren“ dennoch nicht 148 Vgl. Karl Massatsch, Bericht über meine Agitationstour durch Sachsen, in: MAZ 16 (1898) 30, S. 5 – 6. 149 Protokoll der II. ordentlichen General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 14. 150 Thomas Welskopp, Transatlantische Bande. Eine vergleichende Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland und den USA im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ursula Bitzegeio/ Anja Kruke/Meik Woyke (Hrsg.), Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik, Bonn 2009, S. 30. 151 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 101 – 108. Zur Entwicklung der Parteiorganisation und der Mitgliederstruktur der SPD in den 1890er Jahren vgl. Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1869 bis 1917, Berlin 1987, S. 220 – 241, 302 – 336.
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ohne eine betriebsgestützte Vorarbeit ihrer überzeugten Genossen unter den Metallarbeitern aus. So schrieb Richard Schuster in seiner Studie zur „Social-Demokratie“ bereits 1876: Es mag nicht unerwähnt bleiben, daß die socialistische Agitation bei ihren Eroberungszügen auch ihre Eclaireurs hat. Wenn eine Gegend, ein industrieller Bezirk für den Socialismus neu erschlossen werden soll, so wird für gewöhnlich nicht mit einer „großen Volksversammlung“ der Anfang gemacht, sondern in aller Stille wandern einzelne Parteigenossen ein, die in Arbeit treten und bei der Arbeit in Werkstätten und Fabriken und bei sonstiger Berührung mit ihren Arbeitsgenossen den socialistischen Samen ausstreuen und für die „rote Fahne“ werben. Ist auf diesem Wege eine kleine Anzahl gewonnen, und für das öffentliche Hervortreten eines Agitators ein kleiner Stab gebildet und eingeschult, dann erst wird der Versuch gemacht, auch in öffentlicher Versammlung das Netz auszuwerfen. Der Agitator unternimmt keine öffentlichen Versammlungen, solange er sich nicht von einer zuverlässigen Leibgarde umgeben weiß.152
Die dabei „in aller Stille“ entstehende politische Arena des Betriebs und ihre Funktionsmechanismen faszinierten auch Göhre. Er interpretierte sie als eine Art stiller Meinungsführerschaft und als unsichtbaren Verständigungsweg hin zu einer „öffentlichen Meinung“: Ich merkte schon wenige Tage nach meinem Eintritt in die Fabrik, daß in solchen Fragen die gesamte Arbeiterschaft unsrer Abteilung unter einem gewissen undefinierbaren Drucke stand, und daß die Fäden dieser stummen Beeinflussung in den Händen ganz bestimmter charakteristischer Persönlichkeiten zusammenliefen. Wenn z. B. durch die Leiter der Fabrik irgend eine Neuerung in der Produktion, im Betriebe, in der Arbeitszeit, in der Löhnungsform eingeführt wurde, so konnte man genau beobachten, wie die Mehrzahl der Arbeiterschaft unschlüssig, zagend mit ihren eigenen Ansichten und Urteilen zurückhielt, bis auf einmal die Parole ausgegeben, die „öffentliche Meinung“ gebildet erschien. Und wenn sie auch vielen der Leute nicht paßte, ja deren augenblicklichen Interesse direkt entgegenstand und darum deutlich von ihnen gemißbilligt wurde, so war sie doch eine Macht, die man respektierte, und gegen die man offen nur selten Einspruch zu erheben wagte.153
Diese Einschätzung mag zwar einerseits etwas zu verallgemeinernd gefasst und vom bürgerlichen Unverständnis gegenüber der „geheimnisvollen Kraft der Sozial 152 Richard Schuster, Die Social-Demokratie. Nach ihrem Wesen und ihrer Agitation quellenmäßig dargestellt, Stuttgart 1876, S. 7 f. zitiert nach Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit, S. 436. 153 Göhre, Drei Monate, S. 102.
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demokratie“ beseelt gewesen sein (was auch die geradezu telepathische Übertragungsgeschwindigkeit erklären würde), zeugt aber bei einer realistischen Sicht andererseits auch vom guten Funktionieren der betrieblichen Kommunikationswege und der Möglichkeit, schnell eine von den meisten Arbeitern getragene Gegenposition zu finden. Bei einer solchen betrieblichen Basispolitik hing viel von einzelnen Persönlichkeiten ab, die ihre fallabhängige Deutungshoheit nur erlangen konnten, wenn die Kollegen über ihre politische Position informiert waren und sie als Führer anerkannten. Göhre beobachtete weiter, dass eine offene und direkte Werbung dieser organisierten Kollegen während der Arbeit auf Grund der Kontrolle durch die Meister und Direktoren beinahe unmöglich war. Wer sich dennoch bei der Überzeugungsarbeit erwischen ließ, musste in der Regel mit der Entlassung rechnen.154 Allerdings wurde dies sowieso selten riskiert, da sich die indirekten Agitationsformen nicht nur als ungefährlicher, sondern auch als wirkungsvoller herausstellten. Dem flüchtigbeiläufigen und vom Moment abhängigen Charakter der betrieblichen Agitation widmete der Theologe daher seine besondere Aufmerksamkeit: Sie huldigten vielmehr einer andern für sie bequemern Art der Agitation, die jener planmäßigen, von einer Zentralstelle geleiteten und gut funktionierenden nebenherging. Man kann sie im Gegensatz zu dieser die mehr freiwillige, irreguläre, zufällige, dem Ermessen, dem augenblicklichen Empfinden, den Fähigkeiten, der Gesinnungstreue der einzelnen Anhänger überlaßne nennen. Sie war mit einem Worte der persönliche Einfluß, den der sozialdemokratische Arbeiter auf den noch nicht oder erst wenig sozialdemokratischen Genossen ausübt […]. Sie war wichtiger, bedeutsamer, verhängnisvoller als jene, aus der sie zwar ihre Kraft, ihre Gedanken, ihre ganze geistige Nahrung und immer neuen Antrieb empfing, der sie aber ihrerseits auch erst Leben und Nachdruck verlieh. Sie wurde nicht sonderlich kon-
154 Generell ließ sich eine zeitraubende Agitation für die SPD oder den DMV mit den langen Arbeitszeiten im Betrieb nicht lange vereinbaren, ohne an körperliche Grenzen oder eben die Bestimmungen der Arbeitsordnungen zu stoßen. Die Professionalisierung des Berufs Partei- oder Gewerkschaftssekretär löste sich daher schnell von dieser Doppelbelastung. Vgl. Klaus Tenfelde, Arbeitersekretäre, Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914. Erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Autor am 19. 11. 1992 an der Universität Heidelberg gehalten hat (= Kleine Schriften der Stiftung Reichspräsident-FriedrichEbert-Gedenkstätte, Bd. 13), Heidelberg 1993; vgl. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 423 f.; der zügige Wechsel von der Doppelbelastung hin zur hauptamtlichen Tätigkeit für den DMV ist in fast allen im Rahmen dieser Arbeit zitierten Sekretärsbiographien vorhanden. Wenige Jahre nach dem Organisationsbeitritt und einem intensiven Engagement folgte in der Regel die Anstellung als Sekretär oder Redakteur bei einer der zahlreichen Publikationsorgane der Arbeiterbewegung.
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trolliert, sie war an keine Zeit, keinen Ort, keine Weisungen von oben, keine kostspieligen Unternehmungen, keine äußern festlichen Veranstaltungen geknüpft.155
Schenkt man diesem Bericht Glauben, beschritt die betriebliche Agitationsmethodik der Sozialdemokratie bereits um 1890 den Weg, auf dem der DMV mit Hilfe seiner Werkstattvertrauensmänner ab 1897 Anschluss an die Ebene der täglichen Arbeit herzustellen versuchte.156 Die Agitatoren agierten dazu während der Arbeit in den sich bietenden zeitlichen Zwischenräumen und konnten so von der Produktionsorganisation im flexiblen Betrieb profitieren. Sie nutzten aber auch die Gelegenheiten außerbetrieblichen Kontakts so gut es ging aus: Sie ließ dem so Agitierenden alle Mittel und Wege zur freien Verfügung: nicht nur die langen theoretischen Auseinandersetzungen, die Reden am Biertisch und im Vergnügungsverein wie im Pfeifen-, im Zither- oder Harmonikaklub, sie war auch möglich in den Gesprächen während der Arbeit zwischen Mann und Mann, auf gemeinsamen Spaziergängen nach Feierabend, an schönen Sommerabenden, bei den gegenseitigen langen Besuchen in den nachbarlichen Familien, beim Kartenspiel, kurz wo immer zwei oder drei Menschen bei einander waren.157
Die tiefe Verwurzlung der Sozialdemokratie im proletarischen Milieu generierte tägliche Erfahrbarkeit und bot den Genossen auf diese Weise ein breites Repertoire möglicher Beeinflussungsmöglichkeiten. Im Betrieb und bei der Arbeit kam zu jener beiläufigen, von Zwischen- und Freiräumen lebenden Gesprächskultur noch ein Kommunikationskanal hinzu, der tief in der Gruppensolidarität am Arbeitsplatz verankert war: Meist nonverbal transportierte man politische und gesellschaftliche Ansichten durch Mimik und Gestik, punktuellen Humor und gruppeninterne Spielchen. Zumindest partiell bediente sich die Agitation damit auch des EigenSinns der Arbeiter und kanalisierte das solidarische Potential dieses Verhaltens: Sie [die Agitation] machte sich, und hier oft gerade mit doppeltem Erfolge, schon in den unmittelbaren Äußerungen des unbewachten Augenblicks geltend, in den Scherzen, die von Lippe zu Lippe fliegen, in den Urteilen, die über andre, Abwesende fallen, in einer
155 Ebd., S. 104. 156 Der betriebliche Ansatz der Sozialdemokratie reichte im Chemnitzer Maschinenbau bis in die 1870er Jahre zurück, als bereits versucht wurde, gezielt Einfluss auf Arbeiter bestimmter Werke auszuüben. Solche Versuche beschrieb unter anderem Ernst Heilmann bei seiner Schilderung des großen Maschinenarbeiterstreiks von 1871. Vgl. Ernst Heilmann, Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge, S. 67 ff. 157 Göhre, Drei Monate, S. 104 f.
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einzigen kurzen malitiösen Bemerkung, ja in einem überlegnen Lächeln, einem scharfen Blick, einem beredten Schweigen, einer flüchtigen, aber bezeichnenden Handbewegung. Und das ist vielfach ein weiteres Charakteristikum an ihr: sie, diese Agitation, ist in vielen Fällen den Agitierenden selbst gar nicht bewußt, und gerade dann, wo dies eintritt, erst recht eindringlich und eindrucksam. Denn sie ist dann erst recht der unmittelbare Ausfluß des inneren Empfindens.158
Für die SPD und später für den DMV stellten natürlich diese Agitationsmethoden den Idealfall dar.159 Von außen kaum erkennbar und daher nur selten sanktioniert, kam politische Programmatik für die Kollegen auf diese Weise nicht nur mit besonderem Nachdruck, sondern auch in einem relativ natürlichen, unaufdringlichen und unpolitischen Gewande daher, was die Wirksamkeit noch gesteigert haben dürfte. Denn grundsätzlich waren politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen für den größten Teil der Arbeiter nur oberflächlich von Belang. So hätten zwar die wenigsten unter ihnen offen bestritten, Sozialdemokraten zu sein, doch herrschte unterhalb dieses Bekenntnisses ein Gewirr individueller Interpretationen bezüglich seiner Aussagekraft und seines Inhalts. Es vereinte ein breites Spektrum unterschiedlicher Auffassungen, die sich nur in den seltensten Fällen mit der offiziellen Linie der Partei deckten und ebenso eine völlige Ablehnung von Republikanismus und Kommunismus wie auch deren Gutheißen beinhalten konnten.160 Auf Grund eigener Erfahrungen und Hintergründe schien sich hier jeder Arbeiter seine eigene „Sozialdemokratie“ zurechtzuschneiden, an der man umso größeres Interesse zeigte, je betriebsnäher sie agierte. Für die meisten bildete nämlich ihr Betrieb auch den Mittelpunkt des politischen Denkens:
158 Ebd., S. 105. 159 Grundsätzlich rückten die Metallarbeiter sowohl in der SPD als auch den Gewerkschaften erst in den 1890er Jahren in den Vordergrund. Vgl. Helga Berndt, Biographische Skizzen von Leipziger Arbeiterfunktionären. Eine Dokumentation zum 100. Jahrestag des Sozialistengesetzes (1878 – 1890), Berlin 1978, S. 59. Von der Idee eines immensen betrieblichen Vorsprungs der Methoden der Partei darf daher nicht ausgegangen werden. Die SPD profitierte jedoch von einer jahrzehntelangen politischen Tradition der Stadt und ihrer Arbeiterschaft sowie der polizeilichen Unterdrückung, deren Folgen sich auch schon vor 1890 in der alltäglichen Kommunikation der Belegschaften niedergeschlagen hatte. 160 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 109 f. Die Entscheidung für die SPD bei einer Wahl war demnach nicht mit einem politischen Verständnis entlang der Parteilinie zu verwechseln. Für die Wahlergebnisse und die Wählerschaft der SPD in Sachsen vgl. Gerhard A. Ritter, Das Wahlrecht und die Wählerschaft der Sozialdemokratie im Königreich Sachsen 1867 – 1914, in: Gerhard A. Ritter/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, München 1990, S. 49 – 102.
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Vielmehr beschäftigten diese große, breite Gruppe der besten Arbeiter am stärksten die augenblicklichen und – für Höherangelegte und Weiterausschauende – auch die ferner und prinzipieller liegenden Fragen des eignen Wirtschaftsbetriebes, den sie kennen und verstehn, an dem sie unmittelbar beteiligt sind, in dem sie Erfahrung und Urteil besitzen.161
Galten daher Debatten über betriebsinterne Regelungen und Veränderungen als besonders wichtig, maß man überbetrieblicher „großer Politik“ weit weniger Bedeutung bei, tangierten doch die Reichsebene genauso wie die Ideologie den Bereich ihres täglichen Lebens nur peripher. In ihrem Verhältnis zum überbetrieblichen politischen Geschehen verbanden die Arbeiter zwei Positionen, die von der Distanz zum Politischen ebenso zeugten wie von einem vorhandenen Klassenbewusstsein: Denn einerseits waren laut Göhre wohl die meisten Kollegen in der Fabrik vom Nutzen und von der Berechtigung der sozialdemokratischen Bewegung überzeugt, weil sie dem Gefühl einer gemeinsamen und unterdrückten Lage als Lohnarbeiter entsprach und noch dazu tief im eigenen Milieu verwurzelt war. Andererseits manifestierte sich – in der Konzentration auf den Betrieb, in der nur oberflächlichen Akzeptanz starrer Organisationsgrundsätze und in den Anzeichen für praktische Nützlichkeitserwägungen – die scheinbar verbreitete Scheu vor der politischen Vereinnahmung durch die Organisation. Viele Kollegen blieben skeptisch und arbeiteten „zum Jammer der führenden sozialdemokratischen Heißsporne“ 162 nur widerwillig und zögernd mit. Vielmehr brachen sie die abstrakte Ideologie ebenso wie die Organisationsdisziplin auf ein Maß herunter, dass es ihnen immer noch ermöglichte, sie in ihr tägliches Leben und Handeln zu integrieren. Es zählte die von jedem selbsterprobte praktische Erfahrung und nüchterne und besonnen abwägende Überlegung, die nur zu gewisse Kenntnis von den Grenzen ihrer Macht [der Sozialdemokratie], der Gedanke an Weib und Kind, ja, auch bei den idealer angelegten und ernsteren unter ihnen, die Rücksicht auf das Wohl und Wehe, das platte, augenblickliche Interesse.163
Zum ausführenden Organ riskanter Aktionen ließ man sich deshalb nur ungern machen. 161 Göhre, Drei Monate, S. 115. 162 Ebd., S. 137. Diese Kritik Göhres zielte sehr wahrscheinlich auf ein empfundenes Auseinanderklaffen des extrem politisierten und ideologisierten Parteimilieus und den „nüchternen Arbeitern“ im Organisationsmilieu ab – eine Diskrepanz, der es auch den frühen DMV -Sekretären in Chemnitz bei den Metallarbeitern oft nicht einfach machte. Vgl. zum sozialdemokratischen Politikstil Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 456 – 461. 163 Ebd.
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Vergleichend betrachtet fällt ins Auge, welch große Ähnlichkeiten zwischen den Beziehungen der Arbeiter zu den Meistern im Betrieb und zu den politischen Führern bestanden. In beiden Fällen kam es stark auf den Charakter an: Herabwürdigenden Kommandierungen versagte man (mit freilich unterschiedlichem Erfolg) generell den Gehorsam und zeigte sich bei einem Entgegenkommen aufgeschlossener. So waren die „Brüder R.“ (wahrscheinlich Emil und Karl Riemann)164 unter den Chemnitzer Metallarbeitern anscheinend nicht beliebt: „Diese hatte man wegen ihres polternden, aufbrausenden, anmaßenden Wesens nicht allzu gern, und man zog andre wegen ihrer mildern, geschloßnern, ernstern [sic!] Art vor.“ 165 Ebenso wie im Verhältnis zu den Meistern machte also hier „der Ton die Musik“. Überhaupt muss davon ausgegangen werden, dass die Arbeiter auch als Genossen und Gewerkschaftsmitglieder nichts gegen die bestehenden Hierarchien einzuwenden hatten, solange diese auf gegenseitigem Respekt beruhten und durch persönliche Fähigkeiten und Führungsstärke als begründet gelten konnten. Gegen die Versuche von oben, eine disziplinarische Einordnung zu erzwingen, setzten sie aber Widerstand entgegen, der sich, wie auch im Betrieb, offen oder heimlich, bewusst oder unterbewusst ausdrücken ließ und die verschiedensten Formen annahm. Sowohl in der Fabrik als auch in der Organisation versuchten die Arbeiter also, ihrer Vereinnahmung als willfähriges Instrument entgegenzuwirken, und zeigten Akte des Eigen-Sinns gegen eine übergeordnete Struktur, auf die sie keinen oder kaum Einfluss besaßen. Unterhalb beider Disziplinierungsansprüche entwickelten sie ein „Eigenleben“, das der Betriebsleitung ebenso als Widerspenstigkeit entgegentrat wie der Gewerkschaftsleitung. In dieser Janusköpfigkeit offenbarte sich die Distanz von Arbeitern gegenüber Systemen, die als Herrschaftsmethoden wahrgenommen wurden, wobei es zunächst keine Rolle spielte, dass die Gewerkschaften eigentlich als Vertretungsinstrument für Arbeiter angetreten waren. Weil
164 Die Brüder Emil und Karl Riemann zählten in der Vor- und Frühphase des Chemnitzer DMV zu den Leitfiguren der Gewerkschaft und nahmen an beinahe allen Versammlungen, Konferenzen und auch der Gründungsveranstaltung des DMV 1891 teil. Dennoch ist heute über beide Personen kaum Näheres bekannt. 165 Ebd., S. 103. Die Tatsache, dass viele der prominenten DMV -Sekretäre ihre Versammlungserfahrungen in der SPD gemacht hatten, führte dazu, dass auch Gewerkschaftsversammlungen häufig „von oben herab“ kommandiert wurden und Skeptiker selten Chancen bekamen, gehört oder gar ernst genommen zu werden. Der aggressive Stil vieler Wortführer wird in dieser Phase kaum zu einer Erweiterung des Organisationsbereichs beigetragen haben. Ein „verdichtetes Gemeinschaftserlebnis“ wurden DMV – Versammlungen erst nach der Jahrhundertwende. Vgl. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 306 – 312.
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damit auch der Führungsanspruch über Arbeiter einherging, traf sie der innerorganisatorische Eigen-Sinn ebenfalls.166 Dass sich solches Handeln vielfältig und durch alle Arbeitergruppen sowie Gewerkschaftsinstanzen hindurch artikulierte, zeigt die Geschichte des DMV bis 1933 auf eindrückliche Weise. Im Kern ging es dabei immer um ein empfundenes Verhältnis zwischen Mitglied und Organisation, das aus der andauernden und sich mit dem Wachstum des Verbandes verschärfenden Diskrepanz zwischen dem Vertretungs- und Kontrollimpetus der Gewerkschaft resultierte. Gleich dem EigenSinn gegenüber dem Herrschaftssystem der Lohnarbeit reichte auch der EigenSinn gegenüber der Organisation von stillem, nonverbalem Gefolgschaftsentzug über spontane solidarische Aktionen bis hin zu kriminellem Verhalten. Er umfasste deshalb widerständiges Verhalten im kleinen (Erschleichen von Unterstützungen, Abwerben von Mitgliedern, Diskreditierung von Sekretären, finanzielle Untreue) ebenso wie im größeren Rahmen (statutenwidrige Streiks von Mitgliedern). Die Ultima Ratio war der Gewerkschaftsaustritt, der diesbezüglich einige Ähnlichkeit mit der einseitigen Kündigung hatte (Klagen über die hohe Fluktuation führten Arbeitgeber wie Arbeitervertreter). Er markierte die endgültige Grenze im Bemühen um die Herbeiführung eines „organisationszentrierten Milieubündnisses“. Zusammenfassend betrachtet war das Verhältnis von DMV und Maschinenbauarbeitern vor der Jahrhundertwende durch den fehlenden betrieblichen Zugriff der Gewerkschaft geprägt, wodurch Organisations- und Belegschaftshandeln kaum miteinander verbunden werden konnten. Die vorhandenen Kommunikations- und Solidaritätsstrukturen im Betrieb ließen sich nicht gewerkschaftlich kanalisieren. Appellen an die Arbeiter, Forderungen kollektiv und über den Verband zu vertreten, stand aber auch ein „Produktionspakt“ entgegen, der auf der halbautonomen und fachlich unentbehrlichen Position vieler Arbeitergruppen beruhte und dazu führte, dass diese ihre Interessen auch selbst vertreten konnten. Wie der große Streik der Maschinenbauer von 1871 zeigte, waren zwar zentral geleitete Aktionen hier nicht unmöglich,167 doch führten erst der Ausbau des 166 Die überwiegende Richtung der Forschung, Eigen-Sinn als kapitalismuskritische und industriebetriebliche Komponente des Arbeiterverhaltens zu werten, trifft die Mehrdimensionalität dieser Phänomene daher nur partiell. Eigen-Sinn konnte alle treffen, die sich anmaßten, eine wie auch immer geartete Kontrolle über Menschen erreichen zu wollen. Er war deshalb sowohl Teil der täglichen Arbeitswelt als auch Bestandteil gewerkschaftlicher, politischer und vereinsmäßiger Entwicklungen, wird wahrscheinlich im Schulalltag genauso anzutreffen gewesen sein wie im Militär und in der Kirche. Kurz gesagt forderten postulierte Hierarchien eigen-sinniges Verhalten geradezu heraus. 167 Den Streik von 1871 leitete die Chemnitzer Sozialdemokratie um Johann Most. Vgl. Herbert Stöbe, Der große Streik der Chemnitzer Metallarbeiter zur Durchsetzung des Zehnstundentages im Jahre 1871, Karl-Marx-Stadt 1962.
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betrieblichen Apparats des DMV und die partielle Erosion des „Produktionspaktes“ dazu, dass die Arbeiter des Maschinenbaus zu einer Erfolgsgeschichte für den Verband werden sollten.
2.3 Im Hütten- und Walzwerk des Ruhrgebiets um 1890 Der technisch-organisatorische Wandel der 1880er Jahre
Ein großer Teil der technisch-organisatorischen Unterschiede, die zwischen dem Maschinenbau und der Hüttenindustrie zwischen 1890 und 1933 bestanden, war auf den Umstand zurückzuführen, dass sich die Herstellung der Grundprodukte der Eisen- und Stahlbranche wesentlich früher und umfangreicher rationalisieren ließ. Denn im Gegensatz zu den komplexen Stückgütern des Maschinenbaus produzierten die Hütten und Walzwerke ausschließlich die Rohstoffe, die alle anderen Bereiche der Metallindustrie weiterverarbeiteten. Schienen, Träger, Stabeisen, Röhren, Bleche und Walzen besaßen dementsprechend einen gleichförmigeren und massenhafteren Charakter als die Bearbeitungsmaschinen, zu denen sie der Maschinenbau im Anschluss verarbeitete. Daraus resultierte zum einen die frühe Möglichkeit, Arbeitsprozesse zu vereinfachen und ein enormes Maß an Arbeitsteilung durchzusetzen – am Hochofen sowie in den Stahl- und Walzwerken arbeitete eine Vielzahl spezialisierter Arbeiter mit eigenen Bezeichnungen, gegenüber denen sich die Arbeitsdifferenzierung eines Maschinenbetriebs geradezu winzig ausnahm.168 Zum anderen hatte der Produktcharakter auch massiven Einfluss auf das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine im Fertigungsprozess: Hüttenwerke arbeiteten auf Grund des Betriebs der Hochöfen rund um die Uhr und erzeugten ein Umfeld, in dem sich die Arbeiter viel stärker dem Rhythmus der Maschinen ausgesetzt sahen als in den Maschinenfabriken. Diese beiden Grundmerkmale zeitigten in der Folge immense Auswirkungen nicht nur auf die Arbeitstätigkeiten und die Qualifikationsanforderungen, sondern auch auf die Arbeits- und Machtbeziehungen der Werke. Dass sie dabei nicht statisch in der Zeit existierten und von der technischen Entwicklung abhängig waren, beweist besonders die Umbruchphase der 1880er Jahre, die um 1890 ihren Abschluss erlebte. 168 Die Vielfalt der Arbeiterkategorien der Hüttenindustrie ist geradezu legendär und hundertfach zitiert worden. Vgl. z. B. Hartmut Pietsch, Die Feuerarbeiter. Arbeitsverhältnisse in der Duisburger Großeisenindustrie vor dem 1. Weltkrieg, in: Ludger Heid/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Arbeit und Alltag im Revier. Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im westlichen Ruhrgebiet im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Duisburg 1985, S. 174 ff.
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Die zentralen technisch-organisatorischen Kennzeichen des Wandels vom „Team-“ zum „Drive-System“ lagen in der Teilmechanisierung der Produktion, der Etablierung einer zentraleren Arbeitsstruktur, die stärker auf einen Stofffluss abzielte, und in dem Versuch, die Fertigungsstufen zusammenzufassen.169 Der Arbeitsprozess wurde jetzt verstärkt vertikal innerhalb eines Unternehmens integriert, sodass Hochofenanlagen, Stahlproduktion und Walzwerke unter einem Dach vereint waren und wesentlich kontinuierlicher produziert werden konnte. Zum „Schnellbetrieb“ wurde die Fertigung dabei vor allem durch die Erhöhung der Produktivität pro Anlage: Hohe Kapazitätserweiterungen und konsequente Umrüstungen steigerten den Ausstoß der Hochöfen erheblich:170 Zwischen 1883 und 1889 stieg die Roheisenerzeugung deutscher Hochofenwerke um etwa 30 Prozent und erweiterte sich bis 1899 noch einmal um 80 Prozent.171 Die fließende Weiterverarbeitung in den Stahlwerken wurde indes durch die Zwischenschaltung des Roheisenmischers seit dem Ende der 1880er Jahre ermöglicht. Man sparte auf diese Weise das erneute Einschmelzen des Roheisens ein, minimierte Brennmaterial sowie Zeit und erreichte eine bessere Durchmischung der Chargen.172 In den Walzwerken erweiterte man die Kapazitäten durch stärkere Antriebe, neue Gerüste und technische Verbesserungen an den Öfen.173 Währenddessen vollzog sich im zwischengelagerten Prozess des Frischens (Verringerung des Kohlenstoffanteils des Eisens und Beseitigung anderer unerwünschter Bestandteile) mit der Etablierung und massiven Ausdehnung der Windfrischverfahren der eigentliche, qualitative Schritt in der technischen Entwicklung. Hatte sich hier das ursprüngliche Bessemer-Verfahren für die deutschen Rohstoffe als weitestgehend ungeeignet erwiesen, konnte man nach Einführung des Thomas- und des Siemens-Martin-Verfahrens den Flussstahlbetrieb an das phosphorhaltige Roheisen anpassen und erzielte gewaltige Produktivitätsstei 169 Die nachfolgenden Ausführungen zum technischen Wandel, der Arbeitsorganisation und den Sozial- sowie Machtbeziehungen orientieren sich wie gesagt vor allem an Thomas Welskopp, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn 1994. Hier vgl. S. 271 – 307. 170 Vgl. ebd., S. 255. 171 Vgl. Irmgard Steinisch, Arbeitszeitverkürzung und sozialer Wandel. Der Kampf um die Achtstundenschicht in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie 1880 – 1929, Berlin/New York 1986, S. 60. 172 Vgl. Gottfried Plumpe, Technischer Fortschritt, Innovationen und Wachstum in der deutschen Eisen- und Stahlindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Wilhelm Heinz Schröder/Reinhard Spree (Hrsg.), Historische Konjunkturforschung, Stuttgart 1980, S. 183 f. 173 Vgl. ebd., S. 184; vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 254.
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gerungen.174 Fasst man die drei Verfahren zusammen, erhöhte sich die Masse des verarbeiteten Roheisens zwischen 1883 und 1889 um 89 Prozent und zwischen 1889 und 1899 um 200 Prozent.175 Mittelfristig wurde so das ältere Puddelverfahren verdrängt, bei dem die Arbeiter in einem Herd und unter Einsatz von Stangen und Haken das Roheisen rührten und schließlich zu Luppen formten. Obwohl sich diese Methode noch einige Jahre für bestimmte Produkte hielt, verschwand dadurch dennoch die letzte Arbeitstätigkeit aus den Stahlwerken, die einen halbhandwerklichen Charakter besaß und in hohem Maße von der Geschicklichkeit und dem Erfahrungswissen der Puddler abhing.176 Erst diese Verdrängung löste den Engpass der Handarbeit im Puddelwerk auf und ermöglichte die Produktionssteigerungen in Hochofen- und Walzwerken. Sieht man von den Bereichen des Hüttenwerks ab, in denen Reparatur- und Montagearbeiter nun stärker nachgefragt wurden, fiel mit dem Puddelverfahren die letzte Bastion der qualifizierten Handarbeit – ein Schritt, der selbst nach dem „zweiten Umbruch in der Fertigungstechnik“ in den Werkzeugmaschinenbetrieben nie vollzogen wurde. Weiterhin veränderten sich infolge des exponentiellen Wachstums der bewegten Lasten auch die Transportwege und -anordnungen im Stahlwerk, indem nun der Einsatz von Kränen unumgänglich wurde. Alle Hebeeinrichtungen waren eng um den Konverter postiert und ließen das Werk im Gegensatz zum Puddelbetrieb nicht nur in die Höhe wachsen, sondern auch besonders eng zusammenrücken.177 Vom „Team-“ zum „Drive-System“
Diese technischen Veränderungen der 1870er und 1880er Jahre verursachten einen einschneidenden Wandel des Qualifikationsprofils der Belegschaften, der Arbeitsorganisation und der Sozialbeziehungen in der Eisen- und Stahlindustrie, wobei sich die Veränderungen auf all diesen Gebieten im Bedeutungsanstieg der Kolonnenarbeit trafen. Im „Team-System“ der 1860er bis 1880er Jahre hatten kleine Arbeitsgruppen, bestehend aus einem ersten Puddler oder Schmelzer, dem ein zweiter, dritter und vierter Mann untergeordnet waren, in relativer Eigenständigkeit einen gesamten Schritt der Produktion erledigt. Ihnen oblag die Verteilung ihrer Arbeitstätigkeiten und Verantwortungen selbst und sie verfügten über einen hohen Grad an Auto 174 Vgl. Ulrich Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt. Die deutsche und britische Stahlindustrie 1865 – 1895, Göttingen 1986, S. 30 – 43. 175 Vgl. Steinisch, Arbeitszeitverkürzung, S. 60. 176 Vgl. Rainer Fremdling, Der Puddler – Zur Sozialgeschichte eines Industriehandwerkers, in: Ulrich Engelhardt (Hrsg.), Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 637 – 655. 177 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 271 ff.
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nomie gegenüber einer übergeordneten Kontrolle. Das Gegenstück dieses engen Arbeitszusammenhangs war dagegen die Kolonne, die, bestehend aus unqualifizierten Arbeitern, in der Regel für die Zu- und Hilfsarbeiten zuständig war und deren Arbeitstätigkeiten meist rein physische Handarbeit umfassten. Zwischen beiden Gruppen herrschte eine weitgehende Trennung, die sich nicht nur an Fragen der Qualifikation und des Berufsstolzes ausrichtete, sondern auch machtpolitischer Art war – versah die relative Autonomie bei anhaltendem Fachkräftemangel das „Team“ doch mit einem erheblichen innerbetrieblichen Spielraum.178 In vielerlei Hinsicht entsprach diese Arbeits-, Verantwortungs- und Machtstruktur daher jener des Werkstattsystems im Werkzeugmaschinenbau, wie es Göhre beschrieben hatte. Beide Fälle kennzeichnete ein Produktionskompromiss, der aus der Einsicht in die Arbeitsautonomie der Gruppen und in die Kontrolldefizite resultierte und Rentabilität über Lohnanreize erkaufte. Innerhalb dieser „Produktionspakte“ blieb dem Arbeitgeber nichts anderes übrig, als die betriebliche Machtposition der Arbeitsgruppen anzuerkennen und immer wieder Aushandlungsprozesse hinzunehmen. „Durchregieren“ konnte man in beiden Fällen nicht. Einzig die Rolle der Meister unterschied sich graduell: Denn während sie im „Team-System“ noch eine Doppelfunktion als mitarbeitende Anleiter der Gruppe und als Vorgesetzte innehatten, bekleideten sie im Werkzeugmaschinenbau bereits fast ausschließlich die Position der Vorgesetzten und delegierten die Mitarbeit an die Monteure als „Untermeister“.179 Im Wandel zum „Schnellbetrieb“ wurde den „Teams“ die innerbetriebliche Stellung auf drastische Weise entzogen. Die Teilmechanisierung verdrängte viele auf Geschicklichkeit und Erfahrungswissen basierende Tätigkeiten und erhöhte durch massive Produktionssteigerungen und mangelhafte Transporteinrichtungen die Bedeutung der Kolonnenarbeit. Der damit einhergehende Prozess der Belegschaftsumschichtung besaß sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Komponente: Zum einen entwickelte sich die Hüttenindustrie mittelfristig zu der Industrie der Unqualifizierten – 1895 arbeiteten in deutschen Hochofen-, Stahl- und Walzwerken 22.932 gelernte und 116.610 ungelernte Arbeiter.180 Betrug das Verhältnis in der Eisen- und Stahlindustrie also etwa 1:5, dürfte es im Werkzeugmaschinenbau mindestens bei 3:1 gelegen haben. Dennoch entsprach dieser Anstieg nicht dem lange gängigen Klischee der „Dequalifizierung“, sondern lässt sich wohl eher als Degradierung auffassen.181 Denn zum anderen blieben 178 179 180 181
Für die Phase des „Team-Systems“ vgl. ebd., S. 113 – 141. Für die Rolle der Meister vgl. ebd., S. 123 – 129. Vgl. Steinisch, Arbeitszeitverkürzung, S. 64. Vgl. Ulrich Zumdick, Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung – Arbeit und Arbeiter in der Eisen- und Stahlindustrie um 1900, in: Ottfried Dascher/Christian Kleinschmidt
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qualifizierte Arbeitstätigkeiten auch hier bestehen. Neben den handwerklichen Fähigkeiten der Schlosser, Maurer, Schreiner, Schmiede usw., auf die der Hüttenbetrieb angewiesen war, stiegen sogar manche Arbeiter zu Vorarbeitern auf. Sie waren nun als „Blasemeister“, Gießer, erster Konvertermann oder erster Pfannenmann die Leiter der Kolonnen und übernahmen Kontrollfunktionen. Weiterhin überdauerten qualifizierte Tätigkeiten bei der Arbeit an den Konvertern, den Pfannen und Kokillen und im Gießbetrieb selbst. Verglichen mit dem „TeamSystem“ war diese Arbeit aber nun insofern degradierend, als dass sie, ebenso wie die Kolonnenarbeit der Unqualifizierten, zentral kontrolliert werden konnte und den für das berufliche Selbstverständnis wichtigen Unterschied zwischen „Team“ und Kolonne tendenziell aufhob. Ehemalige „Team-Mitglieder“ sahen sich immer stärker mit der Bedeutung der Kolonne für ihre Arbeit konfrontiert und somit einem für sie neuen Arbeitsrhythmus ausgesetzt. Die Durchsetzung des „Drive-Systems“ beraubte sie daher ihrer autonomen Stellung, ließ ihre Dispositions- und Verteilungsspielräume schwinden und setzte sie einer zentraleren und effektiveren Kontrolle aus. Dem „Blasemeister“ war es zum Beispiel nun möglich, nicht nur die unqualifizierte Kolonnenarbeit zu überwachen, sondern auch ein Auge auf die qualifizierten Maschinenbediener zu werfen, die sich dadurch partiell in die Kolonne integrierten. Die fließendere Gestaltung der Produktions- und Arbeitsprozesse ging Hand in Hand mit der Zunahme effektiver Kontroll- und Disziplinierungsmöglichkeiten.182 Neben der Qualifikationsumschichtung war der Wandel zum „Drive-System“ vor allem durch eine Veränderung der Position der Meister im Betrieb geprägt. Ehrenberg schrieb dazu: Es gibt auch im ganzen Thomaswerk keinen gelernten Arbeiter, abgesehen von einigen Maschinisten; außer dem Pfannenmann, etwa noch dem Koquillenvorarbeiter und dem 1. Konvertermann, tritt kein Arbeiter besonders hervor; dafür haben wir verhältnismäßig viel Meister. Der Maschinenbetrieb führt leicht zu einer Vermehrung der Meister aus ökonomischen Gründen; das Vorhandensein eines Meisters ist dann nur eine Art technischer Versicherung, die wünschenswert wird, weil Störungen des Betriebs gleich so unverhältnismäßig große Unkosten bereiten.183
(Hrsg.), Die Eisen- und Stahlindustrie im Dortmunder Raum. Wirtschaftliche Entwicklung, soziale Strukturen und technologischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, Dortmund 1992, S. 138 f. 182 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 275, S. 280. 183 Hans Ehrenberg, Die Eisenhüttentechnik und der deutsche Hüttenarbeiter, Stuttgart 1906, S. 99 f.
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Der technisch-organisatorische Wandel ermöglichte die straffe Kontrolle daher nicht nur – er zwang sogar dazu, weil die letzten direkten Bearbeitungsmethoden zusehends verschwanden und die Beziehung zwischen Arbeitsleistung und Produktivität von nun an nur noch mittelbar bestand.184 Damit war auch die Auflösung des „Produktionspaktes“ verbunden: Die Meister waren nicht mehr dazu verpflichtet, Effektivität durch ständige Aushandlungsprozesse zu generieren, da keine stille Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeiten mehr benötigt wurde. Die Machtverhältnisse hatten sich deutlich verschoben und gaben den Vorarbeitern erstmals die Chance, eine offene und direkte Unterordnung der Arbeiter durchzusetzen. Aus diesen Gründen bekleideten die Meister im „Drive-System“ auch keine Doppelfunktion mehr. Sie traten aus den Arbeitsgruppen aus, hinterließen an deren Spitzen hochqualifizierte, aber gut kontrollierbare Produktionsarbeiter und verlegten sich auf die Koordination der Arbeitsprozesse und das Antreiben der Kolonnen. Das Verhältnis zu den Arbeitern musste daher auch nicht mehr zwangsläufig durch hohe technische Fähigkeiten und Fachautorität begründet sein. Was jetzt zählte, war Macht im engsten Sinne der Weber’schen Definition.185 Für die Hüttenarbeiter wurde es deshalb zur typischen Erfahrung des „Drive-Systems“, kolossal angetrieben und ausgesprochen repressiv behandelt zu werden, was selbst Körperverletzungen beinhalten konnte. Peter Groh, ein Arbeiter der Gutehoffnungs hütte (GHH), äußerte zum Beispiel: Die Drillung der GHH ist unerhört, ist über alle Massen, alle anderen Werke haben geklagt, es ist aber alles nichts gegen die GHH. Es geht über die Hutschnur wie gedrillt wird. Ein Arbeiter welcher 30 – 35 Jahre dort gearbeitet hat und ein schiefes Wort sagt, erhält andere und solche Arbeit, dass er gehen muss. Dafür kann ich 23 Beweise bringen.186
Aber alle Beschwerden nützten im „Drive-System“ meistens wenig: In ihrer Verantwortung für die Produktivität gaben die Meister den Druck des Managements nach unten weiter und hatten in der Methodenwahl dessen Rückendeckung und weitgehende Bewegungsfreiheit. Dazu gehörte neben der Einstellung und
184 Vgl. Irmgard Steinisch/Klaus Tenfelde, Technischer Wandel und soziale Anpassung in der deutschen Schwerindustrie während des 19. und 20. Jahrhunderts, in: AfS 28 (1988), S. 57. 185 „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 5. Aufl., S. 28; vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 324 ff. 186 Polizeiliche Überwachungsberichte 1905 – 1909, in: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA), 130 – 300143/0, Bl. 9.
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Entlassung auch die Festsetzung der Akkorde und der Prämien für jeden einzelnen Arbeiter. Sozialbeziehungen und Eigen-Sinn
Innerhalb der Belegschaften und Arbeitsgruppen der Hüttenwerke waren die Beziehungen um 1890 „chronisch instabil“.187 Dies lag zum einen an den enormen Fluktuationserscheinungen in der Eisen- und Stahlindustrie, die die Belegschaften und potentiellen Bezugspersonen ständig durchmischten und den Aufbau stabiler und eingespielter Gruppenbeziehungen stark erschwerten. So beschwerte sich der königliche Landrat Haniel 1886, dass man bei einer Belegschaftsgröße von etwa 1100 Arbeitern auf dem Stahlwerk der GHH jährlich über 2000 Ein- und Austritte zu verzeichnen habe und dieser Umstand besonders die Ausbildung eines Stammes qualifizierter Arbeiter behindere.188 Zum anderen wirkten sich die künstlichen Differenzierungen in der Arbeiterschaft gemeinsam mit den immensen Lohnunterschieden verheerend auf den kolonneninternen Zusammenhalt aus und hatten darüber hinaus massiven Einfluss auf die jeweiligen Arbeitseinstellungen. Während sich bei den verbliebenen qualifizierten Arbeitern auf Grund ihrer verantwortungsvolleren, komplizierteren Tätigkeit und vor allem durch ihren höheren Akkordlohn weiterhin ein Interesse an einem möglichst zügigen, exakten Arbeitsprozess hielt, erzeugte die Entgeistigung und Repression bei den meisten Kolonnenarbeitern eine genau entgegengesetzte Disposition: Schließlich ist zuzugeben, daß der Arbeiter nicht mehr ein gleiches Interesse an den Ergebnissen seiner Arbeit haben kann, an der er selbst einen so kleinen Anteil hat, wie einstens, als er noch mit Recht überzeugt war, daß man ohne ihn nicht existieren könnte. Viel entscheidet da z. B. die Stellung des Arbeiters im Arbeitsraum, ich meine, ob er Gelegenheit hat, von seinem Arbeitsplatz aus die sonstigen Ereignisse des Betriebes zu beobachten.189
Hielten sich auf der einen Seite also noch Reste eines Arbeitsstolzes und vielleicht auch einer Arbeitsfreude, wurde die Arbeit im Hüttenwerk auf der anderen Seite vermehrt als reine Verdienstquelle angesehen, der man sich ohne besonderes berufliches Bewusstsein so wenig wie möglich unterwarf.190 Häufige Konflikte zwischen 187 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 311. 188 Vgl. RWWA, 30 – 300143/24. 189 Ehrenberg, Eisenhüttentechnik, S. 125. 190 Die Degradierung in den Hüttenwerken bewirkte eine Form der (Nicht-)Identifikation mit der eigenen Arbeit, die dem beruflichen Selbstverständnis vieler Maschinenbauarbeiter diametral entgegengesetzt war. Dies galt vor allem für den Dreherberuf, für den Lüdtke
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Spitzenleuten und Hilfsarbeitern waren demnach meistens auf den Umstand zurückzuführen, dass Letztere ihr einzig verbliebendes Machtmittel im Arbeitsprozess anwendeten und die Verausgabung ihrer physischen Arbeitskraft zu regulieren versuchten. Sie verliehen den Kolonnen ihr typisches „Trägheitsmoment“,191 machten sie unflexibel und forderten dadurch die Intensivierung der Kontrolle nur noch weiter heraus. Darüber hinaus führten die entgegengesetzten Interessenlagen und die Degradierung der Qualifizierten zu einer Spaltung der Belegschaften, die sich zwischen den unqualifizierten Kolonnenarbeitern und den qualifizierten Produktionsarbeitern immer weiter vertiefte. Auf das Eindringen der Kolonne in die einst autonome „Team-Arbeit“ und das Verwischen der Grenzen reagierten die „Herabgesunkenen“ mit Verachtung und dem inneren Antrieb, die noch vorhandenen Reste alten Berufsbewusstseins und betrieblicher Suprematie zu verteidigen.192 Dass sich genau in dieser Phase die innerbetriebliche Spaltung (vor allem durch den massenhaften Einsatz polnischer Arbeiter) auch noch ethnisch aufzuladen begann, verschärfte die Auseinandersetzungen zusehends und versah in nicht wenigen Fällen Abgrenzung mit Fremdenfeindlichkeit.193 Dies galt in ähnlicher Weise auch für die Beziehungen innerhalb der Kolonnen: So lag es im Wesentlichen auch an den Folgen der Arbeitsmigration, dass die Arbeitsbedingungen nicht als Grundlage einer solidarischen Vergemeinschaftung ausreichten. Sie verstärkten festhielt: „Der Status der Dreher beruhte auf einer Besonderheit ihres Arbeitsprozesses. In ihrer Branche waren sie die einzigen, die Maschinen bedienten und dennoch eine verhältnismäßig individuelle (oder zumindest selbst-kontrollierte) Arbeit verrichteten. Die Organisation ihrer Arbeit weckte und forcierte zugleich die Konkurrenz mit Kollegen an den benachbarten Drehbänken und machte damit die Bestätigung der eigenen Kalkulationsfähigkeit und Handfertigkeit möglich. Im Unterschied zu ‚traditionellen‘ handwerklichen Arbeitern, wie Schmieden oder Formern, konnten die Dreher sich selbst und anderen ihr Können und ihre Erfahrung im Umgang mit ‚modernen‘ Maschinen demonstrieren.“ Lüdtke, Lohn, Pausen, Neckereien, S. 127. Für den Wandel im Arbeiterbewusstsein durch technisch-arbeitsorganisatorische Degradierung vgl. Horst Kern/Michael Schumann, Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein. Eine empirische Untersuchung über den Einfluss der aktuellen technischen Entwicklung auf die industrielle Arbeit und das Arbeiterbewusstsein, Frankfurt am Main 1985, S. 246. Vgl. auch Mark Galliker, Arbeit und Bewußtsein. Eine dialektische Analyse von Gesprächen mit Arbeitern, Angestellten, Beamten und Selbstständig Erwerbenden, Frankfurt am Main u. a. 1980, S. 159. Trotz des zeitlichen Unterschieds wird auch hier darauf verwiesen, welche besondere Bedeutung Arbeitsverantwortung und die Tatsache, eine zwar „immer verfügbare“, aber „sich selbst steuernde Fachkraft“ zu sein, für das Berufsverständnis haben können. 191 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 310. 192 Vgl. ebd., S. 315. 193 Für die Bedeutung der Arbeitsmigration und ihre innerbetrieblichen und gewerkschaftlichen Folgen siehe Kapitel 3.
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das ohnehin vorhandene Fremdheitsmoment noch weiter, indem sie kulturelle Ressentiments offenbarten, verschiedene Sprachen in die Werke einführten und somit den Aufbau von Kommunikationskanälen verhinderten. Wenn sich dennoch sprachliche Reaktionen auf die erdrückenden Arbeitsbedingungen zeigten, drückte sich in ihnen daher kaum die Suche nach einer gemeinsamen Position aus. Sie dienten eher der rein individuellen Befriedigung eines Drangs nach eigener Stärke und der Sehnsucht nach einem Raum der Selbstbestimmtheit: Man galt in der Gruppe als angesehen, wenn man schon viel „mitgemacht“, Zumutungen bewältigt hatte, wenn man einem noch härteren Meister als dem gegenwärtigen davongelaufen war, ihm vielleicht in offener Auseinandersetzung gekündigt hatte oder besonders schmutzige und heiße Arbeiten erfolgreich hatte vermeiden können.194
Unter den Bedingungen der schweren körperlichen Arbeit, der Zwölfstundenschicht, der Unfallgefahren und Repression waren solche Unterhaltungen Akte der Hilflosigkeit, etablierten aber unter den Arbeitern ein soziales System der Stärke, in dem es darauf ankam, sich keine Blöße zu geben. Noch 1907 hieß es dazu in der Metallarbeiter-Zeitung: „Ein weiterer Übelstand ist darin zu suchen, daß sich leider eine Anzahl Arbeiter noch gerne recht ‚stark‘ zeigen wollen.“ 195 Der Verfasser kritisierte dabei besonders die Angewohnheit vieler älterer, erfahrenerer Arbeiter, jüngere Kollegen möglichst ausdrucksstark zu übertreffen, sie damit zurechtzuweisen und sich des eigenen Leistungsvermögens zu vergewissern. Sie besäßen einen „falschen Ehrbegriff“,196 der nur darauf beruhe, andere unter sich wähnen zu können. In Bezug auf den Eigen-Sinn der Hüttenarbeiter erscheint es vor diesem Hintergrund wenig verwunderlich, dass in der Hüttenindustrie des „Drive-Systems“ das individuelle Potential eigen-sinnigen Verhaltens par excellence vorherrschte. Widerständiges Handeln manifestierte sich hier meistens vollkommen anders als im Chemnitzer Werkzeugmaschinenbau. Dafür waren zunächst die technischorganisatorischen Bedingungen verantwortlich: Das höhere Maß an Kontinuität des „Schnellbetriebs“ hatte viele Freiräume verschwinden lassen, die sich aus dem halbhandwerklichen Charakter des Puddelprozesses und dem frühen Entwicklungsstadium der Anlagen ergeben konnten. Zwar ergaben sich auch in dieser Phase immer wieder Zeiten, die aus der mangelhaften Anpassung der Belegschaften an die Arbeitsprozesse und der nur halbfließenden Fertigung resultierten, doch dürfte deren Dauer und auch deren disponibler Charakter nicht solche Ausmaße 194 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 313. 195 Korrespondenzen. Duisburg, in: MAZ 25 (1907) 34, S. 274. 196 Ebd.
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angenommen haben wie im flexiblen Werkstattsystem. Auch müssen die Möglichkeiten, den Arbeitsprozessen während der Arbeit Freiräume abzutrotzen, in den Hüttenwerken als weitaus geringer veranschlagt werden. Denn dem standen die massiv gestiegenen Kontrollinstrumente der Meister im Wege, die zwar freilich nicht den gesamten Betrieb abdecken konnten, aber nach dem Ende des „Produktionspaktes“ dennoch anders wahrgenommen wurden als im Maschinenbau, wo dieses Verhältnis noch intakt war. In Anbetracht der teilweise schockierenden Behandlungen der Arbeiter kam dazu noch eine Angst, die vor allem in Phasen schwacher Konjunktur nicht unterschätzt werden sollte. Die Chancen, in illegalen, der Arbeit abgerungenen Zwischenräumen Körperlichkeiten und Neckereien auszutauschen und damit die implizite Botschaft der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu transportieren, waren also kaum vorhanden. Brachen sich Unzufriedenheit und Wut dennoch einmal gemeinsam Bahn, dann in den eruptiven und heftigen, aber heimlichen Schimpfarien, die sich hinter dem Rücken der Vorgesetzten vollzogen. Sie verliehen den Ohnmachtsgefühlen jedoch nur kurzfristig einen kollektiven Charakter und funktionierten eher als deren Kaschierung, die keine langfristig integrative Wirkung entfaltete.197 Eine offene, auch für die Meister sichtbare arbeitsgruppeninterne Antwort auf Entwürdigungen, wie das weitverbreitete Duzen der Arbeiter,198 konnte auf diese Weise nicht formuliert werden. „Folgenlose Ersatzhandlungen“ und reine „Kompensationen“ 199 waren aber weder dieses Schimpfen noch die anderen Akte eigen-sinnigen Verhaltens unter den Hüttenarbeitern. Vielmehr erfüllten sie für die Arbeiter eine ausgesprochen wichtige Funktion, die ihnen in sicherlich nicht wenigen Fällen das Weitermachen erst ermöglichte und die notwendige Distanz zum betrieblichen Herrschaftssystem herstellte. Mag dieses Verhalten auch oft bloß gegenseitig entfremdend und isolierend gewirkt haben und aus Sicht einer Arbeiterbewegungs- und Sozialgeschichte daher vernachlässigbar erscheinen, war es für seine Träger überaus zentral und oft die einzige Möglichkeit, dem Gefühl sklavischer Unterordnung zu widerstehen. Und selbst wenn es dafür keine Quellenbelege gibt, erscheint es doch durchaus plausibel, dass sich persönliche Kontakte und Solidarität im kleinen Rahmen auch ex negativo durch den Ausschluss anderer herstellen ließen – so traf das gegenseitige 197 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 314. 198 Laut DMV war es auf dem Bochumer Verein Usus, die Arbeiter zu duzen. Im Walzwerk soll es darüber hinaus zu tätlichen Angriffen gekommen sein. Vgl. die Schwereisenindustrie im deutschen Zollgebiet, ihre Entwicklung und ihre Arbeiter. Nach vorgenommenen Erhebungen im Jahre 1910 bearbeitet und herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1912, S. 489 – 492. 199 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 314.
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Necken und Ärgern, dass sich im Hüttenwerk eher auf die Pausen beschränkte, nicht wie in den Maschinenwerkstätten jeden einmal, sondern entlud sich komplett auf jene, die ihre Fassade der Stärke und Unantastbarkeit nicht rund um die Uhr aufrechterhalten konnten. Es war daher nicht kollektiv-solidarisch, sondern höchst selektiv und gleichzeitig Ausdruck und Festigung der Isolation des Einzelnen. Raue Scherze hatten dementsprechend nicht die Funktion einer Vergewisserung der Gruppenzugehörigkeit, die in manchmal schmerzhaften, aber im Grunde genommen harmlosen Streichen unterstrichen wurde. Hier erhoben sich viele über einen einzelnen Arbeiter mit der Intention einer Aufbesserung des eigenen geschundenen Selbstvertrauens. Man trat sich untereinander nicht zu nahe – man entehrte sich gegenseitig, weshalb diese Verhaltensweisen auch ungleich schwieriger in gruppeninterne Solidaritätsbeziehungen umzuwandeln waren. Diese individuelle Form des Eigen-Sinns, die sich in teils bösartigen Praxen zum Schaden der Kollegen niederschlagen konnte, nahm im System der Hütte zahlreiche Facetten an. Ihr gängigster Ausdruck war dabei zweifelsohne der Diebstahl des Eigentums der Kollegen oder des Unternehmens. Wie häufig Diebstähle einerseits vorkamen und wie sich andererseits unter den Kollegen eine Atmosphäre der Verdächtigung ausbreiten konnte, zeigt ein Fall bei Krupp aus dem Sommer 1901 anschaulich: Ein Arbeiter meldete den Diebstahl seiner Taschenuhr und belastete einen anderen Arbeiter schwer, der daraufhin festgenommen wurde. Der Verdacht bestätigte sich aber nicht, weil sich die Uhr im Haus ihres Eigentümers fand und sich die Beschuldigung als böswillige Unterstellung erwies. Die Betriebsleitung reagierte auf diese Ereignisse mit der Wiederholung ihrer Anordnung, in solchen Fällen nur die Kriminalpolizei zu verständigen, wenn es sich um Eigentum des Unternehmens handele, da man ansonsten ständig die Polizei im Hause habe.200 Während man es deshalb bei Delikten zwischen Arbeitern auch schon einmal bei den Nachforschungen beließ, folgte auf den Diebstahl firmeneigenen Materials prompt die Entlassung (selbst wenn es sich dabei um noch so abkömmliche Gegenstände handelte).201 Neben dem weitverbreiteten Diebstahl manifestierten sich andere Formen der unsolidarischen Selbstbehauptung, die nebenbei deutlich machen, wie anpassungsfähig eigen-sinniges Verhalten auftreten konnte. So klagte die Betriebsleitung des Gussstahlwerks in Essen bei Friedrich Krupp:
200 Vgl. Schreiben an Friedrich Krupp vom 15. 7. 1901, Friedrich Krupp AG, in: Historisches Archiv Krupp (HAK), WA 4/1620, Bl.1 – 2. 201 Noch 1920 führte man im Arbeiterausschuss der Friedrich-Alfred-Hütte (FAH) aus, dass alle Arbeiter schon einmal Schamotte (feuerfeste Steine einer Ausmauerung) gestohlen hätten, weshalb man sie nicht gleich entlassen müsste. Vgl. Niederschrift über die 47.
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Es haben sich in letzter Zeit die Fälle auffallend vermehrt, daß Arbeiter die bei Vergehen betroffen wurden, den Controlbeamten falsche Namen und Nummern bezw. solche ihrer Mitarbeiter angegeben haben, ohne daß an Ort und Stelle ihre Angaben geprüft werden konnten. Die Controle wird dadurch sehr erschwert, fast unmöglich gemacht, und die Schuldigen gehen leer aus, während die fälschlich Bezichtigten manchmal Mühe haben, den Beweis ihrer Schuldlosigkeit zu erbringen.202
Kurz zuvor waren Anweisungen an das Kontrollpersonal ergangen, Festnahmen oder gewaltsames Festhalten von Arbeitern in Zukunft vor allem in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Dies hätte sich im Werk herumgesprochen und Anlass zu dieser Praxis gegeben.203 Es handelte sich hier um einen Fall, der schlaglichtartig zeigte, wie es um die soziale Praxis innerhalb der Belegschaft bestellt war. Denn zum einen zeugte die Anweisung an die Kontrolleure von einem vorhandenen Problembewusstsein des Managements, das die unvorhersehbaren Reaktionen der Arbeiter bei Festnahmen umgehen und deren solidarisches Potential gar nicht erst aufkommen lassen wollte. Zum anderen deutete das Verhalten der Arbeiter auf ein sehr geringes Maß innerbetrieblichen Zusammenhalts hin und bestätigt damit die Vermutung einer gespaltenen Belegschaft isolierter Individuen. Deren Handeln untergrub in diesem Fall – bei allem individuellen psychologischen Nutzen – das gegenseitige Vertrauen noch weiter und war eigensinnig im umgangssprachlichen Sinne. Gleichzeitig war es Sinnbild des Rückzugs eigen-sinnigen Verhaltens in die noch existierenden Nischen des Kontrollapparats und Beweis dafür, dass sich Bereiche für eine Distanzierung vom betrieblichen Herrschaftssystem immer bieten konnten – ergaben sich dazu keine Chancen im Arbeitsprozess oder in den gruppeninternen Sozialbeziehungen, nutzte man kurzerhand die Anonymität und Auswechselbarkeit in den Hüttenbelegschaften aus. In zwischenmenschlich weniger schädlicher Weise als beim obigen Beispiel profitierte man davon auch bei der Unterwanderung der Zeitdisziplin des Unternehmens: Die Krupp’sche Arbeiterkontrolle teilte 1902 verwaltungsintern mit, dass viele Arbeiter ihre Marken beim Portier von anderen abwerfen ließen und man auf Grund der Arbeiterzahl kaum die Möglichkeit habe, dagegen Abhilfe zu schaffen. Arbeiter fehlten daher wohl wesentlich häufiger, als dies dem Unternehmen bekannt sei.204 Sitzung des Arbeiter-Ausschusses vom 28. 2. 1920, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/701, Bl. 9 f. 202 Mitteilung an Friedrich Krupp betreffs Arbeitervergehen vom 13. 4. 1898, Friedrich Krupp AG, in: HAK, WA 41/6 – 79. 203 Vgl. ebd. 204 Vgl. Mitteilung der Arbeiterkontrolle vom 10. 9. 1902, Friedrich Krupp AG, in: HAK, WA 41/6 – 79.
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Diese punktuellen Fluchtwege setzten die Arbeiter auch in den folgenden Jahren durch, was zu andauernden Überlegungen zur effektiven Arbeiterkontrolle führte. Als man 1910 dann neue Marken einführte, die eine persönliche Identifikation ermöglichten, hatten nach drei Monaten mehr als 2200 Arbeiter ihre Marken verloren, vervielfältigt oder bei der Entlassung nicht abgegeben, wodurch sich Nichtwerksangehörige Zutritt zum Werk verschafften.205 Insgesamt erwies sich der technisch-organisatorische Wandel der 1880er Jahre in der Hüttenindustrie für die Herausbildung belegschaftsinterner Kommunikationsund Solidaritätsbeziehungen als überaus hinderlich. Das „Drive-System“ verdrängte dabei eine betriebliche Situation, wie sie in großen Teilen um 1890 im Chemnitzer Maschinenbau noch Bestand hatte und die vor allem den qualifizierten Arbeitern eine gute Verhandlungsbasis ermöglichte. Für den DMV, der in dieser Industrie absolutes Neuland betrat, brachte dieser Wandel eine massive Erschwerung der ohnehin schon nicht günstigen Organisationsbedingungen mit sich.
2.4 Der DMV und die Hüttenwerke im Ruhrgebiet in der handwerklichen Phase Hindernisse der Verbandsentwicklung im Ruhrgebiet
Während im Chemnitzer Maschinenbau die informellen Vorfeldstrukturen vorhanden waren und „nur“ noch der „Schlüssel zum Betrieb“ fehlte, zeigten sich in der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets sowohl auf betrieblicher als auch auf gewerkschaftlicher Ebene erhebliche Defizite, die eine organisatorische Erfassung der Eisenund Stahlarbeiter in den Bereich des Unmöglichen rückten. Dazu kam eine ganze Reihe weiterer externer Faktoren im regionalen politisch-konfessionell-kulturellen Raum des Ruhrgebiets, durch die eine Annäherung an die Arbeiter erschwert wurde. Im Vergleich mit dem westsächsischen Industriegebiet ist dabei zunächst auf die unterschiedliche Bedeutung und Verwurzelung der Sozialdemokratie hinzuweisen. Denn obwohl das Rheinland zu den Hochburgen des ADAV gehört hatte und dieser in den 1870er Jahren auch in Duisburg Mandate erringen konnte,206 wirkten hier zwei Entwicklungen, deren Einfluss den Aufstieg der Bewegung im Ruhrgebiet bis in die 1890er Jahre hinein verzögerte: Einerseits traf nämlich das Sozialistengesetz ab 1878 die Sozialdemokratie im Ruhrgebiet wesentlich härter als in Sachsen, weil sich noch kein Arbeiter(bewegungs-)Milieu herausgebildet hatte, an das man auch 205 Vgl. Mitteilung der Arbeiterkontrolle vom April 1910, Friedrich Krupp AG, in: HAK, WA 41/6 – 79. 206 Vgl. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 498 f.
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unter den Bedingungen der Verfolgung hätte anknüpfen können 207 – wohingegen die SPD im Königreich trotz erster Verbotswellen und Repression eine rege Tätigkeit entfaltete, durch welche sie sich organisatorisch und personell mit den sozialistischen Metallarbeiterfachvereinen vernetzte. Andererseits litt die Sozialdemokratie an der Ruhr unter der Tatsache, dass sich die politischen Lager viel stärker an konfessionellen Linien ausrichteten als im homogen-evangelischen Sachsen, wo der politische Katholizismus nie eine tragende Rolle spielte.208 Vor dem Hintergrund der massenhaften katholischen Zuwanderung aus den preußischen Ostprovinzen und der polizeilichen Unterdrückung war eine politische Bindewirkung daher nur schwer herstellbar. Die feste Integration in die Pfarrgemeinden und die christlichsoziale Vereinsbewegung 209 (und deren Stoßrichtung gegen die Sozialdemokratie) sorgten dafür, dass es die SPD immer dort schwer hatte, wo sie auf ein intaktes katholisches Milieu traf.210 Da sich diese Verhältnisse erst in den 1890er Jahren langsam zu ändern begannen und die SPD Boden gut machen konnte, gestaltete sich das Verhältnis mit dem DMV in seiner Frühphase dementsprechend anders als in Sachsen: Die sozialistische Gewerkschaft stand gewissermaßen allein auf weiter Flur und konnte nicht von einer ähnlichen Verankerung der Partei in der arbeitenden Bevölkerung profitieren. Zwar existierte dieser Effekt auch in Chemnitz in der Frühphase kaum, doch konnte der DMV dort mittelfristig viel eher auf einem „kulturelle[n] Vorlauf“ 211 aufbauen und besaß darüber hinaus von Beginn an engste personelle Kontakte zur lokalen Partei. Musste man sich daher auch zunächst gegen deren Dominanz behaupten, waren doch die Arbeit der SPD vor 1890 und ihre Wahlerfolge danach sicherlich kein hinderlicher Faktor in der Entwicklung des DMV. Sie ermöglichten (vor allem nach 1900) viel eher ein organisatorisches Trittbrettfahren im proletarischen Milieu, das dem Verband im Ruhrgebiet weitgehend fehlte. Die konfessionelle Polarisierung der Ruhrgebietsarbeiterschaft wirkte sich jedoch nicht nur auf der parteipolitischen Ebene aus. Auf Grund der politischen Ausrich 207 Vgl. Karl Rohe, Die Ruhrgebietssozialdemokratie im Wilhelminischen Kaiserreich und ihr politischer und kultureller Kontext, in: Gerhard A. Ritter/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs, München 1990, S. 318. 208 Vgl. Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie, S. 41. 209 Vgl. Michaela Bachem-Rehm, Katholische Arbeitervereine im Ruhrgebiet 1870 – 1914, in: Claudia Hiepel/Mark Edward Ruff (Hrsg.), Christliche Arbeiterbewegung in Europa 1850 – 1950, Stuttgart 2003, S. 20 – 41. 210 Vgl. Rohe, Ruhrgebietssozialdemokratie, S. 325. 211 Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992, S. 88.
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tung der deutschen Gewerkschaften manifestierten sich diese Unterschiede auch in den Gründungen von verschiedenen Metallarbeitergewerkschaften, die mit an den jeweiligen Lagern orientierten Programmen und Methoden versuchten, die Arbeiter der Eisen- und Stahlwerke zu erreichen. Zum wichtigsten Kontrahenten für den DMV entwickelte sich dabei der Christliche Metallarbeiterverband (CMV), der, erst 1899 in enger Verbindung mit dem katholischen Zentrum gegründet, bis zum Ersten Weltkrieg eine rasantes Mitgliederwachstum verzeichnen konnte, seinen regionalen Schwerpunkt immer im schwerindustriellen Ruhrgebiet hatte 212 und auch in der Weimarer Republik über eine breite betriebliche Verankerung verfügte. Daneben existierte schon seit 1869 der liberale Hirsch-Duncker’sche Gewerkverein der Maschinenbauer und Metallarbeiter (H.-D.), dessen Schwerpunkt ebenfalls an der Ruhr lag, der aber in der Folgezeit keine vergleichbar starke Position erlangen konnte wie der CMV.213 Dennoch spielten beide Verbände hier eine wesentlich größere Rolle als in Sachsen.214 Diese ideologische Zersplitterung führte dazu, dass auf Grund unvereinbarer Vorstellungen vor allem über das Arbeitskampfmittel Streik die Metallarbeitergewerkschaftsbewegung den Unternehmern und den Arbeitern uneinheitlich gegenübertrat und die Verbände so massiv schwächte. Besonders in der stark konzentrierten Hüttenindustrie wirkte sich dieser Umstand für die Durchsetzungsfähigkeit und den Vertretungsanspruch des DMV langfristig katastrophal aus. Fehlende vorgewerkschaftliche Strukturen und die Suche nach den Ursachen
Waren durch die politischen und konfessionellen Strukturen des Ruhrgebiets demnach kaum Elemente einer Vorfeldorganisation für den DMV vorhanden, so galt dies für die gewerkschaftliche Organisation der Eisen- und Stahlarbeiter umso 212 Schätzungen von 1906 beziffern den Anteil Rheinland-Westfalens an der CMV-Mitgliedschaft auf 80 Prozent. Vgl. Steinisch, Arbeitszeitverkürzung, S. 84 f.; vgl. dazu allgemein Michael Schneider, Die christlichen Gewerkschaften 1894 – 1933, Bonn 1982. 213 1906 bezogen die H.-D. knapp ein Drittel ihrer Mitglieder aus Rheinland-Westfalen. Vgl. Steinisch, Arbeitszeitverkürzung, S. 85. 214 Nach Angaben der Chemnitzer Polizei bestanden 1912 in Chemnitz neben dem DMV noch ein katholischer Arbeiterverein mit 250 Mitgliedern, ein evangelischer Arbeiterverein mit 1800 Mitgliedern, ein katholischer Frauen- und Mädchenverein mit 150 Mitgliedern, ein freisinniger Arbeiterverein mit 200 Mitgliedern und die Ortsgruppe christlich-nationaler Metallarbeiter mit 50 Mitgliedern. Dazu kamen die Werkvereine. Der DMV umfasste in Chemnitz zu dieser Zeit knapp 18.000 Mitglieder. Vgl. Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, Bericht über die politische und gewerkschaftliche Bewegung in Chemnitz 1912, in: Sächsisches Hauptstaatsarchiv (HS tA) Dresden, 10736, Nr. 11064, Bl. 214 – 255. Vgl. Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1912, herausgegeben vom Deutschen Metallarbeiter-Verband, Verwaltungsstelle Chemnitz, Chemnitz 1913, S. 57 f.
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mehr: Denn anders als in den USA hatten die Strukturen des „Team-Systems“ im Ruhrgebiet nicht zu einer berufsgewerkschaftlichen Integration der qualifizierten Arbeiter geführt, weil sich diese unter den günstigen Bedingungen des Arbeitsmarktes meist erübrigte. Als mit dem Einsetzen der Krise der 1870er und 1880er Jahre die einfache Durchsetzung von Lohnforderungen nicht mehr möglich war, konnten auch gewerkschaftliche Strukturen nicht mehr etabliert werden.215 Bei dieser Situation blieb es bis zur Gründung des DMV weitestgehend – auf eine vergleichbare Fachvereinsphase der 1880er Jahre wie im Maschinenbau konnte die Hüttenindustrie also 1891 nicht zurückblicken. Allerdings war dies auch wenig verwunderlich, fehlte doch mit der handwerklichen Prägung das Merkmal der Fachvereins- wie auch der handwerklichen Phase bei den Eisen- und Stahlarbeitern fast völlig.216 In dieser Hinsicht waren sie ebenso wie die Maschinenarbeiter in den Werkzeugmaschinenfabriken Produkte einer industriellen Entwicklung und damit gewissermaßen moderne Metallarbeiter, deren Berufe auf keinen handwerklichen Ursprung zurückgingen. Da ihre Tätigkeit dennoch zahlreiche Qualitäten wie Geschicklichkeit, Erfahrung, Umsicht und Körperkraft voraussetzte, begründeten sie quasi die Kategorie der angelernten Arbeiter, zu der keine Handwerkslehre mehr gehörte, die aber vom Dreher bis zum Puddler ein breites Spektrum qualifizierter Arbeiter umfasste. Im Gegensatz zum Maschinenbau erfuhr diese Arbeiterkategorie mit dem Wandel zum „Drive-System“ jedoch in der Hüttenindustrie eine Degradierung: Handwerksgewohnheiten haben ja auch unter den Hochofenarbeitern vor 100 Jahren nicht geherrscht; aber eine nicht sehr lange Lehrzeit und die Notwendigkeit einer gewissen Erfahrung lagen in der Natur der Sache. Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich auch dies geändert; zwar sind die Schmelzer nicht zu ungelernten Arbeitern herabgesunken, aber sie gehören heute zu den zahlreichen Arbeiterkategorien, die wir angelernte Arbeiter nennen und in denen ein Tüchtiger es in der Frist von wenigen Monaten zum Vorarbeiter zu bringen vermag.217
Die Auswirkungen dieses Degradierungs- wie Reduzierungsprozesses angelernter qualifizierter Arbeit prägten die Hüttenindustrie im Hinblick auf die gewerkschaftliche Organisation bis zum Ersten Weltkrieg fundamental. Denn unter den ohnehin problematischen Bedingungen des Ruhrgebiets verschärften sie sich zusammen mit der Abwesenheit handwerklicher Lehre unter den Arbeitern zu dem Umstand, 215 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 198 f. 216 Zahlen für den Anteil von Handwerkern im „Drive-System“ liegen für 1907 vor. Demnach betrug dieser auf der Gewerkschaft Deutscher Kaiser 16 Prozent, ebenso beim Phoenix, und bei Krupp in Rheinhausen 15 Prozent. Vgl. Pietsch, Feuerarbeiter, S. 189. 217 Ehrenberg, Eisenhüttentechnik, S. 89.
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dass die Hüttenarbeiter aus Sicht vieler DMV -Sekretäre einen unqualifizierten Sonderfall darstellten. Für die Gewerkschafter, die zum überwiegenden Teil ein Handwerk erlernt hatten (und auch über einen anderen geographisch-kulturellen Hintergrund verfügten)218 und in ihrem Denken in der Fachvereinsphase verwurzelt waren, gehörten sie damit weder zum Kreise der handwerklichen Kernmitgliedschaft noch in die Reihe derer, an die man langsam (und „von allein“) Anschluss gewann (wie die Dreher). Der weiterwirkende Berufsvereinsgedanke der handwerklichen Phase schloss die Hüttenarbeiter daher auch nicht mit ein. Bis 1907 waren sie noch nicht einmal in die Liste der zu organisierenden Berufe im DMV aufgenommen und partizipierten demnach mit ihren Interessen auch nicht an der internen Diskussion.219 Darüber hinaus boten der Verbandscharakter der Zusammenfassung selbstorganisierter Basisgruppen und die agitatorisch-methodische Selbstbeschränkung in dieser Phase die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für ein aktives Zugehen auf die Arbeiter. Sie entsprachen nicht dem Organisationstypus des DMV und konnten deshalb auf dem Wege der außerbetrieblichen Mitgliederversammlung kaum gewonnen werden. Anders als in den Chemnitzer Maschinenbaubetrieben boten nämlich die Hüttenwerke der Gewerkschaft weder informelle Solidaritätsstrukturen noch Ansätze der Selbstorganisation von Arbeitsgruppen. Symptomatisch dafür waren die anhaltenden Klagen der Metallarbeiter-Zeitung und anderer DMV-Periodika, die sich sowohl auf die Gewerkschaftsfeindschaft der „Schlotbarone“ als auch auf das als unsolidarisch empfundene Verhalten der Hüttenarbeiter bezogen. Verglichen mit der Dekade vor 1914 erschienen solche Artikel in den 1890er Jahren aber nur sporadisch und vor allem zwischen 1894 und 1896 in einer lose zusammenhängenden Reihe in der Metallarbeiter-Zeitung. Auf Grund der chronischen Betriebsferne des Verbandes und der damit einhergehenden fehlenden Beeinflussungsmöglichkeiten vor Ort konzentrierten sie sich besonders darauf, ein umfassendes Bild der Organisationshindernisse zu entwerfen. Dadurch lenkten sie den Blick weg von den eigenen defizitären Methoden und luden die Verantwortung für die Organisationsferne der Hüttenarbeiter einseitig den Unternehmern und vor allem den Arbeitern selbst
218 DMV-Sekretäre hatten in der Regel eine handwerkliche Lehre absolviert und gehörten nicht zur Gruppe der ländlichen Fernwanderer aus den preußischen Ostprovinzen. So auch Schlicke, Wissell, Krause, Riemann, Zuckschwerdt und Ungrade. Hütten- oder Walzwerkarbeiter befanden sich unter ihnen während dieser Phase sowieso nicht. 219 Bis 1907 führte man die Hütten- und Walzwerkarbeiter im DMV unter „Sonstige Arbeiter“, auch weil ihr Anteil bis dahin kaum eine eigenständige Anführung gerechtfertigt hätte. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1907. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1908, S. 7.
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auf. Über Jahre hinweg wurde auf diese Weise eine Sicht von der Eisen- und Stahlindustrie transportiert, in der die Übermacht der Verhältnisse betont und einem weitergehenden Engagement des Verbands von vornherein geringe Chancen eingeräumt wurde. Der Organisationscharakter der handwerklichen Phase mündete somit in einer weitestgehend resignativen Haltung vieler Gewerkschaftssekretäre. Eine Kritik entzündete sich daran in den 1890er Jahren kaum; sie trat erst nach der Jahrhundertwende zu Tage. Einstweilen beschränkte man sich daher auf die Ansatzpunkte, die die Eisenund Stahlwerke zur Beschwerde hergaben. Davon existierten freilich eine ganze Menge. Die „Debatte“ in der Metallarbeiter-Zeitung (MAZ) bezog sich auf drei große Ansatzpunkte, mit denen man die Organisationsprobleme erklären zu können glaubte: die Produktionsbedingungen im Großbetrieb, die Lebensverhältnisse der Arbeiter und die Struktur der Arbeiterschaft.220 Innerbetrieblich kritisierte man vor allem die strenge Hierarchisierung, die künstlich hergestellt und von einem System differenzierter Akkordlöhne untermauert eine entsolidarisierende Aufstiegsmentalität produziere, der man mit Plädoyers über die Ursachen der gemeinsamen Unterdrückung nicht gewachsen sei.221 Die abgestufte Leistungsentlohnung und das ausgebaute Prämiensystem förderten ein internes Konkurrenzdenken, das nicht nur die Kolonnen fragmentiere, sondern auch zu einer Spaltung nach Arbeitsschichten führe, da diese versuchten, sich gegenseitig zu übertreffen.222 Des grundlegenden gewerkschaftlichen Problems im „Drive-System“ war man sich daher bewusst: Durch die Simplifizierung der nun vor allem unselbstständigen Arbeit und den raffinierten Einsatz von Löhnen und Prämien war es möglich, Arbeiter untereinander zu isolieren und ihr Interesse mit jenem der Unternehmer zu verbinden – einer betrieblichen Mobilisierung gegen Zwölfstundenschicht, Überstundenwesen und Feiertagsarbeit wirkte dieser geschickte Lohnanreiz lange entgegen. Außerbetrieblich stützte diese Verhältnisse das breite Netz der Wohlfahrtseinrichtungen, der Werkswohnungen und der partiellen Ernährungsabhängigkeit vom Arbeitgeber.223 Dazu komme, und dieses Argument bildete lange Zeit den Kern gewerkschaftlicher
220 Vgl. Elisabeth Domansky-Davidsohn, Der Großbetrieb als Organisationsproblem des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes vor dem Ersten Weltkrieg, in: Hans Mommsen (Hrsg.), Arbeiterbewegung und industrieller Wandel. Studien zu gewerkschaftlichen Organisationsproblemen im Reich und an der Ruhr, Wuppertal 1980, S. 102. 221 Vgl. Otto Huè, Die Konzentration des Kapitals und die Gewerkschaften, in: MAZ 13 (1895) 12, S. 2 f. 222 Die Leistungsorientierung der Arbeiter und daraus resultierende Hetze kritisierten DMVArtikel während des „Drive-Systems“ immer wieder. Vgl. etwa für die Walzwerke: Korrespondenzen. Duisburg, in: MAZ 25 (1907) 34, S. 274. 223 Vgl. Huè, Konzentration des Kapitals, S. 2 f.
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Klagen, die Herkunft vieler Hüttenarbeiter aus den preußischen Ostprovinzen, aus Polen und Italien. „Rückständige Elemente“ 224 hätten das Ruhrgebiet „überschwemmt“, würden auf Grund ihrer mangelnden Erfahrung als Lohnarbeiter jeden Lohn akzeptieren und zögen damit auch die einheimischen Arbeiter herab. Außerdem seien sie in der Regel gar nicht gewillt, über einen Beitritt überhaupt nachzudenken; sie ließen sich viel eher in das katholische Milieu integrieren, das sie erfolgreich vor den Gewerkschaften abschotte.225 Besonders die Betonung der ersten beiden Faktoren durch die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung hatte zur Folge, dass die Stagnation der Gewerkschaften im Ruhrgebiet lange als ein Resultat der Übermacht der Schwerindustriellen interpretiert wurde.226 Deren Kapitalmacht, die Wohlfahrtseinrichtungen und schwarzen Listen hätten die Verbände aus den Betrieben herausgehalten und eine Fühlungnahme mit den Hüttenbelegschaften erfolgreich blockiert. Damit folgten die Historiker im Wesentlichen der Sicht der Gewerkschafter, wie sie in den Periodika während dieser Phase und aus der Rückschau häufig formuliert wurde – und deren Erklärungskraft lag natürlich auf der Hand: Denn sowohl die juristischen Fährnisse, die der Verband jederzeit zu beachten hatte,227 als auch die polizeiliche Repression und die Kontrolle durch die betrieblichen Instanzen schufen reale Barrieren zwischen den Hüttenarbeitern und dem DMV, die einen Organisationsbeitritt als wenig attraktiv erscheinen lassen mussten. Jeder Arbeiter, der bei einer gewerkschaftlichen Versammlung von einem Meister oder anderen Vorgesetzten angetroffen wurde, musste mit der sofortigen Entlassung rechnen.228 Im Ruhrgebiet wurde diese Situation (verglichen mit Sachsen) noch dadurch verschärft, dass die Unternehmen eng mit der Polizei zusammenarbeiteten: Zu den großen Werken der Metallbranche, die besonders rigoros vorgingen, zählte neben Krupp in Essen und Phönix in Hörde der Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahl 224 Otto Huè, Die Metallarbeiterorganisation am Niederrhein und ihre Hemmnisse, in: MAZ 14 (1896) 50, S. 1 f. 225 Vgl. ders., Die Metallarbeiterorganisation am Niederrhein und ihre Hemmnisse II, in: MAZ 14 (1896) 52, S. 1 f. 226 So etwa bei Walter Neumann, Die Gewerkschaften im Ruhrgebiet; vgl. auch Gerhard Adelmann, Die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Ruhrindustrie vor 1914, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 175 (1963), S. 412 – 427. 227 Vgl. Klaus Saul, Zwischen Repression und Integration. Staat, Gewerkschaften und Arbeitskampf im kaiserlichen Deutschland 1884 – 1914, in: Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann (Hrsg.), Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1981, S. 209 – 238; vgl. auch Steinisch, Arbeitszeitverkürzung, S. 94. 228 So der GHH -Arbeiter Peter Groh in einer Versammlung des CMV am 5. 6. 1906 laut Überwachungsbericht der Polizei, in: RWWA, 130 – 300143/0, Bl. 19.
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fabrikation. […] Nach der Zeit des Sozialistengesetzes ging die Polizei in Gemeinschaft mit den Unternehmern ziemlich brutal vor. Sie verbot uns Versammlungen, trieb uns Versammlungslokale ab, ließ Lokale schließen, verhängte über unsere Versammlungen die Schanksperre usw.229
Als besonders scharfe Waffe der Schwerindustriellen entpuppte sich dabei ihr lokalpolitischer Einfluss, der der Weitergabe von Mitgliedsdaten durch die Polizei den Anstrich der Legalität verlieh und umso schwerer wog, seitdem der technischorganisatorische Wandel die Austauschbarkeit der Arbeiter forciert hatte: Es bestand nämlich die Verpflichtung, sämtliche Mitglieder der Polizei anzumelden und bei der bekannten Verbundenheit der lokalen Polizei und den im hiesigen Stadtparlament herrschenden Großunternehmern, insbesondere des Bochumer Vereins, bestand die Befürchtung, daß die Mitgliederlisten auch den hiesigen Unternehmern bekannt wurden. Und richtig, kaum einige Wochen vergingen und schon wurden auf dem Bochumer Verein die bei der Polizei angemeldeten Mitglieder, darunter auch der Kollege Lückel, ohne Angabe von Gründen gekündigt. Wir „vergaßen“ aus diesen Gründen heraus, die auf den hiesigen größeren Werken beschäftigten Kollegen für die Zukunft bei der Polizei anzumelden.230
Da im Gegensatz zu einem mittleren Maschinenbauunternehmen mit einem hohen Anteil qualifizierter Arbeiter einem Schwerindustriellen die Entlassung einiger Hüttenarbeiter zu dieser Zeit wahrscheinlich gar nichts bedeutete, mussten die Sekretäre solchen Fällen auch anderweitig zuvorkommen. Sie ahmten dazu das Vorgehen ihrer sächsischen Kollegen nach und zogen sogar Nutzen aus der immensen Fluktuationsrate im Verband: Die Polizei hat, wie wir einmal in einem Prozeß feststellen konnten, die Kollegen, die in einer Versammlung in der Diskussion gesprochen hatten, dem Bochumer Verein gemeldet und es erfolgte dann deren Entlassung. Wir hatten dann unsere Verwaltung pro forma aufgelöst, unsere Kollegen waren Einzelmitglieder und wurden der Polizei nicht mehr gemeldet. (Uebrigens haben wir damals in keiner Verwaltung alle Mitglieder nebst Wohnung der neugierigen Polizei gemeldet. In der Hauptsache meldeten wir die abgereisten Kollegen an.)
229 Max König, Ein Rückblick, in: 1892 – 1927. Festschrift aus Anlaß des 35-jährigen Bestehens der Verwaltungsstelle Bochum des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes am 23. Oktober 1927, herausgegeben vom Deutschen Metallarbeiter-Verband, Verwaltungsstelle Bochum, Nachdruck der Ausgabe von 1927, Bochum 1992, S. 7. 230 Anton Wüllner, 1892 – 1927, in: 1892 – 1927. Festschrift Bochum, S. 20 f.
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Hinter den nicht mehr anwesenden Mitgliedern des Deutschen Metallarbeiterverbandes liefen dann die armen Beamten her, um Recherchen anzustellen.231
Das Hüttenarbeiterbild der DMV-Beamten und agitatorische Maßnahmen
Obgleich der Verweis auf die Gewerkschaftsfeindschaft der Ruhrindustriellen bei der Erklärung der kaum vorhandenen Organisation der Hüttenarbeiter immer noch zu überzeugen weiß, muss er dennoch nur als Teil der Antwort auf diese Frage gelten. So bildeten die Hütten des Ruhrgebiets zwar quasi den Prototyp einer Industrie, in der dem DMV innerbetrieblich, außerbetrieblich, politisch und durch die Wanderungsbewegungen die größtmöglichen Hindernisse in den Weg gelegt wurden, doch wurde dieser Charakter schon bald zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die sich massiv auf die Organisationsmethode und das Verhältnis zwischen Sekretären und Hüttenarbeitern auswirkte. Da es nämlich auf Grund der fehlenden betrieblichen Verankerung und des Totalausfalls der Versammlungen als Agitationsmittel nicht möglich war, den Verband für die Arbeiter erfahrbar zu machen, grub sich schon bald ein spezifisches Hüttenarbeiterbild in den Köpfen vieler Sekretäre ein, das in der Folgezeit noch eine immense Rolle spielen sollte. Man resignierte darin nicht nur vor den Verhältnissen – man verwechselte auch allzu oft Organisationsferne mit Organisationsapathie und entlastete damit den Verbandsapparat von der Schuld an einem defizitären Vermittlungsangebot. Das Zugehen auf die unorganisierte betriebliche Basis gehörte scheinbar einfach nicht zum Repertoire der handwerklichen Phase. Um 1900 hatte sich dieses Bild dann vollends eingebrannt: Unsere Hauptaufgabe ist die Beseitigung der Dummheit der Massen; wir haben in unserem Bezirk das, was Segitz für die Agitation vorschlägt, schon alles versucht, aber in Folge der bewußten Lügen, mit denen die Gegner arbeiten, nichts erreicht. Von den 20.000 Metallarbeitern in Dortmund sind nur 400 modern organisiert. Wir haben alles versucht, wir sind in gegnerische Versammlungen gegangen, wir betreiben die Agitation in Werkstätten, aber es fehlt uns an unabhängigen Personen. Wer in einer Versammlung erscheint, wird sofort gemaßregelt.232
Mit dieser Lagebeschreibung „entschuldigte“ sich der DMV-Sekretär Schönfelder aus Dortmund auf der Generalversammlung des Verbandes 1901 für den Nach 231 Karl Spiegel, Aus vergangenen Jahren, in: 1892 – 1927. Festschrift Bochum, S. 31. 232 Protokoll der 5. Ordentlichen General-Versammlung zu Nürnberg im grossen Saale der „Rosenau“. Abgehalten vom 28. Mai bis 1. Juni 1901, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1901, S. 211.
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holbedarf des Bezirks Rheinland-Westfalen und machte gleichzeitig deutlich, wen er für diese Situation verantwortlich machte. Ähnlich despektierlich äußerte sich der Sekretär Max König aus Bochum noch nach mehr als dreißig Jahren: „Im wesentlichen trägt die Schuld an allem Arbeiterelend letzten Endes die Arbeitermasse selbst. Sie hatte die Notwendigkeit, Sinn und Geist der modernen Arbeiterorganisation noch nicht erfaßt. Es fehlte ihr das Klassenbewußtsein.“ 233 Damit hatte er das Dilemma des DMV vor 1900 implizit beschrieben: Auf einen Selbsterkenntnisprozess der heterogenen und im Hüttensektor besonders atomisierten Arbeiterschaft konnten die Gewerkschaften lange warten. Solange man diesen Prozess durch geeignete Methoden nicht anstieß, begleitete und damit die Klasse selbst integrierte, kam man auch über die eigene Bedeutungslosigkeit nicht hinaus und erging sich weiterhin in Äußerungen über die Intelligenz der Arbeiter. Denn Organisation war und blieb für viele Sekretäre auch immer eine Bildungsfrage: Mit der simplen Gegenüberstellung der einsichtigen Mitglieder und der erkenntnisresistenten Unorganisierten stigmatisierte man Letztere dauerhaft und vergrößerte die Distanz zum Verband nur noch weiter. Den überwiegenden Teil der Äußerungen von Sekretären in den Versammlungen kennzeichnete daher auch ein weitgehendes Unverständnis gegenüber der Tatsache, dass Hüttenarbeiter den Wert der Organisation nicht von allein verstünden – der Charakter der handwerklichen Phase offenbarte sich hier sehr deutlich.234 Dieser propagierte Zusammenhang von Bildungsgrad und Mitgliedschaft gestaltete sich in der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets umso problematischer, als dass hier ausgesprochen ungünstige Umstände, schwache Organisationsanreize und ein realistisch-pragmatischer Menschenschlag aufeinandertrafen: Man mag darüber denken, wie man will, man darf nicht die nüchterne Betrachtungsweise mit einer interesselosen verwechseln. Und damit kommen wir auf den Zug, der, wie er uns am modernen Unternehmer auffällt, so auch als die Errungenschaft des modernen Arbeiters erscheint; wie manche Tätigkeiten besonders die Zuverlässigkeit, andere die Geistesgegenwart ausbilden, so bekömmt [sic!] gerade der beste der modernen Maschinenarbeiter jene schweigsamere Art des nüchternen Realisten, die doch als Grundzug der modernen Gesellschaft von pro wie contra empfunden wird.235
233 König, Ein Rückblick, S. 8. 234 Vgl. Korrespondenzen. Duisburg, in: MAZ 13 (1895) 35, S. 5. „Die letzte Mitgliederversammlung war, wie gewöhnlich, schlecht besucht, denn es waren von 40 Mitgliedern 8 anwesend, sodaß es für einen Uneingeweihten fast den Anschein haben könnte, als ob die hiesigen Metallarbeiter das beste Leben von der Welt führten und es nicht nötig hätten, wie die Kollegen anderer Orte für ihre Existenz zu kämpfen.“ 235 Ehrenberg, Eisenhüttentechnik, S. 126.
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Die meisten Hüttenarbeiter dürften sich daher innerlich gefragt haben, wieso sie Mitglied einer Organisation werden sollten, die nicht nur Pragmatismus als Dummheit verschrie, sondern auch einige Gefahr für den Arbeitsplatz und die Versorgung der Familie mit sich brachte. Es gelang dem DMV nicht, die Vorteile des Beitritts im Voraus glaubhaft zu machen. Vielmehr polemisierten Gewerkschafter genau gegen jene Verhaltensweisen, die den Hüttenarbeitern im „Drive-System“ noch übrig geblieben waren, um das geschundene Selbstwertgefühl aufzubessern. Sie bezichtigten die Arbeiter implizit des Klassenverrats und zogen sogar ihr Ehrgefühl in Zweifel 236 – ein Kardinalfehler, der die Belegschaften sicherlich an ihre Behandlung im Betrieb erinnerte und den DMV an der unorganisierten Basis erheblich desavouierte. Vor diesem Hintergrund mussten die Aufrufe, sich gegen die Verhältnisse zu stemmen, indem man dem Verband beitrat, als schlechter Witz empfunden werden. Bevor sich Hüttenarbeiter dazu entschieden, dem DMV entgegenzukommen, blieben sie daher lieber für sich. Verglichen mit der Organisationsentwicklung im Chemnitzer Maschinenbau, wo man wenigstens teilweise auf handwerkliche Vorfeldstrukturen aufbauen und in einem Lernprozess langsam Fühlung mit den modernen Industriearbeitern aufnehmen konnte, lässt sich für die Hüttenindustrie weder von einer Organisationsentwicklung noch von einer Organisationstaktik sprechen. Vielmehr blieb die Eisen- und Stahlindustrie in den gewerkschaftlichen Erwägungen bis zur Jahrhundertwende außen vor; zu groß erschienen hier die Hindernisse. Über ein internes Debattenthema, das schlaglichtartig die Ratlosigkeit veranschaulichte, kamen sie nicht hinaus. Selbst Ersatzstrategien, wie die parlamentarischen Initiativen oder die Werkstattversammlungen nach der Jahrhundertwende, waren während der handwerklichen Phase nicht vorhanden. Darüber hinaus passte die Verwaltungsstruktur des Verbands auch nur bedingt zu den großbetrieblichen Arbeitsverhältnissen: Durch die Gliederung nach dem politischen System, welche den Betrieb nicht berücksichtigte, war es möglich, dass Arbeiter gleicher Abteilungen in unterschiedlichen Zahlstellen organisiert sein konnten.237 Die betriebliche Differenzierung setzte sich so auf der gewerkschaftlichen Ebene fort. Aus einem ganzen Geflecht von Gründen dürften deshalb unter den wenigen DMV-Mitgliedern des Ruhrgebiets auch kaum Hüttenarbeiter gewesen sein.
236 Vgl. Korrespondenzen. Duisburg, in: MAZ 25 (1907) 34, S. 274. 237 Vgl. Domansky-Davidsohn, Der Großbetrieb, S. 109 f.
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Tab. 2: Mitgliederzahlen der DMV – Verwaltungsstellen im Ruhrgebiet (1895 – 1900)
238
Dortmund
Essen
Bochum
Duisburg
1895
60
70
36
46
1896
102
78
59
66
1897
75
147
63
54
1898
82
225
109
90
1899
189
318
127
60
1900
208
348
145
100
Das einzige Agitationsmittel, das über die regelmäßige Versammlungstätigkeit hinausging, dieser aber methodische verpflichtet blieb, waren wie auch in Sachsen die Agitationstouren höherer Gewerkschaftssekretäre. So besuchte Friedrich Schlegel auf seiner Werbetournee am Niederrhein 1897 auch die Verwaltungsorte Essen, Duisburg, Ruhrort und Mülheim an der Ruhr, musste aber enttäuscht wieder abreisen, weil die Versammlung in Essen ausfiel und bis auf Mülheim ansonsten nirgends eine Wirkung festgestellt werden konnte. Auf einem Treffen aller Vorsitzenden des Rheinlands konstatierte er später, dass man über neue Agitationswege nachdenken müsse, da die Kollegen merkten, mit den alten Methoden nicht mehr weiterzukommen. Auch äußerte er den Wunsch, dass die Kollegen in Duisburg, Essen und Ruhrort wenigstens über den Einsatz anderweitiger Maßnahmen nachdenken würden.239 Zu einem ähnlichen Urteil kam auch der Sekretär Dejung im Jahr darauf, der in Duisburg, Essen, Dortmund, Mülheim und Bochum einen schlechten Versammlungsbesuch beklagte und dies vor allem auf den Mangel geeigneter Kräfte zurückführte. Er wiederholte auch die für diese Jahre im DMV typische Verwunderung darüber, dass doch die Hüttenindustrie eigentlich zu den bestorganisierten Bereichen gehören müsse, da hier der Typ des modernen Industriearbeiters am geballtesten auftrete. Dejung begründete diese offensichtliche Diskrepanz mit dem Vorherrschen der Großbetriebe, die agitierende Kollegen sofort entlassen könnten.240
238 Vgl. die Jahresabrechnungen des Verbandes in MAZ 14 (1896) 20; MAZ 15 (1897) 14; MAZ 16 (1898) 15; MAZ 17 (1899) 11; MAZ 18 (1900) 22; MAZ 19 (1901) 17. 239 Vgl. Friedrich Schlegel, Agitationsbericht, in: MAZ 15 (1897) 41, S. 6. Mit neuen Methoden meinte Schlegel vor allem die Werkstättenagitation und die Einführung von Werkstattvertrauensleuten. Sein Phlegmatik-Vorwurf an seine Kollegen ist diesbezüglich aber ungerechtfertigt, da eine Einführung solcher Institutionen bei den betrieblichen Verhältnissen beinahe unmöglich erschien. 240 J. Dejung, Agitationsbericht, in: MAZ 16 (1898) 23, S. 6.
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Unter den Bedingungen einer versagenden Versammlungsorganisation waren die Agitationsreisen letztlich zum Scheitern verurteilt. Betriebliche Repression, persönliche Gefahr und ein Verband, der das Taktgefühl oft vermissen ließ, kamen hier zusammen und hielten die Industriearbeiter aus den Versammlungen heraus. Wie stark diese Organisationsweise von Handwerkern abhängig war, zeigt eine Bemerkung Carl Eberts: Nachdem die Henrichshütte von Henschel und Sohn erworben war und dort mehr fremde Handwerker eingestellt wurden, war es uns auch dort möglich, einen Stamm von Mitgliedern zu bekommen.241
Da diese Arbeiter in der Hüttenindustrie aber rar gesät waren, änderte sich am schwachen Versammlungsbesuch lange nichts 242 und die Eisen- und Stahlarbeiter blieben „außer Reichweite“.243 Ihren krassesten Ausdruck fanden die Verhältnisse in den Ereignissen um die vergebliche Gründung der DMV – Verwaltungsstelle Duisburg-Hochfeld im Jahre 1895. Denn eigentlich ins Leben gerufen, um nicht weniger als vier Hüttenwerke, drei Walzwerke und drei Eisenwerke organisatorisch zu erschließen, musste die Verwaltungsstelle nach kurzer Zeit wieder aufgelöst werden, weil es nicht einmal gelungen war, die zehn Gründungsmitglieder zu halten, geschweige denn neue Mitglieder zu werben.244
241 Carl Ebert, Aus der Anfangszeit der Verwaltungsstelle Bochum, in: 1892 – 1927. Festschrift Bochum, S. 14. 242 Die Liste von Berichten mangelhaft besuchter Versammlungen ist lang. Vgl. etwa Korrespondenzen. Dortmund, in: MAZ 13 (1895) 47, S. 6; vgl. Korrespondenzen. Duisburg, in: MAZ 13 (1895) 35, S. 5. 243 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 414. 244 Jürgen Dzudzek, Die Anfänge des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Duisburg, in: Heid/Schoeps (Hrsg.), Arbeit und Alltag im Revier, S. 160 f.
3. Migration als Organisationsfaktor 3.1 Arbeitsmigration und gewerkschaftliche Organisation im Verhältnis Die Wanderungen auf der Suche nach Arbeit gehörten zu den prägendsten gesellschaftlichen und sozialen Prozessen während des Kaiserreiches. Sie veränderten in einer massiven Umwälzung die Wohnorte, Lebensräume und Arbeitsplätze von Millionen Menschen. So hielt etwa die Betriebs- und Berufszählung des Jahres 1907 fest, dass nicht weniger als 29 Millionen Menschen und damit beinahe die Hälfte der Reichsbevölkerung über eine Binnenwanderungserfahrung verfügte. Dabei wanderten sieben Zehntel als Nahwanderer im engeren Umkreis ihrer Heimat und drei Zehntel über die Landes- und Provinzgrenzen hinaus.1 Letztlich waren 47 Prozent aller Einwohner und 54,9 Prozent aller Großstädter Binnenwanderer 2 – Zahlen, die in den entstehenden industriellen Ballungszentren noch deutlich übertroffen worden sein dürften, weil dort der Arbeiterbedarf einer standortgebundenen technisch-industriellen Entwicklung erst durch Zuwanderung mit dem Bevölkerungsanstieg verbunden wurde.3 Gleichzeitig fand durch den Übergang „vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis“ 4 neben diesen Wanderungen innerhalb des Reiches auch ein Wandel in den internationalen Migrationsbewegungen statt: „Das Reich blieb Auswanderungsland und wurde zugleich ‚Arbeitseinfuhrland‘.“ 5 An die quantitative Bedeutung der Binnenwanderung reichten diese Bewegungen aber bei weitem nicht heran, waren doch die Anteile ausländischer Zuwanderer
1 Freilich wanderten nicht alle Menschen auf der Suche nach Arbeit, doch war dieser Typ unter den Push- und Pull-Faktoren sicherlich der mit Abstand wichtigste. Vgl. Wolfgang Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage“. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Industriegroßstadt im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1974, S. 110. 2 Vgl. Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, S. 24. 3 Zwischen 1800 und 1900 vergrößerte sich die Reichsbevölkerung von etwa 23 Millionen auf ca. 56 Millionen, und erreichte bis 1914 etwa 67 Millionen. Vgl. Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 37. 4 Klaus J. Bade, ‚Billig und willig‘ – die ‚ausländischen Wanderarbeiter‘ im kaiserlichen Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 311. 5 Ebd.
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Migration als Organisationsfaktor
mit 2,2 Prozent (Großstädte 2,7 Prozent) relativ gering.6 Ob nun allerdings Landesgrenzen überschritten wurden oder nicht – Arbeitsmigration konnte in beiden Fällen zu einer einschneidenden Lebenserfahrung werden, die vertraute Formen des Umgangs, der Arbeit und der Kultur herausforderte und die dazu führte, dass sich große Teile der Arbeiterschaft im Kaiserreich in einem andauernden Prozess der Anpassung und/oder Abgrenzung befanden. Für die Frage nach den gewerkschaftlichen Organisationsbedingungen im Chemnitzer Maschinenbau und der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets spielt Migration eine entscheidende Rolle. Denn die unterschiedlichen Entwicklungen zur Industrieregion beeinflussten in Verbindung mit dem technisch-organisatorischen Wandel und dem regional verschiedenen Bevölkerungswachstum nicht nur die geographische und qualifikatorische Rekrutierungsbasis; je nachdem, wie sich dieser Komplex mit dem betrieblichen Bereich und dessen Beziehungen von Arbeit und Macht verband, konnten sich Wanderungserfahrungen von Arbeitern in der Fabrik auch völlig unterschiedlich auswirken.7 Migration und die mit ihr einhergehenden individuellen Kontinuitäten und Brüche wurden betrieblich übersetzt und flossen in belegschafts- und arbeitsgruppeninterne Beziehungen ein. Wanderungserfahrungen hatten damit wesentlichen Anteil an der Konstituierung eines betrieblichen Sozialsystems und konnten eine wichtige Rolle bei der Ausbildung informeller Solidaritätsbeziehungen spielen. Hier allerdings von einer unmittelbaren Bedingung gewerkschaftlicher Organisation zu sprechen, wäre sicherlich verfehlt, da sich eine Empfänglichkeit für gewerkschaftliches Bewusstsein nicht allein aus der Herkunft, Qualifikation, transportierten Erfahrung und deren Eingang in den Betrieb ableiten lässt. Ebenso wie unqualifizierte Fernwanderung mit betrieblicher Polarisierung nicht in Unorganisierbarkeit münden musste, prädestinierte eine entgegengesetzte Ausprägung der obigen Merkmale noch lange nicht für eine automatische Organisierungsbereitschaft.8 Vielmehr waren Migration und Organisation auf zweifache Weise mittelbar verbunden: zum einen, wie schon angedeutet, über den betrieblichen Raum, in dem
6 Vgl. Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, S. 24. 7 Für diesen Bereich vgl. auch: Marco Swiniartzki, Arbeitsmigration, Betrieb und der Deutsche Metallarbeiter-Verband 1891 – 1914, in: Subjekte in Bewegung, Organisationen in Bewegung? Gewerkschaften und Migration (= Studien zur historischen Migrationsforschung), (im Erscheinen). 8 Vgl. Friedrich Lenger, Migration und Arbeiterbewegung: Erklärungsansätze und methodische Probleme (an Beispielen aus der europäischen und nordamerikanischen Forschung zum 19. Jahrhundert), in: Gabriella Hauch (Hrsg.), Arbeitsmigration und Arbeiterbewegung als historisches Problem. (= Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung, 22. Linzer Konferenz 1986, Linz, 9. bis 13. September 1986), Wien 1987, S. 82 f.
Arbeitsmigration und gewerkschaftliche Organisation
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„günstige“ oder „ungünstige“ Organisationsbedingungen durch die Wanderungen mitverursacht wurden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass solche Bedingungen keinesfalls ex ante und damit quasi naturwüchsig Wirkmächtigkeit erzeugten. Denn zum anderen bezogen sie ihre Brisanz erst durch den Filter des Handelns der Gewerkschaftssekretäre mit deren Wanderungserfahrungen, Vorurteilen und kulturellen Zuschreibungen. Sie waren daher relational gefasst und in ihrer „günstigen“ und „ungünstigen“ Charakteristik durchaus veränderbar. Inwiefern bestimmte Gruppen von Arbeitsmigranten von den Gewerkschaftsbeamten als „organisationsfähig“ erachtet wurden, hing daher auch stark von Vorannahmen über die Zuwanderer und von der Interaktion oder eben Nichtinteraktion mit ihnen ab. Demnach kam dem Willen und der Fähigkeit, auf Migranten zuzugehen, im Verhältnis zwischen Wanderung und Organisation eine mindestens genauso große Bedeutung zu wie der Beeinflussung der betrieblichen Vorfeldstrukturen. Aus diesen Gründen verkennt eine einseitige Konzentration auf die Wanderungsströme und deren Folgen für die Verbände im Komplex „Migration und Arbeiterbewegung“ auch die Spezifik der deutschen Gewerkschaftsbewegung:9 Zwar konnten die Arbeitswanderungen zu keinem Zeitpunkt gelenkt werden, doch waren die Verbände auch keine ohnmächtigen Zuschauer. In einem „kulturell“ 10 oft überhöhten innergewerkschaftlichen Diskurs manifestierten sich bestimmte Migrationsvorstellungen und Migrantenbilder, die auf die methodische Herangehensweise der Gewerkschaften und damit auf die Integrationsfähigkeit heterogener Basismilieus massiven Einfluss hatten. Denn da sich auch Migranten nicht „von allein“ auf Basis betrieblicher Strukturen organisierten und dieser Prozess vielmehr gelenkt werden musste, kam es hier auf die Inklusionsleistung der Verbände und das Herstellen von Anschluss an. Dazu gehörte neben dem Wissen um die Lage und die Bedürfnisse der Zuwanderer vor allem das programmatisch-methodische Rüstzeug, um diese zu erreichen. Im spannungsreichen und mehrdimensionalen Verhältnis zu den Arbeitswanderern drückte sich gewerkschaftliches Handeln deshalb auch weniger im Bestreben aus, Einfluss auf die objektive Tatsache der Wanderung zu gewinnen – ein Migrationshintergrund gehörte zu einer Vielzahl von Faktoren, die mit darüber entschieden, wie mit Arbeitern umgegangen wurde.
9 So (trotz seines vorhergehenden Plädoyers) bei Lenger, Migration und Arbeiterbewegung, S. 83 f. Im Allgemeinen wird das Verhältnis zwischen Migration und Arbeiterbewegung in den wenigen historischen Studien als eher einseitiger Einfluss der Wanderungen auf Struktur, Zusammensetzung und Programm der Gewerkschaften interpretiert. Dieser Ansatz führte zu einer tendenziellen Unterschätzung von gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und verkennt, dass dieses Verhältnis nicht unrelational-objektiv, sondern „gemacht“ war. 10 „Kultur“, „Kultiviertheit“ und „Kulturlosigkeit“ waren gängige Kampfbegriffe in einer Debatte, die Migranten häufig über ihren Bildungsgrad, ihre Religion/Konfession und/ oder ihre Moral kategorisierte.
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Migration als Organisationsfaktor
Arbeitswanderungen und der DMV standen also in einem hochkomplexen Zusammenhang: Wanderungserfahrungen gingen in den betrieblichen Raum ein und beeinflussten dort die Ausbildung solidarischer Vorfeldstrukturen, an die die Sekretäre, die selbst Teil der Wanderungsbewegungen gewesen waren, Anschluss gewinnen mussten. Migrationsprozesse und deren Auswirkungen auf ein Arbeiterbewusstsein waren demnach nur eine (strukturelle) Seite der Medaille, weil sich der Zusammenhang zur Gewerkschaftsentwicklung erst durch gewerkschaftliches Handeln ergab. Im Grunde kam es also darauf an, wie Migranten und ihre Erfahrungen von der Organisation „abgeholt“ wurden. Die Methoden und Ideen, die sie dabei einsetzten, besaßen selbst eine migrantische Komponente und transportierten ein Migrantenbild, das darüber hinaus oft stark „kulturell“ und national aufgeladen war. Diese Vorstellungen zeigten sich jedoch nicht konstant und stabil – sie waren ein Teil von Lern- und Umdenkprozessen innerhalb des DMV, die die Art und Weise tangierten, wie man Arbeiterhandeln und Organisationshandeln miteinander verbinden konnte. Dass sich eine solche Entwicklung von (Vor-)Urteilen gegenüber wandernden Arbeitern nicht bei allen Köpfen der Gewerkschaft zeigte, sondern vor allem die Sekretäre aus dem Ruhrgebiet betraf, führte in der Folge bis zum Ersten Weltkrieg zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Vorstand. Dabei ging es ganz elementar um die Organisationsfähigkeit bestimmter Arbeitergruppen, um den Charakter der Gewerkschaft selbst und um die geeigneten Wege der Organisation und vor allem der Agitation.11 Bezeichnenderweise nahm diese Diskussion und damit der Wandel im Nachdenken über die Migranten seinen Anfang in den Jahren um die Jahrhundertwende im Übergang zur Betriebsphase des DMV – ein untrügliches Anzeichen dafür, wie stark auch die Vorstellungen von Wanderung im frühen DMV von handwerklichen Traditionen geprägt waren.
3.2 Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau Industrialisierung und Arbeiterherkunft in Chemnitz
Für den Vergleich mit den Wanderungen ins Ruhrgebiet spielt zunächst der Charakter der industriellen Entwicklung eine überragende Rolle. Denn das Königreich Sachsen und besonders dessen westlicher Teil gehörten zu den vergleichsweise alten deutschen Industriestandorten. Man kann sogar so weit gehen, dem Territorium 11 Eine Darstellung dieser Diskussion folgt im nächsten Kapitel. Da sie einen nicht unwesentlichen Migrationsaspekt beinhaltete, soll sie dennoch auch schon hier kurz zur Sprache kommen.
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eine Industrialisierung vor der industriellen Revolution zu attestieren. Ausgehend von der Gründung zahlreicher Spinnereien etablierte sich hier bereits im 18. Jahrhundert eine Textilbranche, deren Struktur als frühindustrialisiert gelten konnte. So hatten sich seit Mitte des Jahrhunderts die Strumpfwirkerei in Chemnitz sowie die Kattundruckerei und Baumwoll- und Tuchweberei in Frankenberg, Glauchau, Meerane, Crimmitschau, Plauen und Reichenbach niedergelassen.12 Sie bescherten der gesamten Region einen bemerkenswerten Aufschwung und bis dahin kleinen Gemeinden einen rasanten Bevölkerungs- und Bedeutungsanstieg. Gleichzeitig deutete sich um diese Zeit schon an, was ein besonderes Charakteristikum der Region werden sollte: Neben den wachsenden Städten wie Chemnitz siedelten sich die Fabriken nämlich auch vermehrt in deren ländlichem Umkreis an, wo sie die Zuwanderer anzogen und die Industrialisierung zu mehr als einem rein städtischen Prozess machten. Als sich aus diesem Umfeld in den 1820er Jahren der Maschinenbau entwickelte, konnten die Unternehmer sowohl von der starken gewerblichen Tradition als auch von den protoindustriellen Prozessen profitieren. Von überragender Bedeutung waren darüber hinaus die günstige geographische Lage der Stadt und die regionale, durch die Textilindustrie hervorgerufene Nachfrage nach Bearbeitungsmaschinen.13 Nach einer Phase technischer Anschubhilfe durch englisches Know-how 14 zogen die jungen Maschinenwerkstätten nicht nur die unbedingt erforderlichen Handwerksgesellen an, die im zünftigen Zwangswandern keine Perspektive mehr erblickten;15 sie ermöglichten es auch den Arbeitskräften aus dem kapitalabhängigen
12 Vgl. Karlheinz Blaschke, Entwicklungstendenzen im sächsischen Städtewesen während des 19. Jahrhunderts (1815 – 1914), in: Horst Mazerath (Hrsg.), Städtewachstum und innerstädtische Strukturveränderungen. Probleme des Urbanisierungsprozesses im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 47. 13 Gewichtung der Standortbedingungen für die Entwicklung des Maschinenbaus bei Volker Hentschel, Metallverarbeitung und Maschinenbau, in: Hans Pohl (Hrsg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, S. 378 f. 14 Vgl. Rainer Fremdling, Die Rolle ausländischer Facharbeiter bei der Einführung neuer Techniken im Deutschland des 19. Jahrhunderts (Textilindustrie, Maschinenbau, Schwerindustrie), in: AfS 29 (1984), S. 15 – 23; vgl. Rudolf Forberger, Die industrielle Revolution in Sachsen 1800 – 1861. 15 Für die Leipziger Schlossergesellen wies Zwahr zum Beispiel nach, dass deren Wanderzeiten viele Jahre andauern konnten und oft nicht mehr als eine verdeckte Arbeitslosigkeit darstellten. Gesellenwandern diente aus dieser Sicht vor allem der Protektion der Meisterschaft. Die Bedeutung dieser Wanderungsform nahm mit den 1860er Jahren langsam ab. Vgl. Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, München 1974, S. 54 f.
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eimgewerbe und den Manufakturen, in den Fabriken einen Arbeitsplatz zu finden. H So ist eine hohe heimgewerbliche Rekrutierung beispielsweise für die Maschinenfabrik C. G. Haubold jr. (Haubold) Mitte des 19. Jahrhunderts belegt.16 Im entstehenden Maschinenbau herrschte damit wie auch in vielen anderen Bereichen der sächsischen Industrialisierung der „leichtindustrielle Konstituierungstyp der Arbeiterklasse“ 17 vor, der nicht nur durch die typische Rekrutierung der Industriearbeiterschaft aus protoindustriellen Gewerben gekennzeichnet war, sondern mit dem im Allgemeinen eine frühe Ausdehnung der Lohnarbeit einherging. Der Zuzug aus dem Handwerk, Heimgewerbe und den Manufakturen gab den Maschinenbaubelegschaften nun ihren charakteristischen Aufbau, der noch bis in die 1890er Jahre relativ stabil bleiben sollte. 1847 teilte der aus Berlin nach Chemnitz zugereiste Fabrikschlosser Di Dio die „Arbeiter auf Maschinenfabriken“ 18 in drei Gruppen ein: Zunächst arbeiteten dort die ehemaligen Handwerksgesellen (und teilweise auch Meister) als Schmiede, Schlosser, Zeugschmiede oder Tischler. Auf Grund ihrer Lehre und Qualifikation grenzten sie sich von der zweiten Gruppe der Arbeiter deutlich ab. Diese bestand aus Arbeitern vieler unterschiedlicher Berufe, die sich „durch günstige Umstände, durch Emsigkeit und Talent“ in der Fabrik oder Werkstatt behaupteten und vor allem an den Drehbänken, Schraubstöcken und Hobelbänken tätig waren. Sie bezeichneten sich selbst als Maschinenbauer und entsprachen in ihrer Rekrutierungsweise wohl am ehesten dem „leichtindustriellen Konstituierungstyp“. Die dritte Gruppe bildeten die Handarbeiter und Tagelöhner, die für die Hilfs-, Transport- und Reinigungsarbeiten zuständig waren. Für die weitere Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es bei dieser Einteilung wegweisend, dass die Grenzen zwischen Handwerkern und angelernten Maschinenarbeitern langsam verwischten. Letztere empfanden gegenüber den Gesellen kaum einen Standesunterschied und bezogen aus dem selbstständigen Bedienen der modernsten Maschinen einen großen Berufsstolz, der sich langsam in der Bildung einer eigenen Berufsbezeichnung niederschlug und am stärksten bei den Drehern artikulierte. Zu dem belegschaftsinternen Ansehensgewinn der
16 Vgl. Sybille Haubold, Entwicklung und Organisation einer Chemnitzer Maschinenfabrik, Dresden 1939, S. 22 f. Im Grunde genommen profitierte der entstehende Maschinenbau von einer Heimarbeiterproletarisierung, wie sie bereits für die Textilindustrie typisch war. Vgl. Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014, S. 181 f. 17 Diesen Begriff prägte Hartmut Zwahr. Zitiert nach Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie, S. 36. 18 Briefliche Mittheilungen, in: „Deutsche Gewerbezeitung“ 1847, S. 271. Zitiert nach Rudolph Strauss, Die Lage und die Bewegung der Chemnitzer Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 59.
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Maschinenarbeiter, die Ende des Jahrhunderts betriebssozial auf der gleichen Stufe gestanden haben dürften wie die Handwerker, trug auch bei, dass sich die Gründer der Chemnitzer Maschinenunternehmen wie Hartmann (obgleich er Zeugschmied war) stets als „Maschinenbauer“ bezeichneten.19 Das rasche Wachstum der Chemnitzer Textilindustrie und der Aufstieg des Maschinenbaus seit Mitte des Jahrhunderts gaben der Stadt ihre überregionale Bedeutung als Industriestandort. In kaum einer Stadt des Königreiches Sachsen dürften dabei die Umwälzungen zwischen 1800 und 1900 so massiv gewesen sein – man gehörte zu den erfolgreichsten Orten in einem ohnehin sehr erfolgreichen Territorium. Denn während des 19. Jahrhunderts dominierte Sachsen in fast allen Entwicklungsstatistiken: In keinem Territorium des Reichs (außer den Stadtstaaten) wuchs die Bevölkerung zwischen 1816 und 1900 so stark wie hier. Sie vergrößerte sich in diesen 84 Jahren von 1.194.010 auf 4.202.216 und damit um 251,9 Prozent.20 1910 lebten schließlich ca. 4,8 Millionen Menschen in Sachsen (320,6 pro Quadratkilometer).21 Die Bevölkerungsdichte lag 1910 weit über dem Reichsschnitt von 120 pro Quadratkilometer, und die Geburtenrate war sogar bis zu 10 Prozent höher.22 Auch in Kennziffern wie Gewerbesatz, Beschäftigtenanteil, Volks- und Pro-Kopf-Einkommen führte Sachsen das Reich meistens an.23 Dies war auf eine herausragende wirtschaftliche Entwicklung zurückzuführen: Schon 1875 arbeiteten 55 Prozent aller Erwerbstätigen als gewerblich Beschäftigte.24 Mit 56 bis 60 Prozent hatte man den höchsten Anteil von in Industrie, Handwerk und Bergbau Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung zwischen 1882 und 1907. Der Anteil der Landwirtschaft sank dabei kontinuierlich von 20 auf 10 Prozent.25 Die günstige Lage und das gut ausgebaute Verkehrsnetz ermöglichten einen intensiven und schnellen Austausch von Waren und Personen. Chemnitz nahm in dieser Erfolgsgeschichte noch einmal eine Sonderrolle ein: Die voneinander zunächst unabhängigen Faktoren Bevölkerungswachstum, Indus 19 Vgl. Chemnitzer Adressbuch von 1840, Chemnitz 1840. Zitiert nach Strauss, Lage und Bewegung, S. 59. 20 Vgl. Hubert Kiesewetter, Regionale Lohndisparitäten und innerdeutsche Wanderungen im Kaiserreich, in: Jürgen Bergmann (Hrsg.), Regionen im historischen Vergleich. Studien zu Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1989, S. 141. 21 Vgl. ebd., S. 143. 22 Vgl. Volker Hentschel, Erwerbs- und Einkommensverhältnisse, S. 28. 23 Beim Gewerbesatz lag Sachsen zwischen 1875 und 1907 immer an erster Stelle der Länder, beim Beschäftigtenanteil regelmäßig auf Platz 3 hinter dem Rheinland und Westfalen. Vgl. Kiesewetter, Lohndisparitäten, S. 148. Für Volks- und Pro-Kopf-Einkommen siehe ebd., S. 150. 24 Vgl. Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie, S. 34. 25 Vgl. Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlrechtsreform, S. 34 f.
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trialisierung und Verstädterung 26 trafen hier verstärkt zusammen und machten die Stadt zu einem regionalen Wachstumsmotor (mit allen aus diesem raschen Wachstum resultierenden Problemen). Zwischen 1815 und 1910 stieg die Einwohnerzahl von 13.623 auf 287.807 und damit um 2112,6 Prozent – eine Rate, die in Sachsen nur Aue (2723,3 Prozent) übertraf und im Reich kaum eine Stadt erreichte.27 Bereits 1859 beschrieb der Reisende Berthold Sigismund in seinen „Lebensbildern vom sächsischen Erzgebirge“ die Stadt folgendermaßen: Die Hauptstadt des Strumpfwirkerbezirks und die industrielle Großstadt des ganzen Königreichs kündigt sich durch eine Rauchwolke an, die über der thurmlosen Häusermasse schwebt. Ihre Umgebung, reich an vielen Wiesenflächen, gleicht den Landschaften der Tiefebene und gewährt, da sie aller beherrschenden Höhen und der großen Gewässer entbehrt, einen wenig malerischen Anblick.28
Zur Zeit der Reichsgründung war Chemnitz mit 68.200 Einwohnern dann schon eine sehr große Stadt (es existierten nur acht Großstädte im Reich) und verfügte über einige Groß- und über hunderte von Mittel- und Kleinbetrieben, in denen etwa 30.000 Personen arbeiteten. Die meisten Arbeiter wohnten in den umliegenden Dörfern wie Kappel, Gablenz, Schloßchemnitz, Altchemnitz und Altendorf, die zumeist selbst Sitz von Industrie waren und die zwischen 1880 und 1900 eingemeindet wurden. 1883 überschritt man die 100.000-Einwohner-Grenze und hatte 1890 schon doppelt so viele Einwohner wie 1870. Um die Jahrhundertwende lebten schließlich 207.000 Menschen in Chemnitz.29 Zur Zeit der Gründung des Deutschen Metallarbeiter-Verbands befanden sich die Stadt und die umliegende Gegend also in einem enormen Wandlungsprozess, der das Gesicht der Region vollständig veränderte. Die Wiesen und Felder zwischen den Orten und der Stadt verschwanden zusehends, das Bevölkerungswachstum erforderte die Bebauung bisher ungenutzter Flächen, auf denen sich die wachsende Arbeiterbevölkerung konzentrierte, und die Gründung immer neuer Unternehmen zog ununterbrochen Zuwanderer an. Sigismund hatte diesen Wandel in seinen Beschreibungen bereits angedeutet:
26 Vgl. Mazerath, Städtewachstum und innerstädtische Strukturveränderung, S. 94. 27 Vgl. Blaschke, Entwicklungstendenzen im sächsischen Städtewesen, S. 61, 63. 28 Berthold Sigismund, Lebensbilder vom Sächsischen Erzgebirge, Leipzig 1859, S. 120. Sigismunds Werk, auf Einladung der Sächsischen Regierung verfasst, entfachte unter Einheimischen und Interessierten große Gegenwehr, provozierte Gegendarstellungen und wird von einigen Landeskundlern bis heute argwöhnisch betrachtet. Vgl. Karl Ficke, Das Erzgebirge als Wandergebiet, in: Herbert Clauss (Hrsg.), Das Erzgebirge. Historische Landeskunde, Augsburg 1996, S. 21. 29 Vgl. Strauss, Die Chemnitzer Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz, S. 5 – 10.
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Denn wenn auch viele der aus allen Herren Ländern nach Chemnitz strömenden Arbeiter den unbequemen, kasernenartigen, ungemüthlichen und kostspieligern Stadtwohnungen Dorfstuben vorziehen, so vermehrt sich doch die Einwohnerzahl der Stadt so rasch, daß fast alle drei Jahre den alten Schulen eine neue hinzugefügt werden muß. An bedeutenden öffentlichen Gebäuden wird man freilich „das sächsische Manchester“ dem englischen sehr nachstehend finden, welches Kirchen, Theater, Börse, Athenäums und Musikhallen im griechischen und gothischen Stile aufgeführt hat. Denn in Chemnitz sowohl als in der Umgegend walten die Fabrikgebäude vor, von denen nur einige der jüngsten das Bestreben offenbaren, neben der Zweckmäßigkeit auch die Schönheit zu berücksichtigen.30
All diese Prozesse machten Chemnitz quasi zu einer typischen „Stadt der Arbeit“ des 19. Jahrhunderts, in der allgegenwärtige Probleme 31 hinter den Gesichtspunkt des Erwerbs zurücktraten und jährlich viele tausend Menschen ihr Glück suchten. Das „sächsische Manchester“ war ein konstant und schnell wachsender industrieller Ballungsraum, dessen anhaltende Bedeutung vor allem daraus resultierte, dass ihn sowohl die erste als auch die zweite Welle der Industrialisierung erfasste. Dementsprechend bedeutend war die Stadt auch über lange Zeit in ihrer Funktion als Wanderungsmagnet, weil der steigende Arbeitskräftebedarf der Fabriken nicht durch das städtische Bevölkerungswachstum abgedeckt werden konnte. Die Wanderungsbewegungen von Metallarbeitern nach Chemnitz
Ein großer Teil des Bevölkerungswachstums von Chemnitz entstand durch Zuwanderung. So waren 1890 bei einer Einwohnerzahl von 138.900 nur 41,6 Prozent ortsgebürtig, dagegen 58,4 Prozent zugewandert.32 Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich der Bevölkerungsanstieg erst aus riesigen Wanderungsvolumina generierte: Um 1000 Einwohner zu gewinnen, mussten zwischen 1880 und 1890 nicht weniger als 11.089 Menschen die Stadt passieren. Insgesamt zogen in dieser Dekade 486.031 Personen durch Chemnitz. Zwischen 1891 und 1900 waren es 30 Sigismund, Lebensbilder, S. 123. 31 Besonders in den entstehenden Arbeitervierteln herrschte in Chemnitz bedrückende Enge und nicht selten soziale Not. Beispielsweise war in keiner sächsischen Stadt die Kindersterblichkeit auch nur annähernd so hoch wie hier. Von 100 Lebendgeborenen starben 36,7 Prozent im Verlaufe des ersten Lebensjahres (1892/93). In Leipzig betrug der Wert nur 25,8 Prozent und in Dresden 22,6 Prozent. Vgl. Robert René Kuczynski, Der Zug nach der Stadt. Statistische Studien über Vorgänge der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche, Stuttgart 1897, S. 207. 32 Vgl. Dieter Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880 – 1914, in: VSWG 64 (1977), S. 21.
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sogar 590.586 und zwischen 1901 und 1910 dann 806.661.33 Diesen Durchreisecharakter verdankte die Stadt den saisonalen Zuwanderern und den fluktuierenden Arbeitern, die im umliegenden Industriegebiet häufig ihren Arbeitsplatz wechselten und deren Verweildauer oft nur kurz war: Von den 1905 zugewanderten 46.000 Menschen hatten fast 24.000 die Stadt noch im selben Jahr verlassen und 15.000 folgten später.34 In diesem Kontext und mit Blick auf die Wanderungen der Metallarbeiter bietet die Arbeit Georg Froehners aus dem Jahre 1909 reichhaltiges Material.35 Er analysierte unter anderem den gesamten Zuzug nach Chemnitz in einem Kalenderjahr (vom Dezember 1904 bis zum Dezember 1905) und ermöglichte es auf Grund der Berufsgliederung seiner Daten außerdem, die Arbeitsmigration nachzuverfolgen: Insgesamt wanderten in diesem Jahr (amtlich erfasst) etwa 46.000 Personen nach Chemnitz, von denen Froehner die über sechzehnjährigen Berufstätigen genauer differenzieren konnte. Bereits dabei lassen sich Rückschlüsse auf den Wanderungscharakter der Stadt ziehen. Denn zum einen stellten die zugereisten Arbeiter und Arbeiterinnen mit etwa 58 Prozent von 14.500 Berufstätigen das mit Abstand wichtigste Kontingent und unterstrichen die große Bedeutung der Arbeiterschaft innerhalb der Migration nach Chemnitz. Zum anderen war deren Qualifikation ein Anzeichen dafür, welche Anforderungen auf dem städtischen Arbeitsmarkt vorherrschten: So waren 47,27 Prozent aller männlichen und 22,21 Prozent aller weiblichen Zuwanderer gelernte Arbeiter, die eine Lehre absolviert hatten und in Industrie oder Handwerk einen Arbeitsplatz suchten. Mit 21,57 Prozent der Männer und 12,43 Prozent der Frauen waren ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen dagegen wesentlich geringer vertreten.36 Unter den Gelernten spielten die Metallarbeiter zumindest bei den männlichen Zuwanderern 37 mit 40,91 Prozent die Hauptrolle,38 was sowohl für die metallindustrielle Attraktivität der Stadt als auch für das hohe Qualifikationsniveau dieser Industrie spricht. In das städtische Handwerk traten jene Arbeiter, deren Beruf handwerklich geprägt und die Teil 33 Vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 13. 34 Vgl. Georg Froehner, Wanderungsergebnisse im erzgebirgischen Industriegebiet und in der Stadt Chemnitz, Chemnitz 1909, S. 42. 35 Der Quellenwert von Froehners Arbeit, die sich auf Melde- und Polizeiquellen stützte, kann kaum überschätzt werden. Sie bietet reichhaltiges Material zur Analyse der Wanderungsbewegungen der Stadt Chemnitz und ihres Umlandes, das bisher weitestgehend unberücksichtigt blieb. 36 Vgl. ebd., S. 43. 37 Bei den gelernten Arbeiterinnen zog es dagegen 81,2 Prozent in die Textilindustrie und 7,44 Prozent waren Schneiderinnen. Vgl. ebd., S. 45. 38 Vor den Bauarbeitern mit 20,48 Prozent und den „Nahrungsmittelbereitern“ mit 9,44 Prozent. Vgl. ebd., S. 44.
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Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau
der Maschinenindustrie waren, nämlich immer weniger ein. Unter den Schlossern betrug ihr Anteil nur noch 5,3 Prozent und selbst unter den Schmieden fanden fast 64 Prozent der Zuwanderer in den Fabriken Arbeit.39 Tab. 3: Berufliche Gliederung der gelernten Metallarbeiterzuwanderung 40
nach Chemnitz 1904/05 Metallberuf
Zahl der Zugewanderten
Prozentualer Anteil
Schlosser
945 (50 Handwerk/895 Fabrik)
48,8
Schmiede
169 (61 Handwerk/108 Fabrik)
8,7
Dreher
165
8,5
Klempner
109 (48 Handwerk/61 Fabrik)
5,6
Monteure
97
5
Former
89
4,6
Mechaniker
71
3,7
Bohrer
31
1,6
Schleifer
32
1,6
Hobler
21
1,1
Gießer
5
0,2
Sonstige
204
10,5
Insgesamt
1938
99,9
Insgesamt dominierten unter den gelernten Metallarbeitern bei weitem die Schlosser (Tab. 3), was auf deren beinahe universelle Einsetzbarkeit im Maschinenbau und auf die konjunkturelle Lage des Jahres 1904/05 zurückzuführen ist. Dahinter rangierte aber bereits die große Gruppe angelernter nichthandwerklicher Maschinenarbeiter, unter denen die Dreher die Mehrzahl stellten und die sich darüber hinaus aus Bohrern, Hoblern, Schleifern und dem größten Teil der „Sonstigen“ (etwa Fräsern, Stoßern usw.) rekrutierte. Auch ein bedeutender Teil der Monteure dürfte ursprünglich zu dieser Gruppe gehört haben. Im Weiteren folgten dann mit den Schmieden, Formern, Klempnern und Mechanikern die handwerklichen Berufe, wie sie jede Maschinenfabrik aufzuweisen hatte. Die Zuwanderergruppe der gelernten Metallarbeiter besaß mit einigen Unterschieden zwischen den Berufen einen durchweg jungen Charakter (Tab. 4). Im Vergleich mit der gesamten männlichen
39 Vgl. ebd. 40 Aufstellung des Verfassers nach Froehner, Wanderungsergebnisse, S. 64 f.
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Migration als Organisationsfaktor
Zuwanderung dieses Jahres war unter ihnen besonders die Altersgruppe der 16- bis 20-Jährigen stark überrepräsentiert (34,8 Prozent bei insgesamt nur 23,1 Prozent). Über 85 Prozent hatten außerdem das dreißigste Lebensjahr noch nicht erreicht (insgesamt nur 71,5 Prozent). Die gelernten Metallarbeiter waren des Weiteren eine mobile Zuwanderergruppe: Bis zum ersten Halbjahr 1908 hatten 54 Prozent von ihnen die Stadt wieder verlassen.41 Tab. 4: Altersstruktur der zugewanderten gelernten Metallarbeiter 42
nach Chemnitz 1904/05
Zahl der Zuwanderer
Prozentualer Anteil
16 bis unter 20 Jahre
Altersgruppe
674
34,8
20 bis unter 30 Jahre
978
50,5
30 bis unter 40 Jahre
186
9,6
Über 40 Jahre
100
5,1
Mit Blick auf die Fragestellung lag neben dem industriellen und qualifizierten Schwerpunkt die wichtigste Eigenschaft der Metallarbeiterzuwanderung aber in der Herkunft der Arbeiter (Tab. 5). Froehners Daten machen deutlich, dass selbst in einem Jahr guter Konjunktur der überwiegende Teil der Zuwanderer aus Sachsen kam. Zwar lassen die Anteile der Nichtsachsen etwa unter den Mechanikern darauf schließen, dass nicht alle Arbeitsplätze mit Nahwanderern besetzt werden konnten und sich das Einzugsgebiet daher vergrößerte, doch änderte dies nichts an der überragenden Bedeutung der Nahwanderung für die Rekrutierung der Arbeiter im Chemnitzer Maschinenbau. Etwa die Hälfte der Arbeiter reiste aus der Amtshauptmannschaft Chemnitz selbst oder dem umliegenden Industriegebiet zu; beinahe jeder Fünfte kam aus dem übrigen Sachsen, worunter die Städte Leipzig und Dresden eine wichtige Rolle einnahmen. Selbst die Zuwanderung aus den Nachbarländern des Königreichs Sachsen gestaltete sich in der Regel als Nahwanderung, da die Arbeiter oft aus den thüringischen Staaten, der preußischen Provinz Sachsen oder dem nördlichen Bayern eintrafen. Die einzige größere Gruppe ausländischer Zuwanderer waren die Böhmen, deren Reiseentfernung zwar oft nicht größer gewesen sein wird, deren Bruch infolge der Wanderung aber als einschneidender veranschlagt werden sollte, trennten sie doch sprachliche, kulturelle und vor allem konfessionelle Gesichtspunkte von den deutschen Zuwanderern. Sie stellten in etwa jeden zehnten Arbeitsmigranten,
41 Vgl. ebd., S. 80 ff. 42 Aufstellung des Verfassers nach ebd., S. 64 f.
127
Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau
Abb. 5: Die Einteilung des Königreichs Sachsen in Amts- und Kreishauptmannschaften
waren besonders unter den Schlossern stark vertreten und arbeiteten neben dem Maschinenbau vermehrt als saisonale Bauarbeiter. Tab. 5: Die regionale Herkunft der zugewanderten Metallarbeiter 43
nach Chemnitz 1904/05 Beruf
Amtshaupt mannschaft Chemnitz (in %)
Erzgebirgi Übriges Nachbar Übriges Böhmen Übriges (in %) Ausland Reich sches Indus Sachsen länder (in %) (in %) (in %) (in %) triegebiet (in %)
Schlosser
10,9
35,5
18,2
12,1
9,1
12,3
2
Dreher
25,5
33,9
16,4
9,7
8,5
5,5
0,6
Sonstige Angelernte
25
27,4
19
17,9
4,8
6
0
Schmiede
16,6
32
17,2
11,8
8,3
14,2
0
Former
25,8
30,3
16,9
6,7
10,1
2,2
7,9
Monteure
11,3
32
20,6
12,4
12,4
6,2
5,2
Mechaniker 8,5
19,7
23,9
19,7
19,7
7
1,4
Insgesamt
34
17,8
12,3
8,8
10
2
15,3
43 Aufstellung des Verfassers nach ebd., S. 72 f.
128
Migration als Organisationsfaktor
Fernwanderer waren unter den zugereisten Metallarbeitern nach Chemnitz dagegen kaum anzutreffen. Verglichen mit den Ruhrgebietsstädten war deren Anteil auch an der gesamten Wanderung in die Stadt ausgesprochen marginal: 1907 waren nur 4,9 Prozent der Chemnitzer Einwohner über eine große Entfernung zugewandert, während ihr Anteil in Gelsenkirchen 31,2 Prozent betrug.44 Gleichzeitig stellten die Nahwanderer in Chemnitz 45,4 Prozent und in Gelsenkirchen nur 28,5 Prozent der Bevölkerung. Insgesamt muss daher davon ausgegangen werden, dass der große Strom der nordostdeutschen Zuwanderung nach Westen an Chemnitz weitestgehend vorbeiging. Der wesentliche Unterschied zum Ruhrgebiet bestand hier nämlich in den industriellen Vorbedingungen: Chemnitzer Unternehmer konnten sich bei der Arbeitersuche dank der frühen flächendeckenden Ausprägung der Fabrikarbeit in Westsachsen beinahe immer auf den näheren Umkreis der Stadt verlassen. Das immense Bevölkerungswachstum (etwa im Erzgebirge) und die gewerbliche Entwicklung hielten hier gegenseitig Schritt und ermöglichten es, die Menschen innerhalb einer Nahwanderungsentfernung mit Arbeit zu versorgen. Neben den kurzen Entfernungen förderten diese Prozesse darüber hinaus auch die rasche Ausdehnung der Lohnarbeit. Um 1890 dürften die meisten Arbeiter im Maschinenbau der Stadt mindestens in der zweiten Generation als Industrie- und Lohnarbeiter beschäftigt gewesen sein. Die Aussagen Froehners über die Herkunft der Chemnitzer Metallarbeiter von 1904/05 dürften im Großen und Ganzen auch für die Maschinenbauunternehmen im engeren Sinne repräsentativ gewesen sein. Denn bereits 1890 hielt Göhre über die Herkunft seiner Kollegen fest: Unter ihnen wiederum war die überwiegende Mehrzahl Sachsen, soviel ich habe herausbekommen können, 70 bis 75 Prozent. […] Der Rest von 25 Prozent verteilte sich etwa auf 10 Prozent Norddeutsche, 5 Prozent Süddeutsche, 10 Prozent Österreicher und einige Schweizer. Die hohe Ziffer der Österreicher erklärt sich leicht aus der Nähe der sächsischböhmischen Grenze. Übrigens waren sie zumeist Deutschböhmen und bereits in Sachsen naturalisiert. Unter den Sachsen überwog wieder das eingeborene Element, geborene Chemnitzer, oder aus der näheren und weitern Umgebung der Stadt, oder wenigstens aus dem Erzgebirge und Vogtlande. Aus den übrigen drei sächsischen Kreisen war die Zahl der Eingewanderten verhältnismäßig gering, kaum 15 bis 20 Prozent.45
Genau wie die Daten Froehners legen diese (überraschend genauen) Schätzungen Göhres nahe, dass die Nahwanderer im Maschinenbau überwogen, die meisten
44 Vgl. Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage“, S. 120. 45 Göhre, Drei Monate, S. 12.
129
Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau
Arbeiter Sachsen waren und in der Regel aus dem Umkreis von Chemnitz stammten. Außerdem dürften die regionalen Anteile bei der Arbeiterherkunft zwischen 1890 und 1905 relativ stabil gewesen sein. Eine solch regionale Wanderungsstruktur lässt sich auch für einzelne Chemnitzer Unternehmen nachweisen. So kam zwischen 1884 und der Jahrhundertwende beinahe die Hälfte der neueintretenden Arbeiter bei Haubold gebürtig aus Chemnitz und mehr als jeder Dritte stammte aus dem übrigen Königreich Sachsen – Anteile, die dafür sprechen, dass sich die Maschinenindustrie der Stadt schon zu dieser Zeit fast gänzlich auf das einheimische Element stützen konnte (Tab. 6). Denn jene Arbeiter, die nicht im Kreis Chemnitz geboren waren, hatten meist in den Städten des umliegenden Industriegebiets das Licht der Welt erblickt. Es dominierten dabei Flöha, Rochlitz und Zwickau; viele Arbeiter kamen aber auch aus den Erzgebirgsstädten Annaberg, Schwarzenberg und Marienberg. Die wenigen Arbeiter aus dem übrigen Kaiserreich kamen vor allem aus Halle, dem Altenburger Land, dem thüringischen Vogtland, Bayern und dem Ruhrgebiet. Der etwas größere Anteil ausländischer Zuwanderer speiste sich auch hier aus Böhmen und wenigen Arbeitern aus den preußischen Ostprovinzen. Mit kleineren Verschiebungen blieb diese Herkunft der Arbeiter bei Haubold auch nach der Jahrhundertwende und während der Weimarer Republik konstant: Vor allem der Anstieg der Ortsgebürtigen und die Abnahme der im Ausland und im übrigen Sachsen Geborenen deutet darauf hin, dass sich die regionale Herkunft in der Belegschaft noch weiter verfestigte. 46
Tab. 6: Geburtsorte der bei Haubold eintretenden Arbeiter 1884 – 1929 Zeitraum
Eintretende Arbeiter
Aus Chemnitz
Aus dem übri gen Sachsen
Aus dem ü brigen Reich
Aus dem Ausland
1884 – 1900
886
441 (49,8 %)
339 (38,3 %)
39 (4,4 %)
67 (7,6 %)
1901 – 1918
1360
731 (53,8 %)
462 (34 %)
71 (5,2 %)
96 (7,1 %)
1919 – 1929
1221
687 (56,3 %)
391 (32 %)
86 (7 %)
57 (4,7 %)
Insgesamt
3467
1859 (53,6 %)
1192 (34,4 %)
196 (5,7 %)
220 (6,3 %)
46 Aufstellung des Verfassers nach: StA Chemnitz, 31002 C. G. Haubold AG, Maschinenfabrik Chemnitz, Nr. 72. Es handelt sich beim ausgewerteten Stammbuch wahrscheinlich um jenes der Gießereiabteilung Haubolds, da bei den Berufsbezeichnungen „Former“ und „Arbeiter“ überwiegen, während etwa Dreher und Schlosser weniger häufig sind.
130
Migration als Organisationsfaktor
Die Geburtsorte der Arbeiter bei Haubold deuten auf eine in der Region rund um Chemnitz verwurzelte Metallarbeiterschaft hin. Viele Kollegen teilten daher sowohl Kenntnisse über die Gegend und die Stadt als auch Erfahrungen der Lohnarbeit in industriellen Mittel- und Großbetrieben. Außerdem werden nicht wenige von ihnen sogar Erfahrungen in denselben Unternehmen und Abteilungen gemacht haben, die nicht nur ähnliche Erwerbsbiographien begründeten, sondern auch den Vergleich zwischen den einzelnen Unternehmen ermöglichten. So unterstreichen zum Beispiel die Aufzeichnungen über Arbeiterzugänge und -abgänge der Sächsischen Maschinenfabrik, vormals Richard Hartmann AG, den Nahwanderungscharakter der Arbeitsmigration und die Tatsache, dass viele Arbeiter schon Erfahrungen als industrielle Metallarbeiter in der Region gesammelt hatten (Tab. 7). Denn der Anteil derer, die ihre Arbeitspapiere von einem Chemnitzer Betrieb ausgestellt bekommen hatten, lag bei 53 Prozent. Etwa jeder Dritte kam dabei aus einer der großen Chemnitzer Maschinenfabriken, während nur eine verschwindend geringe Zahl von Arbeitern zuvor bei Hartmann ausgebildet worden war (Tab.7 Kategorie „Von uns“). Das mit Abstand größte Kontingent des innerstädtischen Arbeitertransfers bildeten die Arbeiter aus kleineren Metallbetrieben und dem städtischen Handwerk. Sie machten ca. 67 Prozent der zuvor in Chemnitz Beschäftigten aus und stellten mehr als jeden Dritten Eintretenden insgesamt. Zählt man zu den „Chemnitzern“ noch die Arbeiter hinzu, die zuvor im übrigen Sachsen beschäftigt gewesen waren, ergibt sich ein Anteil zuvor in Sachsen Arbeitender von 70 Prozent. Dabei ist es für den Wanderungshintergrund wiederum entscheidend, dass bei diesen übrigen Sachsen die nähere Umgebung von Chemnitz vorherrschte: Es dominierten Flöha, Mittweida, Zwickau, Plauen und Reichenbach, dazu kamen einige Arbeiter aus Leipzig und Dresden. Aus dem übrigen Kaiserreich und dem Ausland traten dagegen nur wenige Arbeiter bei Hartmann ein. Die 4,7 Prozent der zugewanderten Reichsdeutschen setzten sich zum größten Teil aus Arbeitern aus Halle und Thüringen zusammen. Einige wenige hatten zuvor auch in Hamburg und bei Krupp in Essen gearbeitet. Von den 2,4 Prozent der Arbeiter, die ihre Legitimation aus dem Ausland erhalten hatten, kam jeder Zweite aus Böhmen und die Übrigen zumeist aus Schlesien. Eine Sonderrolle nahmen darüber hinaus die Arbeiter ein, die bisher in einem anderen Beruf gearbeitet hatten: Von ihnen stammten nur 16 Prozent aus Chemnitz und unter den bisherigen Berufen herrschte eine starke Dominanz des Baugewerbes, was auf Grund der böhmischen Bauarbeiterzuwanderung darauf schließen lässt, dass der Anteil ausländischer Arbeiter in Wirklichkeit höher war. Aber auch Bäcker, Bahn- und Straßenbahnarbeiter, Fleischer und Steinhauer und (andere) Selbstständige traten bei Hartmann ein und machten 6,3 Prozent der Neueintretenden aus.
131
Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau
Tab. 7: Letzte Arbeitsstelle der neueintretenden Arbeiter bei Hartmann 47
(Sommer 1909 bis Januar 1911)
Vorhandene Legitimation der neueintretenden Arbeiter
Anzahl
Prozentualer Anteil
„Von uns“
48
1,3
Andere Chemnitzer Maschinenfabriken
625
16,3
48
1354
35,3
Andere sächsische Unternehmen
637
16,6
Unternehmen aus dem übrigen Reich
181
4,7
Ausländische Unternehmen
93
2,4
Zuletzt Militär
120
3,1
Kein Vermerk
357
9,3
Anderer Beruf
243
6,3
„Von zu Hause“
36
0,9
49
141
3,7
3835
99,9
Kleinere Chemnitzer Metallbetriebe und Handwerk
Andere
Insgesamt
Als Zwischenfazit kann über die Herkunft und die Arbeitswanderung der Arbeiter im Chemnitzer Maschinenbau Folgendes festgehalten werden: In den Jahren zwischen den Schätzungen Göhres und den Erhebungen Froehners war bereits ein bedeutender Teil der Belegschaften der Maschinenfabriken in Chemnitz geboren. Die meisten Arbeiter stammten aber aus der unmittelbaren Umgebung der Stadt und dem erzgebirgischen Raum. Beinahe drei Viertel der Kollegen im Betrieb waren sächsischer Herkunft. Die wichtigste nichtsächsische Arbeitergruppe bildeten die Böhmen. Dementsprechend besaß die Nahwanderung auf der Suche nach Arbeit im Umkreis der Stadt eine überragende Bedeutung. Chemnitz fungierte dabei wie ein „Schwamm, der Arbeitskräfte aus der Umgebung je nach Bedarf aufsog und wieder ausquetschte, letztlich aber doch wesentlich mehr behielt, als er wieder abstieß“.50 Damit ging einher, dass der Kontakt der Wanderer mit ihrer 47 Aufstellung des Verfassers nach StA Chemnitz, 31.035 Sächsische Textilmaschinenfabrik vorm. Richard Hartmann AG Chemnitz, Nr. 74. 48 Auf Grund hunderter kleiner Werkstätten und Betriebe sowie eines starken örtlichen Handwerks war hier keine genauere Aufschlüsselung möglich. Unter diese Kategorie fallen daher alle Chemnitzer Unternehmen, die nicht zu den großen Werken der Stadt gehörten und der Metallindustrie oder dem Metallhandwerk angehörten. Es ist davon auszugehen, dass die Arbeiter aus dem Handwerk hier nicht in der Mehrzahl waren. 49 „Andere“ umfasst „Arbeitsbuch“, „Wanderschaft“, „Zuchthaus“, „zur See gefahren“, „Gelegenheitsarbeiter“, „zuletzt krank“ und „Amerika“. 50 Karlheinz Schaller, „Einmal kommt die Zeit“. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Bielefeld 2001, S. 136.
132
Migration als Organisationsfaktor
Heimat nicht gänzlich abriss. Die Reise war selten etwas Endgültiges, und Rückwanderungsbewegungen dürften zur Normalität gehört haben. Für viele Arbeiter vollzog sich ihre Erwerbsbiographie innerhalb der Stadt und des industrialisierten Umlandes. Im Maschinenbau hatten sie entweder bei einem Handwerksmeister die Lehre absolviert und waren dann in eine Fabrik gewechselt, waren als Lehrlinge bereits in einer Fabrik ausgebildet worden oder sie kamen als unqualifizierte Arbeiter und verdingten sich zunächst mit Hilfs- und Transportarbeiten, wobei sie nach einiger Zeit zu angelernten Arbeitern aufsteigen konnten. Arbeiter aus fremden Berufen zog die Industrie immer weniger an – war ihr Anteil um die Mitte des Jahrhunderts noch immens, weil sich der Berufszweig der Arbeiter des Maschinenbaus erst ausbilden musste, machten sie 1909 in der Hartmann’schen Fabrik nur noch 6,3 Prozent der Neueintretenden aus. Um diese Zeit verfügte die Stadt schon über ein großes Reservoir an Maschinenbauarbeitern, aus dem sich die Belegschaften rekrutierten. Wanderung wurde in Form der Fluktuation vor diesem Hintergrund immer stärker zu einer innerstädtischen oder zumindest innerregionalen Erscheinung. Infolge der Herausbildung einer Metallarbeiterschaft verlor die Arbeitsmigration nach Chemnitz zusehends an Bedeutung. Der Arbeiternachwuchs ging nun stärker aus dem städtischen Bevölkerungszuwachs hervor. Mit der stärkeren Ortsfestigkeit war die Abnahme der ländlichen Zuwanderung eng verbunden: Seit der Wirtschaftskrise der Jahre 1908/09 sank der Anteil der Zuwanderer an der Fabrik- und Metallarbeiterschaft kontinuierlich.51 Mit einer „Wanderung“ war die tägliche Arbeit für viele dennoch verbunden, da sich mit den verbesserten Transportmitteln auch vermehrt Pendelbewegungen etablierten. So gaben bei einer Befragung des DMV im Jahre 1912 2091 Dreher ihren Weg zur Arbeit an: Er betrug im Durchschnitt über eine Stunde pro Strecke und wurde in der Regel zu Fuß zurückgelegt. Viele fuhren aber auch schon mit dem Fahrrad oder der Bahn zur Arbeit.52 Spätestens in der Zwischenkriegszeit war das Pendlerwesen dann zur Normalität geworden,53 während Chemnitz parallel dazu seinen Charakter als Wachstumsmagnet verlor. Hatten sich in den frühen 1920er Jahren die Wanderungsgewinne der Vorkriegszeit rapide verringert, führte die Krise der Chemnitzer Industrie ab 1929 dazu, dass die Wegzüge überwogen. Gleichzeitig konnte die frühere Attraktivität für böhmische 51 Vgl. ebd., S. 139. 52 Die Arbeitsverhältnisse der Eisen-, Metall-, Modell-, Werkzeug-, Revolver- und AutomatenDreher Deutschlands. Festgestellt auf Grund statistischer Erhebungen in den Monaten November 1910 bis April 1911, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen MetallarbeiterVerbandes, Stuttgart 1912, S. 165. 53 Vgl. Ludwig Preller, Arbeitsstätte, Wohnort und Freizeit des Arbeiters, in: BetriebsräteZeitschrift 7 (1926) 2, S. 55 ff.
Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau
133
Arbeiter nicht wiedergewonnen werden. 1932 hielt der Chemnitzer Arbeitsamtsdirektor Siegnoth 54 schließlich fest, „daß der industriereiche Chemnitzer Kreis, der von jeher auf Arbeitnehmer eine Anziehungskraft ausübte, diese Eigenschaft verloren hat“.55 Arbeitsmigration und Betrieb
Bei der Frage, wie durch Arbeitsmigration gewerkschaftliche Organisationsbedingungen konstituiert wurden, ist es entscheidend, auf welche Art und Weise die Merkmale der Wanderungen auf die betriebliche Ebene trafen. Dabei kam es besonders darauf an, wie die unterschiedlichen Positionen im betrieblichen Sozialsystem besetzt wurden und sich die Einheimischen und Zuwanderer auf diese verteilten. Im Zusammenspiel von Faktoren wie Herkunft, Sprache, Konfession, Kultur und Qualifikation konnte vor diesem Hintergrund eine Verbindung von Herkunft und Macht entstehen, die mit darüber entschied, wie miteinander gearbeitet wurde und ob sich Konflikte über diese Faktoren verschärfen ließen. In der Umsetzung und Brechung von Wanderungserfahrungen offenbarten sich daher nicht selten wichtige Hinweise auf die informellen Solidarbeziehungen innerhalb der Belegschaften und damit auch Indizien für die Suche nach einem vorgewerkschaftlichen Betriebsrahmen. Wendet man diese Überlegungen auf den Chemnitzer Maschinenbau an, so trafen hier zwischen 1890 und 1914 eine relativ homogen-regionale Wanderungsstruktur und eine Fertigung im flexiblen Werkstattsystem mit „Produktionspakt“ aufeinander. Unter den mehrheitlich sächsischen Nahwanderern und den einheimischen Kollegen herrschten keine Sprachunterschiede, die kulturellen und konfessionellen Prägungen waren ähnlich,56 und beinahe alle Arbeiter dürften 54 Joseph Siegnoth (1886 – 1964) gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten der Chemnitzer Arbeiterbewegung während der Weimarer Republik. Nach einer Schlosserlehre und Wanderschaft trat er 1904 dem DMV in Bautzen und 1905 der SPD in Meißen bei. Noch 1914 arbeitete er als Schlosser bei den Wanderer-Werken in Chemnitz. Nach Tätigkeiten als Gemeindeverordneter in Siegmar und sächsischer Landtagsabgeordneter übernahm er 1927/28 die Leitung des neugeschaffenen Chemnitzer Arbeitsamtes. Ab 1921 war er zudem Sekretär des Chemnitzer ADGB-Ortsausschusses und ab 1924 dessen Vorsitzender. Vgl. Gabriele Viertel/Jutta Aurich (Bearb.), Von Alberti bis Zöppel. 125 Biographien zur Chemnitzer Geschichte, herausgegeben vom Stadtarchiv Chemnitz, Radebeul 2000, S. 105. 55 Geschäftsbericht des Arbeitsamtes Chemnitz für das Jahr 1931/32, S. 21. Zitiert nach: Karlheinz Schaller, Das „Sechstagerennen“. Aus dem Alltag Chemnitzer Fabrikarbeiter in der Weimarer Republik, Bielefeld 2007, S. 27. 56 Unter den 1904/05 zugewanderten Arbeitern dominierte die evangelische Konfession mit 81 Prozent. 18,7 Prozent der Zuwanderer waren römisch-katholisch, wovon die meisten aus
134
Migration als Organisationsfaktor
bereits Erfahrungen als Lohnarbeiter gemacht haben. Auf Grund des Nebeneinanders qualifizierter Hand- und qualifizierter Maschinenarbeit in den Werkstätten waren die gelernten Arbeiter unter ihnen bei weitem in der Überzahl. Darüber hinaus besaßen viele Arbeiter nicht nur ihren persönlichen Lebensmittelpunkt aus Familie, Schule und Freunden in der Gegend – sie hatten auch einen großen Teil ihres Arbeitslebens in dieser Region und bei wechselnden Arbeitgebern verbracht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich innerhalb der Arbeitsgruppen im Maschinenbau immer wieder Personen trafen, die über einen ähnlichen Hintergrund verfügten und sich vielleicht sogar kannten, ist daher als relativ hoch zu veranschlagen. Dies musste freilich nicht bedeuten, dass dadurch automatisch Kommunikationskanäle entstanden oder die gemeinsame Arbeits- und Pausenzeit konfliktärmer verlaufen wäre; doch wurden die betrieblichen Sozialbeziehungen auch nicht durch sprachliche, konfessionelle oder kulturelle Polarisierungen belastet. Den regionalen Wanderungsbewegungen den Charakter eines großen „Gleichmachers“ zuzuschreiben wäre daher sicherlich verfehlt – ein Hindernis für gegenseitige Verständigung waren sie aber auf keinen Fall. Dies galt umso mehr, weil die Arbeitsorganisation der Werkstätten nicht nur viele Freiräume bot, um „mit anderen zu sein“. Sie zwang auch während der eigentlichen Arbeit in einem System gegenseitiger Verantwortung und Abhängigkeiten geradezu zur Kommunikation und Absprache. Dass dabei auch Neuigkeiten aus den Herkunftsund Wohnorten, Geschichten über Erlebtes und die eigenen Familien eine große Rolle spielten, fiel bereits Göhre auf.57 Eine ähnliche Herkunft und Wanderungserfahrung dürften demnach nicht selten ein Anfang für persönlichere Beziehungen gewesen sein. Sowohl in den technisch-organisatorischen Freiräumen als auch in den illegal abgetrotzten Arbeitspausen bestand die Möglichkeit, dass sich solche geteilten Eindrücke zum Startkapital für gegenseitige Zugehörigkeit und Selbstvergewisserung entwickelten, bei denen eine weitergehende Solidarisierung und Interessenvermittlung eingeübt werden konnte. Die böhmischen Arbeiter nahmen dagegen eine Sonderrolle ein. Sie bildeten die einzige größere Arbeitergruppe, die dem regional homogenen Rekrutierungsmuster nicht entsprach. Göhre hielt über sie fest: […] da hier wegen der Nähe der sächsisch-böhmischen Grenze Hunderte von Tschechen, mit dem Spitznamen „Seffs“ genannt, meist auf Bauten in Arbeit standen. Zwischen ihnen und den einheimischen Deutschen herrschte durchgehend Abneigung und Gleichgiltigkeit. Für viele Arbeiterfamilien waren sie zwar wertvolle und nicht überbehandelte Erwerbsobjekte; Böhmen kamen. Fünf Arbeiter waren jüdischen Glaubens. Vgl. Froehner, Wanderungsergebnisse, S. 80 ff. 57 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 77.
Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau
135
aber man sah immer auf sie herunter. Sie hatten auch ihre eignen Tanzböden, die unsre Leute nicht gern besuchten, weil es da zu roh zuging, und es gab häufig Schlägereien mit ihnen.58
Mit der kulturell abschätzigen Behandlung und außerbetrieblichen Trennung ging auch eine weitgehende innerbetriebliche Distanz während der Arbeit einher: In unsrer Fabrik hatten selbst die Deutsch-Böhmen unter dieser Abneigung gegen ihre Landsleute zu leiden. Von einer Verbindung zwischen Tschechen und unsren Leuten war jedenfalls nicht das geringste zu spüren.59
Trotz dieser Abgrenzung, durch die sich das Verhältnis zu den Böhmen vom Verhältnis zu den Nichtsachsen aus dem Reichsgebiet unterschied, existierten aber dennoch Faktoren, die eine vollkommene Trennung zwischen Einheimischen und Böhmen während der Arbeit unmöglich machten. Denn zum einen stand dem der Charakter der Produktion entgegen: Im ineinandergreifenden Fertigungsprozess kam jedem Arbeiter und seiner Werkstatt oder Kolonne eine Bedeutung zu, die die individuelle Arbeitstätigkeit mit dem Endergebnis verband. Das daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnis wurde im Positiven wie Negativen kommuniziert, was auch vor den Böhmen nicht Halt machte, die in der Regel auch der deutschen Sprache mächtig waren. Ein völliger Kommunikationsverzicht oder eine allzu einseitige Herabwürdigung der böhmischen Kollegen war vor diesem Hintergrund daher eher unwahrscheinlich. Dazu kam zum anderen, dass die Böhmen keine einheitlich-unqualifizierte Gruppe darstellten. Sie verteilten sich zwar nicht gleichmäßig auf die betrieblichen Positionen, doch führte das leichte Übergewicht der Hilfsarbeiter hier keinesfalls zu einer Unterschichtung der Belegschaften. Dass auch immer wieder qualifizierte Arbeiter (vor allem Schlosser, Schmiede und Former) aus Böhmen einwanderten, verhinderte eine betriebliche Verschärfung der kulturellen Polarisierung durch den Qualifikationsgegensatz. Informationen über ihre Verteilung in Chemnitz liegen für die Haubold’sche Gießerei vor: Von 92 eingewanderten böhmischen Arbeitern waren 61 als „Arbeiter“ aufgeführt, während 19 als „Former“ arbeiteten. 12 Böhmen verteilten sich auf unterschiedliche Berufe wie Tischler, Maurer, Schlosser, Schleifer oder Schreiberin.60 Innerhalb der heterogeneren Zuwanderergruppe aus den preußischen Ostprovinzen war dieses Verhältnis sogar noch ausgeglichener: „Arbeiter“ und „Former“ hielten sich fast die Waage. 58 Ebd., S. 129. 59 Ebd. 60 Vgl. Arbeiterverzeichnis Haubold, StA Chemnitz, 31002 C. G. Haubold AG, Maschinenfabrik Chemnitz, Nr. 72.
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Migration als Organisationsfaktor
Auch wenn eine komplette Trennung einheimischer und böhmischer Arbeiter deshalb wohl nur schwer durchsetzbar gewesen wäre, ging deren Verhältnis doch meistens nicht über die reine Notwendigkeitskooperation hinaus. Die anscheinend verbreiteten kulturellen und nationalen Überlegenheitsgefühle machten die ausländischen Zuwanderer nur sehr selten zu einem Teil weitergehender Sozialbeziehungen in der Fabrik. Es ist zu vermuten, dass sie auch bei Spielen, Neckereien und Späßen außen vor blieben und damit weder an der proletarischen Selbstvergewisserung noch am solidarischen Potential eigen-sinnigen Verhaltens partizipierten. Ihr Eigen-Sinn wird sich deshalb trotzdem nicht in individuellen Fluchtstrategien und apathischem Alleinsein erschöpft, sondern auch den Kontakt zu ihren Landsmännern in der Belegschaft gesucht haben. Der Chemnitzer DMV und die wandernden Metallarbeiter
Im Gegensatz zum Ruhrgebiet sind (bis auf wenige Ausnahmen) keine Äußerungen überliefert, die darauf schließen lassen würden, dass die DMV-Sekretäre in Chemnitz in der Metallarbeiterzuwanderung ein Problem erkannt hätten. Große gewerkschaftliche Schwierigkeiten im Zuge der Arbeiterrekrutierung waren hier nicht vorhanden. So bezogen sich die Sitzungsberichte der Mitgliederversammlungen und die wenigen anderen Veröffentlichungen des Chemnitzer DMV vor 1900 nur sehr selten auf die Herkunft der Arbeiter oder nahmen gar die betrieblichen Folgen der Migrationsprozesse zur Kenntnis. Das Überwiegen einer relativ homogenen Nahwanderung gehörte quasi zur unausgesprochenen Normalität des Maschinenbaus. Auf Grund des Ausbleibens schwerwiegender sprachlicher oder kultureller Differenzen innerhalb der Arbeiterschaft war es der DMV -Führung möglich, Zuwanderung und deren Auswirkungen weitestgehend außen vor zu lassen. Der überragende Anteil jener Arbeiter, die als Lohnarbeiter schon Erfahrungen in den Fabriken und Werkstätten gesammelt hatten und die zu einem großen Teil bereits Industriearbeiter in zweiter oder dritter Generation waren, ersparte den Chemnitzer Gewerkschaftern Überlegungen, die bei ihren Kollegen im Ruhrgebiet für Kopfzerbrechen sorgten. Die Integration ländlicher Fernwanderer und die Anpassungsschwierigkeiten nach einer massiven Umbrucherfahrung zählten daher nicht zum Kern der Erwägungen für den westsächsischen Maschinenbau. Für viele Verantwortliche des DMV in Chemnitz dürfte die Rekrutierung der Arbeiter in den Maschinenfabriken um 1890 einen günstigen Charakter besessen haben: Denn obgleich sie nicht mehr so bedeutend waren wie dreißig Jahre zuvor, gehörten die handwerkliche Lehre und das Gesellenwandern noch immer zu den allgegenwärtigen Phänomenen, wenn es um den Zuzug von Arbeitskräften ging. Von besonderer Wirkmächtigkeit wurde dieser Umstand dadurch, dass sich die persönlichen Hintergründe der Sekretäre dabei mit jenen der Gesellen überschnit-
Der DMV und die Wanderungsbewegungen im Chemnitzer Maschinenbau
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ten. Es ist nämlich davon auszugehen, dass beinahe alle Gewerkschaftsführer des 19. Jahrhunderts eine handwerkliche Lehre absolviert und auch einige Zeit auf der Walz verbracht hatten.61 Der hohe Stellenwert der Wanderunterstützung für die frühen Gewerkschaften und auch für den frühen DMV ist daher wenig verwunderlich – man machte „Politik“ für eine Klientel, über deren Bedürfnisse man bestens informiert war und mit deren Nöten man sich identifizieren konnte. Aus Sicht der Chemnitzer Sekretäre galten der programmatische Schwerpunkt und der Organisationsanreiz der Wanderungsunterstützung aus diesen Gründen als unverzichtbar. Sie wurden regelrecht zur Überlebensfrage stilisiert: Auf dem zweiten Verbandstag des DMV 1895 hob Zuckschwerdt 62 den Wert der Unterstützung als „Agitationsmittel“ 63 hervor und sein Kollege Riemann folgerte: Unsere Gewerkschaften stecken noch in den Kinderschuhen; die Nothwendigkeit der Reiseunterstützung müsse man am eigenen Leibe erfahren haben. Es sei unrecht, die schlimmsten Fälle der unrechtmäßigen Erhebung der Reiseunterstützung anzuführen. Schaffe man die Reiseunterstützung ab, so werde der Verband zerstört.64
Riemanns Äußerung ist jedoch auch zu entnehmen, dass die hervorgehobene Stellung der Wanderunterstützung keinesfalls unumstritten war. Denn wie auch andere Faktoren gewerkschaftlichen Handelns wurde dieses „Relikt“ zunehmend in Frage gestellt. Im langsamen Übergang von der handwerklichen zur Betriebsphase unterwarf man im DMV die Programmatik, Agitation und die Wahl der Transmissionsriemen einer Neujustierung, was auch ein Umdenken in Sachen Wanderung 61 Vgl. dazu die Präsenz-Liste des Gründungskongresses des DMV, die fast nur Handwerksberufe unter den Mandatsträgern festhielt. Vgl. Gründungsprotokoll, S. 3 – 7. Unter den Chemnitzer Gewerkschaftsführern herrschten Handwerker ebenfalls vor. So kam etwa Robert Krause 1889 als Bauschlosser auf der Walz nach Chemnitz, vgl. MAZ 42 (1924) 20, S. 58. Die einzige bekannte Ausnahme bildete Emil Riemann, der als Eisendreher aufgeführt wurde, jedoch Chemnitz auf dem Schlosserkongress vertrat, vgl. Gründungsprotokoll, S. 4 und S. 113. 62 Johann August Franz Zuckschwerdt (geb. 1844) war gelernter Schlosser und später Materialwarenhändler, der bis zu seiner Ausweisung 1886 zu den wichtigen Sozialdemokraten Leipzigs gehörte. 1873 nahm er als Delegierter am Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach teil. 1886 ging er nach Chemnitz, wo er auch nach dem Sozialistengesetz eine führende Rolle in der Metallarbeiterbewegung der Stadt einnahm. Besonders in der Frühphase prägte er den Chemnitzer DMV maßgeblich. Vgl. Berndt, Biographische Skizzen, S. 274 ff. 63 Protokoll der II. ordentlichen General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 60. 64 Ebd., S. 60 f.
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Migration als Organisationsfaktor
beinhaltete. Die 1890er Jahre sahen dabei parallel den Bedeutungsverlust handwerklichen Wanderns für die gewerkschaftliche Anziehungskraft und den Anstieg nichthandwerklicher ökonomischer Massenmobilität. Gegenüber beiden Prozessen galt es, sich zu positionieren: In einer Debatte in der Metallarbeiter-Zeitung und auf den Verbandstagen formierten sich zwischen 1893 und 1899 zwei Lager, deren Argumentationen im Kern die Arbeitermobilität betrafen. Zum einen drückte sich dabei die Befürchtung aus, dass die Wanderunterstützung einzig der Finanzierung der Wanderlust diene und ständige Arbeitsplatzwechsel begünstige. Einen langfristigen Organisationsanreiz bot sie aus dieser Sicht nicht mehr; vielmehr schrieb man ihr die Forcierung des Fluktuationsproblems zu. Zum anderen legte sie aber auch den Interessengegensatz zwischen mobilen und sesshaften Arbeitern offen, der ältere Kollegen mit Familien von jüngeren, unverheirateten Mitgliedern trennte. Erstere fühlten sich durch die hohen Ausgaben für die Wanderunterstützung benachteiligt, konnten sie doch nicht so einfach den Ort wechseln wie Letztere.65 Der Kompromiss, der nach einer mehrjährigen Implementierungsphase vom Verbandstag 1899 schließlich durchgebracht wurde, versuchte daher beiden Seiten Rechnung zu tragen: Die Wanderunterstützung blieb, nicht zuletzt weil sie ein Kern des Gewerkschaftsverständnisses des Vorstands war, bestehen und wurde durch die Arbeitslosenunterstützung ergänzt, die zuvor auf mehreren Generalversammlungen durchgefallen war. Ab 1903 wurde dann auch Umzugshilfe gewährt.66 Letztlich bedeutete dieser Weg einen Ausgleich zwischen den innergewerkschaftlichen Kräften der Beharrung und des Umbaus, die den Wandel der Arbeitermobilität auf unterschiedliche Weise beurteilten. Grundsätzlich wurde dabei klar, wie stark sich das Verständnis von der Arbeitswanderung gewandelt hatte: Das Verhältnis von Gewerkschaft und Migration stellte sich der Mehrheit der Generalversammlung vor dem Hintergrund eines wachsenden Verbandes und der Massenmobilität der Arbeiter nun in anderer Qualität dar. Die bisherige Herangehensweise war kaum noch vermittelbar, weil Mobilität immer weniger unter der Prämisse handwerklicher Gesellenwanderung wahrgenommen wurde. Stattdessen verstärkte sich durch die immensen Fluktuationsbewegungen deren negative Konnotation – die Wanderungen von Arbeitern entwickelten sich vom Organisationsanreiz zum gewerkschaftlichen Ärgernis. Aus Sicht der DMV-Führung war dieser Fokuswechsel durchaus verständlich, weil sich der Wechsel des Arbeitsplatzes in vielen Fällen direkt im Mitgliederverlust niederschlug: Arbeiter versäumten es, sich bei der neuen Verwaltung zurückzumelden, gerieten in Zahlungsrückstand und 65 Vgl. Horst Rössler, Traveling Workers and the German Labor Movement, in: Dirk Hoerder/ Jörg Nagler (Hrsg.), People in Transit. German Migrations in Comparative Perspective, Cambridge 2002, S. 140 f. 66 Der DMV in Zahlen, S. 62 – 67.
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mussten schließlich aus den Büchern gestrichen werden. Der Bedeutungsanstieg der Fluktuation setzte sich dadurch fast eins zu eins im DMV um und bescherte dem Verband eine Fluktuationsrate, die in den 1890er Jahren zu jeder Zeit höher war als die eigentliche Mitgliederzahl. Erst ab etwa 1907 reduzierte sie sich tendenziell. Die Zahl der Beitritte und Verluste überstieg den Mitgliederstand jährlich sogar bei weitem, weshalb sich Mitgliedergewinne letztlich immer aus einem Übergewicht der Zugänge ergaben.67 Wie ohnmächtig der Vorstand und die Ortsverwaltungen diesen Entwicklungen zuschauen mussten, veranschaulichten zum Beispiel die Verhaltensmaßregeln für die Gewährung von Reiseunterstützung und Umzugshilfe aus dem Jahre 1904: In den erfundenen Eigennamen der Protagonisten propagierte der Vorstand ein Bild der Sesshaftigkeit und Beständigkeit der Mitglieder, das zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Die wandernden Kollegen trugen dabei Namen wie „Anton Eilig“, „Franz Veränderlich“ oder „Drücker Paul Lässig“, kamen aus „Schnellheim“ oder zogen etwa von „Irgendwo nach Nirgendheim“. Zum Kontrast gab man den Gewerkschaftssekretären Namen wie „Arthur Ehrlich“, „Otto Pünktlich“, „Hans Ganzgenau“ oder „A. Peinlich“, die in Orten wie „Weilhausen“, „Bleibeda“ oder „Hierselbst“ wohnten.68 So despektierlich diese Bezeichnungen aus heutiger Sicht anmuten mögen, dienten sie der DMV-Führung 1904 sozusagen als Blitzableiter für ein empfundenes Ohnmachtsgefühl gegenüber den massiven Mitgliederbewegungen, die vielerorts einen stabilen und geregelten Gewerkschaftsaufbau behinderten. War die Gewerkschaftsführung auch ohne Einfluss auf die Ursachen und Folgen der Fluktuation, so begann man doch seit der Jahrhundertwende mit dem Versuch, deren Auswirkungen auf den Verband zu reduzieren. Dazu wurde die Zahl der DMV-Beamten zwischen 1899 und 1913 enorm erhöht 69 und mit der Stärkung des unteren und mittleren Funktionärskörpers ein Anlauf zur Eindämmung der Mitgliedermobilität unternommen. Vor allem durch den Bedeutungsgewinn der Ortsverwaltungen und den Ausbau des Kassiererwesens ging man nun aktiv und nicht 67 Vgl. Klaus Schönhoven, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980, S. 155, 157, 159, 161. Für Chemnitz vgl. die Berichte des Gewerkschaftskartells 1901 – 1914 und die Geschäftsberichte des Chemnitzer DMV 1907 – 1914. 68 Vgl. Verhaltungs-Maßregeln für die Ortsverwaltungen, Bevollmächtigten der Einzelmitglieder sowie für die Geschäftsführer, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1904, S. 5 – 33. 69 Die Zahl der Beamten des DMV wurde bezeichnenderweise zwischen 1899 und 1900 prozentual am stärksten erhöht. Sie stieg von 6 auf 36. 1904 hatte der Verband 133, 1907 345 und 1914 schließlich 739 hauptamtliche Funktionäre. Mit 1,4 Beamten auf 1000 Mitglieder besaß der Verband 1914 dafür, dass es die größte deutsche Gewerkschaft war, über
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mehr nur rein programmatisch gegen die Fluktuation vor. Im Zuge des Umbruchs zur Betriebsphase kam jedoch der Einführung des Werkstattvertrauensmännersystems die wichtigste Rolle zu. Denn nicht nur für den Charakter der Gewerkschaft selbst, auch für die Herangehensweise an die Arbeitermobilität bedeutete dieser Schritt eine echte Innovation: Einerseits war es nun möglich, dem Zahlungsrückstand, der jahrelang die Hauptaustrittsursache darstellte, aktiv entgegenzuwirken. So experimentierte die Ortsverwaltung in Dresden zum Beispiel 1910 mit einem vierzehntägigen Beitragsverfahren, um die Mahnungen durch die Beitragskassierer besser zur Anwendung bringen zu können. Den dabei auftretenden Rückständen wegen Wohnungswechseln und fehlender Ummeldung begegnete man dadurch, dass die Werkstattvertrauensmänner die entsprechenden Wohnorte in Erfahrung bringen konnten und den Kassierern Hinweise erteilten. Etwa drei Viertel der rückständigen Beitragszahler wurden ausfindig gemacht und zahlten ihre Beiträge weiterhin.70 Auch in Chemnitz gelang es auf diese Weise, die zwangsweisen statuarischen Abgänge zu minimieren. Die Werkstattvertrauensmänner wurden als Kassierer von Zahlabenden und angestellten Hauskassierern unterstützt und konnten diesen Hinweise zum Verbleib säumiger Arbeiter geben.71 Andererseits stellte das Werkstattvertrauensmännersystem nun erstmals eine indirekte Verbindung zwischen der Ortsverwaltung und den Arbeitern im Betrieb her, sodass nicht nur Informationen über die Mitglieder gesammelt werden konnten – die Vertrauensmänner machten auch eine direkte Beeinflussung möglich und dienten als Ansprechpartner und Ratgeber. Im Hinblick auf die Mobilität ihrer Kollegen verschafften sie den Ortsverwaltungen den nicht zu unterschätzenden Vorteil, die Fluktuation in und um Chemnitz mit gewerkschaftlichen Lern- und Gewöhnungseffekten zu verbinden. Denn durch die beinahe flächendeckende Einführung des Systems konnten wandernde Arbeiter immer wieder vorsichtig angesprochen, beeinflusst und überzeugt werden. Darüber hinaus waren die Vertrauensleute ebenso in der Lage, eventuelle Umbrucherfahrungen und Anpassungsschwierigkeiten abzufedern und den Kollegen den Einstieg in einen neuen Betrieb zu erleichtern. Doch trotz der Hinwendung zur aktiven Bekämpfung der Fluktuationsfolgen fuhr die DMV-Führung immer zweigleisig: Die Eindämmung der negativen Auswirkungen auf den Verband ging Hand in Hand mit dem Versuch, die Gefahren für ein vergleichsweise hervorragendes Vertretungsverhältnis. Vgl. Schönhoven, Expansion und Konzentration, S. 230. 70 Vgl. Fluktuation, in: MAZ 28 (1910) 6, S. 43 f. 71 In Chemnitz konstatierte man durch diese Maßnahmen einen deutlichen Beitragsanstieg, der die Einstellung weiterer Bürokräfte nötig machte. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1905. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1906, S. 233.
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die Arbeiter im Zuge der Wanderung zu begrenzen. Neben der Weiterexistenz der Wanderunterstützung bemühte man sich beispielweise um eine effektive Arbeitsvermittlung, gab ab 1913 einen „Arbeiterführer für Chemnitz und Umgebung“ heraus 72 und baute das Volkshaus „Kolosseum“ zu einer großen Arbeiterherberge um. Nach einer Planungs- und Umbauphase zwischen 1907 und 1909 übernachteten hier 1910 zum ersten Mal zugereiste Arbeiter, die in Chemnitz und dem Umland Arbeit suchten. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Herberge zu einer anerkannten und häufig benutzten Einrichtung des Gewerkschaftskartells: Im ersten Halbjahr des Bestehens verzeichnete man bereits 4770 Übernachtungen und verbuchte zwischen 1911 und 1914 jährlich sogar mehr als 10.000.73 Die Institution gab den Arbeitern nicht nur die Möglichkeit einer Umschau auf dem Arbeitsmarkt; durch die Einrichtung der Büros der Verbände des Chemnitzer Gewerkschaftskartells und des Arbeitersekretariats im selben Gebäude wurde den Wandernden auch räumlich eine Anschlussfähigkeit signalisiert und eine Betreuung vereinfacht. Alles in allem handelte es sich bei solchen Methoden daher zwar um Palliativmittel, doch generierte man seitens des DMV und des Gewerkschaftskartells auch eine Erfahrbarkeit gewerkschaftlichen Handelns, die manchen Zugereisten zum Beitritt bewegt haben mochte. „Erzgebirgler“, Böhmen und der Chemnitzer DMV
Innerhalb der Wanderungsstruktur nach Chemnitz existierten für die DMV-Beamten zwischen 1891 und 1914 allerdings zwei Problemfelder, die daraus resultierten, dass eben nicht nur die klassische DMV-Klientel wanderte. Als frühes Hindernis wurde zunächst die Zuwanderung der erzgebirgischen Landbevölkerung angesehen. Im Gegensatz zu den ländlich-ruralen Zuwanderern ins Ruhrgebiet handelte es sich bei den „Erzgebirglern“ zwar keinesfalls um ausschließlich unqualifizierte Migranten ohne Lohnarbeitserfahrung – viele von ihnen hatten von Kindesbeinen an in der Spielzeug- und Posamentenherstellung, in der Klöppelei oder dem Kleinmetallgewerbe gearbeitet 74 –, doch herrschte unter dieser Zuwanderergruppe eine große
72 Arbeiterführer für Chemnitz und Umgegend 1913 – 14, herausgegeben vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz 1913; Arbeiterführer für Chemnitz und Umgegend 1914 – 15, hrsg. v. dens., Chemnitz 1914. 73 1911 verzeichnete man 10.432, 1913 15.097 und 1914 12.028 Übernachtungen. Vgl. Bericht für 1910. Nebst dem Bericht des Arbeiter-Sekretariats, herausgegeben vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz 1911, S. 34; Bericht für 1911, S. 40 f.; Bericht für 1913, S. 48 f. 74 Vgl. Schaller, Einmal kommt die Zeit, S. 138. Zur Entwicklung erzgebirgischer Industrie vgl. Siegfried Sieber, Die Industrie des Erzgebirges, in: Herbert Clauss (Hrsg.), Das Erzgebirge. Historische Landeskunde, Augsburg 1996, S. 68 – 78.
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Armut, die nicht selten dazu führte, dass die Migranten aus dem Gebirge jegliche sich bietende Arbeit zu niedrigsten Löhnen annahmen. Entsprechend unbeliebt waren sie bei den DMV-Sekretären, die ihnen neben Lohndrückerei auch einen niedrigen Bildungsstand und gegenüber der Gewerkschaft eine starre Indifferenz vorwarfen. Bei seinem Agitationsbericht für Sachsen wies der Chemnitzer Sekretär Albin Undeutsch 1896 etwa darauf hin, dass die Verhältnisse besonders im Erzgebirge katastrophal seien, und glaubte die Ursache zu kennen: „[…] außerdem ist es die Stupidität der Arbeiter, die ein Aufblühen der gewerkschaftlichen Organisation fast unmöglich macht“.75 Zumindest bis zur Jahrhundertwende blieb dieses Bild weitestgehend unverändert und die erzgebirgischen Zuwanderer schienen nicht in die von handwerklichen Traditionen geprägte gewerkschaftliche Bildungsbewegung zu passen. Der Logik dieser Phase entsprechend, wurde daher auch nichts für die Organisation dieser Arbeitsmigranten getan. In den Jahren um die Jahrhundertwende ging die Zahl der geringschätzigen Äußerungen dann jedoch merklich zurück. Im Zuge der Industrialisierung des Erzgebirges, der Ausdehnung der Fabrik- und der Abnahme der Heimarbeit, der Ausbildung lokaler Metallarbeiterschaften und letztlich auch auf Grund des Geländegewinns des DMV in dieser Region 76 war von einer Missbilligung dieser Arbeitsmigranten immer weniger zu spüren. Für die handwerkliche Phase war das Bild des „Erzgebirglers“ typisch: Da man es nicht mit der Standardklientel des DMV zu tun hatte und die Organisierung nicht „naturwüchsig“ funktionierte, verdichtete sich die Einschätzung rund um Zuschreibungen von Bildung und Anspruchsdenken zu einem Bild von Indifferenten, für die man (und dort lag das Dilemma) auch keine „Politik“ machte oder Ideen entwickelte. Das Fernbleiben von der Organisation wurde daher wie auch bei den Hüttenarbeitern zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Mit der Veränderung der Organisationsbedingungen, dem Beschreiten neuer Kommuni 75 Albin Undeutsch, Agitationsbericht, in: MAZ 14 (1896) 49, S. 5. 76 Besonders Aue und Schmiedeberg verzeichneten nach der Jahrhundertwende einen langsamen, aber stetigen Anstieg der Mitgliederzahlen. Am Jahresende 1911 war Aue schließlich nach Chemnitz, Dresden, Leipzig und Zwickau die fünftgrößte Verwaltungsstelle des DMV im Königreich Sachsen (3202 Mitglieder). Schmiedeberg führte (gemessen an der Einwohnerzahl dieser Gegend) beträchtliche 846 Mitglieder und war die zwölftgrößte DMV – Verwaltungseinheit. Gleichzeitig existierten im weiteren erzgebirgischen Raum aber auch immer Regionen, in denen es der DMV auch noch in den Vorkriegsjahren schwer hatte (etwa Frankenberg oder Annaberg). Als Ursache dieser Ungleichzeitigkeiten können die unterschiedlich starke Industrialisierung des Erzgebirges und differierende Agitationsbemühungen des DMV vermutet werden; eine historische Studie wäre hier erfolgversprechend. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1911. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1912, S. 44 f.
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kationswege mit der Arbeiterschaft und dem Eintreten erster gewerkschaftlicher Erfolge schien dieses Denken dann jedoch wie weggeblasen. Das zweite und verglichen mit den erzgebirgischen Zuwanderern konstanter vorhandene Problemfeld erblickten die Chemnitzer DMV-Beamten in der großen Gruppe zureisender Böhmen. Dazu hielt man im „Arbeiterführer für Chemnitz und Umgegend“ 1913 fest: Es kommt aber weiter hinzu, daß der Bevölkerungszustrom aus dem Erzgebirge und dem angrenzenden Böhmen, der auch heute noch stark ist, die Gewerkschaften immer wieder nötigte, mit der Organisationsarbeit von vorne zu beginnen. Erschwerend wirkte hierbei, daß namentlich in den früheren Jahren die böhmischen Arbeiter, die im Sommer in Chemnitz einwanderten, um hier Arbeit zu finden, im Winter wieder in ihre Heimat zurückkehrten, sodaß der Gedanke der Organisation nur schwer Fuß fassen konnte.77
Zunächst ähnelten sich die Zuschreibungen gegenüber den Zuwanderergruppen: Auch die böhmischen Arbeiter wurden in der Regel als potentielle Lohndrücker, Indifferente und Streikbrecher sowie als ungebildete Zuwanderer betrachtet. In ihrem Glauben an ein Organisationshindernis und an eine ökonomische Unterschichtung waren sich die Gewerkschafter diesbezüglich sogar mit den Unternehmern einig. So berichtete man im DMV-Geschäftsbericht für 1907 von einem Meister der Maschinenfabrik Schimmel, der lieber böhmische Arbeiter einstelle, weil er von deren organisatorischer Indifferenz ausgehen könne.78 Und den Direktor der Presto-Werke zitierte man mit den Worten: So willkommen dem Unternehmer die Ausländer als Lohndrücker sind, wenn sie menschenwürdige Löhne fordern, dann sind es böhmische Kerle, von denen man sich die Akkordpreise nicht vorschreiben läßt.79
Da man solche Meldungen aus Unternehmen (für die Gewerkschaftsperiodika ansonsten sehr untypisch) unkommentiert abdruckte, überließ man dem Leser in stiller Zustimmung ein Böhmenbild, das im Unterschied zu den „Erzgebirglern“ meistens auch noch national und rassistisch aufgeladen wurde. Man sprach den Böhmen, die man aus „kulturell zurückgebliebenen Gegenden“ 80 zu kommen wähnte, ganz einfach die Fähigkeit zur Einsicht in die gewerkschaftliche Notwendigkeit 77 Arbeiterführer für Chemnitz und Umgegend, S. 23 f. 78 Vgl. Geschäftsbericht für das Jahr 1907, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1908, S. 1169. 79 Ebd. 80 Arbeiterführer für Chemnitz und Umgegend, S. 23.
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ab und zementierte dadurch einen Graben zwischen dem DMV und der einzigen größeren ausländischen Zuwanderergruppe in Chemnitz. Darüber hinaus sorgte der rassistische Unterton dafür, dass die Distanz dauerhaft konserviert wurde und sich die Böhmen auch nach der Jahrhundertwende nicht in nennenswertem Maße im DMV organisierten. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet fiel diese Tatsache in Chemnitz aber weniger ins Gewicht, da sich die quantitative Bedeutung der böhmischen Zuwanderung im Maschinenbau mit maximal 10 Prozent der Belegschaften in Grenzen hielt und diese auch nicht den belegschaftsunterschichtenden Charakter besaß. Auf Grund des Böhmenbildes der Sekretäre und der weniger strategischen Position dieser Arbeiter in den Betrieben glich das Vorgehen in Chemnitz daher eher einem Verzicht auf die Organisation dieser Gruppe. Man war im Lichte des rasanten Mitgliederanstiegs seit der Jahrhundertwende auf sie schlicht und ergreifend nicht angewiesen.
3.3 Der DMV und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet Industrialisierung und Arbeiterherkunft im Ruhrgebiet
Anders als beim „leichtindustriellen Konstituierungstyp“, der in Sachsen vorherrschte, bedingten die Industrialisierungsprozesse und die technisch-organisatorische Entwicklung im Ruhrgebiet ein grundlegend anderes Muster in der Rekrutierung der Industriearbeiterschaft. Denn obgleich sich im späteren Ruhrgebiet auch schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Industrialisierungspotential durch ältere Gewerbe angesiedelt hatte – etwa in Form der Textilproduktion an der Ruhr oder der Essener Gewehrfabrikation – und auch der Bergbau bereits auf eine jahrzehntelange Blüte zurückblicken konnte, nahm sich das kommende schwerindustrielle Herz des Kaiserreiches um 1850 noch weitestgehend agrarisch aus. Das Zentrum der Verhüttung und Eisenverarbeitung lag weiter südlich im bergischmärkischen Industriegebiet, in dem Eisen noch weiterhin mit Wasserkraft und durch Holzkohle gewonnen wurde.81 Gleichzeitig deutete sich jedoch der Wandel vom Holz zur Kohle bereits an: Ausgehend von Raseneisenerzfunden im westlichen Revier entstanden mit der Hütte St. Anthony der Grundstein für die spätere GHH in Sterkrade-Oberhausen 82 und mit der Hermannshütte bei Hörde sowie
81 Vgl. Klaus Tenfelde, Arbeiterschaft, Arbeitsmarkt und Kommunikationsstrukturen im Ruhrgebiet in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, in: AfS 16 (1976), S. 6. 82 Vgl. Hans-Josef Joest/Johannes Gross, Pionier im Ruhrrevier. Gutehoffnungshütte, vom
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der Friedrich-Wilhelms-Hütte in Mülheim weitere frühe Hüttenwerke. Letztere blies 1850 den ersten Kokshochofen der Region an und leitete forciert durch die Kohleneisensteinfunde der 1840er Jahre eine Standortverschiebung ein, zu der nun auch die günstige geographische Lage des Gebiets beitrug.83 Resultierend aus diesen Standortvorteilen und dem Zug der Industrie zum Rohstoff, bildete die Region seit den frühen 1850er Jahren das Zentrum der Expansion von Hochöfen, die auch immer häufiger schon an Puddel- und Walzwerke angegliedert wurden.84 Bis zur „Gründerkrise“ 1872/73, an die sich eine längere Abschwungphase bis etwa 1892 anschloss, bildete das Ruhrgebiet den Kern der schwerindustriellen Beschleunigung im Reich – ein Vorgang, der sich nach 1892 bis zum Ersten Weltkrieg fortsetzte und nur durch die Einbrüche 1900 bis 1902 und 1907/08 unterbrochen wurde.85 Während dieser Entwicklung steigerte sich der Anteil des Reviers an der Roheisenerzeugung des (späteren) Deutschen Reiches, der 1850 nur 5 Prozent betragen hatte, bis 1870 auf 26 Prozent und erhöhte sich bis 1913 nochmals auf 42,5 Prozent.86 Das Ruhrgebiet war innerhalb eines halben Jahrhunderts zum wichtigsten Eisen- und Stahlerzeuger des Reichs geworden. Mit dem katapultartigen Aufstieg der Schwerindustrie und der frühen Konzentration ganzer Produktionsabschnitte unter einem Unternehmensdach, der bereits die Tendenz zu „gemischten Werken“ innewohnte, stiegen sowohl die Unternehmensgrößen als auch der Arbeiterbedarf insgesamt massiv an. Mit oft weit mehr als eintausend Arbeitern waren die Hüttenwerke die größten Industriebetriebe des 19. Jahrhunderts, an die selbst die größten Maschinenbaubetriebe nicht heranreichten. So beschäftigte die GHH schon 1864 zwischen 4500 und 5000 Arbeiter.87 Von Beginn an musste deshalb ein großer Teil der Arbeiterschaft über die Wanderung gewonnen werden. Bis in die 1860er Jahre hinein gelang es trotz der wirtschaftlichen Entwicklung und des „Menschenhungers“ der Hüttenindustrie aber weitestgehend, den Arbeitskräftebedarf über die Bevölkerungsüberschüsse und die Nah- und Mittelwanderungsprozesse zu decken. Spätestens in den 1870er Jahren reichte diese Grundlage dann nicht mehr aus; vor allem wenn man
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ältesten Montan-Unternehmen Deutschlands zum größten Maschinenbau-Konzern Europas, Stuttgart 1982, S. 1 – 18. Vgl. Tenfelde, Arbeiterschaft, S. 4; vgl. Wilfried Feldenkirchen, Zum Einfluß der Standortfaktoren auf die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets (bis 1914), in: Fritz Blaich (Hrsg.), Entwicklungsprobleme einer Region. Das Beispiel Rheinland und Westfalen im 19. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 49. Vgl. Fremdling, Eisen, Stahl und Kohle, S. 358 ff. Vgl. Toni Pierenkemper, Struktur und Entwicklung der Schwerindustrie in Oberschlesien und im westfälischen Ruhrgebiet 1852 – 1919, in: ZUG 24 (1979) 2, S. 3. Vgl. Feldenkirchen, Standortfaktoren, S. 47. Vgl. Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen, S. 418.
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berücksichtigt, dass „die angrenzenden ländlichen Arbeitsmärkte wohl schon zur Zeit der Reichsgründung leergefegt gewesen“ 88 sein dürften. Im Gegensatz zum Chemnitzer Maschinenbau, wo die Wanderungsstruktur bis dahin ähnlich ausgeprägt war und diesen Charakter auch beibehielt, weitete sich der Einzugsbereich der Arbeitsmigration in diesen Jahren immens aus, was einerseits auf die längere und diversifiziertere industrielle Vergangenheit Westsachsens und zum anderen auf den ungleich höheren Arbeiterbedarf des Ruhrgebiets zurückzuführen war. Der damit einhergehende Wandel sowohl der Wanderungsentfernungen als auch der regionalen Herkunft der Migranten ist detailliert für die Phönix-Hütte in Duisburg-Laar nachverfolgt worden:89 Die große Mehrheit der neueintretenden Arbeiter waren demnach Wanderer. In der Phoenix-Hütte stellten die in Duisburg Geborenen zwischen 1853 und 1902 sogar nur 14 Prozent der Belegschaften, und begrenzt man die Herkunft auf den engeren Kreis der Hütte, war dieser Wert noch viel geringer. Langfristig gesehen nahm die Bedeutung dieser ortsgebürtigen Bevölkerung außerdem noch ab. Dabei zeigen sich allerdings Schwankungen, die sich aus der konjunkturellen Lage und der Verfügbarkeit von Arbeitskräften auf dem regionalen Markt ergaben. So lag der Anteil der Ortsgebürtigen an den neueintretenden Arbeitern bis zum Einbruch der Konjunktur nach dem Gründerboom Anfang der 1870er Jahre bei 15 bis 20 Prozent und stieg in den Krisenjahren auf ca. 25 Prozent. Als sich die Konjunktur Mitte der 1880er Jahre wieder erholte, sank der Anteil unter 20 Prozent und fiel ab Mitte der 1890er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg auf unter 10 Prozent. Die Verknappung der Arbeitsmöglichkeiten in der Krise traf also vor allem die Zuwanderer, während die Ansässigen scheinbar ihre Arbeit behielten; nur ein Indiz dafür, dass „Ansässigkeit die Arbeiterschaft scharf differenzierte“.90 Im Gegensatz dazu kamen die meisten Zuwanderer nicht aus der unmittelbaren Umgebung. Nur etwa ein Viertel war aus Orten zugewandert, die im Umkreis von einhundert Kilometern lagen. Darunter befand sich ein bedeutender Teil aus dem niederrheinischen Raum. Mit mehr als 10 Prozent der Neueintretenden in den 1890er Jahren waren außerdem Holländer die bedeutendste ausländische Arbeitergruppe in der Phoenix-Hütte. Zwischen den 1860er Jahren und dem Ende des Jahrhunderts nahm die Zahl der Umland- und Nahwanderer deutlich ab; ihr Anteil 88 Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, S. 189. 89 Vgl. Ulrich Zumdick, Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet. Die Belegschaft der Phoenix-Hütte in Duisburg-Laar, 1853 – 1914, Stuttgart 1990, S. 104 – 123. 90 Klaus Harney, Historische Berufsbildungs- und Qualifikationsforschung am Beispiel der GHH Oberhausen. Arbeitskräftebeschaffung, Wanderung, Belegschaftsorganisation und Ausbildung im Hinblick auf die Entstehung schulischen Angebots, in: ZUG 28 (1983) 1, S. 25.
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fiel von 40 Prozent auf nur noch 16 Prozent. Ähnliches lässt sich über die Entwicklung der Mittelwanderung (100 bis 250 Kilometer) festhalten: Lag der Anteil dieser Zuwanderer an den Arbeitern außer in der Gründerkrise immer relativ konstant bei 25 Prozent, sank er in den 90er Jahren auf unter 15 Prozent. Die wichtigsten Rekrutierungsgebiete waren hierbei die Eifel, der Hunsrück und das Moselgebiet; für andere Hütten aber auch besonders die landwirtschaftlich geprägten Kreise Westfalens und Hessens.91 Diesen relativen Bedeutungsverlust der Nah- und Mittelwanderung begleitete parallel eine rapide Vergrößerung der Zahl der Einwanderer aus dem preußischen Osten, aus Polen und Italien. Der Anstieg war zuerst im Osten des Ruhrgebiets bemerkbar: Schon 1888/89 stellte der Bochumer Verein 40,1 Prozent der Arbeiterschaft aus Ostdeutschland ein, während dieser Anteil beim Phoenix-Werk weiter westlich erst 10,3 Prozent betrug. Dafür explodierte er hier in der Folge bis 1902 auf 62,1 Prozent und stieg in Bochum nur noch leicht auf 49,7 Prozent.92 Die Wanderungswelle ergriff das Ruhrgebiet und die Hütten also von Osten nach Westen und schob sich ab den 1880er Jahren langsam voran. Bis 1902 war der Anteil der ostdeutschen Arbeiter in diesem Werk auf 66 Prozent gestiegen, während die Mittelwanderer nur noch 7 Prozent ausmachten und eine andere Fernwanderung als aus dem Osten quasi nicht mehr stattfand.93 Die rural geprägte Fernwanderung aus dem Osten Preußens und dem geteilten Polen, die mit dem gezielten Anwerben dieser Arbeiter in den frühen 1870er Jahren begann,94 entwickelte sich in den nachfolgenden Jahren zur wichtigsten und folgenreichsten Zuwanderung ins Ruhrgebiet und veränderte das Gesicht der Region nachhaltig. Ihr massiver Einfluss auf die Herausbildung der Industriearbeiterschaft war maßgeblich dafür verantwortlich, dass man von einem „schwerindustriellen Konstituierungstyp der Arbeiterklasse“ 95 sprechen kann, der sich von den sächsischen Verhältnissen durch seinen dörflich-agrarischen, meist katholischen Charakter und dessen Folgen in den sozial-patriarchalischen Großbetrieben unterschied. So stammten beispielsweise zwei Drittel der ostdeutschen Zuwanderer bei Phönix
91 Vgl. Walter Becker, Die Bedeutung der nichtagrarischen Wanderungen für die Herausbildung des industriellen Proletariats in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung Preußens von 1850 bis 1870, in: Hans Mottek u. a. (Hrsg.), Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland, Berlin (Ost) 1960, S. 279. 92 Vgl. Zumdick, Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet, S. 109. 93 Vgl. ebd., S. 107. 94 Vgl. Christoph Kleßmann, Einwanderungsprobleme und Auswanderungslast. Das Beispiel der „Ruhrpolen“, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 303. 95 Zitiert nach Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie, S. 38.
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Abb. 6: Gewerbestruktur des Ruhrgebiets um 1840
aus Gemeinden mit weniger als eintausend Einwohnern und nur 15 Prozent aus solchen mit mehr als fünftausend Einwohnern.96 Innerhalb der Binnenwanderungsbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nahm dieser nordostdeutsche Zustrom eine Sonderstellung ein: Er war nicht nur die an Stärke und sozialer Bedeutung wichtigste Massenwanderbewegung der
96 Vgl. Zumdick, Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet, S. 107.
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Zeit,97 sondern schien auch der „Regel“ zu widersprechen, dass es sich bei Fernwanderung meistens um höherqualifizierte „Chancenwanderung“ handele und der Radius der Migration mit sinkender Qualifikation ebenfalls abnehme.98 Es ist nämlich davon auszugehen, dass die unqualifizierten Arbeiter unter den Fernwanderern bei weitem in der Überzahl waren. Ihr Erfahrungshorizont unterschied sich fundamental von jenem der Nahwanderer im Chemnitzer Maschinenbau, da sie in der Regel weder mit den innerbetrieblichen noch den außerbetrieblichen Umständen der industriellen Lohnarbeit in einem solchen Ballungsraum vertraut waren. Hinzu kam, dass die ländliche Fernwanderung weit häufiger eine Endgültigkeit besaß und nicht mehr durch Rückreise oder bleibenden Kontakt gemildert wurde – die Migrationserfahrung dieser Arbeiter entsprach daher viel eher einem Bruch mit ihrem vorherigen Leben als innerhalb der regionalen Wanderungsmuster Westsachsens. Arbeitswanderung und Betrieb
Die massenhafte Aufnahme ländlicher Fernwanderer durch die Hüttenwerke, die erst durch den organisatorischen Wandel hin zum „Drive-System“ ermöglicht wurde, setzte verglichen mit dem Chemnitzer Maschinenbau innerbetrieblich sowohl quantitativ als auch qualitativ ganz andere Maßstäbe. Vor allem in den gewaltigen Werksneugründungen der frühen 1890er Jahre im Duisburger Raum, aber auch in anderen älteren Werken bildeten die Fernwanderer bald die Mehrzahl der neueintretenden Arbeiter. Zwischen 1907 und 1911 lag ihr Anteil bei der GHH monatlich zwischen 30 und 50 Prozent.99 In der Phönix-Hütte stellten sie 1902 mit über 60 Prozent sogar die Mehrheit der Belegschaft. Bei der Gewerkschaft Deutscher Kaiser betrug ihr Anteil 1908 etwa 42 Prozent (32 Prozent Polen und 97 Vgl. Köllmann, Industrialisierung, S. 109. Zwischen 1880 und 1907 stieg der Anteil der ostdeutschen Fernwanderer an der Binnenwanderung in die Provinz Rheinland von 12,4 Prozent auf 27,3 Prozent, in Westfalen sogar von 15,1 Prozent auf 44,9 Prozent. Gleichzeitig sanken die Anteile Hessens und der jeweiligen Nachbarprovinz erheblich. Vgl. Wolfgang Köllmann, Die Bevölkerung Rheinland-Westfalens in der Hochindustrialisierungsperiode, in: VSWG 59 (1971), S. 368 f.; 1910 lebten dann schätzungsweise 500.000 Menschen aus den Ostprovinzen im Ruhrgebiet, von diesen waren mehr als die Hälfte Polen preußischer Herkunft und schon ein Drittel dort geboren, 139.000 waren Masuren. Vgl. Ritter/ Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, S. 191. 98 Vgl. Rudolph Heberle/Fritz W. Meyer, Die Großstädte im Strome der Binnenwanderung. Wirtschafts- und bevölkerungswissenschaftliche Untersuchungen über Wanderung und Mobilität in deutschen Städten, Leipzig 1937; vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 34 ff. 99 Vgl. Harney, Berufsbildungs- und Qualifikationsforschung, S. 25.
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10 Prozent Italiener, am Hochofen sogar 42 Prozent Polen).100 Auf der erst kurz zuvor gegründeten Krupp’schen Friedrich-Alfred-Hütte (FAH) in Rheinhausen machten Arbeiter aus den preußischen Ostprovinzen 1906 32 Prozent der Belegschaft aus, während 4,6 Prozent Ausländer und 6,1 Prozent aus mittlerer Entfernung zugewandert waren (Tab. 8).101 Die Tatsache, dass hier beinahe die Hälfte der Arbeiterschaft in der Rheinprovinz geboren war, muss auf den zu dieser Zeit bereits hohen Anteil von Kindern ostpreußischer Fernwanderer zurückgeführt werden. Während des Ersten Weltkriegs hatten sich diese Anteile nochmals erheblich vergrößert: Vor allem durch den Einsatz von Kriegsgefangenen arbeiteten nun über 1700 Ausländer bei der FAH (23 Prozent aller Arbeiter) und die Bedeutung der ostpreußischen Zuwanderer hatte sich auf über 40 Prozent der deutschen Arbeiter gesteigert.102 Tab. 8: Die regionale Herkunft der Arbeiter der Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen (1906) Territorium der Herkunft
Absoluter Anteil
Prozentualer Anteil
Rheinprovinz
1809
48,2
Westfalen
328
8,7
Posen
587
15,6
Westpreußen
212
5,6
Schlesien
188
5
Ostpreußen
176
4,7
Hessen-Nassau
80
2,1
Andere preußische Provinzen
139
3,7
Preußen insgesamt
3519
93,7
Ostpreußische Fernwanderer
1206
32,1
Andere Reichsgebiete
66
1,8
Ausländer
171
4,6
Insgesamt
3756
100
Im Vergleich zum Chemnitzer Maschinenbau ist es wiederum entscheidend, wie sich diese quantitativen Entwicklungen auf der betrieblichen Ebene auswirkten, wie sie umgesetzt, interpretiert und mit den Sozial- und Machtbeziehungen ver 100 Vgl. Christoph Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870 – 1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 277 ff. 101 Berechnung des Verfassers nach: FAH Rheinhausen, Anlage für Direktor Klönne vom 16. 5. 1906, in: HAK, WA 70/148. 102 Berechnung des Verfassers nach: FAH Rheinhausen, Arbeitsbericht des Lohnbüros für das Geschäftsjahr 1917 – 18, in: HAK, WA 70/975.
Der DMV und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet
151
bunden wurden. Das charakteristischste Merkmal der Eisen- und Stahlwerke lag diesbezüglich in einer Wanderungspolarisierung, die dazu führte, dass eine Herkunft oft gleichbedeutend mit einer Arbeit wurde und durch die sich Migrationsprozesse im Betrieb fortsetzten. Über das Scharnier der Qualifikation wurden bestimmte migrantische Erfahrungen tendenziell auch bestimmten betrieblichen Positionen zugeordnet, sodass sich eine außerbetriebliche Trennung in den Betrieb hinein verlängern konnte. Unter den technisch-organisatorischen Bedingungen des „Drive-Systems“ verteilten sich die ländlichen Fernwanderer nämlich zum überwiegenden Teil auf die massenhaft benötigten unqualifizierten Positionen, während die verbliebenen und „degradierten“ qualifizierten Stellen viel häufiger von Ansässigen eingenommen wurden.103 Die qualifikatorische und organisatorische Belegschaftsspaltung in Kolonnenarbeiter und kontrollierte Qualifizierte füllte sich dadurch gewissermaßen migrantisch auf und wurde auf Grund der kulturell-sprachlich-nationalen Polarisierungen der Wanderung „ethnisch überformt“.104 Diese „Unterschichtung“ 105 der Belegschaften durch Wanderer aus den preußischen Ostprovinzen blieb zwar über Jahre hinweg sehr stabil, indem immer neue Fernwanderer in die Kolonnen der Hüttenwerke drängten und sie den Anteil ländlicher ostdeutscher Migranten damit langfristig zementierten. Dazu trug auch bei, dass sich die Nachkommen von Ansässigen in immer geringerem Maße für eine Arbeit in der Eisen- und Stahlindustrie entschieden und dagegen verstärkt ins weiterverarbeitende Gewerbe zogen.106 Individuell gestaltete sich die Lage für viele Fernwanderer aber anders: Denn mit der künstlichen Belegschaftsdifferenzierung des „Drive-Systems“ gingen auch Aufstiegsmöglichkeiten einher, die sich vor dem Hintergrund der immensen Fluktuation manchmal relativ schnell auftun mochten. Als unqualifizierte Kolonnenarbeiter und auf der untersten Stufe der Hierarchie eingestellt, konnten die Arbeiter daher nicht selten in kurzer Zeit eine rasche Beförderung und auch Lohnsteigerung erreichen.107 Dazu trug ebenfalls bei, dass sich Ansässige, N ahwanderer 103 Diese Prozesse waren Teil einer Herausbildung eines „doppelten Arbeitsmarktes“, dessen unterste Ebene internationalisiert war. Insgesamt lag der Anteil der „Ungelernten“ bei Ausländern um 42 Prozent höher als bei deutschen Arbeitskräfte. Vgl. Bade, „Billig und willig“, S. 319; Gründe und Charakter dieser „Unterschichtung“ in den Hüttenwerken durch italienische Arbeiter bei Adolf Wennemann, Arbeit im Norden. Italiener im Rheinland und Westfalen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Osnabrück 1997, S. 124 f. 104 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 316 – 319. 105 Harney, Berufsbildungs- und Qualifikationsforschung, S. 25. 106 Vgl. Zumdick, Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet, S. 122. 107 Vgl. HAK, WA/FAH 522. Zitiert nach: Pietsch, Feuerarbeiter, S. 188 f. Die seltenen Erwerbsbiographien von der FAH zeigen, wie rasch ungelernte polnische Arbeiter vom 4. Schmelzer oder Platzarbeiter zum 1. Schmelzer aufsteigen konnten.
152
Migration als Organisationsfaktor
und Fernwanderer auch oft in ihrer Arbeitsmotivation unterschieden. Polnische oder italienische Arbeiter wollten nicht selten so schnell so viel Geld wie möglich verdienen, um ihre Familien in Form der Kettenwanderung nachzuholen oder selbst wieder nach Hause zu reisen. Darüber hinaus mag dies die Bildung einer gemeinsamen Interessenlage unter den Fernwanderern erschwert, die individuelle Isolation verfestigt und somit zur Fragmentierung der Belegschaften im „Drive-System“ beigetragen haben. Neben der ohnehin vorhandenen Spaltung in Kolonnen und verbliebene Qualifizierte entwickelte sich auch in den Kolonnen eine Atmosphäre der gegenseitigen Fremdheit (trotz oft gemeinsamer Erfahrungen und Hintergründe). Dazu kam, dass aus dem Unwissen über die physischen wie psychischen Anforderungen der Arbeit im „Drive-System“ der Hütten nicht selten Resignation oder gar Flucht resultierten. Die hohe Fluktuation wirkte als belegschaftsinterne Kommunikationsbremse, indem sie die Kollegen und damit die potentiellen Bezugspersonen ständig durchmischte und einen Aufbau stabiler Beziehungen verhinderte. So waren die Fluktuationsraten unter den ländlichen unqualifizierten Zuwanderern mit Abstand am höchsten.108 Der Satz des GHH Arbeiters Stanislaus Madamowitz mag dafür bezeichnend sein: „Ich brauche nicht auf der GHH zu arbeiten, ich habe schon 1 Jahr auf der Wanderschaft zugebracht und bin nicht gestorben“.109 Von der Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse, der Degradierung der einheimischen Qualifizierten im Zuge des Kolonnensystems und der Hetze der Meister war es bis zur ethnischen Aufladung dieser Konflikte dann oft nicht mehr weit. Die Gefühle der Ohnmacht und Unterdrückung verknüpften sich mit der „Unterschichtung“ der Belegschaften, wodurch den fremden Arbeitern die Bürde der Verhältnisse aufgeladen wurde. Man stempelte sie auf diese Weise zu Sündenböcken für das erdrückende Produktionssystem ab. Der bei der GHH am Hochofen beschäftigte Jakob Urbaniak wurde 1905 beispielsweise mit den Worten abgefertigt: „Dummer Pollack, halt deine Fresse, hast’ nichts zu sagen“ 110 – ein Verhalten, das weitverbreitet war: In einer detaillierten Studie des DMV zur Lage in der Eisenund Stahlindustrie hielt man 1912 fest, dass auf beinahe allen Hüttenwerken rassistische Beleidigungen zur Tagesordnung gehörten. Neben „Hornochse“, „Drecksau“ und „dummer Hund“ mussten sich fremde Arbeiter mit Bezeichnungen wie „Polack“ oder „lästiger Ausländer“ herumschlagen.111 Dass sich die Unternehmensleitung solcher Konflikte bewusst war, zeigte schließlich eine Anweisung an die Abteilungsleiter der GHH , „zur Vermeidung von Schwierigkeiten in Herkunft 108 109 110 111
Vgl. Zumdick, Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet, S. 119 f. RWWA, 130 – 300143/0, Bl. 7. RWWA, 130 – 300143/9, Bl. 8.
Die Schwereisenindustrie im deutschen Zollgebiet, S. 489 – 492.
Der DMV und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet
153
[sic!] von ausländischen Arbeitern Galizier, Ruthenen wie auch Russisch-Polen nicht anzunehmen“.112 Ob damit ein Umdenkprozess verbunden war, in dem die Vorteile ausländischer Arbeiter in Frage gestellt wurden, sei dahingestellt; für viele Beamte des DMV war die Situation jedenfalls klar umrissen: Der Bochumer Verein verfolgte auch die Taktik, junge zugereiste Handwerker aus den Großstädten nicht einzustellen, damit ja die Organisation keinen festen Fuß fassen konnte. Arbeiter aus dem Osten wurden immer eingestellt.113
Der organisationsfeindliche Charakter der künstlichen Belegschaftsdifferenzierung und der „Unterschichtung“ durch ländliche Fernwanderer konnte den Unternehmern zumindest nicht entgangen sein, auch wenn deren Forcierung nicht die primäre Intention gewesen sein mag. Mit den innerbetrieblichen Konflikten ging eine weitgehende außerbetriebliche Trennung einher, die sich besonders bei den so genannten Ruhrpolen bemerkbar machte und weit stärker verfestigte als etwa bei den böhmischen Arbeitern in Chemnitz. Dabei spielten die Migrationsprozesse eine entscheidende Rolle: Denn im Gegensatz zur meist saisonalen Arbeitswanderung über kurze bis mittlere Entfernungen führte der finalere Charakter der Fernwanderung dazu, dass Arbeiter versuchten, ihre Familien oder Bekannten aus der Heimat nachzuholen. Dementsprechend war der Anteil der Kettenwanderung an der Migration ins Ruhrgebiet weit höher als in Chemnitz, wo die Einzelwanderung vorherrschte.114 Zusammen mit der größeren quantitativen Bedeutung im Revier hatten diese Faktoren Einfluss auf die Wahrnehmung der „Fremden“ in ihrer Zielregion: Während in Chemnitz ein Bild existierte, das die Böhmen als saisonwandernde, ethnisch fremde und kulturell minderwertige Arbeiter betrachtete, war das Bild des „Ruhrpolen“ gleichzeitig zwar kaum besser, begriff die Zuwanderer aber als bleibende und ortsfeste ethnische Minderheit, die sich als eigenständige Volksgruppe kirchlich, sprachlich, kulturell und nicht zuletzt vereinsmäßig abschottete.115 Unter den politischen 112 Gerhard Adelmann (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der sozialen Betriebsverfassung, Nr. 890, S. 470. 113 Ebert, Aus der Anfangszeit der Verwaltungsstelle Bochum, S. 12. 114 1905 waren 67,3 Prozent der Zuwanderer nach Chemnitz Einzelwanderer, während deren Anteil im Ruhrgebiet wesentlich geringer war. Die Forschung leitete aus solchen Fällen einen Zusammenhang zwischen Wanderungstyp und Herkunft ab: Einzelwanderer seien eher ein Signum industrialisierter Wanderung, während Familien- oder Kettenwanderung besonders bei ländlicher Bevölkerung anzutreffen war. Vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 26 ff. 115 Vgl. Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880 – 1930, München 2010, S. 80 f.
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Migration als Organisationsfaktor
Bedingungen einer preußischen, dezidiert „anti-polnischen Abwehrpolitik“ 116 waren hier die Voraussetzungen dafür gegeben, dass sich die außerbetriebliche Trennung junger Arbeiter in Werkskolonien auch in allen anderen Lebensbereichen ausprägte und zu einer milieubildenden Kraft wurde.117 Für den DMV waren diese Prozesse denkbar ungünstig, erschwerten sie doch das Herankommen an die zugewanderten Arbeiter erheblich. Der DMV im Ruhrgebiet und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter
Im Ruhrgebiet war der DMV weder vor der Jahrhundertwende noch in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg in der Lage, einen betrieblichen Anschluss an die Hüttenarbeiter herzustellen. Dafür war die Spaltung der Belegschaften entlang der Trennungslinien Qualifikation, Arbeitsautonomie, Herkunft und Wanderungserfahrung maßgeblich mitverantwortlich. Wer nun aber gewerkschaftliche Bemühungen zur Überwindung dieses Grabens erwartete, sah sich schnell enttäuscht: Ausgehend von einer Idee rassistischer Überlegenheit voller kultureller Unwissenheit und Angst verlegte sich die Taktik des DMV noch bis zur Jahrhundertwende einseitig auf den „Schutz“ der „deutschen“ Arbeiter gegen die „lohndrückende“ Einwanderung. Stärker der Integration und dem Internationalismus verpflichtete Herangehensweisen, mit denen andere Gewerkschaften zumindest experimentierten, ließ der DMV vermissen. Taktiken wie die „Winteragitation“ in den Heimatregionen der italienischen Arbeiter,118 die Herausgabe eines fremdsprachigen Verbandsorgans oder wenigstens den Versuch einer Kommunikationsoffensive 119 suchte man hier vergebens. Von den wenigen Äußerungen, die sich innerhalb des DMV zu dieser Zeit mit der Problematik der Migration und deren gewerkschaftlichen Folgen beschäftigten, sticht die in der Metallarbeiter-Zeitung zwischen 1894 und 1896 veröffentlichte Reihe besonders hervor. Dabei manifestierte sich vor allem in den Beiträgen Otto
116 Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, S. 316 f. 117 Dies reichte bis zur Gründung einer polnischen Bergarbeitergewerkschaft im Jahre 1902 und umfasste auch eigene Zeitungen, Vereine usw. Vgl. Kleßmann, „Ruhrpolen“, S. 306 f. 118 Vgl. Wennemann, Arbeit im Norden, S. 172 f. 119 Beispiele dafür waren etwa der Einsatz von Agitationskommissionen oder der Kontakt mit ausländischen Schwesterorganisationen. Zwischen 1898 und 1914 wurde darüber hinaus die italienischsprachige Zeitschrift L’Operaio Italiano herausgegeben. Vgl. Martin F orberg, Gewerkschaftsbewegung und Arbeitsmigranten. Agitationsstrategien und Organisierungsversuche der Freien Gewerkschaften in Deutschland 1890 – 1914, in: Gabriella Hauch (Hrsg.), Arbeitsmigration und Arbeiterbewegung als historisches Problem, Wien 1987, S. 97 f.
Der DMV und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet
155
Huès, der zwar kein DMV-Mitglied, aber anerkannter Bergarbeiterführer war,120 ein Bild von den ländlichen Fernwanderern und ihrem Verhältnis zum DMV : Für Huè lag die Ursache für das schlechte Vorankommen in dieser Region in der Zusammensetzung der Industriebevölkerung und den daraus erwachsenden Konsequenzen.121 Denn persönliche Unstimmigkeiten unter den Sekretären gebe es hier ausgesprochen wenige; vielmehr sei entscheidend, dass sich die Ruhrindustriellen ihre Arbeiter vornehmlich aus Reichsteilen holten, in denen die „moderne Gewerkschaftsbewegung“ 122 noch nicht Fuß gefasst habe. Das Ruhrgebiet sei „geradezu überschwemmt worden von polnischen und slawischen Einwanderern“.123 In der Eisen- und Stahlindustrie sei diese Bewegung besonders folgenreich, betrage doch der Anteil des „ostelbischen Proletariats“ 124 auf den riesigen Werken wie Krupp, Hoesch, der GHH, Union und dem Bochumer Verein mindestens drei Fünftel. Gegenüber den Forderungen der Gewerkschaften würden sich diese „rückständigen Elemente“ als „völlig indifferente Volkstheile“ 125 [sic!] erweisen. Vor allem weil sie ihre neue Position als Verbesserung ihrer Lohn- und Behandlungssituation auffassten, seien sie gegenüber den berechtigten Forderungen der einheimischen Arbeiter teilweise „fanatisch“ und „stupide“ 126 und würden den Ansässigen die 120 Otto Huè (1868 – 1922) wurde nach einer Schlosserlehre (1882 – 1885) und Wanderschaft um 1890 Sozialdemokrat und arbeitete zwischen 1882 und 1895 in verschiedenen Werken der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets als Schlossergehilfe. Er war seit 1895 Redakteur der Bergarbeiter-Zeitung und bis zu seinem Tod Angestellter des Bergarbeiter-Verbandes. Seine politische Karriere reichte von der Mitgliedschaft im Reichstag (1903 – 1911) über das Preußische Abgeordnetenhaus (1913 – 1918), die Verfassunggebende Preußische Nationalversammlung, den Preußischen Landtag (1921 – 1922) bis in die Weimarer Nationalversammlung und den Reichstag der Weimarer Republik (1919 – 1922). Obgleich niemals Bergmann, avancierte er im Kaiserreich zu einem der einflussreichsten Bergarbeiterführer und erlangte außerdem große Bedeutung für die Gewerkschaftsbewegung der Metallarbeiter. Einen seiner wichtigsten Momente erlebte er 1906, als er im Reichstag öffentlich Anklage gegen die Arbeitsbedingungen in der Hüttenindustrie erhob und dadurch eine jahrelange politische Auseinandersetzung um den Hüttenarbeiterschutz entfachte. Vgl. Steinisch, Arbeitszeitverkürzung und sozialer Wandel, S. 24 ff.; zur Person Huès vgl. Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, S. 135. Vgl. Johann Mugrauer, Otto Hue (1868 – 1922), in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd.1, Münster 1931, S. 160 – 175. 121 Vgl. Otto Huè, Die Metallarbeiterorganisation am Niederrhein und ihre Hemmnisse, in: MAZ 14 (1896) 50, S. 1 – 2. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd.
156
Migration als Organisationsfaktor
Arbeitsplätze streitig machen. Je größer die Werke seien und je bestimmender sich ihr Einfluss auf den jeweiligen Ort ausdrücke, desto schwieriger würden sich die Voraussetzungen für die Gewerkschaften gestalten – jede Theorie von der Ausbildung eines proletarischen Bewusstseins in großen Industrieunternehmen verblasse vor diesem Hintergrund. Obgleich Huè darauf bestand, dass man diese Bedingungen nicht den Zuwanderern anlasten könne, sondern eher Schuld des Kapitals seien, versteifte er sich in der Folge immer stärker auf einen Standpunkt rassischer und kultureller Minderwertigkeit, der die Organisationsbedingungen des DMV gefährde. Die „Konzentrierung der unkultivierten Elemente [ist dementsprechend] die Endursache unserer geringen Erfolge“.127 Außerdem „sei Westdeutschland polonisiert und slawisiert worden“ – „das schmiegsame und unterwürfige Slawentum hat den Sieg davongetragen“.128 Beschränkte sich Huè bis dahin noch darauf auszusprechen, was sicherlich viele Beamte des DMV dachten, verließ er jedoch in seiner weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema seinen polemischen und abschätzigen Duktus immer weiter und konzentrierte sich stärker auf die tatsächlichen Ursachen der gewerkschaftlichen Schwäche im Ruhrgebiet. So war er beispielsweise ein scharfer Beobachter der Erfolgsbedingungen des Katholizismus:129 Deren Organisation sei in einigen Teilen des Ruhrgebiets schlicht „ausgezeichnet“.130 Man arbeite viel im „Verborgenen“ 131 und biete den politischen Gegnern dadurch nur sehr wenige Angriffspunkte. Höchstens zu einer Gewerbegerichtswahl würde man zu einer öffentlichen Versammlung aufrufen, ansonsten agitiere man versteckt und auf eher privatem Wege, der eine viel intensivere Beeinflussung ermögliche. Auch lägen die Verantwortlichen den Frauen eine „Bearbeitung“ ihrer Männer ans Herz – eine Methode, die im DMV erst während der 1920er Jahre Anerkennung fand. Der größte Vorteil der katholischen Arbeitervereine bestehe aber in ihrer Anschlussfähigkeit an die Umbrucherfahrungen der Fernwanderer. Damit besaßen sie eine Stärke, die dem DMV völlig abging. So würden sich die ländlichen, katholischen und „ungebildeten“ Zuwanderer aus dem Osten oft sehr schnell einem katholischen Arbeiterverein anschließen, weil sie dort nicht nur Anklänge an ihre Heimat fanden, sondern auch sprachlich und rituell eine Anknüpfung an ihr bisheriges Leben herstellen könnten. Wo es möglich sei, gründe man sogar rein polnische Vereine mit polnisch sprechenden Kaplanen und gebe ein polnisches Blatt „im Lande der germanischen Westfalen 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Vgl. ders., Die Metallarbeiterorganisation am Niederrhein und ihre Hemmnisse II, in: MAZ 14 (1896) 52, S. 1 – 2. 130 Ebd. 131 Ebd.
Der DMV und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet
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heraus“.132 Die daraus resultierende Abschottung der Arbeiter gegen den DMV sei daher umso erfolgreicher. Weil die Gewerkschaft gar nicht mit den Zuwanderern in Berührung komme und diese quantitativ so stark vertreten seien, lägen die Gründe für die Lähmung der Organisation, so Huè, klar auf der Hand. Darüber hinaus wiege die mentale Beeinflussung der Einheimischen durch die Zuwanderer besonders im engeren Ruhrkreis sehr schwer. Huè versuchte als einer der ersten Gewerkschafter, nicht bei seiner Lageeinschätzung stehen zu bleiben und Ideen zu entwickeln, mit denen der DMV die Gruppe der Fernwanderer erschließen könne. Dabei nahm er 1896 einige wesentliche Forderungen vorweg, die für die Positionierung der Verwaltungsstellen im Ruhrgebiet nach 1900 charakteristisch werden sollten. Das beste Mittel zur Stärkung der Anziehungskraft des DMV erblickte er im Ausbau der Agitation „ohne Kostenrücksichten“.133 Die kurzfristige Heranziehung ortsfremder Agitatoren sei gescheitert, und die Methode der punktuellen Agitationstouren habe versagt, weil deren Kenntnis der jeweiligen Lage und ihre Ausbildung eine detaillierte Werbung vor Ort nicht ermöglichen würden. Nur durch einheimische Agitatoren könne man Erfolge erzielen. Außerdem solle man dort, wo das Mittel der Gewerkschaftspresse nicht angenommen werde, über Flugblätter kommunizieren und auf diese Weise den Weg in die Betriebe suchen. Und nicht zuletzt verbat sich Huè ein „Herumreiten auf der Religion“ 134 durch die Agitatoren, da ein solches Vorgehen nur die antigewerkschaftlichen, katholischen Ressentiments gegenüber den sozialistischen Gewerkschaften bestätige und langfristig den Gegnern in die Hände spiele. Über seine Rolle als Mahner in der handwerklichen Phase kam die Bedeutung Huès diesbezüglich aber nicht hinaus. Denn als er fünf Jahre später auf die Frage nach den Wurzeln der Kraft des DMV antwortete, konstatierte er einen weitgehenden programmatisch-methodischen Stillstand innerhalb des Verbandes.135 Er wiederholte seine Forderung nach einer ortsfesten Anstellung von Agitatoren für Essen, Duisburg, Bochum und Dortmund, da die Verwaltungsstellen in Düsseldorf und Bielefeld mit der Vertretung und Erschließung der Hüttenarbeiter überfordert seien. Völlig folgenlos war seine Initiative aber dennoch nicht: Denn auf Grund seiner andauernden Klagen über die Herangehensweise des DMV in der Eisen- und Stahlindustrie war er zu einem typischen Beispiel des Gesinnungswandels einer Gewerkschaft im Umbruch geworden. Seine Interpretation des Verhältnisses zwischen Verband und potentiellen Mitgliedern markierte dabei eindrücklich den Wandel von 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Vgl. ders., Wo liegen die Wurzeln der Kraft für den Deutschen Metallarbeiter-Verband?, in: MAZ 19 (1901) 35, S. 1 f.
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Agitations- und Vertretungsvorstellungen, die den Kern des Endes der handwerklichen Phase in sich trugen. Sein Fazit, dass Agitation in der Hüttenindustrie zwar äußerst schwierig, aber nicht unmöglich sei, dass der Verband „seine Schuldigkeit nicht getan“ habe und dass die „Verbandspolitik der Halbheiten […] aufhören“ müsse,136 zeigte, woher der Wind in Zukunft wehen sollte: Der DMV musste sich, wenn man die Organisation der Arbeiter der Großindustrie vorantreiben wollte, zu einem Verband weiterentwickeln, dessen Taktik aus mehr bestand als aus der reaktiven Abhängigkeit von den Verhältnissen. Der Bedeutungsverlust handwerklicher Bindungen und das rasante Wachstum der Industriearbeit machten eine explizite Strategie nötig, die einen Weg des Herantretens an die Arbeiter aufzeigte und Beeinflussungspotential erschloss. Da die Merkmale „moderner“ Industriearbeit in kaum einer Branche so ausgeprägt vorhanden waren wie im Eisen- und Stahlsektor, rückte die Suche nach Wegen der aktiven Gewerkschaftsarbeit daher auch im Ruhrgebiet besonders stark in den Fokus. Mit Blick auf die Migrationserfahrungen und Umbrucherlebnisse der ländlichen Fernwanderer schien man sich hier darüber einig zu sein, dass ein rassistischer Ton und ein beleidigender Umgang nicht mehr geboten waren. Die vielfältigen Versuche der DMV-Beamten im Ruhrgebiet, Anschlussfähigkeit an die Hüttenarbeiter zu gewinnen, ließen Äußerungen wie jene Huès 1896 jedenfalls nicht mehr zu, da sie vorhandene Gräben nur noch vertieften. Dementsprechend änderte sich in den Jahren nach der Jahrhundertwende allmählich der Ton gegenüber den Zuwanderern aus den preußischen Ostprovinzen und Polen: Die Migranten, nun oft schon eingesessen, wurden weniger auf Grund ihrer Herkunft beurteilt, sondern ordneten sich eher in die Reihe der Unqualifizierten ein, die es zu gewinnen galt. Kulturell und rassistisch abschätzige Kommentare fanden sich in den Periodika des DMV kaum noch. Dies hieß jedoch nicht, dass die Migranten nun in der Wertschätzung der Sekretäre gestiegen wären. Auch das Bild des Unorganisierten war durch moralische und sittliche Zuschreibungen geprägt. Sie galten vielen als „die geistig, moralisch und wirtschaftlich rückständigsten Elemente“ und wurden selbst im Gewerkschaftsorgan als „Schmarotzer“, „Schädlinge“ und „Verräter“ 137 bezeichnet. Dennoch schien die Organisation der Migranten unter den veränderten betrieblichen Bedingungen nun zumindest in den Bereich des Möglichen zu rücken und die Terminologie verschob sich weg von rassistischen Tönen hin zu einer Frage der geeignetsten Agitationsmittel für die Hüttenbelegschaften. Vor allem im Ruhrgebiet konnten nun auch verstärkt Stimmen im DMV vernommen werden, die fragten, wieso sich ein unqualifizierter Arbeiter überhaupt organisieren solle, wenn man ihn als Arbeiter zweiter Klasse 136 Ebd. 137 Das Zusammenarbeiten der organisierten mit den unorganisierten Kollegen. Eine Frage der Moral und des Rechts, in: MAZ 30 (1912) 47, S. 375 f.
Der DMV und die Wanderungsbewegungen der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet
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Abb. 7: Eines der zentralen Narrative der gesamten Verbandsgeschichte: der faule und feige Unorganisierte
behandle und ihm den sittlichen Wert abspreche.138 Daher versuchten die Sekretäre aus Dortmund, Duisburg und Essen in der Folge immer wieder, einen Fokuswechsel in der Sicht auf die Hüttenarbeiter zu bewirken, der sich besonders in veränderten agitatorischen Methoden niederschlagen sollte und in dessen Zentrum die Frage der Behandlung der polnischen Arbeiter stand.139
138 Vgl. Korrespondenzen. Essen, in: MAZ 22 (1904) 12, S. 93 f. 139 Zu diesen Prozessen siehe Kapitel 4.
4. Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914 4.1 Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre Der „zweite Umbruch in der Fertigungstechnik“ und seine Folgen
Im Laufe der 1890er Jahre geriet die maschinenbauliche Fertigung allmählich an bestimmte Grenzen. Das rapide Anwachsen der Maschinennachfrage im Zuge der Entwicklung von Straßenbahnen, Verbrennungsmotoren, Luftschiffen oder Flugzeugen erforderte technisch-organisatorische Voraussetzungen, die das betriebliche Gleichgewicht von qualifizierter Maschinen- und Handarbeit nicht erfüllen konnte. Die wichtigsten Defizite lagen dabei in der geringen Spanleistung der maschinellen Fertigbearbeitung, dem Fehlen genauer Messverfahren in den Maschinen und der noch unflexiblen Steuerung mechanischer Automaten. Innerhalb der weiteren Entwicklung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich als schrittweise Behebung dieser Mängel bezeichnen lässt, bildeten die Jahre zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg eine Phase, in der sich der Einstieg in die Maschinisierung der Passarbeit und die Beschleunigung der Fertigung zum „zweiten Umbruch in der Fertigungstechnik“ verbanden.1 Entgegen früheren Analysen des Wandels erschöpften sich die Veränderungen daher nicht in bloßen Geschwindigkeitserhöhungen: Die Leistungssteigerungen der Motoren und Antriebe, die Elektrifizierung der Fertigungsmaschinen und die Verbesserung der Schneidstoffe, denen vor allem durch Taylors „Schnellschnittstahl“ große Beachtung geschenkt wurde, waren zwar wichtige Prozesse, bildeten aber nur eine Seite des Wandels. Denn der eigentliche, qualitative Unterschied zum früheren Fertigungssystem lag in der Behebung des Engpasses der Passarbeit per Hand. Entsprechend der vielzitierten Äußerung: „In mass production there are no fitters“,2 ermöglichten technische Veränderungen eine Genauigkeitssteigerung der Produktion, die den zeitverkürzenden Elementen erst zum Durchbruch verhalf und die Nachbearbeitung durch die Hand der Schlosser tendenziell überflüssig machte.3 Ähnlich den
1 Vgl. Benad-Wagenhoff, Industrieller Maschinenbau im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Entfaltung des Maschinenwesens, S. 20 f; vgl. ders., Industrieller Maschinenbau im 19. Jahrhundert, Werkstattpraxis, S. 359 – 380. 2 So formulierte es W. J. Cameron in der Encyclopedia Britannica, 13. Aufl., Bd. 29, London 1926, S. 821 ff., zitiert nach: Akos Paulinyi, Massenproduktion und Rationalisierung, in: Technikgeschichte 56 (1989) 3, S. 178. 3 Die Wichtung und der gegenseitige Bezug der Phänomene des Umbruchs gehören zur Kernthese und den großen Stärken der Studie von Volker Benad-Wagenhoff, Industrieller
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
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Entwicklungen in den Eisen- und Stahlwerken zwanzig Jahre zuvor wurden Handarbeiten an entscheidenden Stellen entzogen, sodass andere Produktionsbereiche ihr volles Wachstumspotential entfalten konnten. Als entscheidende Entwicklungen stellten sich im Werkzeugmaschinenbau die Verbesserung der Werkzeuge und des Messwesens heraus: Neue Bohrwerkzeuge und Schleifscheiben ermöglichten eine wesentliche Steigerung der Maschinengenauigkeit und damit die Herstellung von Passteilen. Grenzlehren- und Passungssysteme machten die Genauigkeit objektiv messbar, und der steifere Maschinenaufbau erhöhte die Fertigungsqualität. Neben diesen entscheidenden Elementen des Umbruchs, die den Flaschenhals der Passarbeit aufzulösen begannen, verkürzten begleitende Elemente wie die neuen Schneidstoffe, Antriebe und Bedienfunktionen die Bearbeitungszeiten massiv.4 Chemnitz war eines der Zentren dieses Wandels: In der Maschinenfabrik Union, vorm. Diehl baute man 1902 die Drehmaschinen „nicht nach der bisher im Werkzeugmaschinenbau üblichen Einpaß-Arbeitsmethode, sondern […] nach der ‚Feinmeß‘- oder ‚Austausch‘-Arbeitsmethode“.5 Währenddessen entwickelte sich die Firma Reinecker zu einem anerkannten Spezialisten für Schleifmaschinen und Werkzeuge, die im Zentrum der „modernen Fertigung“ standen. Hier baute man die „erste brauchbare Zahnradschleifmaschine“ und experimentierte erfolgreich mit einem „selbsttätigen Feinzustellmechanismus an Rundschleifmaschinen“.6 Bei Sondermann & Stier produzierte man neben Vertikal- und Horizontalbohrmaschinen auch Spitzendrehbänke, Revolverdrehbänke, Schleifmaschinen und Fräsmaschinen, während bei Zimmermann vor allem Bohrmaschinen im Mittelpunkt standen.7 Grundsätzlich wurden damit im Chemnitzer Werkzeugmaschinenbau der 1890er Jahre bereits alle Maschinen und Werkzeuge produziert, die für den Austauschbau und die Zurückdrängung der Handarbeit notwendig waren. Gleichzeitig öffnete sich der Maschinenbau der wissenschaftlichen Erforschung: Die nach der Jahrhundertwende gegründeten ingenieurwissenschaftlichen Institute setzten der reinen Empirie der Werkstatt die Ergebnisse aus Versuchsreihen entgegen und verschrieben sich vor allem der Wirtschaftlichkeitssteigerung der Maschinenproduktion. Als Träger der Rationalisierung trugen sie langfristig dazu bei, dass einige Bereiche der Fertigung ihren Probier- und Tüftelcharakter verloren und sich der Arbeitsprozess dort planbarer und somit lenkbarer gestaltete.8 Diese Initiativen, die in D eutschland
Maschinenbau im 19. Jahrhundert, Werkstattpraxis, S. 366 – 377. 4 Vgl. Volker Benad-Wagenhoff, Rationalisierung vor der Rationalisierung. Der zweite Umbruch in der Fertigungstechnik 1895 – 1914, in: Technikgeschichte 56 (1989) 3, S. 205 – 218. 5 Benad-Wagenhoff, Industrieller Maschinenbau im 19. Jahrhundert, Werkstattpraxis, S. 375. 6 Ebd., S. 377 f. 7 Vgl. Karl Specht, Die Massenfabrikation im Maschinenbau, Berlin 1893, S. 115 – 176. 8 Vgl. Benad-Wagenhoff/Paulinyi/Ruby, Entwicklung der Fertigungstechnik, S. 227 f.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
besonders mit Georg Schlesinger verbunden waren, läuteten darüber hinaus auch eine neue Ära in der Beziehung zwischen Werkstatt und Konstruktion ein. Im Insistieren auf einer fertigungsfreundlicheren Konstruktion, der Etablierung von Kooperationsbeziehungen der beiden Bereiche und der Zwischenschaltung der Arbeitsvorbereitungsbüros offenbarte sich der Wandel von der „Konstrukteurs-“ zur „Firmenkonstruktion“ und damit zur rationelleren Zusammenarbeit.9 Auf der Ebene der Arbeitsverrichtung und der Qualifikationsvoraussetzungen hatten diese Prozesse weitreichende Konsequenzen, die aber in ihrer Brisanz bei weitem nicht an den Wandel zum „Drive-System“ in den Hütten heranreichten, der das „Gesicht des Betriebs“ wesentlich drastischer veränderte. So blieb es im Maschinenbau und vor allem im Werkzeugmaschinenbau bei einer breiten Produktpalette. Besonders im „großen Maschinenbau“ gehörte die Fertigung nach Kundenwünschen immer noch zur Normalität und Elemente der Massenfertigung setzten sich höchstens für kleinste Teile durch. Wie auch zuvor zeigte die Art der Produkte die Grenzen der Rationalisierbarkeit der Produktion auf. Damit ging ein weiterhin hohes Qualifikationsniveau der Belegschaften einher, in dem jedoch graduelle Verschiebungen stattfanden. So verursachte der Bedeutungsgewinn der Maschinenarbeit zunächst das Ende des Gleichgewichts von Hand und Maschine: Hochqualifizierte Passarbeiten verloren tendenziell an Wichtigkeit, und die Unternehmen machten sich unabhängiger von der Nachfrage nach Montageschlossern. Die Ausweitung der Maschinenarbeit bedingte darüber hinaus ein Anwachsen der Zahl angelernter Arbeiter. Es ist jedoch zu beachten, dass es sich bei diesen Prozessen um langfristige Umwälzungen handelte und qualifizierte Handarbeit in vielen Bereichen unabdingbar blieb. Die berufliche Zusammensetzung der Firma Reinecker aus dem Jahre 1912 verdeutlicht diesen Umstand: 10
Tab. 9: Berufliche Zusammensetzung und Wochenlöhne bei Reinecker (1912) Beruf
Anzahl absolut
Wochenlohn im Durchschnitt (in Mark)
Dreher
291
26,86
Schlosser
280
26,17
Hilfsarbeiter
79
20,05
Nichtmetallarbeiter
41
22,73
Schleifer
91
22,38
Hobler
76
25,33
Stoßer
22
26,37
Fräser
84
23,80
9 Vgl. König, Konstruieren und Fertigen im deutschen Maschinenbau, S. 191 ff. 10 Aufstellung des Verfassers nach: Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 30 (1912) 17, S. 137.
163
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
Beruf
Anzahl absolut
Wochenlohn im Durchschnitt (in Mark)
Bohrer
60
25,21
Hinterdreher
38
25,69
Schraubendreher
7
21,94
Drehbankarbeiter
14
21,25
Gürtler
10
21,86
Kranführer
17
22,41
Elektrische Arbeiter
13
23,53
Klempner
2
27,55
Schmiede
2
28,13
Andere
15
Gesamt
1142
24,98 (Durchschnitt)
Bei 1142 Arbeitern bildeten 291 Dreher die größte Berufsgruppe und gehörten zu den Spitzenverdienern des Werks. Danach folgten 280 Schlosser mit einem ähnlichen Wochenlohn. Das Gros der Belegschaft bestand jedoch aus angelernten Maschinenarbeitern: 371 Arbeiter waren als Bohrer, Schleifer, Hobler, Fräser, Stoßer oder Hinterdreher beschäftigt. Der Wochenlohn der Hobler, Stoßer, Bohrer und Hinterdreher lag dabei nur geringfügig unter jenem der Schlosser – ein Indiz dafür, dass, wie schon Göhre bemerkte, angelernte Maschinenarbeit und Handarbeit die Belegschaften lohntechnisch keinesfalls segmentierten.11 Der angelernte Status ist daher im Werkzeugmaschinenbau viel eher als relativ qualifizierte Facharbeiterposition eines industriellen Maschinenarbeiters zu verstehen, die sich nach unten von den rein repetitiven Maschinenarbeiten abgrenzte, die schon in wenigen Tagen erlernt werden konnten.12 Dementsprechend verdienten etwa Schraubendreher oder Drehbankarbeiter bedeutend weniger als die Hobler oder Bohrer und nur wenig mehr als die Hilfsarbeiter. Maschinenarbeiter wie Schleifer oder Fräser, die die Passarbeiter langsam verdrängten, nahmen sowohl nach Lohnhöhe als auch nach Anlernzeit hier eine Zwischenstellung ein. Auch der Gegensatz von Handwerk und Industrie dürfte unter den Arbeitern zu dieser Zeit kaum noch eine Rolle gespielt haben. Denn neben den Schlossern existierten bei Reinecker mit zehn Gürtlern, zwei Klempnern und Schmieden sowie einem Maurer kaum noch Arbeiter, die auf eine handwerkliche Lehre zurückblickten. Es ist demnach auch wenig verwunderlich,
11 Vgl. Göhre, Drei Monate, S. 49 f. 12 Vgl. Michael Mende, „Meist brauche ich nur den Kupferhammer und meine Hände zum Tüfteln …“ Die tragende Rolle der Facharbeiter im deutschen Maschinenbau, in: Technikgeschichte 58 (1991) 4, S. 321 ff.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
dass der fertigungstechnische Umbruch und der A ufstieg der Angelernten vor allem einen Bedeutungsverlust des Handwerks für den Maschinenbau nach sich zogen.13 Der Abzug der Qualifikation bei der Passarbeit und die Genauigkeitssteigerungen der Maschinenarbeit waren nicht gleichbedeutend mit einer Dequalifizierung der Belegschaften. Selbst für die Schlosser, deren Arbeit der Umbruch besonders umgestaltete, lässt sich eine solche Tendenz nicht beobachten. Denn je nachdem, was und mit welchen Maschinen produziert wurde, blieben alte qualifizierte Arbeiten bestehen und ergaben sich neue: Vor allem die Arbeit der Dreher, aber auch der Hobler und Stoßer blieb kompliziert und verantwortungsvoll. Ihnen oblag weiterhin die richtige Einstellung ihrer Maschine, deren steigende Schnittgeschwindigkeiten erhöhte Vorsicht und eine genaue Kenntnis von Werkzeug und Werkstück voraussetzten. Von unveränderter Wichtigkeit blieb auch die Tätigkeit der Anreißer. Hohes Erfahrungswissen und Maschinenkenntnisse erforderten darüber hinaus die Arbeiten der Einrichter und Werkzeugmacher, die im Laufe der 1890er Jahre massiv an Bedeutung gewannen.14 Neben der sich nur langsam zurückziehenden Passarbeit, die im Werkzeugmaschinenbau auch in den 1920er Jahren noch in vielen Bereichen vorhanden war,15 boten sich hier auch neue Tätigkeitsfelder für die gelernten Schlosser. Grundsätzlich bildete sich seit Mitte der 1890er Jahre ein Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitsformen im Maschinenbau aus: Wo Einzel- und Kleinserienfertigung betrieben wurde, blieben Maschinenfacharbeiter bei weitem in der Überzahl und der Arbeitsprozess setzte weiterhin umfassende Kenntnisse und Erfahrungen voraus. Durch die objektiveren Messmethoden, die rationellere und sicherere Maschinenbauweise sowie die Zwischenschaltung der Arbeitsvorbereitung wurden wichtige Entscheidungs- und Tätigkeitsfelder jedoch abgezogen.16 Diese Tendenzen verringerten die Dispositionsspielräume der Arbeiter und öffneten ihre Arbeit stärker für Elemente der Beschleunigung. Wo „echte“ Serien produziert oder gar Massenfertigung betrieben wurde, boten sich dagegen noch viel größere Möglichkeiten, auf qualifizierte Maschinenarbeiter zu verzichten. Der
13 Vgl. Dora Landé, Arbeits- und Lohnverhältnisse in der Berliner Maschinenindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1910, S. 28. Die Verfasserin geht hier darauf ein, dass Handwerker für die Konstituierung der Belegschaften kaum noch eine Rolle spielten. 14 Die Genese neuer qualifizierter Positionen wird gut beschrieben bei Dorothea Schmidt, Massenhafte Produktion? Produkte, Produktion und Beschäftigte im Stammwerk von Siemens vor 1914, Münster 1993, S. 123 ff. 15 Vgl. Mende, „Meist brauche ich nur den Kupferhammer“, S. 317 f. 16 Vgl. Volker Benad-Wagenhoff, Die Entstehung der Werkzeugmaschinen in der Industriellen Revolution und der deutsche Werkzeugmaschinenbau bis 1914/18, in: Technikgeschichte 58 (1991) 4, S. 294.
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
165
dabei stärkere Einsatz von Sondermaschinen verdrängte an vielen Stellen die Facharbeit zu Gunsten kurzfristig angelernter Arbeit. Kennzeichnend für die Maschinenbaubetriebe des frühen 20. Jahrhunderts war eine Tendenz zur Verschmelzung dieser beiden Arbeits- und auch Qualifikationsformen: Das Nebeneinander der Einzelfertigung komplexer Güter („großer Maschinenbau“) und der Serien- und Massenfertigung kleinerer Stücke („kleiner Maschinenbau“)17 führten dazu, dass nicht selten beide Tendenzen unter einem betrieblichen Dach existierten. Dementsprechend widersprüchlich konnten auch die Äußerungen über die Arbeitsverrichtung bis 1914 ausfallen. Zwischen den Polen der völligen Entgeistigung der Arbeit und einer verantwortungsvollen Arbeitsautonomie lag häufig nur eine kurze Distanz und viele Arbeiter dürften je nach Auftrags- und Konjunkturlage Erfahrungen in beide Richtungen gemacht haben. So beschrieb der von Adolf Levenstein 1909 interviewte Schlosser Przybelski anhand einer Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Drehaufträgen die Unterschiede, die mit der Arbeit einhergehen konnten: Beim Drehen einer großen Walze für eine Buchdruckpresse war er durchaus in der Lage, sich während der Arbeit weiterzubilden oder mit anderen in Kontakt zu treten, während das Fertigen von fünfhundert kleinen konischen Stiften nur eine geisttötende, monotone Aufmerksamkeit erforderte. Am Abend schwankte der Gemütszustand des Arbeiters demnach zwischen Zufriedenheit und Zerschlagenheit sowie Ekel vor der Arbeit.18 Ähnlich äußerte sich Moritz Bromme, dessen Lebenserinnerungen 1905 von Paul Göhre herausgegeben wurden. Manche Aufträge empfand er einfach nur als abstumpfend und geistlos: […] denn bei dem Bedienen einer selbsttätig ausrückenden Drehbank, wie es meine neue war, kann man, abgesehen vom Einstellen, Stahlschleifen und -messen, nur von Handgriffen sprechen; man wird selbst zur Maschine und hat nur noch eine rein mechanische Tätigkeit.19
Andere Arbeiten wiederum wurden durchaus geschätzt, weil sie die Möglichkeit boten, sich nebenbei anderweitig zu beschäftigen und „bei sich selbst“ zu sein: Ich hatte übrigens 2 Bänke zu bedienen; wenn man große und starke Bohrer zu drehen hatte, konnte man sich auch dann noch schöne Zeit dabei lassen. Ich machte dann gewöhnlich Verse, die ich abends in ein Diarium einschrieb.20
17 Vgl. Benad-Wagenhoff, Industrieller Maschinenbau im 19. und frühen 20. Jahrhundert, S. 11. 18 Vgl. Adolf Levenstein, Aus der Tiefe. Arbeiterbriefe: Beiträge zur Seelen-Analyse moderner Arbeiter, Berlin 1909, S. 119 – 125. 19 Moritz Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, Jena 1905, S. 252. 20 Ebd.
166
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Die Entwicklung der Arbeitsverrichtung im Maschinenbau zwischen der Jahrhundertwende und 1914 war demnach von einer Parallelität stabiler und sich wandelnder Elemente gekennzeichnet, die sich auch durchaus für einen einzelnen Arbeiter als solche offenbaren konnten und die stark vom Produktionszweig abhingen. Der Werkzeugmaschinenbau erwies sich dabei als beständigster Bereich, in dem sich Arbeitstätigkeiten, Arbeitsorganisation und individuelle Anforderungsprofile nur sehr langsam veränderten. So blieb der Schlosser, ob als Passarbeiter, Monteur oder Einrichter, der wichtigste Mann des Betriebs, indem sich sein Tätigkeitsfeld auch auf neue Bereiche ausdehnte und als besonders anpassungsfähig erwies: Wie alle anderen Zweige des Maschinenbaues, so ist auch der des Schlossers durch die Erfindung und Einführung neuer und verbesserter Werkzeuge und Einrichtungen wesentlich vereinfacht worden. Unter den wichtigsten Hilfsmitteln mögen nur die Winkel und Lineale, die verbesserten Messinstrumente, welche wir schon besprochen haben, gehärtete Feilschablonen, Einstellehren, sowie die Werkzeuge, welche ein genaues Einpassen einzelner Maschinenteile ermöglichen, wie Bohrlehren zum Festlegen resp. zum Bohren der einzelnen Löcher usw., angeführt werden. Zu dem oben Angeführten kann man noch die verbesserte Arbeitsweise der Fräs- und Schleifmaschinen, sowie der Spezialmaschinen hinzurechnen, die die Nacharbeit am Schraubstock mehr und mehr entbehrlich machen. Aber trotz dieser erwähnten Verbesserungen ist die Beschäftigung des Schlossers keineswegs vollständig aufgehoben worden, sondern im Gegenteil hat er eine weit wichtigere Stellung erlangt, da er bei der richtigen Anwendung der Werkzeuge und Vorrichtungen, welche ihm zur Verfügung stehen, in der Lage ist, nicht nur seine eigene Arbeitsmethode zu vereinfachen, sondern auch die Arbeitsmethoden und Operationen für die Bearbeitung der Arbeitsstücke jedes anderen Zweiges zu erleichtern und zu beschleunigen.21
Bewies der Beruf des Schlossers dadurch großes Innovationspotential, waren es bei den Drehern eher die Beharrungskräfte, die die Position im fertigungstechnischen Umbruch markierten. Denn in der weiterhin überragenden Bedeutung der Universaldrehbank, mit der sich beinahe alle Arbeitsschritte vollziehen ließen und die über den unschlagbaren Flexibilitätsbonus verfügte, zeigte sich vor allem die Unfähigkeit, den Dreherberuf zu rationalisieren. Selbst die unterschiedlichsten Spezialdrehbänke vermochten es nicht, an den wesentlichen Qualifikationen der Dreher zu rütteln: Es ist bei Dreharbeiten auffällig, daß der betreffende Dreher nur äußerst selten, wenn überhaupt je, sich bei der Bestimmung der Geschwindigkeiten für sein Arbeitsstück oder Werk-
21 Usher, Moderne Arbeitsmethoden, S. 40.
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
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zeug nach einer bestimmten Norm richtet; gewöhnlich macht er sich die Erfahrung zunutze, die er sich in seiner Praxis erworben hat. In den meisten Fällen stellt es sich bei einer Nachrechnung heraus, daß die Annahmen mehr als bloße Abschätzung waren, daß sogar bei einem guten Arbeiter die Geschwindigkeiten fast in jedem Falle den günstigsten und ökonomischsten Verhältnissen entsprechen.22
Aus diesen Gründen ließen sich bis auf die Bearbeitungsgeschwindigkeit lange Zeit kaum Elemente des Drehens im Werkzeugmaschinenbau konsequent vereinfachen. Im Bereich der übrigen Maschinenarbeit sah dies jedoch anders aus: Während die Arbeit an Hobel- und Stoßmaschinen immer noch einige Voraussetzungen erforderte,23 die sich auch in der Lohnhöhe niederschlugen, konnten die Arbeiten an den Fräs- und Schleifmaschinen enorm simplifiziert werden. Jedoch kam es auch hier wieder auf die Form und Bestimmung des Werkstücks an: Sind Hilfs- und Spannvorrichtung in der richtigen Weise gewählt, sowie die Fräser und das Arbeitsstück von einem geschulten Arbeiter genau eingestellt, so kann in den meisten Fällen ein Mann zwei und mehr Maschinen bedienen; da sich die ganze Tätigkeit des Arbeiters darauf beschränkt, die Maschine an- und abzustellen resp. das Arbeitsstück ein- und auszuspannen. Gleichwohl können auch solche Fälle vorkommen, wo wegen der Form des Arbeitsstückes ein durchaus geschulter Arbeiter zur Behandlung der Maschine erforderlich wird und wo derselbe seine volle Aufmerksamkeit während der ganzen Operation auf die Maschine und das Arbeitsstück richten muß.24
Trotz vieler Tendenzen ihrer Zurückdrängung erwiesen sich also Qualifikationen und relativ eigenständige Arbeitsverrichtungen, Probiercharakter und Tüftelei sowie Erfahrungswerte und Spezialkenntnisse im Maschinenbau als wesentlich widerstandsfähiger gegenüber der Rationalisierung als in der Eisen- und Stahlindustrie. Darüber hinaus blieben auch die Kernelemente der Arbeitsorganisation weitestgehend intakt: Man produzierte weiterhin innerhalb einer Werkstattorganisation, die nur selten von Linienfertigungen unterstützt wurde. Auf Grund der überragenden Flexibilitätsvorteile dieses Aufbaus wurden dessen Transport- und Zeitnachteile in Kauf genommen.25 Selbst bei Neubauten und Umstrukturierungen wurden die bewährten Prinzipien beibehalten: In der Werkzeugmaschinenfabrik Union vorm. Diehl fertigte man 1911 nach dem Werkstattprinzip und, entsprechend des fertigungstechnischen Wandels, nahe am maschinellen Austauschbau: 22 23 24 25
Ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 95. Ebd., S. 113. Vgl. Benad-Wagenhoff, Fertigungsorganisation, S. 246.
168
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Abb. 8: Die Montage von Großmaschinen im Kolonnensystem
Die Aufstellung der Maschinen ist nach dem Grundsatz der Gruppierung behufs Vermeidung unnötiger Transporte durchgeführt. […] und zwar erfolgen die Grundbearbeitungen durchgängig mit Schnellstählen, die Rundfeinbearbeitungen auf Präzisions-Schleifmaschinen.26
Auch der räumliche Aufbau der Fabriken veränderte sich kaum, sodass die neue Montagehalle der Union seit 1912 immer noch über Galerieeinbauten für die Baugruppen und ein mittiges Transportsystem durch Kräne verfügte.27 Diese Beständigkeit zentraler Raum- und Arbeitsanordnungen wird auch in den Äußerungen Brommes deutlich, der mit seinem Betrieb 1899 in einen Neubau für etwa zweihundert Arbeiter umzog: Auf die rechte Seite des großen Saales, der unter Schettdach und mit Betonfußboden hergestellt war, kamen die Drehbänke, auf die linke Seite die Fräs- und Schleifmaschinen zu
26 Freytag, Der Chemnitzer Maschinenbau, S. 145 f. 27 Vgl. Bock, 150 Jahre Werkzeugmaschinenfabrik UNION, S. 152.
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
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stehen. […] Im hintern linken Teile des Saales standen die zum Werkzeugmaschinenbau nötigen Maschinen, wie Hobel-, Shapping-, Bohr-, Horizontalbohr-, Stoß-, Nuten- und Universalfräsmaschinen. Um den ganzen Saal herum, an den Wänden, waren die Schraubstöcke der Schlosser gruppiert. […] Neben dem Hauptsaal lagen das Magazin und die Lager- und Packräume, dann folgten die Härterei und Schmiede, dann die Modelltischlerei und endlich Kontor und Direktionsräume. Im linken Flügel war das Kesselhaus mit der Zwillings-Dampfmaschine, der Heißluftanlage und dahinter der Speisesaal mit Kantine.28
Da die Massenfertigung nur in sehr wenigen Bereichen des Maschinenbaus realisiert werden konnte, erhielten bis 1914 auch keine Elemente der Fließfertigung Einzug in die Betriebe. Zu den Folgen dieser Ausrichtung gehörte, dass Sondermaschinen vor allem im Werkzeugmaschinenbau zwar eingesetzt wurden, aber bei weitem keine so wichtige Rolle einnahmen wie Universalmaschinen, wodurch umfassend ausgebildete Arbeiter entscheidend blieben. Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass jenseits der technischen Entwicklung in den Betrieben vieles beim Alten blieb, war der Umbruch aus Sicht der Arbeiter sicherlich nicht nur technischer Natur. Innerhalb stabiler organisatorischer Eckpunkte bildete die Beschleunigung der Arbeit für sie das wichtigste Merkmal der „modernen“ Fertigung. Dabei handelte es sich aber noch nicht um ein fließendes, konstantes Phänomen: Im Wechsel hochmonotoner und abwechslungsreicher Phasen boten sich immer noch punktuelle und unregelmäßige „Ruhezonen“, deren Beseitigung seitens des Managements organisatorisch so lange unmöglich erschien, solange man in flexibler Einzel- und Kleinserienfertigung produzierte. Einstweilen bot „nur“ die Steigerung der Auslastung einen gangbaren Weg, wodurch dem Mehrmaschinenwesen Vorschub geleistet wurde. Vor allem angelernte Arbeiter an Schleif- und Fräsmaschinen sahen sich zusehends mit der Überwachung mehrerer Maschinen konfrontiert: Als wir in der neuen Fabrik den Akkord wieder beginnen mußten, mußten wir zu unseren zwei Bänken noch eine dritte nehmen und es dauert gar nicht lange, so mußten wir selbst vier Maschinen bedienen. Ja, es gab Fräser, die sogar an sechs Maschinen arbeiteten.29
Nach einer Studie des DMV arbeiteten im Königreich Sachsen 1912 aber auch bereits die Dreher aus über siebenhundert Betrieben im Mehrbanksystem.30 Die grundsätzliche Intention einer solchen Organisation war die Beseitigung freier Zeiten der Arbeiter und des Leerlaufs der Maschinen – dementsprechend einschneidend 28 Bromme, Lebensgeschichte, S. 251 f. 29 Ebd., S. 256. 30 Die Arbeitsverhältnisse der Dreher, herausgegeben vom Vorstand des DMV, S. 101 f.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
wirkten sich diese Phänomene auf die Dispositionsspielräume der Maschinenarbeiter aus. Die Etablierung der Werkzeugmacher verhinderte lange Wege und Aufenthalte in der Schmiede, die Arbeitsvorbereitungsbüros kämpften gegen das puzzleartige Zusammensuchen der Teile vor Beginn des eigentlichen Arbeitsprozesses, und die einfachere Bauweise der Maschinen ließ den Spanungsprozess für den Arbeiter unkomplizierter werden. Dadurch verschiedener Zwischentätigkeiten beraubt, bedeuteten die größeren Schnittgeschwindigkeiten und die planbarere Auslastung der Arbeitskraft für den Arbeiter vor allem eine Reduktion disponibler Zeiten. Insgesamt erhöhten die Maschinengenauigkeit und die Zurückdrängung der Passarbeit per Hand im Maschinenbau nicht nur die Effizienz, sie machten Arbeitsprozesse vorhersehbarer, lenkbarer und damit erfassbarer durch arbeitspolitische Instrumente des Managements. Es verwundert daher auch nicht, dass die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg durch die Intensivierung der Arbeitsvorbereitung und Planung geprägt war. Bereits vor 1914 konnte auf diese Weise, etwa in der Spitzendreherei der Wanderer-Werke, mit Elementen des Taylorsystems experimentiert werden, die auf Grund ihrer Belastungssteigerung bei gleichzeitiger Akkordreduktion besonderen Widerstand der Arbeiter hervorriefen.31 Der technisch-organisatorische Wandel und die Maschinenbauarbeiter
Entsprechend der Parallelität von Wandel und Konstanz in den technisch-organisatorischen Strukturen veränderte der Umbruch der Fertigungstechnik die Arbeits-, Sozial- und Machtbeziehungen in den Maschinenbetrieben zwar tendenziell, aber keineswegs so fundamental wie der Übergang zum „Drive-System“ in den Hüttenwerken. Grundlegende Eigenschaften des Arbeitsprozesses blieben nämlich weiterhin vorhanden: Die Fertigung verlief dreigliedrig und meistens nach dem Werkstattprinzip, hochqualifizierte und teilautonome Arbeitstätigkeiten erwiesen sich vor allem in der Einzel- und Kleinserienproduktion des Werkzeugmaschinenbaus als äußerst widerstandsfähig und von einem Anstieg der Bedeutung ungelernter Arbeiter konnte kaum die Rede sein. Dreher, Schlosser, Einrichter und Werkzeugmacher, aber auch angelernte Arbeiter an verantwortungsvollen Maschinen waren gefragte Arbeiter, die über eine gute berufliche Perspektive und eine güns 31 Vgl. Geschäftsbericht für das Jahr 1914, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1915, S. 15; vgl. auch Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 32 (1914) 32, S. 257; für das Aufkommen des Taylorsystems in Deutschland, seine Rezeption und den ersten großen Streik bei Bosch vgl. Heidrun Homburg, Die Anfänge des Taylorsystems in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Problemskizze unter besonderer Berücksichtigung der Arbeitskämpfe bei Bosch 1913, in: GG 4 (1978) 2, S. 170 – 194.
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
171
tige betriebsinterne Aushandlungsposition verfügten. Andererseits ging der Wandel an deren Arbeit und betrieblicher Stellung nicht völlig spurlos vorüber: Denn im Bedeutungsgewinn angelernter Maschinenarbeit und im gleichzeitigen Verlust handwerklicher Bindung erhöhte sich für zahlreiche Tätigkeiten die Austauschbarkeit. Die Vereinfachung der Maschinentechnik, die Verwissenschaftlichung der Produktion und das Zugehen der Konstruktion auf die Bedürfnisse der Werkstatt machten selbstständige, kurzfristige und erfahrungsbasierte Entscheidungsfähigkeiten tendenziell abkömmlich. Aspekte autonomer Planung, Kalkulation und Arbeitsvorbereitung wurden aus der Werkstatt abgezogen und in eigenständigen Abteilungen untergebracht. Solcherlei Kompetenzverschiebungen sorgten dafür, dass sich „Qualifikation“ nun stärker auf den reinen Zerspanungsprozess bezog und weniger holistische Fähigkeiten erforderte. Obgleich sich zwar immer wieder Phasen des Experimentierens ergeben konnten, nahm dadurch doch der Charakter des Tüftelns und Probierens für weite Teile des Maschinenbaus tendenziell ab. Die entscheidenden Kennzeichen des Wandels auf der betrieblichen Ebene waren einerseits die erhöhte Möglichkeit, Arbeitstätigkeiten planbar zu gestalten und erfassbarer für Lohninstrumente zu machen, und andererseits die damit einhergehende Beschleunigung und Reduktion disponibler Zeiten der Arbeiter. Durch Akkord- und Prämiensysteme wurde zusehends versucht, die Arbeitsleistung zu erhöhen, indem man nun ausgehend von der stärkeren Vorhersehbarkeit der Arbeitsschritte den Arbeits- mit dem Lohnanreiz besser verbinden konnte. Bei gleichbleibender Flexibilität hoffte man auf diese Weise die Rentabilität der Betriebe steigern zu können.32 Dies setzte auch den Abbau des Kontrolldefizits voraus: So waren der Abzug der Nebentätigkeiten der Maschinenarbeiter und die Arbeitsvorbereitung mit einem weitgehenden Funktionswandel der Meisterposition verbunden. Zwar blieben die Werkmeister die unbestrittenen Vorgesetzten in ihren Abteilungen – gegenüber den Ingenieuren verloren sie jedoch an Boden, da sie sowohl bei der Kalkulation von Löhnen und Akkorden als auch bei der Planung der unmittelbaren Arbeitsschritte Kompetenzen an die neuentstandenen Büros abgaben.33 Die dadurch frei werdenden Ressourcen nutzten sie nun vermehrt zur Kontrolle der Arbeiter und damit zur Durchsetzung der Beschleunigungstendenzen auf der Werkstattebene. Den für die Arbeiter spürbarsten Ausdruck fand diese Öffnung für die Antreiberei in einem Anstieg gewaltdurchsetzter Konfliktmuster, die der DMV in Chem 32 In den Leitungen der Maschinenfabriken setzte man sich in diesen Jahren intensiv mit rentabilitätssteigernden Lohninstrumenten auseinander; so beispielsweise auch in der Maschinenfabrik Schütz in Wurzen. Vgl. Mitteilung betr. Einführung des Praemiensystems vom 9. 6. 1911, Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 34. 33 Vgl. König, Künstler und Strichezieher, S. 128 – 132.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
nitz nach der Jahrhundertwende anprangerte: Meister beleidigten die Arbeiter als „Halunken“ oder „Lumpen“, verübten tätliche Angriffe und nicht selten einfach Körperverletzung.34 Im Gegenzug blieben Akte der Gegenwehr nicht aus und Arbeiter beförderten unliebsame Meister handgreiflich vor die Werktore.35 Solche Beispiele machten deutlich, wie sehr sich die innerbetrieblichen Beziehungen zwischen Meistern und Arbeitern von einem labilen Gleichgewicht informeller Aushandlung zu einem restriktiven, kompromisslosen Gegeneinander entwickeln konnten, und werfen daher ein besonderes Licht auf den Wandel der Machtbeziehungen. Denn maßgeblich war nun häufig nicht länger ein „Produktionspakt“, in dem sich das Management über hohe Löhne der Leistungsbereitschaft einer quasiautonomen Arbeiterelite versicherte. Prozesse der Mechanisierung, Vereinfachung und Beschleunigung hatten in vielen Bereichen des Maschinenbaus den Zwang zu diesem Entgegenkommen schwinden und damit den stillen „Konsens“ auf der Betriebsebene erodieren lassen. Die punktuelle Aufkündigung des Paktes versetzte vor dem Hintergrund der leichteren Ersetzbarkeit der Arbeiter und der steigenden Kontrollmöglichkeiten die Meister in die Lage, ihre Aufgabe stärker als „Durchregieren“ wahrzunehmen. Dass daneben aber auch immer Bereiche erhalten blieben, in denen sich das Management über hohe Löhne der Leistung versichern musste und hohe Autonomie und selbstständige Verhandlungspositionen bestehen blieben, gehört zum Bild der eigentümlichen Doppelgesichtigkeit eines äußerst differenzierten Berufszweigs. Die Lage wird darüber hinaus noch dadurch verkompliziert, dass diese Prozesse durchaus nebeneinander in einem Betrieb auftreten konnten. Für die Beziehungen der Arbeiter untereinander trug der fertigungstechnische Wandel ebenfalls einen Doppelcharakter. Denn zum einen förderten die Arbeitsbeschleunigung und der Abzug der Nebentätigkeiten die individuelle Isolation an der jeweiligen Maschine. Die Wege der Beschaffung des Materials und der Aufbereitung der Werkzeuge fielen öfter weg und verhinderten vor allem für die Maschinenarbeiter die Bewegung innerhalb des Betriebs. Einmal vom Einrichter eingestellt, liefen die Zerspanungsprozesse nicht selten stundenlang und erforderten eine genaue Aufmerksamkeit, während der sich (abhängig vom Werkstück) keine oder vereinzelte Kommunikationsmöglichkeiten ergaben. Quellen aus der Zeit betonen besonders den ersten Fall: Unter den Bedingungen wachsender Zeitdisziplin und Minimierung von Abwechslung seien die Dispositionsspielräume geschrumpft und die Tendenz zum individuellen Rückzug gestiegen. So blieb vielen Arbeitern während repetitiver Teilarbeit beispielsweise nur übrig, den eigenen Gedanken nach 34 Vgl. Geschäftsbericht für das Jahr 1907, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1908, S. 1165 – 1168. 35 Vgl. ebd., S. 1172.
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
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zuhängen.36 Da es die effektivere Kontrolle und die Planbarkeit der maschinellen Arbeitsprozesse erschwerte, dem täglichen Rhythmus freie Zeiten abzuringen, waren sowohl Verhaltensweisen wie verstecktes Schlafen als auch spielerische Neckereien und Körperlichkeiten außerhalb der Pausen seltener geworden. Selbst auf die Akte des elementarsten „Bei-sich-selbst-Seins“ traf dies zu: So überprüften Meister im Chemnitzer Maschinenbau die Zeiten, die ein Arbeiter auf der Toilette verbrachte und verliehen dem Gefühl, kontrolliert zu werden, damit beträchtlichen Nachdruck.37 Ähnliche Überwachungsmaßnahmen bezogen sich auch auf die Zeiten kooperativer Zusammenarbeit, die trotz aller Versuche der Betriebsleitungen nicht aus dem großen Maschinenbau wegzudenken waren: So versteckten sich einige Meister im Werkzeugbau der Chemnitzer Strickmaschinenfabrik, um die Arbeiter in ihren Abteilungen heimlich zu beobachten.38 Auch wenn solche Verhaltensweisen wohl eher der Einsicht entsprangen, arbeitsbezogene Kommunikationsbeziehungen dulden zu müssen, machten sie dennoch deutlich, dass sich der Kontrollimpetus nun auch auf Bereiche des Maschinenbaus ausdehnte, in denen der experimentelle Tüftelcharakter der Arbeit immer noch vorherrschte. Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig verwunderlich, dass sich unter den Zeugnissen individuellen Arbeiterverhaltens aus diesen Jahren vermehrt Akte des Rückzugs, des Insichgehens und generell des „Bei-sich-selbst-Seins“ finden lassen. Die Auflistung der Austrittsgründe bei der Maschinenfabrik Haubold mag dafür beispielhaft sein:39 Zwar waren ein freiwilliger Abgang oder der Einzug zum Militär zwischen 1884 und 1929 zu jeder Zeit die wichtigsten Beweggründe, der Fabrik den Rücken zu kehren, doch häuften sich seit den späten 1890er Jahren Abgänge auf Grund übermäßigen Alkoholgenusses oder sogar Schnapsschmuggels in den Werkstätten. Ob diese Tendenz allerdings auf ein tatsächliches Ansteigen des Alkoholgenusses zurückzuführen oder eher der verstärkten Kontrolle geschuldet ist, kann hier nicht nachgeprüft werden. Im Anbetracht des Wandels der betrieblichen Atmosphäre erscheinen beide Erwägungen plausibel. Hinzu kamen Kündigungen, die aus offen oder versteckt widerständigem und/oder gewalttätigem Verhalten resultierten und die unter Kürzeln wie „mußte gehen, wollte sich nichts sagen lassen“, „mußte gehen, bummelte“ oder „wegen Schlagen seiner Mitarbeiter entlassen“ notiert wurden. Vor allem Vermerke wie letzterer zeugen davon, dass sich 36 Vgl. Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, S. 252; vgl. Levenstein, Aus der Tiefe, S. 119 – 125. 37 Vgl. Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1913, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1914, S. 1220. 38 Vgl. Geschäftsbericht für das Jahr 1907, herausgegeben vom DMV Chemnitz, S. 1168. 39 Vgl. Arbeiterverzeichnis der Haubold AG 1884 – 1929, StA Chemnitz, 31002 C. G. Haubold AG, Maschinenfabrik Chemnitz, Nr. 72.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
auch unter den Arbeitern Konfliktpotential immer öfter gewaltsam entlud. Als Ventil für Ohnmachtsgefühle auf Grund von Hetze, Kontrolle und Unterdrückung bekam Körperlichkeit auf diese Weise neben seiner sch(m)erzhaft-spielerischen Inklusion auch eine exklusive Intention: Als radikalste Form des „Bei-sich-selbstSeins“ diente körperliche Gewalt der individuellen Abgrenzung eines Raumes, der unter den wandelbaren betrieblichen Bedingungen immer stärker unter Druck geriet. Im Zuge dessen erhöhte sich auch der Anteil von Kündigungen, die wegen körperlicher Probleme und Krankheiten ausgesprochen wurden. In dieser Hinsicht waren die Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts aber nur der Auftakt einer Entwicklung, die sich im Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren fortsetzte und einen sprunghaften Anstieg krankheitsbedingter Kündigungen nach sich zog. Im Anbetracht der Parallelität unterschiedlichster Arbeitsbedingungen im Maschinenbau gewinnt auch die bemerkenswerte Differenz der individuellen Arbeiterreaktionen an Aussagekraft. So berichtete der Schlosser Przybelski, dass er jede Arbeitsunterbrechung, selbst die für ihn finanziell schädliche, willkommen heiße, wenn sie nur Abwechslung verspreche. Dazu bringe er die Maschine sogar durch allzu rabiate Methoden zum Stillstand und nutze die freie Zeit, um in der Schmiede oder der Schlosserei umherzulaufen.40 Dieser Schilderung eigen-sinnigen Verhaltens, bei der die Freiräume direkt auf Kosten des Verdienstinteresses abgerungen wurden, stehen Äußerungen Moritz Brommes entgegen, die (beinahe zur selben Zeit) ein ganz anderes Bild von der Bewegungsfreiheit in einer Maschinenfabrik zeichneten. Er hielt über seinen Kollegen Heilmann fest: Dieser und ein Fräser Schwarz liehen sich oft, wenn ihre Maschinen liefen, meine Volkszeitung und lasen. Heilmann hatte sich einmal hinter dem Hauptriemenverschlag auf eine Kiste gesetzt. Nur eine kleine Zeitungsecke sah man noch daraus hervorlugen.41
Trotz der Versuche, den Arbeitsprozess auch im Werkzeugmaschinenbau kontinuierlicher zu gestalten und damit Freiräume zu schließen, veranschaulichen beide Zitate eindrücklich, welchen Unterschied es dennoch für einen Arbeiter machen konnte, in einem Betrieb mit Einzelfertigung oder einer Fabrik mit verstärkter Serienfertigung beschäftigt zu sein. Dass Freiräume eigen-sinnig genutzt wurden, aber unter den Vorzeichen des technisch-organisatorischen Wandels immer stärker unter Druck gerieten, blieb schließlich auch im DMV nicht unbeobachtet. In der Metallarbeiter-Zeitung ging das DMV-Mitglied Wilhelm Richter 1911 sogar so weit, an der Veränderung des Spiel- und Neckereiverhaltens der Arbeiter
40 Vgl. Levenstein, Aus der Tiefe, S. 119 – 125. 41 Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, S. 246.
Im Maschinenbaubetrieb der Vorkriegsjahre
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eine neue Zeit festzumachen. So sei „in früheren Jahren, als noch in vielen Betrieben ein gewisses patriarchalisches Verhältnis herrschte“,42 die Ausfüllung von disponiblen Zeiten von einer unendlichen Vielfalt geprägt gewesen. Arbeiter hätten aus der verständlichen Neigung, ein wenig Abwechslung in die Monotonie der Arbeit zu bringen, Pantoffeln angenagelt, Ärmel und Hosenbeine zugenäht, Kollegen mit Rückenschildern verulkt, Bier- durch Wasserflaschen ersetzt, schlafende Arbeiter angemalt, Brillengläser lackiert, Wassereimer über Türen gestellt, Käsepapier unter Stühle gerieben und sogar Körperteile dekoriert, „die sonst nicht sichtbar sind“. Bisweilen seien sogar Reißnägel in den Stuhl getrieben worden, was als Antwort in der Regel eine kräftige „Maulschelle“ nach sich zog, über die sich die Kollegen amüsierten. Wie schon im Kontext der Zitate Göhres ausgeführt, erschöpfte sich dieses Sozialverhalten aber keineswegs in Späßen. Man vergewisserte sich solidarisch der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft, was sich besonders herausstellte, wenn ein Kollege dem „Gruppeninteresse“ zuwiderhandelte. So rückte zu eifrig arbeitenden Leuten unerklärlicherweise die Bank aus oder der Riemen fiel einfach ständig herunter. Im Vergleich zum zeitgenössischen Betrieb merkte Richter nun bedeutende Unterschiede an: Späße allzu grober Art sind nun glücklicherweise in neuerer Zeit zu vereinzelten Erscheinungen geworden. Einerseits bietet ihnen der moderne Betrieb und die bedeutend gesteigerte Ausbeutung des Arbeiters nicht mehr den genügenden Spielraum. Andererseits wurde durch die Gewerkschaftsbewegung der allgemeine Bildungsgrad so gehoben, daß das Bedürfnis nach einer derartigen Unterhaltung mehr und mehr geschwunden ist.43
Er machte damit nicht nur mehr als deutlich, wie sehr gruppeninterne Sozialbeziehungen und auch die Spielräume dafür von den Prozessen des technischorganisatorischen Wandels abhängig waren. Er zeigte auch, dass die Ausfüllung solcher Spielräume mit Gruppenverhalten, welches über die „normale“ Arbeit hinausging, von vielen DMV -Gewerkschaftern als Abweichung und Albernheit interpretiert wurde. Späße und Neckereien wurden als „Unterhaltung“ abgetan, die nicht dem Bildungsideal der Gewerkschaftsbewegung zu entsprechen schienen. Anders als vor der Jahrhundertwende besaß der Verband mit den Werkstattvertrauensmännern nun auch ein betriebliches Instrument, um einer solchen Sichtweise Nachdruck zu verleihen.44 Die Deutung glich damit in vielerlei Hinsicht jener der Unternehmer, die einen renitenten Ungehorsam kritisierten, ohne die 42 Richter, Allerlei Hänseleien, S. 329. 43 Ebd. 44 Diese Prozesse werden ausführlich im nächsten Kapitel analysiert.
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wichtige Funktion zu beachten, die solches Verhalten für das betriebsinterne Klima spielte. Nichtsdestotrotz kam Richter nicht umhin zu betonen, dass die Neckereien aus den Betrieben keineswegs verschwunden seien. Sie hätten vielmehr eine neue Qualität erreicht, denn die schwindenden gruppeninternen Späße seien zusehends Sticheleien gewichen, die zwischen Arbeitern unterschiedlicher Berufe und Abteilungen einer Fabrik hin- und hergetragen werden würden. Selbst Organisierte, so Richter, kehrten ihren Berufsstolz ostentativ nach außen und heizten die Konflikte zwischen den „Branchen“ damit weiter an. Kennzeichnend für diese Auseinandersetzungen sei es, dass sie nun nicht mehr auf spaßige Weise der Gruppeninklusion dienten und jeden Kollegen irgendwann einmal getroffen hätten; sie seien „ernst gemeint“ gewesen, seien der genau entgegengesetzten Intention gefolgt und teilweise bis vor die Schiedsgerichte gegangen oder hätten zu gewerkschaftlichen Ausschlussanträgen geführt.45 Sie waren damit auch Ausdruck der gesunkenen Kompensationsmöglichkeiten für aktuelle Gefühle und Launen im betrieblichen Raum: Vor dem Hintergrund der Beschleunigungs- und Isolationstendenzen, der gestiegenen Kontrolle und dem Mangel an Freiräumen konnten sich angestaute Stimmungen, die sich im Zuge dieser Prozesse wohl kaum gemäßigt haben dürften, kaum noch still und untergründig artikulieren. Sie wurden nach innen geleitet und waren gemeinsam mit den sich wandelnden Arbeitsbedingungen maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich Reaktionen häufiger eruptiv oder fluchtartig ausdrückten. Obgleich die beschriebenen Prozesse vielerorts begannen, eingespielte belegschaftsinterne Beziehungen der handwerklichen Phase aufzuweichen, waren sie dennoch von deren Zerstörung und qualitativer Veränderung weit entfernt. Besonders in Betrieben der Einzel- und Kleinserienfertigung, also vor allem in den kleinund mittelgroßen Werkzeugmaschinenfabriken bildeten die überdauernden Nachfrage-, Arbeits- und Qualifikationsstrukturen ein Bollwerk gegen Beschleunigung und Arbeiterisolation. Der experimentelle Arbeitsprozess, der in der Regel immer noch so ablief, wie ihn Göhre beschrieben hatte, setzte gründlich und umfassend ausgebildete Arbeiter voraus, die auf Grund ihrer schweren Ersetzbarkeit und der Größe der Betriebe über eine völlig andere Aushandlungsposition verfügten als etwa Dreher und Schlosser in einem Großbetrieb wie der Sächsischen Maschinenfabrik. Das betriebliche Miteinander entsprach hier noch weitestgehend einem „Produktionspakt“, wodurch sowohl die betrieblichen Freiräume als auch die belegschaftsinternen Kommunikationsstrukturen meistens erhalten blieben. Für den Chemnitzer DMV, der eben in diesen Klein- und Mittelbetrieben des Werkzeugmaschinenbaus nach 1900 die größten Fortschritte verzeichnete, war
45 Vgl. Richter, Allerlei Hänseleien, S. 329.
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jene innerbetriebliche Stabilität das größte Faustpfand, ermöglichte sie doch eine Anknüpfung an vorgewerkschaftliche Basisstrukturen in den Belegschaften, die sich seit Göhres Beobachtungen kaum verändert hatten. Einstweilen fehlte dafür jedoch noch das passende methodische Instrument.
4.2 Die Blütezeit des DMV in Chemnitz 4.2.1 Der Fokuswechsel der Agitation und die Installation des Werkstattvertrauensmännersystems Das Verhältnis von Gewerkschaft und Arbeiterschaft im Wandel
In den Jahren um die Jahrhundertwende verbreitete sich ausgehend von den Vorstandsmitgliedern und Bezirkssekretären des DMV in der Gewerkschaft eine Sicht auf die Agitation, in deren Kern sich ein grundlegend verändertes Verhältnis zwischen Organisation und Mitgliedern manifestierte. Dieser Wandel, der sich in zahlreichen Äußerungen in den Periodika und Protokollen des DMV niederschlug, bildete bis zum Ersten Weltkrieg den wesentlichen Unterschied zu den Jahren der handwerklichen Phase und wurde in historischen Veröffentlichungen bisher weitestgehend übergangen.46 Er läutete eine Phase neuen Kontakts zwischen den Gewerkschaftsmitgliedern und „ihrem“ Verband, aber auch – und das ist entscheidend – zwischen dem Verband und den unorganisierten Metallarbeitern ein. Gewerkschaftliche Agitation und Vertretung bekamen darin eine zusehends subjektive Komponente und rückten beginnend mit der Einsicht, auf die Arbeiter zugehen zu müssen, beträchtlich näher an die betriebliche Sphäre der täglichen Arbeit heran. Im Zuge dieser Entwicklung veränderte sich vor allem die gewerkschaftsinterne Ausrichtung der Kontaktinstrumente zu den Belegschaften. So hielt man im Jahrbuch des Verbandes für 1906 unter anderem fest:
46 Dass sich in den Jahren um die Jahrhundertwende ein qualitativer Wandel vollzog, der sich auf die Rolle des DMV im Verhältnis zu den Metallarbeitern bezog, vernachlässigt z. B. auch Schönhoven trotz seiner Auseinandersetzung mit den Methoden der Mitgliederwerbung. Vgl. Schönhoven, Expansion und Konzentration, S. 198 – 261; auch bei Koopmann findet sich kein Anzeichen für eine Veränderung des Gewerkschaftsverständnisses. Vgl. Klaus Koopmann, Gewerkschaftliche Vertrauensleute. Darstellung und kritische Analyse ihre Entwicklung und Bedeutung von den Anfängen bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) und der Industriegewerkschaft Metall (IGM), München 1979.
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Das abgelaufene Geschäftsjahr bestätigt wiederum aufs neue die schon im Jahrbuch 1905 hervorgehobene Tatsache, daß die Veranstaltung von Agitationsversammlungen durch Mitglieder des Vorstandes, der Bezirksleitung und der örtlichen Verwaltungen immer mehr in den Hintergrund tritt. Die Agitationsversammlungen sind heutzutage „Nebensache“, die Schlichtung von Differenzen und Lohnstreitigkeiten sowie die Abhaltung von Werkstattversammlungen zwecks Feststellung von Mißständen das Hauptgebiet der Tätigkeit der Verbandsfunktionäre in bezug auf die Agitation geworden. Der Verband wirkt durch seine Größe durch sich selbst, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß die Veranstaltung von Agitationsversammlungen überhaupt überflüssig geworden ist.47
Im Zentrum der gewerkschaftlichen Vertretung stand demnach zwar immer noch die Versammlung; diese hatte aber ihren Fokus von der „unbestimmten“ und diffusen Öffentlichkeit zur betrieblichen Ebene und damit hinein in die Werkstätten verschoben. Mit diesem Fokuswechsel von der Makro- auf die Meso- und Mikroebene ging auch eine bedeutende Hervorhebung der persönlichen und individuell ausgerichteten Kleinarbeit einher. In diesem Kontext betonte beispielsweise der Bezirkssekretär des vierten DMVBezirks (Königreich Sachsen) Magnus Haack im Jahrbuch des Verbandes, dass nun ein „verändertes Vorgehen bei der Agitationsarbeit“ 48 notwendig geworden sei: Das „Hauptgewicht ist auf die Kleinarbeit und die planmäßige Betreibung der Agitation im Kleinen zu legen“. Zwar gebe es in Sachsen immer noch viele Mitglieder und auch Bevollmächtigte, die sich vom Abhalten großer Versammlungen mehr versprächen. An vielen Orten stoße die Empfehlung der Kleinarbeit „geradezu auf Widerspruch“ und es koste viel Mühe, die Leute zu überzeugen. Doch reife auch dort langsam die Einsicht, dass „große allgemeine Versammlungen […] mehr informatorischen als agitatorischen Wert“ besäßen. Schließlich würden „aus Werkstatt- und Fabrikversammlungen […] weit mehr neue Mitglieder geholt, wie aus großen öffentlichen Versammlungen“ und der große Zuwachs in Städten wie Dresden, Leipzig und Chemnitz sei „vornehmlich auf die dort betriebene intensive Kleinarbeit zurückzuführen“. Zwei Jahre darauf sah sich Haack in diesem Urteil bestätigt und legte an gleicher Stelle eine differenzierte Anleitung zur persönlichen Agitation vor. Dabei brachte er gleichsam den Kern des gewandelten Verständnisses auf den Punkt, indem es ausführte: „Hier heißt es nicht schablonisieren, sondern individuali-
47 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1906. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1907, S. 215. 48 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1903. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1904, S. 92. Vgl. auch für die weiteren Zitate.
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sieren.“ 49 Denn der größte Teil der Nichtmitglieder zerfalle in drei Kategorien, auf deren unterschiedliche Interessen und Kenntnisse bei der Agitation Rücksicht genommen werden müsse. So gebe es jene, die nichts über die Organisation wüssten und denen man mit Verweis auf die Lohn- und Arbeitszeitverbesserungen begegnen müsse. Die zweite Gruppe bestehe aus solchen Arbeitern, die sich durch Gerüchte ein falsches Bild von der Organisation gebildet hätten und für deren Meinungsbildung vor allem die Vertrauensmänner in die Pflicht genommen werden sollten. Und zuletzt gebe es auch immer Arbeiter, die sich dem DMV aus „reiner Böswilligkeit“ nicht anschließen würden und deren Überzeugung zu den schwersten Aufgaben des Verbandes gehöre. Einstweilen helfe bei ihnen nur, darauf hinzuweisen, dass mit dem Anwachsen der Mitgliederzahl auch die Möglichkeit abnehme, weiterhin Unterstützungen zu „hinterziehen“. Das sich dabei entwickelnde Bild des „absichtlich Unorganisierten“, der auch durch die Agitation nicht zu erreichen sei, trennte sich in dieser Zeit von dem Blickwinkel auf die „potentiell einsichtigen Unorganisierten“ scharf ab. Den Verrätern und Schmarotzern standen auf der anderen Seite ver(w)irrte Seelen gegenüber, deren kommende Einsicht bisher einzig durch die falschen Methoden verhindert wurde. An religiösem Pathos ließen es viele Beiträge in diesem Diskurs demnach auch nicht fehlen: Da man die Unorganisierten nicht über die Mittel der Versammlungsagitation oder das gedruckte Wort gewinnen könne, müsse man die Wege der Hausagitation und der Beeinflussung an der Arbeitsstätte wählen. Getreu dem Motto „Kommt der Berg nicht zu Mohammed, sagte er, geht Mohammed zum Berge“,50 solle man auf die Arbeiter zugehen und dabei ihre soziale Lage und Nöte kennenlernen. In einer offenen Gleichsetzung des Gewerkschaftsgedankens mit dem „sozialen Evangelium“ 51 verwies man auf die Gemeinsamkeiten mit der christlichen Mission und ermutigte die Kollegen, sich den Unorganisierten bei allen möglichen Situationen zu nähern. So solle die Agitation von Mund zu Mund nicht nur während der Arbeit, sondern auch auf dem gemeinsamen Arbeitsweg, in den Pausen, am Biertisch und in der Vereinstätigkeit vorangetrieben werden. Im Kontext dieser Überlegungen machte man sich scheinbar zum ersten Mal über die Frage Gedanken, wie die bisherigen Agitationsmethoden und publizistischen Verlautbarungen auf die große Masse der Unorganisierten gewirkt haben mussten. Die Einsicht in frühere Fehler machte dabei den „Takt der Agitation“ zum Zauberwort und zur Verheißung einer breitangelegten Agitationsoffensive. Dass dafür nicht alle Kollegen gleichermaßen geeignet waren, wurde schnell klar: Man 49 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1905. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1906, S. 228. 50 Auf zur Agitation!, in: MAZ 29 (1911) 43, S. 341. 51 Ebd.
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solle sich, so ein Beitrag in der Metallarbeiter-Zeitung, den unorganisierten Arbeitskollegen ausschließlich „in freundschaftlicher und taktvoller Weise“ 52 nähern und die Schärfe der eigenen Überzeugungen partiell zurückfahren. Denn „wer sich leicht über erhobenen Widerspruch aufregt und die nötige Selbstbeherrschung verliert, der eignet sich für die mündliche Agitation nicht“.53 Wolle man den Unorganisierten gewinnen, „darf man ihm nicht zuerst alle Schande ins Gesicht sagen. Wohl aber darf kritisiert, den Unorganisierten bei der Agitation ihr unsolidarisches Verhalten vorgehalten werden. Es soll daher mit Takt organisiert werden.“ 54 Zu diesem Zweck erfuhr das Verhältnis zwischen dem DMV und seinen potentiellen Mitgliedern eine geradezu spektakuläre Wendung. Es wurde nun vermehrt versucht, der alten, exklusiven Abschottung einen Blickwinkel der Möglichkeiten entgegenzusetzen, der „den Unorganisierten“ aus der Verbannung holte und ihm neben der Pflicht auch das Recht einräumte, Gewerkschaftsmitglied zu werden: Diese unorganisierten Hunderttausende sind keine mystischen Gestalten, keine unfaßbaren Gespenster; sondern sie sind unsere leibhaftigen, lebenden, arbeitenden und leidenden Bekannten, vielleicht sogar Freunde; Verwandte, Neben- und Mitarbeiter, Wohnungsnachbarn im gleichen Hause, Gäste in der gleichen Wirtschaft, in der auch wir verkehren. Organisierte und Unorganisierte haben so eine Menge Berührungspunkte, auf denen sie sich bei der Arbeit wie draußen im Leben außerhalb der Werkstatt oder Fabrik immer wieder treffen und miteinander verkehren – verkehren müssen.55
Erstmals war man im DMV nun dazu bereit, dafür Ressourcen einzusetzen, die über eine selbstständige Organisation hinausgingen und den Kontakt zu den Arbeitern aufnahmen. Gewerkschaftliches Organisationshandeln suchte dadurch Anschluss an den täglichen Erfahrungsraum nicht nur der Mitglieder, sondern aller Metallarbeiter und wurde (aus der Rückschau) auch erstmals der Struktur der deutschen Gewerkschaftsbewegung gerecht: In der impliziten Einsicht, nicht allein auf den Bewusstseinsschub der Arbeiter zählen zu können, versuchte man aktiv die Rolle eines Entwicklungshelfers einzunehmen. Methodisch war dazu alles geeignet, was Erfolg versprach: Für die Agitation gibt es keine Schablone, die beste Methode ist die, die am erfolgreichsten wirkt. Die schönsten Agitationsversammlungen haben ihren Beruf verfehlt, wenn sie nicht von Unorganisierten besucht sind, die aufgeklärt und als Mitglieder für die Gewerkschaft 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Auf zur Agitation, zur Werbearbeit!, in: MAZ 30 (1912) 46, S. 365. 55 Ebd.
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gewonnen werden können. Führt die Organisationsversammlung nicht zum Ziel, so vielleicht die Werkstatt- oder Betriebsversammlung. Die Hausagitation, das Flugblatt, die Zeitung, die Broschüre, die gesellige Abendunterhaltung, der Ausflug, die kollegiale Gefälligkeit bei der Arbeit, das immer freundliche Wort mit überlegtem zielbewußtem Gebrauch und zahlreiche andere Mittel und Möglichkeiten, die das alltägliche Zusammenleben bietet, können mit Erfolg für die Gewerkschaft gehandhabt werden.56
Funktionen und Probleme des Werkstattvertrauensmännersystems
Die zentralen Methoden des Wandels im DMV waren die Installation des Werkstattvertrauensmännersystems und die damit einhergehende überragende Bedeutung der Werkstattversammlung für die Vertretung der Metallarbeiter. Seit dem Übertritt des Lokalvereins der Berliner Metallarbeiter zum DMV im Jahre 1897 hatte man in einigen Orten mit der Erweiterung des Vertrauensmännerwesens auf die Werkstätten experimentiert und in den ersten Jahren durchaus gute Erfahrungen gemacht.57 Bis 1900 war es in 40 Orten, 1901 in 64, 1902 in 92 und 1903 in 140 Orten eingeführt. Man erwartete vom Vorstand, das System in kurzer Zeit in zwei Drittel bis drei Viertel aller Orte installieren zu können, da man es „keineswegs mit einer bereits fertigen Einrichtung zu tun“ 58 habe. Bis 1903 hätten sich die Werkstattvertrauensmänner in 117 Orten voll bewährt, in 86 Orten bestehe in jeder Abteilung eines Großbetriebs, in 54 Orten im ganzen Betrieb und in 71 Handwerksbetrieben ein Vertrauensmann. Schon zu dieser Zeit maß man dem System immense Bedeutung zu: Es sei „das Rückgrat der Organisation, geeignet, die Schlagfertigkeit, die innere Festigung des Verbandes zu erhöhen“.59 Dementsprechend früh nahm dies der Vorstand zum Anlass, die Werkstattvertrauensmänner auf die Anforderungen und Pflichten ihrer Aufgaben hinzuweisen. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf die subjektive Eignung eines jeden Kandidaten gelegt: Gerade das Werkstattvertrauensmännersystem ist für die Organisierung der Werkstellen ungeheuer wichtig, daß darüber Einiges gesagt werden möge. Es herrscht häufig genug die Ansicht in Kreisen älterer Arbeitskollegen vor, daß die Funktionen eines Werkstattvertrauensmannes von jedem beliebigen Kollegen, der momentan in die betreffende Werkstatt herein-
56 Ebd. 57 Eine differenzierte Analyse des Einführungsprozesses in den DMV mit dem Schwerpunkt Berlin bietet Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung, Berlin 1985, S. 251 – 284. 58 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1903, S. 71. 59 Ebd.
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geschneit ist und über einige Beredsamkeit verfügt, ausgeübt werden könne. Diese Ansicht ist total verkehrt. Ein Werkstattvertrauensmann muß das Vertrauen seiner Kollegen genießen, er muß über genügend Intelligenz verfügen, um die Werkstatts- und die allgemeinen Verhältnisse des Berufs beurtheilen und die Nebenkollegen berathen zu können. Kurzum, er muß der Gewährsmann der Organisation über die Verhältnisse der betreffenden Werkstatt und der Vertreter der Organisation in derselben sein. Er vermittelt den Verkehr zwischen beiden. In Anbetracht dieser Funktionen ergiebt es sich von selbst, daß als Werkstattvertrauensleute nur Personen in Betracht kommen können, die über genügende Umsicht, Ruhe und Erfahrung verfügen.60
In den folgenden Jahren ging der Vorstand in der immer wieder neu aufgelegten Schrift „Die Aufgaben der Werkstattvertrauensmänner“ 61 auf deren zentrale Bedeutung und die notwendige individuelle Charakterstärke ein. Die Werkstattvertrauensmänner seien nicht nur das „Rückgrat der Organisation“ und das „Bindeglied zwischen den Verbandsmitgliedern und der örtlichen Verbandsleitung“, sie seien auch die Vermittler zwischen Werkstatt und Verband und müssten zwingend die „intelligentesten und geachtetsten Kollegen“ 62 sein. „Ruhigen, besonnenen Wesens und lauteren Charakters“ müsste sich der Vertrauensmann „durch sein Auftreten die Achtung seiner Nebenarbeiter verschaffen können“.63 Sein Aufgabenspektrum gestaltete sich dabei so breit, dass letztlich so gut wie jede betriebliche Angelegenheit erfasst und übernommen werden musste. Der Vorstand legte diese Bandbreite in einem detaillierten Vierzehn-Punkte-Katalog vor:64 Demnach lagen die wichtigsten Funktionen der Vertrauensleute in der Intensivierung der Agitation und der Kassierung der Beiträge. Sie teilten in der Regel (im Geheimen) die Metallarbeiter-Zeitung aus, verzeichneten Krankmeldungen von Kollegen und erkundigten sich bei Wohnungswechseln nach den neuen Adressen. Sie nahmen Neumitglieder auf, gaben die Beitragsmarken aus, klärten eventuelle Zahlungsrückstände, übermittelten der Ortsverwaltung Informationen zu Arbeitsbedingungen und vermerkten betriebliche Missstände und zu niedrige Löhne. Sie nahmen darüber hinaus federführend an Werkstattversammlungen teil und bereiteten diese vor, ermöglichten Mitgliedern den Austritt, 60 Reglement zur Auszahlung des Reisegeldes und der Ortsunterstützung im Deutschen Metallarbeiter-Verband, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1900, S. 6 f. 61 Die Aufgaben der Werkstattvertrauensmänner, herausgegeben zum Gebrauch für die Verwaltungsstellen vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1914. 62 Ebd., S. 4. 63 Ebd. 64 Vgl. ebd., S. 5 ff.
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erhoben betriebliche Statistiken, nahmen Beschwerden entgegen und waren der erste Ansprechpartner bei rechtlichen Fragen, Maßregelungen, Lohnabzügen und anderen betrieblichen Differenzen. Hinzu kam die Pflicht zur Teilnahme an einer regelmäßigen Weiterbildung (die häufig individuell des Nachts geschah) und an Vertrauensmännerversammlungen. Nicht zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass sie die dafür nötige Zeit einem normalen Arbeitstag von mindestens zehn Stunden abringen mussten. Außerdem trat zu dieser massiven Arbeitsbelastung und Verantwortung der Umstand, dass die Vertrauensleute in ihren Methoden erheblich eingeschränkt waren und oft genug selbst verfolgt wurden. Ihrer charakterlichen Eignung kam dadurch eine immense Bedeutung zu, die der Vorstand in einer Form veröffentlichte, die stark an einen Kodex erinnerte.65 War die Gewerkschaftsbewegung das „soziale Evangelium“, schlüpften die Vertrauensmänner in die Rolle der Missionare: Als oberstes Gebot der Gewinnung neuer Mitglieder galt daher eine ruhige und „tolerante“ Art des Vorgehens. Ein vorsichtiges Antasten war dabei das beste Mittel gegen den schnell aufkommenden Vorwurf, die Gewerkschaften führten einen Koalitionszwang auf der betrieblichen Ebene durch: Man vermeide, Andersdenkenden mit Gewalt die eigene Ansicht aufzudrängen, sondern versuche durch rücksichtsvolles Eingehen auf ihre Ansichten, die Verkehrtheit derselben nachzuweisen. Oft wird durch ein aufdringliches Vortragen unserer Ansichten und Bestrebungen mehr verdorben als Nutzen gestiftet.66
Mit der Aufforderung zum Gewerkschaftsbeitritt solle man dabei so lange wie möglich warten, um bis dahin die persönliche Meinung und den Charakter des Kollegen zu erkunden und Zeit für eine vorsichtige Beeinflussung zu gewinnen: Vor allem versuche man durch Mitteilungen über die vorteilhafteste Arbeitsweise im Betrieb, sowie Klarlegung der sonstigen Verhältnisse in der Werkstatt das Vertrauen der Mitarbeiter zu gewinnen und erst dann trete man an sie mit der Aufforderung des Eintritts in den Verband heran.67
Solche Prämissen galten selbst für das Verhalten gegenüber anderen Gewerkschaftsorganisationen und deren Mitgliedern: Dabei solle man vor allem großspuriges Auftreten vermeiden und provokante Aussagen und Anklagen unterlassen. Zwar bestehe die Pflicht, die Vorzüge der eigenen Organisation darzulegen 65 Vgl. ebd., S. 6 – 15. 66 Ebd., S. 6. 67 Ebd., S. 6 f.
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und für diese auch vergleichend zu werben, doch dürfe dies nicht auf Kosten der Methode geschehen.68 Beim Kontakt mit den organisierten Kollegen und im Falle von betrieblichen Differenzen sahen die Vorschriften dagegen ein Handeln im Stillen vor, das der Betriebsleitung und den Unorganisierten die eigenen Schritte möglichst nicht offenbarte: Der Ausgabe der Periodika, dem Einziehen von Beiträgen, dem Führen von Mitgliedskarten und Statistiken sowie der Erkundung der betrieblichen Verhältnisse musste im Verborgenen nachgegangen werden, wenn eine Maßregelung oder gar Entlassung verhindert werden sollte. Gleiches galt für die Bekanntmachung von gewerkschaftlichen Informationen: Man benütze die Pausen, in welchen Meister und Vorarbeiter nicht anwesend sind, und man wird bei einiger Vorsicht wichtige Bekanntmachungen der Ortsverwaltung schon den Mitgliedern aushändigen können.69
Wie ein solches Vorgehen im Einzelnen zu realisieren war, beschrieb Moritz Bromme in seinen Erinnerungen, die von Paul Göhre herausgegeben wurden, detailliert: Bei meinem Eintritt begrüßte mich ein Dreher. Er hatte gehört, daß ich gemaßregelt gewesen, und freue sich, in mir einen organisierten Arbeiter und Genossen zu finden. Er warnte mich sofort vor einem anderen Dreher, der nicht organisiert sei und im Verdacht stehe, die Kollegen zu verklatschen. Als ich dann beim Frühstück etwas aus meiner „Volkszeitung“ zum besten geben wollte, legte er gleich die Finger auf den Mund und deutete nach dem Verdächtigen hinüber. Natürlich verstummte ich sofort.70
Als Aushangsort für gewerkschaftliche Bekanntmachungen und Aufrufe diente in Brommes Fabrik die Toilette, über die auch Werkstattversammlungen organisiert werden konnten.71 Nach einiger Zeit versuchte sich auch Bromme selbst in der Agitation und führte einen jungen Arbeiter in die Gewerkschaftsgeschichte ein. Sein Vorgehen entsprach dabei ganz der Maxime individualisierter Agitation: „Anfangs wollte er noch allen Ernstes freiwillig bei den 18er Ulanen in Leipzig eintreten. Er ließ den Plan dann ganz von selbst fallen und zog eine ganze Anzahl anderer 68 Vgl. ebd., S. 14. Darüber hinaus: Reglement für die Ortsverwaltungen zur Vollziehung von Übertritten von Mitgliedern aus anderen inländischen Verbänden und ausländischen Organisationen, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1910. 69 Ebd., S. 8. 70 Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, S. 243. 71 Ebd., S. 259.
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Burschen in den Verband nach.“ 72 Seine Schilderungen agitatorischen Vorgehens in der Werkstatt machen darüber hinaus den Eindruck eines plangeleiteten und durchaus druckvollen Vorgehens, dessen Radikalisierung und persönliche Folgen man sich im Falle des Widerstands gut vorstellen kann: Er gehörte auch der Organisation an, wie überhaupt in der Fabrik stets und ständig für den Verband agitiert wurde. Fing ein neuer Arbeiter an, so dauerte es nicht lange, bis man Fühlung nahm. War er schon organisiert, dann gut; wenn nicht, wurde ihm nicht eher Ruhe gelassen, bis er seinen Beitritt erklärt hatte. Sogar junge Bürschchen, die erst vom Lande hereingekommen waren und nur für Soldaten und Mädchen schwärmten, wurden im Laufe der Zeit, oft schon nach wenigen Monaten, zu ganz tüchtigen und ernsten Gesinnungsgenossen.73
In allen Situationen bestand der Vorstand jedoch zu jeder Zeit darauf, dass der Werkstattvertrauensmann „nicht nur der Vertraute und Berater der Werkstattkollegen, sondern auch der Gewährsmann der Organisation“ 74 war und dieser Funktion den absoluten Vorrang einräumte. Bei den Beratungen der Kollegen in Fragen über den Arbeitsvertrag, das Gewerbegericht, die Reichsversicherungsordnung und besonders das DMV -Statut musste „strengste Objektivität“ 75 gewahrt werden. Fristen, statuarische Bestimmungen und die „Befehlskette“ hatten um jeden Preis eingehalten zu werden. Dass die Vertrauensmänner aus Sicht des Vorstands bei all ihrer Bedeutung allenfalls Agenten der zentralen Orts- und Bezirksführung sein sollten, verdeutlichten auch die Wahlbestimmungen: Grundsätzlich hatte die Wahl der Werkstattvertrauensmänner ab einer Betriebsgröße von zehn bis fünfzehn Arbeitern selbstständig in der Belegschaft stattzufinden. In größeren Fabriken sahen die Statuten auch eine Wahl von Fabrik- und Branchenvertrauensleuten vor. Allerdings stand den Ortsverwaltungen gegenüber diesen Wahlen ein informelles Bestätigungsrecht zu, „damit nicht ein Unwürdiger, gegen den beweisbare Bezichte [sic!] in bezug auf sein Verhalten vorliegen, von den mit den Verhältnissen weniger betrauten Werkstattkollegen mit dem Amte eines Werkstattvertrauensmannes betraut werden kann“.76 Bei zu geringem Organisationsgrad konnte der Vertrauensmann sogar von der Ortsverwaltung ernannt werden. 72 73 74 75 76
Ebd., S. 258. Ebd., S. 257. Die Aufgaben der Werkstattvertrauensmänner, S. 10. Ebd., S. 9. Verhaltungs-Reglement für die Ortsverwaltungen des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1908, S. 156.
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Gleiches galt für den Fall, dass mit der Wahl die begründete Furcht vor einer Maßregelung verbunden war. Wollten sich die Ortsverwaltungen auf diese Weise einen bleibenden Einfluss auf die Investitur der Vertrauensleute sichern, versuchten sie gleichzeitig das Mittel der Bildung zu nutzen, um diese mit dem nötigen Verfahrenswissen zu wappnen. In Chemnitz waren dafür neben den DMV -internen Kursen auch Versammlungen des Gewerkschaftskartells zuständig, in denen die unterschiedlichsten thematischen Gebiete abgedeckt wurden. Dabei spielten eher theoretische Punkte wie „Kampfmittel und Zweck der Gewerkschaften“ und „Arbeitgeberverbände“ genauso eine Rolle wie eine eher soziologische Annäherung an die „Probleme der Solidarität“. Neben der reinen Vermittlung von Wissen bezogen sich diese Kurse aber auch schon auf rhetorische und psychologische Kernanliegen der betrieblichen Vertretung: Im Abschnitt „Redekunst, Rednerstil und Denkordnung“ wurden die Werkstattvertrauensmänner beispielsweise vom ehemaligen Chemnitzer Schauspieler Fritz Jänicke unterrichtet, der sich im Training von „Soft Skills“ der geeigneten Herangehensweise an unorganisierte Kollegen widmete.77 Die Konzentration auf die charakterliche Eignung der Vertrauensleute machte deutlich, dass diese neben ihrer verwaltungstechnischen Bedeutung vor allem ein betriebssoziologischer Trumpf des DMV waren. Da sie in der Regel als hochqualifizierte Metallarbeiter (oft als Dreher oder Schlosser) an zentralen Positionen der Produktion arbeiteten, konnten sie gewerkschaftlichen Anschluss an alltägliches Arbeiterhandeln herstellen. Dabei half ihnen sowohl ihre oft entscheidende innerbetriebliche Stellung als auch der Arbeitsprozess, der besonders im großen Maschinenbau zahlreiche räumliche und zeitliche Freiheiten bot. Um ihre Aufgaben zu erfüllen, mussten die Vertrauensmänner (wie der Name schon sagt) zuallererst das Vertrauen ihrer Arbeitskollegen gewinnen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten begannen meist schon nach der Wahl oder Ernennung eines neuen Vertrauensmannes: So berichtete ein Chemnitzer Beobachter 1910 in der Metallarbeiter-Zeitung, dass die Amtsträger den Arbeitern bereits nach kurzer Zeit bekannt seien und sich deshalb oft Maßregelungen ausgesetzt sähen, die durch Meldungen anderer Gewerkschafts- oder Werkvereinsmitglieder forciert worden wären.78 Er empfahl daher eine Taktik der Verschwiegenheit und langsam-bedachten Agitation. Auch sei es grundfalsch, als organisierter Kollege den neuen Vertrauensmann gleich herzlich, offen und laut als Organisationsmitglied willkommen zu heißen. Vielmehr sollten selbst dort, wo die Verhält 77 Vgl. Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, Bericht über die politische und gewerkschaftliche Bewegung in Chemnitz im Jahre 1913, Chemnitz 1914, in: HStA Dresden, 10736, Nr. 11065, Bl. 45. 78 Vgl. P. W., Zur Taktik in den Betrieben, in: MAZ 28 (1910) 31, S. 244.
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nisse am schlimmsten seien, keine Konfrontationsstrategien verfolgt werden. Eine Bekanntmachung der Vertrauensmänner könne man auf diese Weise am besten verhindern. Doch selbst wenn solche stillen Absprachen funktionierten, konnten die Vertrauensmänner gegenüber ihren Arbeitskollegen nicht so vorgehen wie der Vorstand oder die Ortsverwaltungen. Denn da sie als Arbeiter jederzeit Teil der Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz blieben, stand ihnen innerhalb der ruppigen, aber kollegialen Kommunikationsstrukturen kein ähnlich disziplinbetontes Instrumentarium zur Verfügung. Bei einem zu forschen Vorgehen wäre die Wahrscheinlichkeit, die unorganisierten Kollegen zu verprellen, einfach zu hoch gewesen. Mit ihrer Aufgabe, gewerkschaftliche Anschlussfähigkeit zu erzeugen, war daher auch eher ein vorsichtiges Antasten und tolerantes Miteinander ohne den dogmatischen Anspruch der Gewerkschaftsspitzen verbunden. Vor allem weil sich viele Akte des Eigen-Sinns der Arbeiter kaum bis gar nicht mit diesem disziplinierenden Ansatz vertrugen, erforderte Anschlussfähigkeit hier von den Vertrauensleuten auch durchaus Duldung oder aktive Teilnahme, selbst wenn dies gegen das gewerkschaftliche Selbstverständnis verstieß. Gegen nicht allzu grobe gruppeninterne Späße, die integrierenden Neckereien oder den individuellen Rückzug Einzelner dürften die Vertrauensmänner deshalb wohl kaum vorgegangen sein. Denn der Aufbau eines betrieblichen Nimbus, durch den sich die Arbeiter mit ihren Problemen ernst genommen fühlten und der gewerkschaftliches Gedankengut mit dem persönlichen Ansehen der Vertrauensleute verband, war in Zeiten juristischer Repressalien unersetzbar. Daneben führten auch andere grundlegende Entwicklungen der Gewerkschaften wie die Zentralisierung und die zusehends überbetriebliche Ausrichtung dazu, dass die Werkstattvertrauensmänner als Kontaktpersonen zum Betrieb für die Vorstände immer wertvoller wurden. Als Vermittlungsinstanz waren sie im Grunde genommen die Einzigen, die vorgewerkschaftliche Basisstrukturen kanalisieren und in Organisationshandeln umsetzen konnten. Besonders anschaulich wurde diese Funktion indes, wenn der Anschluss nicht gelang: So entluden sich Ärger und Wut der Ortsverwaltungen über die Arbeiter vor allem nach Situationen, in denen der betriebliche Führungsanspruch nicht umzusetzen war und die Belegschaften oder einzelne Arbeitsgruppen ohne die Vertrauensmänner (oder sogar mit diesen) ohne Wissen der Führung vorgingen. So brachte der DMV – Vorstand beispielsweise seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass die Belegschaften in einigen Fällen autonom darauf verzichten würden, die betrieblichen Probleme zur Sprache zu bringen, weil sie die Konjunktur für zu schlecht, die Organisationsverhältnisse für zu mau oder die Haltung des Unternehmens für zu unnachgiebig hielten. Die Gewerkschaftsleitung erfahre von solchen Vorgängen, wenn sie überhaupt davon Kenntnis erlange, immer nur „en passant“ und nachträglich,
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sodass eine erhebliche Anzahl rechtzeitig angemeldeter Bewegungen unterbleiben müsse.79 In anderen Fällen wurde dagegen kritisiert, dass selbst bei günstigen Bedingungen der Verband häufig nicht informiert werde und Belegschaften ohne eine DMV – Vertretung mit den Arbeitgebern verhandeln würden.80 Fühlten sich Arbeiter oder Belegschaften durch das Vorgehen der Betriebsleitungen ungerecht behandelt, waren die Chancen der Ortsverwaltungen, bei den Differenzen konsultiert zu werden, oft noch geringer: Sehr oft finden wir auch hier im siebenten Bezirk, daß die Mitglieder bei Abzügen, Maßregelungen etc. glauben, daß sie sofort die Arbeit einstellen müßten. Wenn am Tage im Betrieb etwas passiert ist, dann wollen die Mitglieder am Abend in der Versammlung schon die Arbeitseinstellung beschließen. Aufgabe der Verbandsfunktionäre ist es, den Mitgliedern beizubringen, daß die statuarischen Bestimmungen eingehalten werden müssen und unter keinen Umständen ohne die Zustimmung des Vorstandes gekündigt oder gar sofort die Arbeit niedergelegt werden darf.81
Um diese Situationen, in denen der Vertretungsanspruch des DMV in Frage gestellt wurde, zu vermeiden, betonte der Vorstand stets die emotionsbremsende Funktion des Werkstattvertrauensmännersystems. Als „Realisten“ sollten sie darüber hinaus vermeiden, dass sich innerhalb der Belegschaften überzogene Erwartungshaltungen und aggressive Ad-hoc-Forderungen ausbreiteten, die es dem DMV – wollte man nicht das Erreichte riskieren – unmöglich machten, sich hinter die Bewegung zu setzen. So galt es mit Hilfe der Vertrauensmänner einen Mittelweg zu finden, indem allzu spontanes und weitgehendes Belegschaftshandeln gebremst und statuarisch kanalisiert wurde und man sich im entgegengesetzten Fall für eine Aktivierung der Arbeiter einsetzte. Auf diesen Spagat ging auch der sächsische DMV-Bezirksleiter ein: […] und wenn nicht in allen Fällen mit dem nötigen Nachdruck verfahren werden konnte, so war die Lauheit unserer Kollegen daran schuld. In sehr vielen Fällen, wo es möglich gewesen wäre, ohne Kampf Verbesserungen des Arbeitsverhältnisses durchzuführen, versagten unsere Kollegen; in vielen Fällen hegten die Kollegen Wünsche, die sich schwer realisieren ließen und selbst durch einen Kampf nicht erfüllt werden konnten. Es muß deshalb auch für die
79 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1909. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1910, S. 36. 80 So etwa 1914 in den Werkzeugmaschinenfabriken Gläß und Escher in Chemnitz. Vgl. Geschäftsbericht für das Jahr 1914, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1915, S. 16 ff. 81 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1913. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1914, S. 109.
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Zukunft Aufgabe unserer Kollegen sein und bleiben, das richtige Maß zwischen Wollen und Können zu halten.82
Vor diesem Hintergrund kam den Vertrauensmännern in den Betrieben die komplizierte Aufgabe zu, zwischen unterschiedlichen Aktionsvorstellungen zu vermitteln und die zeitlichen wie methodischen Regeln des Vorstandes in den Belegschaften zu implementieren. Dabei stießen vor allem die Meldefristen für Streiks und die Vorstellung, Verbesserungen ohne Kampfmaßnahmen erreichen zu können,83 auf solidarische Strukturen unter den Arbeitern, aus denen bei bestimmten Anlässen rasch betriebliche Gegenwehr erwachsen konnte. Dementsprechend wurden die „wilden Bewegungen“ vom Vorstand und von den Ortsverwaltungen äußerst scharf kritisiert: So schön und überzeugend Streikbegeisterung aus deren Sicht auch sein mochte, ließen sie dennoch keinen Zweifel daran, dass aktionistische und kurzfristige Massenleidenschaften nicht zu den gewerkschaftlichen Instrumenten des DMV gehörten.84 Aus diesen Gründen gehörte das regelkonforme Verhalten der Werkstattvertrauensmänner bei betrieblichen Differenzen zu den Kernanliegen des Vorstandes: Besonders bei Maßregelungen, die das Unrechtsempfinden der Arbeiter häufig massiv herausforderten, sei es nicht sinnvoll überzureagieren. Vielmehr sollten die Vertrauensmänner dafür sorgen, dass man anderen organisierten Kollegen die Stelle des Gemaßregelten verschaffe, um den Arbeitgebern die langfristige Sinnlosigkeit solcher Maßnahmen vor Augen zu halten.85 Auch wenn man sich dadurch kurzfristig unbeliebt machte, gehörte es demnach zu den wichtigsten Fähigkeiten der Obmänner, Emotionalisierungen von Konflikten durch ein ruhiges und sicheres Auftreten vorzubeugen. Dies galt vor allem in Situationen, in denen Arbeiter offen über die Einstellung der Arbeit nachdachten. Der Vertrauensmann habe dann „seinen gesamten Einfluß aufzubieten, damit die Arbeit unter keinen Umständen früher niedergelegt wird als bis die Genehmigung hierzu vom Vorstand eingeholt und eingetroffen ist“.86 Die dafür geltenden Anmeldefristen (bei Angriffsstreiks drei Monate!) seien unbedingt einzuhalten. Dass die beschwichtigende Überbrückung dieser Zeit in vielen Fällen auch den Vertrauensmännern nicht gelang, bewiesen neben zahlreichen kleinen Bewegungen auch einige Großstreiks, die den Interessenkonflikt zwischen Organisations- und Belegschafts 82 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1910. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, Stuttgart 1911, S. 54. 83 Vgl. ebd., S. 52. Ein beliebter Gedanke war es dabei, dass der Verband ohne Kampfmaßnahmen allein auf Grund seiner Größe erfolgreich sein könne. 84 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1905, S. 236. 85 Vgl. ebd., S. 237. 86 Die Aufgaben der Werkstattvertrauensmänner, S. 10.
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handeln offen zu Tage treten ließen.87 Sie machten schlagartig deutlich, in welch prekäre Lage die Vertrauensleute geraten konnten, wenn sich der Vertretungs- und Führungsanspruch des DMV nicht mehr mit den Vorstellungen auf der Betriebsebene vereinbaren ließ. Als Prellbock benutzt, wurden sie in sicher nicht wenigen Bewegungen vor die persönliche Wahl gestellt, die ihnen die Ambivalenz ihres Amtes anbot: als Obmann der Organisation für die Einhaltung des Statuts und die Leitungsfunktion des DMV zu werben oder sich als Vertrauensmann und Teil der Belegschaft hinter die Forderungen der Metallarbeiter zu stellen. Die Tatsache, dass die Werkstattvertrauensmänner ein anerkannter und einflussreicher Teil der Arbeiterschaft sein mussten, um ihre Aufgaben zu erfüllen, und sich daher nur bedingt dem gewerkschaftlichen Apparat unterordnen ließen, machte sie den zentralen Leitungen tendenziell verdächtig. Sie waren also nicht nur die „Personifikation des Misstrauens“ 88 gegenüber der Arbeiterschaft – sie unterlagen dem zentralen Argwohn als Teil dieser Arbeiterschaft gleichermaßen. So war etwa die Einführung von Vertrauensmännern innerhalb der Generalkommission alles andere als unumstritten: „Nicht also, weil dieses gut ist, sondern der Nothwendigkeit gehorchend, soll hier eine Ausnahme eintreten.“ 89 Die Brandmarkung als notwendiges Übel, die in den Gewerkschaftsperiodika mit Regelmäßigkeit durchschien, war dabei Sinnbild der Zwickmühle, in der sich die Verbandsleitungen und der Dachverband wähnten. Denn einerseits war man sich darüber einig, dass auf die betriebliche Stütze keinesfalls verzichtet werden konnte, während andererseits der dezentralisierte Machtfaktor der Vertrauensleute so gar nicht dem Konzentrationsprozess innerhalb der freien Gewerkschaften entsprechen wollte. In Erwartung des Eigen-Sinns der Werkstattvertrauensmänner, der verdeutlicht, wie janusköpfig sich dieses Verhalten artikulierte, erließen die Vorstände Regeln, die die Zuständigkeiten und Machtressourcen der Betriebsinstanz begrenzen sollten. Die Verbands- und Ortsleitungen fürchteten (nicht zu Unrecht), dass sich die Vertrauensmänner eines Verhaltens bedienten, welches ihnen von den Arbeitern durchaus bekannt war, das in diesem Fall aber nicht die Betriebs-, sondern die Gewerkschaftsleitungen traf und deren gesetzte Regeln unterlief. Bei eigenmäch-
87 Die prominentesten Beispiele waren die Streiks auf der Vulkan-Werft in Stettin (1908) und in den Strebel-Werken in Mannheim (1908/09), die vom Vorstand trotz Erfolgsaussichten nicht genehmigt bzw. eigenmächtig gegen den Belegschaftsbeschluss abgebrochen wurden. Vgl. Rudolf Boch, Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870 bis 1914, Göttingen 1985, S. 210. 88 Ute Frevert, Vertrauen – eine historische Spurensuche, in: dies. (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 45. 89 Zitiert nach Koopmann, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 114.
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tigen Wiederaufnahmen ausgeschlossener Mitglieder, nicht fristgerechten Lohnbewegungen 90 und betrieblichen Verhandlungen ohne die Kenntnis der Ortsverwaltung, aber auch bei aggressivem Vorgehen gegen Nichtorganisierte oder Missachtung finanzieller Spielregeln unterwarfen die Vertrauensmänner das DMV-Statut und die Verhaltensregeln des Vorstands einer individuellen Interpretation und handelten eigen-sinnig. Die Nichtbeachtung betraf dabei aber keineswegs nur die Werkstattvertrauensmänner, auch in den Ortsverwaltungen kamen Fälle vor, in denen sich Gewerkschaftssekretäre über das Statut hinwegsetzten. In diesem Kontext beklagte sich etwa der DMV-Bezirksleiter für das Königreich Sachsen über die finanziellen Angewohnheiten einiger Ortsbeamter, die „aus Mangel zentralistischen Geistes“ versuchen würden, alle nur erdenklichen Kosten der Hauptkasse des Verbands in Rechnung zu stellen, während sie gleichzeitig sehr genau über die Gelder der Ortskasse wachten.91 Neben der Konfliktlinie zwischen Betrieb und Ortsverwaltung/Bezirk/Vorstand existierten demnach immer auch Spannungen zwischen den Orten und dem Bezirk/Vorstand oder zwischen den einzelnen Bezirken und der Stuttgarter Leitung. So bezeichnete die DMV-Gauleitung für Sachsen und Thüringen den Chemnitzer DMV in einem Bericht an die Bezirkskonferenz als „große, […] aber etwas bequeme Verwaltungsstelle“,92 in der nicht alle Regeln streng eingehalten würden: Betreffs der Lohnkämpfe werden insofern immer noch große Fehler gemacht, daß oft Arbeitseinstellungen beschlossen werden, die nach den Bestimmungen unseres Statuts nicht zulässig sind, wo die Unterstützung versagt werden muß und dann Streit und Unzufriedenheit in die Organisation hineingetragen wird.93
Selbst innerhalb des Vorstandes besaßen einige Beamte keine „weiße Weste“ und brachen die Regeln des Verbandsstatuts. Das prominenteste Mitglied war dabei sicherlich der Verbandsvorsitzende August Junge, der 1895 zum Rücktritt
90 So beklagte der Chemnitzer DMV -Bevollmächtigte Krause, dass der Vorstand häufig besonders über Abwehrbewegungen nicht Bescheid wisse, da diese zu spontan entstehen würden. Die sechste ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. Abgehalten vom 1. bis 6. Juni 1903 im Saale des Gewerkschaftshauses zu Berlin, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1903, S. 172. 91 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1909, S. 35. 92 Bericht an die Bezirkskonferenz in Chemnitz, herausgegeben vom Gau Sachsen und Thüringen des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, 1903, S. 1, in: Stadtarchiv Chemnitz, „SED-Bibliothek“, Nr. 947. 93 Ebd., S. 8.
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gezwungen wurde, nachdem sich Unterschlagungsvorwürfe gegen ihn bewahrheitet hatten.94 Hatte man solche internen Probleme nach einer schwierigen Phase der Eingewöhnung, aber auch Disziplinierung weitestgehend im Griff,95 gestaltete sich das Verhältnis zwischen den DMV – Verwaltungen und den betrieblichen Vertrauensleuten jedoch weiterhin als spannungsreich. Da vonseiten des Vorstands kein Zweifel darüber bestand, dass die Werkstattvertrauensmänner zunächst vor allem Gewährsmänner der Organisation waren und erst dann als Vertretung der Kollegen im Verband zu gelten hatten, wurden in den Verhaltensregeln besonders die Aufgaben betont, die den DMV in den Betrieb brachten. Sie transportierten dadurch nicht nur den eindeutigen Führungsanspruch der Ortsverwaltungen und des Vorstands, sondern machten auch klar, dass sich die Vertrauensleute als DMVMitglieder trotz ihrer breiten Aufgabenvielfalt und ihrer Kompetenzen genauso der innergewerkschaftlichen Disziplin unterzuordnen hatten wie „normale Mitglieder“. Deren Kernstück war die freiwillige Unterwerfung unter selbstgewählte Führer: Wir haben in den Gewerkschaften keinen Kadavergehorsam, keine blinde Unterwerfung unter den Willen eines Tyrannen. Wir gehorchen, weil wir freie Männer sind, die sich aus freiem Antrieb – allerdings der wirtschaftlichen Not gehorchend – zu gemeinsamen Kampfe um ein menschenwürdiges Dasein zusammengeschart haben, wir ordnen uns den selbstgewählten Führern unter, die wir in langen Jahren erprobt haben.96
Um dem „Kollektivwillen“ zu folgen und der „sozialen Vernunft“ entsprechend zu handeln, wurde vor diesem Hintergrund vor allem die Preisgabe der Individualität eingefordert: Und darum ist es die heiligste Pflicht der Mitglieder, sich den Beschlüssen der Leitung zu fügen und unter allen Umständen ihr persönliches Interesse zugunsten des Allgemeininteresses zurückzustellen. Es ist leeres Geschwätz anarchistelnder Maulhelden, wenn in einem solchen Falle von einer Unterdrückung des Rechts der freien Selbstbestimmung oder gar von Vergewaltigung der Ueberzeugung geredet wird.97
94 Vgl. Schönhoven, Expansion und Konzentration, S. 243. 95 In den Jahren nach der Verbandsgründung hatten viele Verwaltungen mit der Untreue einzelner Beamter zu kämpfen, so auch in Dresden. Vgl. Verwaltungsbericht des Vorstandes zur I. ordentlichen General-Versammlung, S. 25. 96 Die gewerkschaftliche Disziplin und die persönliche Freiheit der Mitglieder II, in: MAZ 26 (1908) 43, S. 356. 97 Ebd.
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Vielmehr sei dieser Ansatz eine Notwendigkeit, die die Verhältnisse diktierten. Aussagen wie: „In den Zeiten der Gefahr […] hört das freie Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen auf und es tritt die Pflicht der Disziplin in den Vordergrund“, oder: „[D]as Allgemeininteresse stellen wir unter allen Umständen höher als den persönlichen Vorteil“,98 konnten dabei auch als Ansage an die Werkstattvertrauensmänner verstanden werden, deren zentrale Position in der gewerkschaftlichen Willensbildung genau an der Nahtstelle des disziplinarischen Anspruchs lag. So zeigten die Veröffentlichungen des Vorstands, dass man sich zwar vordergründig der Loyalität der wichtigen betrieblichen Stützen versichern wollte, diese aber auch argwöhnisch beäugte und ihnen als Teil der Werkstatt im DMV auch einiges Misstrauen entgegenbrachte: Man bestand neben dem nachträglichen Bestätigungsrecht darauf, dass die federführende Verantwortung bei der Abhaltung von Werkstattversammlungen bei der Ortsverwaltung liegen sollte. Den Werkstattvertrauensmännern kam dabei, genau wie der übrigen Belegschaft, nur eine nebensächliche Rolle zu. Um einen disziplinierten und gemäßigten Ablauf der Versammlungen zu gewährleisten, wollte man sogar darauf verzichten, die Arbeitsverhältnisse durch einen Arbeiter vortragen zu lassen, da ansonsten die Gefahr schlecht gewählter und aufpeitschender Worte bestehe. Wenn die Zusammenkunft günstig verlaufe und ein Referent anwesend sei, könne man, so der Vorstand, ganz auf eine Wortmeldung durch die Arbeiter verzichten.99 Währenddessen zog man die Vertrauensmänner höchstens hinzu, um die Argumentation der Ortsbeamten oder Referenten zu bestätigen. Die Verhaltensregeln offenbarten dabei einen Kontrollimpetus der Verbandsbeamten, der sicherstellen sollte, dass sich betriebliche Unzufriedenheit und Radikalisierung der Forderungen keinesfalls artikulieren und mit den Vertrauensmännern verbinden konnten. Dass sich deren Reputation und der Einfluss für Formen des ungewerkschaftlichen Vorgehens einspannen ließen, gehörte zu den Kernaspekten verbandspolitischer Besorgnisse und erklärte die Reserviertheit gegenüber einer allzu breiten Kompetenz der betrieblichen Vermittler. Dennoch kann dem älteren Urteil, dass die Werkstattvertrauensmänner „mehr die Gewerkschaft im Betrieb, als den Betrieb in der Gewerkschaft“ vertraten,100 nur partiell zugestimmt werden, da diese Sichtweise lediglich jene der Verbandsleitung rezipiert. Die offene Hinwendung in die Betriebe, der breite Einsatz von Werkstattversammlungen und die Konzentration auf „kleine Probleme“ der Kollegen waren trotz des disziplinierenden Ansatzes mehr als ein Lippenbekenntnis 98 Ebd. 99 Vgl. Verhaltens-Reglement für die Ortsverwaltungen, S. 158. 100 Dieser Interpretation v. Oertzens stimmt auch Koopmann voll zu. Vgl. Koopmann, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 168.
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der DMV -Führung. Sie entsprangen vielmehr der Überzeugung, dass sich Organisations- und Belegschaftshandeln am besten auf der betrieblichen Ebene verbinden ließen und sich ein gewerkschaftliches Bewusstsein und -handeln der Metallarbeiter nur festigen konnte, wenn man diesen entgegenkam. Die restriktiven Verhaltensregeln, die man dabei vor allem für die Vertrauensleute formulierte, zeugen letztlich davon, dass man sich dabei auf ein Terrain wagte, das nicht annähernd so gut überschaubar und kontrollierbar war wie der enge Kreis der Versammlungsorganisation während der handwerklichen Phase. Im wiederholten Beharren auf der „Emotionslosigkeit“ von Versammlungen, der unbedingten Statutenbefolgung und Diszipliniertheit drückte sich daher nicht unbedingt eine reale Überordnung der Organisation über die Arbeiter aus – sie waren auch Ausdruck einer Einsicht in die Grenzen gewerkschaftlicher Lenkung und die Differenzen gewerkschafts- und belegschaftsinterner Aktionsvorstellungen. Ein hohes Maß der Regelstrenge, die man oft als Suprematie der Organisation verstanden hat, mochte deshalb auch dem Respekt davor geschuldet gewesen sein, betriebsinterne Potentiale, einmal aktiviert, nicht mehr kontrollieren zu können. In diesem Kontext sprach der Kommentar des sächsischen DMV -Bezirksleiters Bände: „Es wird aber dabei übersehen, daß lebendige Massen keine Schachfiguren [seien], die sich – sind die Geister einmal gerufen – nicht nach Belieben, auf dem Brette hin- und herschieben lassen.“ 101 Die merkwürdige Doppelgleisigkeit, mit der man die Werkstattvertrauensmänner behandelte, hatte ihren Ursprung in eben jenen Ängsten der Gewerkschaftsleitungen, Belegschaftshandeln nicht gewerkschaftlich kanalisieren zu können. Während man daher das Vertrauensmännersystem einerseits ausbaute und finanziell wie bildungstechnisch stärkte, um diesem Anspruch gerecht zu werden, lösten sich andererseits die Bedenken gegenüber dieser Institution nie ganz auf, deren Loyalität im Ernstfall genauso volatil sein konnte wie das fluktuierende Mitgliedschaftsverhalten der meisten Arbeiter. Vor diesem Hintergrund mag die Vehemenz, mit der man auf charakterlichen Fähigkeiten der Vertrauensleute bestand, verständlicher erscheinen. Äußerungen wie: „Es darf nicht Empfindlichkeit, nicht Eigenliebe über die zu vertretenden allgemeinen Interessen die Oberhand gewinnen“, oder dass die Ablehnung eines Vorschlags kein Grund sei, „sich in den Schmollwinkel zurückzuziehen“,102 sollten daher nicht so sehr als hierarchische Bevormundung eines Letztentscheiders, sondern auch als Zeichen partieller Schwäche gedeutet werden.
101 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1905, S. 237. 102 Die Aufgaben der Werkstattvertrauensmänner, S. 15.
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Das Werkstattvertrauensmännersystem und seine Folgen in Sachsen und Chemnitz
Unter den besonderen vereinsrechtlichen Bedingungen des Königreichs Sachsen, die eine Bildung regulärer Ortsverwaltungen bis 1908 verhinderten, entwickelte sich das Werkstattvertrauensmännersystem umso deutlicher zu einem entscheidenden Standbein des DMV. Die internen Diskussionen über die neue, betriebszentrierte Ausrichtung des Verbands, die die Gewerkschaft auch in Sachsen in den ersten Jahren beschäftigten, waren dabei ob der Vorteile des schnell wachsenden Systems bald vergessen, und der Bezirksleiter konnte resümieren: Das Vertrauensmännersystem, über dessen Ausbau wir in den früheren Berichten eingehend geschrieben haben, hat sich in diesem Jahre auf das glänzendste bewährt. Besonders bei der großen Metallarbeiter-Aussperrung in der Kreishauptmannschaft Dresden hat sich die Wichtigkeit dieser Einrichtung klassisch gezeigt. Ein großer Teil der Erfolge ist auf das gute Funktionieren des Vertrauensmännersystems zurückzuführen. – Während wir in früheren Jahren berichten mußten, daß unsere Kollegen zum großen Teile noch nicht das nötige Verständnis für diese Einrichtung besaßen und wir mit ihnen wegen Einführung dieser Einrichtung geradezu Kämpfe zu bestehen hatten, kann jetzt gesagt werden, daß die Wichtigkeit dieser Einrichtung ausnahmslos von allen Kollegen begriffen worden ist.103
Die Werkstattvertrauensmänner, mit deren intensiver Kleinarbeit man auch in Chemnitz das Mitgliederwachstum nach der Jahrhundertwende direkt erklärte,104 mussten ihre Wirksamkeit hier aber nur selten in Streikbewegungen unter Beweis stellen. Denn obgleich sie die Ortsverwaltung etwa in den großen Streiks und Aussperrungen des Jahres 1911 mit den nötigen betrieblichen Informationen versorgten und ermöglichten, die Bewegungen über Wochen durchzuhalten,105 gehörte doch vor allem der Maschinenbau der Stadt eher zu den streikarmen Branchen. Gerade in diesem von mittelgroßen Betrieben geprägten Bereich waren es die Vertrauensleute, deren Tätigkeit zu einem häufigen Einlenken der Unternehmer führte, bevor es zum Streik kommen konnte. Die betrieblichen Bedingungen kamen dem DMV insofern entgegen, als dass es die geringere Größe und höhere Spezialisierung den Arbeitgebern schwerer machten, Produktionsausfälle hinzunehmen und für Arbeiterersatz zu sorgen. Darüber hinaus kam den Vertrauensleuten zugute, dass die Belegschaften jederzeit überschaubar blieben und sich im Fertigungsprozess immer wieder Freiräume und Phasen hochkommunikativer Zusammenarbeit auftaten, 103 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1906, S. 295. 104 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1903, S. 92. 105 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1911, S. 214 f.
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die für die individuelle Kleinarbeit und Agitation genutzt wurden. Der Charakter der Produktion als Einzel- und Kleinserienfertigung nach Kundenwünschen eröffnete auf diese Weise breitere Möglichkeiten, gewerkschaftlichen Anschluss an die Arbeiterschaft herzustellen und Arbeiter- wie Belegschaftshandeln mit der organisatorischen Programmatik zu verbinden. Für die Unternehmer und Meister konnte der betriebliche Druck, der von einer solchen gewerkschaftlichen Durchsetzung ausging, immens sein, weshalb sich nicht wenige Arbeitgeber dazu angehalten sahen, sich über den „Terrorismus“ der Organisierten zu beschweren. Mit Blick auf die Arbeitskonflikte konnten sich dabei sogar alteingesessene Vorstellungen darüber, wer im Betrieb das Sagen hatte, verschieben. So drohte der Meister Ruppert bei der Werkzeugmaschinenfabrik Union den Gewerkschaftsmitgliedern auf recht hilflos anmutende Weise: „Ihr organisierten Strolche, ich werde euch das Nebenregieren austreiben.“ 106 In einem Schreiben an den Chemnitzer DMV-Bevollmächtigten Robert Krause, durch das er die Vorwürfe des Gewerkschaftssekretärs zu kontern versuchte, beschimpfte der Meister die organisierten Arbeiter als „Halunken“ und „Lumpen“, weil sie den unorganisierten Kollegen die Arbeit unmöglich machen würden. Er beklagte vor allem, dass die Werkzeugschmiede Nichtorganisierten das Vorrichten verweigern und diese selbst auf dem Weg nach Hause schikanieren würden. Solche Arten des Boykotts und des Versuchs, einen Union shop durchzusetzen, gebe es, so Ruppert, in vielen Chemnitzer Maschinenfabriken.107 Aus der Rückschau ergibt sich jedoch diesbezüglich immer das Problem der Glaubwürdigkeit. Denn da sich die Unternehmerpresse natürlich auf die besonders eklatanten Fälle konzentrierte und sich die Gewerkschaften in den Periodika weitestgehend über ihre betrieblichen Strategien ausschwiegen, weisen die Quellen eine immense Schieflage zum Spektakulären auf. Zwangsmaßnahmen, wie jene, mit denen zum Beispiel auch die Firma Seidel & Naumann in Dresden Werbung gegen den DMV machte, dürften daher wohl kaum zur Tagesordnung gehört haben.108 Für die Maschinenunternehmer in Chemnitz war die Gewerkschaftsmitgliedschaft eines großen Teils der eigenen Belegschaft mit all ihren Folgen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwar eine unerwünschte Erscheinung, aber wohl abso 106 Geschäftsbericht für das Jahr 1907, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1908, S. 1169. 107 Vgl. ebd., S. 1170. 108 Bei Seidel & Naumann sollen organisierte Arbeiter ihren Kollegen das mitgebrachte Essen ungenießbar und geleistete Vorarbeiten zunichte gemacht haben. Vgl. „Die freie Vereinigung deutscher Metallarbeiter, die Ursachen ihrer Begründung, ihre bisherige Entwicklung und ihre Bestrebungen“, ca. 1907, AG vorm. Seidel & Naumann, Dresden, in: HStA Dresden, 11657, Nr. 285.
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lute Normalität. Besonders in den mittelgroßen und kleinen Betrieben, die das Gesicht der Chemnitzer Industrie prägten, hatte nämlich der betriebliche Ansatz des DMV zu einem sprunghaften Mitgliedswachstum geführt: 1912 waren etwa in der Werkzeugmaschinenfabrik Bräuer & Co. von 77 Beschäftigten 58 organisiert. Bei Claußner in Harthau waren es 40 von 88, bei Oscar Ehrlich 120 von 145, bei Revoigt 153 von 325, in den Presto-Werken 261 von 440 und bei Escher mindestens 256 von 416.109 Gleiches lässt sich auch für die Eisengießerei Castan (132 von 146), die Werkzeugmaschinenfabriken Junghans & Andrä (119 von 145) sowie Langer & Co. (42 von 50) oder die Holzbearbeitungsmaschinenfabrik Krauß & Röber (33 von 49) festhalten.110 Doch auch bezogen auf die gesamte Chemnitzer Metallindustrie machte sich in den Jahren nach der Jahrhundertwende ein rascher Anstieg der betrieblichen Organisationsgrade bemerkbar. So lässt die Aufstellung, die die Verwaltungsstelle Chemnitz 1913 in der Metallarbeiter-Zeitung veröffentlichen ließ und die den Zusammenhang zwischen Organisationsgrad und Arbeitszeit verdeutlichen sollte, darauf schließen, dass in den meisten Metallbetrieben der Stadt mehr als die Hälfte der Arbeiter organisiert war (Tab. 10). 111
Tab. 10: Organisationsgrade der Chemnitzer Metallbetriebe 1913 nach Betriebsgröße Betriebe
Beschäftigte
Stunden
Organisiert sind
3
20
50 – 5 2
12 = 60 %
14
2247
52,5 – 5 4
1311 = 57,9 %
204
9725
54,5 – 5 6
6563 = 67,4 %
147
11.676
56,5 – 5 8
5886 = 50,4 %
53
9614
58,5 – 6 0
4951 = 51,4 %
6
489
über 60
258 = 52,7 %
427
33.771
–
18.981 = 56,2 %
Da der Organisationsgrad der Betriebe auch den Unternehmern in etwa bekannt gewesen sein dürfte, wurden besonders Leiter kleiner und mittelgroßer Werke im Anbetracht der Lage dazu gezwungen, den Vertretungsanspruch des DMV zumindest implizit anzuerkennen. Ein solches Verhältnis, bei dem man sich nicht mochte, aber notwendigerweise nebeneinander existierte und größeren Konflikten 109 Diese Angaben ergeben sich aus den Informationen zu den Bewegungen ohne Arbeitseinstellung. Sie sind eine Subtraktion der beteiligten Organisierten von der Belegschaftsstärke. Vgl. Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1912, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1913, S. 26. 110 Vgl. ebd., S. 31 f. 111 Vgl. Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 31 (1913) 6, S. 44.
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aus dem Weg ging, herrschte auch bei der Firma Richard Gäbel in Dresden. Einer der Arbeiter erinnerte sich: Durch alte Kollegen (Erhardt Sieber, Johann Hahnemann usw.) wissen wir aber, daß um die Jahrhundertwende eine verhältnismäßig gute gewerkschaftliche Organisation bestand. Solange es Herrn Gäbel nicht zu sehr an seinen Geldbeutel ging, war ein gegenseitig erträgliches Verhältnis zu verzeichnen. Herr Gäbel bezahlte seine Leute besser als andere Betriebe, schon deswegen, da er in ewiger Opposition zu seinen eigenen Kreisen stand. Er war ein intelligenter Querkopf und sehr rechthaberisch. Das bedeutet also, daß sich auch in dieser Zeit, bis 1918, nichts besonders hervorragend Gewerkschaftliches und Politisches abspielte. Die einzige wertvolle Leistung bestand darin, daß man auf eine gute gewerkschaftliche Organisation achtete.
Das hohe Maß an Normalität in den betrieblichen Beziehungen, welches sich in dieser Erinnerung widerspiegelt, dürfte für ähnlich große Unternehmen zur gleichen Zeit auch in Chemnitz repräsentativ gewesen sein und erklärt die geringe Streikintensität bei einem vergleichsweise hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. In großen Maschinenfabriken mit mehr als eintausend Arbeitern 112 ging man dagegen meist auf andere Weise miteinander um: Auf Grund der leichteren Ersetzbarkeit und der größeren finanziellen Ressourcen ließen es die Unternehmer hier eher auf Gegenwehr ankommen, entließen Vertrauensmänner,113 maßregelten agitierende Arbeiter und konnten generell einen innerbetrieblichen Disziplinanspruch eher durchsetzen. Sie lehnten es bis 1914 auch meistens ab, mit dem DMV in direkte Verhandlungen zu treten, und versuchten, der Installation von Arbeiterausschüssen entgegenzuwirken.114 Während diese Methoden oft rein abwehrend ausgerichtet waren, ging man mit der Gründung „gelber“ Werkvereine aber noch einen qualitativen Schritt weiter und setzte dem DMV damit ein betriebliches Sinnbildungsangebot entgegen. Vor 112 1911 waren dies in Chemnitz Hartmann, Zimmermann, Haubold, Reinecker, Wanderer, Kappel, Schubert & Salzer, Louis Schönherr und Germania. Vgl. Freytag, Der Chemnitzer Maschinenbau, S. 133 – 174. 113 Vgl. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1911, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1912, S. 1255. 114 Laut einer Befragung des Vereins deutscher Maschinenbauanstalten zu den Arbeiterausschüssen (1905) fürchteten die Unternehmer vor allem, dass sich die Gewerkschaft über die Ausschüsse ein betriebliches Standbein verschaffen könnte. Vgl. Koopmann, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 155. In der Folge versuchten die Arbeitgeber immer wieder, die Bildung und Besetzung der Ausschüsse zu torpedieren oder zweckzuentfremden. Vgl. Geschäfts-Bericht für Jahr 1908, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1909, S. 1180 f.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
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allem bei Hartmann, in der Sächsischen Webstuhlfabrik, bei Haubold, Reinecker und Kappel konnten unter dem Deckmantel der Freiwilligkeit auf diese Weise betrieblicher Gegendruck aufgebaut und die finanziellen Ressourcen der Arbeitgeber geschickt kanalisiert werden. In der Verbindung von attraktiven Vergünstigungen, einer antigewerkschaftlichen Pressearbeit und massivem persönlichen Druck versuchte man, die Arbeiter „mit Zuckerbrot und Peitsche“ vom DMV zu entfremden.115 Die bis in den Ersten Weltkrieg hinein anhaltenden Beschwerden des Chemnitzer DMV über die „Gelben“ bei Hartmann beweisen, dass das Unternehmen dadurch in der Lage war, die gewerkschaftliche Erfassung der Arbeiterschaft wenn nicht zu verhindern, so doch zumindest erheblich zu verzögern. Auf längere Sicht änderten aber weder Werkvereine noch Unterstützungseinrichtungen und Gratifikationen etwas an der Tatsache, dass sich das Werkstattvertrauensmännersystem auch dort eindrang und der betriebliche Einfluss des DMV vergrößerte. Spätestens nach den erfolgreichen Streik- und Aussperrungsbewegungen des Jahres 1911 erhöhte sich der Organisationsgrad selbst in den großen Werken und reichte bald an jenen der Mittelbetriebe heran. So hieß es für die Firma Reinecker noch 1907: „Hier steht die Mehrzahl der Arbeiter der Organisation feindlich gegenüber und Versammlungen besuchen sie nicht. Im Betrieb ist alles streng und zuchthausmäßig geordnet.“ 116 Dagegen machte man im DMV 1912 mehr als deutlich, wie sich die Verhältnisse und auch die Erwartungshaltung geändert hatten: Bei einer gut besuchten Werksversammlung der Reinecker-Arbeiterschaft forderte man die Belegschaft dazu auf, für Lohnerhöhungen einzutreten, und machte für den Fall des Misserfolgs den Anteil unorganisierter Arbeiter verantwortlich. Diesen bauschte man rhetorisch immens auf, „denn nach der aufgenommenen Statistik sind 35 Prozent der Arbeiter dieses Werkes noch nicht organisiert“.117 Dass eine solche Erhöhung des Organisationsgrades möglich war und den Ortsbeamten immer noch als ausbaufähig erschien, hatte viel mit dem seit der Jahrhundertwende gestiegenen Ansehen und Selbstvertrauen der Gewerkschaftssekretäre und Werkstattvertrauensmänner zu tun. Dazu trug der unschlagbare Vorteil des betrieblichen Ansatzes erheblich bei, den man ab 1912 noch um ein Werkstattvertrauensmännersystem für die jugendlichen Arbeiter erweiterte.118 Denn man bezog sich durch die Werkstattversammlungen und Vertrauensmänner nicht nur auf die täglichen Probleme, Ängste und empfundenen Ungerechtigkeiten der Arbeiter; man machte den Metallarbeiter-Verband auch als Vertretung erfahrbar und suchte den direkten Kontakt zur Ebene der Arbeit. Dabei gelang es in Chemnitz 115 116 117 118
Vgl. Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1912, S. 3 – 6. Geschäftsbericht für das Jahr 1907, S. 1176. Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 30 (1912) 17, S. 137. Vgl. Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1912, S. 7.
200
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
häufig, die bestehende Unzufriedenheit zu bündeln und in eine Bahn zu leiten, die sie gewerkschaftlich nutzbar machte und den Arbeitern gleichzeitig glaubhaft versicherte, ihre Interessen auch in deren Sinne zu vertreten. Und obgleich man auch oft nichts erreichte, besaßen doch der Akt der Kommunikation selbst, das Sich-gemeinsam-Einfinden und Diskutieren eine solidarische Funktion, die im Hinblick auf die Adhäsion gewerkschaftlichen Bewusstseins nicht unterschätzt werden sollte. Das Gefühl gegenseitigen Respekts und Verständnisses band auf diese Weise viele Chemnitzer Metallarbeiter an den DMV. In den Werkstattversammlungen bekamen sie ein Forum für ihre Fragen und Meinungen und erhielten die Möglichkeit, ihre Interessen (wenn auch in sehr gemäßigter Art und Weise) vor einer Gruppe ebenso Betroffener zu formulieren. Dementsprechend eng kreisten die Themen der Versammlungen um den betrieblichen Rahmen: Bei einer Werksversammlung der Wanderer-Werke erschienen 1908 800 Arbeiter, vor denen der Chemnitzer DMV -Sekretär Strobel über als willkürlich empfundene Entlassungen und Lohnreduktionen sprach. In der nachfolgenden Diskussion trafen weitere Kollegen ein, die gerade erst von der Arbeit kamen und die Beiträge um die neuesten Entwicklungen erweiterten. Der Charakter der Werksversammlungen, am „Puls der Zeit“ zu sein, wurde dadurch noch verstärkt. Auch als sich der Fokus der Diskussion zu verschieben begann und die mangelnden technischen Fähigkeiten der Meister, die Behandlung durch ehemalige und nun aufgestiegene Kollegen und einige amüsante Zoten in den Mittelpunkt rückten, griff Strobel nicht ein, sondern merkte die eigene Position eher an 119 – die Intention, gewerkschaftliche Programmatik live zu implementieren, ließ einen schnellen Abbruch bei offensichtlich akuten Arbeiterinteressen nicht sinnvoll erscheinen. Erst auf diese Weise konnte das Bild eines interessierten Zuhörers und ehrlichen Maklers entstehen, das Arbeiter über die Unterstützungsleistungen hinaus zu einem langfristigen Mitglied machte. 4.2.2 Mitgliederentwicklung und Ausbau außerbetrieblicher Anschlussfähigkeit
Zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg konnte der DMV in Chemnitz eine bemerkenswerte Mitgliederentwicklung verzeichnen, die den örtlichen Verband 1910 sogar noch vor die Verwaltungsstellen Dresden und Leipzig katapultierte.120 Bis zum Kriegsausbruch wuchs der Mitgliedsbestand kontinuierlich, stagnierte nur kurz in den Jahren 1907/08 und 1912/13 und veränderte dadurch 119 Vgl. Korrespondenzen. Chemnitz, in: MAZ 26 (1908) 30, S. 237 f. 120 Im Geschäftsbericht des Jahres wies man stolz auf diesen Sachverhalt hin, der gemessen an der Größe der Stadt in der Tat beachtlich war. Vgl. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1910,
201
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
den Charakter des Chemnitzer DMV von einer kleinen, punktuell erfolgreichen Gewerkschaft zu einem einflussreichen Großverband (Tab. 11). Bei dieser Entwicklung fällt einerseits auf, dass die Mitgliedszahlen auch hier in konjunkturell günstigen Jahren wesentlich rasanter stiegen als in Rezessionsphasen. Andererseits schien der DMV seit etwa 1912 einen Punkt erreicht zu haben, an dem sämtliches Beitrittspotential abgeschöpft war und die Organisationszahlen nur noch unwesentlich verbessert werden konnten. Tab. 11: DMV-Mitglieder in Chemnitz 1900 – 1913
121
Geschäftsjahr
Mitgliederbestand am Jahresende
Davon weibliche Mitglieder
Davon jugendliche Mitglieder (m und w)
1900
1724
3
0
1901
2120
5
0
1902
3080
2
0
1903
4560
6
0
1904
4927
6
0
1905
6454
12
0
1906
8878
49
0
1907
10.922
64
0
1908
10.841
55
218
1909
11.438
59
343
1910
14.250
104
707
1911
16.439
196
867
1912
17.965
183
819
1913
17.902
196
655
Hinzu kam, dass der DMV vor 1914 über beinahe keine Anziehungskraft für Arbeiterinnen verfügte. Sie stellten nur knapp mehr als ein Prozent der Chemnitzer Mitglieder.122 Dies war aber auch dem Umstand geschuldet, dass die Beschäftigung von Frauen in der Maschinenindustrie noch selten war. Den Weg in die männlich dominierte Facharbeiterschaft der Betriebe fanden sie nur vereinzelt. Erst im Zuge der Umstellungen durch die Kriegsproduktion rekrutierten sich größere herausgegeben von der Verwaltungsstelle Chemnitz des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Chemnitz 1911, S. 1308. 121 Vgl. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1914, S. 36. 122 Dieser Befund steht in eklatantem Gegensatz zur Entwicklung des Gesamtverbandes, wo 1912 bereits 18,75 Prozent der Mitglieder Arbeiterinnen waren. Der DMV in Zahlen, S. 125.
202
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Teile der Arbeiterschaft aus Frauen, wodurch man sich im Chemnitzer DMV auch Gedanken über deren Organisation machte. Anders gestaltete sich die Situation bei den jugendlichen Arbeitern, nachdem deren Organisation durch das Reichsvereinsgesetz in Sachsen erstmals straffrei wurde: Durch einen breiten Ausbau der Angebote, etwa die Vertretung durch ein eigenes Werkstattvertrauensmännerwesen oder Freizeitaktivitäten, entwickelte sich die Chemnitzer Verwaltungsstelle seit 1908 schnell zu einem Vorreiter in Sachen Jugendarbeit.123 Innerhalb von vier Jahren gelang es auf diese Weise, die Zahl der Jugendlichen im Verband zu vervierfachen, bis ihr Anteil 1911 in etwa 5 Prozent entsprach. Parallel zum rasanten Mitgliederwachstum veränderte sich auch die berufliche Zusammensetzung der Organisierten (Tab. 12). Dabei lassen sich sowohl der betriebliche Wandel im Kontext des „zweiten Umbruchs in der Fertigungstechnik“ als auch die gestiegene Fähigkeit des DMV veranschaulichen, breitere Kreise der Metallarbeiterschaft zu erreichen. Tab. 12: Prozentualer Anteil einzelner Berufe 124
an der Chemnitzer DMV-Mitgliedschaft 1907 – 1913 Beruf
1907
1908
1909
1910
1911
1912
1913
Schlosser (in %)
25,6
25,4
23,9
26,6
26,4
27,3
25,7
Dreher (in %)
18
18
18
17,2
16,5
16,5
15,6
Former (in %)
11,6
11,7
10,7
9,7
9,2
8,4
8
Sonstige Angelernte (in %)
23,3
24,1
25,6
24,6
24,5
24,9
23
Nichtmetallarbeiter (in %)
3,3
1,2
1,3
3,6
5,8
–
5,6
Gießereihilfsarbeiter (in %)
3,3
–
–
3,7
5,1
5
5
Klempner (in %)
2,5
2,6
3,1
2,7
2,7
2,8
2,7
Schmiede (in %)
–
2,2
1,9
1,9
1,9
4,3
3,8
Schleifer (in %)
2,8
2,8
2,4
2,5
2,8
2,7
2,6
Nadelarbeiter (in %)
2,5
3
2,5
2,2
2
2
2
So bildeten die dominanten Berufe der handwerklichen Phase zwar immer noch mehr als die Hälfte der Mitgliedschaft, doch es ergaben sich langsame Verschiebungen. Entsprechend ihrer industriellen Bedeutung blieben die Schlosser dabei die zu jeder Zeit wichtigste Mitgliedsgruppe, indem ihr Anteil stabil um 25 Prozent 123 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1910, S. 46. 124 Zusammenstellung des Verfassers nach Geschäftsbericht für das Jahr 1907, S. 1165; GeschäftsBericht für das Jahr 1908, S. 1188 f.; Geschäfts-Bericht für das Jahr 1909, S. 1416; GeschäftsBericht für das Jahr 1910, S. 1347; Geschäfts-Bericht für das Jahr 1911, S. 1284; Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1912, S. 57 f.; Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1913, S. 1236.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
203
schwankte. Gemeinsam mit den Drehern, der zweiten zentralen Facharbeitergruppe des Maschinenbaus, stellten sie bis 1913 in etwa 40 Prozent der Chemnitzer DMV -Mitglieder. Trotz absoluter Zuwächse waren dagegen die Former für die Zusammensetzung der Organisierten immer weniger wichtig, da ihr Anteil relativ zügig von 11,6 Prozent auf 8 Prozent sank, während sich der Anteil der Gießereihilfsarbeiter vor allem durch die Streiks und Aussperrungen im Gießereigewerbe (1911) leicht erhöhte. Im Gegensatz zu diesen Verschiebungen blieb das Kontingent der organisierten Klempner und Schmiede konstant niedrig und pendelte zwischen 2 und 3 Prozent. Der mit dem Übertritt des Berufsverbandes der Schmiede verbundene Anstieg des Anteils der Schmiede (1912) begann sich im darauffolgenden Jahr bereits wieder zu reduzieren. Der verglichen mit der handwerklichen Phase größte Unterschied betraf die Bedeutung der „sonstigen“ Arbeiter, unter denen sich vor allem angelernte Arbeiter wie Bohrer, Fräser, Stoßer und Hobler befanden. Zwischenzeitlich machten sie sogar mehr als ein Viertel der Organisierten aus und stellten damit mehr Mitglieder als die Schlosser (1909).125 Ihr Bedeutungsgewinn war dabei Sinnbild des Umbruchs, der immer mehr angelernte Maschinenarbeiter erforderlich machte, und zeigte außerdem, dass es der DMV in Chemnitz in kurzer Zeit vermochte, diese wachsende Gruppe in großem Stile zu organisieren.126 Die Mitgliederstruktur des DMV ist auf unterschiedliche Weise gedeutet worden. So wies Martens ausgehend von einem technologischen Wandel um die Jahrhundertwende auf Folgendes hin: Der Deutsche Metallarbeiter-Verband war maßgeblich von solchen Arbeitergruppen ins Leben gerufen worden, die von der technologischen Entwicklung profitierten, sei es, daß sie als Facharbeiter hochqualifizierte Arbeit an und mit Maschinen verrichteten, sei es, daß sie als angelernte Arbeiter erstmals eine gewisse berufliche Qualifizierung erfuhren. Überspitzt formuliert kann der DMV damit als eine Organisation der „Rationalisierungsgewinner“ bezeichnet werden.127
125 Bezieht man die ausgegliederten Schleifer noch mit in diese Gruppe ein, erhöht sich deren Bedeutung noch weiter. Als eine der zentralen Berufsgruppen für den Austauschbau wurde deren Tätigkeit scheinbar vermehrt zu einem Ausbildungsberuf, weshalb sie von der Verwaltung separat geführt wurden. 126 Aber auch hier existierten enorme Unterschiede zum Gesamtverband: Während der Anteil der Schlosser und Former in etwa jenem der Chemnitzer Verwaltung entsprach, lag der Anteil der Dreher in Chemnitz sechs bis acht Prozentpunkte und der Anteil der „Sonstigen“ sogar zwanzig Prozentpunkte höher. Der DMV in Zahlen, S. 125. 127 Martens, Das Dilemma des technischen Fortschritts, S. 289.
204
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Nur wenige Jahre zuvor war dagegen Boch in seiner Studie zu den Solinger Metallarbeitern zu einem ganz anderen Urteil über den Zusammenhang von Organisationsentwicklung und technisch-organisatorischem Wandel gekommen: Obwohl es keine historische Untersuchung darüber gibt, steht zu vermuten, daß der DMV im Laufe seines phänomenalen Aufstiegs als Gewerkschaft tatsächlich immer stärker zum Repräsentanten jener Arbeiterschichten wurde, die in einem Prozeß der Entwertung ihrer Arbeitsfertigkeiten standen oder als neue Arbeiterschichten niemals exklusive Arbeitsfertigkeiten besessen hatten. Zumindest kann behauptet werden, daß der DMV als eine nach dem Industrieverbandsprinzip organisierte, auf das „Gewicht der Masse“ setzende Gewerkschaft besonders für jene Berufsgruppen attraktiv war, die ihre Arbeitsfertigkeiten als Grundlage ihrer traditionellen gewerkschaftlichen Kampfkraft einzubüßen begannen oder zuvor nicht „gewerkschaftsfähig“ waren.128
Während Martens im Hinblick auf die DMV -Entwicklung den technisch-organisatorischen Wandel eher als Erfolgsgeschichte einer entstehenden industriellen Facharbeiter- und Angelerntenschicht interpretiert, verweist Boch bei derselben Gruppe stärker auf den Verlust von Arbeitsfertigkeiten und damit auf die abnehmende handwerkliche Bedeutung. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen unterscheiden sich beide Ansätze daher auch nur graduell, weil sie neben der Bedeutung der Ausbreitung der Maschinenarbeit für den DMV, die beide betonen, entgegengesetzte Blickwinkel auf zwei Faktoren eines Prozesses einnehmen. Um den sich wandelnden Zuspruch einzelner Arbeitergruppen für den DMV und damit die Mitgliederstruktur zu erklären, reicht dementsprechend keine der Interpretationen aus. Vielmehr muss beiden eine deutliche Einseitigkeit im Verhältnis von Mitglied und Organisation attestiert werden, da jeweils versucht wird, Mitgliedschaft bloß aus dem Wandel von Qualifikationen und Berufsbewusstsein abzuleiten. Es steht aber zu vermuten, dass eine bestimmte Ausprägung dieser Merkmale noch lange nicht zu einem Gewerkschaftsbeitritt prädestinierte. Denn selbst wenn wie im Maschinenbau vorgewerkschaftlich-solidarische Strukturen am Arbeitsplatz vorhanden und die Qualifikationsniveaus hoch waren, organisierten sich die Arbeiter nicht naturwüchsig ohne jeglichen Einfluss gewerkschaftlichen Handelns. Bestimmte Merkmale im Betrieb mussten gewerkschaftlich erkannt, beeinflusst, transformiert und schließlich in Belegschaftshandeln kanalisiert werden. Darüber hinaus war der DMV darauf angewiesen, dass der Sinn und Nutzen der Organisation vor Ort erklärt, veranschaulicht und auch eingeübt wurde.
128 Boch, Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft, S. 177.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
205
In dieser Hinsicht ist der Umstand, dass der DMV bis 1900 fast ausschließlich aus qualifizierten Arbeitern und Handwerkern bestand und sich dieses Bild nach der Jahrhundertwende massiv um die Angelernten erweiterte, nicht nur aus Umwälzungen in Arbeit und Betrieb herzuleiten – er ist auch ein Resultat des erweiterten Schwerpunkts gewerkschaftlicher Agitation und Vertretung. Mit der Hinwendung zum Betrieb erfasste diese Agitation nun erstmals jene Arbeiter, die aus dem handwerklichen Verständnis heraus zuvor nicht „gewerkschaftsfähig“ gewesen waren. Um diesen Ansatz auf die Mitgliedsstruktur des Chemnitzer DMV zu übertragen, kann geschlussfolgert werden, dass der Anteil, den jede Berufsgruppe an der Gesamtmitgliedschaft innehatte, nicht per se aus dem Gewinn oder Verlust von Arbeitsfertigkeiten, beruflichem Spielraum oder Ansehen resultierte. Viel eher war er ein Ausdruck für die Reichweite und den Erfolg gewerkschaftlichen Handelns auf der Betriebsebene, dessen Markscheide nicht zwischen Qualifikationen, sondern zwischen den betrieblichen Sozialbeziehungen unterschiedlicher Betriebsgrößen und Produktionssparten verlief. So war es beispielsweise möglich, dass sich ein Dreher in der Sächsischen Maschinenfabrik vorm. Richard Hartmann AG nicht organisierte, weil die innerbetrieblichen Bedingungen dieses Großbetriebs eine Beeinflussung der Arbeiter durch den DMV unmöglich machten oder ihm eine Werkvereinsmitgliedschaft lukrativer erschien, während sich ein Berufskollege, der in der mittelgroßen Fabrik Oscar Ehrlich viel monotonere und simplere Drehaufträge erhielt, zum Beitritt entschied, weil die gewerkschaftliche Verankerung im Betrieb dies sozial nahelegte. Um es zugespitzt zu formulieren: Die Zugehörigkeit zum hochqualifizierten Dreherberuf war für eine Organisation nur bedingt entscheidend – es kam darauf an, ob es dem DMV gelang, einem Dreher glaubhaft zu versichern, für seine Lage Verständnis und seine Interessen einen ehrlichen und erfolgreichen Makler gefunden zu haben. Wo dieses Wechselverhältnis betrieblicher Voraussetzungen und gewerkschaftlicher Anschlussfähigkeit gelang, konnte der DMV Organisationserfolge verzeichnen. Dass der Chemnitzer DMV in dieser Hinsicht bis 1914 sehr erfolgreich war, beweist der Blick auf die Mitgliederzahlen der übrigen Metallarbeitergewerkschaften. Kein anderer Verband konnte hier auch nur annähernd so viele Metallarbeiter organisieren wie der DMV (Tab. 13).
206
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
129
Tab. 13: Andere Metallarbeitergewerkschaften in Chemnitz (1912) Ortsverband Deutscher Gewerkvereine
1100 Mitglieder
Evangelischer Arbeiterverein
1800 Mitglieder
Katholischer Arbeiterverein
250 Mitglieder
Verein erwerbstätiger katholischer Frauen und Mädchen
150 Mitglieder
Chemnitzer Arbeiterverein I. P. (Freisinn)
200 Mitglieder
Ortsgruppe christlich-nationaler Metallarbeiter
50 Mitglieder
„Gelbe“ Werkvereine der Unternehmen
Bei Hartmann etwa 2600 Mitglieder bei 5000 Arbeitern
Im Vergleich zum Ruhrgebiet machte es sich dabei vor allem bemerkbar, dass sich gewerkschaftliches Handeln in Chemnitz scheinbar schwieriger mit konfessionellen Faktoren verbinden ließ. So verfügte der evangelische Arbeiterverein zwar über beträchtliche 1800 Mitglieder, konnte den DMV aber nie so erfolgreich herausfordern wie der CMV unter den Eisen- und Stahlarbeitern. Auch kam der katholische Arbeiterverein angesichts der quasi monokonfessionellen Struktur des Königreichs Sachsen mit 250 Mitgliedern nicht über ein Schattendasein hinaus. Gleiches galt, bis auf den liberalen Hirsch-Duncker’schen Ortsverband Deutscher Gewerkvereine mit 1100 Mitgliedern, auch für die übrigen Chemnitzer Metallarbeitergewerkschaften. Einzig die von den Unternehmen protegierten „gelben“ Werkvereine konnten, indem sie ein betriebszentriertes Vorgehen mit Zwangsmaßnahmen verbanden, ein wirkliches Gegengewicht zum DMV bilden. Arbeiter-Sekretariat und Arbeiter-Auskunftsbüro
Der Aufstieg des Chemnitzer DMV, in dem 1913 etwa 60 Prozent der Metallarbeiter organisiert gewesen sein dürften, lässt sich nicht ausschließlich mit dem erfolgreichen betrieblichen Vorgehen des Verbands erklären. Im Kontext des Gewinns von Anschlussfähigkeit an Arbeiterverhalten und Arbeiterinteressen muss dazu auch der Ausbau außerbetrieblicher Kontaktmöglichkeiten, Vertretungs- und Hilfsangebote analysiert werden. Zu den meistbesuchten und geschätzten Institutionen in Chemnitz gehörte diesbezüglich das Arbeiter-Auskunftsbüro, das 1905 zum Arbeiter-Sekretariat umgewandelt und vom Gewerkschaftskartell der Stadt betrieben 129 Vgl. Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, Bericht über die politische und gewerkschaftliche Bewegung in Chemnitz 1912, Chemnitz 1913, in: HStA Dresden, 10736, Nr. 11064, Bl. 253. Auf Grund der antigewerkschaftlichen Stellung der Chemnitzer Polizei und ihrer Zusammenarbeit mit den Industriellen kann diesen Zahlen nur unter Vorbehalt getraut werden.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
207
wurde. Der spätere Reichsarbeits- und Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissell,130 der dem Lübecker Arbeiter-Sekretariat bis 1908 angehörte und danach im Berliner Zentralarbeitersekretariat arbeitete, äußerte sich über die Bestimmung dieser Beratungsstellen später folgendermaßen: Wir haben heute noch keine Arbeitersekretariate wieder aufbauen können. Und mancher der jungen Leser wird sich kaum eine Vorstellung von ihrer Wirksamkeit machen. Sie waren nicht geschaffen, um gewerkschaftliche oder politische Agitation zu treiben, sondern sollten der minderbemittelten Bevölkerung in den Nöten des täglichen Lebens, in gewerblichen Angelegenheiten, über die Sozialgesetzgebung, Arbeiterschutz und Versammlungsrecht, in zivilen und strafrechtlichen Angelegenheiten, in Unterstützungs- und Armensachen usw. usw. Auskunft erteilen und dazu notwendige Schriftsätze anfertigen. Die Erfüllung dieser Aufgaben erforderte natürlich strengste Objektivität, das heißt, auch strikte Ablehnung jeder Unterstützung unlauterer Vorhaben oder rechtlich unhaltbarer Maßnahmen. Wenn aber das Recht auf seiten der Rechtssuchenden war, da durfte keine Mühsal groß genug sein, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen.131
Trotz des Gebotes der juristischen Objektivität merkte man aber auch in Chemnitz relativ schnell, dass die Arbeit des Sekretariats nicht rein altruistischer Natur war, sondern auch dem agitatorischen Selbstzweck der Verbände zugutekam.132 So hielt das Gewerkschaftskartell bereits 1902 fest, dass „wie schon im vorjährigen Bericht betont wurde, […] auch in diesem Jahre durch das Auskunftsbureau den Gewerk-
130 Rudolf Wissell (1869 – 1962) war nach einer Dreher- und Maschinenbauerlehre sowie Wanderschaft (1883 – 1887) seit 1888 Mitglied der SPD und des Schlosser- und Maschinenbauerfachvereins in Kiel, dessen Vorsitzender er 1889 wurde. Von 1894 bis 1899 leitete er die Zahlstelle Kiel des DMV und war zwischen 1901 und 1908 Arbeitersekretär in Lübeck und leitete danach für zehn Jahre (1908 – 1918) das Zentralarbeitersekretariat in Berlin. 1918/19 war er Zweiter Vorsitzender der Generalkommission sowie Volksbeauftragter für Wirtschaftspolitik, 1919 wurde er für sechs Monate Reichswirtschaftsminister und arbeitete von 1920 bis 1923 im ADGB-Bundesvorstand. Während der Weimarer Republik zählte er zu den prominenten Schlichtern. Zwischen 1928 und 1930 war er Reichsarbeitsminister. Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, S. 224 f. 131 Rudolf Wissell, Aus meinen Lebensjahren, mit einem Dokumenten-Anhang herausgegeben von Ernst Schrapler, Berlin 1983, S. 70 f. Zur Rolle und Karriere der Arbeitersekretäre siehe auch Klaus Tenfelde, Arbeitersekretäre. Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914. Erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Autor am 19. 11. 1992 an der Universität Heidelberg gehalten hat, Heidelberg 1993. 132 Vgl. Martin Martiny, Die politische Bedeutung der gewerkschaftlichen Arbeiter-Sekretariate vor dem Ersten Weltkrieg, in: Heinz Oskar Vetter (Hrsg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 153 – 174.
208
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
schaften Mitglieder zugeführt worden [sind]“.133 Und auch später gelang es in einigen Fällen, „die Auskunftssuchenden ihren Organisationen zuzuführen“.134 Dass es sich dabei allerdings um einen steinigen Weg handelte, der die Sekretäre nicht selten an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit führte, machte so gut wie jeder Bericht des Sekretariats deutlich. Der persönliche Druck reichte sogar bis zur offiziellen Bitte, von der Aufgabe als Arbeitersekretär entbunden zu werden,135 wozu das Verhalten der Auskunftssuchenden nicht unerheblich beitrug: Die Sekretäre bemängelten zum Beispiel, dass ihnen fast nie die Ergebnisse ihrer Arbeit mitgeteilt wurden, dass die Besucher ständig außerhalb der Öffnungszeiten erschienen und der Beratung auch oft mit Unverständnis begegneten.136 Unter diesen Bedingungen auch noch überzeugend für den Verbandsbeitritt zu werben erschien den Gewerkschaftern als individuelle Mammutaufgabe, die noch dadurch erschwert wurde, dass viele Arbeiter den Besuch im Sekretariat dazu nutzten, ihren Frust loszuwerden. Die Sekretäre bekamen daher auch beide Seiten eines persönlichen Vertretungsverhältnisses zwischen Organisation und Mitglied zu spüren: Während der Kontakt zu den Einzelanliegen einerseits die Motivation bestärken konnte, einer Gewerkschaft beizutreten, setzte man sich dadurch andererseits der Gefahr und Belastung aus, die volle Bandbreite individueller Meinungen und Gefühle kennenzulernen. Dementsprechend häufig attestierten die Sekretäre auch ein „großes Unverständnis und Mißtrauen gegenüber den Organisationen, in seltenen Fällen war es nur der böse Wille, der die Leute von ihren Organisationen fernhielt“.137 Der egalitäre Charakter des Arbeiter-Sekretariats 138 erhöhte für die Beratenden die Wahrscheinlichkeit, Arbeiter vertreten zu müssen, die den Verbänden und ihren Beamten verdeckt bis offen feindselig gegenübertraten: […] leider aber hat man auch noch mit einer sehr großen Anzahl vollständig Indifferenter zu tun, und es bedarf wirklich noch vieler Aufklärungsarbeit, um diese Arbeiter ihren Organisationen zuzuführen oder wieder zuzuführen. Denn es gibt auch eine ganze Anzahl
133 Bericht des Gewerkschafts-Kartell zu Chemnitz auf das Jahr 1901, herausgegeben vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz 1902, S. 22. 134 Bericht des Gewerkschaftskartells zu Chemnitz auf das Jahr 1902, herausgegeben vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz 1903, S. 5. 135 Vgl. Bericht des Gewerkschafts-Kartell zu Chemnitz auf das Jahr 1901, S. 20. 136 Vgl. Bericht des Gewerkschafts-Kartells zu Chemnitz auf das Jahr 1903, herausgegeben vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz 1904, S. 12. 137 Bericht des Gewerkschaftskartells zu Chemnitz auf das Jahr 1902, S. 5. 138 Alle Arbeiter wurden kostenfrei angehört. Allerdings wurden Mitglieder von Gewerkschaften, die in keinem Vertragsverhältnis zum Gewerkschaftskartell standen, und Unorganisierte nur mündlich und in gewerblichen Angelegenheiten beraten.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
209
Arbeiter, die entweder aus verletzter Eigenliebe oder aus rein persönlicher Antipathie gegen einzelne Beamte oder Mitglieder der Organisation dieser den Rücken kehren und schließlich dieselbe noch zu schädigen suchen.139
Nichtsdestotrotz (oder gerade auf Grund der angestrebten Objektivität und Besonnenheit) entwickelte sich das Chemnitzer Arbeiter-Sekretariat zu einer angesehenen und vielgenutzten Institution in der städtischen Arbeiterschaft. Die Beachtung, die es dabei gewann, ging selbst an bürgerlichen Kreisen nicht spurlos vorbei und veranlasste die Stadt Chemnitz 1907 dazu, ein eigenes Rechtsauskunftsbüro zu eröffnen, welches sich kritisch vom Sekretariat des Gewerkschaftskartells abgrenzte, aber nie dessen quantitative Bedeutung erlangte.140 Denn seit der Umwandlung in ein Arbeiter-Sekretariat mit eigenem Reglement (1905) explodierte die Zahl der Besucher dort förmlich und stieg bis 1913 um mehr als das Fünffache (Tab. 14). Dieser gestiegenen Arbeitsbelastung begegnete man durch die Anstellung einer Maschinenschreiberin und eines zweiten Sekretärs (ab 1910). Gleichzeitig verachtfachten sich die Kosten für das Sekretariat.141 Indes blieb die Thematik der Gesuche stabil: Die meisten Arbeiter hatten Fragen zur Unfall-, Kranken- oder Invalidenversicherung, zur Unterhaltspflicht, zum Mietrecht oder zu Lohnforderungen. Den mit Abstand größten Teil der Ratsuchenden stellten dabei immer die Metallarbeiter, die in manchen Jahren weit über 80 Prozent der Besucher ausmachten. Besonders auffällig ist auch, dass deren Organisationsgrad weit über jenem der Gesamtbesucherschaft lag und meist beinahe die Einhundert-Prozent-Marke erreichte. Dies spricht sowohl für die Wertschätzung des Arbeiter-Sekretariats als dezidiert gewerkschaftlichen Angebots unter den Chemnitzer Metallarbeitern als auch indirekt für deren hohen Organisationsgrad, der weit über solchen der Bau- und Textilbranche der Stadt angesiedelt war.
139 Bericht des Gewerkschafts-Kartells zu Chemnitz auf das Jahr 1903, S. 12. 140 Bericht für 1907. Nebst dem Bericht des Arbeiter-Sekretariats, S. 64 ff. 141 Vgl. Berichte des Gewerkschaftskartells 1905 – 1914.
210
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Tab. 14: Besucher, Organisationsgrad, Auskünfte und Anteil der Metallarbeiter im Arbeiter-Auskunftsbüro und Arbeiter-Sekretariat des Gewerkschaftskartells 142
Chemnitz 1900 – 1915 Jahr
Besucher
Gewerkschaft Organisiert in Ge Gesuche/ Davon Metallarbei lich organisiert werkschaft und SPD Auskünfte ter (organisiert)
1900
599
1901
998
569 (57 %)
409 (277/68 %)
1902
906
544 (60 %)
347
1903
1119
699 (62 %)
370
1905
2077
1585 (76 %)
1906
3234
2549 (79 %)
1907
4326
2683 (62 %)
760
4473
1867 (1821/98 %)
1908
5837
3758 (64 %)
870
6091
2624 (2506/96 %)
1909
6040
3728 (62 %)
963
6170
2680 (2564/96 %)
1910
7935
4483 (56 %)
2035
8154
3294 (3170/96 %)
1911
10.420
6204 (60 %)
2854
10.749
5188 (5125/99 %)
1912
10.952
1913
11.258
6579 (58 %)
1914
11.301
1915
9550
1904 2146
779 (709/91 %)
3274
11.255
5278
3235
11.730
5807
6694 (59 %)
2897
11.690
5406
3991 (42 %)
1736
9879
2936
Darüber hinaus weist die Statistik des Sekretariats auf eine zunehmende Verquickung gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Mitgliedschaft unter den Chemnitzer Arbeitern hin: Denn während 1907 nur 28 Prozent der Besucher sowohl von einer Gewerkschaft des Kartells als auch von der SPD ein Mitgliedsbuch besaßen, kletterte deren Anteil bis 1913 rasch auf 49 Prozent. Die sich dabei abzeichnende Verstärkung der Zusammenarbeit, die sich auch in der Doppelmitgliedschaft vieler DMV -Sekretäre niederschlug, wurde in den Jahren vor dem Weltkrieg zu einer bestimmenden Konstante in der Chemnitzer Arbeiterbewegung und sollte zwischen 1914 und 1918 enormen Einfluss auf das betriebliche wie organisatorische Geschehen nehmen.143 142 Vgl. die Berichte des Gewerkschafts-Kartells zu Chemnitz: auf das Jahr 1901 S. 21; für 1902 S. 5; für 1903 S. 12 f.; für 1905 S. 12; für 1907 S. 66 (ebenso für 1906); für 1908 S. 49; für 1909 S. 40; für 1910 S. 50; für 1911 S. 26; für 1912 S. 36 f.; für 1913 S. 34; für 1914 und 1915 S. 16. 143 Zum Verhältnis beider Strömungen der Arbeiterbewegung vgl. Hans Mommsen, Die Freien Gewerkschaften und die Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
211
Abb. 9: Das Volkshaus „Kolosseum“ im eingemeindeten Kappel
Das Volkshaus „Kolosseum“
Zu den zentralen Einrichtungen des Chemnitzer Gewerkschaftskartells, zu deren Finanzierung der DMV jeweils den Hauptanteil beisteuerte, zählte auch das Volkshaus. Ab 1907 als Herberge für wandernde Arbeiter geplant, sollten hier gleichzeitig auch die Büros der Einzelverbände sowie des Gewerkschaftskartells untergebracht werden. Nach einer zweijährigen Konzeptionsphase, in der vor allem Finanzfragen geklärt wurden und sich einige Verbände zunächst weigerten, an den Stadtrand umzuziehen, verlegten 1908 letztlich das Gewerkschaftskartell, das Arbeiter-Sekretariat, der DMV, die Verbände der Zimmerer, Buchbinder und Textilarbeiter sowie die Gauleitungen des Textil- und Zimmererverbandes ihren Sitz ins Volkshaus „Kolosseum“, das sich ganz in der Nähe der Fabrik befand, in der Göhre gearbeitet hatte.144 Neben der Herberge mit sechzig Betten und den Versammlungszimmern waren in den Sälen des Hauses nun auch Bildungs- und Vergnügungsveranstaltungen möglich. J. Mommsen/Hans-Gerhard Husung (Hrsg.), Auf dem Wege zur Massengewerkschaft, Stuttgart 1984, S. 475 – 495; vgl. Hans-Josef Steinberg, Die Entwicklung des Verhältnisses von Gewerkschaften und Sozialdemokratie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Heinz Oskar Vetter (Hrsg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 121 – 134. 144 Vgl. Bericht für 1909, S. 12.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Das dabei verfolgte Ziel, die städtischen gewerkschaftlichen Ressourcen zu bündeln, ging auch mit dem Anspruch des Kartells einher, die freien Gewerkschaften in Chemnitz als geschlossene Bewegung erscheinen zu lassen. In diesem Kontext war die Tatsache, dass nun tausende wandernde und um juristischen Rat fragende Arbeiter eine zentrale Stelle aufsuchen konnten und die Einzelverbände und deren Koordinationsstelle am selben Ort weilten, mehr als ein Akt verwaltungstechnischer Rationalisierung: Vielmehr war damit auch ein Symbol des Schulterschlusses und des Gefühls eigener Stärke und eigenen Selbstbewusstseins verbunden, das noch zwanzig Jahre zuvor kaum denkbar gewesen wäre. Gleichzeitig errichtete man in der Dresdner Straße ein neues Gebäude für die Arbeiterzeitung Volksstimme, in dem auch die SPD-Parteileitung des Reichstagswahlkreises und einige weitere Gewerkschaften untergebracht waren.145 Der luxuriöse Bau, von dem Bebel meinte, dass er vielleicht etwas zu elegant ausgefallen sei,146 verkörperte wie auch das Volkshaus einen Prozess des Umdenkens über den Platz der Arbeiterbewegung in der städtischen Gesellschaft und Industrie. Partei und Gewerkschaften waren in Chemnitz zu einem Einflussfaktor geworden, den man nicht mehr einfach übergehen konnte. In Bezug auf die Frage des Verhältnisses von Mitgliedern und Organisation war dieser Wandel höchst bedeutsam, da er nicht nur ein neues Selbstvertrauen der Verwaltungen transportierte, sondern – über die Neubauten, Veranstaltungen und Vereine – auch einen Transmissionsriemen für die Arbeiterschaft bereitstellte. Nicht nur die räumliche Symbolpolitik besaß demnach eine integrative Wirkung, auch andere Elemente täglicher Erfahrbarkeit konnten das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer selbstbewussten Klasse stärken. Den Worten Schallers, dass ein Chemnitzer Arbeiter, aus der Zeit des Sozialistengesetzes in den Juli 1914 versetzt, nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen sei, ist vor diesem Hintergrund daher zuzustimmen.147 Arbeiterkultur und Arbeiterbildung
Die Verwunderung hätte aber sicherlich auch daher gerührt, dass es in Chemnitz nun ein breites Angebot öffentlicher kultureller Veranstaltungen gab, welches zuvor ganz selbstverständlich außerhalb der proletarischen Möglichkeiten gelegen hatte. Die Einsetzung eines Bildungsausschusses durch das Gewerkschaftskartell (1907) markierte dabei einen eindeutigen Wendepunkt: Denn seitdem war es den Arbeitern beinahe jede Woche möglich, eine Kulturveranstaltung zu besuchen. Die Band 145 Vgl. Schaller, Einmal kommt die Zeit, S. 297. 146 Zitiert nach ebd. 147 Vgl. ebd.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
213
breite reichte von Theatervorstellungen und Kunstabenden bis zu wissenschaftlichen und belehrenden Vorträgen.148 Zahlreiche Vorhaben mussten erst gegen massiven Widerstand durchgesetzt werden und dürften im Moment ihrer Realisierung nicht unerheblich zum Gefühl bestätigter Genugtuung beigetragen haben. So wurden etwa die geplanten Kinderfeste 1908 mit Strafmandaten versehen, weil die Mitglieder des Lehrer- und Beamtenkörpers die Abhaltung ohne die Genehmigung der Schulbehörde beanstandeten.149 Auch wurde die Vorführung einer Oper oder Operette jahrelang verhindert, indem man dem Gewerkschaftskartell kein Gebäude zur Verfügung stellte.150 Die Beteiligung, mit der diese Aktionen schließlich dennoch stattfanden, zeigte den Verantwortlichen unmissverständlich, dass sich die Hartnäckigkeit lohnte und sie den Geschmack eines großen Teils der Arbeiterschaft trafen. Eine Ausstellung künstlerischen Wandschmucks wurde beispielsweise von mehr als dreitausend Personen besucht, von denen sich viele auch Kopien kauften (unter den Arbeitern waren vor allem die Alten Meister beliebt).151 Im selben Jahr wurden darüber hinaus neun gut besuchte Volksvorstellungen gegeben. Neben Oscar Wilde, Schiller und Lessing kam dabei Beyerleins „Zapfenstreich“ gleich zweimal zur Aufführung.152 In der Folge stieg der Publikumszuspruch sogar noch drastisch an: 1910 wurden 15 Theatervorstellungen mit etwa 12.000 Besuchern gezeigt.153 Neben der Ausdifferenzierung des Angebots von Dichterlesungen und Märchenvorträgen über Deutschkurse bis hin zu politisch-biographischen Lehrstunden 154 bemühte sich der Bildungsausschuss nun auch vermehrt um Fahrten und Reisen, die für die meisten Arbeiter ansonsten kaum erschwinglich waren. Dementsprechend groß war der Andrang: Auf die Ankündigung, eine Sonderfahrt nach Hamburg und Helgoland anzubieten, meldeten 1655 Arbeiter ihr Interesse an, sodass man sogar zwei Reisen veranstaltete.155 Vor dem Hintergrund einer mindestens sechzigstündigen Wochenarbeitszeit ohne Urlaubsanspruch dürften die fünftägigen Ausflüge für viele Teilnehmer eine bleibende Erinnerung hinterlassen haben. 148 Langewiesches Bemerkung, „Sozialistika“ hätten im „Vortrags- und Bibliothekswesen nur geringe Anteile an Lehrthemen bzw. Ausleihe“ ausgemacht, kann für Chemnitz voll und ganz zugestimmt werden. Vgl. Dieter Langewiesche, Arbeiterbildung in Deutschland und Österreich. Konzeption, Praxis und Funktionen, in: Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann (Hrsg.), Streik, München 1981, S. 440. 149 Vgl. Bericht für 1908, S. 13 ff. 150 Vgl. Bericht für 1910, S. 17 f. 151 Vgl. Bericht für 1908, S. 14 f. 152 Vgl. ebd., S. 15. 153 Vgl. Bericht für 1910, S. 17 f.; 1913 wurden sogar 18 Theatervorstellungen und eine Operette aufgeführt. Vgl. Bericht für 1913, S. 20. 154 Etwa in Form eines Clara-Zetkin-Abends. Vgl. ebd. 155 Vgl. ebd., S. 29.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Flankiert wurde die Arbeit des Bildungsausschusses von der Zielsetzung, die Bemühungen auch auf Teile des proletarischen Milieus auszuweiten, die bis dahin kaum zur Zielgruppe gehört hatten. Daher forcierte man vor allem die Jugendarbeit: In allen Chemnitzer Stadtteilen wurden „künstlerische und belehrende Vorträge“ gehalten, der Aufbau einer Bezirksjugendbibliothek und von Ortsjugendbibliotheken intensiviert und Jugendheime ins Auge gefasst.156 Dass bei den Jugendveranstaltungen, wozu ebenfalls Ausflüge und Unterhaltungsabende gehörten, verstärkt der pädagogische Anspruch des Ausschusses verfolgt wurde, zeigt etwa die Regel, dass Tabak und Alkohol dabei zu jeder Zeit verboten waren.157 Zur Erweiterung des Einflussbereiches griff man aber auch gerne auf Kinderfeste zurück, deren Bedeutung für die Agitation und die Verbindung „oberflächlicher Interessen mit denen der Partei“ und Gewerkschaft bereits Paul Göhre erkannt hatte: Wer durch den Ernst des politischen Parteigedankens nicht gefesselt werden kann, soll durch die Freude an heiterer Geselligkeit und allerhand amüsanter Unterhaltung für die Partei gewonnen werden und so allmählich auf diesem leichten und lustigen Wege sozialdemokratischen Geist einsaugen. Indem man den Kindern Freude macht, gewinnt man die Herzen der Mütter; indem man daneben ein Tänzchen arrangiert, bringt man die nur auf Vergnügen gerichtete männliche und weibliche Jugend, dieser selbst unbewußt, mit der sozialdemokratischen Bewegung in Berührung und verknüpft ihre doch so ganz anders gearteten oberflächlichen Interessen mit denen der Partei.158
Die Anziehungskraft ergab sich dabei besonders durch das Ansprechen der Frauen und Mütter, die ihre Kinder zu den Veranstaltungen brachten und nach bestimmter Zeit wieder abholen konnten. In der Zwischenzeit hätten sie, so der Ausschuss, genügend Zeit, um den „häuslichen Pflichten“ 159 nachzugehen – nicht wenige Mütter werden die seltene freie Zeit aber auch als willkommene Verschnaufpause begrüßt haben. Die Beteiligung an den Kindervorstellungen (in Sonnenberg erschienen 1700 bis 2000 Kinder pro Vorstellung) weist auf deren breite Akzeptanz hin und eröffnete den Gewerkschaften die Chance, pädagogische Kinder- und Jugendarbeit mit einem Kernanliegen der Arbeiterfrauen zu verbinden. In solchen Situationen beiderseitigen Gewinns generierte man seitens der Gewerkschaften nicht nur lebensweltliche Erfahrbarkeit von Kindesbeinen an – sie waren auch geeignet, um an die Frau als das entscheidende Mitglied der Arbeiterfamilien heranzukommen. Obwohl der Gewinnung der Arbeiterfamilie noch bei weitem nicht die Bedeutung 156 157 158 159
Vgl. Bericht für 1909, S. 10. Vgl. ebd. Göhre, Drei Monate, S. 97. Bericht für 1911, S. 14.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
Abb. 10: Ein typisches Monatsprogramm der Jugendabteilung des DMV in Dresden
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
beigemessen wurde, die ihr während der 1920er Jahre zukam, zeigten sich hier dennoch die ersten Anzeichen einer Erweiterung des Agitationsrahmens. Mit der langsamen Einschleusung eines Nützlichkeitsgedankens, der über die rein finanziellen Belange einer Gewerkschaftsmitgliedschaft hinausging, gedachte man, den Gewerkschaftsgedanken auf der häuslichen Ebene zu festigen. Denn indem die Frau eines Arbeiters gewonnen wurde, konnte persönlicher Druck auf diesen ausgeübt werden. Wenn auch nur als Mittel zum Zweck und unter dem Blickwinkel eines emotionalen, einseitig auf finanzielle Vorteile ausgerichteten Frauenbildes geriet die Arbeiterfrau auf diese Weise als Bindeglied zur eigentlichen Zielgruppe in den Fokus gewerkschaftlichen Nachdenkens und Handelns. Wie einfach man sich die Sache im DMV verglichen mit den 1920er Jahren dabei allerdings noch machte, verriet der Chemnitzer Sekretär Riemann, als es auf der Generalversammlung 1903 um die Frage der Einführung der Krankenversicherung ging: Wir haben in Deutschland, namentlich in Sachsen, eine Unmenge Militärvereine, unsere zielbewußten Arbeiter sind zum großen Teil Mitglieder derselben (Widerspruch), weil diese in vielen Fällen Unterstützungen bei Krankheit zahlen. Infolgedessen bewegen die Frauen ihre Männer, in diesen Vereinen zu bleiben.160
Im Gegensatz zur Konzentration auf die handwerkliche Kernklientel des jungen Verbandes vor der Jahrhundertwende erweiterte der Chemnitzer DMV – basierend auf einem konstanten Mitgliederwachstum und gestiegener Finanzkraft – seine Methodik zu Beginn des 20. Jahrhunderts Stück für Stück. Neben der zunehmenden Bedeutung der Verwurzlung in den Maschinenbetrieben spielte dabei die Generierung außerbetrieblicher Anschlussfähigkeit an das proletarische Milieu eine zentrale Rolle. Durch Kinder- und Jugendveranstaltungen, das Vereinswesen sowie Kultur-, Reise- und Bildungsangebote stellte man den nötigen Kontakt zu den übrigen Mitgliedern der Arbeiterfamilien her. Gleichzeitig erwarben sich die Gewerkschaften durch die juristische Beratung im Arbeiter-Sekretariat den Respekt und das Vertrauen in Angelegenheiten, in denen die Arbeiter meist völlig auf fremdes Wissen angewiesen waren. Parallel dazu gaben die Verbände ihrem gestiegenen Selbstbewusstsein durch Neubauten ein öffentliches Gesicht. Darüber hinaus setzte sich das Gewerkschaftskartell aber auch in Situationen für die Interessen der Arbeiterschaft ein, in denen man ein gewerkschaftliches Engagement kaum erwartet hätte: So wehrte das Kartell im Sommer 1906 im so genannten 160 Protokoll der sechsten ordentlichen General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. Abgehalten vom 1. bis 6. Juni 1903 im Saale des Gewerkschaftshauses zu Berlin, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1903, S. 203.
Die Blütezeit des DMV in Chemnitz
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Chemnitzer Bierkrieg eine erhebliche Preiserhöhung der Brauer nach einem Streik und einer Boykottaktion beinahe zur Gänze ab – ein Vorgehen, bei dem die Arbeiter geschlossen hinter den Gewerkschaften standen und diese eine beträchtliche Reputation gewannen.161 Der Fall des „sächsischen Juwels“ und das neue gewerkschaftliche Selbstverständnis
Eine entscheidende Veränderung, die die Ausweitung der Agitation und die Abhaltung von Versammlungen sowie die Durchführung von Veranstaltungen wesentlich erleichterte, war die Aufhebung der sächsischen vereinsrechtlichen Bestimmungen, die 1908 durch das Reichsvereinsgesetz ersetzt wurden. Die neue Rechtslage beseitigte einen immensen Störfaktor, brachte mehr Ruhe in die Verbandsplanungen und gab den Gewerkschaften generell größere Rechtssicherheit. Während der Chemnitzer DMV-Bevollmächtigte Krause noch 1907 äußerte: Nach seinem Wortlaut sieht das sächsische Vereinsgesetz gar nicht so schlimm aus, aber in Wirklichkeit steht es so, daß alles, was nicht erlaubt ist, verboten ist (Heiterkeit!), und man wird aus dem sächsischen Vereinsgesetz nichts herausfinden, was erlaubt ist,162
fiel im Jahr darauf diese juristische Barrikade und ermöglichte in Sachsen erstmals einen regulären Verwaltungsstellenaufbau. Das immense Mitgliederwachstum in den folgenden Jahren führten die Verbandsleitungen dann auch auf den Wegfall der Restriktionen zurück: Die Gewerkschaftsbewegung in Chemnitz ist erst in den letzten Jahren zu einem achtungsgebietenden Faktor herangewachsen; das mag unter Berücksichtigung des Umstandes, daß Chemnitz eine sehr alte Parteibewegung hat, etwas verwunderlich erscheinen. Es ist aber zu bedenken, daß in keiner Stadt Sachsens die Verfolgung durch die Behörden eine so große gewesen ist – es sei nur an die Aera Siebdraht erinnert – als in Chemnitz. Die Folge war, daß die Arbeiter immer wieder auf die politische Bewegung beschränkt wurden, die erst die Basis zur Entwicklung der Gewerkschaften schaffen mußte.163
161 Vgl. Bericht für 1906, S. 5 f. Zu dieser Konfliktform und ihren Hintergründen vgl. Werner K. Blessing, Konsumentenprotest und Arbeitskampf. Vom Bierkrawall zum Bierboykott, in: Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann (Hrsg.), Streik, München 1981, S. 109 – 123. 162 Protokoll der achten ordentlichen Generalversammlung des Deutschen MetallarbeiterVerbandes. Abgehalten vom 20. bis 25. Mai 1907 in den Zentralsälen zu München, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1907, S. 98. 163 Bericht für 1912, S. 7.
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War diese Einschätzung angesichts der Mitgliederzahlen (vor allem des DMV ) vor 1908 auch relativ bescheiden, traf sie auf Grund der Tatsache, dass Chemnitz zu den frühesten Hochburgen der SPD gehörte, doch den Nagel auf den Kopf. Der Umstand, dass es den Chemnitzer Gewerkschaften nach der Jahrhundertwende und besonders in den Jahren vor dem Weltkrieg gelang, dieses Verhältnis mindestens auszugleichen, lag neben der neuen Rechtslage vor allem am grundlegend umgestalteten Organisationsansatz der Betriebsphase. Durch die Doppelgleisigkeit betrieblichen und außerbetrieblichen Vorgehens konnte ein größerer Teil der Arbeiterschaft und des gesamten Milieus angesprochen und letztlich auch überzeugt werden. Auch kann davon ausgegangen werden, dass die Erfahrung der besonders aggressiven behördlichen und polizeilichen Behandlung dabei keineswegs hinderlich war. Denn trotz der organisatorischen Schwierigkeiten, die diese bereitete, wirkte sie auf den Kern des Verhältnisses zwischen Arbeiterschaft und Gewerkschaft im Grunde genommen positiv, indem sie die Idee des Vorankommens in einer von Gegnern kontrollierten Umwelt ständig neu befeuerte und reichlich Anschauungsmaterial für den Nutzen einer Organisation lieferte. Außerdem war sie mit dem ohnehin vorhandenen gewerkschaftlichen Ansatz des vorsichtigen evolutionären Wandels bestens kompatibel. Dementsprechend unspektakulär war besonders das Vorgehen des DMV in der am besten organisierten Branche, dem Werkzeugmaschinenbau. Bis auf eine große Ausnahme (den Streik von 1911, der zu einer Massenaussperrung führte) gingen hier weder die Sekretäre noch die Werkstattvertrauensmänner hohe Risiken ein, schien man doch mit dem eingeschlagenen Kurs gut zu fahren. Dem „Butter-und-Brot-Geschäft“ widmete sich der DMV am Ort entsprechend der Maxime „Wir dürfen den realen Boden niemals verlassen“.164 Lohn- und Arbeitszeitbewegungen wurden wenn möglich ohne Arbeitseinstellung beendet und jeglicher betrieblicher Überschwung rechtzeitig gebremst. Wie bereits angedeutet, traf diese Taktik zwar oft nicht auf das Verständnis der Belegschaften, doch besaß der Verband mit den Werkstattvertrauensmännern ein wirksames Mittel, um seine Agenda durchzusetzen. Dass sich der DMV trotz vieler Rückschläge auf diesem Wege zum mit Abstand wichtigsten Verband entwickelte, musste bei den Sekretären, die meist schon seit dem Sozialistengesetz gewerkschaftlich aktiv waren, über kurz oder lang den Eindruck bestärken, alles richtig gemacht zu haben. Der damit verbundene Optimismus, langfristig selbst unumstößliche Strukturen aufbrechen zu können, indem man die gegebenen Mittel zweckdienlich nutzte, zählte daher auch zum kleinen Gewerkschaftseinmaleins:
164 So drückte sich Robert Krause auf der Generalversammlung 1903 aus. Vgl. Protokoll der sechsten ordentlichen Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 185.
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Wer hätte früher vor 30 oder 40 Jahren daran gedacht, Gewerkschaftshäuser zu bauen, wer hätte damals daran gedacht, in unseren Reihen Anhänger für die Konsumvereine zu werben? Es ist mit Recht von Schlicke angeführt, daß wir von den Hirsch-Dunckerschen auf dem Gebiet der Selbsthilfe viel lernen können, und es ist durchaus keine Schande, auch von den Gegnern zu lernen. Ich habe schon 1884, als das Krankenkassengesetz in Kraft trat, die Notwendigkeit betont, in die Verwaltungen einzutreten. Das wurde damals mit Heiterkeit aufgenommen, und heute ist das etwas ganz selbstverständliches.165
Ideologische Rückendeckung erhielt diese Taktik auch durch die Ausrichtung der Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende: Man ging davon aus, dass der Kapitalismus von selbst auf den sozialistischen Umbruch zusteuere, dieser aber nicht revolutionär zu forcieren sei. Der Vorzug pragmatischer Tagesfragen, wie er vor allem in den Gewerkschaften bestand, ließ diese daher zwar immer noch als „Klassenkampf“ erscheinen, lehnte aber jeden revolutionären Aktionismus strikt ab. Als „rebellischer Abgrenzungsgestus“ 166 diente die Idee der Revolution „nur noch“ als „interne Integrationsfunktion“ ohne engere politische Bedeutung. Indem man sich bemühte, die Lücke „zwischen politischer Tagespragmatik und einer chiliastischen Endzielkonzeption auszufüllen, zu der mit der Ausnahme organisatorischen Wachstums kein aktiver, direkter Weg hinführte und deren Realisierung in ferner, unbestimmbarer Zukunft lag“,167 wurde das hehre Ziel zu Gunsten einer partiellen Integration geopfert. Zwischen der Chemnitzer Partei- und der Gewerkschaftsführung bestand diesbezüglich absoluter Konsens: Fest in den Händen der „durch die Gewerkschaftsarbeit geprägte[n] Reformisten“ 168 wie Gustav Noske, Ernst Heilmann,169 Max Heldt 170 165 Ebd., S. 203. 166 Thomas Welskopp, Im Bann des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Zukunftsvorstellungen zu Gesellschaftspolitik und „sozialer Frage“, in: Ute Frevert (Hrsg.), Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftswürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 32 – 35. 167 Ebd., S. 35. 168 Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1988, S. 63. 169 Ernst Heilmann (1881 – 1940) trat bereits vor seinem Studium (1900 – 1903) der SPD bei und war zwischen 1903 und 1907 Parlamentsberichterstatter für sozialdemokratische Parteien in Berlin. Von 1909 bis 1917 arbeitete er als Redakteur der Volkstimme in Chemnitz, wurde im Ersten Weltkrieg verwundet und war nach 1918 Redakteur und Herausgeber zahlreicher sozialistischer Blätter. Er wurde 1933 festgenommen und starb 1940 im KZ Buchenwald. Seine historische Arbeit „Geschichte der Chemnitzer Arbeiterbewegung“ von 1912 ist bis heute eine wichtige Quelle zur politischen und gewerkschaftlichen Entwicklung in Chemnitz. Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 494 f. 170 Max Heldt (1872 – 1933) war nach einer Gürtler- und Metalldreherlehre bis 1904 als Metalldreher tätig. Danach wechselte er als Vorstandsmitglied in die DMV – Verwaltungsstelle
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
und Max Müller 171 war man sich hier einig, dass ein Systemwechsel nur auf evolutionärem Wege vonstattengehen würde. Der phänomenale Aufstieg, auf den SPD und Gewerkschaften in Chemnitz seit der Zeit des Ausnahmegesetzes zurückblickten – alle Reichstagswahlen seit 1890 hatten die Sozialdemokraten mit absoluter Mehrheit gewonnen, die SPD hatte im Wahlkreis 20.000 Mitglieder, und das Gewerkschaftskartell zählte 40.000 Organisierte 172 –, unterstrich die Folgerichtigkeit dieser Taktik und trug maßgeblich zu der Art und Weise bei, mit der die Chemnitzer Arbeiterbewegung in den Ersten Weltkrieg ging.
4.3 Der Wandel in den Hüttenwerken zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg Vom „Drive-“ zum „Crew-System“
Ähnlich wie im Maschinenbau lässt sich die Entwicklung der Eisen- und Stahlindustrie zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg als langsame Beseitigung von Produktionsengpässen beschreiben, die den gewachsenen Anforderungen im Wege standen. Die massive Erhöhung der Kapazitäten und der Anstieg der Produktgrößen und -gewichte fanden im organisatorischen Aufbau des Schnellbetriebs ihre Grenzen und läuteten eine schrittweise Verdrängung der Kolonnenarbeit aus der Hüttenindustrie ein. Im Ruhrgebiet begann dieser Prozess etwa 1905, zog sich bis zum Kriegsbeginn hin, stagnierte während des Weltkriegs und der Revolutionsphase und nahm zu Beginn der 1920er Jahre noch einmal enorm an Fahrt auf. In seinem Zentrum stand dabei nicht die radikale, kurzfristige und umkämpfte Umgestaltung technischer und betrieblicher Charakteristika; vielmehr wurden organisatorische und betriebssoziale Faktoren durch den Neubau und die Umrüstung alter Anlagen sowie durch graduelle technische Weiterentwicklungen Stück für Stück reformiert, nach Leipzig und war zwischen 1904 und 1907 Gauleiter des DMV für Sachsen in Dresden. Von 1907 bis 1918 war er Vorsitzender des Chemnitzer Gewerkschaftskartells und prägte in dieser Zeit die städtische Gewerkschaftsbewegung nachhaltig. Nach verschiedenen Ministerämtern zwischen 1919 und 1924 war er von 1924 bis 1929 Sächsischer Ministerpräsident. Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 497. 171 Max Wilhelm Müller (1874 – 1933) war nach einer Schriftsetzerlehre von 1906 bis 1924 Redakteur der Volksstimme in Chemnitz und ab 1908 Parteivorsitzender in Chemnitz. Nach zahlreichen Ämtern während der Weimarer Republik (etwa Sächsischer Innenminister 1924 – 1927) war er seit 1930 bis zu seinem Tode Oberregierungsrat in Dresden. Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 628. 172 Vgl. Karlheinz Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ersten Weltkrieg bis zur Inflation, Bielefeld 2003, S. 11.
Der Wandel in den Hüttenwerken
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bis aus dem „Drive-System“ das qualitativ neue „Crew-System“ entstanden war.173 Eine entscheidende Folge dieses schrittweisen Übergangs stellte demnach auch das mittelfristige Nebeneinander verschiedener Organisationsprinzipien dar: Hatte man in neuen Anlagen oft schon Veränderungen vorgenommen, wurde in anderen Bereichen des Werks vielleicht noch nach dem Kolonnensystem gearbeitet – diese Gleichzeitigkeit gilt es für die Bewertung des Wandels durch die Gewerkschaften im Auge zu behalten. Der erste Erneuerungsschub zeigte sich an den Hochofenanlagen: So wurden auf der Krupp’schen Friedrich-Alfred-Hütte zwischen 1906 und 1914 allein 18,684 Millionen Mark für deren Aufrüstung und den Neubau ausgegeben. Die Hochöfen wurden erhöht und mit Schrägaufzügen versehen, neue Gebläsemaschinen und Gasleitungen installiert und neben der Vergrößerung des Kokslagers auch eine Hafenverlängerung geschaffen.174 Hinzu kamen auf vielen Hütten vollmechanisierte Begichtungsanlagen und Erzbetten, leistungsfähigere Verladeeinrichtungen, größere Pfannen und Kräne sowie die Umstellung der Eisenbahn auf Normalspur. Feinere Mess- und Bedienungsmöglichkeiten erlaubten eine genauere Planung und Überwachung des Fertigungsprozesses.175 Auf diese Weise war es möglich, der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden und die Produktion zwischen 1904/05 und 1913/14 mehr als zu verdoppeln.176 Gleichzeitig verschwand in den Thomas-Stahlwerken das gedrängte Übereinander neben den Konvertern. An wesentlich vergrößerten, nun nebeneinander gelagerten Anlagen besorgten elektrische Deckenlauf- und Chargierkräne den Materialtransport, wodurch die Wege stark entwirrt werden konnten. Auch hier stiegen die Produktionszahlen bis 1914 um mehr als das Doppelte.177 Und nicht zuletzt erfasste der Wandel ebenso die Walzwerke, wo sich die Veränderungen durch vollmechanisierte Hilfs- und Transporteinrichtungen sowie genauere, elektrische Steuerungsmethoden sogar am einschneidendsten auswirkten.178 All diesen technischen Weiterentwicklungen folgte in der Regel relativ zügig die Installation eines neuen Betriebssystems, das seinen Schwerpunkt nicht mehr wie bisher im zentralisierten Schnellbetrieb hatte, sondern auf eine dezentralisierte, integrierte und fließende Fertigung setzte. Dazu gehörte zum einen die Zunahme
173 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 437 – 444. 174 Vgl. Hochofen I 1906/07 – 13/14, Friedrich-Alfred-Hütten Rheinhausen, in: HAK, WA 70/137. 175 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 437. 176 Vgl. Hochofen I 1906/07 – 13/14, FAH. 177 Vgl. Thomaswerk I 1905 – 1913/14, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 70/137. Gleiches gilt auch für die Siemens-Martin-Produktion, wo Chargierkräne einen immensen Produktionsanstieg der Anlagen ermöglichten. 178 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 447 und 450.
222
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
der Produktionsstufen durch das Zwischenschalten von Anlagen und zum anderen die Erhöhung der Selbstständigkeit der einzelnen Schritte. Indem nun mehrere Stufen nebeneinander und mit höherer Autonomie organisiert wurden, dezentralisierte sich der gesamte Fertigungsablauf und die Produktion gewann erheblich an Flexibilität.179 Dadurch glich sie nun auch wieder stärker der Produktion im Maschinenbau, wo Einzelteile unabhängig voneinander in separaten Werkstätten gefertigt wurden und diese Parallelität erst in der Montage organisatorisch zusammenlief. Dementsprechend formte der technisch-organisatorische Wandel auf den Hütten auch die Arbeitsformen und Arbeitsbeziehungen auf eine Weise um, die stark an die Maschinenbetriebe erinnerte: Zunächst erhöhte sich die Zahl der hochqualifizierten Produktionsarbeiter beträchtlich, da die Folgen der Vollmechanisierung viele Tätigkeiten der unqualifizierten Kolonnenarbeiter erübrigten. Die Bedienung der Maschinen und genaue Steuerung machten Fähigkeiten wie technisches Verständnis, Stoffkenntnis und Verfahrenswissen wieder aktuell. Dabei waren der neuerliche Bedeutungsgewinn der Qualifizierten und die damit verbundenen Belegschaftsumschichtungen Teil einer Entwicklung, die sich auch auf die Maschinisierung im Maschinenbau anwenden lässt und nicht wenige Zeitgenossen zur Revidierung älterer Urteile bewegte: Es geht also die Entwicklung nicht, wie vielfach angenommen wird, dahin, daß immer mehr Handlanger in den Dienst der Maschine gestellt werden. Tatsächlich werden im Gegenteil die Handlanger immer mehr ausgeschaltet; an ihre Stelle tritt eine geringe Zahl hochwertiger Arbeiter, die die notwendige Intelligenz und Fachbildung besitzen, um die vollkommenen Maschinen zu verstehen und richtig zu lenken.180
Mit der Umgestaltung der Produktionsstruktur und der „Requalifizierung“ der Belegschaften, die beide in scharfem Kontrast zum früheren Umbruch zum „DriveSystem“ standen,181 ging auch eine Veränderung der Arbeitsbeziehungen einher. Die „Crew“, eine ineinandergreifende, kooperative Anlagenbesetzung wurde zum Kern der betrieblichen Arbeitsorganisation. Auf Grund der Dezentralisierung der Fertigung und des Autonomiegewinns der einzelnen Stufen steuerten diese Arbeitsgruppen ganze Produktionsschritte quasi in Eigenverantwortung. Dieses „Fahren einer Anlage“ begründete eine neue Form der Kommunikation im Betrieb: Die Barrieren zwischen Produktions- und Maschinenarbeitern wurden zusehends auf 179 Vgl. ebd., S. 448. 180 Richard Woldt, Der industrielle Großbetrieb. Eine Einführung in die Organisation moderner Fabrikbetriebe, Stuttgart 1911, S. 22. 181 Vgl. auch Steinisch, Arbeitszeitverkürzung und sozialer Wandel, S. 64 f; vgl. Harney, Berufsbildungs- und Qualifikationsforschung.
Der Wandel in den Hüttenwerken
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gehoben, zentrale Anleitung und Kontrolle wichen einer dezentralen und eigenständigeren Planung und Absprache unter den Kollegen, und die Meister übernahmen nun stärker koordinative Aufgaben. Denn infolge der Ausdifferenzierung der Produktionsstufen und des Flexibilitätsgebots konnte eine streng militärische Kontrolle nicht mehr aufrechterhalten werden. Zentrale Befehlsstrukturen wurden durch indirekte Formen der Kontrolle ersetzt, die für die Einflussnahme auf die „Crews“, deren Dispositionsspielräume immens gewachsen waren, besser geeignet erschienen.182 Da sich die betrieblichen Beziehungen mit dem organisatorischen Wandel wieder in Richtung eines „Produktionspaktes“ verschoben hatten, zählten dazu vor allem leistungsbezogene Instrumente, die ein Entgegenkommen der Arbeitsgruppen dementsprechend hoch vergüteten – ein Weg, der insofern Erfolg versprach, als dass sich dieser Leistungsbezug weitgehend mit den gruppeninternen Arbeitsbeziehungen und -interessen deckte. Deren Integration funktionierte nämlich besonders über ihre Leistungsfähigkeit: Indem die „Crew-Mitglieder“ bei der teilautonomen Bewältigung des Arbeitsprozesses auf ihre Kollegen angewiesen waren, wurde an jeden Einzelnen ein Maßstab des „Anpackens“ angelegt, der die reibungslose persönliche Einordnung und Arbeitsqualität in den Vordergrund stellte. Sollte ein hoher Akkordlohn erreicht werden, kam es daher darauf an, dass jeder Arbeiter seinen Platz in der Gruppe kannte und sich auf seine Arbeit verstand, was verglichen mit dem „Drive-System“ einen völligen Wandel der Kommunikationsqualität während der Arbeit voraussetzte. Dabei intensivierte die selbstständige gruppeninterne Planung den gegenseitigen Austausch nicht nur, sie sorgte auch dafür, dass Aspekte qualifizierten Nachdenkens und innovativer Ideen wieder Einzug in den Gruppendiskurs hielten.183 Auf diese Weise war es möglich, persönliche Kontakte zu pflegen, die weit über die Kommunikation in den Kolonnen hinausgingen. Im Aufbau gegenseitigen Verantwortungsbewusstseins und Vertrauens bildeten sich „crew-interne“ Solidaritätsmuster heraus, die ihre Grundlage im Arbeitsprozess hatten und in der Folge den Kern betrieblicher Handlungsfähigkeit darstellten.184 Einen wesentlichen Teil dieser gruppenintegrativen Verhaltens- und Denkweisen bildete ein verändertes Männlichkeitsideal: Hatte der maskuline Stärkekult in der Zeit des „Drive-Systems“ vor allem dazu gedient, eine möglichst undurchsichtige Fassade gegen empfundene Ohnmacht zu errichten, entstand nun das Narrativ des „harten Hunds“, der, riesige Maschinen bedienend, den Umständen trotzte. Dieses Bild des mächtige Anlagen beherrschenden Stahlarbeiters hatte vor dem Hintergrund der Mechanisierung zwar nur noch wenig mit realer Körperlichkeit zu tun, stellte den Arbeitern aber dennoch einen wirksamen Identifikationsrahmen 182 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 493 ff. 183 Vgl. ebd., S. 501 f. 184 Vgl. ebd., S. 525 ff.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
zu Verfügung.185 Als Bestandteil eines gewandelten Selbstverständnisses wurde es gleichzeitig zum Betätigungsfeld eigen-sinniger Verhaltensweisen, die sich, so scheint es, stärker in den „Crew-Kontext“ eingliederten. So war zum Beispiel von resignativer Flucht und Ohnmachtsbewältigung keine Rede, wenn Hüttenarbeiter leichtsinnig an Geländern turnten, Warnhinweise absichtlich missachteten oder sich auf spielerische Art und Weise Gefahren aussetzten. Auf fahrende Züge springende und unter Waggons hindurchkriechende Arbeiter verdeutlichten mehr als die „unausrottbaren Gewohnheiten der Versicherten“,186 wie sie durch die Berufsgenossenschaft wahrgenommen wurden – sie transportierten dabei auch einen risikobereiten und selbstbewusst-übersteigerten Umgang mit schwerer Technik, deren subordinierte Kraft und Größe dem eigenen Stärkeempfinden zugutekam. Der sich unter akuter Lebensgefahr abspielende Leichtsinn gehörte demnach nicht zu den passiv-verarbeitenden Formen des Eigen-Sinns, sondern markierte seine sich offensiv-erhebende Ausprägung, die sich nur vor den gruppeninternen Arbeitsund Sozialbeziehungen verstehen lässt.187 Das „Crew-System“ als Organisationsgrundlage
Mit der gruppenexklusiven Solidarität, in der auch Berufsstolz und Selbstbewusstsein nur vor dem Hintergrund der „Crew-Zugehörigkeit“ interpretiert wurden, ging eine Entwicklung einher, die auf die gewerkschaftlichen Organisationsversuche in der Hüttenindustrie vor allem während der 1920er Jahre entscheidenden Einfluss gewinnen sollte: Denn im Gegensatz zum Chemnitzer Maschinenbau, wo der Charakter der Produkte und des Arbeitsprozesses einen weiteren Rahmen der Solidarität mitbedingte, waren die betrieblichen Basisstrukturen der Hüttenarbeiter zwar auch betriebsbezogen, konzentrierten sich aber noch viel stärker auf ihre Arbeitsgruppen und erst in zweiter und dritter Hinsicht auf Betrieb und Branche. Mochten die Gruppensolidaritäten die Eisen- und Stahlarbeiter daher zwar „organisationsfähig“ 188 gemacht und erstmals kollektive Handlungsfähigkeit ermöglicht haben, bedurften sie aus gewerkschaftlicher Sicht dennoch einer immensen Anschlussleistung, die in
185 Vgl. ebd., S. 521. Dazu auch ders., Leben im Rhythmus der Hütte. Geschlechterbeziehungen in Stahlarbeitergemeinden des Ruhrgebiets und Pennsylvanias 1890 – 1920, in: Westfälische Forschungen 45 (1995), S. 205 – 241. 186 Geschäftsbericht der Rheinisch-Westfälischen Hütten- und Walzwerks-Berufsgenossenschaft pro 1906, in: MAZ 25 (1907) 38, S. 303. 187 Zum Zusammenhang von Eigen-Sinn und Leichtsinn vgl. Lüdtke, „Deutsche Qualitätsarbeit“, S. 185 f.; auch Pietsch weist bei seiner Interpretation der Berichte der Gewerbeinspektion auf „mutwillige Verstöße“ hin. Vgl. Pietsch, Feuerarbeiter, S. 177. 188 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 527.
Der Wandel in den Hüttenwerken
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diesem Fall nicht nur den betrieblichen Kontakt zu allen Arbeitern, sondern auch eine Vermittlung zwischen ihren „Crews“ beinhalten musste. Doch sowohl die gruppenexklusiven als auch die betriebsbezogenen Dispositionen und Verhaltensweisen wurden vom DMV nicht selten scharf kritisiert: So führte ein Beobachter aus Ruhrort die schwierigen Organisationsverhältnisse in den Walzwerken unter anderem darauf zurück, dass zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen und Schichten ein Konkurrenzdenken bestehe, welches in „Neid und Haß“ umschlage. Der Leistungsvergleich und der Schichtwechsel würden dadurch sogar in Prügeleien enden. Auch sei es für den DMV schwer, gegen die Sichtweise der Arbeiter anzukommen, nach der die „Fabrik als Heimat“ wahrgenommen werde.189 Wollte der DMV die gruppen-, betriebs- und letztlich branchenübergreifende Solidarität stärken, bedurfte es daher unbedingt einer betrieblichen Verankerung, die zwischen den „Crews“ und der Gewerkschaft einen Brückenschlag vollzog. Den Hüttenarbeitern musste glaubwürdig vermittelt werden, dass die Mitgliedschaft in einer berufsübergreifenden Organisation langfristige Vorteile hatte und sich arbeitsgruppenbasiertes Belegschaftshandeln nur mittelfristig auszahlte. Um Belegschafts- in Organisationshandeln zu überführen, war es demnach unumgänglich, in den kampfkräftigen Basisstrukturen mittels eines arbeitsgruppeninternen Transmissionsriemens die Idee institutionell-organisierter Konfliktaustragung zu implementieren. Den damit verbundenen Problemen – Hebung der Gruppensolidarität auf eine „höhere Stufe“ auch gegen Widerstände, Erklärung des Nutzens einer Organisation für „Crews“ und unqualifizierte Hilfskräfte,190 Schließen der empfundenen Kluft zwischen Basis und bevormundend-betriebsferner Gewerkschaftsleitung – hätte auf diese Weise langfristig und sacht beeinflussend begegnet werden können. Der Wandel zum „Crew-System“ eröffnete dem DMV ein enormes Potential, das nicht nur in der reinen Masse der Eisen- und Stahlarbeiter, sondern auch in ihrem betrieblichen Selbstverständnis begründet lag. Eine aktive, betriebsbezogene und vor allem in die Arbeitsgruppen integrierte Agitation und Interessenvertretung hätte der Gewerkschaft eine mächtige Basisstruktur erschlossen, die über immensen Einfluss auf die Produktion verfügte. Doch gerade dabei offenbarte sich die langfristige Distanz zwischen Arbeitern und Organisation: Denn fehlte zum Erschließen der Basis vor 1914 ein betriebliches Vermittlungsinstrument, sodass beide Ebenen 189 W. K., Korrespondenzen. Duisburg-Ruhrort, in: MAZ 25 (1907) 33, S. 266. 190 Der technisch-organisatorische Wandel hatte zu einer weiteren Verschärfung der Abgrenzung der qualifizierten Maschinen- und Produktionsarbeiter von den unqualifizierten Hilfs- und Transportarbeitern geführt. Betriebliche Aufstiege wurden durch die gestiegenen Anforderungen zunehmend erschwert. Außerdem partizipierten die Hilfsarbeiter, die jetzt etwa 30 Prozent der Belegschaften ausmachten, nicht an den gruppeninternen Solidaritätsbeziehungen der „Crews“. Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 516.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
weiterhin fast unvermittelt nebeneinander existierten, traf unter den veränderten Rahmenbedingungen der 1920er Jahre eine erhöhte Überbetrieblichkeit des DMV auf die stabil betriebszentrierte Identität der Hüttenarbeiter, wodurch sich ein instrumentelles Verständnis von Gewerkschaftsmitgliedschaft ausbreitete. Obwohl es in den zehn Jahren vor Kriegsbeginn nicht an Initiativen des DMV fehlte, blieben die vorgewerkschaftlichen Basispotentiale daher aus unterschiedlichen Gründen sowohl vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg weitestgehend ungenutzt. Besonders vor 1914 gelang kein Anschluss an die existentiell wichtigen „Crews“ und der DMV kam in der Hüttenindustrie nicht über oberflächliche Anfänge hinaus.
4.4 Überbetrieblich-politische Initiativen und ein Konflikt mit dem Vorstand – Der DMV im Ruhrgebiet zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg Die unvollständige Betriebsphase
Im Sommer 1907 versetzte man den DMV-Sekretär Emil Ungrade aus Sachsen nach Bochum, um die kleine Verwaltungsstelle von den positiven Organisationserfahrungen aus dem Königreich profitieren zu lassen. Er hielt darüber im Nachhinein fest: Als ich am 15. August 1907 mein Tätigkeitsgebiet von Dresden nach hier verlegte, wurde mir erst vollkommen klar, wie verschieden die Verhältnisse im Vergleich zu Sachsen in agitatorischer und organisatorischer Beziehung gelagert waren.191
Dass er seinen Wechsel als Bruch empfand, war auch dem Umstand geschuldet, dass es in Bochum bis dahin kaum gelungen war, die Massen der Eisen- und Stahlarbeiter ansatzweise im DMV zu organisieren. Gleiches galt auch für den Gesamtverband (Tab. 15). Zwar wurde der Anteil von einem Prozent, den die Eisen- und Stahlarbeiter an der Gesamtmitgliedschaft des DMV ausmachten, im siebenten Bezirk des Verbandes (Rheinland und Westfalen) deutlich übertroffen, doch waren sie auch hier, gemessen an ihrer Anzahl, verschwindend gering organisiert (Tab. 16). Über ähnlich durchschlagende Mittel wie die Werkstattvertrauensmänner oder die politisch-gewerkschaftliche außerbetriebliche Dominanz, die der DMV
191 Emil Ungrade, Zwanzig Jahre Kampf, in: 1892 – 1927. Festschrift aus Anlaß des 35-jährigen Bestehens der Verwaltungsstelle Bochum, S. 26.
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Überbetrieblich-politische Initiativen
in Chemnitz anwenden konnte, verfügten die Kollegen in der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets nicht. Der Widerstand der Hüttenindustriellen, die starke Konkurrenz anderer Gewerkschaften und vor allem die fehlenden betrieblich-vorgewerkschaftlichen Strukturen des weiterwirkenden „Drive-Systems“ verhinderten sowohl ein Fußfassen in den Belegschaften als auch einen vergleichbar intensiven Kontakt mit dem Arbeitermilieu. 192
Tab. 15: Hochofen-, Hütten- und Walzwerkarbeiter im DMV (1907 – 1913) Jahr
Verbands mitglieder
Hochofen- und Hüttenarbeiter
Walzwerkarbeiter
Insgesamt
In % der Ver bandsmitglieder
1907
362.204
1813
1759
3572
0,99
1908
362.073
1639
1890
3529
0,97
1909
373.349
1655
2001
3656
0,98
1910
464.016
2163
3115
5278
1,14
1911
515.145
2222
3662
5884
1,14
1912
561.547
2336
3865
6201
1,10
1913
544.934
2399
3404
5803
1,06
Tab. 16: Hochofen-, Hütten- und Walzwerkarbeiter 193
im siebenten Bezirk (1908/09, 1911 – 1913) Jahr
Mitglieder im siebenten Bezirk
Hochofen- und Hüttenarbeiter
Walzwerkarbeiter
Insgesamt
894
751
1645
1909
43.859
852
746
1598
3,64
1911
65.131
801
1778
2579
3,96
1912
68.207
785
2409
3194
4,68
1913
66.903
911
2619
3530
5,28
1908
In % der Mitglieder
192 Aufstellung des Autors nach: Der DMV im Jahre 1907, S. 6; für 1908, S. 8; für 1910, S. 14 (ebenso für 1909); für 1912, S. 31 (ebenso für 1911); für 1913, S. 43. 193 Aufstellung des Autors nach: Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1908, S. 71; Jahresbericht für 1909, hrsg. v. siebenten Bezirk des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Düsseldorf 1910, S. 6; Bericht über das Jahr 1911, hrsg. v. siebenten Bezirk des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Düsseldorf 1912, S. 6; Bericht über das Jahr 1912, hrsg. v. siebenten Bezirk des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Düsseldorf 1913, S. 7; Bericht über das Jahr 1913, hrsg. v. siebenten Bezirk des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Düsseldorf 1914, S. 6.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Dass sich die Mitgliederzahlen bis zum Ersten Weltkrieg dennoch langsam und spürbar erhöhten, war auf den Wandel gewerkschaftlichen Vorgehens zurückzuführen, der sich seit dem Aufkommen der Hüttenarbeiterfrage 1905/06 bemerkbar machte. Auf Grund dieses Wandels versuchte der DMV, den gewandelten Agitations- und Vertretungsvorstellungen nach der Jahrhundertwende zumindest ersatzweise Rechnung zu tragen. Dazu gehörte zunächst ein zwar selbstverständlich anmutender, aber dennoch wegweisender Schritt: 1907 wurden die Hochofen-, Hütten- und Walzwerkarbeiter erstmals in das Berufsverzeichnis des DMV aufgenommen und von nun an nicht mehr unter „Sonstige“ geführt.194 Aus Sicht dieser Arbeiter musste dies geradezu symbolischen Charakter besitzen, gab man ihnen doch damit zu verstehen, dass sich die Gewerkschaft der Selbstständigkeit der Berufsgruppe bewusst wurde. Außerdem begegnete der Verband dadurch wenigstens implizit dem Eindruck, die zu dieser Zeit entstehenden Arbeitsgruppensolidaritäten in der industriegewerkschaftlichen Masse untergehen zu lassen. Der Zeitpunkt der Umstellung war deshalb auch alles andere als Zufall: Er geschah just in dem Moment, als sich mit der Ausbildung des „Crew-Systems“ und der Herausbildung eines neuerlichen Berufs- und Qualifikationsbewusstseins Strukturen zu etablieren begannen, die seit der Gründung des Verbands zu den Mindestvoraussetzungen gewerkschaftlicher Organisation gehört hatten. Auf Grund der vorherrschenden berufsverbandlichen Vorstellungen rückte ein Fortschritt in der Eisen- und Stahlindustrie daher auch erstmals in den Bereich des Möglichen. Mit Blick auf die gesamte Branche sah dies freilich anders aus und die DMVSekretäre mussten grundsätzlich verschiedene Rahmenbedingungen einkalkulieren: Denn in den Bereichen des fortwirkenden Schnellbetriebs blieben die Organisationsvoraussetzungen unverändert schlecht. An ein Erreichen dieser scharf kontrollierten und untereinander atomisierten Arbeiter war wie auch zuvor nicht zu denken, da ihre Arbeitssituation und Sozialbeziehungen keinerlei Anknüpfungspunkte für den DMV boten.195 Doch selbst hier äußerten sich langsam Zweifel an der Unorganisierbarkeit der unqualifizierten Kolonnenarbeiter. Der aufkommende handlungszentrierte Ansatz im DMV stellte die Sicht in Frage, nach der diese Arbeiter per se organisationsfern seien, und gab neue Agitationsformen zu bedenken. So kritisierte ein Beobachter aus Essen in der Metallarbeiter-Zeitung den „Kastengeist“ der qualifizierten Arbeiter. Seiner Meinung nach sähen etwa die Dreher und 194 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1907, S. 7. 195 Da das „Crew-System“ nicht mit grundlegenden Innovationen verbunden war, sondern eine langsame Veränderung durch technisch-organisatorische Einzelmaßnahmen darstellte, blieben bis in die 1920er Jahre hinein Bereiche erhalten, in denen sich für den DMV bei den Organisationsvoraussetzungen im Vergleich zu den 1880er Jahren nichts änderte. Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 421 f., S. 414 – 420.
Überbetrieblich-politische Initiativen
229
Schlosser der Kanonenwerkstätten in den ungelernten Arbeitern der Feuerbetriebe keine Ansprechpartner und es herrsche oft das Motto: „Gib dich nicht so viel mit den Hilfsarbeitern ab“. Als problematisch empfand er diese Überheblichkeit aber vor allem, weil sie auch in die Sekretärsebene des DMV eingedrungen sei: Auch wenn nicht alle Beamten auf diese Weise handeln würden, widerspreche das Vorgehen von vielen dennoch dem Gedanken des Industrieverbandes, und sie würden die Organisation der Arbeiter in den Martin-Werken, Walzwerken und Adjustagen dadurch nicht zum Ziel, sondern die fehlende Organisation zur logischen Konsequenz machen. Darüber hinaus verwahrte er sich gegen den vielfachen Vorwurf, die Organisationssituation liege an der „Rückständigkeit“ der Arbeiter – viel eher müsse die Mehrheit der qualifizierten Mitglieder anfangen, die Unqualifizierten als „gleichwertige Kollegen“ wahrzunehmen und agitatorisch tätig zu werden. Deren Verbandsferne sei nämlich durchaus zu verstehen, weil sie gar keine Beitrittsmotivation entwickeln könnten, wenn man sie als Arbeiter „zweiter Klasse“ betrachte. Wie scharf die Grenze innerhalb der Betriebe gezogen war, machte er schließlich noch daran deutlich, dass selbst „nichthandwerkliche organisierte Kollegen“ von diesem „Sich-Besser-Dünken […] die Schnauze voll“ hätten und es ablehnten, weiterhin zu agitieren – ein Umstand mit besonders schweren Folgen, seien es doch gerade diese Kollegen, die den „Schlüssel zu den Hilfsarbeitern“ in der Hand hätten.196 Für die Arbeiter der Schnellbetriebe blieben diese Mahnungen, die die Ablösung der handwerklichen Phase markierten, jedoch weitgehend Episode. Unter dem Eindruck der massiven Probleme beschränkte sich ein großer Teil der Aussagen im DMV auf deren Anprangerung und viele Sekretäre glaubten nicht an die reale Chance, in diesen Bereich gewerkschaftlich einbrechen zu können. Der betriebssozialen Hürden war man sich allerdings bemerkenswert genau bewusst: Ein Duisburger DMV-Mitglied resümierte in der Metallarbeiter-Zeitung, dass die größte Bürde für den Verband aus der horizontalen wie vertikalen Spaltung der Belegschaften resultiere.197 Hierarchische Systeme unterschiedlichster Bezahlungen und die strenge Überwachung verhinderten die Herausbildung einer gemeinsamen Interessengrundlage und unterdrückten den Glauben an einen solidarischen Ausweg. Die Agitation sei vor diesem Hintergrund beinahe unmöglich, weil selbst die vorsichtigsten Versuche allzu leicht erhebliche persönliche Konsequenzen zeitigten: „Die Arbeiter meiden fast durchweg ängstlich jede Unterhaltung über politische und gewerkschaftliche Dinge.“ 198 Im Ärger über diese prekäre Lage und die eigene Machtlosigkeit verfiel er jedoch sogleich wieder in den Tenor der handwerklichen Phase:
196 Vgl. Korrespondenzen. Essen, in: MAZ 22 (1904) 12, S. 93 f. 197 Vgl. Korrespondenzen. Duisburg, in: MAZ 25 (1907) 34, S. 274. 198 Ebd.
230
Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
Unsere Kollegen und die, die mit uns sympathisieren, werden von den mit einer Portion Dummheit gesegneten Elementen verhöhnt und laufen täglich Gefahr, von den Schmarotzern denunziert zu werden.199
Auch sein Urteil, die Arbeiter hätten ihre schlechte Lage durch ihre Interessenlosigkeit und Uneinigkeit mitverschuldet, zeigte eindrücklich, dass sich die mentale Grundlage der Betriebsphase nicht linear und einheitlich ausprägte. Der Wandel geriet weiterhin dort an seine Grenzen, wo der DMV ohne betriebliche Verankerung trotz aller Versuche keine Organisierung zustande brachte. Dementsprechend blieb die Stigmatisierung der Unorganisierten auch ein wichtiger Teil gewerkschaftlicher Äußerungen. Ein entscheidendes Merkmal der Geschichte des DMV in dieser Phase war jedoch, dass die handwerkliche Phase in einer Art widersprüchlichem Nebeneinander langsam unter Druck geriet. Weil sich der gewerkschaftliche Umbruch nach der Jahrhundertwende in Bezug auf die Hüttenarbeiter nur unvollständig vollzog, überlappten sich die entgegengesetzten Vorstellungen über Organisation und Basis für eine gewisse Zeit und erwecken aus der Rückschau den Eindruck, als ob sich die Sekretäre über ihre Zielsetzung nicht im Klaren gewesen wären. Die seltsame Gleichzeitigkeit von Organisationsbemühungen und wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen, die auch Bestandteil der Werkstattversammlungen war,200 mag daher vielleicht an eine Vergeblichkeit ex ante denken lassen, wird aber im Kontext der Transformation verständlicher. Sie wurde außerdem noch dadurch befeuert, dass sich die betrieblichen Voraussetzungen für den DMV in der Eisen- und Stahlindustrie stark unterschieden, diese Diskrepanz zwischen 1905 und 1914 aber kaum thematisiert und zum Grundstein angepassten Vorgehens wurde.201 Denn im Bereich der „Crews“ waren die vorgewerkschaftlichen Potentiale weit größer. Die anschlussfähigen Basisstrukturen und der Umstand, dass sich die 199 Ebd. 200 Die Protokolle der Werkstatt- und Agitationsversammlungen lesen sich in dieser Phase teilweise wie der Versuch, eine Organisierung zu forcieren, indem man die Arbeiter für die Verhältnisse verantwortlich machte. Stellte sich die Erfolglosigkeit dieses „Vorgehens“ heraus, verfielen die Sekretäre in einen Ton, der einen Organisationsbeitritt der Anwesenden noch unwahrscheinlicher machte. Vgl. dazu Kap. 2.4 sowie die folgenden Ausführungen. 201 Von den betrieblich-arbeitsinternen Potentialen, die in der Hüttenindustrie für den DMV teilweise herrschten, ging man vor 1914 zu keiner Zeit aus, wenn es darum ging, Anschlussfähigkeit an die Arbeiterschaft zu generieren. Der DMV war und blieb hier eine eher außerbetrieblich-politische Organisation und konnte nicht in den Rang einer „Arbeitsorganisation“ hineinwachsen. Vgl. dazu die teilweise ausführlichen, aber eben vollkommen „arbeitslosen“ Beiträge zur Lage in der Eisen- und Stahlindustrie, die sowohl in den DMV-Jahrbüchern als auch in den Berichten des Siebten Bezirks veröffentlicht wurden.
Überbetrieblich-politische Initiativen
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Arbeitsgruppen in den betrieblichen Machtbeziehungen nun wesentlich selbstbewusster bewegen konnten, wurden aber auf Grund fehlender personeller und thematischer Betriebsverankerung des Verbandes vor 1914 nicht kanalisiert. Die vorhandene Kluft zwischen aktiven Belegschaftseinheiten und der Verbandsverwaltung führte in der Folge immer wieder zu Konflikten, weil „wild“ handelnde Arbeitsgruppen den Vertretungsanspruch des DMV verletzten. So konnten sich die Arbeiter bei ad hoc entstehenden Streiks, die im Übergang zum „Crew-System“ nun wieder möglich wurden, der scharfen Ablehnung der Gewerkschaftsleitungen sicher sein. Denn nicht selten wurde dabei auch schon die begrenzte Reichweite rein anlagenbasierten Handelns deutlich: Die Stärke der Industriellen ließ viele Kurzstreiks „bedingungslos“ oder gar mit Entlassungen enden.202 Der Unmut, den man im DMV über die lästigen Sofortaktionen empfand, wurde indes auch in den Ortsverwaltungen des CMV geteilt, die etwa den Streik der Hochofenarbeiter der FAH 1910 als „Putsch“ verurteilten.203 Die gewerkschaftlichen Organisationsinstrumente
Um die Organisierung der Hüttenarbeiter zu forcieren, stand dem DMV im Ruhrgebiet einstweilen nur der außerbetriebliche Weg zur Verfügung. Dessen Kernelemente waren die „Werkstattversammlungen“ und die politische Initiative. Erstere litten im Vergleich zu Chemnitz, wo sie aus konkreten Bedürfnissen der Belegschaft heraus initiiert und von den Werkstattvertrauensmännern vorbereitet und rückgekoppelt wurden, besonders unter dem offensichtlichen Kompensationscharakter. Denn da sie ohne betriebliche Verankerung thematisch und personell oft nicht im Werk verwurzelt waren, ähnelten sie eher den Verbandsversammlungen der 1890er Jahre als den Arbeiterversammlungen der Maschinenbaufabriken: Meist erschien nur eine überschaubare Besucherzahl, und eine Anziehungskraft für Unorganisierte war
202 So z. B. beim Streik der Möllerarbeiter und Schmelzer des Hochofenwerks der FAH 1910. Ihr zweitägiger Streik ohne Gewerkschaftsunterstützung endete „bedingungslos“. Ein Streik der Kokereiarbeiter führte zu 61 Entlassungen. Die Angestellten und Arbeiter I 1907/08 – 13/14, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK WA 70/136, Bl. 1 f. Ähnliche Streiks von Arbeitsgruppen fanden auch auf dem Hochofenwerk der GHH 1908 statt. Vgl. Polizeiliche Überwachungsberichte 1905 – 1909, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA, 130 – 300143/0, Bl. 44. Teilweise waren sie auch ein voller Erfolg, so etwa beim spontanen Streik der Gichter der FAH 1907. Vgl. Schreiben an Herrn Werzner betreffs des Streiks der Gichter an den Öfen I–III vom 29. 4. 1907, Friedrich-Alfred-Hütte, Direktor Hilbenz, in: HAK, WA 77/719. 203 Vgl. Friedrich-Alfred-Hütte. Arbeitsniederlegung der Hochofenarbeiter vom 15. 2. 1910, Nachrichten-Bureau der FAH, in: HAK, WA 70/424.
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Die Betriebsphase von ca. 1900 bis 1914
kaum vorhanden.204 Das typische Narrativ, welches die DMV- und CMV-Beamten in solchen Fällen anwendeten, schob die Schuld für den schlechten Besuch allein den Arbeitern zu und verfiel, sicher nicht zuletzt auf Grund eines persönlichen Ohnmachtsgefühls, wieder in Diffamierungen. Als Tarnung für den Misserfolg strapazierte man die Idee der Bildungsbewegung ein ums andere Mal und führte die Organisationsferne der Arbeiter auf deren mangelnde Einsicht und Selbstreflexion zurück – ein Vorgehen, das ganz der Methodik der frühen Verbandsjahre entsprach und die Zielpersonen eher vom Verband entfremdete. Die Reaktion der CMV -Führung auf eine missglückte Versammlung der Arbeiter der FriedrichAlfred-Hütte sprach diesbezüglich Bände: Neben Begründungen wie: „Soviel Einsicht besitzt aber leider die Masse der hiesigen Metallarbeiter noch nicht und so war denn auch die Versammlung sehr mäßig besucht“, verwies man besonders auf die Pflicht zur Selbsterkenntnis: Die angenommene Resolution in ihrem letzten Teil nun in die Tat umzusetzen, muß das Ziel aller denkenden Arbeiter sein. Wenn die hiesigen großen Werke die Arbeiter nicht wie freie, selbstbewußte Arbeiter, sondern wie Heloten und Hörige behandeln, so tragen die Arbeiter in ihrer Gleichgültigkeit und Interessenlosigkeit selbst die Schuld daran. Selbsterkenntnis wäre auch hier der erste Schritt zur Besserung.205
Eine Ausnahme machten jedoch Versammlungen, bei denen Thema und/oder Redner auf ein breiteres Interesse der Arbeiter trafen. So erschienen im Mai 1907 ca. zweitausend Arbeiter auf einer öffentlichen „Feuerarbeiter-Versammlung“ des CMV, um den Reichstagsabgeordneten Giesberts über die Zustände auf den Hüttenwerken sprechen zu hören.206 Stark animierenden Charakter besaßen aber auch „Werkstattversammlungen“, die in direktem Zusammenhang mit Streiks standen und in denen die Verbände direkt erfahrbare Hilfestellungen geben konnten: Auf einer CMV – Versammlung der streikenden Koksarbeiter der FAH vermochte es der Sekretär Wernerus nicht nur, die Arbeiter von der Zwecklosigkeit ihres Vorgehens zu überzeugen; gleichzeitig wurde für Entlassene auch eine Aufnahme in das „Arbeiterheim“ vermittelt, weil die Menagen nun verschlossen waren und die Kommune eine Unterbringung verweigerte. Aus Sicht der CMV – Verwaltung war 204 Laut polizeilichen Überwachungsberichten nahmen an den „Werkstattversammlungen“ des CMV für die GHH 1905 – 1909 zwischen 19 und 50 Arbeiter teil. Vgl. RWWA, 130 – 300143/0, Bl. 1 – 44. 205 Abschrift des Artikels „Von der Friedrich-Alfred-Hütte“ aus Echo vom Niederrhein, 21. 9. 1909, in: HAK, WA 70/447. 206 Vgl. Bericht über die öffentliche Feuerarbeiter-Versammlung, 26. 5. 1907, Friedrich-Krupp AG, in: HAK, WA 4/1523.
Überbetrieblich-politische Initiativen
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die Versammlung ein großer Erfolg, indem sie quasi Anschauungsunterricht für die Richtigkeit der gewerkschaftlichen Sicht auf betriebliches Handeln erteilte und den „Belehrten“ einen Verband als letzte Rettung präsentierte. Dementsprechend zufrieden hielt Wernerus fest: „Zahlreiche Neuanmeldungen zum Verband waren der praktische Erfolg der Versammlung.“ 207 Der DMV begann erst vergleichsweise spät mit der Durchführung von „Werkstattversammlungen“ für die Hüttenarbeiter und konzentrierte sich auch danach nicht so stark auf dieses Instrument wie der CMV. Äußerungen von DMV-Beamten atmeten zwar stets erheblichen Zweckoptimismus, der angesichts der realen Entwicklungen beinahe an Galgenhumor grenzte, sie bemühten aber auch stets relativierende Einschübe, die durchaus auf vorhandene Zweifel hinweisen. So schrieb der Bezirksleiter bereits 1907: Uns war es möglich, auf den meisten Werken sehr gute Verbindungen zu bekommen, so daß wir ruhig behaupten können, daß auch in Zukunft die Agitation unter den Arbeitern der Schwereisenindustrie mit weiterem Erfolg betrieben werden kann.208
Allgemein sei, so der Bezirksleiter im Jahr darauf, eine positive Wirkung der „Werkstattversammlungen“ im Rahmen des Bewusstwerdungsprozesses der Hüttenarbeiter zu beobachten: Wir können mit Befriedigung am Jahresschluß sagen, daß es auch bei den schwerfälligen Hüttenarbeitern anfängt zu tagen, denn wenn wir heute Versammlungen von den einzelnen Werken einberufen, zeigt sich ein größeres Interesse, wie wir es vor einigen Jahren noch nicht beobachten konnten.209
Parallel dazu konzentrierten sich weite Teile der Bemühungen des DMV auf die publizistische Offenlegung und politische Anprangerung der Missstände in der Eisen- und Stahlindustrie. Überragende Bedeutung kam hierbei erneut Otto Huè zu, der 1906 als Redner vor dem Reichstag den Startschuss für die politische Auseinandersetzung um den Hüttenarbeiterschutz gab.210 In den folgenden Jahren wurde der Reichstag auf diese Weise immer wieder Adressat von Petitionen der 207 Friedrich-Alfred-Hütte. Arbeiter-Protestversammlung wegen Lohnkürzung, 8. 2. 1910, Nachrichten-Bureau der FAH, in: HAK, WA 70/448, Bl. 4. 208 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1907, S. 324. 209 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1908, S. 76. 210 Die rheinisch-westfälische Schwereisenindustrie auf der Anklagebank. Hüttenarbeiter! merkt’s euch!, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1911.
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Gewerkschaftsverbände, bis der Bundesrat 1908 schließlich eine Verordnung zur Pausenregelung für die Feuerarbeiter verabschiedete, die allerdings weit hinter den Forderungen zurückblieb.211 Gleichzeitig forcierte der Verband statistische Erhebungen in den Werken und gab diese in detaillierten Berichten heraus,212 deren Inhalt und Brisanz man auch in den „Werkstattversammlungen“ zu nutzen versuchte: Material wurde gesammelt und dem Vorstand sowie den Reichstagsabgeordneten, Kollegen Severing und Hue [sic!] zugestellt, um im Parlament bei geeigneter Gelegenheit im Interesse der Hüttenarbeiter verwandt zu werden. Der Entwurf des Ministers Delbrück zum Schutze der Arbeiter in der Schwereisenindustrie wurde in einer Anzahl Versammlungen zerpflückt und agitatorisch ausgenützt.213
Dass ein solches politisches Vorgehen allenfalls unterstützenden Charakter haben konnte und letztlich auch nicht mehr als eine Kompensation betrieblicher Schwäche darstellte, merkte man aber anhand der Mitgliederzahlen relativ schnell. Angesichts der Ergebnisse, die gemessen an den Kosten nur Stückwerk waren, konnte von einer Werbungswirkung für den Verband kaum die Rede sein. Die Kommunikation zwischen den konkurrierenden Gewerkschaften, die sich Erfolge einseitig zuzuschreiben und Rückschläge der Gegenseite aufzubürden versuchten, trug dazu noch maßgeblich bei und musste den Eindruck einer in sich zerklüfteten und zerstrittenen Gewerkschaftsbewegung noch bestärken.214 Die Suche nach neuen Wegen
Die zum Teil erzwungene Selbstbeschränkung des DMV im Ruhrgebiet hinsichtlich seiner Organisationsmethoden bedeutete keinesfalls, dass die Beamten nicht am innergewerkschaftlichen Wandel der „Betriebsphase“ partizipiert hätten. In konzeptioneller Offenheit, die auch schon Ungrade bei seinem Wechsel nach Bochum angemahnt hatte,215 musste man die gewandelten Vorstellungen hier allerdings an die Umstände anpassen. Dabei blieb der Fokus besonders auf dem Mittel der Hausagitation haften, die einen Kontakt versprach, der dem individual turn entsprach und von den Unternehmern kaum zu kontrollieren war. Die ganze Bandbreite der damit verbundenen Überlegungen fasste der Bezirksleiter Wolf in seiner Einschätzung im Jahresbericht für 1912 zusammen: 211 212 213 214 215
Vgl. Steinisch, Arbeitszeitverkürzung und sozialer Wandel, S. 96 ff. Zum Beispiel: Die Schwereisenindustrie im deutschen Zollgebiet von 1912. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1908, S. 76. Vgl. nur eines der vielen Beispiele in: MAZ 26 (1908) 16, S. 122. Vgl. Ungrade, Zwanzig Jahre Kampf, S. 26.
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Die Erfahrungen, die hinsichtlich der Betreibung der Agitation in den einzelnen Verwaltungen gemacht wurden, sind nicht gerade die besten. So ist unter anderem noch vielfach die Auffassung verbreitet, lediglich durch Versammlungen (kleinere und größere) die Organisation hochzubringen. Andere wieder huldigen der Ansicht, durch Abhaltung von Konferenzen die Agitation neu zu beleben, um dadurch neue Mitglieder zu gewinnen. Beide Mittel sind jedoch, wie die Erfahrung lehrt, nicht so erfolgversprechend, wie vielfach angenommen wird. Gewiß ist nicht zu verkennen, daß Werkstatt-, Betriebs-, öffentliche Versammlungen und Konferenzen (beide letztere jedoch nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen) notwendig sind, dagegen sich aber jahraus, jahrein vollständig darauf zu verlegen, ohne ersichtliche Erfolge zu erzielen, sollte doch den Verwaltungen Anlaß geben, einen anderen Weg in der Agitation zu beschreiten. Wie liegen doch in Wirklichkeit die Dinge. [sic!] Ist nicht von allen in der Agitation tätigen Kollegen die Beobachtung gemacht worden, daß gerade diejenigen, auf die es ankommt, gar nicht oder nur vereinzelt erscheinen – es sei denn, daß Verschlechterungen den Anlaß zum Besuch der Versammlung geben. [sic!] Das zweite Mittel: „Es muß eine Konferenz abgehalten werden, damit eine gegenseitige Aussprache stattfindet und die Kollegen sehen, daß man bestrebt ist, für ihren Beruf etwas zu machen usw.“ ist jedenfalls eins der untauglichsten Mittel, um neue Mitglieder zu gewinnen. […] Dagegen wird die erfolgversprechendste Agitation, nämlich die Hausagitation, größtenteils aus nichtssagenden Gründen vernachlässigt! Die Einen haben angeblich keine Leute, die sich daran beteiligen, die Anderen schützen vor, daß die örtlichen Verhältnisse es nicht zuließen, oder wie die Einwände alle heißen mögen. Wir behaupten, daß die Hausagitation, die in einigen Verwaltungen mit schönem Erfolg betrieben wird, überall mit Erfolg angewendet werden kann, wenn nur der Wille dazu vorhanden ist. In der Agitation muß nach dem Grundsatz gearbeitet werden: „Das Eine tun und das Andere nicht lassen.“ Nur dann werden wir Erfolge aufzuweisen haben.216
Entsprechend der Maxime: „Nicht öffentliche Versammlungen, sondern unablässige Kleinagitation tut uns not, und deshalb ist es die Pflicht unserer Funktionäre, das Versäumte nachzuholen“,217 versuchte die Bezirksleitung, die Attraktivität der Hausagitation für die Verwaltungen des Ruhrgebiets zu erhöhen. Die schöne Regelmäßigkeit, mit der sie dabei auf eine mangelhafte Durchführung hinwies, legt jedoch nahe, dass die Methode für die Ortsverwaltungen kaum eine Rolle gespielt haben dürfte.218 Einer gewerkschaftlichen Neuausrichtung standen demnach wohl nicht nur strukturelle Faktoren entgegen.
216 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1912, S. 87 f. 217 Bericht über das Jahr 1913, hrsg. v. siebenten Bezirk des DMV, S. 7. 218 Vgl. Bericht über das Jahr 1912, hrsg. v. siebenten Bezirk des DMV, S. 2; Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1912, S. 102.
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Allerdings spielte dabei auch der Aufbau von Verwaltungsstrukturen im Ruhrgebiet eine Rolle: Denn es ist davon auszugehen, dass die wenigen, chronisch überarbeiteten Sekretäre kaum Spielräume für zeitintensive Methoden wie die Hausagitation besaßen. Gemessen an der industriellen Bedeutung der Region und der Anzahl potentiell organisierbarer Arbeiter waren die Verwaltungsstellen und auch die Bezirksverwaltung nämlich massiv unterbesetzt. Hinzu kam, dass die Bezirksleitung und damit die federführende Koordinationsinstanz in Hinblick auf die Agitation in Düsseldorf arbeitete und sie daher nicht nur eine programmatische, sondern auch geographische Distanz von der Hüttenindustrie trennte. Vor diesem Hintergrund forderten die DMV-Ortsverwaltungen des Ruhrgebiets den Vorstand auf den Generalversammlungen seit der Jahrhundertwende immer wieder auf, finanzielle und personelle Ressourcen in die Agitation und den Aufbau der Verwaltungen zu investieren. Als entscheidende Streitpunkte entpuppten sich diesbezüglich die Größe und Aufteilung des Bezirks, wobei der Vorstand eine stärker zentralistische Linie vertrat, während die Ortsverwaltungen für eine Verkleinerung der Zuständigkeitsbereiche votierten. So wies der Jahresbericht für 1903 stolz darauf hin, dass man mit der Anstellung eines zweiten Bezirksleiters in Düsseldorf den völlig überarbeiteten Karl Spiegel 219 entlastet und die vorhandenen Missstände beseitigt habe. Gleichzeitig wurde kein Zweifel daran gelassen, dass eine Teilung der Verwaltungsstellen nicht in Frage kam: In Verwaltungsfragen setzte man voll auf eine starke Zentrale mit einem besoldeten Geschäftsführer und lehnte „Zwergverwaltungen“ scharf ab.220 Was die Beamten in den Orten von diesem Vorgehen hielten, fasste der Essener Sekretär Wohlsein auf dem Verbandstag zusammen: Seiner Meinung nach sei der siebente Bezirk viel zu groß und müsse unbedingt geteilt werden, um eine funktionierende Gewerkschaftsverwaltung zu gewährleisten. Auch sollte die Trennungslinie dem Bezirk selbst obliegen und nicht „von oben“ diktiert werden. Die Anstellung eines zweiten Bezirksleiters entlarvte er darüber hinaus als Palliativmittel, da die
219 Karl Spiegel (1868 – 1932) trat nach einer Klempnerlehre und Wanderschaft (1882 – 1888) der SPD und einem Metallarbeiter-Fachverein bei und war bis 1901 als Metallarbeiter tätig. Seine gewerkschaftliche Karriere verbrachte er größtenteils im Rheinland und in Westfalen, wo er sich schon seit der Frühphase des DMV zu einem der wichtigsten Persönlichkeiten des Verbandes entwickelte. Er bekleidete unter anderem folgende Ämter: Vorstandsmitglied der DMV – Verwaltungsstelle Düsseldorf (1894 – 1901), Vertrauensmann des Verbandes für den Niederrhein (1899 – 1901), Bezirksleiter des DMV für Rheinland und Westfalen (1901 – 1920), Bezirksleiter für Minden, Münster, Osnabrück und beide Lippe mit Sitz in Bielefeld (1920 – 1932). Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, S. 194. 220 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1903, S. 106 – 112.
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gleiche Arbeit nun von zwei Personen erledigt werde.221 In den folgenden Jahren gelang es den Ortsverwaltungen zwar häufig, diese Kritik und entsprechende Verbesserungsvorschläge in Form von Anträgen auf den Verbandstagen durchzubringen; es zeigte sich dabei bis 1914 jedoch wiederholt, dass der Vorstand nur notgedrungen einwilligte und den Vollzug der Beschlüsse entweder verschleppte oder nur oberflächlich verfolgte. Über den Teilungsbeschluss des Verbandstages in Leipzig berichtete der Dortmunder Sekretär König deshalb zwei Jahre später in München: Die Generalversammlung in Leipzig hat einen Antrag Dortmund angenommen, wonach der siebente Bezirk geteilt werden sollte. Pro forma ist das gewissermaßen geschehen, es ist dem Kollegen Spiegel die Bearbeitung von Westfalen übertragen worden, dem anderen Kollegen die Bearbeitung vom Rheinland. Damit ist unser Wunsch nicht erfüllt, wir wollen, daß das Ruhrgebiet intensiver bearbeitet wird als heute. Man wird sagen, wir haben eine schöne Mitgliederzahl zu verzeichnen, wir haben um 9000 im Bezirk in einem Jahre zugenommen. Gewiß, aber das befriedigt uns noch lange nicht. Es sind in diesem Bezirk 400.000 bis 500.000 Arbeiter in der Metallindustrie beschäftigt, und deshalb hat der Vorstand die Pflicht, alle Kräfte für dieses Gebiet zur Verfügung zu stellen. Es geht aber nicht, daß man einem Lokalbeamten die Bearbeitung eines Bezirkes überweist, der so groß wie ein kleines Königreich ist. Der Beamte von Bochum zum Beispiel hat einen Bezirk von so großem Umfang zu bearbeiten, daß es ihm unmöglich ist, seine Geschäfte zu erledigen und dabei noch wesentliche Agitation zu treiben. Allerdings sind im siebenten Bezirk 36 Beamte tätig. Es kommen im Durchschnitt auf jeden etwa 1400 Mitglieder, aber wir müssen säen, wenn wir ernten wollen. Wir haben doch gesehen, daß, nachdem die Partei Beamte angestellt hat, es mit der politischen Bewegung vorwärts gegangen ist. Wollen wir das hochindustrielle Ruhrgebiet erschließen, so müssen wir ganz andere Opfer bringen als bisher, wir müssen für den inneren Ruhrbezirk selbst einen Agitationsleiter anstellen, der nicht seinen Sitz in Düsseldorf hat, sondern mitten im Bezirk. Wir wären zufrieden, wenn man Spiegel speziell das Ruhrbecken überweisen würde. Die Fluktuation in unserem Gebiet ist geradezu unglaublich. Wenn wir einmal anfangen, ordentlich etwas hineinzubuddern, dann werden wir so viel Mitglieder gewinnen, daß das Ruhrbecken in Zukunft seinen Mann stellen wird. Lernen wir von den Bergarbeitern! Die haben Bezirksleiter für ganz kleine Bezirke angestellt und haben einen durchschlagenden Erfolg gegenüber den christlichen Gewerkschaften zu verzeichnen. Was den Bergarbeitern möglich ist, das wird auch den intelligenten Metallarbeitern möglich sein, namentlich da wir über ganz andere finanzielle Mittel verfügen.222
221 Die sechste ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1903, S. 174. 222 Die achte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1907, S. 72 f.
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König machte damit komprimiert deutlich, dass der Streit um die Verwaltungsaufteilung nur ein Teil der Auseinandersetzung war, die nach der Jahrhundertwende zwischen dem Vorstand und den Ortsverwaltungen entbrannte. Denn im Kern ging es den DMV-Sekretären des Ruhrgebiets auch immer um die Werbung für eine bestimmte Vorstellung über das Verhältnis zwischen Gewerkschaft und Arbeiterschaft – ein Dissens, der sich in der Agitationsfrage thematisch zuspitzte. Bei der Frage, wer im Ruhrgebiet auf wen zuzugehen habe, trennten sie vor allem von der Stuttgarter Führung Welten. Aus der Einsicht heraus, dass die bisherigen Mittel unzureichend wirkten, und auf Grund der Erfahrungen, die viele Sekretäre in anderen Regionen und Branchen gesammelt hatten, suchte man besonders für die Eisen- und Stahlarbeiter nach Auswegen aus dem Dilemma der Betriebsferne. Zu einem gewissen Teil war dafür sicherlich auch ein Gefühl der gewerkschaftlichen Rückständigkeit verantwortlich: Besonders die Berichte des Bezirks ließen in einer Zeit, als andere Regionen (wie Chemnitz) rasante Mitgliederanstiege verzeichneten, den Eindruck aufkommen, als ob man sich mit relativierender Argumentation gegen ein aufkommendes Minderwertigkeitsgefühl verteidigen müsse, dessen Symbol gleichsam die Hüttenarbeiter darstellten. Durch Überschriften wie „Feinde ringsum“ 223 versuchte man, ausbleibende Erfolge in einer Industrie zu erklären, die, der Theorie und der Arbeiteranzahl nach, zu einem der größten gewerkschaftlichen Mitgliederpools gehört haben müsste. Dies wird auch in folgendem Zitat deutlich: Wir wissen, daß wir in einer der schwierigsten Ecken unseres Vaterlandes sitzen und somit die schlimmsten Scharfmacher in unserem Industriegebiet haben, auch daß die gegnerischen Organisationen uns überall, wo nur irgend möglich, das Terrain streitig zu machen suchen.224
Umso stärker artikulierte sich schließlich auch der Innovationsimpetus bei den konsternierten Beamten, als man merkte, dass sich viele Betriebe des Ruhrgebiets mit den Methoden der „Betriebsphase“ organisieren ließen: Die Bewegung im Ruhrgebiet hat sich im letzten Jahre sehr gehoben, wir sind von dem früheren Standpunkt, daß wir alles nur durch große Versammlungen können, abgegangen, wir haben uns auf die Kleinarbeit, auf die stille Unterminierarbeit geworfen und sind dadurch bedeutend in die Höhe gekommen, namentlich in Essen, wo sich früher in den Versammlungen viele Kollegen dem Verband angeschlossen haben, aber bald wieder ausgetreten sind. Jetzt, wo wir das Werkstattvertrauensmännersystem ausgebaut haben, sind wir in ständigem Wachsen begriffen. Ganz besonders hat uns der Fall Krupp gutes Agitationsmaterial geliefert.225 223 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1906, S. 354. 224 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1909, S. 14. 225 Die sechste ordentliche Generalversammlung 1903, S. 174.
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Da diese Mittel auf Grund der Betriebsferne des DMV in der Hüttenindustrie aber nicht genutzt werden konnten, verlegte man sich verstärkt darauf, wenigstens die übrigen Wege der Kleinarbeit auszubauen, um außerbetrieblichen Anschluss herzustellen. Neben der Forcierung der Hausagitation forderte man vom Vorstand generell die massive Aufstockung der Agitationsressourcen und die Erhebung passender Statistiken. Während seines Beitrags auf der Generalversammlung, in dem er die Vorteile intensiver Erhebungsarbeit betonte, formulierte König quasi nebenbei den „Slogan“ der Ruhrgebietsbeamten, der gleichzeitig als Ursache ihrer andauernden Anträge gelten muss. Darüber hinaus enthielt er die Essenz eines gewandelten Gewerkschaftsverständnisses: Wir müssen die öffentliche Meinung durch unsere Erhebungen auf unsere Seite zu bekommen suchen. […] Ich bedaure ganz besonders, daß der Vorstand in seinem Bericht darauf hinweist, daß es ihm an Zeit und Gelegenheit zur Bearbeitung seiner Erhebungen fehlt. Könnten wir nicht aus dieser Misere herauskommen? Eine Organisation wie die unsrige, die größte auf dem Kontinent, müßte doch auch in Bezug auf die Erforschung der sozialen Lage der Arbeiter an der Spitze marschieren. Wäre es da nicht angebracht, beim Vorstand eine besondere statistische Abteilung einzurichten, und zwar denke ich mir das so, daß ein Arbeiter oder ein Akademiker, der Spezialist ist, die Sache leitet und den Vorstand von dieser Arbeit entlastet. (Zuruf: Das ist ja schon da!) Dann verstehe ich nicht, wie der Vorstand sagen kann, es fehlt ihm an Zeit. Haben wir die leitenden Personen, dann müssen wir auch die Hilfskräfte bekommen. Es ist auffällig, daß von der Denkschrift über die Lage der Hüttenarbeiter nur 1000 Exemplare gedruckt sind. Es können also nicht einmal unsere Verwaltungsstellen und Agitatoren das Material in die Hand bekommen, geschweige denn die anderen Sozialpolitiker, die es eingefordert haben. Unter allen Umständen muß in puncto Statistik mehr als bisher geschehen. Wir dürfen auf diesem Gebiet keine Opfer scheuen. Daß unsere Mitglieder uns nicht genügend unterstützen, daran sind wir selbst schuld. Suchen wir den Mitgliedern den Wert der Statistik klar zu machen, dann werden sie auch ihre Schuldigkeit tun.226
In den folgenden Jahren stellte sich die Aufforderung an den Verband, nicht erst zu warten, bis sich die Arbeiter selbstständig organisierten, sondern diesen Prozess aktiv zu begleiten, als zentrales Argument der Kollegen aus dem Ruhrgebiet heraus. Sie mahnten dabei einen Akt der Selbstreflexion an, der methodische Schwächen und vergangene Fehler sondieren und dabei helfen sollte, gewerkschaftliche Organisation „zu machen“. In dieser Funktion transportierte er immer wieder einen versteckten Affront gegen die zögernde und berufsexklusive Haltung des Vorstands.
226 Die achte ordentliche Generalversammlung 1907, S. 73, Hervorhebung durch den Autor.
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Einzelne Anmerkungen verrieten den Versuch, die Lage der Hüttenarbeiter zu verstehen und die Agitation dementsprechend anzupassen: Vielleicht wird man sagen: ja, sorgt erst dafür, daß die Kollegen sich organisieren und verkürzt dann die Arbeitszeit mit Hilfe der Organisation. Aber wer 12 Stunden und noch länger gearbeitet hat, der denkt und liest nicht mehr, der ist überhaupt nicht mehr organisationsfähig.227
Daher rückten auch erstmals die polnischen Eisen- und Stahlarbeiter in den Fokus der Beamten: Im Ruhrbecken sind ungeheure Massen von Arbeitern nötig und alljährlich werden tausende fremde Arbeiter dort eingeführt, darunter viele, die nur polnisch reden können. […] In früheren Jahren sind diese Arbeiter mehr in die Grubenindustrie gezogen, jetzt aber ziehen sie mehr in die Hütten- und Walzwerke, wo sie als ungelernte Arbeiter zunächst die gröberen Arbeiten verrichten, sich nach und nach einlernen und uns später bei Lohnbewegungen schädigen. Je eher wir diesen Leuten Konzessionen machen, desto besser für uns. Was dem Bergarbeiter-Verband möglich ist, das müßte auch uns möglich sein. Scherm meinte, wir sollten dann ein polnisches Organ herausgeben. Ich stelle es ihnen anheim, ob sie gleich diesen Schritt tun wollen. Jedenfalls wollen wir heute aussprechen, daß wir dem Vorstand eine Direktive geben, auf diesem Wege etwas zu tun, damit wir alles das getan haben, was notwendig ist und damit nicht über kurz oder lang ein polnischer Metallarbeiter-Verband uns die Mitglieder wegnimmt, die eigentlich uns gehören.228
Trotz ihrer Oberflächlichkeit und vorläufigen Ideenlosigkeit markierte diese Direktive einen bedeutenden Schritt, formulierte sie doch nicht nur den Wunsch, sondern auch den Willen, eine Arbeitergruppe zu erreichen, die noch zehn Jahre zuvor mit kulturell-rassistischen Vorurteilen belegt wurde. Auf die agitatorische Öffnung, die im Verlauf der Versammlung noch mit einem Dortmunder Antrag, ein polnisches Publikationsorgan herauszugeben, unterstrichen wurde, folgte seitens des Vorstandes jedoch jahrelanger Stillstand, sodass der Sekretär Kronshage 1909 wiederholte: Ein Antrag Dortmund, eine polnische Beilage herauszugeben, ist schon auf der Münchener Generalversammlung dem Vorstand überwiesen, es ist aber noch nichts geschehen und deshalb habe ich den Auftrag, diese Anregung zu wiederholen. Für uns in Dortmund ist es sehr wichtig, die polnischen Kollegen zu gewinnen, aber das geht nicht ohne Material in ihrer Muttersprache. Die Maurer geben sogar ein italienisches Blatt heraus; was die können,
227 Ebd., S. 118. 228 Ebd., S. 123.
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sollten doch auch wir können; eine geeignete Person, um die mündliche Agitation unter den fremdsprachigen Kollegen zu betreiben, werden wir schon finden. Für die Arbeiter in der Schwereisenindustrie hätte die Metallarbeiter-Zeitung mehr tun müssen, den Entwurf der Bundesratsverordnung z. B. hat sie viel zu spät gebracht. Wir müssen den Hüttenarbeitern beweisen, daß unser Verband hinter ihnen steht.229
Alle Versuche, erfolgreiches Vorgehen anderer Verbände zu adaptieren, scheiterten jedoch an der Haltung des DMV – Vorstands.230 Er unterließ es sowohl, ein polnisches Gewerkschaftsblatt herauszugeben, als auch, den siebenten Bezirk bei der Agitation unter den polnischstämmigen Hüttenarbeitern zu unterstützen. Dem lag ein überkommenes Verständnis von einem Verhältnis zwischen Arbeitern und Gewerkschaft zugrunde, dessen Kernpunkte noch aus der Anfangszeit des Verbandes stammten und das der Vorsitzende Schlicke auf dem Verbandstag 1913 verteidigte. Sichtlich genervt über die Anträge der Verwaltungsstellen Essen, Duisburg, Dortmund und Düsseldorf, die den Vorstand Jahr um Jahr zu einem unbequemen Vorgehen drängen wollten, fasste er seinen Standpunkt in mehreren Teilen zusammen. Aus Sicht der Kollegen aus dem Ruhrrevier mussten diese höchst widersprüchlich klingen. Zum einen räumte Schlicke nämlich ein, dass bei der Organisation in der Großeisenindustrie auch andere Methoden zum Einsatz kommen müssten als in kleinbetrieblicheren Branchen: Wir können heute unsere Taktik in der Großindustrie nicht danach einrichten, wie wir das handwerksmäßige Gewerbe bekämpfen, wir können nicht die in der Kleinindustrie herrschenden Verhältnisse auf die Großindustrie übertragen. Nein, die Verhältnisse sind grundverschieden, und unser Verband ist ja auch deswegen ein Industrieverband, weil er der technischen Entwicklung Rechnung tragen will. In Großbetrieben, wo wir ausschlaggebend sind, muß uns die Festsetzung der Taktik überlassen bleiben. (Sehr richtig!)231
229 Die neunte ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Hamburg. Abgehalten vom 31. Mai bis 5. Juni 1909 im Gewerkschaftshaus, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1909, S. 180. 230 Der Vorstand setzte sich in den Vorkriegsjahren folgendermaßen zusammen: Neben dem 1. Vorsitzenden Schlicke und dem 2. Vorsitzenden Reichel arbeiteten ein Hauptkassierer (Th. Werner) und ein Sekretär (Karl Massatsch) für die Stuttgarter Zentrale. Angegliedert war die Redaktion der MAZ aus Johann Scherm und August Quist sowie Fritz Kummer. Die elfte ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Breslau. Abgehalten vom 16. bis 21. Juni 1913 im Gewerkschaftshaus, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1913, S. 9. 231 Die elfte ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 156 f.
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Zum anderen lehnte er jedoch den Antrag, die Verhältnisse in der Hüttenindustrie auf die Tagesordnung zu setzen, mit der Begründung ab, dass diese bereits in einer kleinen Broschüre ausreichend behandelt worden seien. Außerdem sei es unerlässlich, dass sich für eine umfangreiche Aktion in diesem Bereich erst die Verhältnisse ändern müssten: Eine Stellungnahme der Generalversammlung hierzu erschien dem Vorstand erläßlich, weil ja leider die Verhältnisse in der Schwereisenindustrie noch so liegen, daß Resolutionen und Kundgebungen unserer Generalversammlung nicht der nötige Nachdruck gegeben werden kann, wegen des immerhin noch recht rückständigen Organisationsverhältnisses. Nach Meinung des Vorstandes können wir nach dem Beschluß der Generalversammlung die Organisationsverhältnisse nicht bessern, sondern es müssen dazu bestimmte Voraussetzungen in den Bezirken selbst gegeben sein und in den Bezirken selbst noch nachhaltige Arbeit geleistet werden.232
Genau wie zwei Jahre zuvor, als Carl Severing 233 den Essener Delegierten auf ihre Forderungen entgegnete, dass an der Ruhr nun einmal die „Verhältnisse […] stärker als die Menschen“ 234 seien, nutzte nun auch Schlicke die schlechten Organisationszahlen in der Hüttenindustrie, um den politischen Kurs des Vorstandes zu legitimieren. Indirekt war dieser Standpunkt, nachdem der Verband ein Kind der Verhältnisse sei, eine Preisgabe jeglichen Aktionspotentials, das außerhalb der politischen Instanzen lag. Für die Beamten aus dem Bezirk musste sich die Anmerkung, dass die Verhältnisse nur durch eine intensive Gewerkschaftsarbeit beeinflusst werden könnten, deren Inhalte der Vorstand aber nie spezifizierte, wie ein Eingeständnis der Ohnmacht angehört haben – vor allem, da die meisten ihrer methodischen 232 Ebd., S. 108. 233 Carl Severing (1875 – 1952) gehörte im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik zu den wohl wichtigsten deutschen Gewerkschaftern und Politikern. Nach einer Schlosserlehre in Herford und ersten gewerkschaftlichen Erfahrungen übernahm er 1901 den Vorsitz der DMV – Verwaltungsstelle Bielefeld, die er in den folgenden Jahren sehr erfolgreich leitete. Gleichzeitig erweiterte sich sein politischer Einfluss kontinuierlich. 1912 gab er schließlich seine Positionen im DMV auf und konzentrierte sich ganz auf seine politischen Ämter. Nach dem Ersten Weltkrieg war Severing unter anderem Reichs- und Staatskommissar für das Ruhrgebiet, Preußischer Innenminister sowie Reichsinnenminister. Vgl. Thomas Alexander, Carl Severing. Ein Demokrat und Sozialist in Weimar, Frankfurt am Main 1996; vgl. Franz Osterroth, Verstorbene Persönlichkeiten (= Biographisches Lexikon des Sozialismus, Bd. 1), Hannover 1960, S. 286 – 288. 234 Protokoll der zehnten ordentlichen Generalversammlung des Deutschen MetallarbeiterVerbandes. Abgehalten vom 5.–10. Juni 1911 in Mannheim, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1911, S. 128.
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Vorstöße im Sande verlaufen waren. In seiner zentralen Entgegnung verknüpfte Schlicke diese Punkte schließlich zu einer Argumentation, die zwischen der Aussichtslosigkeit aktiven Zugehens auf die Hüttenarbeiter und der Schuldzuweisung an die Beamten hin und her lavierte. An polemischer Qualität ließ er es dabei gegenüber den Antragstellern auch nicht fehlen: Ich komme nun zu den Wünschen auf allgemeine Agitation. Was heißt das: für die Walzwerkarbeiter, für die Hüttenarbeiter, für die Schlosser muß mehr geschehen? Sollen wir das vom Verbandstisch aus machen? So können diese Fragen nicht entschieden werden. Seit Jahren haben nicht nur der Vorstand, sondern alle Kollegen, die für diese Bezirke in Betracht kommen, all ihr Können eingesetzt, um die Walzwerkarbeiter zu uns heranzuziehen. Der Antrag ist ein alter Bekannter, früher wurde er von Dortmund gestellt, heute kommt er von Düsseldorf. (Heiterkeit.) Sollte das nicht persönliche Verwandtschaft sein? Wir sind bereit, dafür zu sorgen, daß auch die Arbeiter der sogenannten Urproduktion organisiert werden, aber solange die Verhältnisse nicht reif sind, werden wir in diesen Gebieten nicht Fortschritte machen. Wir dürfen nichts verabsäumen, die Gesetzgebung für diese Gebiete, für diese Arbeiterschaft zu interessieren, aber das darf nicht das A und O, das darf nicht der Weisheit letzter Schluß sein, sondern wir müssen genauso wie in anderen Gebieten auch mit diesen Kategorien von Arbeitern exerzieren, daß wir nachher mit ihnen kämpfen können. Das ist der Grundgedanke, der uns beseelt. Leider ist die Entwicklung so rapid, daß wir an diese Arbeiter noch nicht so herangekommen sind, wie wir wünschen. Das hängt von den Verhältnissen ab. Es gehört auch eine Person dazu, die Erfahrung und Menschenkenntnis hat. Gerade für diese Kleinarbeit ist die Personenfrage die Hauptsache. (Sehr richtig!) Der Mensch muß den Menschen verstehen. Haben wir denn aber Überfluß an solchen Personen? Ich bestreite das. Genauso ist es mit den anderen Anträgen: Anstellung von Agitatoren. Liebe lässt sich nicht erzwingen. Solange die Verhältnisse nicht reif sind, werden wir keinen Fußbreit vorwärtskommen.235
Die entscheidende Differenz zwischen Schlickes Äußerung und den Aufforderungen zur aktiven Selbstreflexion durch die Ruhrbeamten ließ sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nicht auflösen und trug in erheblichem Maße dazu bei, dass der Organisationsgrad in der Eisen- und Stahlindustrie zu den niedrigsten aller Metallbranchen gehörte. Der Streit darüber, ob man die Verhältnisse beeinflussen und das Bewusstsein der Arbeiter gezielt schärfen oder auf einen Selbsterkenntnisprozess warten und bestimmte Bedingungen ersehnen sollte, mündete in eine methodische Stagnation des DMV.
235 Die elfte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1913, S. 125 f., kursive Hervorhebung durch den Autor.
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Beide Ansätze, die im Kern den Grundgedanken einer Bildungsbewegung beinhalteten, sich aber in ihrer aktiven und passiven Ausrichtung massiv unterschieden, bestimmten darüber hinaus auch den Diskurs über andere Themen. So setzte sich Schlicke an selber Stelle beispielsweise gegen eine stärkere Bekämpfung des Alkoholkonsums ein, denn „hebt den Arbeiter auf eine höhere Stufe, und er wird erkennen, wo sein Feind steht, mag es Schnaps oder anders heißen“.236 Das Gewerkschaftsverständnis des Vorstandes, an dessen Beginn die Mitgliedschaft eines Arbeiters stand, funktionierte vor allem in Bereichen, in denen der Verband über eine starke betriebliche Verankerung verfügte und der Nutzen der Organisation täglich leicht erfahrbar gemacht werden konnte. Auf lange Sicht mochte dies beim Vorstand ein Bild erzeugt haben, nach dem sich Organisation quasi als Selbstläufer abspielte, war doch der Kontakt zwischen der Führung und den Betrieben erdenklich schwach und nur über die Werkstattvertrauensmänner erzeugt, denen man einiges Misstrauen entgegenbrachte. In Branchen jedoch, in denen man betrieblich nicht an die Arbeiter herankam, versagte das Konzept völlig und machte fehlende Organisation beinahe zur logischen Konsequenz. Die Infragestellung dieser Haltung, nach der man es lieber gleich unterließ, bevor man versuchte, „Liebe zu erzwingen“, markierte daher auch die Entstehung eines „Gewerkschafters neuen Typs“: Gängige Interpretationen wurden hinterfragt, ein aktives Entgegenkommen postuliert, die Veränderung und Anpassung gewerkschaftlicher Strukturen erstmals erwogen und die prolongierende Position des Vorstands herausgefordert. Die erdrutschartige Abrechnung der Ortsverwaltungen des Ruhrgebiets mit der alten DMV-Führung und die immense Antragsflut dieser Orte auf der Generalversammlung von 1919 bildeten daher eine verständliche Folge jahrelanger Opposition und ungehörter Weiterentwicklung.237
236 Ebd., S. 187. 237 Die vierzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Stuttgart 1919. Abgehalten im Saale des Stadtgarten vom 13. bis 23. Oktober, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1919, S. 17 f.
5. Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924 5.1 Fortgesetzte Beschleunigung – Betriebliche Entwicklungen im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit Kontinuität und Wandel im Maschinenbau
Im Maschinenbau veränderten sich die grundlegenden Merkmale der Arbeitsorganisation im Ersten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren kaum. So entsprach der Teiledurchlauf noch weitestgehend den Beobachtungen Göhres: Auf die Anfertigung eines Modells in der Tischlerei und das Gießen der Formen folgte die Bearbeitung in der Schmiede und schließlich die Zerspanung in den mechanischen Werkstätten. Der Zusammenbau und die nötige Nachbearbeitung wurden in der Montage besorgt. Im Zuge der Etablierung zentraler Faktoren des „zweiten Umbruchs in der Fertigungstechnik“ baute man allerdings einige Zwischenschritte zu separaten Abteilungen aus: In der Härterei, die sich nicht in den Fertigungsprozess integrieren ließ, wurden hochbeanspruchte Teile wie Werkzeuge oder Zahnräder einer Wärmebehandlung unterzogen, um die notwendige Genauigkeit zu gewährleisten. Daneben stieg die Schleiferei entsprechend der Bedeutung dieses Verfahrens für den Austauschbau zu einer wichtigen Werkstatt auf. Eine Weiterentwicklung erfasste auch das Werkzeugmachen, da die Maschinenarbeiter ihre Werkzeuge nur noch in seltenen Fällen selbst am Arbeitsplatz instand hielten. In eigenständigen Werkzeugmachereien, die sich oft in Werkzeugschleiferei und Werkzeugausgabe untergliederten, schliff man Bohrer, Ahlen, Fräser und Meißel scharf und gab sie meist gegen Marken an die Arbeiter aus. Darüber hinaus bildete sich in den meisten Werkzeugmaschinenfabriken eine Abteilung zum Bau von Vorrichtungen heraus.1 Die Ursache dafür, dass sich die maschinenbauliche Fertigung nicht ansatzweise so tiefgreifend umgestalten ließ wie jene in den Hüttenwerken und sich Veränderungen nur graduell und eher quantitativ niederschlugen, lag wie auch in den Jahrzehnten zuvor an der Produktvielfalt des Maschinenbaus und der Größe seiner Serienfertigung. Vor allem im Werkzeugmaschinenbau blieben Einzelaufträge vorherrschend und nur sehr selten erreichten Serien einen Massencharakter: Selbst in den 1930er Jahren produzierte die Firma Reinecker „nur“ Schleifmaschinen mit einer Seriengröße zwischen 10 und 25 Stück und bei der Leipziger Firma Pittler,
1 Vgl. Markus Haas, Spanende Metallbearbeitung in Deutschland während der Zwischenkriegszeit, S. 271 – 274.
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einem für die Zeit arbeitsorganisatorisch hochrationalisierten Betrieb, lag sie noch 1940 zwischen 10 und 20. Von schweren Maschinen fertigte man sogar manchmal nur fünf Exemplare an, während kleinere Typen durchaus eine Losgröße zwischen 40 und 50 erreichen konnten.2 Unter diesen Umständen war es kaum möglich, Elemente der Fließfertigung in den Produktionsablauf zu integrieren, und das Werkstattprinzip, mit dem man flexibel auf Auftragswechsel und Kundenwünsche reagierte, blieb das zentrale Kennzeichen betrieblicher Arbeitsorganisation. Darüber hinaus konservierte der Umstand, dass sich während der gesamten Zwischenkriegszeit keine grundlegende Veränderung der Zerspanungstechnik abzeichnete, die hohe Bedeutung der Facharbeiter für den Werkzeugmaschinenbau. Besonders die Arbeit mit Universalmaschinen erforderte weiterhin umfangreiche Verfahrens- und Stoffkenntnisse, Arbeitserfahrung und die Fähigkeit, kurzfristig verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Beim Einrichten und Bedienen der Maschinen, aber auch bei Passarbeiten an ebenen Flächen und vor allem in der Montage behauptete sich qualifizierte Handarbeit auf diese Weise in einem großen Bereich der Fertigung.3 Gleichzeitig setzte sich jedoch auch die Tendenz des voranschreitenden Umbruchs fort, die Handarbeit aus der Produktion zu verdrängen: Vor allem genauere Schleifmaschinen ersparten in vielen Fällen eine manuelle Nachbearbeitung, und die Weiterentwicklung von Dreh-, Bohr- und Fräsmaschinen erhöhte neben der Geschwindigkeit auch die Qualität der Zwischenprodukte. Bis auf die Arbeit mit den Universaldrehmaschinen, die unter der Ägide hochqualifizierter Dreher stand, waren hier fast ausschließlich angelernte Arbeiter beschäftigt. Auf Grund der Stabilität einer spezialisiert-diversifizierten Auftragslage verfolgten viele Maschinenbaufirmen zwischen 1914 und 1924 eine Doppelstrategie, um die Produktion zwischen den beiden Polen Flexibilität und Rentabilität zu ermöglichen: Zum einen forcierte man eine beispiellose Beschleunigung der Fertigung, indem die Schnittgeschwindigkeiten durch neue Schneidstoffe erhöht und die Nebenzeiten der Maschinen verringert wurden.4 Vor allem nach dem Krieg, in dem diesbezüglich ein „gewisser Stillstand“ 5 eingetreten war, entwickelte sich die Firma Reinecker zum wichtigsten Lieferanten der Bestandteile des beschleunigten Betriebs. Werkzeugmaschinen für die Herstellung von Werkzeugen (Hinterdreh
2 Vgl. ebd., S. 291. 3 Vgl. Mende, „Meist brauche ich nur den Kupferhammer“; vgl. Haas, Spanende Metallbearbeitung, S. 321 ff., 331, 338. 4 Vgl. Haas, Spanende Metallbearbeitung, S. 333. 5 M. Bachert, Die moderne Werkzeugmaschine, in: Betriebsräte-Zeitschrift für Funktionäre der Metallindustrie; herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (BRZ) 4 (1923) 4, S. 119.
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bänke für Fräswerkzeuge, Universalfräsmaschinen für Werkzeuge mit hinterfrästen Schneiden, Werkzeugschleifmaschinen und Messwerkzeuge) stammten nicht selten aus Chemnitz, und bei ihrer Konstruktion spielten die Leistungssteigerung, ein stabiler Aufbau und der elektrische Antrieb eine entscheidende Rolle.6 Parallel dazu stellten die Ingenieure Überlegungen zur günstigsten Maschinenanordnung an, die unter der Maxime der „Einschränkung der Bewegungskosten“ standen: Was die Leistungsfähigkeit unseres Werkes im allgemeinen anbetrifft, so haben wir bereits wiederholt, zuletzt in unserem Bericht vom 1. Oktober 1917, auf die Notwendigkeit einer gründlichen, den heutigen Zeitverhältnissen entsprechenden, Reorganisation unseres Betriebes hingewiesen. Um den Betrieb so rationell zu gestalten, wie das notwendig ist, genügt nun aber keineswegs die Aufstellung neuer Werkzeugmaschinen allein, sondern es macht sich auch der Bau neuer Werkstätten notwendig, um die gegenwärtige Zerrissenheit der ganzen Fabrikeinrichtung zu beseitigen, um eine Verminderung der sehr erheblichen Transportunkosten und zugleich die notwendige bessere Übersichtlichkeit der ganzen Anlage zu erreichen.7
Zwar hielt man eine Organisation ohne Um- und Rückwege (noch) für beinahe unmöglich, experimentierte aber dennoch mit linienförmigen Anordnungen, die von der Verbreitung des riemenlosen Elektroantriebs profitierten und mit denen der Transportaufwand der Werkstattsysteme eingeschränkt werden sollte. Je nachdem, ob die Losgröße dies zuließ, wurden Maschinen der Bearbeitungsfolge entsprechend hintereinander postiert, Bereiche wie Schmiede und Härterei ausgegliedert und Stockwerksplanungen sowie Bahngleisanordnungen reformiert.8 Zum Zauberwort der „wirtschaftlichen Arbeitsweise“ gehörte es aber auch, den qualifizierten Facharbeitern alle zeitraubenden und damit teuren Nebentätigkeiten zu entziehen oder, wie im Falle des anscheinend verbreiteten „Herumwanderns“, zu untersagen.9 Konnte man sich schon nicht von der Facharbeit unabhängig machen, so sollte doch wenigstens deren Produktivität maximiert werden: Mit Hilfe einer exakten Arbeitsvorbereitung reduzierten sich die Fälle radikal, in denen Werkzeuge und Werkstücke gesucht, instand gehalten oder erst vorbearbeitet werden mussten. Zur optimalen Ausnutzung und steigenden Beanspruchung der Arbeitskraft trugen schließlich die Zeitstudien bei, durch die sich die Idee von der Arbeitskon
6 Vgl. ebd., S. 119 – 122. 7 Schreiben des Vorstandes an den Aufsichtsratsvorsitzenden vom 13. 2. 1918, MaschinenbauAG Golzern-Grimma, in: Sächsisches StA Leipzig, 20775, Nr. 101, Bl. 34c. 8 Vgl. J. Voigtländer, Ueber Fabrikanlagen, in: BRZ 2 (1921) 6, S. 179 – 184. 9 Vgl. Adolf Lauffer, Die wirtschaftliche Arbeitsweise in den Werkstätten der Maschinenfabriken, ihre Kontrolle und Einführung mit besonderer Berücksichtigung des TaylorVerfahrens, Berlin 1919.
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trolle grundsätzlich wandelte. Der 1924 gegründete Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (REFA) sammelte, ordnete und forcierte die schon seit Jahren gemachten Erfahrungen mit der Messung von Arbeitszeiten, die zwar langsamen aber stetigen Einzug in die Maschinenbetriebe hielten.10 In dieser Funktion war der REFA ähnlich wie das bereits 1921 ins Leben gerufene Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit in Industrie und Handwerk (RKW) ein Vorbote der Rationalisierungswelle, die sich ab Mitte der 1920er Jahre ausbreitete und die zwischen der Revolution und der Inflation eine Initiationsphase erlebte. Dennoch ist auch hierbei zu beachten, dass sich dieser Wandel bei weitem nicht auf alle Betriebe des Maschinenbaus bezog. In Bereichen der Einzel- und Kleinserienfertigung hielten sich noch bis in die 1930er Jahre hinein strikte Werkstattprinzipien, in denen ohne Arbeitsvorbereitung oder Messung der Maschinenzeiten gearbeitet wurde.11 Zum anderen intensivierten verschiedene Stellen ihre Bemühungen, der „unrationalisierbaren“ Auftragslage auf der Ebene der Teilekonstruktion, Unternehmensstruktur und -zusammenarbeit zu begegnen: Besonders unter den dynamisierenden Umständen des Weltkriegs bildete sich schnell die Einsicht heraus, große Teile der Rüstungsproduktion nicht ohne vorherige Materialnormen in Auftrag geben zu können. Zu diesem Zweck wurden schon bestehende Werksnormen vereinheitlicht und am 18. Mai 1917 der vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mitinitiierte Normalienausschuss für den allgemeinen Maschinenbau gegründet. Noch im selben Jahr erweiterte man diesen zum Normenausschuss der deutschen Industrie, dessen Begrenzungen unter dem DIN -Zeichen herausgegeben wurden.12 Die Vervollkommnung von Maßen und Toleranzen während der partiellen Konstruktionsvereinheitlichung der Rüstungsproduktion bildete den Startschuss für eine grundlegende Beschäftigung mit zwischenbetrieblichen Aspekten organisatorischer und konstruktionsbezogener Wirtschaftlichkeit während der Nachkriegszeit.13 Auf dem Weg zur Wiedererlangung der Weltmarktposition wurden Normung, Typung und Spezialisierung zu gängigen Schlagwörtern, mit Folgen, sich vor 1924 andeuteten, 10 Vgl. etwa Rundschreiben an alle Meister wegen neuer Akkordüberwachung vom 30. 6. 1924, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 132. 11 So berichtete der Oberingenieur Wirth bei der Überprüfung der Wurzener Maschinenfabrik Schütz 1930, dass bei der Einzelfertigung im Betrieb jegliche Regeln des Zusammenarbeitens, eine Arbeitsvorbereitung, Zeitmessung, Planung und Kontrolle fehlen würden. Der Betrieb sei „auf dem Vorkriegsstand und ohne die modernen Errungenschaften“. Vgl. Überprüfung des Betriebes durch Oberingenieur Wirth 1930, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 52. 12 Vgl. Spur, Vom Wandel der industriellen Welt durch Werkzeugmaschinen, S. 386 ff. 13 Vgl. M. Elsner, Die deutsche Werkzeugmaschinenindustrie, in: BRZ 4 (1923) 13, S. 373 – 379; vgl. Naumann, Werkzeugmaschinenbau in Sachsen, S. 49 ff.
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aber erst ab Mitte der 1920er Jahre voll durchsetzten.14 Während sich die Normung dabei auf die kostensenkende Vereinheitlichung einzelner Teile bezog, bestand der Zweck der Typung in der rationellen Herstellung von Baureihen, die gleiche Teile und Baugruppen besaßen.15 Spezialisierung sah hingegen weitgehende Typenbeschränkungen vor, die in Unternehmensabsprachen über Fertigungsprogramme besiegelt wurden. So schloss die Chemnitzer Firma Union im Dezember 1918 einen Vertrag mit dem einstigen Hauptkonkurrenten Karl Wetzel aus Gera, dem 1921 auch die Offenbacher Firma Collet & Engelhard AG beitrat und aus dem der Bohrwerkskonzern entstand.16 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kam es in Chemnitz sogar häufiger vor, dass Maschinenunternehmen auf ganze Produktionssparten ersatzlos verzichteten.17 Normung, Typung und Spezialisierung entfalteten sich in den direkten Nachkriegsjahren im Chemnitzer Maschinenbau auch deshalb noch nicht voll, weil diese Rationalisierungsmaßnahmen im Kontext der immensen wirtschaftlichen Scheinblüte 1922/23 als kaum notwendig erschienen. Hatte man sich durch die Kriegsfolgen zwischen 1919 und 1921 noch Gedanken über die rationellere Gestaltung der Betriebe gemacht,18 verzeichneten die Firmen in den zwei darauffolgenden Jahren Vollbeschäftigung und glänzende Gewinne. So bestand der Chemnitzer Maschinenbau 1922 aus 320 Betrieben mit 38.098 Beschäftigten, bei Hartmann arbeitete das Allzeithoch von 13.000 Menschen und die Arbeitslosigkeit war zwischen Juli und September 1923 die niedrigste aller deutschen Großstädte.19 Nach dem Zusammenbruch der Konjunktur 1924 und der langsamen Erholung Mitte der 1920er Jahre begann dann das Nachdenken über rationellere Fertigung erneut und gehörte bis in die 1930er Jahre hinein zu einem prägenden Motor in einer höchst krisenanfälligen Branche.
14 Für die Normung vgl. Max Hedel, Die Normung und ihre Bedeutung für die deutsche Industrie, in: BRZ 1 (1920) 1, S. 18 – 21. 15 Die Wanderer-Werke perfektionierten die Typung zum Beispiel im Fräsmaschinenbau. Vgl. Haas, Spanende Metallbearbeitung, S. 298 f. 16 Vgl. Bock, 150 Jahre Werkzeugmaschinenfabrik UNION Chemnitz, S. 152. 17 Vgl. Wolfgang Uhlmann, Der Chemnitzer Maschinenbau in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts, in: Sächsische Heimatblätter 41 (1995) 3, S. 141 – 144. 18 Vor allem unter dem Vorwand, die gestiegenen Löhne ausgleichen zu müssen. Vgl. Schreiben vom 16. 4. 1919, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 10, Bl. 14. 19 Vgl. Uhlmann, Der Chemnitzer Maschinenbau in den 30er Jahren, S. 141; vgl. Karlheinz Schaller, Das „Sechstagerennen“. Aus dem Alltag Chemnitzer Fabrikarbeiter in der Weimarer Republik, Bielefeld 2007, S. 43 f.
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Kurzfristige Verzögerung und endgültige Durchsetzung des „Crew-Systems“
In der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets unterbrach der Erste Weltkrieg den Investitionsschub, der in Form von Umrüstungen und Neubauten seit 1905 einen immensen Produktionsanstieg bewirkt und infolgedessen den Wandel zum „CrewSystem“ ermöglicht hatte. Während der Kriegsjahre und der ökonomisch unsicheren Revolutionszeit lebte man durch den Mangel an Rohstoffen und Arbeitskräften vor allem „von der Substanz“, indem die Anlagen stark beansprucht wurden.20 Verglichen mit der unmittelbaren Vorkriegszeit lief die Produktion allerdings auch mit ausgesprochen geringer Intensität weiter: So brach etwa die Hochofenproduktion der FAH 1915 gegenüber dem Vorjahr um fast die Hälfte ein, erholte sich im Verlauf der Kriegsproduktion auf etwa zwei Drittel des Vorkriegsstandes und sank nach Kriegsende bis 1920 auf ein Drittel. Nach einem erneuten Auf und Ab konnte erst 1924/25 wieder annähernd an die Produktivität des Jahres 1913 angeknüpft werden.21 Ähnlich gestaltete sich die Entwicklung auch für die Thomasstahl-Produktion der FAH , während man die Siemens-Martin-Produktion bereits im zweiten Kriegsjahr massiv steigern konnte und in diesem Verfahren kontinuierlich höhere Raten erreichte als in der Vorkriegszeit.22 Durch immense Investitionen in den frühen 1920er Jahren brachte man die Hütten und Walzwerke im Ruhrgebiet bis 1925 auf den neuesten Stand. Sie reichten nun an die Kapazitäten der amerikanischen Konkurrenten heran, steuerten dabei jedoch auch in eine selbst verschuldete Erlöskrise der Überkapazität hinein.23 War mit der Unterbrechung der Investitionen an den Anlagen auch ein kurzfristiger Aufschub der Ausbreitung der „Crew-Strukturen“ während des Krieges verbunden, bedeuteten Neubauten und Umrüstungen der frühen 1920er Jahre dementsprechend deren endgültige Durchsetzung. Arbeitsgruppenstrukturen fanden sich nun an beinahe allen Hochofen-, Stahl- und Walzanlagen. Im Gegensatz zu früheren Phasen des DMV herrschten damit erstmals sowohl im Maschinenbau als auch in der Eisen- und Stahlindustrie innerbetriebliche Arbeitsformen und Solidaritätsbeziehungen, die eine nachdrückliche Interessenartikulation der Belegschaften
20 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 442 f. 21 Vgl. Hochofen I 1906/07 – 13/14, FAH Rheinhausen. 22 Vgl. Thomaswerk I 1905 – 1913/14, FAH Rheinhausen. Die günstigere Entwicklung der SM -Produktion lässt sich wohl auf den Umstand zurückführen, dass dieses Verfahren ein guter Schrottverwerter war und sich daher während des Rohstoffmangels besser zur Stahlherstellung eignete. 23 Vgl. Christian Kleinschmidt/Thomas Welskopp, Zu viel „Scale“ zu wenig „Scope“. Eine Auseinandersetzung mit Alfred D. Chandlers Analyse der deutschen Eisen- und Stahlindustrie in der Zwischenkriegszeit, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1993) 2, S. 251 – 297.
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ermöglichten. Mit Blick auf die Brisanz der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Jahrzehnts und die Härte, mit der sie die Arbeiterschaft betrieblich wie außerbetrieblich traf, erscheint es daher auch nicht verwunderlich, dass diese Jahre eine Zeit intensivster Arbeitskonflikte, Streiks, Aussperrungen und Unruhen darstellte. Die Belastungen für die Arbeiter wurden dabei nicht nur durch die Beschleunigung und kriegsbedingte Entgrenzung der Arbeit verursacht. Hinzu kamen auch drängende Versorgungsprobleme (vor allem ab 1916), die Sorge um Familienangehörige und Freunde, die Ungewissheit über die eigene Rekrutierung, die fortschreitende Entrechtung, danach die Umwälzungen der Revolutionszeit, politische Streiks, die Herausforderung der Republik von links und rechts sowie der Ruhrkrieg, die Inflation und nicht zuletzt Phasen der Arbeitslosigkeit. Diese kaum zu überblickende Vielfalt der Konflikthaftigkeit berührte das Ruhrgebiet und das westsächsische Industriegebiet gleichermaßen.24 Mehrdimensionale Arbeiterreaktionen – Eigen-Sinn im Wandel
Abseits der spektakulären Konflikte vermitteln die Quellen für den gesamten Zeitraum aber auch ein Bild gestiegenen innerbetrieblichen Drucks, der sich oft weder offen noch formell artikulierte, sondern in einer Bandbreite „widerspenstiger Kleinigkeiten“ ausdrückte. Für die Unternehmer ein gewaltiger Störfaktor und gleichsam Untergrabung ihres hierarchischen Anspruchs, leiteten sich diese wohl (wenn auch nicht ausschließlich) aus der Beschleunigung betrieblicher Arbeitsabläufe und den geschrumpften Dispositionsspielräumen ab. Wesentliche Motivationen von Eigen-Sinn dürften demnach die kurzfristige Erlösung vom Arbeitsrhythmus, die Suche nach einem Ort der Selbstbestimmung, aber auch die spielerische und sogar symbolische Aneignung verschärfter disziplinarischer Vorschriften gewesen sein. Die Massivität, mit der es besonders nach Kriegsende und in den frühen 1920er Jahren zu beobachten war, zeugt indes von einer in vielerlei Hinsicht erfolgreichen Unterdrückung während der Kriegsproduktion und dem tiefgreifenden Wandel, der sich im Übergang zur Weimarer Republik auch auf betrieblicher Ebene vollzog. Nicht wenige Unternehmensaufzeichnungen erwecken daher auch den Eindruck, als ob zwischen 1918 und 1924 ein lange aufgestautes Potential ausbrach, während der Druck während des Krieges oft unbemerkt unter der Oberfläche oder im kaum sanktionierbaren Bereich geschwelt hatte. So teilte der Direktor Wendt dem 24 Eindrücklich belegt dies zum Beispiel eine Zusammenstellung der Bewegungen, die zwischen 1914 und 1924 auf der FAH stattfanden. Die Angestellten und Arbeiter II 1914/15 – 31/32, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 70/136. Eine ausführliche Interpretation der Vielfalt der Bewegungen in Chemnitz bietet Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 105 – 205.
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Stellvertretenden Generalkommando 1915 mit, dass in der Krupp’schen Gussstahlfabrik zwar renitentes Verhalten an der Tagesordnung, es aber nur selten möglich sei, dieses zu bestrafen: Die leider sehr häufig vorkommende, den Zeitverhältnissen keineswegs Rechnung tragende Widerspenstigkeit der Arbeiter bringt es ohne weiteres mit sich, daß das Aufsichtspersonal in besonders schwierigen Fällen gezwungen ist, die widerstrebenden Arbeiter scharf anzufassen.25
Ein Beispiel für diese breite Grauzone widerspenstigen Verhaltens lieferte beispielsweise der Hauptausschuss für Jugendschutz in einem Schreiben an die Firma Krupp, in dem es hieß, dass „namentlich beim Schichtwechsel in den Fabriken und Zechen trotz des vom Generalkommando erlassenen Verbots das Zigarettenrauchen in geradezu herausfordernder Weise betrieben werde“.26 Unter den Bedingungen des Arbeitskräftemangels musste solches Verhalten, vor allem wenn es sich um breitpraktizierte Angewohnheiten handelte, bis zu einem gewissen Grad geduldet werden. Auch waren sich die Unternehmer darüber einig, Bestrafungen möglichst unauffällig vorzunehmen, um die Solidaritätsbeziehungen in den Belegschaften und das Unruhepotential nicht allzu stark zu strapazieren: Ein vorgekommener Fall gibt mir Veranlassung, auf den Schlußsatz des § 68 der L. O. hinzuweisen, wonach Bestrafungen, bei denen das Ehrgefühl des Arbeiters geschont werden soll, dem Betroffenen nur mündlich bekannt zu geben sind. Unter keinen Umständen dürfen derartige Bestrafungen öffentlich zum Aushang gebracht werden.27
Konnten die Betriebsleitungen alltägliche symbolische Zurschaustellungen von Selbstbewusstsein und passivem Widerstand kaum effektiv bekämpfen, galten in der Nachkriegszeit andere Maßstäbe: Die massive Zunahme von Arbeiterhandlungen, durch die das unternehmerische Zeitmanagement und die Beschleunigung herausgefordert wurden, durfte nicht unbeantwortet bleiben. Denn die sich anscheinend verbreitenden Angewohnheiten, dem Arbeitsprozess offen Freiräume abzutrotzen, die Anstrengung, wo es ging, zu minimieren und keine Sekunde länger in der Fabrik zu verweilen als nötig, wurden vor allem im Vergleich zur gerade erst durchlebten Kriegszeit nun offensiver praktiziert. Besonders die geradezu inflatio 25 Antwort auf die Zuschrift des stellv. Generalkommandos des VII. Armee-Korps, 7. 3. 1915, Direktor Dr. Ing. Wendt, Gußstahlfabrik Essen-Ruhr, in: HAK, WA 70/202, Bl. 3. 26 Schreiben an die Firma Krupp vom 31. 7. 1916, Hauptausschuss für Jugendschutz und Jugendwohl, in: HAK, WA 41/6 – 72, Bl. 1. 27 Nachricht an die Betriebe vom 16. 9. 1915, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/692.
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nären Beschwerden der Maschinenbauunternehmen zeugen von einer unentwegten Aktivität der Arbeiterschaft, um der Zeitdisziplin zu entgehen: „Herumstehen und Schwatzen“, die „Vergeudung von Zeit“,28 „vorzeitiges Waschen, Anziehen, Kaffeekochen, Rauchen“,29 absichtlich falsches Eintragen von Arbeitszeiten im Arbeitsblock 30 und „Rauchen in den Werkstätten“ 31 bewirkten ein intensives Nachdenken über mögliche Gegenmaßnahmen. Da besonders das vorzeitige Verlassen des Arbeitsplatzes nicht in den Griff zu bekommen war, wagte man in der Maschinenfabrik Schütz in Wurzen 1923 ein Experiment: Versuchsweise ist es der Arbeiterschaft gestattet Sonnabends die Werkstätten schon 5 Minuten vor Schluss der Arbeitszeit zu verlassen; vorausgesetzt ist jedoch, dass die Arbeitsmaschinen und Plätze einwandfrei gesäubert sind.32
Ist auch über den Erfolg dieser Maßnahme nichts bekannt, zeugte sie dennoch von der Intention des Unternehmens, den „Run“ am Arbeitsende zu verhindern, und offenbarte ein begrenztes Entgegenkommen bei Verhaltensweisen, die mit Arbeitsordnungen scheinbar nicht zu unterbinden waren. Die Arbeitgeber waren auch deshalb zu einem Ausgleich gezwungen, weil sich im Umgang mit der Arbeitszeit andere Arbeiterinteressen formierten, die darüber hinaus einen wichtigen Unterschied zum „Fliehen aus der Fabrik“ in der Kaiserzeit markierten: Im Zuge der Einführung des Achtstundentages drängten die Arbeiter nämlich umso stärker auf die Verkürzung der offiziellen Pausen, die ihnen eine Maximierung persönlicher Freizeit versprach.33 Standen die Betriebsleitungen solchen Ideen auch nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, befürchteten sie jedoch, dass sich die illegale Aneignung von Zeiten während der Arbeit fortsetzen und damit die effektive Arbeitszeit noch weiter verkürzen würde:
28 Rundschreiben der Betriebsleitung vom 10. 5. 1919, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 131, Bd. 1. 29 Bericht über die Quartale, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 649, Teil 2, Bl. 222. 30 Vgl. Bekanntmachung der Betriebsleitung vom 13. 10. 1923, Maschinenbau-AG GolzernGrimma, in: Sächsisches StA Leipzig, 20775, Nr. 221, Bl. 109. 31 Mitteilung der Betriebsleitung vom 31. 1. 1920, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 131, Bd. 1. 32 Mitteilung der Betriebsleitung vom 7. 5. 1923, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 132. 33 Dieses Interesse stellte man auch bei Krupp fest. Vgl. Lüdtke, „Deutsche Qualitätsarbeit“, S. 187.
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Die Arbeitszeit wird geregelt und ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass Frühstücksund Vesperpausen wegfallen und infolgedessen auch jedes Essen und Trinken während der Arbeitszeit aufhören muss.34
Die parallelen Entwicklungen von Arbeiterverhalten und Arbeitszeit setzten die Arbeitgeber unter Druck und forcierten die Intensivierung der Arbeiter- und Zeitkontrolle sowie die Konzentration auf zeitraubende Nebentätigkeiten und illegale Arbeitspausen: Weiter habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß bei dieser Gelegenheit gleich einige Missstände in unserem Betrieb beseitigt werden müssen wie zum Beispiel: ausspülen der Kaffeetöpfe, Selbstauffüllen der Kaffeetöpfe durch die Leute, waschen oder Stiefel anziehen während der Arbeitszeit, ausschütten der Kaffeetöpfe auf den Fussboden, rauchen während der Arbeitspause in den Betriebsräumen. Zu spätes Ankommen oder vorzeitiges Abgehen einzelner Personen, um Züge zu benutzen, Arbeitsschluss an den Freitagen 5 Minuten vor 6 Uhr. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass für die Zukunft das Ankommen und Abgehen der Arbeiter nur noch durch den Eingang Karl Heine-Str. 107 erfolgen könne. Dass wir dort eine Kontroll-Uhr, wie sie in den anderen Fabriken bereits üblich ist, aufstellen würden, und nach Möglichkeit eine gemeinsame Kaffeeküche einrichten würden. Zugleich habe ich die Aufstellung einer neuen Fabrik-Ordnung – wie sie etwa die Firmen Meier & Weichelt, Pittler und Krause bereits haben, in Aussicht gestellt. Über die in der neuen Fabrikordnung aufzunehmenden Ordnungsstrafen will der Arbeiterausschuss in der Arbeiter-Versammlung Bericht erstatten, die Annahme aber jedenfalls empfehlen. Der Arbeiterausschuss hat sich mit allem diesen einverstanden erklärt und anerkannt, dass bei der verringerten Arbeitszeit jede Verzögerung oder Abhaltung von der Arbeit vermieden werden muss.35
Dass Formen zeitlicher und räumlicher Arbeitsaneignung nicht statuarisch einzuhegen waren, weil sie viel tieferen Bewusstseinsebenen entsprangen als der bloßen Machtbeziehung, machte die Firma Brehmer nur wenige Monate später implizit deutlich. Entlassung stellte scheinbar das einzige Mittel gegen die konstante Widerspenstigkeit dar:
34 Mitteilung über die Verhandlung mit dem Arbeiterausschuss und dem Arbeiter- und Soldatenrat Leipzig vom 26. 11. 1918, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 10, Bl. 28. 35 Besprechung mit dem Arbeiter-Ausschuss vom 19. 4. 1917, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 10, Bl. 108 f.
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Praktisch wird die Sache so durchzuführen sein, dass Arbeiternehmer, die sich während der Arbeitszeit anziehen, waschen, rauchen, herumlaufen u. s. w. vom zuständigen Meister zunächst einmal verwarnt werden mit der Mitteilung, dass im Wiederholungsfalle eine Entlassung stattfinden werde. Tritt dieser Wiederholungsfall ein, so liegt eine beharrliche Verweigerung der im Arbeitsvertrag übernommenen Verpflichtungen vor und die Entlassung kann erfolgen.36
Die Möglichkeit, den Arbeitsbelastungen punktuell zu entfliehen, änderte für die Arbeiter jedoch nichts daran, dass sich die betriebliche Beschleunigung massiv auf die Gesundheit und den seelischen Zustand auswirkten. Immer häufiger kündigten Arbeiter auf Grund dieser Zumutungen selbst. So hielten Kündigungsgründe wie: „gab an, immer angetrieben worden zu sein“, „konnte die Arbeit nicht vertragen“, „die Arbeit war ihm zu schwer“, „konnte kein Eisen tragen bekam Krampf in den Händen“, oder: „ging selbst, aus Gesundheitsrücksichten“,37 erst in den frühen 1920er Jahren Einzug in die Abgangsbücher der Firma Haubold in Chemnitz. Generell beklagten sich viele Beschäftigte über die schlechte Luft, die gefährliche Arbeit und die physischen Anforderungen. Krämpfe und sogar epileptische Anfälle kamen gehäuft vor, und die Erhöhung der Geschwindigkeiten führte zu steigenden Unfallzahlen.38 Abseits des Fliehens vor der Zeitdisziplin und den Arbeitsgefahren gehörte aber auch das Anschwellen von Diebstahlsdelikten zu den zentralen Elementen eigen-sinnigen Verhaltens während der 1920er Jahre: Auf der FAH in Rheinhausen konstatierte man eine enorme Zunahme der fristlosen Entlassungen wegen Diebstahls,39 in der Maschinenfabrik Brehmer in Leipzig führte man „dauernd Klagen […] über Fabrik-Diebstähle“ 40 und in der Maschinenfabrik Schütz in Wurzen kamen zahlreiche Werkzeuge nicht wieder bei der Ausgabe an.41 In Letzterer entließ man sogar den Obmann des Betriebsrats auf Grund von Diebstahl.42 Im Grunde 36 Verordnung über die Einstellung, Entlassung und Entlohnung gewerblicher Arbeiter vom 24. 7. 1919, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 629, Bl. 127. 37 Arbeiterverzeichnis der Haubold AG. 38 Die 1920er Jahre waren sowohl in der Eisen- und Stahl- als auch in der Maschinenbauindustrie eine Zeit steigender Unfallzahlen. Der Schwerpunkt dieses Anstiegs lag allerdings in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. 39 Vgl. Niederschrift über die 47. Sitzung des Arbeiter-Ausschusses, FAH Rheinhausen. 40 Bericht über die Quartale, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, Bl. 245. 41 Vgl. Mitteilung der Betriebsleitung vom 10. 10. 1917, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 131, Bd. 1. 42 Vgl. Mitteilung der Betriebsleitung vom 11. 4. 1923, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 132.
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genommen waren diese Fälle ebenfalls Akte des Fliehens, sie bezogen dies aber nicht auf den Arbeitgeber, sondern auf die Herstellung von größtmöglicher Distanz zu den Arbeitskollegen.43 Man zog sich aus erzwungener enger Kooperation zurück und besiegelte den kurzfristigen Bruch mit der Aneignung der Werkzeuge oder anderen Besitzes der Kollegen. Hatte Eigen-Sinn in seiner spielerischen Ausprägung des Öfteren solidarisches Potential und verbindenden Charakter, zeigte er sich hier als individuelles Nullsummenspiel, bei dem sich nur über den Verlust eines anderen persönlicher mentaler Gewinn erzielen ließ. Indem man Dinge stahl, die für Kollegen oder das Unternehmen von Wert waren (für den Stehlenden musste dies gar nicht der Fall sein), versicherte sich ein Arbeiter des Besitzes von Macht und der Fähigkeit, erzwungene Beziehungen quasi „hintenherum“ wieder zu torpedieren. So erscheinen Fälle von Diebstahl, bei denen sehr schwere und persönlich völlig nutzlose Gegenstände entwendet wurden, auf den ersten Blick als sinnlose Dummheiten, entpuppen sich auf den zweiten Blick aber als wertvoller Beitrag zum individuellen Selbstwert- und Selbstbestimmungsgefühls des Diebes. 44 Auch in den 1920er Jahren zeigte sich Eigen-Sinn also in konstanter Mehrdimensionalität und enormem Facettenreichtum, wobei die betrieblichen Entwicklungen eine Verstärkung seines Kompensationscharakters mitverursachten. Von zentraler Bedeutung waren dabei der Gewinn von Zeit und Raum sowie die Herstellung individueller Distanz zu erzwungener Kooperation.45 Zu dieser Mehrdimensionalität gehörte aber auch, dass die solidarischen Kanäle eigen-sinnigen Verhaltens weiterhin intakt blieben und in die betrieblichen Sozialbeziehungen hineinwirkten. Gerade weil die „Crews“ der Hüttenanlagen nun über stark gestiegene Dispositionsspielräume verfügten, steht zu vermuten, dass sie diese auch zur spielerischen Einübung von Zusammenhalt nutzten, der über die (zweifellos ebenfalls immense) Kollegialität hinausging, die aus dem Arbeitsprozess resultierte. Ähnliches galt (wenn auch in weniger starkem Maße) für die Werkstattbelegschaften der Maschinenbaubetriebe. Für die Unternehmer stellten diese Fälle eine enorme 43 Vgl. Lüdtke, „Deutsche Qualitätsarbeit“, S. 187. 44 In manchen Berichten der Firma Brehmer wird sogar der Eindruck erweckt, als seien ganze Betriebsinventare gestohlen worden. So fanden sich in einem von der Polizei ausgehobenen Keller Betriebsmittel von einer Viertel Tonne Gewicht und zahlreiche Werkzeuge unterschiedlichster Art. Wie der Dieb solche Gewichte unbemerkt transportieren konnte, wurde dabei offen gelassen. Vgl. Interner Bericht über Diebstahlsdelikte von 1934, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 923. 45 Zum Schutz vor Vereinnahmung gehörte auch die verbreitete Meidung von Betriebskantinen durch die Arbeiter, die lieber im Freien und außerhalb der Fabrik aßen. Vgl. Ulrike Thoms, Essen in der Arbeitswelt. Das betriebliche Kantinenwesen seit seiner Entstehung um 1850, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19.–20. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 203 – 218.
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Herausforderung dar – besonders unter den Bedingungen der Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen und der Herausforderung des „Herr-im-Hause“-Standpunkts wurde es zunehmend schwerer, gegen Eigen-Sinn vorzugehen. Generell verlegte man sich in den ersten Nachkriegsjahren daher auf eine abwartende Position, intensivierte die Zusammenarbeit in Arbeitgeberverbänden und sammelte Material.46 Die Einsicht in die Aussichtslosigkeit kurzfristiger massiver Gegenwehr führte zu einer „Politik der Nadelstiche“,47 die nur soweit nachgab, wie es absolut notwendig war, ansonsten Verfahren verschleppte und bestehende rechtliche Grauzonen geschickt ausnutzte. Im Laufe des Jahrzehnts von 1914 bis 1924 ergab sich aber auch für den DMV eine Neujustierung der Beziehungen zur betrieblichen Ebene und zu den Metallarbeitern. Mit dem Wandel von einer systemkritischen zu einer systemtragenden Organisation sah sich die Gewerkschaft staatspolitisch in die Pflicht genommen und musste vor dem Hintergrund wirtschaftspolitischer Erwägungen einen mittelfristig anderen Bezug zur Sphäre täglicher Arbeit und Arbeitsaneignung entwickeln. Der Beginn der Veränderung des gewerkschaftlichen Koordinatensystems lag dabei in den Jahren des Ersten Weltkriegs: Durch den partiellen Einbezug gewerkschaftlichen Know-hows und der Andeutung einer neuen Rolle veränderte sich das Verhältnis zur Metallarbeiterschaft grundlegend – ein Wandel, der für viele Gewerkschafter in der „Natur der Sache“ liegen mochte, für die Arbeiterschaft aber keineswegs unumstritten und logisch konsequent daherkam.
46 Ein Beispiel dieser Sammelwut der Unternehmer, mit der man versuchte, Argumente gegen den Wandel nach 1918 zu generieren, waren die Aufzeichnungen über Arbeiterdelikte bei der Firma Brehmer in Leipzig. In einer alphabetisch geordneten Liste mit 2040 Namen, Geburtsdaten und Wohnorten wurden alle Delikte aufgeführt, die zur Kenntnis der Betriebsleitung gelangten. Neben dem omnipräsenten Diebstahl (ab der Hälfte der Seiten nur noch mit dto. abgekürzt) und anderen arbeitsbezogenen Taten, umfasste diese aber auch private Straftaten in einer Fülle, die an ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln lässt. Die Aufzeichnungen erwecken viel eher den Anschein eines stigmatisierenden Sammelsuriums, das von tiefem Misstrauen gegenüber der Belegschaft geprägt war. Andere Delikte waren z. B. Erpressung, Hehlerei, Brandstiftung, Trödel, Unterschlagung, Körperverletzung, Landesverrat, Nötigung, Betrug, Urkundenfälschung, Haus- und Landfriedensbruch, Meineid, Straßenraub, Verstoß gegen das Opiumgesetz, Beleidigung, Untreue, Wechselfälschung, Kindstötung, Bandentum, Bettelei, Sittlichkeitsverbrechen. Vgl. Auflistung der Betriebsleitung über Arbeiterdelikte vom 15. 7. 1925, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 646. 47 So drückte sich ein Mitglied des Arbeiter-Ausschusses der FAH 1920 aus. Niederschrift über die Fortsetzung der 47. Arbeiter-Ausschuss-Sitzung vom 28. 2. 1920, Friedrich-AlfredHütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/701, Bl. 7 – 10.
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Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924
5.2 Der DMV und die Arbeiterschaft während des Ersten Weltkriegs Durch den Kriegsbeginn und die Ankündigung der Generalkommission am 2. August 1914, für die Dauer des bevorstehenden Krieges auf das Mittel des Streiks zu verzichten, verschoben sich sicher geglaubte Grundsätze der Arbeiterbewegung für viele Arbeiter schlagartig. Denn von Beginn an standen große Teile der Arbeiterschaft der Aufgabe klassengesellschaftlicher Haltungen zu Gunsten der nationalen Integration skeptisch bis ablehnend gegenüber. Obgleich diese Prozesse vielschichtig und uneinheitlich abliefen, lässt sich doch von einer Kriegsbegeisterung der Arbeiter im Ruhrgebiet wie in Chemnitz nicht ausgehen.48 Vielmehr erlebten viele Arbeiterfamilien gerade in den ersten Kriegsmonaten Arbeitslosigkeit, Angst um die Angehörigen an der Front und willkürliche Entlassungen sowie Lohnsenkungen oder -einbußen in den Betrieben. Daher bedeutete der gewerkschaftliche und politische Kurs ab August 1914 auch einen tiefen Einschnitt in althergebrachte Deutungsmuster, revolutionäre Rhetorik und nicht zuletzt in das Selbstverständnis vieler Mitglieder. Die Tatsache, dass es sich bei den deutschen Gewerkschaften seit jeher um Verbände handelte, die ihre Wirksamkeit aus einer bedingten Integration in das wirtschaftliche System gewannen, spielte für die Gewerkschaftsmitglieder angesichts ihrer Erfahrungen der Unterdrückung und Verfolgung im Kaiserreich keine Rolle. Der Eintritt in den Burgfrieden (ohne die Befragung der Basis) stellte die Gewerkschaften vor ein Dilemma, das im Spagat zwischen reformistischer Praxis der Führung bei anhaltender revolutionärer Rhetorik schon zuvor angelegt war. Oder wie sich Fritz Opel ausdrückte: Was der Krieg zum Vorschein brachte, war die Diskrepanz zwischen Worten und Taten, zwischen Programm und Praxis. Im Grunde wurden nicht durch Änderung der Praxis Prinzipien „verraten“, sondern das Programm wurde nunmehr der realen Politik der Arbeiterorganisationen angepaßt.49
In diesem Kontext mochte die wachsende Einbindung in Sozial- und Arbeitsmarktstrukturen für die Ortsverwaltungen und den Vorstand des DMV Ausdruck einer ganz neuen Bedeutung der Gewerkschaften gewesen sein und als wünschenswerte 48 Vgl. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993, S. 158 – 164; Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 27 f. 49 Fritz Opel, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband während des Ersten Weltkrieges und der Revolution, 4. Aufl., Köln 1980, S. 37.
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und logische Konsequenz vergangener Bemühungen gegolten haben. Für viele Mitglieder und Vertrauensleute auf Betriebsebene sah dies jedoch ganz anders aus. Die durch die Kriegsproduktion induzierten Veränderungen der Arbeit und der Arbeitsbeziehungen, die weiterhin defizitäre politische Mitbestimmung sowie die seit 1915 wachsende Unzufriedenheit über die Versorgungslage veranlassten Teile dieser Basis dazu, die Haltung des Vorstandes vermehrt zu kritisieren.50 Konfrontiert mit rascher betrieblicher Arbeitsintensivierung und steigenden Unternehmensgewinnen in einem andauernden Krieg wurden diese Stimmen allmählich stärker und bildeten die Grundlage für den Bruch, der spätestens seit 1916 die SPD und den DMV in zwei Lager spaltete und die Organisationsarbeit im Metallarbeiterverband im weiteren Verlauf des Krieges und nachfolgend in der Weimarer Republik schwer belastete. Dennoch verliefen die Entwicklungen in Chemnitz und im Ruhrgebiet zumindest bis 1918 in verschiedenen Bahnen. Dafür waren vor allem diametral entgegengesetzte Vorbedingungen verantwortlich: Während man die Prozesse um Metallarbeiterschaft und DMV in Chemnitz – ausgehend von den großen Organisationserfolgen vor 1914 – wohl am ehesten als „Entfremdung“ 51 und langfristigen Bruch bezeichnen kann, ermöglichten die Kriegsbedingungen dem DMV im Ruhrgebiet erstmals einen partiellen Einbruch in die Werke der Hüttenindustrie und die Organisation der Eisen- und Stahlarbeiter. Dass jedoch die Beamten aus beiden Regionen wahrscheinlich von einer Erfolgsgeschichte und dem richtigen Kurs gesprochen hätten, war auf die spektakuläre Organisationsentwicklung seit 1917 zurückzuführen. Sie verstellte den Blick für tieferliegende Verwerfungen im Gefüge von Arbeiterschaft und Gewerkschaft, die sich erst zwischen 1920 und 1924 offenbarten. Aus der Rückschau betrachtet glichen sich die regionalen gewerkschaftlichen Entwicklungen daher während des Krieges an. 5.2.1 Metallarbeiterschaft und DMV in Chemnitz während des Ersten Weltkriegs Der Eintritt in den Weltkrieg in Chemnitz
In der Chemnitzer Arbeiterbewegung vollzog sich der Einzug ins Lager des Burgfriedens unter heftigen Vorzeichen: Die Volksstimme, seit Jahrzehnten das wichtigste 50 Vgl. dazu z. B. Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914 – 1918, Göttingen 1978, S. 33 – 57. 51 Marco Swiniartzki, Der Beginn der gegenseitigen Entfremdung. Arbeiter und Deutscher Metallarbeiter-Verband im Chemnitzer Maschinenbau 1914 bis 1918, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 13 (2014) 2, S. 106 – 123.
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Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924
Presseorgan von SPD und Gewerkschaften in der Stadt, schwenkte in geradezu spektakulärer Weise um und brach dadurch mit einer ausgesprochen systemkritischen Vergangenheit. Hatten ihre Artikel jahrelang unter behördlicher Beobachtung gestanden und waren ihre Redakteure zu teilweise harten Gefängnisstrafen verurteilt worden,52 entwickelte sich das Blatt seit August 1914 zu einer der wenigen sozialdemokratischen Zeitungen, die sogar Vergeltungsmaßnahmen an der Zivilbevölkerung guthießen. Lenin bezeichnete sie auch aus diesen Gründen als „eines der offensten und extremsten Organe der deutschen Sozialimperialisten“.53 Im Laufe des Krieges wuchs die Volksstimme immer stärker in die Rolle eines Sprachrohrs für Kriegsbefürwortung, nationale Integration und die Zurückstellung gewerkschaftlicher Forderungen hinein. Unter Redakteuren wie Ernst Heilmann und Gustav Noske war sie ein Organ der reformistischen Strömung innerhalb der Sozialdemokratie und befand sich dabei auf einer Wellenlänge mit dem Chemnitzer Gewerkschaftskartell. Besonders an der Ausrichtung, Leitung und Politik dieses Blattes entzündete sich daher auch der stärkste Widerspruch nicht nur innerhalb der Arbeiterschaft, sondern auch mittelfristig in den Verbänden selbst. Mit dem Verzicht auf Methoden wie Streik oder Gemaßregeltenunterstützung, konzentrierten sich die Chemnitzer Gewerkschaften (und allen voran der DMV) seit Kriegsbeginn vor allem auf die Verwaltung der kriegsbezogenen Probleme der Arbeiterschaft. Dazu gehörte zunächst besonders die grassierende Arbeitslosigkeit: Im August waren mit 4924 organisierten Metallarbeitern 27,5 Prozent der DMV -Mitgliedschaft arbeitslos gemeldet.54 In dieser Lage erreichten die Chemnitzer Gewerkschaften und allen voran der von der Arbeitslosigkeit am stärksten betroffene DMV einen kurzfristigen Erfolg, indem sie am 31. August 1914 gemeinsam mit der Stadt das so genannte Genter System der Arbeitslosenunterstützung installierten.55 Allen reichsdeutschen Mitgliedern des DMV wurde, soweit sie vom Verband Arbeitslosenunterstützung bezogen, unabhängig vom Geschlecht pro Werktag ein öffentlicher Zuschuss von 50 (für Verheiratete) bzw. 30 Pfennig 52 Vgl. Sendung der antimilitaristischen Artikel der Chemnitzer Volksstimme an das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, Polizeiamt der Stadt Chemnitz, 1912 – 1913, in: Sächsisches HStA Dresden, 10717, Nr. 4802; vgl. Bericht über die politische und gewerkschaftliche Bewegung in Chemnitz im Jahre 1913, Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, 1914, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11065, Bl. 41 f. 53 Zitiert nach Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 21. Zur sozialdemokratischen Parteipresse in Sachsen vgl. Irmtrud Wojak, Sozialdemokratische Parteipresse 1890 – 1914. Spiegel eines revolutionären Zentrums Sachsen?, in: Grebing, Helga/Mommsen, Hans/ Rudolph, Karsten (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe, Essen 1993, S. 114 – 128. 54 Vgl. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1914, S. 485. 55 Vgl. Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 56.
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(für Ledige) gezahlt.56 Obgleich auch unorganisierte Arbeiter und Arbeiterinnen Zuschüsse erhielten, war diese Regelung aus Sicht der DMV-Führung aus zweierlei Sicht erfreulich: Denn zum einen wurden die Mitglieder stärker bezuschusst, wodurch ein nicht zu unterschätzender Organisationsanreiz geschaffen war und zum anderen entschärfte das System die Fluktuationsproblematik, da es einen ununterbrochenen Wohnsitz in Chemnitz und die Annahme aller angemessenen Erwerbsmöglichkeiten voraussetzte. Dennoch blieb die Bedeutung des Zuschusses nur Episode. Dies war darauf zurückzuführen, dass sich die beiden wichtigsten Industriebranchen der Stadt im Übergang zur Kriegsproduktion stark veränderten: Während die Textilbranche in den folgenden Jahren einen schweren Einbruch erlebte,57 waren im Maschinenbau nach einer kurzen und harten Umstellungsphase ab 1915 eine beispiellose Kriegskonjunktur und andauernde Vollbeschäftigung zu verzeichnen. Dementsprechend sanken ab Herbst 1914 auch die Arbeitslosenzahlen wieder: Im Monatsdurchschnitt waren von allen Chemnitzer Metallarbeitern 1915 nur 54 arbeitslos.58 Neben Werkzeugmaschinen zur Herstellung von Kriegsgütern produzierten die Maschinenfabriken, allen voran die Wanderer-Werke und die Sächsische Maschinenfabrik (vorm. Richard Hartmann AG) rentabel Geschütze und Munition. Aber auch die Hermann und Alfred Escher AG meldete nach den ersten Betriebseinschränkungen im Sommer 1914 eine absolute Auslastung und 1916/17 eine nochmalige Erhöhung der Produktion, die etwa dem Doppelten der Friedensproduktion entsprach.59 Ähnlich gestaltete sich die Entwicklung bei der J. E. Reinecker AG in ChemnitzGablenz: Da schon Vollbeschäftigung herrschte und ein „guter Absatz der Waren“ gegeben war, kam es 1916/17 durch „einen beispiellos hohen Beschäftigungsgrad“ zum Bau neuer Betriebseinrichtungen und zum Ankauf einer eigenen Gießerei. Als drängendstes Problem meldete das Unternehmen den anhaltenden Mangel qualifizierter Arbeitskräfte.60 56 Die Unterstützung der Erwerbslosen durch das Reich, die Bundesstaaten, Versicherungsanstalten sowie durch die Gemeinden, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1915, S. 103, 140 f. Angesichts eines Lohnes, der bei Drehern und Schlossern etwa vier bis fünf Mark pro Tag betragen haben dürfte, war ein Zuschuss von 50 bzw. 30 Pfennig zur Arbeitslosenunterstützung des DMV durchaus beachtlich. 57 Vgl. Kocka, Klassengesellschaft, S. 21; vgl. Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 54 f. 58 Die Gewerkschaftsbewegung in Chemnitz während der Kriegsjahre 1914 und 1915, herausgegeben vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz 1916, S. 27. 59 Vgl. Geschäftsberichte 1905 – 1929, Fa. Hermann & Alfred Escher, Werkzeugmaschinenfabrik AG, Siegmar, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31026, Nr. 75. 60 Vgl. Geschäftsberichte 1912 – 1916 und 1915 – 1917, J. E. Reinecker AG, Chemnitz-Gablenz, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31007, Nr. 224 und 225.
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Insgesamt waren die Unternehmer gut auf die Kriegsproduktion vorbereitet und fuhren, auch weil die zuständigen Ämter für kriegswichtige Lieferungen beinahe jeden Preis akzeptierten, im Laufe des Krieges beträchtliche Gewinne ein. In nicht unwesentlichem Maße dürfte dazu auch die rapide ansteigende Beschäftigung von Frauen in der Metallindustrie beigetragen haben, deren Lohn (entgegen aller Beschwerden) in der Regel bedeutend niedriger war als jener ihrer männlichen Kollegen. Chemnitz entwickelte sich vor allem im Maschinenbau zu einem Zentrum der Frauenarbeit: Arbeiteten im August/September 1916 in 63 Chemnitzer Betrieben und 21 Betriebsabteilungen 4648 Frauen, so waren es vor dem Krieg lediglich 503 gewesen.61 Im Zuge der Vervollkommnung des „zweiten Umbruchs in der Fertigungstechnik“, der immensen betrieblichen Beschleunigung, und auf Grund der Tatsache, dass die Schutzbestimmungen für Überstunden- und Nachtarbeit zu Kriegsbeginn kassiert worden waren, erhöhte dieser Anstieg die Tendenz zur Arbeitsüberlastung noch weiter. Des Weiteren führten kriegsbedingte Produktionsvereinheitlichungen vor dem Hintergrund der Ausweitung angelernter Maschinenarbeit zu einer Bedrängung qualifizierter betrieblicher Verhandlungspositionen: Im Rahmen der Mobilmachung in großem Stile eingezogen, wurde die verbliebene reduzierte Facharbeiterschaft von der eintönigen Produktpalette, den technischen Vereinfachungen und dem Einsatz von Frauen und Kriegsgefangenen 62 in ihrer angestammten Position herausgefordert. Das mit großer Sicherheit vorhandene Wissen um die Kriegsgewinne der Unternehmer, die Erfahrungen mit deren „alten“ Instrumenten 63 und die selbst auferlegte Friedenspflicht der Gewerkschaften mussten daher über kurz oder lang in Versuchen münden, Belegschaftsinteressen ohne die Verbände zu vertreten. Schleichender Bindungsverlust
Im ersten Kriegsjahr blieb die betriebliche Lage in den Maschinenfabriken zunächst relativ ruhig. Auch an städtischen Unruhen wie dem „Butterkrawall“ im Oktober 61 3337 Frauen arbeiteten in „Kriegsindustrien“, 1311 in „Friedensindustrien“. Einen Lohnzuschlag für Überstunden und Sonntagsarbeit erhielten im September 1916 2982 Frauen, die Schutzbestimmungen wurden für 1511 Frauen eingehalten, für 1014 wurden sie aufgehoben. Die Frauenarbeit in der Metallindustrie während des Krieges, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1917, Anhang. 62 Kriegsgefangene arbeiteten in Chemnitz unter anderem bei Hartmann, Wanderer, Germania, Reinecker und Sondermann & Stier. Vgl. André Neubert, Zur Geschichte des Kriegsgefangenenlagers Chemnitz-Ebersdorf 1914 – 1921, in: Beiträge zur Heimatgeschichte von Karl-Marx-Stadt 29 (1987), S. 23. 63 Zwei besondere Beschwerdepunkte des DMV blieben die Existenz und Förderung der Werkvereine durch die Unternehmer sowie die Ausnutzung der Umstände zur Ausweitung der Arbeitszeiten und Drosselung der Löhne.
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1915 beteiligten sich die Metallarbeiter kaum; diese gingen eher von aufgebrachten Frauen und Jugendlichen aus und nahmen die Versorgungslage zum Anlass.64 Nichtsdestotrotz beinhalteten sie auch schon eine politische Komponente, da die Frauen gezielt zum Verlagsgebäude der Volksstimme zogen, um gegen deren Berichterstattung zu protestieren.65 Unter den Arbeitern der Maschinen- und vor allem der Rüstungsbetriebe konnte solches Protestpotential allerdings kaum um sich greifen, weil diese zu den vergleichsweise gut versorgten und bezahlten Teilen der Arbeiterschaft gehörten und der DMV darüber hinaus jede Gelegenheit nutzte, aufkommende Unruheherde zu beschwichtigen. Dass diese Taktik ihre Grenzen hatte, wurde aber sofort deutlich, als die Versorgungslage auch für die Rüstungsarbeiter kritisch zu werden drohte. Zwar vertraten die Chemnitzer Metallarbeiter ihre Versorgungsinteressen während des gesamten Krieges weder in Tumulten und Unruhen noch in langen Streiks, doch konnte im Laufe des Jahres 1916 ein zunehmender betrieblicher Druck bemerkt werden, der sich immer häufiger in kleinen und kurzen Bewegungen entlud.66 Waren diese auch nur selten mit Arbeitseinstellungen verbunden, untergruben sie dennoch den Vertretungsanspruch des DMV , da die Sekretäre von den Vorkommnissen meistens erst im Nachhinein erfuhren. So kritisierte der Verwaltungsbericht des vierten Bezirks für 1915 besonders die Angewohnheit vieler Belegschaften, Kriegskonjunktur und Arbeitskräftemangel auf eigene Faust auszunutzen. Und gerade weil diese Bewegungen häufig erfolgreich ausgingen, blieben die Appelle des DMV weitestgehend ungehört.67 1916 klaffte schließlich die Differenz noch weiter auseinander: Obgleich der Chemnitzer DMV Tarifverträge für mehr als 12.000 Arbeiter abschließen konnte und zwei Angriffsstreiks durchführte, standen dem doch 35 Lohnbewegungen gegenüber, die zwar allesamt ohne Kosten für die Kasse blieben, auf deren E ntstehen 64 Vgl. Stefan Pfalzer, Der „Butterkrawall“ im Oktober 1915. Die erste größere Antikriegsbewegung in Chemnitz, in: Helga Grebing/Hans Mommsen/Karsten Rudolph (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis 1933, Essen 1993, S. 196 – 201. 65 Vgl. Bericht über die Unruhen in Chemnitz, Erster Staatsanwalt bei dem Landgerichte Chemnitz, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11069/Teil 2, Bl. 236 – 241. 66 Diesen Beginn der „Unruhe“ in den Belegschaften ab 1916, die den Konsumentenprotesten der Jahre zuvor eine neue Qualität gab, konstatierte auch Klaus Weinhauer, Konflikte am Arbeitsplatz und im Quartier. Perspektiven einer sozialgeschichtlichen Erforschung von Arbeitskämpfen und Konsumentenprotesten im 20. Jahrhundert, in: AfS 38 (1998), S. 345 f. 67 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1915. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1916, S. 257.
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und deren Forderungen der Verband aber auch meistens keinen Einfluss hatte.68 Vor allem die Initiierung der Bewegungen in den großen Werken (Zimmermann, Germania, Hartmann, Kappel) war den Sekretären und (verbliebenen) Werkstattvertrauensmännern oft entgangen, sodass die Kurzstreiks von mehreren tausend Arbeitern erst durch eine nachträgliche Hinzuziehung der Verbandsvertreter beendet werden konnten.69 Für das Ende des Jahres 1915 und das gesamte Jahr 1916 weisen die Ereignisse generell daraufhin, dass zum einen politische Forderungen bei diesen Bewegungen noch keine Rolle spielten. Die gängigsten Konfliktfelder waren eher die Versorgungslage, die Teuerungszulagen, Lohnerhöhungen und besonders die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den einzelnen Werken. Zum anderen besaßen die DMV -Beamten immer noch einen großen Einfluss innerhalb der Belegschaften, wenn es darum ging, begonnene Bewegungen erfolgreich zu beenden. Als Agenda-Setter hatten sie jedoch viel von ihrer Wirkung eingebüßt. Immer seltener gelang es auch, innerbetriebliche Strömungen und Interessenkonstellationen zu erkennen, zu beeinflussen und zu kanalisieren. Besonders zur produktionsentscheidenden Facharbeiterschaft in den Drehereien kam der Kontakt abhanden, sodass sich deren Arbeitskämpfe tendenziell immer stärker ohne Hinzuziehung des DMV abspielten. Dass diese Distanz auf Grund wachsender Vermittlungsschwierigkeiten nicht schon früher offensichtlich wurde, war auf die konjunkturelle Lage zurückzuführen, die es den Unternehmern relativ leicht machte, Lohnforderungen zu bewilligen. Die aus seiner Kommunikations- und Transmissionsfunktion erwachsende Reputation für den DMV überdeckte dabei die Betriebslosigkeit dieser Erfolge.70 Der Verband war zunehmend vom betriebsintern-verankerten Interessengenerator und -kanalisator zum außerbetrieblichpolitischen Vermittler und Ruhebewahrer geworden. Dementsprechend problematisierte sich das Verhältnis zwischen DMV und Arbeiterschaft in einer konjunkturell und versorgungstechnisch ungünstigeren Situation: In den zahlreichen Kurzstreiks und Petitionsgängen der Belegschaften der großen Maschinenfabriken im April 1917, die aus als ungerecht empfundenen 68 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1916. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1917, S. 95 ff. 69 Vgl. Berichte. Chemnitz, in: MAZ 35 (1916) 47, S. 195. 70 Allgemein erlebte die Leitung des Chemnitzer DMV seit 1916 eine politische Aufwertung, die aus ihrer regelmäßigen Hinzuziehung bei Einigungsverhandlungen resultierte. Der Anlass für viele der Verhandlungen waren jedoch Bewegungen der Belegschaften, die den Sekretären unter den Bedingungen der Vorkriegszeit nicht entgangen wären. Stück für Stück kam auf diese Weise die Möglichkeit abhanden, sich hinter die Lohnbewegungen zu setzen – eine Entwicklung, die die Ortsleitung jedoch nicht kritisch reflektierte. Vgl. ebd.
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Schwerstarbeitereinstufungen erwachsen waren,71 gelang es den DMV -Sekretären nur mit größter Mühe, den Einfluss auf die Arbeiter geltend zu machen. Am 13. April 1917 meldete die Kriegsamtsstelle Leipzig, „daß infolge der Kürzung der Brotrationen am nächsten Tage Arbeitsniederlegungen in folgenden Chemnitzer Großbetrieben bevorstehen: Sächs. Maschinenfabrik Hartmann, Firma Reinecker, Firma Haubold. Im übrigen kriselt es in fast allen Munitionsbetrieben in Chemnitz.“ 72 In den folgenden Tagen streikten etwa 3000 Arbeiter der Wanderer-Werke, 250 Arbeiter bei Escher, 130 bei Pornitz und 80 Gießer bei Haubold. Dazu schickten viele Belegschaften anderer Werke Abordnungen zum Stadtrat, um sich für bessere Versorgungsbezüge einzusetzen.73 Trotz des ruhigen und geregelten Ablaufs der Bewegungen – die Arbeiter stellten morgens die Arbeit ein, zogen zum Rathaus, Stadtrat oder zu anderen Behörden, hielten dann eine Versammlung ab und nahmen die Arbeit noch am selben Tag wieder auf 74 – fiel es den DMV -Sekretären sichtlich schwerer, die Gefühle zu beruhigen als noch 1916. Dass dies überhaupt gelang, lag vor allem an der breitakzeptierten Versammlungstätigkeit der Arbeiter, die den Beamten eine institutionelle Plattform für gewerkschaftliche Positionen einräumte. Erst dadurch wurde es möglich, den Diskurs zu beeinflussen. Denn in einer Versammlungssituation, deren Leitung zu den Standardaufgaben geübter Gewerkschafter gehörte, waren die DMV Sekretäre der uneinheitlichen Interessenartikulation der Arbeiter bei weitem überlegen. So konnten die Sekretäre Krause und Beckert dank ihres rhetorischen Talents und ihrer Lenkungskompetenz die aufgebrachten Versammlungen in die gewünschten Bahnen leiten: Der Gewerkschaftsbeamte Beckert des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Zahlstelle Chemnitz, hat die Versammelten ermahnt, die Arbeit wieder aufzunehmen, da ein Ausstand doch keinen Zweck habe. Auch einige andere Redner aus der Mitte der Versammlung haben sich dieser Anregung angeschlossen. Eine Abstimmung darüber, ob die Arbeit wieder
71 Der Streik ging von den Wanderer-Arbeitern aus, unter denen sich nur 49 „Schwerstarbeiter“ befanden, während bei Zimmermann 2400 und bei Hartmann 2150 Arbeiter diese Einstufung und damit höhere Versorgungsbezüge erhielten. Vgl. Bericht über die Streiks in Chemnitz 1917 an das MdI vom 21. 4. 1917, Amtshauptmannschaft Chemnitz, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11071, Bl. 141 f. 72 Zitiert nach Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 107. 73 Vgl. Ausführungen über Arbeitsniederlegungen und Versammlungen in Chemnitz 1917 vom 19. 4. 1917, Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11071, Bl. 168 – 174. 74 Vgl. Bericht an das MdI über Lage und Streiks in Chemnitz vom 22. 4. 1917, Kreishauptmannschaft Chemnitz, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11071, Bl. 156 – 159.
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aufgenommen werden wird, ist zwar nicht erfolgt, doch läßt die Stimmung der Arbeiter, soweit sie in der Versammlung anwesend gewesen sind, darauf schließen, daß die Arbeit am nächsten Montag wieder aufgenommen wird.75
Der Kern ihrer beschwichtigenden Taktik war dabei ein Insistieren auf einer Orientierung an pragmatischen Tagesaufgaben. Indem sie den Fokus auf Lohnfragen und Zuschussbewilligungen lenkten und ganz gezielt die gewerkschaftliche Vermittlerrolle zu den Behörden instrumentalisierten, erzeugten sie ein Bild von der Lage, nach dem die Arbeiter sogar noch froh darüber sein konnten, überhaupt Zuschüsse zu erhalten. Der Hinweis Beckerts an die versammelten HartmannArbeiter, dass ein Streik aussichtslos sei, da eben nicht mehr Nahrung vorhanden sei, war daher Teil eines überlegten Verteidigungskonzeptes.76 Im Spielen mit diesem Anschein überlegenen Wissens, der aus der allseits bekannten Koordinationsfunktion des DMV mit Polizei, Amts- und Kreishauptmannschaft sowie den Unternehmern gespeist wurde,77 redeten die Beamten die Streikgründe konsequent klein und versuchten vor allem, politische Einschübe rigoros zu unterbinden. In den ansonsten ruhig, ohne Widerworte und oft auch ohne Diskussion ablaufenden Versammlungen, in denen die Beamten jede zusätzliche Emotionalisierung verhindern konnten, war es dementsprechend auch eine Wortmeldung zur Einführung des Achtstundentages, die Beckert zu einem energischeren Vorgehen zwang. Er lehnte diese Forderung nicht nur rundheraus ab; er war auch merklich daran interessiert, das Thema schnell wieder auf die Lohn- und Zuschussforderungen zu lenken.78 Darüber hinaus stärkten die Sekretäre immer wieder den Zusammenhang zwischen möglichen Streikfolgen und der Sorge um die Versorgung der Familien der Arbeiter. Über Beckerts Taktik auf der Versammlung der Escher-Arbeiter hieß es daher in einem Polizeibericht: „Er hat die Leute ersucht, die Arbeit wieder aufzunehmen und weiterhin zu arbeiten, damit sie und ihre Familien nicht noch in eine bedrängte Lage gerieten.“ 79 Einer ähnlichen Argumentation bediente sich auch Krause gegenüber den Arbeitern der Firma Germania:
75 Zitiert nach Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 108. 76 Vgl. Bericht der Versammlung der Hartmann-Arbeiter im Ballhaus „Adler“ vom 17. 4. 1917, Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11071, Bl. 174 f. 77 Besonders Krause hielt häufig „vertrauliche Rücksprache“ mit der Polizei und den Behörden – ein für viele Arbeiter auf Grund ihrer Vorkriegserfahrungen sicherlich unerhörter Vorgang. Vgl. Ausführungen über Arbeitsniederlegungen und Versammlungen in Chemnitz 1917, Bl. 170. 78 Vgl. Bericht der Versammlung der Hartmann-Arbeiter im Ballhaus „Adler“, Bl. 175. 79 Ausführungen über Arbeitsniederlegungen und Versammlungen in Chemnitz 1917, Bl. 169.
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Anschließend ermahnte Krause die Anwesenden, sich mit den ihnen zugewiesenen Brotmengen zufrieden zu geben, Arbeitseinstellungen und Herbeiführung sogenannter Hungerstreiks zu unterlassen. Er betonte insbesondere, daß sie dadurch nur einen erheblichen Lohnausfall hätten und ihre Familien in eine bedrängte Lage brächten. Es müsse auch bedacht werden, daß bei Einstellung der Feindseligkeiten nicht sofort mehr Brot zur Stelle sein könne.80
Das gewerkschaftliche Vorgehen hatte freilich nicht mehr viel mit der Wirkung zu tun, die der Verband in den Vorkriegsjahren auf die Arbeiter gehabt haben musste.81 Die Sekretäre des DMV präsentierten sich im Laufe der Versorgungsstreiks und -versammlungen immer mehr als koordinierende Ordnungsmacht, die Institutionen entgegenkam, welche sie zuvor verfolgt hatten. Im Grunde genommen offenbarte sich vielen bereits im Frühjahr 1917, dass die ansonsten ohnmächtigen Behörden und Unternehmen die Gewerkschaft einsetzten, um als berechtigt empfundene Bewegungen einzudämmen. Der Anstieg unzufriedener Austritte aus dem DMV in dieser Phase verwundert daher nur wenig. Hinzu kam, dass sich in die vorherrschende Versorgungsproblematik zusehends Stimmen mischten, die auf fehlende politische Mitspracherechte und die Widersprüche des Krieges hinwiesen. Zwar vermied es der DMV auch in Chemnitz lange Zeit, sich offen mit der Gefahr einer politischen Spaltung des Verbands auseinanderzusetzen, doch war die grundlegende Diskrepanz, um die es letztlich jahrelang gehen sollte, auch schon in der „Magenfrage“ angelegt. Denn Teile der Arbeiter- und Mitgliedschaft trennte schon mindestens seit 1916 ein Gewerkschaftsverständnis von der Verbandsleitung, das diese als Kampf um das „Wesen der Organisation“ interpretierte: Auch die Organisation leidet unter diesem wachsenden Unmut und oftmals erfolgen Austritte aus dem Verband, weil die Leute der Meinung sind, daß der Verband die Aufgabe hat, in erster Linie für ihre Magenbedürfnisse Sorge zu tragen. Diese Leute verkennen vollständig das Wesen der Organisation und beachten in ihrer blinden Wut oftmals nicht die Hinweise der Verbandsleitung: „Sorgt dafür, daß ihr mehr Lohn erhaltet, um so die höheren Ausgaben auch für die unrationierten Lebensmittel decken zu können.“ 82
80 Ebd., Bl. 170. 81 Vgl. Klaus Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt am Main 1987, S. 95 f. 82 So drückte sich die Chemnitzer DMV – Leitung in einem Kurzbericht in der Metallarbeiter-Zeitung aus. Vgl. Berichte. Chemnitz, in: MAZ 35 (1917) 32, S. 135.
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Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924
Die Bildung einer Opposition „von unten“
Die Entwicklung kollektiv-artikulierten Protests der Arbeiterschaft geschah in Chemnitz keinesfalls auf selbstständigem Wege aus den Belegschaften heraus. Viel eher waren die Ereignisse im April 1917 ein Zeichen, dass die Spaltung der Sozialdemokratie auch im DMV angekommen war. Da sich jedoch sowohl die örtliche Parteileitung als auch das Gewerkschaftskartell und die DMV-Führung fest in der Hand der Kriegsbefürworter befanden, konnte sich Widerstand nicht „von oben“ in die Basisstrukturen hinein ausbreiten. Die einzige Ausnahme bildete dabei die Leitung des Chemnitzer Bauarbeiter-Verbandes, die aus Friedrich Heckert und Heinrich Brandler bestand. Im DMV dagegen vollzog sich zwischen 1916 und 1918 ein Prozess der Forcierung des Drucks „von unten“, der sich langsam steigerte und sich als langfristiger Fühlungsverlust und Vermittlungsproblem der Gewerkschaftsleitung offenbarte. Im Zentrum dieses schrittweisen Abhandenkommens der Basis, das sich auf Grund der Pressehoheit der Leitungen nur schwer nachweisen lässt, standen der Betrieb und die Werkstattvertrauensmänner. So hatte die Verbandsleitung schon 1915 angedeutet, dass man durch den kriegsbedingten Verlust an Vertrauensmännern mittelfristig mit Schwierigkeiten im Verhältnis zu den Arbeitern zu rechnen hatte: Es sind vor allem die durch den Krieg in vielen Betrieben verloren gegangenen Verbindungen, die das Ausscheiden so vieler Mitglieder aus dem Verband zur Folge hatten. Viele Mitglieder bleiben nur bei dem Verband, wenn die Verbandsbeiträge regelmäßig von Woche zu Woche vom Vertrauensmann oder Einkassierer bei ihnen abgeholt werden und das feinmaschige Gefüge der Organisation nicht gelockert wird. Gar mancher muß immer und immer wieder an seine Pflichten gegen den Verband erinnert werden, wenn er nicht verloren gehen soll. In diesem Punkte aber haben monatelang die Einrichtungen der Organisation in vielen Betrieben und Orten versagt. Es hat an geschulten und erfahrenen Vertrauensleuten als den Bindegliedern zwischen den Mitgliedern und der örtlichen Verwaltung gefehlt. Dieser Umstand ist neben der großen Arbeitslosigkeit in den ersten Kriegsmonaten die Hauptursache des Mitgliederrückganges.83
Gemeinsam mit der damit einhergehenden Verschiebung gewerkschaftlicher Entscheidungskompetenzen in die Leitungen, die trotz der Tatsache, dass der DMV auch während des Krieges Generalversammlungen abhielt, zum Hauptkritikpunkt der „Minderheit“ avancierte, erwies sich das Wegbrechen der betrieblichen Verankerung als schicksalhafte Bürde. Im Verlust eines großen Teils der lange auf-
83 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1914, S. 21.
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gebauten Brücke in die Betriebe war es dem DMV seit Kriegsbeginn kaum noch möglich, gewerkschaftliches Handeln an die Arbeiterschaft rückzubinden und die beiden Organisationsebenen aufeinander abzustimmen. Der abreißende Transmissionsriemen hatte in einer Zeit, die wie keine andere der Vermittlung bedurft hätte, schwerwiegende Folgen und war für die weitere Entwicklung des Verbandes im Krieg von höchster Wichtigkeit. Denn erst über die Gewinnung verbliebener Vertrauensmänner war es der politischen Opposition möglich, im DMV Fuß zu fassen und die Kritik in ein betriebliches Handlungspotential umzuwandeln. Die breite Kritik an der defizitären Vermittlung zur Arbeiterschaft während der Generalversammlung von 1915 war daher nur eine Seite der Festsetzung einer Opposition im DMV, die sich über die Vertrauensmänner in die Sphäre der täglichen Arbeit verlängerte. Quellenbasierten Ausdruck fand aber natürlich vor allem das Vermittlungsproblem: So beinhaltete die scharfe Zurechtweisung der Redaktion der Metallarbeiter-Zeitung seitens vieler Verwaltungsstellen verstärkt Hinweise auf die betrieblichen Probleme, die daraus erwuchsen, während die Entgegnungen des Vorstandes diese Ebene fast vollständig übergingen und politische Erwägungen in den Vordergrund stellten. Folgende Äußerungen zeigten deutlich, dass man sich in breiten Kreisen der Gewerkschaft darüber Gedanken machte, wie der Verbandskurs auf die Mitglied- und Arbeiterschaft wirken musste: „Die jetzigen Artikel sind nicht dazu angetan, das Interesse der in den Betrieben arbeitenden Kollegen zu wahren“,84 „Die Art, wie manchmal mit Genossen in unserm Blatt umgesprungen wird, kann auf unsere Kollegen in den Werkstätten nicht gut wirken“,85 oder: „Es ist auch nicht richtig, daß die Kollegen nur künstlich erregt werden, gerade unter den Kollegen in den Fabriken herrscht die Erregung“.86 Basierend auf täglichen betrieblichen Erfahrungen sahen sich viele Verwaltungen in ihrem bisherigen Vorgehen eingeschränkt und in ihren Agitationsmöglichkeiten beschnitten: Gerade in der Kleinagitation werden uns durch ihre Artikel Schwierigkeiten gemacht. Politische Fragen sollten in der Metallarbeiter-Zeitung ganz ausgeschaltet werden im Interesse der gewerkschaftlichen Einheitlichkeit.87
Bereits 1915 deutete sich also an, dass die Etablierung einer Opposition im DMV vor allem „von unten“ aus den Betriebsstrukturen erwuchs und daher besonders 84 Die zwölfte ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Berlin. Abgehalten vom 28. Juni bis 3. Juli 1915 im Gewerkschaftshaus, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1915, S. 126. 85 Ebd., S. 128. 86 Ebd., S. 129. 87 Ebd., S. 136.
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der Werkstattvertrauensmänner bedurfte. Im Kern ihrer Argumentation stand dabei immer ein Vergleich: Die Kriegsintegration der Gewerkschaft wurde zu der theoretischen Grundlage und praktischen Verfolgung der Arbeiterbewegung im Kaiserreich in Bezug gesetzt und gefragt, wie sich diese Diskrepanz auf den innergewerkschaftlichen Zusammenhalt auswirkte. Noch nannte man diesen Bruch allerdings nicht Verrat, sondern bemühte sich fürs Erste, den Zusammenhalt zu wahren und allzu offensichtliche Einseitigkeiten der Verbandsleitung zu kritisieren. Dennoch bemäntelte man spätere Vorwürfe bereits relativ wortgewandt, sprach von einer „Virtuosität im Umlernen“ der Verbandsleitung, die die Kollegen in den Betrieben gar nicht besitzen könnten. Denn: „Was sie an Klassenhaß eingesogen haben, werden sie nicht so schnell los.“ 88 War die innergewerkschaftliche Opposition 1915 sowohl in ihren Kritikpunkten als auch personell noch eine äußerst heterogene Gruppe, bekam sie durch die Vermittlungsprobleme der Verbandsleitungen und die eigene Vertrauensmännerarbeit allmählich ein betriebliches Gesicht. Konstatierte der Vorstand daher 1917 das „Fehlen geeigneter Agitationskräfte in den Werkstätten und im Außendienst des Verbandes“,89 machten sich immer stärkere Anzeichen dafür bemerkbar, dass sich die betriebliche Agitation der Opposition intensivierte und die „Zugehörigkeit“ der Belegschaften langsam umzukippen begann. In Chemnitz schritt diese Unterwanderung im Jahre 1917 spürbar voran, sodass sich die Lageeinschätzungen der örtlichen Polizei 1917 und 1918 deutlich voneinander unterschieden. Im Februar 1917 hielt man noch fest: In Chemnitz sind gleichfalls keine Wahrnehmungen gemacht worden, die auf eine beabsichtigte Gewaltbetätigung der sozialdemokratischen Minderheit deuten könnte. Letztere hat auch dort eine Anzahl Anhänger, deren Führer der Bevollmächtigte des deutschen Bauarbeiterverbandes Friedrich Heckert ist. […] Das dortige Parteiorgan „die Volksstimme“ steht voll und ganz auf dem Standpunkt der Mehrheit, warnt die Arbeiterschaft vor unüberlegten Schritten und bekämpft die Betätigung der radikalen Minderheit auf das schärfste. Demzufolge hat die dortige radikale Minderheit bis jetzt nur einen verhältnismäßig geringen Anhang zu verzeichnen.90
88 Ebd., S. 135. 89 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1917. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1917, S. 36. 90 Lageeinschätzung zu Chemnitz vom 6. 2. 1917, Polizeidirektion Dresden, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11071, Bl. 2 f.
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Im Spätsommer 1918 hatte sich der Einfluss der „Unabhängigen“ ausgeweitet und wurde verstärkt als Gefahr eingeschätzt, wenn er auch nicht an jenen der Parteiund Gewerkschaftsleitungen heranreichte: Die Mehrzahl der Chemnitzer Sozialdemokraten steht noch auf dem Boden der Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei und auch das Parteiblatt – die Volksstimme – bekennt sich zu dieser Richtung. Infolgedessen können die „Unabhängigen“ hier nur langsam vorwärtskommen. Immerhin haben sie, hauptsächlich in letzter Zeit, durch die infolge der bestehenden Ernährungsschwierigkeiten hervorgerufene und von ihnen künstlich geschürte Unzufriedenheit der Arbeiterschaft, erheblichen Zulauf erhalten. Sie haben sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeiter aus den Gewerkschaften herauszuziehen und die Gewerkschaftsführer in Mißkredit zu bringen. Wenn ihnen dies bisher auch noch nicht gelungen ist, so haben sie doch erreicht, daß die Gewerkschaftsleiter nicht mehr auf ihre Mitglieder den Einfluß haben wie früher.91
Gleichzeitig machte man auch kein Geheimnis daraus, auf welchem Wege die Parteiopposition ihren Einfluss auf die Arbeiter erhöht und die Gewerkschaftsleitung herausgefordert hatte: In den hiesigen Rüstungsbetrieben haben die „Unabhängigen“ Vertrauensleute, welche angehalten werden, für den Anschluß an ihre Partei eifrig zu werben und für deren Ziele Stimmung zu machen. Von jeher haben sie Arbeitseinstellungen warm befürwortet und sie sind auch jederzeit bemüht, die aus Anlaß der Ernährungsschwierigkeiten erregte Stimmung der Arbeiterschaft zu schüren und für ihre Zwecke auszunützen.92
Offenbar hatte sich die Kritik am Vorstand genau auf jenen Kanälen ausgebreitet, die für den Erfolg des DMV vor dem Krieg so entscheidend gewesen waren. Zu der planmäßigen betrieblichen „Kleinagitation“, die die „Unabhängigen“ nun betrieben und durch die sie in der Lage waren, der Arbeiterschaft wesentlich unmittelbarer und überzeugender entgegenzutreten, kam ein Vorgehen im Geheimen: In den Werken, deren Belegschaften sich dieser Einflussnahme entzogen, verlegte man sich auf Wege der anonymen Agitation: Dagegen ist wahrzunehmen gewesen, daß seit etwa 8 Tagen in mehreren Betrieben der Rüstungsindustrie vereinzelt Flugblätter mit außerordentlich verhetzendem Inhalt aufgetaucht 91 Geheimer Bericht über die Chemnitzer USP-Organisation vom 12. 9. 1918, Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 10996, Bl. 9 f. 92 Ebd.
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sind. Diese Flugblätter sind anscheinend heimlich in die Betriebe eingeschmuggelt und hauptsächlich auf den Arbeitsplätzen liegend vorgefunden worden. Sie sind dann von Hand zu Hand gegangen und schließlich haben zuverlässige Arbeiter sie den Betriebsleitungen zugestellt. […] Einige Arbeiter haben auch auf dem Wege nach der Arbeitsstelle derartige Flugblätter von ihnen unbekannten Personen in die Hand gedrückt bekommen.93
Die Spaltung des Metallarbeiter-Verbandes und die Entfremdung von der Arbeiterschaft
Die Spaltung des Metallarbeiter-Verbandes vollzog sich, ausgehend von der Basis, auf diesen Wegen als schleichender Prozess, der lange keine öffentlichen Auswirkungen hatte, aber gerade deshalb so einschneidend und schwer zu bekämpfen war. Erst während der Aprilstreiks 1917 wurde in Chemnitz erstmals deutlich, wie weit die Entfremdung zwischen Gewerkschaftsleitung und Belegschaften bereits vorangeschritten war. Mochte die Interpretation des sächsischen Innenministeriums angesichts der Tatsache, dass es dem DMV noch einmal gelang, praktischen Einfluss geltend zu machen, daher auch übertrieben gewesen sein – spätestens 1918 traf sie auf viele Betriebe der Stadt zweifellos zu: Das Bedauerlichste ist, daß die alten Arbeiterführer, namentlich die Gewerkschaftsbeamten, fast allen Einfluß auf die Massen verloren haben, die vielfach unter dem Einfluß radikaler Hetzer stehen, die ihnen durch die von ihnen vorgeschlagene Gewaltpolitik mehr imponieren. Die Gewerkschaften werden als von der Regierung gekauft hingestellt, da vielfach diese in Kriegsämtern und Ausschüssen mit den Regierungsvertretern sitzen, also ihr „Klassenbewußtsein“ verloren haben. Selbst in rein militärischen Betrieben hat diese Hetze schon Boden gefunden.94
Die Chemnitzer Ortsverwaltung stand diesen Prozessen ebenso wie der DMV – Vorstand auch deshalb weitestgehend ohnmächtig gegenüber, weil man eine Kurskorrektur ausschloss und jeden Versuch ablehnte, eine Vermittlung einzuleiten. Arbeitern, die ohne den Verband „wild“ streikten, kritischen Sekretären und skeptischen Vertrauensleuten traten die Führungen kompromisslos entgegen und betrachteten sie als nicht länger zum DMV gehörig. Folgende Einschätzung des Vorstandes gehörte
93 Bericht über das Verteilen von Flugblättern vom 29. 1. 1918, Polizeiamt der Stadt Chemnitz, Politische Abteilung, in: Sächsisches HStA Dresden, Nr. 11073, Bd. 7, Bl. 44 f. 94 Archivalische Forschungen 4/II, S. 448. zitiert nach: Klaus Schönhoven, Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914 – 1919 (= Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 1), Köln 1985, S. 360.
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dabei noch zu den milderen Urteilen, mit denen man sich innergewerkschaftlich seit 1917 gegenseitig beschuldigte Es wäre sicher von größerem Nutzen, wenn die Vertrauensleute sich mehr mit der praktischen Gewerkschaftsarbeit befassen, anstatt Dingen nachzujagen, die wohl einzelnen Gernegroßen von Nutzen sind, der Allgemeinheit aber nur Nachteil bringen können.95
Auf der Generalversammlung dieses Jahres standen sich schließlich zwei relativ fest formierte Lager gegenüber, die keinen Hehl mehr daraus machten, die jeweils andere Position in ihren grundsätzlichen Bestandteilen abzulehnen. Schlickes berühmter Äußerung: „Hier muß Fraktur gesprochen werden“,96 und seiner Bezeichnung der Opposition als „Brunnenvergiftung“,97 die die Spaltung der Gewerkschaft von Beginn an als Faktum hinstellten, antwortete vor allem Robert Dißmann 98 als Korreferent mit der Forderung, die Gewerkschaftspolitik wieder an den Richtlinien „Klassenkampf“ und „Sozialisierung der Gesellschaft“ auszurichten.99 Im Kontext der Personalie Dißmann und der Frage, ob er als Korreferent anerkannt werden sollte, offenbarte sich letztlich auch die Haltung der Chemnitzer DMV-Führung unter Robert Krause: Seinem verdeckten Versuch, Dißmanns längere Redezeit über einen Antrag zu verhindern, wurde auf Grund massiven Protests der Opposition nicht stattgegeben.100 Im weiteren Verlauf des Verbandstages merkte er außerdem
95 Berichte. Chemnitz, in: MAZ 36 (1918) 9, S. 31. 96 Die dreizehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Köln a. Rh. Abgehalten vom 27. bis 30. Juni 1917 im Fränkischen Hof, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1917, S. 53. 97 Ebd. 98 Dißmann (1878 – 1926) war als gelernter Dreher und Maschinenbauer seit 1897 Mitglied der SPD und des DMV. Zwischen 1900 und 1908 arbeitete er als hauptamtlicher Geschäftsführer des DMV in Elberfeld-Barmen und Frankfurt am Main. Von 1908 bis 1912 war er Parteisekretär in Hanau und danach bis 1917 in Frankfurt. Seine weitere Tätigkeit bis 1926 war von dieser engen Verbindung politischen und gewerkschaftlichen Engagements geprägt: Während des Ersten Weltkrieges bildete er den Kopf der innergewerkschaftlichen Opposition gegen Burgfrieden und die Kriegskredite und gründete 1919 die USPD maßgeblich mit. Nach 1919 war er Erster Vorsitzender des DMV. Zwischen 1920 und 1926 war er darüber hinaus Mitglied des Reichstages. Er starb 1926 bei der Rückkehr vom Internationalen Metallarbeiterkongress in Detroit auf dem Atlantik an Herzversagen. Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, S. 97. Vgl. Nachruf des DMV – Vorstandes, in: MAZ 44 (1926) 46, S. 201. 99 Die dreizehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 59. 100 Vgl. ebd., S. 56 f.
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an, die politische Opposition, die sich auch in Chemnitz verbreite, unter keinen Umständen tolerieren zu können: Bei allen Lohnbewegungen der letzten Zeit haben die Unabhängigen versucht, in den Versammlungen für ihre politischen Ziele Propaganda zu machen. In Siegmar bei Chemnitz hat ein Redner ausdrücklich gesagt, die jetzigen Organisationen müßten zertrümmert und neue Organisationen müßten aufgebaut werden. Wir wollen und wir müssen unter allen Umständen aber die Einigkeit in der Gewerkschaftsbewegung aufrecht erhalten und wir lehnen alle syndikalistischen Bestrebungen ab.101
Die wesentlichen Konflikte des Verbandstages von 1917 waren, genau wie viele andere Prozesse davor (etwa der Übergang zur Betriebsphase), an der Frage des Verhältnisses von Masse und Führer ausgerichtet. Dem passiven Gewerkschaftsverständnis, das in vielerlei Hinsicht noch Züge der Frühphase des Verbandes trug, sich über den von der Opposition verschuldeten Vertrauensverlust der Arbeiter beklagte und ansonsten nur parlamentarische Vermittlungsbemühungen zeigte, stand dabei eine Sichtweise gegenüber, die eher an der jüngeren Vergangenheit orientiert war. Der DMV war darin eine lenkfähige Organisation, deren Handlungen auch entgegen den Verhältnissen möglich waren und direkte Ergebnisse nach sich zogen. Im Grunde genommen trafen hier noch einmal Vorstellungen aufeinander, die im Kern den beiden ersten Verbandsphasen entsprachen. Während Schlicke sich also ärgerte: […] planmäßig ist darauf hingearbeitet worden, Arbeiter zu diesen Streiks zu veranlassen, und planmäßig wird auch heute noch darauf hingearbeitet, die Arbeitermassen, die Massen der Gewerkschaftsgenossen ihren sogenannten „Führern“, den Leitungen der Gewerkschaften zu entfremden,102
entgegnete ihm die Opposition: Wenn man sich darüber beklagt, daß die Arbeiter kein Vertrauen zu den Führern haben, so stelle ich fest, das Vertrauen der Arbeiter zu den offiziellen Führern ist allerdings in den wesentlichsten Teilen geschwunden (Sehr richtig!), aber nicht durch künstliches Untergraben, sondern es ist zum Teufel gegangen durch die Handlungen der Führer selbst.103
101 Ebd., S. 110. 102 Ebd., S. 38 f. 103 Ebd., S. 68.
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In diametral entgegengesetzten Ursache-Wirkung-Verständnissen war die Gewerkschaft für die einen ein „Kind der Verhältnisse“ sowie das Opfer und präsentierte sich den anderen als Motor für die aktive Veränderung der Gesellschaft. Erfüllte der Vorstand durch seine Integration ins Burgfriedenslager (Schlicke wurde sogar ins Kriegsamt berufen) demnach seine evolutionäre Auffassung, über die Verfolgung pragmatischer Tagesfragen stückweise Verbesserungen zu erzielen, erschien der Opposition dies als Verrat an der Bestimmung einer Gewerkschaftsorganisation. Dißmann meinte dazu: „[E]s scheint, daß für diese Leute die Interessengemeinschaft nicht mehr ein Mittel zum Zweck ist, sondern gewissermaßen zum Selbstzweck geworden ist“.104 Trotz der teilweise tief polemischen Schärfe dieser innergewerkschaftlichen Streitigkeiten fehlte es dennoch nicht an Vermittlungsversuchen, die die Auseinandersetzung als etwas betrachteten, was sie aber gegen Kriegsende nur noch zum Teil war, nämlich als Kommunikationsproblem: So erschienen 1917 und 1918 einige Einschätzungen in der Metallarbeiter-Zeitung, in denen die Ursachen in einer defizitären innerverbandlichen Vermittlung gesucht wurden. Der omnipräsente Vorwurf, die Beamten hätten jeden Kontakt zu den Arbeitern verloren, sei, so ein Beobachter im Mai 1918, zwar berechtigt, aber nicht nur durch die Beamten selbst verschuldet worden. Er sei vielmehr eine Frage schlechter Kommunikation, an deren Zustandekommen Arbeiter und Verwaltung beteiligt gewesen seien: Die Arbeiter hätten demnach ihre Interessen lange Zeit nicht aktiv vertreten und sich dem Führungsanspruch der Beamten einfach untergeordnet, während diese den Kontakt zu den Arbeitern vernachlässigten. Beide Faktoren hätten schließlich zu einer Entfremdung geführt, die sich durch das jeweilige Verhalten in den Streikbewegungen noch weiter vertiefe. Die abwiegelnden Aufrufe des Vorstandes hätten die Arbeiter „arg verschnupft“ und deren Bereitschaft zur fairen und direkten Kritik sei durch das Austeilen von „Ehrennamen“ gesunken. Die Lösung des Problems liege daher auf der Hand (und wäre, hätte man sie in der ersten Kriegshälfte verfolgt, sicherlich partiell erfolgreich gewesen): Der Vorstand müsse auf kollegiale Weise die „wahre Meinung der Arbeiter“ erfahren und diese als wichtigen Teil des Austauschprozesses achten und in die Strategie einbeziehen. Auch sei es an der Zeit für einen „höflicheren Ton“ untereinander: Die Diffamierungen der Beamten müssten eingestellt werden und diese im Gegenzug erkennen, dass sie für die Mitglieder arbeiteten und nicht umgekehrt. Wie stark die gesamte Arbeit des Verbandes von einer wirkungsvollen betrieblichen Agitation abhängig war und welchen Schaden sich der Vorstand mit seiner rigorosen Rhetorik gegen oppositionelle Vertrauensmänner selbst zufüge, wurde
104 Ebd., S. 60.
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gegen Kriegsende vor allem in der gewerkschaftlichen Ohnmacht und im Wegbrechen der betrieblichen Verankerung deutlich.105 Im Zentrum dieser Prozesse standen – dies erkannten auch andere Mitglieder – die Werkstattvertrauensmänner: Denn unter den Bedingungen der wachsenden Distanz zwischen Basis und Führung kamen Probleme auf diese zu, durch die sich die Attraktivität des Amtes drastisch reduzierte. Viele Vertrauensmänner lehnten die Kandidatur nicht nur deshalb ab, weil sie schon zuvor schlechte Erfahrungen mit den Unternehmern gemacht hätten, sondern verzichteten auch, weil daneben die nötige Rückendeckung des Verbandes fehle.106 Hinzu kamen vermehrt Auseinandersetzungen mit den Arbeitern: Linientreue Vertrauensmänner gerieten immer häufiger in die Lage, sich vor den Kollegen rechtfertigen zu müssen: Streitigkeiten der Vertrauensleute mit den Unternehmern lassen sich nicht immer vermeiden und es ist in den einzelnen Fällen Sache des Verbandes, dazu Stellung zu nehmen. Streitigkeiten der Vertrauensleute mit den Verbandsmitgliedern sollten jedoch nicht vorkommen. Selbstverständlich sind unsere Vertrauensleute nicht unfehlbar und es ist möglich, daß sie sich in dem einen oder andern Falle nicht so verhalten, wie es das Wohl unseres Verbandes oder seiner Mitglieder erheischt. Dann möge man die Angelegenheit sachlich untersuchen und, wenn nötig und möglich, fähigere Vertrauensleute wählen.107
Dazu kam es freilich immer seltener und jedes Plädoyer für einen statuarischen und fairen Umgang musste vor dem Hintergrund der praktischen Verbandspolitik ins Leere laufen. Anstatt „fähigere Vertrauensleute“ zu wählen, wählten eher die Vertrauensleute und passten ihren Kurs an. Ihre intermediäre Stellung, die sie in direkten Kontakt mit dem Unmut ihrer Kollegen brachte, machte sie gegenüber deren Interessen wesentlich empfänglicher als die Verwaltungen. Hatten es die Verbandsleitungen daher immer schwerer, ihnen genehme Vertrauensleute zu finden und vor allem im Betrieb zu etablieren, wurde die oppositionelle Aufladung der Vertrauensleutearbeit begünstigt. Die Entfremdung vieler Arbeiter von der Organisation vollzog sich also über einen Kontaktverlust der Organisation und ihrer Werkstattvertrauensmänner. Dass der Vorstand diesem Prozess ohnmächtig gegenüberstand und den Graben tendenziell eher noch verbreiterte, wird offenbar an einer Rede des Verbandsvorsitzenden Schlicke auf der Generalversammlung 1917: Für ihn sei die fehlende betriebliche Arbeit der Kollegen ein großes Problem geworden. Viele von ihnen würden außerhalb der Betriebe „große Töne spucken“, seien während der Arbeit 105 Vgl. F. H., Der Vertrauensmann und der Wankelmütige, in: MAZ 36 (1918) 19, S. 74. 106 Vgl. ebd. 107 Verekelt euren Vertrauensleuten nicht ihre Tätigkeit!, in: MAZ 36 (1918) 38, S. 149.
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aber „Schlappschwänze“,108 die zur Agitation keinen Mut fänden. Dieser Vorwurf der Feigheit änderte nicht nur nichts an der Radikalisierung der Vertrauensleute, er zementierte auch die Rekrutierungsprobleme der Ortsverwaltungen. Zwischen betrieblichen Anfeindungen und verbandlichen Diffamierungen schwand die Bereitschaft zu engagierter betrieblicher Gewerkschaftsarbeit. Viele Vermittlungsversuche, die an der Kommunikation beider Lager ansetzten, mussten fruchtlos bleiben, weil sich das innergewerkschaftliche Problem im Laufe des Krieges und der Politisierung der Verbandsarbeit ausgeweitet und qualitativ verändert hatte: Mit der Festigung der Opposition in den Betrieben und seit 1917 auch in den Arbeiterräten hatte sich ein jahrelanger Gegensatz zu einem tiefen programmatischen Graben ausgewachsen, der nun auch organisatorischen Ausdruck fand. Nachdem die Spaltung der Sozialdemokratie den DMV mit voller Wucht getroffen hatte, bekamen innerorganisatorische Diskussionen eine neue Dimension. Hatte man Kritik 1915 noch vorsichtig geäußert, an praktische Fragen geknüpft und die Einheit beschworen, ging es jetzt offen um nicht mehr und nicht weniger als die Königsfrage der freien Gewerkschaften vor 1918. In der Frage nach dem Verhältnis zum Staat und zur Methode des Wandels hatte sich der Vorstand in eine Sackgasse befördert und große Teile des Einflusses auf die Arbeiterschaft verloren, während sich ein gegnerisches Lager im Verband formierte und dazu führte, dass der DMV im Jahre der Revolution weitestgehend handlungsunfähig war. Direkt wurde dies am Versagen der gewerkschaftlichen Taktik im Rahmen der Streikwelle 1918 deutlich: Denn die „Abwiegelungstaktik“,109 derer man sich 1917 noch oft erfolgreich bedient hatte, funktionierte nun kaum noch. Der Versuch, den Streiks die „Spitze abzubrechen“, indem man die Anlässe herunterspielte, Durchhalteappelle formulierte und ansonsten eng mit den Behörden zusammenarbeitete, kostete den DMV viele Sympathien. In Chemnitz verspielte man den letzten Kredit noch dadurch, dass Gustav Noske als Chefredakteur der Volksstimme nur zum Schein mit den „Unabhängigen“ Absprachen traf und den versprochenen Streikaufruf schließlich nicht drucken ließ. Das Fernhalten der Streiks bezahlten Partei und Gewerkschaftskartell hier mit einer Brüskierung der verbliebenen Vertrauensleute und dem Verlust jeglichen noch vorhandenen Vertrauens der gewerkschaftlichen Opposition.110 Generell stellte der Neutralitätsbeschluss, auf den man sich in der Generalkommission und auf der Vorständekonferenz im Angesicht der Streiks 1918 einigte, ein Eingeständnis des gewerkschaftlichen Einflussverlustes dar. Die Gewerkschafts 108 Die dreizehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 137. 109 Hans-Joachim Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914 – 1920, Hamburg 1981, S. 446. 110 Vgl. Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 109 f.
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leitungen wurden schlagartig mit den Folgen der eigenen Politik konfrontiert, die jahrelang auf außerparlamentarische Kampfmittel verzichtet und zur Radikalisierung der Belegschaften beigetragen hatte.111 Schlicke, der sich gern deutlicher gegen die Streiks gewandt hätte, von der Konferenz aber überstimmt wurde, attestierte den Verbänden in diesem Kontext einen völligen Bindungsverlust gegenüber der Arbeiterschaft: Als er seinerzeit betonte, es müsse ein Verhältnis zwischen Gewerkschaftsvorständen und Mitgliedern geschaffen werden, das es erlaube, die Mitglieder wie Schachfiguren zu benutzen, da habe sich ein großer Entrüstungssturm erhoben; bei den jetzigen Streiks haben die Macher genauso gehandelt, um die Massen für ihre Zwecke zu missbrauchen.112
Und obgleich mit dieser Einschätzung auch eine implizite Einsicht in die eigene Führungsunfähigkeit einherging, verwies Schlicke mit seinem trotzigen Durchhaltecredo darauf, dass er zur Not ein Organisationsverständnis vertrat, in dem Führung auch ohne Entgegenkommen der Masse möglich war: Deshalb sollen wir eingreifen und das zu gewinnen suchen, was im Arbeiterinteresse noch zu haben ist, unbeschadet, ob wir damit den Unwillen der Masse hervorrufen oder nicht. Die Führer sind berufen zu sagen, wenn sie Gefahr im Anzuge sehen, wie es hier der Fall ist.113
Vor dem Hintergrund eines Verbandes, der etwa zur Hälfte im Lager der Opposition stand und dessen Leitung kaum noch über betrieblichen Einfluss verfügte, entfalteten solche Äußerungen undemokratischer Arroganz jedoch keine praktische Wirkung mehr. Denn auch auf der Ebene der höheren Verbandsverwaltung verlor die kriegsbefürwortende Integration drastisch an Rückhalt. Im Gegensatz zur Zeit der Generalversammlung 1917, als sich der Vorstand mit seinem Kurs noch knapp durchsetzen konnte, gestalteten sich die Mehrheitsverhältnisse im Jahr darauf anders: Im Frühjahr 1918 forcierte die Opposition Abstimmungen in den Ortsgruppen, um einen außerordentlichen Verbandstag zu erwirken, durch den man hoffte, die desavouierte Führung absetzen zu können. Der von Berlin ausgehende Versuch, gegen den sich der Vorstand als machtlos erwies und der im Falle des Erfolgs wahrscheinlich einen Vorstandswechsel erzwungen hätte, wurde aber durch das Eingreifen der Behörden und Generalkommandos verhindert. In Sachsen erließ das stellvertretende Generalkommando: 111 Vgl. Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 501 – 504. 112 Protokoll der Vorständekonferenz am 1. 2. 1918, zitiert nach: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, S. 421. 113 Ebd., S. 430.
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Zuverlässigen Mitteilungen zufolge beabsichtigt die U. S. P. D., innerhalb der Ortsgruppen des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes eine Abstimmung der Mitglieder des genannten Verbandes über die Einberufung eines ausserordentlichen Verbands-Tages herbeizuführen. Zweck des einzuberufenden ausserordentlichen Verbands-Tages würde die Erzwingung eines Vorstandswechsels im Verbande sein, um den gesamten Verband alsdann in die Arme der U. S. P. D. zu treiben. In Uebereinstimmung mit dem Kgl. Kriegsministerium wird gebeten, sobald Wahrnehmungen über eine derartige Tätigkeit innerhalb der Ortsgruppen des Deutschen Metallarbeiterverbandes im dortigen Bereich gemacht werden sollten, einzuschreiten und diese Tätigkeit ebenso wie die Abhaltung einer etwa geplanten General-Versammlung zu verbieten.114
Diese Anordnung machte schlaglichtartig deutlich, wie machtlos und schutzbedürftig der DMV – Vorstand im Laufe der letzten Kriegsjahre geworden war. In vielen Städten hatten die Ortsverwaltungen jeden Einfluss auf die Arbeiterschaft verloren. Vor allem in den kriegswichtigen Betrieben konnte das offene Vertreten der „Mehrheitsposition“ von 1917 ernstliche Folgen für den Agitator zeitigen. In Chemnitz, wo der Wandel weniger drastisch verlief als etwa in Berlin und sich die reformistische Partei- und Gewerkschaftsleitung halten konnte, war dieser Punkt in den letzten Kriegsmonaten erreicht. Ein Aufklärungsoffizier berichtete im September 1918 über die Kriegspropaganda aus zwanzig Chemnitzer Rüstungsbetrieben. Er hielt fest, dass die Arbeiterausschüsse zwar bereit seien, die Veranstaltungen vorzubereiten, aber auch anmerkten, daß bei der überaus mangelhaften Ernährung die Einwirkung auf die Mitarbeiter gering sei, ja die ganze Arbeit zwecklos werde. Sie könnten die Arbeiterschaft wohl bis zu einem gewissen Zeitpunkt ruhig halten, sie wüßten aber genau, daß ihre Macht eines Tages aufhöre und dieser Tag sehr nahe gerückt sei.115
Man war in Chemnitz auch deshalb an den Grenzen der Handlungsfähigkeit angelangt, weil die Verbreitung der Opposition in den großen Betrieben kaum Ausdruck in Zusammensetzung und Politik der Ortsverwaltung fand. Zwar brachten einige Mitglieder seit dem Frühjahr 1918 immer wieder Anträge auf den Ortsversammlungen ein, die sich gegen die Vorstandsposition richteten, doch fanden sie damit
114 Anweisung des Stellvertretenden Generalkommandos XIX. A. K., Presseabteilung vom 16. 4. 1918, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11149, Bl. 17. Vgl. auch Beschluss des Sächsischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten vom 31. 4. 1918, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 11149, Bl. 14 f. 115 Zitiert nach: Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 483.
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nur wenig Gehör.116 Die Chemnitzer DMV-Führung blieb fest in der Hand des mehrheitssozialdemokratischen Lagers und schmetterte jegliche Kritik an dieser Haltung ab, besiegelte dadurch aber auch den Bruch mit den großbetrieblichen Rüstungsarbeitern. Über Einfluss verfügte sie in den Ereignissen der Revolution daher zu keiner Zeit. Und doch eine Entfremdung – Plädoyer für ein qualitatives Mitgliedschaftsverständnis
Die Frage, ob es sich bei den Ereignissen der Jahre 1917/18 um einen fundamentalen Vertrauensverlust zwischen Gewerkschaftsführung und Arbeiterschaft gehandelt hatte, ist in der Regel verneint worden.117 Dabei wurde vor allem auf die Mitgliederentwicklung hingewiesen, die sich der These einer grundlegenden Entfremdung in den Weg zu stellen schien. Und in der Tat hatte der DMV auch in Chemnitz einen Mitgliederanstieg zu verzeichnen, der sich nach den Verlusten der frühen Kriegszeit seit 1915 wieder bemerkbar machte. War die Zahl der Organisierten von 18.753 (1913) mit Kriegseintritt auf 10.629 (1914) gesunken, erreichte sie 1915 mit 7132 die Talsohle. Damit verlor der Chemnitzer DMV beinahe 62 Prozent seiner Mitglieder. Von regelrechten Austritten ist für diese Phase nicht auszugehen, da sich der Mitgliederverlust im DMV zum überwiegenden Teil auf die Einberufungen zum Kriegsdienst zurückführen lässt.118 Die anschließende langsame Erholung von 7522 (1916) auf 9041 (1917) und die schiere Explosion im Zuge der Revolution auf 17.804 (1918) und 38.858 (1919)119 lässt berechtigte Zweifel an der Vertiefung der Distanz zu den Arbeitern aufkommen. Die reine Konzentration auf die Quantität vernachlässigt jedoch sowohl die Veränderungen in der sozialen und branchenspezifischen Zusammensetzung der Mitgliedschaft als auch die Tatsache, dass die Beitrittsmotivationen erheblich differieren konnten. So ist besonders auf Grund der Prozesse zwischen 1920 und 1924 und der Debatte, die in der MetallarbeiterZeitung um die Bindungskraft der Organisation geführt wurde (Kapitel 5.3) davon auszugehen, dass bei den „Novembermitgliedern“, wie sie pejorativ konnotiert wurden, ein anderes Gewerkschaftsverständnis vorherrschte als bei den langjährigen 116 Die Versammlungsberichte aus Chemnitz. MAZ 36 (1918) 20, S. 79; MAZ 36 (1918) 33, S. 131. 117 Vgl. Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, S. 113; vgl. Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 517. 118 Vgl. Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 99 ff. 119 Mitgliederzahlen für Chemnitz nach: Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1913 – 1919, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1914 – 1920.
Der DMV und die Arbeiterschaft
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Kollegen. Die Art und Weise, wie sich die Mitgliederzahlen im Jahrfünft nach der Revolution entwickelten, lässt jedenfalls auf die Ausbreitung eines höchst instrumentellen Beitrittsgedankens schließen. Denn stieg die Zahl der DMV-Mitglieder im Zeichen der wirtschaftlichen Scheinblüte sogar noch an und erreichte astronomische Höhen (1920 waren 41.582, 1921 41.409 und 1922 40.082 Arbeiter und Arbeiterinnen organisiert), stürzte sie im Zeichen der Inflation und der Ohnmacht der Gewerkschaften von 30.649 (1923) auf nur noch 10.492 (1924) ab.120 Die Mitgliedschaft des Chemnitzer DMV, die 1920 beinahe die gesamte städtische Metallarbeiterschaft umfasst haben dürfte, lag damit nur noch knapp über der Hälfte des Vorkriegsstandes. Allein mit kurzfristiger Unzufriedenheit lässt sich dieser Bruch nicht erklären. Zu der, sicherlich realen, Enttäuschung über eine Zeit „ungenutzter Gelegenheiten“ 121 trat der seit den Jahren des Weltkriegs voranschreitende Prozess der Entfremdung zur Arbeiterschaft. Der Besitz eines Mitgliedsbuches ist vor diesem Hintergrund nicht mit dem Einverständnis in die grundsätzliche Verbandspolitik gleichzusetzen: Viele Arbeiter traten in den letzten Kriegsmonaten und der unmittelbaren Nachkriegszeit der Organisation bei, weil die Mitgliedschaft einerseits nicht mehr so risikobehaftet war wie in den Jahren zuvor und weil sich die Gewerkschaften spätestens nach den Revolutionswirren als legitime Erben einer reformierten sozialeren Arbeitswelt präsentieren konnten. Die immensen Lohnerhöhungen der Nachkriegszeit, die Einführung des Achtstundentags und die partielle Auflockerung einer hierarchischen Betriebsordnung ließen, weil es eben „etwas brachte“, Mitglied zu sein, den Fakt in den Hintergrund treten, dass sich viele Arbeiter nicht mit der Kontinuität der Wirtschaftsordnung und der Rolle der Verbände einverstanden erklärt hätten. Das entscheidende Versäumnis seitens der Organisation lag in der Nachkriegszeit demnach nicht in der Tatsache, gegen die Herausforderungen von Inflation und Unternehmerreaktion versagt zu haben, sondern in der Unfähigkeit zur Herstellung eines „Inklusionsarrangements“, welches die Mitglieder erfolgreicher an den Verband gebunden hätte.
120 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1920 – 1924. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1921 – 1925. 121 Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 123.
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Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924
5.2.2 Die Hüttenarbeiter und der DMV im Ruhrgebiet während des Ersten Weltkriegs Organisatorische Stagnation unter den Kriegsbedingungen, 1914 – 1916
Von einer Entfremdung zwischen DMV und Eisen- und Stahlarbeitern während des Ersten Weltkriegs lässt sich natürlich nicht sprechen – dazu hätte es eines betrieblichen Kontakts und letztlich eines engeren Organisation-Basis-Verhältnisses in der Vorkriegszeit bedurft. In den ersten beiden Kriegsjahren blieb diese Distanz der Ebenen weitestgehend bestehen: Hüttenarbeiter partizipierten kaum an den Interessen- und Entscheidungsfindungsprozessen auf den Verbandsebenen, und eine Tuchfühlung, die über das Außerbetrieblich-Politische hinausging, war faktisch nicht vorhanden. Dazu kam, dass sich an der Gewerkschaftsfeindschaft der Ruhrindustriellen nichts geändert hatte: Vertretungsansprüche und auch Tarifverträge wurden rundheraus abgelehnt, und der Einflussgewinn der Verbände auf politisch-behördlicher Ebene argwöhnisch beäugt.122 „Vor der Staatsumwälzung“ 123 wurde keine der Metallarbeitergewerkschaften anerkannt und man versuchte, mit massivem Druck gegen Organisationsversuche vorzugehen. Ähnlich wie in Chemnitz setzten die Arbeitgeber zu diesem Zweck die wirtschaftsfriedlichen Werkvereine ein, während das System der „schwarzen Listen“ im Ruhrgebiet eine weitaus größere Rolle spielte.124 Eine weitere Gemeinsamkeit lag in der geschickten Ausnutzung der Kriegsverhältnisse, denn obwohl die Unternehmer teilweise bedeutende Kriegsgewinne einfuhren, setzten sie besonders in der ersten Zeit immer noch alles daran, die Löhne zu senken.125 Gleichzeitig stieg die ohnehin gewaltige persönliche Arbeitsbelastung der Zwölfstundenschichten durch das Überstundenwesen noch weiter. Diese Verhältnisse bezogen sich nun auch immer stärker auf Frauen und Kriegsgefangene, die unter den Bedingungen des Arbeitskräftemangels massenhaft in den Hüttenwerken Beschäftigung fanden. So stieg die Zahl der Arbeiterinnen in den Hütten- und Walzwerken des siebenten Bezirks, die laut Gewerkschaftsangaben vor Kriegsbeginn nicht existent gewesen war, bis 1915 auf 2016 Arbeiterinnen (in 21 Betrieben) und
122 Vgl. Schreiben an den Reichskanzler, August 1917, Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, in: Sächsisches HStA Dresden, 10736, Nr. 7426, Bl. 12 – 24. 123 Bemerkungen zur Entwicklung der Gewerkschaften, 1919, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA, 130 – 21 – 4. 124 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1914, S. 22 f. 125 Vgl. ebd., S. 67.
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bis 1916 auf 10.147 Arbeiterinnen (in 68 Betrieben).126 Eingesetzt wurden sie (anders als die Kriegsgefangenen) weniger in den Kolonnenstrukturen der Schnellbetriebe als vielmehr in Nebenzweigen der Produktion und Verarbeitung sowie vereinzelt in Transportbereichen des „Crew-Systems“, etwa als Kranführerinnen. Der Vorteil ihrer Beschäftigung war für die Industriellen leicht verständlich: Sie profitierten nicht nur von der Arbeiterin als billige Arbeitskraft, die niedrigere Löhne akzeptierte – sie konnten sich in ihrem Vorgehen auch darauf verlassen, dass die Behörden keine weitergehenden Schritte unternehmen wollten und die Gewerkschaften dazu schlicht nicht in der Lage waren. Der Hinweis des DMV, dass das Gouvernement der Festung Köln den Grundsatz „Für gleiche Arbeit gleichen Lohn“ festgelegt habe, verebbte auf diese Weise in der Bedeutungslosigkeit, weil sich die Werke einfach nicht daran hielten.127 Noch größer gestaltete sich der Spielraum der Unternehmer nur in Bezug auf die Kriegsgefangenen, die über gar keine Lobby verfügten: Während die Betriebsleitung bei „Arbeitsversuchen“ mit dänischen Arbeitern auf der FAH 1916 noch empfahl: „Es ist dringend erforderlich, soweit wie tunlich auf die Eigenart dieser fremdsprachlichen Ausländer einzugehen, um ihnen den Uebergang in die neuen Verhältnisse zu erleichtern“,128 wurde den osteuropäischen Zwangsarbeitern kein Übergang eingeräumt. Unter voller Arbeitsbelastung und zunehmender behördlichpolizeilicher Repression 129 schufteten vor allem Polen, „Esten, Letten, Kurländer oder Lithauer“ 130 im Ruhrgebiet. Ihre Anzahl und ihr Anteil an den Belegschaften stiegen dabei stetig an, bis im November 1918 auf dem Teil der FAH in Bliersheim über 40 Prozent der Arbeiterschaft aus Kriegsgefangenen bestand (Tab. 17).
126 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1915, S. 307; Der Deutsche MetallarbeiterVerband im Jahre 1916, S. 340. 127 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1915, S. 307. 128 Nachricht an die Betriebe vom 28. 8. 1916, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/694. 129 Vgl. Verordnung betreffend Ueberwachung der bei der Friedrich-Alfred-Hütte der Firma Krupp in Rheinhausen beschäftigten russisch-polnischen Arbeiter vom 1. 7. 1915, VII. Armee-Korps, Stellvertr. Generalkommando Frhr. von Gayl, in: HAK, WA 70/1614. 130 Betreffend Arbeiterbeschaffung vom 6. 8. 1918, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/694, Bl. 1 f.
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Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924
Tab. 17: Arbeiter, Arbeiterinnen und Kriegsgefangene 131
auf der FAH in Bliersheim 1917/18 Datum
„Arbeiter“
„Arbeiterinnen“
„Kriegsgefangene“
Februar 1917
1846
286
376
Mai 1917
1821
330
387
August 1917
1778
367
437
November 1917
1654
393
496
Februar 1918
1702
377
599
Mai 1918
1724
342
609
August 1918
1768
331
585
November 1918
1691
301
685
Diese Verhältnisse waren für den DMV im Ruhrgebiet denkbar schlecht, da es nicht gelang, betriebsnahe Organisationsstrukturen zu etablieren. Vielmehr verbreiterte sich die Distanz zu den Hüttenarbeitern noch weiter: Bis 1915 sanken ihre Organisationszahlen im siebenten Bezirk auf 251 Hütten- und 598 Walzwerkarbeiter.132 Ende 1916 waren in der Essener Verwaltungsstelle gar nur 23 Hochofenund Hüttenarbeiter sowie 7 Walzwerkarbeiter Mitglied.133 Offensichtlich bot die Gewerkschaftstaktik also immer noch keinen Beitrittsanreiz. Von einer wirklichen Neuausrichtung der Organisation konnte nämlich bis etwa 1917 keine Rede sein. Der DMV wurde vor dem Hintergrund der Burgfriedensintegration noch stärker in eine passive Beobachterposition gedrängt, als dies vor 1914 ohnehin schon der Fall gewesen war. Agitatorischen oder gar betrieblichen Aktionismus entfaltete man kaum und bis auf die gebetsmühlenartige Anmerkung, etwas für die Organisation der Eisen- und Stahlarbeiter tun zu müssen,134 blieb alles beim Alten: In außerbetrieblich-politischem Vorgehen versuchten die Beamten notgedrungen, den Faden zu den Arbeitern nicht völlig abreißen zu lassen. Dazu war man sogar bereit, mit den zuvor scharf bekämpften Konkurrenzorganisationen zu paktieren: Zusammengeschlossen in einer Arbeitsgemeinschaft wurden DMV, CMV und H.-D. beim Generalkommando und anderen Stellen vorstellig, um Eingaben bezüglich der 131 Zusammenstellung des Verfassers nach: Schreiben an Fischer vom 17. 7. 1918 betreffs Mitteilung der Zahl der Arbeiter, Frauen, Kriegsgefangenen, Lohnbüro der FAH, Hashoff, in: HAK, WA 70/1614. 132 Vgl. Bericht über das Jahr 1915, herausgegeben vom Siebten Bezirk des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Düsseldorf 1916, S. 9 f. 133 Vgl. Jahres-Bericht für das Kriegsjahr 1916, herausgegeben von der Verwaltungsstelle Essen-Ruhr des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Essen 1917, S. 15. 134 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1914, S. 22.
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Frauenarbeit, Lohnabzügen, Zuschlägen und reklamierten Arbeitern zu machen. Zwar erreichte man dabei immer wieder Teuerungszulagen oder Mehrverdienste für die Hüttenarbeiter,135 doch blieb es einstweilen schwer, daraus organisatorischen Profit zu schlagen. Der untergründig weiterwirkende Argwohn zur Konkurrenz und die mangelnde Vermittlung zur betrieblichen Ebene verhinderten, dass sich der DMV über sein „Butter-und-Brot-Geschäft“ an die Arbeiter annähern konnte. Schlaglichtartig machten dies die Ereignisse bei Krupp 1916 deutlich: Während das Unternehmen große Summen in Neubauten investierte, die Arbeiterzahlen und den Anteil der Arbeiterinnen ständig steigerte und die Löhne sanken, reichten die Verbände im Mai eine Eingabe ein, um Akkordfragen zu klären, Nachtzuschläge zu erweitern und vor allem um die Anerkennungen von Kommissionen zur Vertretung der Arbeiterschaft zu erwirken. Dazu argumentierte man besonders mit Rationalisierungsgewinnen: „Der Wert technischer Verbesserungen darf sich nicht in Verkümmerung, sondern muß sich in Erhöhung des Verdienstes der Arbeiter ausdrücken.“ 136 Dass gerade die Vertretungsforderung am Widerstand der Industriellen scheiterte und diese es darüber hinaus oft vermochten, Lohn- und Zuschlagserhöhungen als freiwillige Leistungen des Unternehmens erscheinen zu lassen, trug einstweilen jedoch zur Stagnation des DMV bei. Durch den bekannten Vorwurf der Beamten, die schlechten Verhältnisse lägen „an der Arbeiterschaft selbst, die in ihrer großen Masse immer noch unorganisiert in den Tag hineinlebt und über unzulängliche Verdienste räsoniert“,137 gelang es außerdem nicht, das Dilemma aus Betriebsferne der Organisation und Organisationsferne der Betriebsstrukturen auch nur annähernd aufzulösen. Die Folge waren weitestgehend gewerkschaftsfreie Bewegungen, die sich 1916 vor allem an den Lohn- und Versorgungsfragen entzündeten: Allein auf der Gussstahlfabrik fanden in diesem Jahr in 47 Betrieben Bewegungen ohne Arbeitseinstellung statt, an denen mehr als 36.000 Personen beteiligt waren.138 Der Gewinn für den DMV, der sie mit 31 Eingaben zu unterstützen versuchte, fiel freilich äußerst gering aus. Denn Verbesserungen, die aus der selbstständigen Kraft betrieblicher Strukturen erwuchsen, konnten für die Arbeiter kaum dazu angetan sein, einen Gewerkschaftsbeitritt als Bereicherung aufzufassen. Viel eher führten sie ihnen die Betriebsferne des DMV vor Augen und stärkten das Selbstbewusstsein halbautonomer Arbeitsgruppen, im Konfliktfall eigenmächtig vorzugehen.
135 136 137 138
Vgl. Bericht über das Jahr 1915, Siebter Bezirk, S. 23 ff., S. 35 ff. Jahresbericht für das Kriegsjahr 1916, Essen-Ruhr, S. 7. Ebd., S. 8. Vgl. ebd.
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Die Phase der Orientierung von 1914 bis 1924
Ein gefährlicher Anfang für den DMV – Hilfsdienstgesetz, Arbeiterausschüsse und Streiks
Mit der Verabschiedung des Hilfsdienstgesetzes im Dezember 1916 trat für den
DMV eine eigentümlich doppelgesichtige Lage ein, die das Verhältnis zwischen
Arbeitern und Organisation bis in die frühen 1920er Jahre hinein prägen sollte: Denn einerseits gingen die „wilden“ Streiks aggressiver Belegschaftsgruppen weiter und intensivierten sich im Zuge der Versorgungsprobleme von 1917 und 1918. Andererseits konnte der Verband einen starken Mitgliederzulauf verzeichnen und setzte in Form der nun erzwungenen Arbeiterausschüsse erstmals einen Fuß in die Betriebsstrukturen der Hüttenwerke. Im Kontext der Versorgungssituation veranlassten wie auch in Chemnitz besonders die als ungerecht empfundenen Zuweisungen zahlreiche Arbeitsgruppen zu kurzfristigen und spontanen Arbeitsniederlegungen. Vor allem durch die unterschiedlichen Zuteilungen an Werkvereinsmitglieder und Werksbeamte (so der DMV) radikalisierten sich die „Crews“ zunehmend und bildeten mit der Zeit einen immensen Basisdruck aus.139 Die Gewerkschaft geriet dabei in eine gefährliche und bezeichnende Zwickmühle: Während man weiterhin keinen Zweifel an der Verurteilung „wilder“ Streiks ließ und diese als akute Organisationsgefährdung auffasste, förderte die kompromisslose und teileskalierende Taktik der Industriellen die schnelle Abnutzung eines Basispotentials, an das der DMV gern Anschluss hergestellt hätte. Das Vorgehen der Unternehmer, die es darauf ankommen ließen und oft erst einlenkten, wenn die Arbeit bereits niedergelegt wurde,140 führte vor dem Hintergrund der Unfähigkeit des DMV, arbeitsgruppenbezogene Solidaritäten zu vereinheitlichen, zu einer Überbeanspruchung der Belegschaftsmacht und zementierte das verbandsinterne Bild der disziplinlosen Hetzer.141 Im Zuge der Ausweitung des Konfliktpotentials und seiner starken Kanalisierung durch die „Crew“-Strukturen konnten sich Unzufriedenheit und eine Aufheizung der Atmosphäre häufig fernab gewerkschaftlicher Kenntnis entwickeln: Nach unserer Erfahrung sind die bisherigen Schwierigkeiten – abgesehen von den Verpflegungsschwierigkeiten – besonders der aufwiegelnden Arbeiter einzelner oder kleiner Gruppen von Arbeitern zuzuschreiben, die in offener oder versteckter Wühlarbeit Unzufriedenheit erwecken, bei Unruhen aufreizen und Nichtwillige bedrohen. Es handelt sich hierbei um verhältnismäßig wenige, die hunderte von Mitarbeitern beeinflussen. Sie gehören meist nicht 139 Vgl. Bericht über das Jahr 1917, herausgegeben vom Siebten Bezirk des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Düsseldorf 1918, S. 14. 140 Vgl. ebd., S. 14; Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1917, S. 261. 141 Vgl. zur Überbeanspruchung Welskopp, Arbeit und Macht, S. 632.
Der DMV und die Arbeiterschaft
287
zu den anerkannten Arbeiterführern. Betriebsleiter, die den Arbeitern sehr wohlwollend gegenüberstehen, wünschen mit allem Nachdruck, daß diese Elemente dem zuständigen Bezirkskommando angegeben und beizeiten dem Heere wieder überwiesen werden.142
Die Kriegsintegration der Gewerkschaften forcierte parallel dazu eine Situation, in der sich die Verbände mit den Maßnahmen der Unternehmer einverstanden erklären mussten: So trafen nicht nur die massiven Versorgungsaufwendungen der Werke auf die Zustimmung der Organisationen,143 sie befürworteten (wenn auch oft nicht in ihrer Schärfe) ebenfalls die Bestrafung „wild“ streikender Arbeiter, die ihren Vertretungsanspruch offen in Frage stellten.144 Zu den sich ausweitenden „wilden“ Streiks schien der Anstieg des Organisationsgrades der Eisen- und Stahlarbeiter seit 1917 zunächst im Widerspruch zu stehen. So hatte der siebente DMV-Bezirk in diesem Jahr schon beinahe die Mitgliederzahl erreicht, die der Gesamtverband vor dem Krieg unter diesen Arbeitern verzeichnen konnte.145 Dazu trugen maßgeblich die entstandenen Arbeiterausschüsse bei, durch die in der Hüttenindustrie erstmals ein formalisiertes Interessenvertretungsorgan der Arbeiter installiert wurde und die es den Metallarbeitergewerkschaften erlaubten, Kontakt zu den Belegschaften herzustellen. Der Aufbau der Ausschüsse entsprach dabei ganz den Solidaritätsvorstellungen der Arbeitsgruppen: Als überaus betriebsbezogene, aus der Belegschaft hervorgehende Institution identifizierten sich die neuen Interessenvertretungen mit den täglich anfallenden kleinen und großen Konflikten und Problemen eines Werks.146 Indem sie auf der untersten Ebene, den Basisstrukturen, ansetzten, schufen sie eine Verbindung zu den „Crews“ und ermöglichten darüber hinaus deren Zusammenführung als formelle „Solidaritätsklammer“. Für Gewerkschaften wie den DMV, die jahrelang vergeblich versucht hatten, Einfluss auf die betriebliche Ebene zu gewinnen, waren die Ausschüsse daher auch ein Glücksfall. Sie boten die einmalige Gelegenheit, vorhandene Basisstrukturen und den gestiegenen „Druck von unten“ institutionell zu sammeln und organisatorisch zu kanalisieren. Sie waren die Türöffner in die Betriebe und gaben 142 Schreiben an Direktor Sorge vom 26. 3. 1917, Friedrich Krupp AG, in: HAK, WA 41/5 – 61, Bl. 4. 143 Vgl. Arbeiter-Unruhen 1917 – 1925, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA , 130 – 300143/3, Bl. 106, 117. 144 Gegen den „wilden“ Streik der Thomasstahlarbeiter und Maschinisten der GHH am 15. 11. 1917, der in der Entlassung und dem Einzug von 28 Arbeitern endete, hatte der DMV demnach aus anderen Gründen ebenso viel einzuwenden wie das Unternehmen selbst. Vgl. ebd., Bl. 104 f. 145 Ende 1917 waren im Bezirk 2530 Hütten- und 2293 Walzwerkarbeiter organisiert. Vgl. Bericht über das Jahr 1917, Siebter Bezirk, S. 7. 146 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 629 f.
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dem Verhältnis von Belegschafts- und Organisationshandeln bis zum Betriebsrätegesetz ein radikal verändertes Gesicht. Die ersten Wahlen zu dieser Mesoinstanz verliefen für die Metallarbeitergewerkschaften dann auch aussichtsreich: Weiterhin als vereinigte Arbeitsgemeinschaft der drei Richtungsgewerkschaften auftretend, gewannen sie die ersten Ausschusswahlen haushoch vor den Werkvereinen. Während bei Krupp und Thyssen wirtschaftsfriedliche Vereinigungen nur in etwa 10 Prozent der Stimmen der Gewerkschaften auf sich vereinigen konnten, bekamen sie in den Gelsenkirchener Stahlwerken sogar nur 29 Stimmen, obwohl sie 30 Kandidaten aufgestellt hatten.147 Wie sich die Arbeit und die Wirkung der neugewählten Ausschüsse gestalteten, beobachtete das Lohnbüro der FAH bis zum Kriegsende folgendermaßen: Dort nahm man an, dass der Arbeiterausschuss völlig unter gewerkschaftlicher Kontrolle stehe.148 Mit dem Gremium, das auf der FAH aus drei Vertretern der freien, drei der christlichen und vier der Hirsch-Duncker’schen Gewerkschaftsrichtung bestand, sei eine andauernde und starke gewerkschaftliche Betätigung in den Betrieben einhergegangen.149 Das Lohnbüro vermutete (sicherlich nicht zu Unrecht), die Verbände würden über die Vertrauensmänner eine „anhaltende und durchgreifende Agitation“ betreiben und dadurch auch Arbeiter erreichen, die „nicht voll auf gewerkschaftlichem Boden standen“. Dabei gehe man mit „Arglist“ vor und errichte „Hindernisse während der Arbeit und im öffentlichen Leben“ gegenüber den unorganisierten Kollegen. Wer sich dadurch nicht überzeugen lasse, merke bald, dass man sogar seine Frau zu überzeugen versuche – ein Mittel, das angesichts der Ernährungssituation gute Erfolge zeitige. Auch seien die Gewerkschaften nun imstande, die betriebliche mit der überbetrieblichen Interessenvertretung zu verbinden: Besondere Furcht verbreitete für die Direktion dabei der Glauben daran, dass die Arbeiterausschüsse vor jeder Eingabe die gewerkschaftlichen Vertrauensmänner befragen und dieses Votum bei allgemeineren Anliegen für alle Werke untereinander abstimmen würden.150 Mochten diese Mutmaßungen auch teilweise überzogen gewesen sein, illustrierten sie doch die Art und Weise, wie die Gewerkschaften seit 1917 betrieblich vorzugehen versuchten, und geben gleichzeitig Anhaltspunkte für das imposante Mitgliederwachstum. Denn mit kurzfristiger Euphorie und dem Abfall der Beitrittsgefahr lassen sich die Steigerungen nur partiell erklären. Auf Grund der Möglichkeit, Gewerkschaftsmitglieder in die Ausschüsse zu bekommen, konnten die 147 Vgl. Bericht über das Jahr 1917, Siebter Bezirk, S. 15. 148 Vgl. Jahres-Bericht des Lohnbüros für das Geschäftsjahr 1917 – 18, Lohnbüro der FAH, in: HAK, WA 70/975, Bl. 4. 149 Vgl. ebd., Bl. 10. 150 Vgl. ebd., Bl. 4.
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Gewerkschaften, obgleich die Unternehmen eine direkte Verhandlung mit den Verbänden strikt ablehnten, ihren Vertretungsanspruch nun „durch die Hintertür“ verwirklichen. Die rigorose Haltung der Arbeitgeber wurde somit zum ersten Mal erfolgreich umgangen: Die Direktion sei bereit, Wünsche von dem Ausschuss entgegenzunehmen, könne aber auf Anträge Außenstehender, so auch der Gewerkschaften, nicht eingehen. Dabei sei es natürlich gleichgültig, ob die Ausschußmitglieder den Gewerkschaften angehören oder nicht. Die Direktion habe nur mit der Belegschaft zu tun und gegebenenfalls mit dem Ausschuß und habe bisher schon bewiesen, daß sie zu Besprechungen derartiger Fragen gegebenenfalls bereit sei.151
Die Verbände und insgesamt betrachtet vor allem der DMV hatten offensichtlich eine Form der Interessenvertretung gefunden, die die Distanz zu den Arbeitsgruppen überbrücken konnte. Parallel dazu scheint es auch gelungen zu sein, Anfänge eines Werkstattvertrauensmännersystems zu installieren, auf dem der Erfolg der Gewerkschaft in anderen Branchen seit langem fußte und für das sich die Arbeits- und Sozialbeziehungen im Übergang zum „Crew-System“ nun erstmals als anschlussfähig erwiesen. Wie im Falle der FAH war man daher zusehends in der Lage, Grundideen gewerkschaftlicher Methodik zu etablieren und den Basisdruck in formalisierte Bahnen zu lenken: Arbeiterausschusssitzungen wurden weiterhin von Werkstattversammlungen begleitet, die im Zuge der entstehenden betrieblichen Verankerung nun langsam diesen Namen verdienten, erzeugten basisbezogenere Eingaben an die Direktion und hielten die Lage, an deren Aufheizung den Verbänden genauso wenig gelegen war wie den Unternehmen, zunächst weitestgehend ruhig.152 Dass die Situation für den DMV im Ruhrgebiet aber bis zum Kriegsende dennoch zwischen wachsendem Einfluss und Ohnmacht gegenüber „undisziplinierten“ Streiks pendelte und dem Verhältnis von Organisation und Basis einen widersprüchlichen Charakter gab, war auf die Vermittlungsprobleme zurückzuführen, die sich zwischen betrieblicher und verbandlicher Ebene auftaten. Es dürften kaum Dokumente existieren, in denen sich die vielfach durchbrochene und von unterschiedlichen Prämissen ausgehende Verbindung dieser Ebenen besser nachverfolgen lässt als in den Sitzungsprotokollen der Arbeiterausschüsse. Sie bewiesen, dass Organisation und Basis in einem Nebeneinander auf den ersten Blick widerstrebender Handlungsweisen durchaus zusammenfinden konnten: Hüttenarbeiter konnten dem DMV demnach zwar ab 1918 massenhaft beitreten, brachten aber 151 Protokoll der 1. Sitzung des Arbeitausschusses [sic!] vom 11. 4. 1917, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/700, Bl. 4. 152 Vgl. Jahres-Bericht des Lohnbüros für das Geschäftsjahr 1917 – 18, Bl. 5, 9.
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auch gleichzeitig ihr Solidaritäts- und Organisationsverständnis mit, das sich in vielerlei Hinsicht von jenem der Führung unterschied und den Fokus vor allem in der betrieblichen Sphäre verortete. Daraus entstand die aus der strukturellen Sicht paradoxe Situation, dass organisierte Arbeiter die Verbandsdisziplin unterliefen und auch gegen den Willen der Führung vorgingen. Sie handelten eigen-sinnig gegenüber einer Organisationsspitze und eigneten sich den Verband gewissermaßen an. Gleichzeitig zeigten sie eindrücklich, dass ein gewaltiger Mitgliedergewinn keinesfalls mit realem Einflussgewinn einhergehen musste. Lebendigen Ausdruck fand dies in den mittelfristigen Problemen, die manche Arbeiterausschüsse mit autonomem Belegschaftshandeln hatten. In einer Ausschusssitzung der FAH zeigte man sich im Kontext eines Streiks des Walzwerks relativ ratlos: Es sei alles geschehen, um die Arbeiter vom Streik zurückzuhalten. Der Arbeiterausschuss sei demgegenüber aber machtlos. Er schlägt vor, mit den Arbeitersekretären zu verhandeln, da diese einen grösseren Einfluss auf die Arbeiterschaft haben würden als der Arbeiterausschuss. […] A-M. Ohnesorge erklärt auf den Hinweis, dass den Ausschussmitgliedern doch bekannt gewesen sein müsse, dass eine Versammlung am 22. abends stattfinden und die Arbeit von der Belegschaft des Walzwerkes am 23. morgens eingestellt werden solle, dass dem Arbeiterausschuss sowohl Versammlung wie beabsichtigter Streik nicht bekannt gewesen sei. Auch seien die Arbeitersekretäre in der Versammlung vom 22. abends nicht anwesend gewesen. Der Beschluss zu streiken sei aus der Arbeiterschaft entstanden.153
Die Wirkungskraft der Ausschüsse konnte also sehr ambivalent ausfallen: Blieben sie in Fällen, in denen die Arbeitsgruppen in ihrer Zwischenschaltung keinen Nutzen erblickten oder gar von einer Interessendifferenz ausgingen, meistens außen vor, konnte man, wenn der Mehrwert der Ausschüsse in der Tat und kommunikativ vermittelt wurde, Basisdruck erfolgreich kanalisieren. Dabei verlangte die Einsetzung des Gremiums von beiden Seiten Lerneffekte, denn da an den Ausschüssen sowohl „von unten“ als auch „von oben“ gezogen wurde, verlor deren Arbeit bei allzu starker Beanspruchung schnell an Integrationsfunktion. Besonders in der Frühphase besaßen die vorsichtig vorgehenden Ausschüsse bei den selbstbewussten, in sich solidarisierten Arbeitsgruppen daher kaum Kredit: Herr Sylvester macht darauf aufmerksam, daß die Ausschußmitglieder sich wiederholt, u. a. auch vor dem Schlichtungsausschuß darüber beklagt haben, daß sie bei der Belegschaft nicht genügend Ansehen hätten. Schon deshalb liegt es im Interesse des Ausschusses, nun
153 Protokoll der 5. Sitzung des Arbeiterausschusses vom 23. 6. 1917, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/700, Bl. 2.
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einmal zu zeigen, daß er die Aufgabe, die ihm durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz zugewiesen ist, auch voll zu vertreten im Stande ist.154
Dass sich diese Distanz jedoch verringerte und die Ausschüsse zunehmend als Interessenartikulationsinstrument der Belegschaften akzeptiert wurden, machte der Wandel im Vorgehen der Direktion der FAH deutlich: Verlegte sich diese in den Sitzungen nämlich zunächst darauf, den Ausschuss (zu dem sie sich selbst nicht zählte) als Zwangsinstitution zu boykottieren, seine Fehler den Gewerkschaften zuzuschieben und seine erzwungenen Veränderungen als freiwillige Leistungen zu verkaufen,155 musste sie sich mit der Zeit geschlagen geben. Man hatte erkannt, dass mit den Ausschüssen auch die Gewerkschaften in die Werke eingedrungen waren, und versuchte nun, wenigstens noch die unorganisierten Arbeiter von diesen zu entfremden: Er [der Direktor] habe zu seiner unangenehmen Ueberraschung gehört, daß die Annahme verbreitet werde, Mitglieder des Arbeiterausschusses würden nur für die Belegschaft solcher Betriebsteile eintreten, bei denen ein bestimmter Teil der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert sei. Er macht darauf aufmerksam, daß der Arbeiter-Ausschuß nach dem Hilfsdienstgesetz die Interessen der ganzen Belegschaft wahrzunehmen habe und bittet den Ausschuß dringend, für die Unterbindung derartiger Treibereien zu sorgen.156
Auch wenn der Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht überprüft werden kann, so beweist der Vorwurf der Klientelpolitik doch augenscheinlich, dass sich die Arbeiterausschüsse zu Standbeinen des DMV in der Hüttenindustrie entwickelt hatten. Ihre dezidiert betriebsnahe Ausrichtung kam den Organisationsvorstellungen der Arbeitsgruppen entgegen und erlaubte dennoch eine gewerkschaftliche Infiltration. Die sich 1917 verschärfenden Versorgungskonflikte und die offensichtliche Diskrepanz zwischen Kriegsgewinnen und Arbeiterbelastungen konnte so über ein arbeitsnahes Instrument geäußert und mittelbar beeinflusst werden. Gemeinsam mit dem parallelen Aufbau betrieblicher Vertrauensmännerstrukturen trugen die Arbeiterausschüsse daher maßgeblich zum Mitgliedergewinn des DMV 1917/18 bei. Dennoch blieb die Brücke zwischen Organisation und Betrieb dauerhaft brüchig, weil es immer wieder an der Vermittlung und/oder Differenz von Vorstellungen haperte, die der Kriegsverlauf weiter befeuerte. Der Charakter einer integrativen, aber hochumkämpften Arena führte auch nach 1918 dazu, dass sich Belegschaften 154 Protokoll der 8. Ausschußsitzung vom 27. 6. 1917, Friedrich-Alfred-Hütte-Rheinhausen, in: HAK, WA 77/700, Bl. 8 f. 155 Vgl. ebd. 156 Protokoll der 16. Sitzung des Arbeiter-Ausschusses der Friedrich-Alfred-Hütte vom 25. 3. 1918, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/700, Bl. 2.
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auf ihre Basisstärke zurückzogen und autonom vorgingen 157 oder der Ausschuss radikalisierte, um den Arbeiterinteressen entgegenzukommen.158 Der Mitgliedergewinn des Verbandes im Ruhrgebiet entsprach vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stark dem Anstieg der Organisationszahlen in Chemnitz: Zeigten sich die Prozesse zwar phasenverschoben und offenbarten sich in der Hüttenindustrie durch den Nachholbedarf und die Bedeutung der Arbeiterausschüsse schon massiv vor der Revolution, handelte es sich doch in beiden Fällen um den massenhaften Gewinn bisher unorganisierter und gewerkschaftsferner Industriearbeiter. In einer Zeit, als der Beitritt nicht mehr „wehtat“ und die Verbände langersehnte Forderungen feierten, die gar nicht auf den Druck der Organisationen zurückgingen, wurden schließlich Massen neuer Mitglieder gewonnen, für die sich der DMV (aus individuell sehr unterschiedlichen Motiven) als idealer Dienstleister präsentierte. Die sentimentale Rückschau vieler älterer Mitglieder sollte Jahre später zeigen, welchen Unterschied es für die Organisation im Vergleich zum Kaiserreich bedeutete, dass sich im Zuge dieser Mitgliederexplosion ein instrumentelles Gewerkschaftsverständnis ausgeprägt hatte.
5.3 Die Gefahren der „Organisation als Selbstläufer“ – Der DMV in der Nachkriegszeit Zwischen der Novemberrevolution und 1924 erlebten die deutschen Gewerkschaften eine Zeit der Beschleunigung, in der ungeahnte Erfolge erzielt wurden, auch wenn man sich mit neuen Herausforderungen konfrontiert sah. Vor allem für den DMV, in dessen Reihen sich während des Krieges die größte oppositionelle Strömung etabliert hatte, ging damit eine neue Unübersichtlichkeit einher. Denn hier fand der „Einzug des Politischen“ gleich auf zweierlei Weise statt: Zum einen war dies auf den Wandel zurückzuführen, der die Gewerkschaften insgesamt erfasste. Im Zuge der langsamen Kriegsintegration gaben die Verbände zusehends ihre „negative Integration“ 159 auf und wechselten in eine staats- und wirtschaftstragende Funktion,
157 Vgl. Protokoll der Arbeiterausschusssitzung vom 28. 7. 1919, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA, 130 – 300143/7b, Bl. 205. Die Arbeiter der Drahtstraße von W. N. O. gingen ohne den Ausschuss oder die Arbeitsgemeinschaft in Lohnverhandlungen mit dem Direktor. 158 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 630. 159 Zuerst von Guenther Roth, The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working Class Isolation and National Integration, Totowa 1963; später ausführlich vor allem bei Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Berlin 1973.
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die spätestens mit dem Stinnes-Legien-Abkommen und letztlich mit der Weimarer Verfassung besiegelt wurde. Zum anderen lag dies an einer Entwicklung, die den DMV im Besonderen betraf: In keiner anderen Gewerkschaftsorganisation festigte sich die Spaltung der Sozialdemokratie innerverbandlich auf eine ähnlich scharfe Art. Der Charakter als politische Richtungsgewerkschaft und die herausragende Rolle, die die industrielle Metallarbeiterschaft während der Kriegsproduktion gespielt hatte, sorgten nach 1918 dafür, dass sich der tiefe politische Graben eins zu eins in der Gewerkschaft wiederfand. Diese Parallelität von gestiegener politisch-wirtschaftlicher Bedeutung und verschärfter politischer Spaltung war für die Geschichte des DMV bis 1933 von kaum zu überschätzender Brisanz. Aus ihr resultierte eine andauernde und nicht selten widersprüchliche Suche nach dem Platz des DMV in der weiterhin kapitalistischen Wirtschaftsordnung, wobei der Versuch der Integration unterschiedlichster politischer Interessen die Verbandsarbeit schwer belastete und auf eine fortwährende Zerreißprobe stellte. Nicht zuletzt stellte das Jahrfünft nach der Revolution aber auch eine Phase der Neuausrichtung gegenüber der Arbeiterschaft dar, die ohne die Umwälzungen der Kriegszeit kaum zu verstehen wären. Denn vor allem für die reformistische Gewerkschaftsströmung hatten sich die Vermittlungsmethoden zusehends als defizitär erwiesen, während die politische Opposition im Verband den politischen Charakter der Gewerkschaft betonte und von einem diametral entgegengesetzten Verständnis von Führer und Masse ausging. Die grundlegende Tendenz der Kriegszeit, in der die Basis der Führung umso stärker davonzulaufen schien, je mehr diese am Burgfrieden festhielt, schien spätestens mit dem politischen Systemwechsel und dem innerverbandlichen Sieg der Opposition 1919 ad acta gelegt worden zu sein. Sie wirkte aber auf Grund der Widersprüchlichkeit sozialistischer Gewerkschaftsarbeit in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem weiter und beeinflusste, umso klarer die Vergeblichkeit mancher Hoffnungen wurde, die Bindungskraft gewerkschaftlichen Bewusstseins. Dazu trug auch bei, dass sich der direkte Kontakt zur Arbeiterschaft und zu ihren „kleinen“ Problemen vor dem Hintergrund „größerer“ Aufgaben lockerte. Die betriebliche Ebene und die Sphäre täglicher Arbeit rückten sukzessive in den Schatten holistischerer Erwägungen. Für viele langjährige Mitglieder offenbarte sich diese Zeit daher als Gefährdung einer lange gehegten Gewerkschaftsidee, die noch 1913 unumstößliche Festigkeit besessen hatte. Freilich wurden diese Stimmen erst laut, als es „zu spät“ war. Bis dahin verstellten der Mitgliederreichtum und die wirtschaftliche Scheinblüte den Blick auf ein untergrabenes „Inklusionsarrangement“, an dessen Neujustierung man erst nach dem tiefen Fall von 1924 ging.
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5.3.1 Schwankende Mitgliederzahlen, politische Bedeutung und politische Spaltung Aufstieg und tiefer Fall – Die Mitgliederentwicklung in Sachsen und im Ruhrgebiet
Im Zuge der Ereignisse 1918/19 wuchsen die deutschen Gewerkschaften und allen voran ihr größter Verband, der DMV, in eine neue Rolle hinein. Dies betraf zunächst die reine Mitgliederzahl, die der Metallarbeitergewerkschaft ein erhebliches „Drohpotential“ und deutlichen Rückhalt in Arbeitskonflikten verschaffte. Gleichzeitig unterstrich sie die Legitimität gewerkschaftlicher Forderungen und stärkte den Charakter der Organisation als anerkannte und bedeutende Interessenvertretung. Sachsen und das Ruhrgebiet waren dabei die Regionen Deutschlands, in denen der Mitgliederanstieg am eindrucksvollsten vonstattenging. Während man im Osten ein bereits hohes Organisationsniveau ausbauen konnte, wurde im Westen mit einem Schlag sämtlicher Rückstand aufgeholt und das Ruhrgebiet in eine gewerkschaftliche Position erhoben, die erstmals annähernd seiner industriellen Bedeutung entsprach. So kletterte die Mitgliederzahl des siebenten DMV-Bezirks (RheinlandWestfalen) bereits im letzten Quartal des Jahres 1918 von 77.668 auf 163.946 und verdoppelte sich damit innerhalb von drei Monaten. Der Bezirk stieg damit zur mitgliederstärksten Verwaltungseinheit des DMV auf und ließ sogar den elften Bezirk (Berlin) und vierten Bezirk (Königreich Sachsen) hinter sich, die bisher die gewerkschaftlichen Tabellen angeführt hatten. Aber auch dort war der Anstieg bemerkenswert: In Sachsen stieg die Mitgliederzahl im letzten Quartal 1918 von 53.083 auf 95.406.160 1919 setzten sich die Zugewinne beider Bezirke weiter fort und bescherten vor allem den Verwaltungsstellen der Industriestädte immense Wachstumsraten: Im Ruhrgebiet, wo viele Arbeiter der Eisen- und Stahlindustrie schon 1918 beigetreten waren, blieb die Beitrittswelle aus dieser Industrie auch im Folgejahr ungetrübt und trug maßgeblich dazu bei, dass die Ortsverwaltungen (verglichen mit den Vorkriegsverhältnissen) eine ganz andere quantitative Dimension erreichten. Die Verwaltungsstelle Duisburg gewann in diesem Jahr 19.000, Essen 16.000, Dortmund 20.000 und Gelsenkirchen 10.000 Mitglieder hinzu. In Sachsen, wo sich die industriellen Strukturen noch geballter auf die drei Großstädte verteilten, übertraf man diese Zuwachsraten sogar noch bei weitem: Vor allem in Chemnitz legte der DMV um mehr als 30.000 Mitglieder zu und wurde zu einer der größten Verwaltungsstellen des Reichsgebiets. 160 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1918. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1919, S. 18.
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Trotz der phantastisch anmutenden Entwicklung war die Freude jedoch nicht ungetrübt: Bereits die ersten Berichte der Bezirksleitungen wiesen darauf hin, dass man nun umso mehr mit der Fluktuation zu kämpfen habe. Viele Arbeiter traten dem Verband kurzfristig bei, mussten wieder gestrichen werden und wiederholten diesen Vorgang sogar mehrmals.161 Die verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, die infolge des Mitgliederanstiegs auf die Ortsverwaltungen zukamen, deuteten sich also früh an und verlangten nach innerverbandlichen Strukturreformen. Besonders im siebenten Bezirk, der für die zentrale Leitung aus Düsseldorf zu groß geworden war, wurde dies nötig. Mit dem Jahreswechsel 1921 teilte man den Bezirk in vier neue Bezirke auf mit den Sitzen in Essen, Bielefeld, Köln und Hagen.162 Der lange vergeblich vorgebrachten Forderung der Ruhrgebietsverwaltungsstellen wurde dadurch erstmals Rechnung getragen und gleich zwei Bezirksleitungen ins Ruhrgebiet verlegt. Zu einem großen Teil muss diese Entscheidung sicherlich auf den Umstand zurückgeführt werden, dass sich neben den Bergarbeitern nun auch die Hüttenarbeiter als zweite entscheidende Arbeitergruppe des Reviers massenhaft in den freien Gewerkschaften organisierten. Ihre Mitgliederzahl im Zollgebiet 163 stieg von etwa 10.000 (1913) auf über 80.000 (1919) an, womit sich der Organisationsgrad von 4,76 Prozent auf 44,84 Prozent erhöhte. 1921 und 1922 sank er jedoch bereits wieder leicht auf 39,15 Prozent und 35,47 Prozent.164 Dem Erwachen des „Hüttensklaven“ 165 des Ruhrgebiets entsprach ein breites Eindringen des DMV in die weiterverarbeitende Industrie Sachsens. Die hohen Organisationsgrade, die der Verband vor allem in der Maschinenindustrie des Königreichs vor 1914 besessen hatte, konnten noch stark gesteigert und auch auf andere Bereiche des Industriezweigs ausgedehnt werden. Die Zahlen und ihre Relation zu den Vorkriegsverhältnissen legen dabei den Schluss nahe, dass es sowohl in Chemnitz als auch in Dresden und Leipzig zwischen 1919 und 1923 nur wenige Metallarbeiter gab, die nicht mindestens einmal Mitglied des DMV 161 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1919. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1920, S. 13. 162 Eine organisatorische Änderung des Verbandes in Rheinland und Westfalen, in: MAZ 39 (1921) 1, S. 4. 163 Zahlen für das Ruhrgebiet erhalten die Aufstellungen des DMV und der Bezirke ab 1919 leider kaum noch. Angesichts der gewerkschaftlichen Äußerungen und der Bedeutung, die das Ruhrgebiet für diesen Industriezweig spielt(e), muss aber davon ausgegangen werden, dass sich die Zuwächse des Zollgebiets auch (wenn nicht sogar noch stärker) hier zeigten. 164 Dies war aber eher auf die Steigerung der Arbeiterzahlen zurückzuführen. Die Mitgliederzahlen schwankten in diesen Jahren weniger stark. Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 635. 165 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1919, S. 244.
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gewesen waren. Denn Chemnitz war 1920 und im Folgejahr mit mehr als 40.000 Mitgliedern die zweitgrößte Verwaltungsstelle des Reiches nach Berlin, während Dresden an dritter und Leipzig an vierter bzw. fünfter Position lag. 1922 überholte Dresden Chemnitz und Leipzig lag immer noch auf Rang sechs knapp hinter Hamburg und Nürnberg.166 Obgleich wir keine genauen Daten über die DMV -Mitgliedschaft im Maschinenbau in diesen Jahren besitzen, ist daher davon auszugehen, dass die in Chemnitz dominierende Maschinenindustrie über einen herausragenden Organisationsgrad verfügte – besonders weil die anderen Hauptarbeitgeber der Stadt (Textil- und Bauindustrie) nicht vom DMV organisiert wurden. Auf Grund der (im Vergleich zu Dresden und Leipzig) wenig diversifizierten Chemnitzer Industrielandschaft und der Mitgliederzahlen dürfte er deshalb wohl über 80 Prozent gelegen haben. Der Einbruch der Mitgliederzahlen seit 1923/24 (auf dessen Ursachen noch eingegangen wird) traf jene Verwaltungsstellen und Bezirke besonders, die ihre Gewinne seit 1918 dem massenhaften Beitritt von Industriearbeitern zu verdanken hatten. Folglich waren die Entwicklungen im Ruhrgebiet und in Sachsen für den DMV dramatisch: Der Bezirk Essen verlor 1924 etwa 73 Prozent, der Bezirk Hagen 66 Prozent und der Bezirk Dresden ca. 45 Prozent seiner Mitglieder. Wird das langsame Absinken der Vorjahre mit einbezogen, vergrößern sich die Verluste sogar noch weiter: Besonders im Bezirk Essen, wo sich der Rückgang schon 1921 bemerkbar machte, traten bis 1924 80 Prozent der Mitglieder aus oder mussten gestrichen werden. Im Bezirk Hagen waren es über 70 Prozent und in Sachsen sanken die Zahlen seit 1922 um 53 Prozent. Während man damit in Sachsen noch im Mittelfeld lag, verzeichnete keine Region stärkere Einbußen als das Ruhrgebiet.167 Als Sinnbild für den Absturz kann dabei die Verwaltungsstelle Duisburg gelten, in der der Aufstieg seit 1917 vor allem mit dem Beitritt von Eisen- und Stahlarbeitern verbunden war. 1916 traten hier 1000, 1917 3000 und 1918 9300 Arbeiter bei. 1924 verlor die Ortsverwaltung, in der zeitweise sieben Sekretäre beschäftigt waren, schließlich über 80 Prozent ihrer Mitglieder.168 Der Hauptteil dieser Austretenden dürfte aus Hüttenarbeitern bestanden haben, denn deren reichsweiter
166 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1922. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1923, S. 42. 167 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1925, S. 29; vgl. Der DMV in Zahlen, S. 107. 168 Vgl. Jürgen Dzudzek, Von der Gewerks-Genossenschaft zur IG Metall. Zur Geschichte der Metallgewerkschaften in Duisburg, herausgegeben von der IG Metall Verwaltungsstelle Duisburg, Oberhausen 1991, S. 187.
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Organisationsgrad stürzte bis 1925 auf nur noch 17,47 Prozent ab.169 In Chemnitz blickten die Beamten jedoch auf ähnlich einschneidende Veränderungen wie im Revier: Fast 74 Prozent der DMV-Mitglieder brachen zwischen 1922 und 1924 weg, davon mehr als zwei Drittel allein 1924.170 Nur sechs Jahre nach der Revolution wurde man damit noch weit hinter den Vorkriegsstand zurückgeworfen. Der politische Verschleiß des DMV in der Nachkriegszeit
Die Brisanz der Schwankungen in der Mitgliederzahl waren zu einem nicht unwesentlichen Teil dem Verhältnis geschuldet, das der DMV während des Krieges sowie während und nach der Revolution mit Politik und Wirtschaft eingegangen war und aus dem zahlreiche innerverbandliche Konflikte und Vermittlungsprobleme erwuchsen. So muss vermutet werden, dass der Mitgliedergewinn der letzten Kriegsphase und des Nachkriegsjahres stark von der Position der Gewerkschaft im Umbruch bestimmt wurde: Sie brachte anscheinend das richtige Maß an Kontinuität mit, galt als Garant gegen allzu radikale Experimente und hatte sich während des Krieges (wenn auch unter Protest vieler Mitglieder und Arbeiter) als Stabilitätsanker erwiesen. Gleichzeitig verkörperte sie aber auch den Bruch mit einem lange kritisierten politischen System und weckte Hoffnungen auf eine gerechtere wirtschaftliche Ordnung. Obwohl die Verbände während der Revolutionsphase außen vor blieben und die Meinungen über Kontinuität und Bruch innerverbandlich weit auseinandergingen, schien ihnen der Wandel daher „auf den Leib geschneidert“: Die politische Herrschaft der Arbeiterschaft durch den Novemberumsturz gab den Gewerkschaften zunächst mächtigen Auftrieb. In den einsetzenden Kämpfen der Arbeiter unterund gegeneinander, gegenüber einem ratlosen Bürgertum erschienen sie als die einzigen festgefügten Organisationen. Ihre Führer hatten sich während des Krieges das Vertrauen der Verwaltung und weiter Teile der Bevölkerung erworben, ihre Verwaltungsschulung und ihre nüchterne Betrachtung der wirtschaftlichen Vorgänge verbürgten Schutz gegen radikale Experimente. Den Arbeitern aber schienen sie als die natürlichen Erben einer zusammenbrechenden Wirtschaft zu sein, die ihnen zu ausreichendem Lohn und zu besserer Existenz verhelfen konnte. So strömten die Arbeitnehmer in Scharen in die Arbeitergewerkschaften und in die Angestelltenorganisationen, die sich auf gewerkschaftliche Tätigkeit umstellten.171
169 Dabei wird dieser Wert noch durch die ebenfalls stark sinkenden Arbeiterzahlen gemildert. In absoluten Zahlen verloren die freien Gewerkschaften seit 1921 etwa 70 Prozent ihrer Mitglieder unter den Hüttenarbeitern. Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 635. 170 Der DMV im Jahre 1922 – 1924. 171 Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1978, S. 181 f.
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Auch die Verbandsleitung des DMV ließ keinen Zweifel daran, dass der immense Mitgliederanstieg auf die Ereignisse der Revolution zurückzuführen war.172 Von vornherein versuchte man, sich positiv an das neue politische System zu binden. Die führende Rolle, die viele Gewerkschafter rasch nach der Revolution einnahmen, begünstigte eine Identifikation der DMV-Beamten mit der Republik und stärkte bei den Arbeitern das Bild einer staatstragenden Organisation. So wurde der langjährige Verbandsvorsitzende Schlicke 1919 Reichsarbeitsminister, der Vorsitzende des Gewerkschaftskartells Chemnitz, Max Heldt, bekleidete nacheinander die Ämter des Sächsischen Arbeitsministers, Finanzministers und für fünf Jahre (1924 – 29) des Ministerpräsidenten, und hochrangige DMV -Sekretäre wie Carl Severing oder Rudolf Wissell machten steile politische Karrieren in der Weimarer Republik. Thematisch offenbarte sich die Integration des DMV in das politische und (wesentlich umkämpftere) wirtschaftliche System im Einzug volkswirtschaftlicher, finanzpolitischer und parteipolitischer Erwägungen in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit und Taktik. Die neue Verantwortung führte zu einem Anwachsen gewerkschaftlicher Betätigungsfelder: Themen wie Finanz- und Währungsfragen wurden in immer stärkerem Maße berücksichtigt, um dem Status als Bestandteil der Verfassung und Stütze des Staates gerecht zu werden.173 Deutlichen Ausdruck fand diese Erweiterung in der seit 1920 herausgegebenen Betriebsräte-Zeitschrift für Funktionäre der Metallindustrie, in der versucht wurde, möglichst alle Faktoren zu beleuchten, die für die Gewerkschaftsarbeit nun eine Rolle spielten. Es gehörte zum Signum dieser Phase, dass man sich sowohl im Verband als auch in der Arbeiterschaft zunächst auf den Einsatz und den Ausbau der erworbenen Rechte konzentrierte. Abseits der ideologischen Grabenkämpfe besaßen in der realen Gewerkschaftsarbeit nur wenige Beobachter ein Gespür für die Implikationen, die der Pflichtfaktor für die Verbände mit sich bringen konnte. Denn als nominell sozialistische Gewerkschaftsorganisation in einem weiterhin kapitalistischen Wirtschaftssystem saß man nun offensichtlich „zwischen den Stühlen“, und die Organisationslogik hatte sich verändert. Der bekannte Dozent und Redakteur Richard Woldt brachte diesen Wandel des Charakters der Gewerkschaftsarbeit nach 1919 auf den Punkt: Für ihn war das Verhältnis von Gewerkschaft und System vor 1914 von einem brutalen Machtkampf geprägt. Unter Einsatz ihres persönlichen Wohls hätten die Beamten große Risiken bei der Agitation auf sich genommen, seien ansonsten aber als bloße „Markenkleber“ rein für das verbandliche Vorankommen verantwortlich gewesen. Die Einbeziehung in politische Fragen nach 172 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1918, S. 16. 173 Diesen Umstand bat Heinz Potthoff, bei der Kritik an den Gewerkschaftsbeamten im Auge zu behalten. Vgl. Heinz Potthoff, Entlastung der Gewerkschaftsbeamten, in: MAZ 42 (1924) 3, S. 5.
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1918 habe dann erstmals die Verantwortlichkeit gegenüber der „Gesamtheit des Volkes“ erzeugt, aus der sich gewissermaßen auch ein anderer Gewerkschaftstyp ergebe: Die gewerkschaftliche Rolle bestehe nicht mehr allein aus der Forderung nach Rechten, sondern besitze eine „doppelte Grundanschauung“, bei der man sowohl die Interessen der Arbeiterschaft als auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu beachten habe.174 Woldt beschloss seine Gedanken daher auch regelmäßig mit einem Plädoyer für eine intensivere gewerkschaftliche Bildungsarbeit – eine vor dem Hintergrund der Mitgliederentwicklung mehr als berechtigte Thematik, an deren Scheitern im Nachhinein nicht wenige den Absturz von 1924 festmachten. Bezogen auf den Wandel von 1918/19 traf er mit seinem Bild der „doppelten Grundanschauung“ zunächst jedoch den Kern der fundamentalen Veränderung relativ gut – ein Wandel, der grundlegende Auswirkungen auf das Verhältnis von Organisation und Basis besaß: Denn blieben die freien Gewerkschaften während des Kaiserreiches „negativ integriert“ und konnten ihre Mitglieder über die Feindschaft zum politischen und wirtschaftlichen System dadurch „im Negativen integrieren“, standen sie seit 1918 vor einem Dilemma. Einerseits lehnten weite Teile (vor allem im DMV) die kapitalistische Ordnung weiterhin strikt ab und hegten Sozialisierungshoffnungen. Andererseits war man aber politisch in die Pflicht genommen worden. Der parteipolitische Charakter, um den innerverbandlich heftige Konflikte entbrannten, erweiterte die Ausrichtung der Gewerkschaftsarbeit um eine Komponente, die nicht selten in argem Widerspruch zur Ablehnung der kapitalistischen Ordnung stand. Eine Ausbildung gewerkschaftlichen Bewusstseins und/ oder eine Beitrittsmotivation auf Grund „negativer Integration“ waren jetzt nur noch bedingt möglich. Die neue Verantwortung der Gewerkschaften ließ die innerorganisatorischen Adhäsionskräfte der Jahre der Verfolgung rasch schwinden, sodass man sich auf die Suche nach anderen Momenten des Zusammenhalts begeben musste. Diese Suche blieb jedoch erfolglos: Als klar wurde, dass sich auch die wirtschaftliche Integration der Verbände gefestigt hatte, viele Versprechen nicht eingehalten werden konnten und die Gewerkschaften den Arbeitern keinen Schutz vor der Rücknahme der „Errungenschaften von 1918“ boten, offenbarte sich schnell die Pflichtkomponente des gewerkschaftlichen Dilemmas. Der ökonomische Einbruch fegte schließlich jenen Schleier weg, der das defizitäre Verhältnis von Arbeiterschaft und Verband nach 1918 überdeckt hatte. Mit einem Schlag zeigte sich die wackelige Grundlage eines instrumentellen Gewerkschaftsverständnisses als kleinsten gemeinsamen Nenners. Während des Kaiserreichs eingeübte Verhaltensweisen mussten vor diesem
174 Vgl. Richard Woldt, Wirtschaftliche Schulungsarbeit und gewerkschaftliches Führertum, Leipzig 1922, S. 7 – 21.
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Hintergrund versagen: Die altbewährte Suche nach den Schuldigen im Unternehmertum oder wirtschaftlichen System selbst konnte im Kontext gewerkschaftlicher Integration nur noch wenige überzeugen. Aus der Sicht vieler Arbeiter war man zu einem Teil des Problems geworden und hatte im Zuge dieser Entwicklung viel der alten Attraktivität verloren. Es wäre jedoch verfehlt, allein den Verbänden die Verantwortung für den Bindungsverlust zuzuschreiben. Zwischen 1918 und 1924 waren sie fester Bestandteil einer unübersichtlichen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung, Adressat unterschiedlichster Erwartungen und in vielerlei Hinsicht auch ein Garant der Stabilität. Indem sie versuchten, ein breites Spektrum von Strömungen in der Arbeiterschaft zusammenzuhalten, wurden ihre innerorganisatorischen Inklusionskräfte (über-)beansprucht. Es ist sicherlich eine Ironie des Schicksals, dass die Gewerkschafter dabei genau jenen Arbeitgebern als einzig beständiger Ansprechpartner und Stütze der Macht galten, unter deren Widerstand sie vor 1914 am stärksten gelitten hatten. Denn besonders die Ruhrindustriellen führten in diesen Jahren ein geschicktes strategisches Rückzugsgefecht, gaben keinen Zentimeter mehr nach als nötig und bedienten sich des Einflusses der integrierten Gewerkschaften in einer Zeit großer Planungsunsicherheit. Aus einer pragmatischen Sicht des politisch Machbaren heraus passten sie ihren mehrgleisigen Kurs an und zogen die Gewerkschaften nicht selten in einen behördlichen Verschleppungsprozess hinein. Vor allem im Rahmen des entstehenden Betriebsrätegesetzes bekämpften sie dessen Reichweite sehr erfolgreich, legten den Betriebsräten wo es ging Hindernisse in den Weg und waren sich bei alldem der Implikation für die Gewerkschaften wahrscheinlich bewusster als die Verbände selbst.175 Gemäß der Formulierung, die Erik Reger ihnen in den Mund legte, erkannten sie, dass eine Einbeziehung der Organisationen nicht das Schlechteste sein musste: „Die Betriebsräte werden unser gefügiges Instrument sein, sie kommen unseren Grundsätzen sehr zustatten, ihr Mitbestimmungsrecht wird die Pflicht zur Mitverantwortung sein.“ 176 Sie machten deutlich, wie sehr die Verbände von jedem Schritt, den sie weiter in die Wirtschaftsordnung integriert wurden, nur auf den ersten Blick profitierten. Auf den zweiten Blick führte er sie jedoch in einen methodischen Käfig, der ihre gestaltenden Potentiale zähmte, ihre Bekämpfung vereinfachte und sie mit den Geschicken der Wirtschaftsordnung verband. Dementsprechend gestaltete sich die Rolle des DMV, solange er über eine solch gewaltige Mitgliederzahl „verfügte“, höchst ambivalent: In den wechselnden konjunkturellen und politischen Verhältnissen erschien er zunächst als mächtiger und handlungsfähiger Verband, der über die Erfüllung lange erhobener Forderungen 175 Das Vorgehen der GHH-Direktion im Rahmen der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, in: RWWA, 130 – 400143/19, Bl. 53, 63, 74 ff. 176 Reger, Union der festen Hand, S. 261.
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die nötige Anziehungskraft innerhalb der Arbeiterschaft herstellte, während er entsprechend seiner zunehmenden Integration immer stärker vor Handlungszwänge gestellt wurde. In den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen und Streiks nahm die Gewerkschaft durch ihre sich verfestigende „doppelte Grundanschauung“ eine Mittlerposition ein, die sie von großen Teilen der Arbeiterschaft entfremden musste. Als Prellbock oder willfähriges Disziplinarobjekt der Unternehmer verschrien, verschliss die gewerkschaftliche Fähigkeit, die bestehenden Mitgliedermassen an den Verband zu binden. Die Äußerungen der Direktion der Friedrich-Alfred-Hütte im Rahmen eines spontanen Belegschaftsstreiks 1920 verdeutlichten, wie die einstigen Feinde nun (notgedrungen) wahrgenommen wurden: Wenn, wie Herr Zimmermann angibt, sich die rechtsrheinischen Werke hinter die Gewerkschaften stellen, so ist es auch der Standpunkt der Friedrich-Alfred-Hütte, daß sie lieber mit disziplinierten Gewerkschaftlern zu tun hat, als wie mit ganz unorganisierten Massen.177
Auf vielfache Weise instrumentalisiert und von verschiedenen Seiten in Anspruch genommen, nutzte sich die Inklusionswirkung des DMV zwischen 1918 und 1924 zusehends ab. Ihr „Dogma“, wie Reger es formulierte, wurde dabei zum Spielball externer Handlungszwänge, interner Versäumnisse und einer geschickten Manipulation. Gefangen im Widerspruch ihrer eigenen Logik erschien der Weg der Gewerkschaft vorgezeichnet: Nicht wieder unversöhnlich sein, meine Herren, nicht wieder die öffentliche Meinung kopfscheu machen. Wir haben die Gewerkschaften nicht niedergekämpft. Wir haben ihnen nur gut zugeredet, daß sie selbst sich abgekämpft fühlen sollten. Wir wollten sie kraftlos machen. Wir wollten sie nicht vernichten, bewahre. Wenn sie nicht mehr da wären, müßten wir sie sogar wieder erschaffen – ich meine nicht ihre leibliche Existenz, ich meine ihr Dogma. Ihr Dogma muß bestehen bleiben. Wir werden sie nur deshalb nicht wegen der Ida bitten, weil wir überzeugt sind, daß sie später von selbst zu uns kommen werden.178
Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowie die wachsende Enttäuschung und Radikalisierung der Arbeiter bildete einen wichtigen Aspekt bei der Suche nach den Ursachen für den schnellen Aufstieg und Fall des DMV. Hin- und hergerissen zwischen sozialistischem Ideal und wirtschaftlicher Integration konnte der Verband die Mitgliedermassen letztlich nicht halten. Innerverbandlich manifestierten sich diese Entwicklungen in einer fortwährenden politischen Spaltung. 177 Niederschrift über die Fortsetzung der 47. Arbeiter-Ausschuss-Sitzung vom 28. 2. 1920, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/701, Bl. 9. 178 Reger, Union der festen Hand, S. 623.
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Denn dass sich die Widersprüche so klar offenbarten und so schwerwiegende Folgen hatten, war darauf zurückzuführen, dass der Verband in allen wichtigen Fragen zwischen 1915 und 1933 quasi nie mit einer Stimme sprach. Anders als in manch kleinerer Gewerkschaft machten die Spaltung der Sozialdemokratie, der Kriegsverlauf und der Mitgliederzustrom den DMV zu einem Sammelsurium verschiedenster Strömungen und zum Betätigungsfeld aller nun entstehenden sozialistischen und kommunistischen Parteien. Die widerstrebenden Interessen bedeuteten eine starke Belastungsprobe für den Verband, weil sich, obwohl einige Streitpunkte im Zuge innerverbandlicher Verhandlungen geschlichtet werden konnten, an der grundsätzlichen Differenz nichts änderte: Es ging um die Verortung der Gewerkschaft zwischen den Polen einer aktiven Sozialisierung der Gesellschaft und einer evolutionären Umgestaltung des kapitalistischen Systems. In keinem anderen Verband war die Stärke beider Lager ähnlich ausgeglichen wie im DMV. Und dennoch blieb die Politik der Verbandsleitung im Jahr nach der Revolution beinahe unverändert. Die weiterhin mehrheitssozialdemokratische Führung unter Alexander Schlicke knüpfte an die Kriegsposition des Verbandes an: Man zog sich während der Revolution zurück, initiierte das Stinnes-Legien-Abkommen wesentlich mit, suchte Anschluss an die Generalkommission, trat der Arbeitsgemeinschaft bei und beteiligte sich an der politischen Entmachtung der Räte.179 Eine „logische“ Folge fand die langsame Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse im Verband, die sich seit 1915 vollzogen hatte, erst auf der Generalversammlung im Herbst 1919: Der Wortführer der Berliner Vertrauensleute Richard Müller und der Wortführer der „rechten“ Opposition Robert Dißmann fassten die grundlegende Kritik an der Kriegs- und Nachkriegspolitik des Vorstandes zusammen und leiteten einen organisatorischen Kurswechsel ein. Im Mittelpunkt der Gewerkschaftsarbeit sollte nun die Sozialisierung der Wirtschaft durch revolutionären Klassenkampf und den Ausbau des Rätesystems stehen. Die bisherigen Zusammenschlüsse mit den Arbeitgebern seien als ein Verrat an der Revolution aufzulösen. Weiterhin zogen sie auch Konsequenzen aus dem Führungsstil des Vorstandes und dessen als undemokratisch empfundenen Vorgehen: Innerhalb des Metallarbeiter-Verbandes ist den Mitgliedern in weitgehendstem Sinne das Mit- und Selbstbestimmungsrecht zu gewährleisten. Über rein örtliche Angelegenheiten entscheidet die Mitgliedschaft am Orte, desgleichen über die Verrechnung der Lokalgelder, sowie Erhebung und Verwendung örtlicher Extrabeiträge.
179 Vgl. Heinrich Potthoff, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, S. 29 – 40, 102 – 122; vgl. Opel, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband während des Ersten Weltkrieges, S. 75 ff.; vgl. Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, S. 119 – 134.
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Verwaltungsstellen, deren Generalversammlungen sich nach einem Vertretersystem zusammensetzen, haben letzterem eine Grundlage zu geben, die es den Mitgliedern vor dem Stattfinden einer jeden Generalversammlung – solche haben mindestens vierteljährlich stattzufinden – ermöglicht, ihre Vertreter zur jeweiligen Generalversammlung zu bestimmen. Die Angestellten der Organisation haben sich gleich den Ortsverwaltungen einer jährlichen Neuwahl zu unterziehen. Das gleiche gilt für die Angestellten in den einzelnen Bezirken durch die zuständigen Bezirksorganisationen, resp. Bezirkskonferenzen. Die Ortsverwaltungen bedürfen keiner Bestätigung des Vorstandes.180
Obwohl sich beide Lager der Opposition in diesen Punkten einig waren und dadurch eine Änderung des Verbandskurses erwirkten, spaltete sie die Frage, wie dieser Wandel forciert werden sollte: Während die Resolution Müller forderte, die Gewerkschaft zum Fundament eines wirtschaftlichen Rätesystems zu machen, weil die alte Organisation für den Umbruch nicht mehr tauglich sei, wollte die Resolution Dißmann den Klassenkampf und das Rätesystem lediglich zur Grundlage der althergebrachten (aber demokratisierten) Verbandsstrukturen erheben.181 Dass sich Dißmann in diesem Punkt durchsetzen konnte und das Ergebnis des Verbandstages letztlich eher einem Kompromiss mit der alten Führung denn einem radikalen Bruch glich, war vor allem auf den ungünstigen Zeitpunkt der Generalversammlung zurückzuführen: Denn seit der Revolution war fast ein Jahr vergangen, in dem sich die Chancen für die sozialistische Umgestaltung verschlechtert hatten. Eine eigenständige revolutionäre Partei existierte in dieser Zeit nicht. Viel eher band die parteipolitische Klammer der USPD eine revolutionäre Richtung an eine oppositionell-demokratische Strömung. Beide Lager nahmen sich sowohl in der USPD als auch im DMV durch interne Diskussionen große Teile ihrer politischen Stoßkraft. In vielen Positionen waren Vertreter der alten DMV- und SPD-Führung erstarkt (Müller und Heldt spielten in Chemnitz zum Beispiel schon wieder die ausschlaggebende Rolle) und auch die bürgerlichen Eliten gewannen schnell ihren Einfluss zurück. Noch dazu hatte die eher auf Sozial- denn auf Machtpolitik setzende DMV – Vorstandspolitik den Anschluss an die Arbeitgeber gesucht und wichtige Schritte auf dem Weg zur Systemintegration unternommen. Auch trug man maßgeblich dazu bei, dass die Rätebewegung ein Jahr nach der Revolution
180 So Dißmann in seiner Grundsatzkritik am Vorstand. Die vierzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Stuttgart 1919. Im Saale des Stadtgarten vom 13. bis 23. Oktober, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1919, S. 47. 181 Vgl. Fritz Opel, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband während des Ersten Weltkrieges, S. 106 f.
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quasi entmachtet war – ein Vorgehen, mit dem man soziale Tatsachen schuf, die sich kaum zurücknehmen ließen.182 Aus diesen Gründen zeitigte die Generalversammlung von 1919 „nur“ einen programmatischen und personellen Kompromiss: Zwar gab die „rechte“ Opposition nun den Ton an und Dißmann wurde Verbandsvorsitzender, doch musste er sich dazu auch der beiden anderen Lager versichern. Wichtige Sekretäre der alten Führung wie Georg Reichel 183 oder Hermann Zernicke 184 besetzten entscheidende Ämter und vermochten es, dem pragmatischen Standpunkt sozialer Tagesfragen entscheidendes Gehör zu verschaffen. Richard Müller wechselte in die Redaktion der Metallarbeiter-Zeitung, und obwohl man versuchte, die revolutionäre Strömung zumindest rhetorisch zu integrieren, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie die Verhandlungen zu Gunsten einer Annäherung der gemäßigten Opposition mit der alten Führung verloren hatte. Schloss sich dadurch tendenziell einer der innerorganisatorischen Gräben, der sich besonders in parteipolitisch motivierten Ausschlussanträgen gegen Ortsvorsitzende manifestiert hatte,185 verbreiterte sich die Kluft gegenüber den revolutionären Teilen der Mitgliedschaft. Besonders die Forderungen nach der vollen Unterstützung eines schlagkräftigen Rätesystems, wie sie aus dem Ruhrgebiet kamen,186 wurden enttäuscht. Zwar trat man mit viel Getöse aus der Arbeitsgemeinschaft aus 187 und erfüllte damit einen Wunsch der gesamten 182 Vgl. ebd., S. 108 f. 183 Georg Reichel (1870 – 1947) trat nach Flaschnerlehre und Wanderschaft 1888 einem Metallarbeiter-Fachverein bei und war bis 1895 Klempnergehilfe. 1891 – 1895 war er ehrenamtlicher Vertrauensmann der westsächsischen Metallarbeiter in Leipzig und 1895 – 1903 hauptamtlicher Sekretär im DMV-Hauptvorstand in Stuttgart. Zwischen 1903 und 1919 bekleidete er das Amt des Zweiten und zwischen 1919 und 1933 des Ersten Vorsitzenden im Hauptvorstand des DMV. Er war Vorstandsmitglied des Internationalen Metallarbeiterbundes und des ADGB-Bundesvorstandes. Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, S. 182. 184 Hermann Zernicke (geb. 1869) war nach einer Formerlehre bis 1904 Metallarbeiter und übernahm 1904 das Gewerkschaftskartell Groß-Lichterfelde bei Berlin als Vorsitzender. Zwischen 1904 und 1915 bekleidete er ebenfalls das Amt des Bezirksleiters des DMV für Berlin und Brandenburg. 1915 – 1920 wechselte er in den Stuttgarter Hauptvorstand und war in den Nachkriegsjahren Vorsitzender des Vollzugsausschusses und Delegierter zum 1. Rätekongreß in Berlin. Vgl. Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 815 f. 185 In vielen Verwaltungsstellen sahen sich die Beamten nun dem Misstrauen politisch anders ausgerichteter Mitgliedsgruppen gegenüber. So auch in Chemnitz: vgl. MAZ 37 (1919) 14, S. 55. 186 Die vierzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 17 f. 187 Die geschockte Reaktion der Arbeitgeberverbände an der Ruhr, in: RWWA, 130 – 300141/3, Bl. 24.
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Opposition, doch erkannten bereits 1919 viele Sekretäre, dass dies angesichts der innerverbandlichen Widersprüche nur eine leere Drohung war: Gerade im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, wo wir in der Schwerindustrie die Unternehmer erst einmal an den Verhandlungstisch gebracht haben, haben wir durch die Arbeitsgemeinschaft für Tausende von Arbeitern erst den Urlaub möglich gemacht. Wenn hier soviel theoretisiert wird, sollen wir nicht vergessen, daß die praktische Arbeit unsere Hauptaufgabe ist. Wir müssen alle mit Wasser kochen. Auch wenn sie die Arbeitsgemeinschaft aufheben sollten, wird ihr neuer Vorstand doch in dieser Richtung arbeiten müssen. Bedenken sie auch daß, wenn von uns die Arbeitsgemeinschaft aufgehoben wird, die Christlichen sich nicht dazu hergeben werden. Glauben sie denn, daß in der Metallarbeiterschaft in Rheinland-Westfalen schon überall der revolutionäre Geist vorhanden ist? Den Kollegen kommt es doch meist nur auf die Verbesserung ihrer pekuniären Lage an, und die Organisationen werden den meisten Zuspruch haben, die solche Verbesserungen erzielen. Wenn wir die Arbeitsgemeinschaft aufheben, wird es uns unmöglich gemacht, in dieser Richtung wirksam zu arbeiten. (Sehr richtig!)188
Damit schätzte der Sekretär Löffler aus Bochum das Dilemma gut ein und gab gleichzeitig eine treffende Vorhersage über die weitere Entwicklung. Denn in der Tat trat die Konzentration auf das lohnpolitische Tagesgeschäft des Verbandes immer stärker zum Vorschein, während sich der politische Elan weiter reduzierte. Die Spaltung des Verbandes, die spätestens seit dem Jenaer Verbandstag von 1921 nicht mehr zwischen SPD und USPD, sondern zwischen einer Sozialdemokratie und der KPD herrschte,189 hatte sich vertieft und eine noch größere programmatische Ferne beider Lager entstehen lassen. Auf Vorstandsebene wurde dies vor allem in den Sitzungen der Vorständekonferenz der Gewerkschaften deutlich. Dißmann, der hier den Verband mit der bei weitem größten kommunistischen Mitgliedergruppe vertrat, befand sich in der Zwickmühle, diese Mitgliedergruppe einerseits nicht ignorieren, andererseits aber gegen die SPD-Vorstände der anderen Verbände auch kein koordiniertes Vorgehen durchsetzen zu können. Seine Politik umfasste daher sowohl nicht anerkannten Aktionismus als auch eine radikale Außenseiterposition. Eine Anpassung der Vorständepolitik, um der politischen Spaltung 188 Die vierzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 277. 189 Der Verbandstag der Erfüllung, in: MAZ 39 (1921) 40, S. 206. Auf dem Jenaer Verbandstag war man bezüglich einer Integration der KPD noch optimistisch und die Reaktion auf die Gewerkschaftspolitik der KPD fiel noch gemäßigt aus. Die Reaktion in der MAZ auf die Rede Brandlers auf dem VKPD-Parteitag: Die kommunistischen Leitsätze für die Tätigkeit in den Gewerkschaften, in: MAZ 39 (1921) 22, S. 109 f.
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entgegenzuwirken, war auf diese Weise nicht möglich. Dißmanns Versuche, die Einheit seines Verbandes zu wahren, trafen auf scharfe Ablehnung: Dißmann hat in Gera gesagt, ihm stehe die Einigung des Gesamtproletariats so hoch, daß er die Kommunisten, selbst ihre Führer, mit Haut und Haaren schlucken will. (Dißmann: Sehr richtig!) Ich bewundere den guten Verdauungsapparat. (Dißmann: Ihr werdet es auch tun müssen!) Niemals! Wir würden Gift schlucken. Der letzte Versuch im Juni des Jahres, zur Einigung zu kommen, hat uns für alle Zeit kuriert.190
Gegen das Vorgehen der kommunistischen Gewerkschafter im DMV, das merklich dem Vorgehen der Opposition während des Krieges ähnelte (weshalb sich Dißmann auch daran erinnert sah, als er die Kommunisten angriff),191 kam der Vorstand aus genau den gleichen Gründen nicht an: Der Bezug zur betrieblichen Ebene und die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Mitglieder sowie die Autonomie der Ortsverwaltungen innerhalb des Statuts festigten die neue Opposition an der Basis. Vor allem in Phasen politischer und wirtschaftlicher Kämpfe erwuchs dem DMV – Vorstand dadurch ein Gegenspieler, dem mit Ausschlüssen und Dißmanns „Schluckkonzept“ nicht beizukommen war. Regionale Unterschiede
Allerdings handelte es sich bei der politischen Spaltung um einen Prozess, der regional und branchenspezifisch in unterschiedlichen Bahnen verlief: In Chemnitz, wo sich seit 1919 nur noch die SPD und die KPD gegenüberstanden, entspann sich um den Einzug der Reichswehr in die Stadt (August 1919) und dem damit verbundenen „Anti-Noske-Effekt“ eine Wende in der Sozialdemokratie, an der auch der örtliche DMV partizipierte. Ein Netzwerk aus Redakteuren der Volksstimme und Gewerkschaftsfunktionären bestimmte nun einen Kurs der örtlichen Arbeiterbewegung, der als „Chemnitzer Richtung“ bezeichnet wurde.192 Eine ausgesprochen pragmatische KPD verband sich darin mit einer weit nach links tendierenden SPD. Sie gaben mit der Brücke sogar eine eigene theoretische Zeitschrift heraus, kitteten das Verhältnis beider Lager zeitweise und beruhigten auch die innergewerkschaftliche Lage. Im Gegensatz zu den Verwaltungsstellen des Ruhrgebiets lässt sich für die 190 Protokoll der Vorständekonferenz vom 28.9. bis 1. 10. 1922, in: Michael Ruck (Hrsg.), Die Gewerkschaften in den Anfangsjahren der Republik 1919 – 1923 (= Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 2), Köln 1985, Dokument 67. 191 Vgl. Robert Dißmann, Ein offenes Wort in ernster Stunde, in: MAZ 39 (1921) 11, S. 53 f. 192 Vgl. Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 159 ff.
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Chemnitzer DMV – Verwaltung zwischen 1919 und 1923 daher auch kein gesteigertes politisches Konfliktpotential erkennen.193 An den Streiks gegen den Kapp-Putsch und die Ermordung Walther Rathenaus nahmen die Maschinenbauarbeiter beider politischen Lager geschlossen teil.194 Gestützt wurde die Lage in diesen Jahren auch durch die sächsische Landespolitik, in der sich SPD und USPD toleriert von der KPD zu einem Regierungsbündnis zusammenschlossen, bis diese Regierung durch den Einmarsch der Reichswehr im Herbst 1923 putschartig aufgelöst wurde.195 Bereits zum Ende dieser Phase zeichnete sich jedoch ein allmählicher Bruch ab, der sich vor allem mit der Kontrolle erklären lässt, die (inter-)nationale Organisationsstrukturen auf die sächsischen Regionalverwaltungen gewannen. Sowohl die Reichs-SPD als auch die Radikalisierung der Reichs-KPD betrachteten den sächsischen Schulterschluss zunehmend mit Misstrauen und hatten gegen dessen erzwungenes Ende schließlich auch nichts mehr einzuwenden. Für den Chemnitzer DMV kam eine ähnliche Zeit der innerverbandlichen Ruhe nicht wieder. Die Radikalisierung der kommunistischen Gewerkschaftsarbeit während der chaotischen Inflationszeit und die abwiegelnde Haltung der örtlichen Verbandsleitung offenbarten die Grundsätzlichkeit des Interessengegensatzes aufs Neue.196 Im Zuge der langsamen Erholung vom Fall des Jahres 1924 standen sich sozialdemokratische und kommunistische Gewerkschafter immer unversöhnlicher gegenüber und zementierten auch in Chemnitz die innerorganisatorische Spaltung. Dagegen gehörte das Ruhrgebiet nicht nur auf Grund des Kampfes der Roten Ruhrarmee 197 zu den industriellen Regionen, in denen sich der politische Kon-
193 Ganz im Gegensatz zu Leipzig, wo der DMV nach Kriegsende komplett im Lager der USPD stand und sich Arbeitskämpfe stets wesentlich stärker politisierten. Die Anträge der beiden sächsischen Verwaltungsstellen unterschieden sich 1919 und 1921 daher in ihrer Stoßrichtung stark. Die vierzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 19, 304; Die fünfzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Jena 1921. Abgehalten vom 12. bis 18. September im Saale des Volkshauses, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen MetallarbeiterVerbandes, Stuttgart 1921, S. 21 f. 194 Vgl. Schaller, Radikalisierung aus Verzweiflung, S. 166 – 175. 195 Vgl. Keller, Landesgeschichte Sachsen, S. 268 – 271. Vgl. Karsten Rudolph, Die Sozialdemokratie in der Regierung. Das linksrepublikanische Projekt in Sachsen 1920 – 1922, in: Grebing, Helga/Mommsen, Hans/Rudolph, Karsten (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe, Essen 1993, S. 212 – 225. 196 Vgl. Lagebeschreibung der Direktion an Winklhofer vom 11. und 14. 8. 1923, WandererWerke AG, Siegmar-Schönau, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31030, Nr. 4629, Bl. 1 – 4. 197 Vgl. George Eliasberg, Der Ruhrkrieg 1920. Zum Problem von Organisation und Spontaneität in einem Massenaufstand und zur Dimension der Weimarer Krise, in: AfS 10 (1970), S. 291 – 377.
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flikt scharf artikulierte und auch im Verhältnis der DMV – Verwaltungsstellen zur Verbandsleitung niederschlug. So zeugten die Anträge der Verwaltungsstellen Essen, Bochum, Duisburg und Oberhausen auf der Generalversammlung 1921 von der Einsicht in einen erhöhten Handlungsbedarf des DMV , um der Arbeiterschaft entgegenzukommen. Man sprach sich für einen Beitritt zur Roten Gewerkschaftsinternationale aus, verurteilte Ausschlussbestrebungen gegen KPD -Gewerkschafter, missbilligte das Bündnis des Vorstandes mit CMV und H.-D., lehnte den Beitritt zum Eisenwirtschaftsbund ab und sprach sich gegen gemeinsame Listen zur Betriebsratswahl mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB ) aus. Außerdem bestanden die Sekretäre auf einer Enthaltung der Metallarbeiter-Zeitung in politischen Fragen.198 Anscheinend verspürte man im Ruhrgebiets-DMV einen politischen Druck der Arbeiterschaft, der sich bei einer Weiterführung des sozialdemokratisch-integrativen Kurses negativ auf die Bindekraft der Organisation auswirken musste. Die Direktion der FAH drückte dieses Umstand im Kontext eines kommunistischen Putschversuches 1921 folgenermaßen aus: Hinterher scheinen allerdings der Freien Gewerkschaft über ihre anfänglich klare und richtige Haltung zu der ganzen Angelegenheit Bedenken gekommen zu sein. Um den Anschluss nach links nicht zu verlieren und mit Rücksicht auf die Stimmung in weiten Mitgliederkreisen hat die freie Gewerkschaft scheinbar hinterher ihre Ansicht bezüglich mancher Entlassener revidiert und in einer nicht gerade aufrichtigen Weise versucht, für diese einzutreten.199
Die aus dem Vorstandskurs resultierende Unzufriedenheit kommunistischer Gewerkschafter verfestigte sich im Ruhrgebiet vor dem Hintergrund der politischen Brisanz in dieser Region zwischen 1919 und 1923 wesentlich schneller als in Sachsen. Auf die Gewerkschaftsarbeit in der Hüttenindustrie hatte sie jedoch nur geringen Einfluss. Denn als besonders politisiert galten deren Arbeiter nicht: Sie nahmen weder in erwähnenswertem Maße am Ruhrkampf teil noch spielten politische Erwägungen für ihren Gewerkschaftshorizont überhaupt eine große Rolle. Ihr Schwerpunkt lag vor dem Hintergrund der betriebsbezogenen Arbeitsgruppenstruktur in ebenfalls betriebsnaher Vertretung, die sich mit Lohn- und Arbeitszeitfragen sowie speziellen Problemen des Werks befassen sollte. Daher wurden die militanten Streiks der Eisen- und Stahlarbeiter auch nur geringfügig von politischen Belangen berührt.
198 Die fünfzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 24 – 49. 199 Der kommunistische Putsch auf der Friedrich-Alfred-Hütte vom 29. März bis 1. April 1921, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/691, Bl. 25.
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Im Kern waren sie (sieht man einmal vom Streik gegen den Kapp-Putsch ab)200 unpolitisch.201 Es muss deshalb auch davon ausgegangen werden, dass die politische Spaltung des DMV für diese Branche und Region in Bezug auf die Gewerkschaftsentwicklung weniger Bedeutung besaß als für den Chemnitzer Maschinenbau. Für die Hüttenarbeiter spielten eher betriebliche Belange rund um die Arbeiterausschüsse und Betriebsräte eine Rolle, während die im Krieg politisierten und auch von politisch-aktiven Vertrauensmännern geführten Maschinenbauarbeiter hier „sensibler“ waren. Dies soll freilich nicht bedeuten, dass betriebliche Probleme in Chemnitz keine Rolle spielten. Die unterschiedliche Mischung der Faktoren in beiden Fällen gibt jedoch einen Hinweis auf eine verschobene Organisationsentwicklung und deren Verhältnis zum Politischen: Traten die Hüttenarbeiter schon seit 1920 wieder aus dem DMV aus und straften damit wohl eher die Ausrichtung des Betriebsrätegesetzes ab, sanken die Mitgliederzahlen im Maschinenbau erst 1923 merklich, als die politische Koalition in Sachsen und Chemnitz im Desaster endete und sich der wirtschaftliche Einbruch abzeichnete. 5.3.2 Betriebsrätesystem und Industrieverbandsprinzip Das Betriebsrätegesetz zwischen realem Kapitalismus und sozialistischer Utopie
In kaum einem anderen Streitpunkt offenbarten sich die unterschiedlichen politischen Konzeptionen der (seit dem Herbst 1919 ehemaligen) „linken“ und „rechten“ Verbandsopposition so deutlich wie in der Frage nach der Ausrichtung und Verantwortlichkeit der Betriebsräte. Dies betraf allerdings weniger das Zustandekommen des Betriebsrätegesetzes (BRG), das bereits bei seiner Verabschiedung am 4. Februar 1920 als Kompromiss zu bewerten war, sondern eher die grundsätzliche Differenz darüber, wie sich das Verhältnis der Betriebsräte zu den Gewerkschaften gestalten sollte. Vor allem die radikale Minderheit der Mitglieder rund um Richard Müller und die Berliner Vertrauensleute forderte eine eigenständige Zusammenfassung der Betriebsräte, womit man hoffte, die Grundlage einer umfassenden Räteorganisation des Wirtschaftslebens, einer Ablösung der alten Gewerkschaftsorganisation und letztlich der revolutionären Umgestaltung legen zu können. Eine solche selbstständige Betriebsräteorganisation bekämpfte der neue Vorstand um Robert Dißmann auf das Entschiedenste, konnte er doch keinerlei Interesse daran 200 Am Streik anlässlich der Ermordung Rathenaus nahmen die Arbeiter der GHH dagegen nur in geringem Umfang teil, vgl. Proteststreik anlässlich der Ermordung Rathenaus, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA, 30 – 300143/14, Bl. 47, 50, 81 – 84, 92. 201 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 645.
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haben, auf Unternehmensebene und damit nah an der betrieblichen Basis eine potentielle Gegenbewegung zur Vorstandspolitik aufkommen zu lassen.202 Sowohl im erweiterten Beirat des DMV als auch auf dem ersten Kongress der Betriebsräte Deutschlands im Oktober 1920 trat der DMV – Vorsitzende daher vehement für einen konsequenten Anschluss der Betriebsräte an die Gewerkschaftsorganisationen ein.203 Aus seiner Sicht war die neue Institution eine Vertretung der Gewerkschaften, handelte unter deren Dach und nach deren Maßstäben und sollte sich lokal, auf Bezirksebene und zentral an deren Strukturen angliedern – ein Ziel, das weitestgehend verwirklicht werden konnte: Mit der Annahme der Dißmann’schen Resolution auf dem Betriebsrätekongress und dem Austritt Müllers aus der Redaktion der Metallarbeiter-Zeitung wurden die Weichen für eine gewerkschaftliche Zusammenfassung der Betriebsräte gestellt.204 Entgegen den Beschlüssen des Verbandstages von 1919 ging Dißmann dabei in enger Kooperation mit dem ADGB vor, stellte gemeinsame Listen für die Betriebsrätewahlen auf und folgte auf lange Sicht eher der Linie des 10. Gewerkschaftskongresses als jener der eigenen Organisation (ein weiteres Indiz für seine widersprüchliche Pufferfunktion zwischen radikalisierter Mitgliedschaft und ADGB-Vorstandspolitik). Der Widerstand gegen die Vorstandspolitik erlosch in dieser Frage dementsprechend nicht: Auch nach der langsamen Auflösung der selbstständigen Betriebsrätezellen 1920/21 blieb die Thematik hochumstritten und veranlasste immer wieder Beobachter, für ein Überdenken des Verhältnisses zwischen Betriebsräten und DMV zu plädieren. Die Akzeptanz gegenüber der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die mit der Anerkennung des BRG und der Zusammenfassung der Betriebsräte in der Gewerkschaft einherging, wurde theoretisch und praktisch scharf kritisiert. Selbst nach der realen Niederlage revolutionärer Betriebsrätepolitik im DMV hielten sich einflussreiche Stimmen, die an der wirtschaftlichen Integration des Verbandes zweifelten. Im Mittelpunkt stand dabei in der Regel die Lage, die man den gewerkschaftlichen Betriebsräten zumute: Unter die Friedenspflicht gestellt, mit den Sorgen um die Wirtschaftlichkeit der Betriebe belastet und somit von den Interessen der Arbeiterschaft entfremdet, wurde das Bild des Betriebsrates als eines kapitalistischen Handlangers erzeugt. Unter dem bestehenden BRG seien die Betriebsräte daher auch keinesfalls imstande, sich zu einer wirkungsvollen gewerkschaftlichen Stütze zu entwickeln – eine Kritik, die sogar schon vor der Verabschiedung des BRG laut geworden war: 202 Vgl. Werner Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zum Ruhrbergbau und zur Chemischen Industrie, München 1999, S. 44 f., 50 f. 203 Vgl. Fritz Opel, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband während des Ersten Weltkrieges, S. 112 f. 204 Vgl. ebd.
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Was wird ein solches Gesetz für Wirkungen auslösen? Dem Betriebsrat wird die Vertretung der Interessen des Unternehmers zugemutet. Er wird dazu verpflichtet, aber die Arbeiterschaft wird von dem Betriebsrat die Wahrung ihrer Interessen fordern. Das bringt den Betriebsrat in eine unmögliche Lage. Er kann weder die Unternehmer-, noch die Arbeiterinteressen wahrnehmen. Das erstere wird er sowieso ablehnen, am letzteren wird er durch die im Gesetz befindlichen Fußangeln gehindert. Was ist die Folge? Einmal ständige Konflikte zwischen Unternehmer und Betriebsrat, dann zwischen Betriebsrat und Arbeiterschaft, schließlich ständiger Kampf zwischen Unternehmer und Arbeiterschaft. Diese Konflikte werden sich steigern und statt des erhofften wirtschaftlichen Friedens werden erbitterte Kämpfe kommen, die das Wirtschaftsleben noch mehr als bisher erschüttern.205
Anstatt eine durchschlagende Interessenvertretung zu ermöglichen, besetzten die Betriebsräte aus diesem Blickwinkel eher die Position eines „Schiedsrichters“, der seiner rechtlichen Grundlage nach nur konfliktentschärfendes Element des Arbeitslebens sein könne. Er solle „Erschütterungen vom Betrieb fernhalten“ und als Vermittler wirken, besitze aber genau deshalb eine defizitäre Verbindung zum Zweck der Gewerkschaftsarbeit: Denn obgleich viele Betriebsräte gewerkschaftlich organisiert seien und ihre Tätigkeit mit den Verbänden absprächen, handele es sich zu keiner Zeit um ein echtes gewerkschaftliches Instrument. Loyalität setzte hier immer ein beiderseitiges Vorgehen im rechtlichen Rahmen voraus, wenn die Position des Betriebsrates nicht gefährdet werden sollte.206 Die auf mehrdimensionale Weise verantwortliche Arbeit der Betriebsräte wurde von Beginn an dadurch erschwert, dass die Arbeitgeber alle über die Betriebsgrenzen hinausgehenden Kompetenzen und Ansätze des BRG scharf ablehnten. Im Rahmen der rechtlichen Befugnisse der Betriebsräte – Bekämpfung der Unfallund Gesundheitsgefahren, Mitbestimmung bei Pensionskassen, Schaffung von Werkswohnungen, Wohlfahrtseinrichtungen, Akkordfestsetzung, Regelung von Arbeitszeit, Urlaub, Entlohnungsformen und Lehrlingsausbildung, Abschluss von Arbeitsordnungen und Betriebsvereinbarungen sowie Nachprüfung und Einspruch bei Kündigungen 207 – versuchte man sie in einen andauernden Kleinkrieg um betriebliche „Nichtigkeiten“ hineinzuziehen, Verfahren zu verschleppen, den Weg über die Instanzen zu bemühen und somit eine überbetriebliche Beschäftigung und Koordination zu verhindern. Der Betriebsrat der GHH, der sein Recht zur 205 Nicht Betriebsmamelucken, sondern revolutionäre Betriebsräte!, in: MAZ 38 (1920) 3, S. 9. 206 Vgl. Richard Seidel, Betriebsräte als Schiedsrichter, in: Betriebsräte-Zeitschrift 2 (1921) 23, S. 744 – 747. 207 Vgl. Werner Milert/Rudolf Tschirbs, Von den Arbeiterausschüssen zum Betriebsverfassungsgesetz. Geschichte der betrieblichen Interessenvertretung in Deutschland, Köln 1991, S. 49.
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„Mitwirkung“ eher als „Mitberatungs-“ denn als „Mitbestimmungsrecht“ behandelt sah, musste beispielsweise jede kleinste Kompetenz in der Werkswohnungsfrage vor dem Schlichtungsausschuss durchfechten.208 Die hinhaltende Taktik vieler Arbeitgeber stieß daher besonders in der Frühphase des Gesetzes auf die Empörung der Gewerkschafter: Durch fein ausgeklügelte, systematische Sabotage versucht sie, die Energie der Betriebsräte auszutreiben, mit kleinlichen Tagesdifferenzen die Zeit auszufüllen, damit der klare Blick für den Produktionsprozeß getrübt wird. Um dieses raffinierte Gebaren wirksam bekämpfen zu können, müssen alle Abmachungen, am Verhandlungstisch wie im Betrieb, schriftlich abgefaßt und durch gegenseitige Unterschrift beglaubigt werden. Nachträgliches Abstreiten mündlicher Vereinbarungen, wohlwollendes Prüfen, von einer Instanz zur anderen schicken, selbst das Ablegen des Hörers beim Telephonieren lassen sich dadurch vermeiden. Sollten Unterinstanzen Unkenntnis vorschützen, so muß der Betriebsleiter für nicht genügende Aufklärung verantwortlich gemacht werden.209
Der Widerstand, den das erstarkende Unternehmerlager vor allem durch die Arbeitgeberverbände entfaltete,210 torpedierte eine inhaltliche Erweiterung des BRG bis 1924 sehr erfolgreich und führte selbst in den Fällen rechtlicher Zusatzkompetenzen zu einer starken Verwässerung der Wirkungskraft. So wurde das Gesetz über die Entsendung von Betriebsratmitgliedern in den Aufsichtsrat zwar als großer Erfolg und Einbruch in jahrhundertealte Unternehmerrechte gefeiert, entpuppte sich für den DMV aber schnell als nutzlos: Weder gelang es, in die Bereiche der prinzipiellen 208 Vgl. Arbeitsgemeinschaftssitzung vom 24. 11. 1921, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA, 130 – 300141/8, Bl. 90; vgl. auch Alfred Schatz, „Mitwirkung“ des Betriebsrats nach § 66 Ziff. 9 des Betriebsrätegesetzes, in: Betriebsräte-Zeitschrift 2 (1921) 24, S. 783 f. 209 Otto Otten, Das Betriebsrätegesetz in der Praxis. Ein Ueberblick nach einjähriger Tätigkeit, in: Betriebsräte-Zeitschrift 2 (1921) 9, S. 284. 210 Am 20. 4. 1920 schrieb die VDA an ihre Mitglieder: „Unsere Mitglieder bitten wir deshalb erneut, uns über etwaige Missbräuche, die sich in der Amtstätigkeit der Betriebsräte zeigen sollten, auf dem Laufenden zu halten und uns darüber fortlaufend zu berichten, damit wir dieses Material sammeln und sichten und auf diese Weise die Möglichkeit haben, an zuständiger Stelle wegen Abstellung der Misstände und nötigenfalls wegen Abänderung des Betriebsrätegesetzes vorstellig zu werden.“ Besonders interessiert war man an: 1. nachteilige Einwirkung auf Betriebsleistung, 2. unproduktiver Aufwand von Zeit und Kraft, 3. Verteuerung des Betriebes, besondere Geldausgaben, 4. Übergriffe, und zwar, a.) gegenüber der Betriebsleitung und b.) gegenüber den Arbeitnehmern. Gleichzeitig ließ man nie Zweifel an einer der Grundkomponenten des BRG: „Der Betriebsrat ist nicht berechtigt, sich irgendwie um die Organisationszugehörigkeit der Arbeitnehmer zu kümmern.“, in: RWWA, 130 – 400143/19, Bl. 75, 76, 53.
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Betriebsführung einzudringen, noch konnte man Konzernbetriebsräte etablieren, die der Konzentration der Eisen- und Stahlindustrie Rechnung getragen hätten.211 Zudem fehlte es an dem nötigen Entgegenkommen der Arbeitgeber: Aufsichtsratsvertretungen erhielten keine Erlaubnis zur Betriebsbesichtigung,212 fanden ihre Briefe geöffnet vor oder mussten jeden Briefbogen einzeln beantragen.213 Auch stellte sich heraus, dass sich die Aufsichtsratssitzungen bald nur noch auf eine kurze Bilanz beschränkten.214 Die Blockade der Unternehmer, deren Einfluss auf die Gesetzgebung und die ohnehin ambivalente Stellung der Betriebsräte in der Arbeitswelt verhinderten in diesem Falle eine reale Ausweitung der gewerkschaftlich intendierten Betriebsratskompetenzen. Betriebsräte und Rationalisierung
Eine Kernfrage der 1920er Jahre, in der sich das Dilemma der Betriebsräte offenbarte, bezog sich auf deren Verhältnis zur Rationalisierung der Betriebe. Die Bredouille ergab sich dabei aus den im Grunde genommen gegensätzlichen Verpflichtungen: Wollten sich gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte im Kontext betrieblicher Verwissenschaftlichung und Beschleunigung kaum zum Instrument der Arbeitgeber machen lassen, durften sie dennoch nicht ihre intermediäre Stellung verlassen. Jeder Schritt in eine Richtung entfremdete sie entweder ihrer Wählerschaft oder machte sie gegenüber dem Arbeitgeber angreifbar.215 Die richtige Methodik im Umgang mit produktivitätssteigernden Maßnahmen stellte sie vor eine Zwickmühle, die den
211 Der DMV im Jahre 1922, S. 31; vgl. Tony Sender, Trustbildung und gewerkschaftliche Kampfmethoden, in: Betriebsräte-Zeitschrift 2 (1921) 25, S. 820 – 823. 212 Vgl. Mitteilung der Aufsichtsratsvertretung des Betriebsrats der GHH vom 20. 9. 1922, in: RWWA, 130 – 400144/3. 213 Vgl. Beschwerde des Betriebsrats der GHH, vermutlich 1925, in: RWWA, 130 – 400144/0. 214 Vgl. Tony Sender, Versuche zur Verbesserung des Betriebsrätegesetzes, in: BetriebsräteZeitschrift 4 (1923) 9, S. 263 – 266. 215 Im März 1922 beantragte die Direktion der Maschinenbau-AG Golzern-Grimma Überstunden beim Betriebsrat, der diesen zustimmte. Das Gewerbeamt Wurzen teilte der Direktion aber später mit, dass die Gewerkschaften dies ablehnten, der Betriebsrat seine Meinung geändert habe und die Überstunden nicht genehmigt werden könnten. Die Direktion folgerte daraus: „Wir stellen hiermit fest, daß der Betriebsrat sich bei der Beurteilung dieser Überstundenfrage also nicht von sachlichen Gesichtspunkten leiten läßt, sondern von Fragen, die mit der Notwendigkeit der Arbeit überhaupt nicht in Zusammenhang stehen. Wir betrachten diese Entscheidung als einen groben Verstoß des Betriebsrates gegen die Interessen des Werkes und den Geist des Gesetzes.“ Mitteilung an den Betriebsrat der Maschinenbau-Aktiengesellschaft Golzern-Grimma vom 6. 3. 1922, Maschinenbau-AG Golzern-Grimma, in: Sächsisches StA Leipzig, 20775, Nr. 220, Bl. 28.
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inneren Widerspruch sozialistischer Gewerkschaftsarbeit in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzeigte. Neben der pädagogischen Vorbereitung auf ihre Aufgaben gehörte die Abmilderung des offensichtlichen Gegensatzes denn auch zu den Hauptanliegen der frühen 1920er Jahre: Diese Betriebssysteme bewirken mithin im Rahmen einer sozialistischen Betriebsführung das Gegenteil von dem, was sie unter dem Kapitalismus anrichten. Und gerade darum ist die Propaganda, die gegenwärtig mit ihnen getrieben wird, gefährlich. Fällt die Arbeiterschaft auf die Lüge herein, daß sie – nur sie, und nicht etwa das Unternehmertum – um die Steigerung der Arbeitsleistung besorgt sein und sich daher alle diese Dinge gefallen lassen müsse, so gibt sie sich damit lediglich verschärfter Ausbeutung zum Heile der Profite preis. Die gegenwärtige Wirtschaftsordnung ist noch immer uneingeschränkt kapitalistisch und danach müssen wir unsere Haltung zu all diesen Fragen einrichten. Darum ist es notwendig, daß sich die Betriebsräte mit diesen Problemen ernsthaft beschäftigen, damit sie bei jedem Versuch zur Einführung der gekennzeichneten Methoden diese auf ihre Nachteiligkeit für die Arbeiter prüfen und ihre Schädlichkeit abwenden können. Ist die Anwendung der neuen Technik nicht zu verhindern, so hat der Betriebsrat ihre Wirkung auf die Produktivität zu beobachten, um entweder Äquivalente für die Arbeiterschaft zu fordern oder mindestens den Extraprofit festzustellen, den der Unternehmer eingestrichen hat und damit den Widersinn des Kapitalismus immer wieder nachzuweisen. Die Betriebsräte müssen die Methoden wissenschaftlicher Betriebsführung aber auch studieren, um sie auf ihre Anwendbarkeit in der sozialistischen Wirtschaft zu prüfen und ihre eventuelle Anwendung somit wenigstens geistig vorzubereiten.216
Trotz der ernsthaften Bemühung, DMV -Betriebsräten einen Ausweg aufzuzeigen, wird hier deutlich, dass die Mitarbeit an Rationalisierungsmaßnahmen jeden Betriebsrat vor eine Gewissensentscheidung stellte. Tony Sender, die ausgesprochen aktive Redakteurin der Betriebsräte-Zeitschrift,217 sprach in diesem Kontext 1921 von „schweren inneren Konflikten“, die nur in Einzelfällen überhaupt gelöst
216 Richard Seidel, Steigerung der Produktivität durch wissenschaftliche Betriebsführung und Berufsberatung, in: Betriebsräte-Zeitschrift 1 (1920) 7, S. 213 f. 217 Tony Sender (1888 – 1964) trat während ihrer Ausbildung zur kaufmännischen Angestellten der SPD und der Büroangestelltengewerkschaft bei, lebte einige Zeit in Frankreich, wo sie mit den französischen Sozialisten Bekanntschaft machte, und kehrte mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Frankfurt zurück. Ihr Engagement innerhalb der Arbeiterrätebewegung während des Krieges mündete in ein Reichstagsmandat für die USPD ab 1920, ab 1922 für die SPD. Zwischen 1924 und 1933 war sie Reichstagsabgeordnete für den Kreis Dresden-Bautzen – ein Umzug aus Hessen, der in ihrer Position auf dem linken Flügel
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werden könnten. Zumeist sei die Betriebsratsarbeit zwischen Produktivität und Arbeiterwohl jedoch ein glatter Widerspruch, der sich erst in einem sozialistischen Wirtschaftssystem ausgleiche. Bis dahin empfahl sie den Betriebsräten eine strenge Prüfung im Einzelfall, den Kampf gegen das Betriebsgeheimnis, die Einführung von Typisierung und Normalisierung, die Schließung unproduktiver Werke, die Vermeidung von „Fehlrationalisierungen“ und den Kampf gegen die negativen Auswirkungen des Akkordsystems.218 In ähnlicher Weise argumentierte auch Richard Seidel:219 Er war zwar grundsätzlich der Meinung, dass der Betriebsrat wohl kaum in der Lage sei, Kündigungen, die im Zusammenhang mit der Einführung neuer Arbeitsmethoden ausgesprochen würden, zu verhindern, schlug aber wenigstens Palliativmittel vor.220 Ihre realistische Einsicht, dass jeder Aktionismus der Betriebsräte zunächst auch einen Beitrag zur Vergrößerung des Profits der Unternehmer leisten konnte, muss indes als Andeutung eines argumentativen Kurses betrachtet werden, der sich in den frühen 1920er Jahren ausbreitete und während der „Rationalisierungsphase“ zu den Kernpunkten gewerkschaftlicher Rationalisierungstheorie gehörte. Darin verband man die Rationalisierungsfrage mit entscheidenden Elementen des pragmatischen Sozialismus der Tagesfragen und umging das Dilemma, das sich auf andere Weise schon vor 1914 um die Integration der Arbeiterbewegung entsponnen hatte: Betriebliche und volkswirtschaftliche Rationalisierung hielt man zusehends für unumgänglich und rechtfertigte die Tatsache, dass diese in einem der SPD begründet war, für die Sachsen bessere Umsetzungschancen bot. Als Redakteurin der Betriebsräte-Zeitschrift verfasste sie mehr als vierhundert Artikel und hatte zudem seit 1928 die Redaktion der SPD-Illustrierten Frauenwelt inne. Vgl. Annette Hild-Berg, Tony Sender (1888 – 1964). Ein Leben im Namen der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, Köln 1994. 218 Vgl. Tony Sender, Betriebsräte und Einführung neuer Arbeitsmethoden, in: BetriebsräteZeitschrift 2 (1921) 18, S. 564 – 570. 219 Richard Seidel (1882 – 1951) trat nach einer Lehre als Schriftsetzer in den Bildungsausschuss der Berliner SPD ein. Er wechselte nach der Parteispaltung in die USPD, wo er in der Redaktion der Freiheit arbeitete. Nach einer Tätigkeit im Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit übernahm er 1926 die Redaktion der Gewerkschaftszeitung. Nach 1945 lehrte er unter anderem an der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main. Vgl. Osterroth, Verstorbene Persönlichkeiten, S. 285 f. 220 Seidel schlug vor, dass Arbeiten an neuen Maschinen von Arbeitern übernommen werden sollten, die an anderen Maschinen „überflüssig“ geworden waren. Auch könne man das Einspruchsrecht der Betriebsräte bei Einstellungen mit einem Einspruchsrecht bei Kündigungen verbinden. Schließlich machte er auch den Vorschlag, für neue Maschinen auch neue Arbeitsbedingungen durchzusetzen, die eine „Schädigung […] verhüten“. Vgl. Richard Seidel, Die Einstellung von Arbeitern, in: Betriebsräte-Zeitschrift 2 (1921) 25, S. 844 – 847.
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kapitalistischen System stattfanden, mit einer in unbestimmte Zukunft verschobenen sozialistischen Endzeitvorstellung von deren Vorteilen. Aus der Einsicht in die Widerstandsfähigkeit der bestehenden Wirtschaftsordnung heraus tat man alles, praktische kapitalistische Rationalisierungszwänge zu unterstützen (war dabei freilich stets um die Reduzierung der Folgekosten für die Arbeiterschaft bemüht), die Integration der Betriebsräte zu forcieren und verteidigte diesen Kurs mit einem kommenden Nutzen.221 Auf diese Weise wurde der Kampf gegensätzlicher Interessen immer stärker zu Gunsten einer Auseinandersetzung um die Deutungshoheit der Rationalisierung ausgeklammert. Bereits in der ersten Ausgabe der BetriebsräteZeitschrift propagierten einige Beobachter diesen Ansatz: So folgerte Seyler aus seiner Unterstützung der Normalisierungsbestrebungen einerseits: „Das Streben nach Verbesserung der Produktionsweise soll natürlich nicht mit der Stärkung des Kapitalismus begründet und verbunden werden“. Andererseits relativierte er im nächsten Moment: Wir haben daher die Verpflichtung, auf die Verbesserung der Arbeitsmethoden in solchen Betrieben hinzuwirken, um den Unternehmern ihre Argumente gegen die Erhöhung der Löhne zu entwinden. Daß hierbei auch der Unternehmer selbst Vorteile hat, darf uns nicht hindern an unserer Arbeit.222
All diese Überlegungen waren Teil einer langsamen wirtschaftlichen Integration des DMV, deren Ziel nicht mehr die Verteidigung der Arbeiter gegen das System, sondern zunehmend die Umgestaltung des Systems für die Arbeiter umfasste. Mit Hilfe der doppelten Verantwortung der Betriebsräte hoffte man, diesen Wandel auf betrieblicher Ebene aktiv gestalten zu können. Den prominentesten Ausdruck fand der veränderte Ort der Gewerkschaftspolitik dabei in der Haltung gegenüber dem Taylorsystem: In seinen Anfängen vor dem Ersten Weltkrieg als verstärkte Ausbeutung verhasst, trat es nun seinen Siegeszug unter vielen DMV-Gewerkschaftern an, die ein optimistischeres Bild von seiner Formbarkeit gewonnen hatten. Besonders Fritz Kummer, lange Jahre für die Redaktion der Metallarbeiter-Zeitung zuständig, glaubte fest an einen Nutzen des Taylorsystems in einem gewerkschaftlich kontrollierten Rahmen: Von seinen Spitzen gegen die Arbeiterschaft befreit, wird es seinen Einzug in die europäische Industrie vollziehen. So entlastet, bekommt es für uns Gewerkschafter ein anderes, 221 Vgl. Norbert Einstein, Zur wirtschaftlichen Schulung der Arbeiterschaft, in: Betriebsräte-Zeitschrift 2 (1921) 18, S. 561 – 564; vgl. Hermann Polack, Falsch gerichtete Tätigkeit von Betriebsräten, in: Betriebsräte-Zeitschrift 1 (1920) 11, S. 348 ff. 222 L. Seyler, Normalisierung im Kleinbetrieb, in: Betriebsräte-Zeitschrift 1 (1920) 14, S. 437.
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freundlicheres, einladenderes Gesicht. […] Das Taylorsystem ist oder war nur solange ein Antreibersystem, als die Arbeiter unübersteigbare Schwierigkeiten vorfanden, seine gegen sie gerichteten Spitzen zu beseitigen, nur solange, als sie nicht den nötigen Einfluß auf die innere Organisation der Betriebe und auf die Gestaltung der Arbeitsweise hatten.223
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Zuversicht des Vorstandes gegenüber den Betriebsräten einige Plausibilität. Als aktive und rechtlich-gesicherte Gestaltungsmacht schienen sie in Bezug auf die kommenden Aufgaben der Gewerkschaft hervorragend geeignet, evolutionäre Schritte auf dem Weg zur Zukunftsvorstellung zu unternehmen. Denn bisher waren die Gewerkschaften in der Hauptsache Körperschaften für den Lohnkampf und die Agitation; fürderhin werden sie in der Hauptsache Körperschaften für die Organisation, Betreibung und Steigerung der Warenerzeugung sein.224
Mit Blick auf das Verhältnis zur Rationalisierung schien der Kurs daher klar zu sein. Sie galt als Vorstufe zum Sozialismus: In Zukunft wird die Arbeiterschaft (im weiten Sinne) die Trägerin der Gesellschaft, werden die Gewerkschaften die Träger der Produktion sein. Ihrer geschichtlichen Aufgabe werden sie um so leichter gerecht werden können, je eher ihnen die Einführung rationellerer Arbeitsmethoden gelingt.225
Auf dem Weg dorthin eröffneten die Verankerung in der kapitalistischen Wirklichkeit und die parallele Zusammenfassung der Betriebsräte durch die Gewerkschaft dem DMV eine legale Position in den Betrieben der Metallindustrie, sie banden das Vorgehen aber auch das Wirtschaftssystem. Vor allem hinsichtlich des Verhältnisses zur betrieblichen Ebene war diese Entwicklung jedoch nicht unproblematisch: Vielen Belegschaften dürfte es (vor allem im Vergleich zur Vorkriegszeit) kaum erklärbar gewesen sein, dass der Verband nun zu den Befürwortern der Rationalisierung gehörte. Das Eintreten für die Abmilderung der Belastungen für die Arbeiter spielte dabei kaum eine Rolle, war dessen Erfolg doch an Aushandlungsergebnisse gebunden, die allzu oft den Vorstellungen der Beamten entgegenliefen. Trotz der sehr viel differenzierteren Position, die man
223 Fritz Kummer, Zum Streit um das Taylorsystem III. Vorurteilslos studieren, läutern, verwerten, in: MAZ 37 (1919) 36, S. 139. 224 Ebd. 225 Ebd.
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in der Rationalisierungsdebatte einzunehmen versuchte, stieg daher die Gefahr für den DMV an, mit den realen Belastungs- und Geschwindigkeitssteigerungen identifiziert zu werden. Dass die Betriebsräte als neues Vorzeigeprojekt des Verbandes noch dazu zum Arbeitsfrieden verpflichtet waren, und indem bald klar wurde, dass sie kaum zur wirkungsvollen Lenkung betrieblicher Prozesse taugten, musste sie als Kontaktinstrument mit der Arbeiterschaft noch weiter desavouieren. Mit einem realen betrieblichen Machtgewinn für den DMV war die Installation des Betriebsrätesystems trotz der Vormachtstellung des Verbandes 226 daher kaum verbunden. Betriebsräte und Werkstattvertrauensmänner
Ein großer Teil der Defizite, die sich im Zuge der Dominanz des Überbetrieblichen rund um die Betriebsräte zeigten, hing mit ihrem innerverbandlichen Verhältnis zu den Werkstattvertrauensmännern zusammen. Denn das betriebliche System, das dem Verband seine Anschlussfähigkeit in der Vorkriegszeit garantiert hatte, bestand zwar weiter und wurde besonders im DMV quantitativ weiter ausgebaut, trat jedoch gegenüber den Betriebsräten seit 1920 stark in den Hintergrund. Äußerungen über die Aufgaben der Werkstattvertrauensmänner und ihre Bedeutung für die Organisation fanden sich jetzt kaum noch in den Periodika – Überlegungen bezüglich der betrieblichen Arbeit bezogen sich fast nur noch auf die Betriebsräte. Die Gründe des Vorstands und der Ortsverwaltungen für diese Degradierung waren sicherlich vielfältig und in vielerlei Hinsicht auch der Lage der frühen 1920er Jahre geschuldet: Einerseits herrschten noch breiter Optimismus gegenüber einer erstmals legalen betrieblichen Mitbestimmung und die Hoffnung auf eine gewerkschaftliche Instrumentalisierung. Man glaubte, eine neue Stufe betrieblicher Gewerkschaftsarbeit erreicht zu haben und die weitergehende Ausgestaltung des BRG in Richtung einer echten wirtschaftlichen Mitbestimmung vorantreiben zu können. Andererseits mochten dazu aber auch die Erfahrungen beigetragen haben, die der alte Vorstand während des Krieges mit den Werkstattvertrauensmännern und deren innerorganisatorischem Eigen-Sinn gesammelt hatte. Das Vertrauen der Gewerkschaftsleitung war jedenfalls nicht gestiegen: Wenn die Sprache überhaupt auf die Vertrauensmänner kam, dann im Sinne eigenmächtiger und statutenwidri 226 Vor allem in der Metallindustrie des DMV-Bezirks Dresden war das Betriebsrätesystem fest in der Hand des DMV . Von 3892 Betriebsräten waren 3335 im DMV und 260 in anderen Gewerkschaften organisiert, 200 unorganisiert und 68 Unionisten. Im Bezirk Essen gehörten von 1456 Betriebsräten 943 dem DMV, 122 anderen freien Verbänden, 224 dem CMV, 68 den H.-D. und 47 den Unionisten an, 52 waren unorganisiert. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924, S. 95.
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ger Entscheidungen.227 Obgleich Vertrauensmänner und Betriebsräte in manchen Bereichen die gleichen Aufgaben wahrnahmen,228 schien der legale Rahmen des BRG daher wertvoller zu sein als die unsichere, nur statuarisch festgelegte Arbeit der Obmänner – ein Trugschluss, wie Bewegungen zeigten, die von Betriebsräten entgegen der statuarischen Grundsätze initiiert wurden.229 Dass man sich dadurch an einer Stelle beschnitt, die über Kompetenzen verfügte, welche weder der Vorstand noch die Betriebsräte besaßen, interessierte zunächst wenig. Die gewerkschaftliche Mitbestimmung, immer stärker im Sinne eines gesamtwirtschaftlichen denn eines betrieblichen Ansatzes gedacht, schien die Institutionen der untersten Ebene vernachlässigen zu können, solange die Aussicht auf legale Mitsprache und überbetriebliche Regelungen bestand. Im „Dualismus zwischen Betriebsdemokratie und Wirtschaftsdemokratie“ 230 setzte sich Letztere in den Köpfen der Gewerkschaftsbeamten durch. Mit entscheidenden Folgen für das Organisation-Basis-Verhältnis, in dem sich eine neue Betriebsferne ankündigte: Durch den eindeutigen Vorrang der Betriebsräte gegenüber den Werkstattvertrauensmännern nahm sich der Vorstand die Chancen einer gesetzlich nicht eingeschränkten betrieblichen Gewerkschaftsarbeit und verordnete sich die Grenzen des BRG quasi selbst.231 Denn zu ähnlichen Agitations-, Verwaltungs- und Kanalisierungsleistungen waren die Betriebsräte auf Grund ihres rechtlichen Charakters nicht in der Lage. Die Einschätzung eines Gewerbeaufsichtsbeamten, viele Betriebsräte hätten „wenig Neigung, sich mit Kleinarbeit zu beschäftigen“,232 sprach hier Bände. Der langjährige Ansatz, Organisationshandeln an die Ebene täglicher Arbeit rückzukoppeln und erfahrbar zu machen, geriet zusehends in Gefahr. Die Folge 227 Einen solchen Fall schilderte der Chemnitzer Sekretär Strobel auf dem Verbandstag 1919. Die vierzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1919, S. 376. 228 Generell konnten die Aufgaben oft nicht voneinander getrennt werden. In Betrieben mit weniger als zwanzig Beschäftigten regelte der Vertrauensmann die Aufgaben des Betriebsrates. In manchen Werken wurden beide Ämter sogar in Personalunion wahrgenommen. Vgl. Koopmann, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 297. 229 Alfred Schatz fasste die „Verfehlungen“ des ersten Jahres 1921 in der BRZ zusammen. Neben spontanen Lohnbewegungen und Streiks würden sich einige Betriebsräte sogar als „Kaufmann und Budiker“ betätigen. Seine Aufforderung an diese Räte zeugte von einer ungewollten Zweideutigkeit, in der sich auf Grund der Zähmungspolitik des Verbandes sicherlich viele Mitglieder wiederfanden: Denn „Gehandelt wird nicht!“. Vgl. Alfred Schatz, Die Tätigkeit der Betriebsräte, in: Betriebsräte-Zeitschrift 2 (1921) 17, S. 557 f. 230 So formulierte es Heinz Potthoff. Zitiert nach Milert/Tschirbs, Von den Arbeiterausschüssen zum Betriebsverfassungsgesetz, S. 52. 231 Vgl. Koopmann, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 301. 232 Polack, Falsch gerichtete Tätigkeit von Betriebsräten, S. 348.
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waren wachsende Vermittlungsprobleme: Für die Arbeiter eines Werkes musste der arbeitende Kollege, der als Werkstattvertrauensmann den Kontakt zur Ortsverwaltung herstellte, nämlich etwas gänzlich anderes darstellen als der aus den Arbeitsbeziehungen ausgeschiedene Betriebsrat, der noch dazu zur Vermittlung zwischen Arbeitern und Arbeitgeber verpflichtet war. Das forsche Selbstbewusstsein, mit dem einige Betriebsräte anscheinend ihre Arbeit versahen, zementierte diese wahrgenommene Grenze weiter und führte zu einem Anstieg der Fälle, in denen Arbeiter und Betriebsräte persönliche Differenzen offen austrugen.233 Hinzu kam, dass sich altgediente Vertrauensmänner wohl teilweise nur schwer mit der herausgehobenen Stellung der Betriebsräte anfreunden konnten und ein Gefühl der Degradierung empfanden.234 Die Risse, die das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsleitungen und Belegschaften während des Krieges und der anhaltenden politischen Spaltung erfahren hatte, konnten (zumindest in diesen Fällen) schwerlich gekittet werden. Betriebsräte, Syndikalismus, Arbeiterschaft und der DMV – Unterschiedliche Ausprägungen eines Verhältnisses
Die, über die Betriebsräte und Vertrauensleute vermittelte Beziehung der DMVOrtsverwaltung zu den Arbeitern gestaltete sich im Chemnitzer Maschinenbau und in der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets bis 1924 auf verschiedene Art und Weise. Für den Chemnitzer Maschinenbau muss man davon ausgehen, dass sich das Betriebsrätesystem trotz der skizzierten Widersprüche und Vermittlungsprobleme reibungsloser installieren ließ als im Ruhrgebiet. Denn ein großer Teil der Maschinenbaubelegschaften, die fast alle organisiert waren, hatte schon einmal Erfahrungen mit einem gewerkschaftlichen Organisationsmuster gesammelt, in 233 Ein Chemnitzer Fall schaffte es sogar bis in die Generalversammlung. Die fünfzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1921, S. 385. In einem anderen Fall in Leipzig wollte der Betriebsrat die Beitragsmarken eines Arbeiters kontrollieren, der diesen mit der Begründung abwies, dass er dafür gar nicht zuständig war, worauf es zu einem lautstarken Konflikt kam. Vgl. Mitteilung der Betriebsleitung vom 25. 3. 1924, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 649, Teil 2, Bl. 273 f. 234 In der Maschinenfabrik Brehmer in Leipzig wurde der Dreher Conrad 1922 gekündigt, weil er seine Pause verlängert hatte, um einen Schiedsspruch in Tarifangelegenheiten zu überwachen. Auch hielt er sich häufig während der Arbeit im Büro des Betriebsrats auf, wozu er sich als Werkstattvertrauensmann berechtigt fühlte. Der Betriebsrat wies ihn mehrfach darauf hin, dass er dazu nicht befugt sei. Vgl. Mitteilung der Betriebsleitung vom 11. 9. 1922, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 645, Bl. 16 f.
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dem Entscheidungen zentral und überbetrieblich getroffen und über Transmissionsriemen an die Arbeiterschaft angebunden werden. Vor dem Hintergrund eines weiterhin festgefügten Werkstattvertrauensmännersystems bedeutete der Aufstieg der Betriebsräte letztlich nichts weiter als die legale Ausweitung betrieblicher gewerkschaftlicher Mitspracherechte. Die Arbeiter beteiligten sich an der Wahl der Betriebsräte, sorgten auch für breite Mehrheiten des DMV,235 konnten aber wahrscheinlich in Bereichen, die schon vor 1914 zu den bestorganisierten Sparten gehörten, kaum einen alltäglichen Unterschied erkennen: Neben der Tatsache, dass der Bruch in der Arbeitgeberposition hier bei weitem nicht so radikal vonstattenging wie im Westen, blieben die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern von einer konflikthaften Aushandlungspolitik geprägt, die auf Grund der Stärke des DMV schon vor dem Weltkrieg existent gewesen war. Es herrschte ein beinahe traditionell überbetriebliches und wenig militantes Konfliktmuster vor, das auf einer langen Geschichte großer, betriebsübergreifend solidarischer Bewegungen aufbaute. Ein Problem mit der Trennung tariflicher und betrieblicher Kompetenzen hatten hier wohl nur die wenigsten. Der Aufstieg der Betriebsräte gab bestehenden Strukturen lediglich ein rechtlich kodifiziertes Gesicht.236 Denn mit Kompromissen hatte man Erfahrung: Dem DMV war es seit der Jahrhundertwende gut gelungen, betriebliche Interessen gewerkschaftlich zu kanalisieren und in „geordnete Bahnen“ zu leiten. Und obgleich sich einige der großen Unternehmen lange geweigert hatten, die gewerkschaftliche Vertretung anzuerkennen, war der DMV durch die realen Betriebsverhältnisse zumindest implizit in den Aushandlungsprozessen angekommen. Dazu trug auch sein anschlussfähiger organisatorischer Charakter bei: Aus den Werkstattindustrien entstanden, kam die weiterhin starke Bedeutung des Berufs für die Verbandszugehörigkeit der Maschinenbauarbeiterschaft entgegen, festigte auf Dauer die Konzeption des DMV als Mitgliederverband und sicherte Drehern oder 235 Vgl. FN 226 für den sächsischen DMV-Bezirk. Betriebsratswahlergebnisse für einzelne Chemnitzer Werke finden sich dagegen in den Quellen kaum. Für ein Leipziger Unternehmen, den Landmaschinenbauer Rudolf Sack, vgl. Betriebsratswahlergebnisse 1921, Rudolf Sack, Landmaschinenbau Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20793, Nr. 128, Bl. 169. Die freigewerkschaftliche Mehrheit war hier in den frühen 1920er Jahren erdrückend. 236 Das würde auch erklären, warum sich seitens der Arbeitgeber des sächsischen Maschinenbaus nicht annähernd so viele Widerstände gegen die Betriebsräte ausmachen ließen wie in der Hüttenindustrie. Der erfolglose Versuch der Betriebsleitung der Sächsischen Maschinenfabrik, vorm. Richard Hartmann AG (dem Unternehmen, das seiner Größe und Struktur nach noch am ehesten mit den Ruhrriesen verglichen werden konnte), gegen die Wahl von Abteilungsbetriebsräten vorzugehen, blieb nur kurze Episode. Vgl. Bezirkswirtschaftsstelle für die Stadt Chemnitz, Urteil in der Streitsache Sächsische Maschinenfabrik vorm. Richard Hartmann AG gegen die Betriebsräte dieser Firma, in: Betriebsräte-Zeitschrift 1 (1920) 6, S. 187 – 192.
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Schlossern eine herausragende Rolle in den höchsten Ebenen der verbandlichen Repräsentation. Vor diesem Hintergrund der Tradition, der Verbandsstruktur und der langjährigen betrieblichen Anschlussfähigkeit dürfte in den verarbeitenden Werkstätten des Chemnitzer Maschinenbaus ein individuelles Gewerkschaftsverständnis vorgeherrscht haben, in dem sich Mitglieder persönlich an den Verband gebunden fühlten und dieses Verhältnis ungern auflösten. Auch handelte es sich dabei wahrscheinlich um den Kern der Mitglieder der Vorkriegszeit, während das Gros der Eintretenden von 1918/19 einem Gewerkschaftsverständnis anhing, das eher in die Richtung der Hüttenarbeiter tendierte. In der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets muss man sogar so weit gehen, die frühen Mitgliederverluste ab 1921/22 direkt mit der Einführung und Arbeit der Betriebsräte in Verbindung zu bringen. Ebenso wie beim Aufstieg der Jahre 1917/18, der mit der Etablierung der Arbeiterausschüsse zusammenhing, wurde dadurch wieder deutlich, wie stark das Verhältnis zwischen Verband und Arbeiterschaft um ein betriebliches Gewerkschaftskonzept kreiste. An keinem Faktor wurde dies im Vergleich zum Chemnitzer Maschinenbau so deutlich wie an der großen Bedeutung, die den Formen des Betriebssyndikalismus zwischen 1918 und 1924 zukam: Spielte die Freie Arbeiter-Union (FAU) für die betriebliche Interessenvertretung der Hüttenarbeiter in manchen Werken eine überragende Rolle, war gleichzeitig von syndikalistischen Strömungen unter den Maschinenbauarbeitern nichts zu spüren.237 Dies war auch auf die Enttäuschung über die Entwicklung betrieblicher Gewerkschaftsarbeit zurückzuführen: Denn die Zähmung und Kontrolle, die die Betriebsräte durch den DMV – Vorstand erfuhren, kamen der betriebsbezogenen Solidaritätsstruktur der Hüttenarbeiter gar nicht entgegen. Anstatt die Arbeiterausschüsse zu einer basisorientierten Räteorganisation auszubauen, teilte 237 Zur Entwicklung der Formen des Syndikalismus in Deutschland vgl. Hans-Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 – 1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, Meisenheim 1969; aber auch ders., Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993; Zur Entwicklung vor 1914 und vor allem zum Verhältnis zum DMV vgl. Dirk H. Müller, Lokalismus und Syndikalismus in der deutschen Gewerkschaftsbewegung vor 1914, in: Wolfgang J. Mommsen/Hans-Gerhard Husung (Hrsg.), Auf dem Wege zur Massengewerkschaft, Stuttgart 1984, S. 299 – 310; zur Entwicklung der FAU in einer einzelnen Region vgl. Helge Döhring, Syndikalismus im „Ländle“. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands in Württemberg (1918 – 1933), Lich 2006; zum Anarcho-Syndikalismus vgl. Angela Vogel, Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer vergessenen Bewegung, Berlin 1977; immer noch aufschlussreich sind aber auch ältere Arbeiten, so z. B. Eduard Willeke, Der deutsche Syndikalismus, Münster 1923.
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man tarifliche und betriebliche Befugnisse zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat auf und entfremdete den Verband von der Basis. Der parallel dazu vollzogene Anstieg überbetrieblich-bezirklicher Abschlüsse, bei denen betriebliche Interessen nur partiell berücksichtigt werden konnten, hatte weitere schwerwiegende Folgen für die Attraktivität des DMV unter den Hüttenarbeitern.238 Durch die grundsätzliche Suche der Arbeiter nach einer betriebsbezogenen Interessenvertretung differierte die Situation für den DMV jedoch von Hütte zu Hütte. Wo man personell tief in den Arbeitsgruppen verankert war und/oder schon früher auf längere Agitationsbemühungen wie die Werkstattversammlungen zurückblicken konnte, wurden Betriebsratswahlen gewonnen, und der Verband besaß eine durchaus handlungsfähige Basisgrundlage. Ein Beispiel für diesen Prozess bildeten die Ereignisse auf der GHH, auf deren Arbeiterschaft sich die Gewerkschaften vor 1914 stark konzentriert hatten: Der Stimmenteil der FAU, 1920 durch die Enttäuschung über das BRG noch bei 27 Prozent, sank hier bis 1922 auf 10 Prozent, während der DMV langsam die Oberhand gewann.239 Dass es sich bei den DMV – Vertretern oft um Gewerkschafter handelte, die der Vorstands- oder Ortspolitik des Verbandes äußerst skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, spielte dabei keine große Rolle. Um der syndikalistischen Strömung entgegenzutreten, durchlief der DMV einen „Radikalisierungsprozess von unten“.240 Genauso wie das DMV – Label für die praktische Handlungsweise der Betriebsräte und Vertrauensmänner keine wegweisende Bedeutung hatte, war mit der mehrheitlichen Wahl des Verbandes in den Betriebsrätewahlen keine Akzeptanz des Kurses der Organisation durch die Arbeiter verbunden. Alles, was zählte, war die Arbeit vor Ort, die betriebliche Verankerung entscheidender Personen und deren Wirkungskraft innerhalb der Gruppenbeziehungen. Nur sie konnten die ausgesprochen militanten Basisbewegungen ansatzweise gewerkschaftlich kanalisieren – dass sie dabei dem Statut und den „großen Linien“ der DMV-Politik nur rudimentär entsprachen, liegt beinahe auf der Hand. Denn die Verbindung der Arbeitsgruppen selbst zur Ortsverwaltung war überaus brüchig, vom zentralen Vorstand ganz zu schweigen: Das Mitgliedsverständnis blieb auf den Betrieb beschränkt, instrumentell und daher so lange erfolgreich, wie basisnahe Vertretung und Verhandlungserfolge zusammentrafen. Im Gegensatz zum Chemnitzer Maschinenbau war es auch nicht individuell und als lang eingeübte „innere Überzeugung“ zu verstehen, sondern rein kollektiv und auf die Arbeitsgruppe bezogen. Der DMV – Vorstand war sich darüber bewusst, dass eine tiefere „Gewerkschaftsmentalität“ in den Hüttenwerken fehlte: „Trotzdem konnte 238 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 633. 239 Vgl. Betriebsratswahlergebnisse 1920 – 1925, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA, 130 – 400144/0. 240 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 636.
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mit Befriedigung festgestellt werden, daß auch in diesen Betrieben der Gewerkschaftsgedanke Fuß gefaßt hat, wenn auch nicht mit der Überzeugung, wie sie stets bei den alten Berufen im Kleingewerbe zu finden ist.“ 241 Definiert über den gemeinsamen Nutzen am Arbeitsplatz, bedeutete der Aspekt der Verbandszugehörigkeit hier nichts – in ihrer Ablehnung zentraler Vertretungsideen und „ferner“ Vorstände waren sich die Hüttenarbeiter einig und standen überbetrieblicher Verbandspolitik (ebenso wie diese ihrem Basisegoismus) extrem kritisch gegenüber. Den wichtigsten Unterschied zu Belegschaften, in denen die betriebssyndikalistische Freie Arbeiter-Union dominierte, stellte daher häufig „nur“ die personelle Anschlussfähigkeit an die Arbeitsgruppen dar. In der Frage, ob man die Betriebsräte ablehnen oder nutzen sollte, waren sowohl das gewerkschaftliche als auch das unionistische Lager gespalten.242 Wo es dem DMV nicht gelang, personelle Kontinuitäten aufzuweisen oder alte Fortschritte zu reaktivieren, konnte die FAU daher breitere Arbeiterkreise von ihrem Vorgehen überzeugen.243 Die Übergänge waren dabei auch deshalb fließend, weil der Betriebssyndikalismus der Hüttenindustrie eine weitgehend unpolitische und nicht ideologische Basisbewegung bildete. Eher als Vorgehensweise denn als Organisationsform zu verstehen, erwuchs er direkt aus den Arbeitsgruppen und provozierte spontane Streiks militanter Basiseinheiten. Da der Unionismus es nicht vermochte, sich als Gegenverband organisatorisch zu formieren, und das gewerkschaftliche wie auch das syndikalistische Lager im Grunde genommen über eine identische Basis verfügten, rückt bei der Frage nach den sinkenden Mitgliederzahlen vor allem die defizitäre Fähigkeit des Metallarbeiter-Verbandes in den Mittelpunkt, den Basisdruck der Hüttenarbeiter in Organisationsmacht zu kanalisieren.244 Während in den Arbeitsgruppen eine selbstbewusste und dynamische Interessenvertretung verfolgt wurde, die über keine überbetrieblichen Strukturen verfügte, hätten diese Strukturen ein Trumpf des DMV werden können – sie strahlten auf die Hüttenarbeiter nur wenig Attraktivität aus. Somit hatten beide Organisationsebenen etwas, das der anderen tendenziell fehlte. In dieser Situation wäre eine konsequente Industrieverbandspolitik, die sich zur Integration der Basisbewegungen bereit erklärt und eine professionelle Vertretungs- und Führungsstruktur aufgebaut hätte, wahrscheinlich von durchschlagendem Erfolg gewesen. Doch Hüttenarbeiter und Vorstände trennten in 241 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1923, S. 79. 242 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 633. 243 So z. B. auf der FAH, wo 1920 acht von zwölf Mitgliedern des Arbeiterausschusses zur FAU gehörten und deren Stimmenanteil 1921/22 stark anstieg. Vgl. Niederschrift über die 50. Sitzung des Arbeiter-Ausschusses vom 1. 4. 1920, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/701, Bl. 7 f. Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 639. 244 Vgl. ebd., S. 646.
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diesem Punkt Welten, sodass sich auch das Betriebsrätesystem langfristig nicht eine verbindende Klammer bilden konnte. Wie weit die Ansichten auseinandergingen, machten einige Einschätzungen in der Betriebsräte-Zeitschrift deutlich: Getrieben von der „Konzentration des Kapitals“ sah man keine andere Möglichkeit, als auch die Betriebsrätearbeit an überbetrieblichen Strukturen zu orientieren. Schädlich sei besonders ihr „Betriebsegoismus“ in der Eisen- und Stahlindustrie: „Bleibt der Betriebsrat ein Interessenvertreter der kleinen Belegschaft, so wird er immer der Entwicklung nachhinken“,245 so folgerte Norbert Einstein,246 was von den Arbeitern wohl in Bausch und Bogen abgelehnt worden wäre. Die weiterhin starre Verbandsstruktur und die zunehmende Immunisierung der Leitungen gegenüber dem Basisdruck durch die wachsende Zentralisierung von Verhandlungen führten in der Folge zu einem eindeutigen Ergebnis: 247 Betriebliche und gewerkschaftliche Strukturen blieben weitgehend getrennt, die Degradierung der (hier ohnehin noch nicht lange aktiven) Werkstattvertrauensmänner drängte radikale gewerkschaftliche Betriebsarbeit zusehends ab, und der DMV stellte nun fast nur noch ein Organisationsangebot dar, wenn er entsprechende Leistungen vorzeigen konnte. Je weiter der Verband die betrieblichen Belange der „Crews“ aus den Augen verlor, desto instrumenteller gestaltete sich deren Gewerkschaftsverständnis. Trotz der strukturellen Defizite im Verbandsaufbau waren Erfolge gewerkschaftlicher Betriebsräte daher auch nicht völlig ausgeschlossen – auch weil die Kluft nicht programmatischer Natur war. Vor allem im Zuge der langsamen Verausgabung unionistischer Aktionen, deren zunehmende Misserfolge sie den pragmatischen Arbeitern entfremdete, konnten die DMV -Betriebsräte ihre große Stärke ausspielen: Die Blockade der Arbeitgeber gegen syndikalistische Bewegungen und das Scheitern der FAU -Betriebsrätekonzeption führten im Kontext des Regelungsbedarfs der frühen Inflationszeit dazu, dass den Arbeitsgruppen die höhere Verhandlungsfähigkeit der DMV -Betriebsräte vor Augen geführt wurde. Sie konnten in dieser Zeit einige Verhandlungserfolge erzielen und näherten sich der Basis zusehends an.248 Dass sie immer noch der 245 Norbert Einstein, Die Betriebsräte in Konzernen, in: Betriebsräte-Zeitschrift 3 (1922) 14, S. 438 f. 246 Norbert Einstein (1892 – 1980), der Vetter von Albert Einstein, war als promovierter Volkswirtschaftler und seit 1919 Gewerkschaftssekretär sowie Mitglied der USPD einer der wichtigen Autoren für die Betriebsräte-Zeitschrift des DMV. Er siedelte 1937 nach England und 1952 in die USA über. Vgl. Joseph Walk, Kurzbiographien zur Geschichte der Juden. 1918 – 1945, München 1988, S. 76. 247 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 647 f. 248 Generell waren die Beziehungen zwischen den Betriebsräten und ihrer Wählerschaft schon vorher gut und gaben auch später keinen besonderen Anlass zur Klage. Die Konfliktlinie lag wohl eher zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen über ihre Kompetenzen und
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repräsentative, verlängerte Arm der militanten „Crews“ waren, wurde in dieser kurzen Phase 1922/23 verdeckt. Die für beide Ebenen günstige Situation fördert ein „Ausbalancieren“ zwischen Basisstärke und gewerkschaftlicher Repräsentation – eine Lage, die sich in der Hochinflation umzukehren begann, als die Belegschaften nicht effektiv gegen Lohnverluste geschützt werden konnten. Die mit der Konstellation des Ruhrkampfes verbundene hohe Arbeitslosigkeit und erzwungene Rücknahme des Achtstundentages zerschmetterte den Basisdruck schließlich völlig und offenbarte die Unfähigkeit des DMV , Gegenbewegungen der Mitglieder zu organisieren. Es zeigte sich, wie separat Basis und Verband agiert und welch widersprüchliche und fragile Position die Betriebsräte im Kontext unterschiedlicher Organisationsvorstellungen eingenommen hatten. So blieb von den Gewerkschaftsstrukturen nur noch ein überbetriebliches, gesetzlich abgesichertes Gerüst übrig, während die Basisstärke zerbrach.249 Der Konflikt um die Industrieverbandsfrage
Trotz des weitgehenden Stillstands in der Industrieverbandsfrage, durch deren Beantwortung dem Organisationsdilemma in der Hüttenindustrie hätte begegnet werden können, konnte man dem DMV – Vorstand keine völlige Untätigkeit attestieren: Sowohl die Allgemeinen Gewerkschaftskongresse von 1919 und 1922 als auch die DMV-Generalversammlungen von 1919 und 1921 sowie zahlreiche Artikel in der Metallarbeiter-Zeitung und Betriebsräte-Zeitschrift forderten die konsequente Umsetzung des Industrieverbandsprinzips für die Gewerkschaften im Allgemeinen und den DMV im Besonderen.250 Die Notwendigkeit lag vor allem für die Beamten aus dem Ruhrgebiet auf der Hand, durchbrachen doch Berufsgruppen wie die Maurer, Heizer und Maschinisten mit ihren Sonderorganisationen die gewerkschaftliche Einheitlichkeit der Eisen- und Stahlwerke. Entsprechende Erfahrungen in Lohnbewegungen veranlassten die DMV-Sekretäre aus Oberhausen, Essen und Duisburg, den Vorstand 1921 zur Bereinigung der Organisationslandschaft aufzufordern.251 Bis 1925 geschah jedoch innerverbandlich relativ wenig: Im Kontext der neuen Herausforderungen, der Lohnpriorität der Vorstandspolitik und schließlich des Kampfes um die Organisation selbst verlor man den Aufbau Verantwortlichkeiten zwischen Basis und Verbandsverwaltung. Vgl. Betriebsräte und Arbeiterschaft in den Hüttenbetrieben im besetzten Ruhrgebiet, in: MAZ 42 (1924) 22, S. 64. 249 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 648 – 652. 250 Vgl. Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 791 – 794; vgl. Tony Sender, Der Industrieverband, in: Betriebsräte-Zeitschrift 1 (1920) 7, S. 193 – 199. 251 Die fünfzehnte ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1921, S. 35 ff.
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eines echten Industrieverbandes aus den Augen. Einzig der Verband der Schiffszimmerer trat 1923 dem DMV bei.252 Erst nach dem katastrophalen Einbruch der Mitgliederzahlen 1923/24 fand die Thematik wieder Einzug in die innerverbandliche Diskussion. Man kritisierte nun offen die langjährige Untätigkeit des Ausschusses, den der Bundesausschuss des ADGB in Reaktion auf den Mehrheitswillen des Leipziger Gewerkschaftskongresses eingesetzt hatte und der den Aufbau von Industrieverbänden forcieren sollte. In Vorbereitung auf den Kongress von Breslau nahmen führende DMV Sekretäre wie Dißmann, Kummer und Reichel den Faden wieder auf und versuchten, dem Industrieverbandsprinzip über Anträge im ADGB -Bundesausschuss Gehör zu verschaffen. Unterstützt wurden sie dabei erneut von den Beamten aus dem Ruhrgebiet, die nach den Ereignissen von 1923/24 auf ein neues „Zusammengehörigkeitsgefühl“ 253 der Hüttenarbeiter durch eine Vereinheitlichung der organisatorischen Belegschaftsstruktur hofften.254 Das argumentative Vorgehen des Vorstandes war diesbezüglich differenziert: Über Appelle an das Kosten-, Geschlossenheits- und Identitätsgefühl der Gewerkschaftsvorstände und mit dem Versprechen, „historisch Gewachsenes“ nicht zerreißen zu wollen, schlug Dißmann die Schaffung von 15 bis 16 Industrieverbänden vor, die in verwandten Industrien Kartellverträge abschließen würden.255 Auf Vorwürfe der Spaltung der Arbeiterbewegung, des Zwangs und der Bereicherung reagierte man mit Zahlen und Fakten. Unter dem Motto: „Wir wollen Ordnung schaffen, auf die Zahl kommt es uns nicht an“,256 war der Vorstand sogar bereit, Mitgliedereinbußen hinzunehmen, denn diese Verluste würden „zehnmal aufgewogen durch die Bereinigung des Organisationsgebietes“.257 Besonders in der Hüttenindustrie betrachtete Dißmann dies als Lebensfrage, die indirekt sicherlich auch auf den tiefen Fall des DMV in diesem Bereich zurückzuführen war: Es ist doch wohl nicht gedacht, in der Eisenindustrie die Organisationsverhältnisse unverändert zu lassen, aber die Metallarbeiter in anderen Industrien dem DMV abzunehmen. […] 252 Vgl. Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 794. 253 K. W., Berufsverband oder Industrieorganisation?, in: MAZ 43 (1925) 29, S. 117. 254 Vgl. W. Diekmann, Berufsverband oder Industrieorganisation?, in: MAZ 43 (1925) 27, S. 107. 255 Vgl. Fritz Kummer, Berufsverband oder Industrieorganisation?, in: MAZ 43 (1925) 26, S. 102. 256 So Dißmann auf dem ADGB-Bundesausschuss im Juni 1925, zitiert nach: Horst-Albert Kukuck/Dieter Schiffmann (Hrsg.), Die Gewerkschaften von der Stabilisierung bis zur Weltwirtschaftskrise, 1924 – 1930 (= Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 3), Köln 1986, S. 52. 257 Ebd., S. 53.
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Neben den Bergherren sind es die Metallindustriellen, die versuchen, den gesamten Lohnbewegungen ihren Stempel aufzudrücken. Die gesamte deutsche Gewerkschaftsbewegung hat ein entscheidendes Interesse daran, in diesen Industrien die gewerkschaftliche Organisation zu vervollkommnen und zu vereinheitlichen. Die heutige Zerrissenheit erschwert alle Arbeit ungeheuer.258
Dennoch schlug die Taktik des DMV – Vorstandes fehl. Gegen die starke Berufsorientierung anderer Großverbände, die vom Holzarbeiterverband um Fritz Tarnow angeführt wurden und die die Ansätze Dißmanns als Beschneidung des eigenen Organisationsgebiets betrachteten, sowie gegen die Autonomieängste von manchen Kleinverbänden konnte sich der Antrag des DMV nicht durchsetzen. Dagegen half auch der demokratische Verweis auf bereits vollzogene Abstimmungsergebnisse der Kongresse nichts.259 Mit viel Verhandlungsgeschick war es der berufsverbandlichen Mehrheit des ADGB -Bundesausschusses gelungen, die Befürworter der Industrieverbände zum Rückzug zu bewegen. Einzig der DMV stimmte in Breslau noch für dieses Prinzip, während die letztlich angenommene Resolution den Bundesausschuss nur zur „Förderung“ der Industrieverbände verpflichtete – ein weiterer Rückschritt hinter die Leipziger Beschlüsse.260 Es manifestierte sich dabei ein Konflikt zweier gewerkschaftlicher Lager, der die Verbände seit der Jahrhundertwende begleitet und sich im Vorfeld von Breslau wieder entzündet hatte: Man stritt sich wieder einmal über die Fähigkeit der Gewerkschaften zur Beeinflussung der „Verhältnisse“. Vertreter der Berufsverbände wie Tarnow oder Zwing widersprachen zwar der Logik Dißmanns nicht, dass sich die Industrieverbände auf Dauer als effektiver erweisen würden, hingen aber einer ausgesprochen evolutionären Vorstellung an und wollten sich die „Entwicklung entwickeln lassen“.261 Sie hielten die Organisationslage und das gewerkschaftliche Bewusstsein der Arbeiter für noch nicht bereit, um den uralten Gedanken der Berufszugehörigkeit über Bord zu werfen – eine (weil ohne Versuch nicht überprüfbare) kaum schlüssig zu widerlegende These, die sich wie ein roter Faden durch die Gewerkschaftsgeschichte zog. Noch 1929 folgerte Arthur Dissinger in seiner Studie zum „freigewerkschaftlichen Organisationsproblem“:
258 So Dißmann im August 1925 an gleicher Stelle. Ebd., S. 59. 259 Vgl. Fritz Kummer, Zur Frage der Organisationsform, in: MAZ 43 (1925) 33, S. 129. 260 Der zwölfte deutsche Gewerkschaftskongress, in: MAZ 43 (1925) 38, S. 151; vgl. Robert Dißmann, Zum Abschluß des Breslauer Kongresses, in: Betriebsräte-Zeitschrift 6 (1925) 19, S. 577 – 582. 261 Fritz Kummer, Zur gewerkschaftlichen Organisationsfrage, in: MAZ 43 (1925) 24, S. 93.
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[…] wird man aber bei gerechter Abwägung aller Beweismittel dem Berufsverband doch ein Plus zugestehen müssen, und zwar allein deswegen, weil der Berufsgedanke ein Solidaritätsgefühl auslöst, wie es keine von den übrigen Ideen auch nur annähernd imstande ist.262
Die Position des DMV – Vorstandes erachtete dagegen ein größeres Maß der Beeinflussung für möglich und warb für den Gedanken, die Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen. Mit der Forcierung des Industrieverbandsprinzips schiebe man, so Dißmann, den Bewusstseinsprozess erst wirklich an. Er fragte sich, „ob nicht eben im Industrieverband schneller und allgemeiner die Gruppengegensätze in innere Solidarität und der Gedankenkreis in höhere Geistigkeit zu wandeln sind“.263 Einstweilen besaß man mit dieser Sicht jedoch keine Mehrheit und der Metallarbeiter-Verband gab sich notgedrungen geschlagen. Das enttäuschte Fazit Reichels beinhaltete dabei sowohl die Ursache als auch die Zukunftsaufgabe für den DMV, wollte man den Industrieverband dennoch langfristig stärken: „Dabei wissen sie so gut wie die anderen, daß man zu den Industrieverbänden die Mitglieder braucht, die man nicht wie Schachfiguren hin- und herschieben kann.“ 264 Im Endeffekt erscheinen jedoch Zweifel berechtigt, ob der Industrieverband DMV , der dem Vorstand vorschwebte, eine konzeptionell veränderte Gewerkschaft mit sich gebracht hätte. So kann zwar kein Zweifel an der Aufrichtigkeit der Forderungen bestehen, ihre Folge hätte den Hüttenarbeitern aber wohl dennoch nicht gefallen. Denn mit dem Begriff des Industrieverbandes sollte keinesfalls gewerkschaftliches Neuland betreten werden: Als Zusammenfassung von Organisationsbereichen und Mitgliederbüchern gedacht, vollzog sich seine Logik für den Vorstand von oben nach unten, hatte die quantitative Drohmacht stets stärker im Blick als die qualitative Betriebsarbeit und stellte zu keiner Zeit ein überbetriebliches Entgegenkommen gegenüber der betrieblichen Ebene in Rechnung. Die 1924 zerschmetterte Basismacht der Hüttenarbeiter wäre daher wohl kaum wirksam integriert worden. In seiner „Binsenweisheit“ der Gewerkschaftsentwicklung resümierte Dissinger daher auch: Die Industrieverbände glauben allerdings, die gewerkschaftlichen Organisationen ohne Störung der Einheitlichkeit auf Grund von Kongreßbeschlüssen umformen zu können, sie suchen aus praktischen Erwägungen heraus, wie sie sagen, die Organisationsform nach ihrem Sinne zu gestalten, ohne aber dabei näher zu prüfen, daß jede Organisation als Grundlage 262 Arthur Dissinger, Das freigewerkschaftliche Organisationsproblem: eine soziologische Studie, Jena 1929, S. 224. 263 Kummer, Zur gewerkschaftlichen Organisationsfrage, S. 93. 264 Georg Reichel, Gewerkschaftskongreß und Organisationsform, in: MAZ 43 (1925) 39, S. 155.
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ein Gemeinsamkeitsgefühl der Organisierten braucht und eine Organisation, bei der ein solch die Zusammengeschlossenen verbindendes Gefühl fehlt oder nur in geringem Maße vorhanden ist, schlechterdings ein inhaltloses Gebilde darstellt. Ein Gemeinsamkeitsgefühl kann nun aber nicht durch Beschlüsse oder irgendwelchen Zwang geweckt werden, es muß sich ganz von selbst entwickeln und formen.265
5.3.3 Zwischen den „Novembermitgliedern“ und der fehlenden Arbeit „nach innen“ – Der DMV in der Diskussion über die Gewerkschaftskrise (1918 – 1924) Disziplin und gewerkschaftliche Erfahrung als Schlüsselbegriffe der Debatte
Über eine Veränderung waren sich die meisten Beobachter innerhalb und auch außerhalb des DMV 1924 einig: Mit der Eintrittswelle von 1918/19 war nicht nur eine einfache Vervielfältigung der Mitgliederzahlen verbunden gewesen – es hatte sich anscheinend auch eine Gewerkschaftsmentalität ausgebreitet, die der „alten Auffassung“ in vielerlei Hinsicht widersprach: Erfahrene, gut „durchgebildete“ und realistisch-kämpferische Gewerkschafter, die mit ihrer Arbeit eine Lebens- und Klassenaufgabe verbanden, waren durch hektischere, gewerkschaftlich unerfahrene und vor allem politisch motivierte Mitglieder verdrängt worden. Diese, freilich stark oberflächliche Gegenüberstellung stand im Zentrum zahlreicher Vergleiche, die man zwischen der Revolution und dem Ende der Inflation bemühte und in deren Kern es meistens um den Wandel eines Organisation-Mitglied-Verhältnisses seit dem Kaiserreich ging. Dass sich jener empfundene Wandel dabei krisenhaft artikulierte, fiel einigen Beobachtern schon sehr früh auf. Die Schlüsse, die sie aus ihren Beobachtungen zogen, unterschieden sich jedoch nicht selten fundamental. Obgleich sich die ganze Bandbreite der unterschiedlichen Lageinterpretationen in allen Verwaltungsebenen des DMV ausmachen lässt, nahm dabei die Neigung, die Verantwortung für die Krise der Gewerkschaft einseitig den Neueintretenden zuzuschreiben, mit dem Aufsteigen in der Organisationshierarchie zu. Vor allem auf der Vorstandsund den Bezirksebenen war die Freude über die massenhaften Beitritte dementsprechend von vornherein nicht ungetrübt; kamen doch zu dem Bild, das man ohnehin lange von den „chronisch Unorganisierten“ hegte, sogleich Erfahrungen mit der defizitären Einhegung ihres kämpferischen Elans. Besonders die politische Motivation der Gewerkschaftsmitgliedschaft weckte dabei Ängste einer politischen Indoktrinierung und Spaltung des Verbandes. Bis der Sieg der Opposition auf dem
265 Dissinger, Das freigewerkschaftliche Organisationsproblem, S. 226.
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Verbandstag 1919 zu einer neuen Vorstandspolitik führte, verlief dieser Graben direkt zwischen „Alten“ und „Neuen“: Zurückzuführen ist diese beispiellose Entwicklung des Verbandes vor allem auf die Revolution vom 9. November 1918, die dem Verband große Massen der ihm bis dahin gleichgültig gegenüberstehenden Arbeiter und Arbeiterinnen zuführte. […] Wir freuen uns über den großen Mitgliederzugang, müssen aber den Neugewonnenen das Recht bestreiten, über die Tätigkeit der älteren Verbandsmitglieder ein zutreffendes Urteil abgeben zu können.266
Trotz der Versuche Dißmanns, in dieser Frage eine differenziertere Position als Schlicke einzunehmen, und seiner berechtigten Einschätzung, dass sich gewerkschaftliche und politische Felder kaum voneinander trennen ließen, bewahrheiteten sich die (1918 noch sehr unspezifischen) Befürchtungen in den Folgejahren immer dort, wo die politische Aufladung der gewerkschaftlichen Bewegungen die Oberhand gewann. Die Schwierigkeiten, die dabei auf die Verbandsleitung und ihre Beziehung zu den „neuen“ Mitgliedern zukamen, blieben weder im Verband noch seitens der Arbeitgeber unerkannt: Monierte ein Beobachter mit Blick auf die Politisierung des DMV schon 1919: „Die Gewerkschaftsbewegung wird heute von vielen Arbeitern, wenn nicht direkt als überflüssig, so doch als eine Bewegung zweiten oder dritten Grades betrachtet“,267 blickte die Direktion der FAH 1924 folgendermaßen auf ein bewegtes Jahrfünft zurück: […] waren die Gewerkschaften die Anführer, so verloren diese in den meisten Fällen sehr rasch die Führung aus der Hand, und die Bewegungen gerieten sehr schnell in das Fahrwasser der radikal gerichteten Elemente und wurden von reinen Wirtschaftskämpfen zu solchen mit vorwiegend politischem Einschlag.268
Neben der Politisierung des DMV (und oft in einem Atemzug mit ihr) machten viele höhere DMV-Sekretäre die fehlende Bildung und ein mangelndes Verständnis von Ordnung und Disziplin unter den „Novembermitgliedern“ für die Krise verantwortlich. Die Kritik an dem höheren Anteil ungelernter, jugendlicher und weiblicher Mitglieder und deren sowohl radikaler Empfänglichkeit als auch fehlender Schulung erfreute sich seitens des Vorstandes und der Bezirksleitungen großer 266 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1918, S. 16. 267 P. U., Die Zukunft unseres Verbandes im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, in: MAZ 37 (1919) 23, S. 86. 268 Ueberblick über die Streiks und Wirtschaftskämpfe der Arbeiterschaft am linken Niederrhein, im besonderen in Rheinhausen in den Jahren 1919 bis Januar 1924 vom 12. 1. 1924, Friedrich-Alfred-Hütte Rheinhausen, in: HAK, WA 77/716, Bl. 1.
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Beliebtheit. Aus ihrer Sicht hatte sich 1918/19 ein Bruch in der effektiven Vermittlungsfähigkeit gewerkschaftlichen Handelns ergeben, der sich auch in historischen Einschätzungen niederschlug: So erfreulich dieser erneute Aufschwung für die Gewerkschaften auch sein konnte, bedenklich mußte doch die andere Mitgliederzusammensetzung stimmen. Gegenüber dem altorganisierten Facharbeiter der Vorkriegszeit begann nun der un- oder angelernte Arbeiter, der jugendliche (soweit er organisiert war) und der weibliche Arbeiter in den Vordergrund zu treten. Die Diskrepanz zwischen den Gedankengängen der an den Kämpfen der Vorkriegszeit geschulten Gewerkschaftsführer und dem weniger oder gar nicht geschulten, dafür radikalen Parolen leichter zugänglichen Neu-Organisierten mußte nun spürbar werden.269
Im siebenten Bezirk, wo man sich mit dem riesigen Zustrom von Hüttenarbeitern konfrontiert sah, gestaltete sich die Lage für den Verband zwar inhaltlich anders (da die Arbeiter kaum politisiert, sondern äußerst betriebsbezogen dachten), war aber in ihrer Folge gleich. Für den Bezirksleiter bedeuteten Syndikalismus und Politisierung nur einen graduellen Unterschied, taten sich doch in beiden Fällen Disziplinlosigkeiten auf, die sich nur schwer gewerkschaftlich auffangen ließen. Die Einschätzung der Eisen- und Stahlarbeiter, die dem Verband vor 1914 fast zur Gänze ferngeblieben und denen gegenüber häufig trotzige Schuldzuweisungen formuliert worden waren, hatte sich daher auch kaum verändert, wurde nur zwischen die Zeilen gebannt. Mangelndes betriebliches Verständnis und ein Hoch auf die eigene Initiative verbanden sich immer noch zu einer bemerkenswert arbeiterfernen Argumentation: Die gewerkschaftliche Disziplin, die vor dem Kriege in unserer Organisation als mustergültig bezeichnet werden konnte, hatte durch den gewaltigen Zustrom von ungeschulten Mitgliedern und durch die psychologischen Wirkungen des Krieges bedeutend gelitten. Dies fand dann seine Auswirkung dadurch, daß Arbeitseinstellungen usw. ohne Beachtung der statuarischen Bestimmungen vorgenommen wurden, so daß wir alles aufwenden mußten, um die Sache so gut es ging beizulegen oder beim Vorstand entsprechendes Verständnis zu finden. In keinem Bezirk ist es wohl so wüst zugegangen wie in dem unsrigen. Der Hüttensklave, der in plumper Lethargie jahrzehntelang dahingelebt, war plötzlich erwacht und pochte auf seine Menschenrechte; er wollte das mit einem Schlage nachholen, was er in sträflicher Gleichgültigkeit jahrzehntelang vernachlässigt hatte. Wilde Bewegungen und unkontrollierbare Geldsammlungen nahmen im Bunde mit syndikalistischen Strömungen derart überhand, daß wir uns im Oktober mit einem Flugblatt an unsere Mitglieder wenden mußten.
269 Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 29.
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Diese von uns eingeleitete energische Bekämpfung der wilden Bewegungen hat zweifellos zur Klärung beigetragen. Die Bezirksleitung und der Vorstand, dies kann wohl ruhig ausgesprochen werden, haben sich nie kleinlich gezeigt, sondern manchmal wurden in dieser Sturm- und Drangperiode nicht nur ein, sondern beide Augen zugedrückt.270
In den Reigen der Kritiker trat auch der DMV-Bezirksleiter für Sachsen ein. Die Grenze der Einsicht in disziplinarische Notwendigkeiten verlief seiner Meinung nach ebenfalls zwischen „Neuen“ und „Alten“: Die eigene Kraft wurde von diesen neugewonnenen Mitgliedern über- und die der Gegner, der Unternehmer, unterschätzt. Mit diesen ungeschulten Kräften wurden häufig gegen den Willen der erfahrenen Gewerkschaftsmitglieder Aktionen unternommen, die scheitern mußten oder das Ansehen und die Kraft der Gewerkschaften untergruben. Die spätere Fahnenflucht war die natürliche Folge dieser unüberlegten und in sehr vielen Fällen lächerlich wirkenden Aktionen.271
Dass sich das alte Disziplincredo der Gewerkschaft in vielen Punkten nicht mehr aufrechterhalten ließ, befand man in dieser Phase relativ häufig. Der Charakter der Kampfesorganisation, um dessen Propagierung man sich dennoch leidenschaftlich bemühte,272 geriet durch die innerverbandlichen Fragmentierungsprozesse zusehends in Bedrängnis. Besonders bedrohlich erschienen den höheren Verwaltungsebenen die Tendenzen seines Verfalls auf der Ebene der Verwaltungsstellen. So zeigten sich Vorstand und Bezirksleitungen beispielsweise bestürzt über das eigenmächtige Vorgehen zweier Verwaltungsstellen im Ruhrgebiet, die im Januar 1924 trotz des Verbots durch den Vorstand einen Generalstreik ausriefen. In einem anderen Fall hatte sich gar ein gewerkschaftlicher Siebzehner-Ausschuss gebildet, der Weisungen herausgab, die jenen der vorstandstreuen Ortsverwaltungen zuwiderliefen.273 Solche und andere Beispiele autonomen Vorgehens führte man auf eine gefährliche Mischung zurück: Hatten sich im Zuge des politischen Wandels einerseits 270 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1919, S. 244. 271 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924, S. 61. 272 Sowohl in der MAZ als auch der BRZ wurden in diesen Jahren verstärkt Artikel veröffentlicht, in denen der disziplinarische Anspruch der Gewerkschaftsleitungen untermauert werden sollte. Einer dieser Mahner, der später für die DMV-Bildungsarbeit extrem wichtig wurde, war Engelbert Graf. Er schrieb unter anderem: „Gewerkschaften sind Kampfverbände. Sie bedürfen daher auch der Organisation eines Heeres. Sie bedürfen der Ordnung, der Disziplin, bedürfen der Teilung der Aufgaben und ihrer Ineinanderfügung, bedürfen des Generalstabs sowohl wie der Kriegsakademie.“ Ders., Gewerkschaftliche Schulungsarbeit, in: Betriebsräte-Zeitschrift 3 (1922) 14, S. 470. 273 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924, S. 91 f.
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gewerkschaftliche Allmachtsphantasien in den Köpfen der „Novembermitglieder“ durchgesetzt, verbanden sich diese mit einem zunehmend instrumentellen Gewerkschaftsverständnis, an dessen Zustandekommen die Verwaltungen vor allem in der Hüttenindustrie kräftig mitwirkten. In Bereichen, in denen die Mitglieder nicht durch die lange Schule des Mitgliederverbandsprinzips gegangen waren, banden sich hohe Erwartungen in praktischen Erwägungen an zählbare Erfolge und mussten im Falle deren Ausbleibens zu einer Desavouierung der Gewerkschaftsleitung führen. Daher erscheint es auch wenig verwunderlich, dass die scharfe Kritik an den Gewerkschaftsbeamten zu den regelmäßigen Erscheinungen dieser Jahre gehörte: Die Kaufkraft sinkt immer mehr. Daher die große Unzufriedenheit unserer Kollegen, die durchaus zu verstehen ist. Diese Unzufriedenheit richtet sich aber besonders bei den weniger geschulten Kollegen nicht gegen ihre wirklichen Feinde, sondern gegen die Organisation, weil sie der Meinung sind, daß es nur an der Verbandsleitung liege, wenn bei den Verhandlungen nicht höhere Löhne erreicht wurden. Bei einigem Nachdenken wird jeder und auch der ungeschulteste Kollege einsehen, daß diese Meinung falsch ist. Die Ursache liegt auch hier zweifellos in der Überschätzung der gewerkschaftlichen Macht, wie sie sich in den Köpfen der Kollegen spiegelt. Aus diesem ungesunden Zustand der Dinge hilft uns nur Aufklärung. Diese Aufklärung können wir leider aus Mangel an Zeit nicht leisten und so muß jeder einzelne unserer Kollegen, der volkswirtschaftliches Denken und Fühlen besitzt, bereit sein, in seinen Kreisen aufklärend zu wirken.274
Andauernden Angriffen ausgesetzt, die oft den Blick für die eigentliche Gewerkschaftsarbeit in den Hintergrund treten ließen, offenbarten die Verteidigungsschriften der Sekretäre den Druck einer Mentalität, an deren Ausbreitung sie selbst nicht ganz unschuldig waren.275 Als der Massenaustritt (für viele der „neuen“ Mitglieder nur eine nebensächliche Angelegenheit – für den Verband eine schicksalhafte Ultima Ratio) im vollen Gange war, rekapitulierten sie das Versäumnis, den Mitgliedern
274 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1922, S. 50. 275 Der durchaus verständliche Frust der Sekretäre spiegelte sich in zahlreichen kurzen Artikeln in der MAZ wider. Dabei kleidete ein Sekretär aus Lörrach die Ohnmacht in folgende Worte: Egal, was er tue, er habe davon immer nur einen Nachteil. Gelinge eine Bewegung, sei es allein die Kraft der Arbeiter gewesen, scheitere sie, sei es die seine. Andere Meinungen würden stets zwischen „Strebertum und Faulheit“ und zwischen „Schüchternheit und Eigenliebe“ schwanken. Alles in allem brauche ein Gewerkschaftssekretär seiner Meinung nach daher ein kaum zu erbringendes Maß an Charakterstärken: „Der Gewerkschaftssekretär muß also schlüpfen können wie ein Aal, die Haut eines Elefanten, die Geduld eines Schafes und die Kraft eines Löwen besitzen.“ E. F., Der Gewerkschaftssekretär, in: MAZ 40 (1922) 4, S. 18.
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den Wert der Mitgliedschaft als solcher nicht verständlich gemacht zu haben.276 Viele „kühne Hoffnungen“ der Revolutionszeit seien nicht erfüllt worden, weil es nicht gelungen war, das Bild des Verbandes als Lohn- und Arbeitszeitdienstleister um seine sozialen Implikationen zu erweitern. Sämtlicher Tatendrang war zu einer Lohnbewegung verkommen, deren Scheitern bereits den Bruch der Inklusion mit sich brachte.277 Kennzeichnend für diese Sicht war die Betonung der Schuld der „Novembermitglieder“, obwohl man sich unterschwellig der Verantwortung nicht entziehen konnte. Dißmann resümierte dementsprechend: „Will man die Schuldigen für die jetzigen Zustände suchen, dann muß man bis in die Novembertage von 1918 zurückgehen und untersuchen, ob alles getan ist, was notwendig hätte geschehen müssen.“ 278 Besonders im Vergleich zur Zeit des Kaiserreiches wurde ihm zufolge deutlich, wie stark der innerverbandliche Zusammenhalt von Erfahrungen des Kampfes, der Entbehrung und Verfolgung abhängig sei und wie sehr man ihn durch die Systemintegration gefährdet habe. Sein Verweis auf das Motto „Rechte wollen erkämpft sein!“ als „alte Wahrheit im proletarischen Emanzipationskampf“ 279 beinhaltete schon 1923 die leise Andeutung eigener Fehlvorstellungen – ein Trugschluss, den Reichel im Januar 1924 auf den Punkt brachte: Die Zentralarbeitsgemeinschaft und das Novemberabkommen sind von den Unternehmern der Schwerindustrie längst gebrochen und über Bord geworfen. Es ist zuzugeben, daß die Zentralarbeitsgemeinschaft ein großes Stück sozialpolitischer Arbeit geleistet hat. Hätten die Gewerkschaftsmitglieder die Tarifverträge erkämpfen müssen, dann wüßte jedes Mitglied den Wert solcher Tarifverträge zu würdigen. Wir werden nichts verlieren, wenn wir die Zentralarbeitsgemeinschaft aufgeben, denn dann werden die Gewerkschaften ihre Stärke zu beweisen haben.280
Eine versäumte Bildungsbewegung
Im Gegensatz zum Vorstand und zu den Bezirksleitungen sahen viele „einfache“ Mitglieder und Verwaltungsstellenbeamte das Integrationsproblem des DMV eher in der gewerkschaftlichen Struktur und Politik begründet. Noch während des Krieges 276 Vgl. Hermann Benker, Warum wir uns organisieren, in: MAZ 42 (1924) 26, S. 80. 277 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924, S. 62 f. 278 So Dißmann 1924, in: Kukuck/Schiffmann (Hrsg.), Die Gewerkschaften von der Stabilisierung bis zur Weltwirtschaftskrise, Dokument 2. 279 Robert Dißmann, Drei Jahre Betriebsräte-Arbeit, in: Betriebsräte-Zeitschrift 4 (1923) 8, S. 225. 280 Georg Reichel im Januar 1924, in: Kukuck/Schiffmann (Hrsg.), Die Gewerkschaften von der Stabilisierung bis zur Weltwirtschaftskrise, Dokument 2.
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mahnten Beobachter aus diesen Reihen bereits die Notwendigkeit an, die Neumitglieder gewerkschaftlich zu schulen. Ohne eine aktive Beeinflussung, so der Tenor, werde der Verband diese Arbeiter langfristig nicht halten können. In einem umfassenden Ansatz solle man der Forderung gerecht werden: „Erobern ist leichter als Festhalten“.281 Erneut schien dabei der Charakter einer Bildungsbewegung durch, in der über Versammlungs-, Vortrags- und Veranstaltungsangebote sowie die parallele Anleitung im Betrieb aus „Gläubigen“ „Wissende“ gemacht werden sollten: Diese Massen ahnen, glauben, daß die Zusammenarbeit mit vielen wirtschaftlich Gleichgestellten eine Bekämpfung wirtschaftlicher Übel ermögliche. Diesen Glauben gilt es zum Wissen auszugestalten. Es ist eine dringende Aufgabe, den Zustrom zu unseren wirtschaftlichen Organisationen dauernd an diese zu fesseln.282
Um die Voraussetzungen für dieses Vorhaben war es allerdings einstweilen schlecht bestellt, dessen waren sich viele besorgte Mitglieder bewusst. Denn die Hebung des Verbandes in den politischen und überbetrieblichen Raum, die neuen Aufgaben der Gewerkschaftsbeamten, der innergewerkschaftliche Richtungsstreit und nicht zuletzt die überragende Lohnpriorität dieser Zeit ließen die Bildung der Neugewonnenen auf der Prioritätenliste weit nach hinten rücken. Noch dazu hatte man schon mit der einfachen Verwaltung der Zu- und Austritte genug zu tun. Nicht wenige Beobachter konstatierten vor diesem Hintergrund ein neues Vermittlungsproblem zur betrieblichen Basis. Die Sekretäre, oft kaum in der Lage, die Mitgliedermobilität nur ansatzweise zu überblicken und mit erweitertem Tätigkeitsfeld konfrontiert, vernachlässigten notgedrungen den betrieblichen Raum und den direkten Kontakt zu den Belegschaften. Dies schlug sich unter anderem in niederschmetternden Ergebnissen örtlicher Verwaltungskontrollen nieder: Mitgliederlisten waren unvollständig, selten aktuell und uneinheitlich gegliedert und in den Kartotheken für die Werkstattvertrauensmänner herrschte Durcheinander. Gleiches galt für die Betriebskartotheken, die entweder gar nicht vorhanden oder nicht auf dem neuesten Stand waren.283 Hinzu kamen personelle Probleme: Viele Betriebsräte, neu in ihrer Position und wenig erfahren, brachten schlicht und ergreifend weder die Zeit noch die gesetzliche Befugnis mit, um sich um die zentralen Bereiche der Mitgliederverwaltung auf betrieblicher Ebene zu kümmern. Dazu hätte es eines ausgebauten Werkstattvertrauensmännersystems bedurft, an dem man aber in vielen Betrieben, in denen der Organisationsgrad nach 1918 stark angestiegen war, seitdem nicht gear 281 Erobern ist leichter als festhalten, in: MAZ 36 (1918) 22, S. 85. 282 Der Sinn der Organisation, in: MAZ 37 (1919) 15, S. 59. 283 Vgl. Friedrich Föller, Ausbau der inneren Gewerkschaftseinrichtung, in: MAZ 37 (1919) 47, S. 195.
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beitet hatte. Im Bereich betrieblicher Agitation und praktischer Schulung erwies sich die gewerkschaftliche Anschlussfähigkeit als schwach, was einige Mitglieder zu scharfer Kritik veranlasste: „Wer also die Verhältnisse in den letzten zwei Jahren kennt, muß ohne weiteres zugeben, daß die Schulung der neugewonnenen Mitglieder leider nicht durchgeführt werden konnte.“ 284 Als Mittel gegen die Distanz zwischen Verwaltung und Mitgliedschaft schlug man Maßnahmen vor, die im Grunde dem Kurswechsel entsprachen, den der DMV um die Jahrhundertwende betrieblich schon einmal vollzogen hatte. Um die Agitation „durchgreifend“ zu gestalten und quasi „von selbst“ arbeiten zu lassen, forderten die Zuschriften aus der Mitgliedschaft einen Ausbau des Werkstattvertrauensmännersystems in allen Betrieben und Abteilungen. Die neuentstandenen (und vielen scheinbar noch vertrauten) Probleme könne man nur lösen, wenn die Verwaltung „mit jedem Betrieb Fühlung hat“.285 Auch müsse „das Werben und Drängen von Mund zu Munde“ wieder eintreten, um die „alte Geschlossenheit und Schlagkraft“ wiederherzustellen. Der durch den überbetrieblichen Kurs des DMV verschuldeten Entfremdung von den Mitgliedern komme der Verband jedoch mit den aus der handwerklichen Phase reaktivierten Agitationsmethoden keineswegs bei: […] aber Versammlungsreden und Flugschriften üben doch nicht die nachhaltige Wirkung aus wie die tägliche Werbung von Mund zu Mund. Unsere alten Gewerkschafter wissen dies aus Erfahrung, sind wir doch durch diese Art der Werbung in der Vorkriegszeit groß geworden.286
Wie stark die Gewerkschaftsarbeit trotz aller Mahnungen vom Betrieb entfernt war, machten die Kritiker in der Metallarbeiter-Zeitung gerne an der Hüttenindustrie fest. Vor allem im Zuge der Gründung des Zentralverbandes der Walzwerkarbeiter Deutschlands 1919 in Gelsenkirchen wiesen sie darauf hin, welch arge Defizite sie in der bisherigen Herangehensweise an diese Industriearbeiter erblickten: Die Schuld an der Entstehung des Walzwerksarbeiterverbandes tragen die Gewerkschaften, und zwar insofern, weil man sich nicht um das Los der Walzwerksarbeiter gekümmert hat und weil stets unsere Berufskollegen innerhalb der Verbände von solchen Gewerkschaftsbeamten vertreten worden sind, welche vom Walzwerk überhaupt keine Kenntnis besaßen.287
Die Erkenntnis, dass sich die neue Gewerkschaft nur auf die Walzwerkarbeiter bezog und in ihren Reihen Anhänger der unterschiedlichsten politischen und gewerk 284 285 286 287
August Meyer, Produktionskontrolle, in: MAZ 39 (1921) 32, S. 171. Friedrich Föller, Agitation, in: MAZ 38 (1920) 15, S. 62. An die Kleinarbeit!, in: MAZ 42 (1924) 46, S. 160. Gewerkschaftliche Zersplitterung, in: MAZ 38 (1920) 29, S. 119.
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schaftlichen Auffassungen vereinte, nutzte man erstmals dazu, den Verwaltungen ihr mangelndes Verständnis der betrieblichen Interessen dieser Arbeiter vorzuhalten. Im Kontext der gruppen- und betriebsegoistischen Ausrichtung der Solidarität wäre es demnach kein Wunder, dass betrieblicher Druck nicht überbetrieblich kanalisiert werden könne. Das Fazit war daher klar und deutlich: „[…] was uns gefehlt hat bei der Interessenvertretung der Hüttenarbeiter, waren die Hütten- und Walzwerksarbeiter selbst.“ 288 Die gewerkschaftlichen Leitungen hätten, so eine andere Kritik, viel zu lange „stets nur in Zahlen, nicht in Qualitäten gedacht“.289 Obgleich solche Einschätzungen von Mitgliedern gehäuft auftraten und bei den zuständigen Entscheidungsträgern auch durchaus einen Handlungsbedarf entstehen ließen, wich die Einsicht, etwas ändern zu müssen, einem entschuldigenden Verweis auf die Macht der Verhältnisse. Grundlegende Vorhaben wurden zusehends in die Zukunft verlegt und mit der aktuellen Auslastung durch andere Probleme begründet. Schlaglichtartig veranschaulicht dies der Lagebericht der sächsischen Bezirksleitung für 1919. Denn obwohl in Dresden Klarheit darüber herrschte, dass die Notwendigkeit einer „gründlichen Schulung und Durchbildung der Mitglieder […] schärfer in Erscheinung [tritt] wie je zuvor“ und „mit der Inempfangnahme eines Mitgliedsbuches und der Zahlung der Beiträge […] der neugewonnene Kollege noch kein geschulter Gewerkschafter [ist]“,290 sah man keine Möglichkeit, in diesem Jahr eine planmäßige Bildung der Mitglieder in Angriff zu nehmen. Mit den Lohnbewegungen und politischen Konflikten beschäftigt, versprach man, gründliche Bildungsbewegungen im nächsten Jahr zu unternehmen.291 Sowohl im Ruhrgebiet als auch in Sachsen änderte sich jedoch auch 1921 nichts: Einem Bildungsbekenntnis folgte der Hinweis, im Zuge der Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und politischen Konflikte keine planmäßige „Aufklärungs-, Bildungs- und Schulungsarbeit“ durchgeführt zu haben. Zahlreiche „wilde“ Bewegungen vor Augen, zeigte man sich optimistisch, im nächsten Jahr endlich Fortschritte erzielen zu können.292 Doch die Diskrepanz zwischen den pädagogischen Plänen und deren Verwirklichung zog sich bis 1924 weiter, und der Vorstand musste schließlich resümieren:
288 Ebd. Eine ähnliche Auffassung bezüglich der ungelernten Arbeiter im DMV entwickelt Karl Berger, Der ungelernte Arbeiter im Deutschen Metallarbeiter-Verband, in: MAZ 37 (1919) 37, S. 144. 289 R. S. [wahrscheinlich Richard Seidel], Solidaritätsbegriff und Industrieverband, in: Betriebsräte-Zeitschrift 1 (1920) 5, S. 142. 290 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1920, S. 124. 291 Vgl. ebd. 292 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1921, S. 95 f, S. 111 – 118.
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Leider fehlte auch uns in den Jahren nach dem Kriege die Möglichkeit, diesen zugeströmten Massen die gewerkschaftliche Erziehung und Durchbildung zu geben, die notwendig gewesen wäre, um sie zu disziplinierten und überzeugten Gewerkschaftlern zu machen.293
Die Frage der Verantwortung
In der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über die empfundene Bildungsund Inklusionskrise des DMV offenbarten sich (für einige Jahre zum letzten Mal) die großen Differenzen bezüglich der Masse-Führer-Frage. Selten konnte man gleichzeitig so viele Ausführungen über die Unreife der „Novembermitglieder“ und über die innergewerkschaftlichen Versäumnisse verfolgen wie in dieser kurzen Phase. Dass sich beide Seiten noch dazu mit unterschiedlichen Verwaltungsebenen und oft auch politischen Lagern verbanden, verkomplizierte die Lage zusätzlich und sorgte für fortwährenden Zündstoff. Vor allem sozialdemokratische DMV-Sekretäre wurden nicht müde, die Vorwürfe gegen die Grundannahme ihres „Handelns“ in der Bildungsfrage als politische Verirrung abzutun, wodurch sich Fragen der Schuld, Politik und grundsätzlichen Gewerkschaftsauffassung zu einem schwer zu durchdringenden Argumentationsgewirr verdichteten. Der Gevelsberger Sekretär Oettinghaus versuchte auf der Generalversammlung von 1921 Licht ins Dunkel zu bringen: Wir wollen versuchen, uns näher zu kommen und da sage ich: Es trennt uns sehr wenig. Es scheint viel zu sein und wenn wir es in logische Formen pressen, sehen wir, uns trennt eigentlich nur der Begriff der Masse und des Führers. Ihr Freunde von links habt viel Phantasie. Ihr wünscht, die Massen wären so, wie ihr sie wollt. Damit ist es aber nicht getan. […] Peitschenhiebe, Tatsachen aussprechen, so kann man das Proletariat dahin bringen, wohin ihr es bringen wollt, nicht aber, wenn man von den Massen sagt, sie sind gut, die Führer sind die Verräter und taugen nichts.294
Oettinghaus wies damit implizit darauf hin, dass die Bildungsfrage nur ein Teil der größeren Auseinandersetzung war, die sich zwischen 1918 und 1924 um das Verhältnis zwischen Organisation und Mitgliedern entspann. Die zahlreichen Veränderungen, mit denen sich der Verband in diesen Jahren konfrontiert sah, forcierten dabei, dass sich schon die Einschätzungen der Zeitgenossen in einer großen Bandbreite zwischen Zwangsläufigkeit und Handlungsfähigkeit, zwischen Reflex und Eigeninitiative bewegten. In einer hochdynamischen und für den DMV oft widersprüchlichen Zeit gehörte die Frage der Verantwortung dafür, dass viele Vorhaben auf der 293 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924, S. 27. 294 Die fünfzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1921, S. 252.
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Strecke blieben, deshalb auch zu den umstrittensten Problemen. Vor dem Hintergrund der offensichtlich geringen Neigung vieler Gewerkschafter, die Zeit nach der Revolution synthetisch zu betrachten, erscheint es als umso bemerkenswerter, dass dennoch (oft sehr kurze und wenig beachtete) Artikel erschienen, in denen man sich um eben jene Einordnung bemühte. Darin erscheint der DMV ebenso wenig wie bestimmte Verwaltungsebenen als Opfer oder Täter – vielmehr wird die Frage der Schuld im Masse-Führer-Geflecht gegen die Interpretation eines Dilemmas eingetauscht, in dem sich der Verband im Rahmen von Politik und Wirtschaft, Struktur und Handeln sowie Betrieb und Bezirk befand. Eine dieser Einschätzungen stammt von Georg Berger, der es 1924 vermochte, dieses Dilemma auf nur einer Seite hochaggregiert zu umreißen:295 Seiner Meinung nach war die Krise der Gewerkschaft zweierlei Natur: zum einen form- und zum anderen inhaltsbedingt. Beide Seiten bedingten sich dabei gegenseitig, seien aber auch von äußeren Impulsen beeinflusst. Einen ersten weitreichenden Schlag erhielt dieses System durch die Revolution: Die Gewerkschaften wurden „zur Retorte, in der Grimm und Leidenschaft, jahrelang gespeicherter Groll und geschwellte Hoffnungen Millionen Enterbter, Entwurzelter, Glückarmer brodelten und sich in staats- und wirtschaftspolitische Forderungen umzusetzen trachteten“. Gemeinsam mit der massiven Aufgabenausweitung seien die Verbände dadurch vor Pflichten gestellt worden, die eigentlich nicht zu ihrem Tätigkeitsbereich gehörten, während die Verhältnisse sie mit „Zwangsläufigkeiten“ konfrontierten, denen nur reflexartig und nicht initiativ begegnet werden konnte. Diese Entwicklung habe sie denaturiert, weil sie von nun an den Spagat zwischen volkswirtschaftlicher Integration und Erfüllung des Massenwillens viel unmittelbarer überbrücken mussten als zur Zeit des Kaiserreichs. Die Auflösung dieses Dilemmas gelang ihm zufolge deshalb nicht, weil der Charakter der Organisation, an dem man weiter festhielt, nicht mit dem Charakter des Mitgliederzustroms von 1918/19 und dessen Vertretungsverständnis in Einklang gebracht werden konnte: Der Apparat der Gewerkschaften, zugeschnitten auf eine auserlesene Zahl von Anhängern, denen die Organisation kein Zweckverband zur Verfolgung von Klasseninteressen war, sondern Ausdruck schicksalhafter Verbundenheit, war der Regulierung dieses wild pulsierenden Stromes nicht gewachsen.
Der Mitgliederzustrom durch „heterogene Elemente von ungleicher Psychologie“, der „mehr ein Schwellen, denn [ein] planmäßiger Ausbau“ gewesen sei, habe den Verband mit (politisch gescheiterten) radikalen Hoffnungen gefüllt, deren Quantität die Gewerkschaftsleitungen auf Grund ihrer „Massengläubigkeit“ mit
295 Vgl. Georg Berger, Krise der Gewerkschaften, in: MAZ 42 (1924) 32, S. 104.
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Qualität gleichgesetzt hätten, ohne den entscheidenden Mentalitätsunterschied ernst zu nehmen. Gefangen im „Evangelium der Zahl“ und zunehmend vor Aufgaben gestellt, die die gehegten Hoffnungen enttäuschten, habe sich das Verhältnis zwischen Organisation und Mitgliedern entfremdet: Die Arbeit für den Tag nahm gefangen, aneinandergereite Tarifverhandlungen machten bald den Hauptinhalt der Gewerkschaftsarbeit aus, die aber doch der Mehrzahl der Mitglieder fremd bleiben mußte. Der Massenführer wurde zum Tarifroutinier, Führerqualitäten mußten in der mechanisierten Technik der Lohnbewegungen verkümmern. Der Führer wurde Mandatar der Masse.
Als man erkannte, dass nicht die Zahl, sondern der „Geist“ der Mitglieder entscheidend war, war es bereits zu spät und der massenhafte Zustrom der Revolutionszeit folgte im Zuge der wirtschaftlichen Krise seinem instrumentellen Organisationsverständnis. Alles in allem erlebten daher nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft eine Inflation, sondern auch der DMV, dessen „Mitgliederzuwachs ohne inneren Gewinn“ zwischen 1918 und 1924 nicht mit einer verbandlichen Bindewirkung ausgestattet werden konnte, die über Pragmatismus hinausging. Bergers Schlusseinschätzung, nach der der Verband in Zukunft kleiner, aber geschlossener sein werde, folgten meist auch die Leitungen. In einer geradezu trotzig-erleichterten Art und Weise versuchte man allerdings anders als dieser, dem fehlenden Verständnis der Exmitglieder die Krise in die Schuhe zu schieben. So schrieb der sächsische Bezirksleiter 1923: Die Gewerkschaften sind in neuerer Zeit sehr häufig mit einem Automaten verglichen worden, in den man vorn den Beitrag hineinsteckt, während hinten der erhöhte Lohn herauskommt; je nach dem Grade dieser Lohnerhöhung wurde von den Mitgliedern mehr oder weniger spektakelt und geschimpft auf die Bonzen, die nicht genug für ihre Kollegen tun. Dies Bild trifft in der Tat zu, man traf leider allzu wenig auf verständige Kollegen, die die wirtschaftlichen Verhältnisse überschauten und verstanden.296
Der Vorstand resümierte in ähnlicher Weise: Vielen derer, die dem Verband den Rücken gekehrt haben, fehlte die Einsicht in die Schwierigkeiten und Bedingungen des gewerkschaftlichen Kampfes. Sie nahmen die für gewerkschaftliche Erfolge günstigen Jahre nach der Revolution 1918 für das Wesen der Dinge und führten die ungünstigen Erscheinungen in der letzten Hälfte des Jahres 1923 auf die
296 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1923, S. 50.
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nzulänglichkeit der gewerkschaftlichen Bewegung zurück, statt einzusehen, daß vom VerU band nicht alles erwartet werden kann.297
Sowohl in Stuttgart als auch in Dresden wurden die einschneidenden Verluste schließlich sogar zu einer „Reinigungskrise“ stilisiert, die den Verband von Uneinsichtigkeit und Disziplinlosigkeit befreie und es der Führung erlaubte, die Entwicklung zumindest teilweise positiv-optimistisch umzudeuten. Ohne es explizit auszudrücken, räumte sie dabei ein, dass es sich im Verhältnis zu den „Novembermitgliedern“ um eine versäumte Bildungsbewegung gehandelt hatte: Die Einbuße an innerer Kraft, die der Verband erlitten hat, ist nicht so groß, wie es bei oberflächlicher Betrachtung scheint. Der Zuwachs in den Jahren 1918 bis 1922 und der jetzige Verlust darf nicht nur gezählt, er muß auch gewogen werden. Die Kerntruppen sind dem Verband geblieben und der Verlust wird eingeholt werden, wenn die Aufklärungsarbeit nicht erlahmt. Der Verband muß mehr denn je danach trachten, zuverlässige Funktionäre zu erziehen und die Betriebsräte intensiv zu schulen.298
Noch eindeutiger und endgültiger formulierte es nur der sächsische Bezirksleiter. 1924 endete eine Ära: Es scheint, daß auch in unserer Organisation eine Läuterung eintritt und alles das abgestoßen wird, was seinerzeit nur zwangsweise in die Organisation aufgenommen wurde. Es mag zugegeben werden, daß durch die Unmöglichkeit, Aufklärung in die Kreise der Kollegen zu tragen, dies mitverschuldet worden ist, aber es ist auch eine alte Erfahrung, daß diejenigen, die sich lange nicht um die Organisation gekümmert haben, mit einem male recht radikal wurden, um dann in der Zeit des schlechten Beschäftigungsgrades wieder in das frühere Stadium zurückzufallen. […] Um nun die Organisation weiter aufrecht zu erhalten und wieder vorwärts zu führen, wird es notwendig sein, in bezug auf Aufklärung bedeutend mehr zu tun als bisher. Hoffentlich sind wir in der Lage, in Zukunft die Lohnabschlüsse für längere Zeit vorzunehmen, um in der Zwischenzeit die notwendige Aufklärungsarbeit und Agitation vornehmen zu können. Es ist zu hoffen, daß die nach dem jetzigen Reinigungsprozeß der Organisation treugebliebenen Mitglieder mithelfen werden, die Organisation wieder zu stärken und damit beweisen, daß sie den Wert einer gewerkschaftlichen Organisation erkannt haben.299
297 Ebd., S. 33. 298 Ebd. 299 Ebd., S. 53 f.
6. Die Rationalisierungsphase von 1925 bis 1933 6.1 Die „Rationalisierungswelle“ in Maschinenbau und Hüttenindustrie Rationalisierungsmuster in Sachsen und im Ruhrgebiet
„Verminderung der Arbeitnehmer: ja […] Umschichtung der Gruppen: nein.“ 1 Die „Rationalisierung“, die zwar bereits grundlegender Bestandteil der kapitalistischen Entwicklung vor 1924 gewesen war, sich aber erst danach in Form eines gesellschaftlichen Diskurses manifestierte, führte in beiden Branchen Vorkriegsansätze konsequent weiter.2 Im Kern standen dabei die Modernisierungen des Maschinenparks: Sowohl in der Hüttenindustrie, wo die Umrüstungen auf die Anlagen der neuesten Generation weitergeführt und abgeschlossen wurden, als auch im Maschinenbau, wo man die Schnittgeschwindigkeiten erhöhte und die Nebenzeiten verkürzte, bildeten sie den Hauptbestandteil der Rationalisierungsbewegung.3 Andere Methoden traten demgegenüber in den Hintergrund: Die Zusammenlegung von Betriebsabteilungen spielte in 8,7 Prozent und 7,4 Prozent der Fälle eine Rolle, während die Einführung von Fließarbeit im Maschinenbau
1 So Richard Gäbels Antwort vom 16. 12. 1930 auf die Frage nach den Folgen der Rationalisierung in der Anlage zum Rundschreiben Nr. 16 des Arbeitgeberschutzverbandes der Metallindustriellen im Freistaat Sachsen e. V. vom 12. Dezember 1930, Maschinenfabrik Richard Gäbel, Dresden, in: Sächsisches HStA Dresden, 11659, Nr. 27, S. 1 f. 2 Die Zweifel an der „Neuartigkeit“ des Phänomens veranlassten einige Beobachter dazu, andere Vorschläge zur zeitlichen Einordnung der Prozesse vorzuschlagen. Vgl. König, Konstruieren und Fertigen im deutschen Maschinenbau. Erik Reger legte einem seiner industriellen Protagonisten entsprechende Worte in den Mund: „Wahrhaftig“, sagte er, „welch simple Gebote der Prosperität! Jetzt werden sie als Wirtschaftsmetaphysik neu entdeckt und wandeln im geistigen Aufputz einher. Was ich immer sage, die Alten haben die Probleme gelöst, ohne zu wissen, daß es welche waren. Immerhin. Immerhin.“ Reger, Die Union der festen Hand, S. 420 f. 3 Die große Studie des DMV zur Rationalisierung in der Metallindustrie von 1932 hielt fest, dass diese Form der Rationalisierung in der „Schwereisenindustrie“ in 78,6 Prozent und im „Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Eisenbau“ in 66,9 Prozent der aufgelisteten Fälle zu beobachten war. Keine andere „Auswirkung der Rationalisierung“ erreichte nur ansatzweise solche Werte. Die Rationalisierung in der Metallindustrie. Zusammengestellt und bearbeitet nach Erhebungen des Vorstandes des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Berlin 1933, S. 48, 86.
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stärker forciert wurde (12,3 Prozent gegenüber 6,3 Prozent in der Hüttenindustrie, wo sich jedoch im Grunde genommen mit dem „Crew-System“ schon länger ein Fließprinzip durchgesetzt hatte). Auch die Umstellung auf eine Serienproduktion war im Maschinenbau von größerer Bedeutung (8,9 Prozent gegenüber 0,4 Prozent in der Hüttenindustrie). Die Einführung der Bandarbeit blieb dagegen mit jeweils 1,5 Prozent marginal und erlangte bei weitem nicht die Wichtigkeit, die ihr innerhalb der Rationalisierungsdebatte zugedacht wurde. Neben diesen technisch-organisatorischen Ansätzen versuchten die Unternehmer beider Branchen, eine „Rationalisierung durch Sparen“ 4 zu verwirklichen, die sich (im Schatten einer langjährigen Überkapazität) besonders in der Intensivierung der Arbeitgeberabsprachen, einer lohnkostenbezogenen Unnachgiebigkeit und in der Hüttenindustrie in einer „systematischen Wärme- und Energiewirtschaft“ 5 niederschlug. Obgleich der arbeitsorganisatorische Anteil an der Rationalisierung quantitativ gering ausfiel, war seine diskursive Bedeutung vor allem für den deutschen Maschinenbau ungleich größer. Setzte sich in der Hüttenindustrie zwischen 1925 und 1933 „lediglich“ das unangefochtene „Crew-System“ endgültig durch, geriet die Diskussion um die Wege zur Fließfertigung in den Betrieben des Maschinenbaus zusehends zum Politikum. In dieser ausgesprochen differenzierten Branche, in der jedes Werk ein technisch-organisatorisches Unikum mit unterschiedlichen Produktionspaletten darstellte, machten sich Arbeitgeber, Gewerkschaften und Institutionen wie das RKW oder der REFA Gedanken darüber, wie man dem fließenden Fertigungsideal am nächsten kommen konnte, ohne die notwendige Flexibilität der Unternehmen zu arg zu beschneiden. Dass sich dieser Anspruch jedoch nur in 12,3 Prozent der vom DMV beobachteten Betriebe des „Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Eisenbaus“ teilweise realisieren ließ, wirft bereits ein Licht auf die Grenzen arbeitsorganisatorischen Wandels: Denn ein fließendes Fertigungsprinzip konnte in den 1920er Jahren nur dort etabliert werden, wo große Serienoder gar Massenproduktion vorherrschte. Grundsätzlich blieb es allen Bereichen verschlossen, die weiterhin flexible Einzel- und Kleinserienproduktion betrieben. Der obige Wert, den der Vorstand des DMV veröffentlichte, bezog sich daher auch eher auf den Bau elektrischer Apparate und anderer Massenware als auf den allgemeinen Maschinenbau und muss für den Werkzeugmaschinenbau fast vollständig negiert werden. Während man in Teilbereichen des sächsischen Maschinenbaus, wie zum Beispiel dem Landmaschinenbau,6 schon ab 1925 Erfahrungen mit fließender Arbeit 4 Christian Kleinschmidt, zitiert nach: Welskopp, Arbeit und Macht, S. 451. 5 Ebd. 6 Vgl. Befragung der Firma Sack zum Stand ihrer Fließfertigung vom 16. 1. 1925, Rudolf Sack, Landmaschinenbau Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20793, Nr. 152, Bl. 10, 17.
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bei der Montage oder beim Anstreichen machte, weil es sich um große Serien handelte, waren die Betriebe zur Herstellung von Werkzeugmaschinen davon weit entfernt: Sie hielten weiter an einer kundenbezogenen Kleinserienfertigung fest und überschritten nur selten die Grenze zu größeren Einheiten. Massenfabrikation existierte hier nicht. Sämtliche Rationalisierungsmaßnahmen wurden deshalb vor dem Hintergrund eines stabilen Werkstattprinzips vollzogen, da nur auf diese Weise eine optimale Maschinenauslastung gewährleistet werden konnte und sich Einzel-, Kleinserien- und Ersatzteilefertigung flexibel integrieren ließen.7 Um die flexible Produktion dem Fließprinzip dennoch möglichst weit anzunähern, forcierte man die Vereinfachung und Vereinheitlichung des innerbetrieblichen Transports, führte einen regelrechten Krieg gegen „unproduktive Zeiten“ und experimentierte mit Mischsystemen wie der Linienfertigung mit Zwischenlagern für einzelne Baugruppen.8 Da starre Fertigungssysteme das Gebot der Flexibilität durchbrochen hätten, wurde die Arbeitsorganisation Stück für Stück reformiert – in den meisten Fällen erwies sich jedoch eine Veränderung über den „organisatorischen Arbeitsfluss“ hinaus als kontraproduktiv und Elemente des „formellen Arbeitsflusses“ blieben bis 1933 eher eine Seltenheit.9 Gerade für mittelständische Maschinenbauunternehmen bildete die Einführung der partiellen Gruppenfabrikation, bei der alle Bearbeitungsschritte eines Teilsystems an eine Arbeitergruppe delegiert wurden, das Höchstmaß organisatorischen Wandels,10 wobei selbst dieser Ansatz den „Crews“ vergleichbar hohe Elastizitätseinbußen in einem unsicheren Markt mit sich brachte und daher
7 Vgl. Haas, Spanende Metallbearbeitung, S. 313 ff; vgl. Volker Stöhr, „Deutsche“ Wege der Rationalisierung im Nationalsozialismus – dargestellt am Beispiel der sächsischen Maschinenbauindustrie, in: Klaus Gumnior (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des sächsischen Werkzeugmaschinenbaus, S. 114. 8 Vgl. Haas, Spanende Metallbearbeitung, S. 313; besonders in mittelständischen Maschinenbetrieben steigerte sich der Kampf gegen die „unproduktiven Zeiten“ geradezu zur Obsession. Exemplarisch dafür: Geschäftsbericht 1926, Fa. Maschinenfabrik Richard Gäbel, Dresden, in: Sächsisches HStA Dresden, 11659, Nr. 9, Bl. 2 f. 9 Zur schrittweisen Anpassung entwarf E. Michel 1925 die Entwicklungsstufen der fließenden Fertigung. An deren Beginn stand der „initiative Arbeitsfluß“, der die vollkommende Autonomie der Werkstatt vorsah, woran sich bereits der „organisatorische Arbeitsfluß“ anschloss, den eine Arbeitsvorbereitung, Planung und Kontrolle bei gleichzeitig weiterhin maßgeblicher Werkstatt auszeichne. Im „formellen Arbeitsfluß“ befanden sich die Maschinen und Arbeitsplätze bereits in der Reihenfolge der Bearbeitung, ohne jedoch Zwischenlager oder eine Arbeitsgeschwindigkeit vorzugeben. Vgl. Thomas von Freyberg, Industrielle Rationalisierung in der Weimarer Republik. Untersucht an Beispielen aus dem Maschinenbau und der Elektroindustrie, Frankfurt am Main/New York 1989, S. 145 – 149. 10 Vgl. Willy Hellpach/Richard Lang, Gruppenfabrikation, Berlin 1922; vgl. Freyberg, Industrielle Rationalisierung, S. 157.
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nicht selten rückgängig gemacht wurde. Einstweilen blieb das Werkstattprinzip trotz seiner Defizite das Nonplusultra. Erst in den 1930er und 1940er Jahren hielten Ideen des „mechanischen“ und „rhythmischen Arbeitsflusses“ Einzug in den Werkzeugmaschinenbau von Unternehmen wie Pittler in Leipzig, Werner in Berlin oder Wanderer in Chemnitz.11 Auf Grund dieser Probleme, Flexibilitäts- und Fließfertigungserwägungen in Einklang zu bringen, erklärt sich auch die herausragende Bedeutung der Zeitstudien, die sich im deutschen Maschinenbau nach 1924 rasant ausbreiteten und schnell zur betrieblichen Tagesordnung gehörten. Ihnen kam von vornherein nicht so sehr der Aspekt der Lohnreduktion zu – sie boten vielmehr die einzige verlässliche Möglichkeit, Kosten- und Zeitkalkulation in einem ansonsten weiter dezentralen Fertigungssystem zu perfektionieren und Kontrolle über Lieferverträge zu gewinnen.12 Durch ihre Vorbedingungen und ihre grundsätzliche Ausrichtung entwickelten sie sich aber dennoch mittelfristig zum Motor der betrieblichen Intensivierung, Beschleunigung und letztlich auch der Lohnreduktion. Denn jede Zeitstudie bedingte zunächst Produktionsstudien: Werkzeuge und Maschinen mussten auf den neuesten Stand gebracht, Vorrichtungen beschafft und die Anordnung der Arbeits- und Transportprozesse überdacht werden. Hatte man die Wiederholbarkeit der Fertigungsabläufe (gemeinsam mit den übrigen Rationalisierungsmaßnahmen) einmal gesteigert und durch die Zeitstudien Kontrolle über die Abläufe erlangt, ging es sehr schnell nicht mehr um die Kalkulation allein – die Studien konnten zur betrieblichen Disziplinierung und Überwachung von Arbeitsprozessen benutzt werden, deckten Engpässe effektiver auf und eröffneten damit neue Ansatzpunkte für Umgestaltung und Beschleunigung.13 In der Anwendbarkeit der Zeitstudie und ihrer rationalisierenden Wirkung unterschieden sich verschiedene Bereiche des Maschinenbaus aus diesen Gründen auch beträchtlich: Überall dort, wo die Maschinenarbeit an standardisierten, austauschbaren Teilen überwog und Massenprodukte hergestellt wurden, offenbarten die Studien gewaltiges Rationalisierungspotential. So entwickelten sich aus den Zeit- und Akkordmessungen der Kalkulatorenkolonne der Wanderer-Werke (seit 1924) das erste deutsche Montageband für Fahrräder (1925) und die Fließfertigung für Schreibmaschinen, Autos und Motorräder (ab 1926).14 Solange jedoch seltene oder einmalige Bearbei 11 In der Baugruppen- und Fertigmontage verkettete man die einzelnen Schritte beispielsweise in Form einer zeitlichen Taktung. Vgl. Haas, Spanende Metallbearbeitung, S. 313; vgl. Führer durch die Werkstätten in Leipzig! von 1935, Pittler-Werkzeugmaschinenfabrik AG Leipzig-Wahren, in: Sächsisches StA Leipzig, 20792. 12 Vgl. Freyberg, Industrielle Rationalisierung, S. 132. 13 Vgl. ebd., S. 136 f. 14 Vgl. Schaller, Das „Sechstagerennen“, S. 39 f.
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tungsschritte anfielen, vielseitige Anforderungen an menschliche Qualifikationen gestellt wurden und der Arbeitsprozess Elemente des Probierens und Annäherns beinhaltete, gelangten Zeitstudien an die Grenzen des Fertigungscharakters. In den meisten Bereichen des allgemeinen und Werkzeugmaschinenbaus war daher erst einmal nicht die Zeitstudie maßgeblich, sondern die Produktionsstudie und die parallele Anpassung der Produktionspalette, um die Zeitstudie zu ermöglichen. Ein großer Teil der Rationalisierung im Maschinenbau vor 1933 präsentierte sich deshalb als Bemühung um Planung, Modernisierung, Vereinfachung und Vereinheitlichung, während die Arbeitsorganisation noch keine grundlegende Umgestaltung erfahren konnte.15 Eine gute Zusammenstellung dieser Form der Rationalisierung in einem Werkstattprinzip eröffnete der Oberingenieur Wirth 1930 der Direktion der Maschinenfabrik Schütz in Wurzen, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war: Er mahnte eine „veraltete Organisation“ 16 an, die ohne Elemente der Typisierung beinahe alles in Einzelfertigung herstellte. Auf Grund des Fehlens einer Arbeitsvorbereitung würden verschiedene Abteilungen letztlich gegeneinander produzieren und man arbeite „ohne die modernen Errungenschaften“ weitgehend auf dem Vorkriegsniveau. Als zu beachtende Grundregeln der „Errungenschaften“ hielt er fest: 1. richtige Maschine für den Arbeitsschritt, 2. Bereitschaft der Arbeitsmaschinen in technischer Hinsicht, 3. vorherige Fristenplanung der Bearbeitungszeiten, 4. vorherige Fristenplanung in Bezug auf die Maschinen, 5. rechtzeitige und richtige Akkordvorgabe, 6. Bereitstellung des Fertigungsstoffes, 7. Übereinstimmung des Fertigungsstoffes mit den Stücklistenvorschriften (der Bestellung entsprechend, maßhaltig, Toleranz, Materialvorschriften), 8. rechtzeitige Bereitstellung der notwendigen Werkzeuge in gutem Zustand, 9. planmäßige Aufstellung des Verlaufs der Arbeitsgänge, 10. Überwachung von Leistung, Güte und Frist durch entsprechende Arbeitsorganisation, 11. einwandfreie Zeichnungsangaben in Bezug auf Bearbeitung, Maßhaltigkeit, Güte. Erst diese Maßnahmen würden eine Vorberechnung der Bearbeitungs- und Maschinenzeiten ermöglichen und zu „korrekten“ Akkordlöhnen führen.
15 Einen lange Zeit sehr hohen Grad des „Arbeitsflusses“ für einen Werkzeugmaschinenhersteller wies die Firma Hille in Dresden auf: „Ein Rundgang durch die Hallen zeigt eine große Anzahl der für die Fabrikation bestimmten Werkzeugmaschinen nach modernen Betriebsgrundsätzen angeordnet. Dazwischen, den einzelnen Fabrikationszweigen zweckentsprechend, liegen die Teil- und Fertigmontagen.“ Einen qualitativen Schritt ging man dort 1933 mit der Einrichtung von „Bohrstraßen.“ Vgl. Betriebsgeschichte 1834 – 1945, Hille-Werke AG, Dresden, in: Sächsisches HStA Dresden, 11660, Nr. 358, Bl. 12, 42. 16 Überprüfung des Betriebes durch Oberingenieur Wirth 1930, G. A. Schütz Maschinenfabrik und Eisengießerei Wurzen, in: Sächsisches StA Leipzig, 20835, Nr. 52, Bl. 15 f, 36 ff.
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Neben den technisch-organisatorischen Veränderungen umfasste die „Rationalisierungswelle“ seit Mitte der 1920er Jahre auch marktstrategische Ansätze, wofür in beiden Branchen vor allem eine selbstverschuldete Überkapazitätskrise 17 und im Maschinenbau noch dazu das Dilemma zwischen Flexibilität und Markt verantwortlich war. Zunächst handelte es sich daher um eine Zeit breiter organisatorischer Umgestaltungen der Konzernlandschaft. Fusionen und Aufteilungen von Produktgruppen sollten die gegenseitige Konkurrenz eindämmen und den Absatz sichern. Während die Unternehmen an der Ruhr zu gewaltigen Konglomeraten wuchsen, von denen die Vereinigten Stahlwerke sicherlich das expansivste darstellten,18 fusionierten zahlreiche deutsche Werkzeugmaschinenbauunternehmen zu Interessengemeinschaften und neuen Konzernen, in denen Produktpaletten abgestimmt wurden. So ging die Werkzeugmaschinenfabrik Union zum Beispiel im Bohrwerkskonzern auf,19 die Sondermann & Stier AG sowie das Unternehmen Oscar Ehrlich wurden Teil des Kahn-Konzerns, und die Zimmermann’sche Werkzeugmaschinenfabrik schloss sich der Leipziger Wotanwerke AG an.20 Gleiches galt für die Aufteilung des Fabrikationsprogramms zwischen der Chemnitzer Firma Schüttoff und den Dresdner Firmen Hille und Auerbach & Co.21 Nicht wenige Chemnitzer Maschinenbaufirmen stellten seit Mitte der 1920er Jahre aber auch Teile ihres Programms ersatzlos ein und spezialisierten sich dadurch auf andere Weise auf bestimmte Maschinentypen. Die Aufgabe des gesamten Werkzeugmaschinenbaus durch die Sächsische Maschinenfabrik, vorm. Richard Hartmann AG (1926) stellte dabei einen öffentlichkeitswirksamen Extremfall dar, der offenbarte, wie groß die Absatzprobleme bei der drückenden Überkapazität geworden waren.22 17 Vgl. Christian Kleinschmidt/Thomas Welskopp, Zu viel „Scale“ zu wenig „Scope“. Eine Auseinandersetzung mit Alfred D. Chandlers Analyse der deutschen Eisen- und Stahlindustrie in der Zwischenkriegszeit, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1993) 2, S. 251 – 297. 18 Zur Expansion der einzelnen Eisen- und Stahlunternehmen veröffentlichte der DMV regelmäßig „Ankaufslisten“. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1927. Jahrund Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1928, S. 69; vgl. Alfred Reckendrees, Das „Stahltrust“Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A. G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926 – 1933/34, München 2000. 19 Vgl. Bock, 150 Jahre Werkzeugmaschinenfabrik UNION Chemnitz, S. 152. 20 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1929. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1930, S. 62. 21 Vgl. Betriebsgeschichte 1834 – 1945, Bl. 11. 22 Vgl. Wolfgang Uhlmann, Der Chemnitzer Maschinenbau in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts, in: Sächsische Heimatblätter 41 (1995) 3, S. 143.
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Diese Formen der Rationalisierung durch Umbau der Unternehmensform und Spezialisierung wurden durch produktspezifische Formen der Vereinheitlichung begleitet, mit denen man besonders im Maschinenbau versuchte, die flexible Kundenproduktion mit den Marktbedingungen abzustimmen. Darunter fielen unter anderem verstärkte Bemühungen zur Normung und Typung des Produktionsprogramms, wobei die Wanderer-Werke eine Vorreiterrolle spielten: Hier gelang es schon früh, die Einzelteile für die erfolgreiche Fräsmaschinenfertigung zu beschränken, die Konstruktionsvielfalt einzudämmen und dadurch Kosten durch eine größere Massenhaftigkeit austauschbarer Teile zu sparen (Normung). Gleichzeitig verwendete man für alle Modelle standardisierte Baugruppen, wodurch die Produktpalette reduziert und Maschinen rationeller in Reihenherstellung produziert werden konnten (Typung).23 Für verschiedene Maschinentypen richtete man zu diesem Zweck Baukastensysteme und Bearbeitungseinheiten ein, die sowohl der „inneren“ wie der „äußeren Rationalisierung“ dienen und einen Beitrag zur Vereinbarkeit von Flexibilität und größerer Serienproduktion leisten sollten. Baukastensysteme für Universalmaschinen zielten dabei auf die Erhöhung der Stückzahlen der Hersteller und eine übersichtlichere/planbarere Fertigung („innere Rationalisierung“), während Bearbeitungseinheiten für Sondermaschinen zu einer schnelleren Umrüstung durch den Anwender führten („äußere Rationalisierung“).24 Exemplarisch stand dafür die Einschätzung der Revolverdrehbänke von Auerbach & Co. durch die Direktion der Hille-Werke: Sämtliche Maschinen lassen sich für die Vor- und Fertigbearbeitung einsetzen und tragen wesentlich zur Verkürzung der Herstellungskosten bei. Ausschlaggebend sind hier die Stückzeiten, die sich um ein bedeutendes verringern, da in einer Aufspannung mehrere Arbeitsgänge vorgenommen werden können, ohne daß ein öfterer Werkzeugwechsel erfolgt.25
Sämtliche Rationalisierungsmaßnahmen der Unternehmen beider Branchen hatten in ihren sowohl leistungssteigernden als auch kostensparenden Folgen damit zu kämpfen, dass für die Erhöhung der Produktion und Effizienz gar kein Absatzmarkt existierte. Der Trugschluss, den defizitären Resultaten vorangegangener Rationalisierung mit weiteren Modernisierungen und Expansionen begegnen zu können, schlug sich in einer gewaltigen Überkapazität und folglich einer niedrigen Auslastung der Werke nieder. Während sich der Auslastungsgrad der Beitrittswerke vor der Gründung der Vereinigten Stahlwerke (1925) für die meisten
23 Vgl. Haas, Spanende Metallbearbeitung, S. 294, 299. 24 Vgl. ebd., S. 316 ff. 25 Betriebsgeschichte 1834 – 1945, Bl. 26.
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Die Rationalisierungsphase von 1925 bis 1933
Produkte bei etwa 50 Prozent befand und nur für Koks und Thomasstahl höher lag,26 sah es im Chemnitzer Maschinenbau noch schlechter aus: 1924 betrug er für den Werkzeugmaschinenbau ca. 50 Prozent und für den Bau schwerer Maschinen (etwa für die Hüttenindustrie) nur 20 Prozent 27 – eine Lage, die sich für den gesamten Maschinenbau bis 1926 nicht verbesserte (51 Prozent) und bis 1929 etwas entspannte (74,3 Prozent).28 Trotz der Versuche vieler Firmen, den Absatz der Produkte über eine Perfektionierung des Verkaufs (etwa auf Messen) sicherzustellen, blieben sie in den 1920er Jahren nicht selten auf ihren Maschinen sitzen. Denn das Investitionsklima hatte sich 1923/24 drastisch verändert: Potentielle Käufer von Werkzeugmaschinen hielten sich zusehends zurück, und der Inlandsabsatz brach ein, während man auch im Auslandsgeschäft nicht an die Erfolge aus der Vorkriegszeit anknüpfen konnte. Und obwohl zwischen 1926 und 1929 eine leichte Konsolidierung eintrat, blieben die Probleme der meisten Hersteller in Chemnitz bestehen: Der Kapitalmangel, die Flurbereinigung durch externe Übernahmen und Managementfehler summierten sich, und die Werke wurden bei konjunkturellen Schwierigkeiten anfällig. Hinzu kam die ungünstige Stellung des Werkzeugmaschinenbaus im Investitionsgeflecht: Wenn die Maschinenindustrie als diejenige gilt, die bei der aufsteigenden wirtschaftlichen Bewegung am letzten zum Zuge kommt und von dem Niedergang am ersten getroffen wird – ersteres deshalb, weil der Fabrikant erst Umfang und Dauer der Nachfrage erfahren möchte, ehe er zu Neubestellungen schreitet; letzteres aus dem Grunde, weil beim Eintritt schlechter Zeiten jedermann mit Aufträgen zur Ausrüstung seines Betriebes zurückhält – so gilt das von dem Werkzeugmaschinenzweig in umso höherem Grade.29
Als 1929 mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise die Inlandsnachfrage vollkommen einbrach, überdauerten nur die Unternehmen, deren Leitungen sich rechtzeitig auf neuen Märkten positioniert hatten: So verhinderte einstweilen nur der Maschinenexport in die Sowjetunion (die so genannten Russengeschäfte) Schlimmeres.30 Firmen wie Escher, Pfauter, Biernacki, Wanderer, Union und besonders
26 27 28 29
Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 461. Vgl. Naumann, Werkzeugmaschinenbau in Sachsen, S. 51. Vgl. Freyberg, Industrielle Rationalisierung, S. 175 f. Paul Steller, Die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900 ff., Vaduz 1990, S. 45. 30 Vgl. Stadtarchiv Karl-Marx-Stadt (Hrsg.), Traditionen der Freundschaft. Beiträge über die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Stadt Karl-Marx-Stadt seit dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Karl-Marx-Stadt 1988.
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Reinecker verzeichneten teilweise glänzende Gewinne,31 während ein großer Teil des regionalen Werkzeugmaschinenbaus in dieser Zeit einging.32 Den Fakt, dass der Niedergang der Chemnitzer Industrie mehr war als nur ein vorübergehendes Phänomen, erkannte ein Stadtverordneter der DNVP schon im April 1930: Die Stadt sei ein „Friedhof der Metallindustrie“.33 Seine herausragende wirtschaftliche Bedeutung gewann Chemnitz nach der Weltwirtschaftskrise dementsprechend auch nicht wieder. In der Eisen- und Stahlindustrie offenbarte sich die „Ambivalenz der Rationalisierung“ 34 auf ähnliche Weise, obgleich es dort nicht ganze Unternehmen, sondern die Einzelteile der Trusts waren, die stillgelegt wurden. Dem Hinterherhinken der Produktion hinter der Kapazität, das sich trotz einer gewaltigen Leistungssteigerung in der gedrosselten Arbeit von nur einer oder zweier Schichten manifestierte, begegneten die Ruhrindustriellen während und nach der Absatzkrise von 1924 bis 1926 mit einer erneuten massiven Modernisierungsbewegung, durch die die Kapazitäten nochmals deutlich erweitert wurden. Dadurch geriet man in die paradoxe Situation, nur bei einer vollen Auslastung der Werke auch rentabel produzieren zu können, und rationalisierte sich immer weiter in die Krise hinein. Denn mittelfristig waren die Ansätze einer Modernisierung und Expansion unter den Bedingungen der Überkapazität nicht mit dem Streben der Einzelwerke vereinbar, ihre geringen Rentabilitätsspielräume zu verteidigen. Massenproduktion erforderte auch Massenabsatz: Die großen deutschen „Wirtschaftsführer“ fassen die Sache natürlich anders an. Sie produzieren in Massen drauflos, klammern sich an unsinnig hohe Warenpreise, stapeln die Lager voll, legen den Betrieb still und leben dann vom Verkauf der aufgestapelten Waren. Das sind dann die Krisen mit der besonderen deutschen Eigenart. Die Voraussetzung für Fließarbeit ist ein Massenabsatz der Waren.35
31 Allein Reinecker lieferte 1931 für sieben Millionen Mark in die UdSSR, was 70 Prozent des Absatzes der Firma ausmachte. Vgl. Schaller, Das „Sechstagerennen“, S. 19. Vgl. auch Geschäftsbericht 1929/30 und Geschäftsbericht 1930/31, J. E. Reinecker AG, ChemnitzGablenz, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31007, Nr. 235. 32 Darunter Traditionsfirmen wie die Sächsische Maschinenfabrik, vorm. Richard Hartmann AG, Oscar Ehrlich oder die Deutsche Werkzeugmaschinenfabrik, vorm. Sondermann & Stier. 33 Amtliche Mitteilung auf Grund der stenographischen Berichte aus der 7. öffentlichen Sitzung der Stadtverordneten zu Chemnitz vom 15. 4. 1930, S. 291. Zit. nach: Schaller, Das „Sechstagerennen“, S. 19. 34 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 465. 35 P. H., Fließarbeit, in: MAZ 44 (1926) 14, S. 58.
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Die Folgen der Rationalisierungswelle für die Arbeiterschaft
Die Folgen der rationalisierten Überkapazität bei parallelen Absatzproblemen waren sowohl für die Metallarbeiter wie auch den DMV vielfältig und im Grunde genommen durchweg negativer Natur. Die deutlichen Leistungssteigerungen der Maschinen und Anlagen bei sinkenden Besatzungen bedingten eine effizientere Ausnutzung der Arbeitskraft und eine Reduzierung der Belegschaften in Maschinenbau und Hüttenindustrie. Ob diese Verschiebung auf die Absatzkrise oder die Rationalisierung zurückzuführen war (so unterschied es der DMV), musste bei deren Zusammenhang zweitrangig sein. In seiner Rationalisierungsstudie hielt der Verband fest, dass in der Eisen- und Metallgewinnung insgesamt 93.667 und im Maschinenbau 59.658 Arbeiter entlassen worden waren.36 In der Hüttenindustrie war dieser Prozess sogar mit einer Halbierung der berufsgenossenschaftlich versicherten Arbeiter von 1922 bis 1930 verbunden.37 Vor allem in den Jahren 1924 bis 1926 und ab 1929 gingen mit der „Rationalisierung“ für die Arbeiter beider Branchen daher oft Lohnkürzungen und/oder Entlassungen einher.38 Doch als drohendes Damoklesschwert beherrschte die Arbeitslosigkeit auch die Gedanken der meisten DMV-Sekretäre und städtischen Beamten, auf die eine Belastung zukam, die man bis dahin nur kurzfristig in den ersten Kriegsmonaten erlebt hatte. Anders als für die Kommunen bedeuteten die Jahre der Arbeitslosigkeit für den DMV (neben drastischen Mehrausgaben) jedoch einen realen Machtverlust: Denn in Zeiten, in denen regelmäßig jedes vierte bis fünfte Mitglied arbeitslos war (1924 – 1926),39 standen diese Arbeiter weder als zu mobilisierende Drohkulisse noch als Streikende und betriebliche „Kleinarbeiter“ zur Verfügung. Noch dazu sank die Bereitschaft, sich in gewerkschaftliches Handeln aktiv einzubinden, stark ab und die Austrittsneigung nahm bei vielen zu. Die Tatsachen, 36 Die Rationalisierung in der Metallindustrie, S. 25. 37 1922 lag deren Zahl bei 221.933, 1930 nur noch bei 111.487. Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 635. 38 Die Zahl der verfügbaren Quellen für diese Entwicklung ist allein im sächsischen Maschinenbau gewaltig. Die Bekanntgaben von Lohnkürzungen und Entlassungen dominierten in den genannten Jahren die betrieblichen Aushänge und internen Mitteilungen deutlich. Vgl. etwa Protokolle der Betriebsratssitzungen vom 15. bis 18. 5. 1928, Rudolf Sack, Landmaschinenbau Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20793, Nr. 121, Bl. 62; vgl. Geschäftsbericht 1926, Richard Gäbel, Bl. 2 f; vgl. Geschäftsbericht 1929/30, Reinecker AG, Bl. 3; vgl. Belegschaftszusammensetzung am 1. Juli 1933, Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar Abteilung Hermann und Alfred Escher, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31029, Nr. 127. 39 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1926. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1927, S. 72.
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dass 1929 allein im mittleren Sachsen 12.000 Arbeitskräfte entlassen wurden,40 die Gesamtarbeiterzahl in Sachsen zwischen 1928 und 1930 um 20 Prozent sank, 1930 über 3000 sächsische Betriebe stillgelegt wurden 41 und in Chemnitz in vier Jahren (1928 – 1932) 47 Prozent aller Beschäftigten im Maschinen- und Apparatebau ihre Arbeit verloren,42 waren für den DMV daher mehr als nur ein finanzielles Problem. Nicht nur dem gewerkschaftlichen „Butter-und-Brot-Geschäft“ wurde im wirtschaftlichen Niedergang die Grundlage entzogen – auch der aktiven Arbeit „nach innen“ versetzte die Arbeitslosigkeit einen schweren Schlag. Sowohl in Chemnitz als auch im Ruhrgebiet degradierten der Wegfall der Verhandlungsgrundlage und die Paralysierung vieler Mitglieder den Verband zum Zuschauer und häufig auch zum Verwalter seines eigenen Niedergangs. Auf der betrieblichen Ebene ist anzunehmen, dass sich die meisten Arbeiter auch der Verbindung von „Rationalisierung“ und Arbeitsintensivierung bewusst waren, mussten doch die betrieblichen Veränderungen innerhalb weniger Jahre diese Interpretation selbst dem letzten Arbeiter nahelegen. Denn neben den Lohn- und vor allem Akkordreduzierungen sowie den Entlassungen wurden sie in ihren täglichen Arbeitsaufgaben mit einer steigenden Beschleunigung konfrontiert. Die immer größeren Gewichte, die kleiner werdende „Crews“ in ihrer Schicht verhütteten oder frischten, fanden ihr Pendant dabei in kürzeren Umrüstzeiten, höheren Spanleistungen und einem sich ausbreitenden Mehrmaschinenwesen im Maschinenbau. Besonders dort, wo größere Serien gefertigt wurden, ging mit der Verschiebung mancher Spanprozesse auf andere Maschinentypen auch eine Dequalifizierung des Maschinenarbeiters einher. Dies betraf zum Beispiel den Wegfall feinerer Dreharbeiten durch genauere Schleifmaschinen oder die Ablösung des Gewindeschneidens durch das Gewindefräsen: Ferner kommt hinzu, daß das Gewindefräsen selbsttätig erfolgt und daher ein ungelernter Arbeiter mehrere Maschinen bedienen kann. Das Gewindefräsen ermöglicht es, schwierige Werkstücke einfach, sicher und schnell zu bearbeiten, worin ebenfalls eine wirtschaftliche Bedeutung dieses Verfahrens begründet ist“ 43
Die Einsendungen, die der DMV während der Arbeit an der Rationalisierungsstudie Anfang der 1930er Jahre aus dem allgemeinen Maschinenbau erhielt, zeugen dies 40 Vgl. Arbeitsbeschränkung durch Rationalisierung, in: MAZ 48 (1930) 24, S. 191. 41 Vgl. K. Vogel, Die Krise in Sachsen, in: MAZ 49 (1931) 33, S. 248. 42 Mit 185 Erwerbslosen auf 1000 Einwohner war Chemnitz mit Abstand der reichsweite Spitzenreiter in dieser Statistik. Vgl. Uhlmann, Der Chemnitzer Maschinenbau in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts, S. 144. 43 Betriebsgeschichte 1834 – 1945, Bl. 23.
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bezüglich von einem Rationalisierungsmuster, das für die Arbeiter im Wesentlichen Mehrbelastung und teilweise Degradierung und Entlassung bedeutete: Die Entlassung von Arbeitern ist auf die Verbesserung in der Produktion zurückzuführen, so daß heute wesentlich kürzere Zeiten für die einzelnen Arbeitsgänge zu buchen sind, wohl aber erfordern sie schnellere Anpassung an das Tempo. Durch Einführung hochwertiger Schleifmaschinen sind viele Arbeiten der Dreherei weggefallen; es erfolgt nur ein Vorschruppen. Wellen und andere Sachen werden vorwiegend geschliffen, was bei der für unsere Maschinen erforderlichen Genauigkeit von großem Vorteil ist, wobei natürlich auch wesentlich kürzere Zeiten und damit verbunden niedrigere Gestehungspreise folgen müssen. Weiter werden auch viele Teile nicht mehr bearbeitet. Einfaches Schleifen und Verputzen von Gußteilen, früher von Teilschlossern ausgeführt, werden heute nach der Zerlegung der Herstellung von ungelernten Kräften ausgeführt. […] Man kann kurz zusammenfassen: Einführung neuer Maschinen, Anpassung der Arbeitsweise, Verbesserung der Werkzeuge, Festlegung der Zeiten nach Zeitakkorden, erhöhte Arbeitsleistungen haben auch die Verringerung der Belegschaft gebracht.44
In Produktionsbereichen, in denen Elemente der Normung und Typisierung einheitlichere Fertigungsprozesse ermöglicht hatten, kam es nicht selten vor, dass ein Arbeiter mehr als drei Maschinen bediente und sich das Arbeitstempo auch in den anschließenden Schritten beschleunigte. Leistungsfähigere Maschinen und die parallele Intensivierung durch Zeitstudien steigerten den Teiledurchlauf für den Maschinenarbeiter immens und sorgten nebenbei für das nötige Engagement, um auf die alte Lohnhöhe zu gelangen: Eine Maschine, die jetzt älter als fünf Jahre ist, gibt es nicht. Eine Fräsmaschine ersetzt vier Hobelmaschinen. Bei der Spezialwalzendrehbank ist jetzt ein Mann in der Lage, sechs Walzen in der Zeit zu drehen, in der früher eine Walze gedreht wurde. Bei den Revolverdrehbänken liegt es ähnlich. Durch Normalisierung einzelner Maschinen und durch die Serienbearbeitung sind die Akkorde in der Schlosserei und Kesselschmiede teilweise um 50 vH gedrückt. Zweifellos arbeitet heute jeder einzelne Mann mehr, um seinen Verdienst zu halten.45
Bestand für die Unternehmensleitung gar die Möglichkeit, eine fließende Fertigung von Massenprodukten einzuführen, glich sich der Arbeitsrhythmus vollends an den Maschinen- und Transportrhythmus an. Für die Arbeiter gehörte dieser Schritt sicherlich zu den einschneidendsten Umbrüchen, erhöhte er doch nicht
44 Die Rationalisierung in der Metallindustrie, S. 91 f. 45 Ebd., S. 93.
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nur die Arbeitsgeschwindigkeit, sondern auch die Gefahr der Entlassung nochmals beträchtlich. Es ist kaum verwunderlich, dass Abteilungen der Wanderer-Werke, in denen solch eine Organisation bestand, als „Knochenquetsche“ 46 verschrien waren. Die Umstellung veranschaulicht eine Zuschrift an den DMV: Es erfolgte Umstellung auf Fließarbeit. Der seither ungemischte Drehereibetrieb [Werkstattprinzip] wurde mit Bohr- und Fräsmaschinen durchsetzt, so daß zahlreiche Transporte von Abteilung zu Abteilung in Wegfall kommen und ein rascher Durchlauf der Aufträge ermöglicht wird. Wegfall von Transporten, Zunahme von Angelernten. Neu angeschafft Stanz- und Drehautomaten, Revolverdrehbänke, Aufzug. Durch Verwendung hochwertiger Werkzeugstähle wurden die Werkzeugmaschinen auf eine hohe Umdrehungszahl umgebaut. Gelernte Dreher wurden durch die Automaten und Revolverdrehbänke überzählig, es werden Ungelernte verwendet. Für Automaten wurden in der Regel ungelernte Hilfskräfte, an den Revolverbänken angelernte Arbeiter verwendet. […] Die angeschafften Maschinen, Umbauten usw. können bei völliger Ausnutzung eine Steigerung der Produktion um 40 vH ohne Vergrößerung der Arbeiterzahl bewältigen.47
Was eine entsprechende Arbeitsorganisation ohne völlige Ausnutzung bewirkte, offenbarte die zweite Hälfte der 1920er Jahre sowohl im Ruhrgebiet als auch in Chemnitz. Man rationalisierte auf Grund der Absatzprobleme in eine Sackgasse hinein und sorgte dafür, dass mit der Rationalisierung in der Arbeiterschaft einzig ihre negativen Folgen in Verbindung gebracht wurden: Beschleunigung, Unfallgefahr,48 Lohnreduzierung und Entlassung. Dennoch bildeten die Eisen 46 Schaller, Das „Sechstagerennen“, S. 40. 47 Die Rationalisierung in der Metallindustrie, S. 93. 48 Mit der Arbeitsbeschleunigung gingen in der zweiten Hälfte der 20er Jahre stark steigende Unfallzahlen einher. Fälle und ihre Ursachen schildert für die Eisen- und Stahlindustrie: Paul Didier, Neue Gesichtspunkte für die Unfallverhütung in der Großeisenindustrie von Rheinland und Westfalen durch statistische Auswertung der Unfallanzeigen und durch Bekanntgabe und Erläuterung der in Aussicht genommenen neuen Unfallverhütungsvorschriften für die wichtigsten Betriebe dieser Industrie, Düsseldorf 1931; Für den Maschinenbau vgl. Unfälle 1925 – 1934, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 631. In diesen zehn Jahren ereigneten sich im Werk mehr als eintausend Unfälle, bei denen in der Regel die Augen, die Hände oder die Füße der Arbeiter betroffen waren. Dennoch nahmen einige Werksleitungen die Vorschriften zur Unfallverhütung nicht ernst und mussten oft mehrfach von der Berufsgenossenschaft ermahnt werden. Vgl. Schriftverkehr mit der Mitteldeutschen Eisen-Berufsgenossenschaft 1914 – 1930, Fa. Hermann & Alfred Escher, Werkzeugmaschinenfabrik AG, Siegmar, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31026, Nr. 89. Den Zusammenhang zwischen Rationalisierung/Beschleunigung und Unfallanfälligkeit veranschaulichen hingegen die Unfallzahlen
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und Stahlindustrie und der Werkzeugmaschinenbau Bereiche, in denen Arbeitsmonotonie und die Zerstörung betrieblicher Spielräume der Arbeiter weniger zur Tagesordnung gehörten. So mochten in der dezentral integrierten Fertigung durch die „Crews“ und im Werkstattprinzip der meisten Werkzeugmaschinenfabriken zwar die Massen und Geschwindigkeiten rapide gesteigert worden sein – an dem Umstand, dass mit diesen Arbeitsorganisationen immense Dispositionsspielräume der Arbeiter einhergingen, änderte dies kaum etwas. Besonders in den Eisen-, Stahl- und Walzwerken lebte die Fertigung von der relativ selbstständigen, kaum aktiv kontrollierbaren und gruppenbezogenen Tätigkeit qualifizierter Produktionsarbeiter, die selbstbewusst betriebliche Mitspracherechte einforderten und als konstantes „Störpotential“ in Erscheinung traten.49 Gleiches galt, wenn auch aus anderen arbeitsorganisatorischen Gründen, für die Belegschaften im Werkzeugmaschinenbau, wo die Entwicklungstendenzen des allgemeinen Maschinenbaus immer noch an die Grenzen der experimentellen Einzel- und Kleinserienfertigung stießen. Dementsprechend zeigte sich die Qualifikationsstruktur dieses Bereichs auch widerstandsfähiger: Qualifizierte Facharbeiter blieben weiterhin maßgeblich 50 und konnten auf Grund der geringen Möglichkeiten, die Arbeitsprozesse qualitativ zu vereinfachen, Reservate der Macht und Kontrolle verteidigen. Ihre Entscheidungskompetenzen und Dispositionschancen präsentierten sich noch weitestgehend im Sinne eines „Eigenrhythmus“ 51 und wurden seltener durch den Maschinenrhythmus herausgefordert. Auch verschaffte ihnen ihre schwere der Horch-Werke in Zwickau: Während sich 1926 nur 137 Unfälle ereigneten, stieg deren Zahl auf 374 (1927), 383 (1928) und sank auf 332 (1929). Diverse Mitteilungen aus den Betrieben 1929 – 1932, Horchwerke AG, Zwickau, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31073, Nr. 1, Bl. 50. 49 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 585 – 589. 50 Von 119 verbliebenen Arbeitern im ehemaligen Escher-Werk in Siegmar waren 1933 77 Facharbeiter, 8 Angelernte und 6 Ungelernte. Vgl. Belegschaftszusammensetzung am 1.Juli 1933, Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar Abteilung Hermann und Alfred Escher, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31029, Nr. 127; im April und Mai 1931 bestand die Belegschaft aus 26 Hoblern, 6 Horizontalbohrern, 71 Drehern, 2 Stoßern, 21 Bohrern, 62 Schlossern und 7 Schleifern – qualifizierte Facharbeiter waren also deutlich in der Überzahl. Vgl. Durchschnittsverdienste pro Stunde 1928 – 1934, Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar Abteilung Hermann und Alfred Escher, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31029, Nr. 111, Bl. 16. Und selbst in Bereichen partieller Fließproduktion hielt sich die „Dequalifizierung“ stark in Grenzen: 1932 waren bei Horch von 1924 Arbeitern 1100 Gelernte, 400 Angelernte, 207 Ungelernte, 53 Frauen und 164 Lehrlinge. Diverse Mitteilungen aus den Betrieben 1929 – 1932, Bl. 64; Zusammenfassung der Bedeutung der Qualifikation auch bei: Die Rationalisierung in der Metallindustrie, S. 88. 51 Friedrich Olk, Maschine und Maschinengruppe. Ein durch Fließarbeit verändertes Verhältnis II., in: MAZ 44 (1926) 17, S. 71.
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Ersetzbarkeit weiterhin einen Trumpf in den formellen wie informellen Aushandlungsprozessen mit Meistern und Arbeitgeber: Aber zugleich gibt es fast in jedem Betriebe empfindliche Stellen, wo Arbeiter beschäftigt werden müssen, deren Tätigkeit nicht in vollem Umfange mechanisiert werden konnte, die individuell schwerer ausgewechselt werden können, die also durch ihre Arbeitsverweigerung den ganzen kunstvollen Arbeitsprozeß mit besonders großen Wirkungen lahm zu legen im Stande sind.52
Genau an dieser Stelle zeitigte die „Rationalisierungsphase“ aber einen wesentlichen Unterschied, der mitunter große Teile der betrieblichen Facharbeitermacht aufzehrte und dafür sorgte, dass sich Basismacht schwerer mobilisieren ließ als zuvor: Denn unter den Bedingungen der Überkapazität und schlechter Absatzmöglichkeiten bedeutete die Basismacht aus den Arbeitsprozessen tendenziell weniger. Sie wurde zusehends von einer potentiellen Freisetzungsdrohung überschattet, die nun jeden betraf und durch die es den Arbeitgebern besser gelang, verbliebene Kontrolldefizite zu disziplinieren. Das „neuralgische Thema“ 53 der Phase war in beiden Branchen daher nicht die Arbeitsmonotonie, wie sie in der Debatte stets angeführt wurde, sondern der Schatten der Arbeitslosigkeit. Eine entseelte Individualität der Arbeiter, wie sie durch kommunistische Gewerkschafter für die Wanderer-Werke geschildert wurde, dürfte in beiden Vergleichsfällen nicht zum Arbeitsalltag gehört haben 54 – Rationalisierung bewirkte in den „Crews“ und Maschinenwerkstätten nicht die völlige Zerstörung belegschaftsinterner Kommunikationsmöglichkeiten und resignative Apathie, sondern beschränkte eher die konflikthafte Durchsetzungskraft vorhandener Solidaritätsbeziehungen, die aus dem Arbeitsprozess resultierten. Die Chance, die durchweg selbstbewusste Stellung qualifizierter Arbeitergruppen in zwingendes Belegschaftshandeln zu kanalisieren, geriet hier fast ausschließlich durch den wirtschaftlichen Teil der Rationalisierungsparadoxie unter Druck, weil 52 Richard Woldt, Die Lebenswelt des Industriearbeiters, Leipzig 1926, S. 19. 53 Freyberg, Industrielle Rationalisierung, S. 350 f. 54 Obwohl der Artikel aus dem Kämpfer offensichtlich an einer Dramatisierung der Verhältnisse interessiert war, um die Kritik an den „freien“ Gewerkschaften zu unterfüttern, enthält er zahlreiche Anmerkungen, die kaum erfunden gewesen sein dürften. Dazu zählen vor allem die Schilderungen zu den Zeitstudien sowie der organisatorischen und zeitlichen Rationalisierung. Grundsätzlich bezog sich die kommunistische Kritik an der Rationalisierungsvorstellung des DMV – Vorstandes häufig auf die Entrechtung des Individuums in der Fabrik: „,Wir sind ja auch zu bloßen Maschinen geworden‘, fällt ein Dritter ein. ‚Maschinen ist noch nicht der richtige Ausdruck‘, wird ihm zur Antwort gegeben. ‚Maschinen bekommen wenigstens Oel, damit sie funktionieren. Wir bekommen ja nicht einmal das.‘“ „Der Kampf um die Minuten“, in: Der Kämpfer (1932) 190.
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technisch-organisatorische Veränderungen die Grundlagen der Sozial- und Solidaritätsbeziehungen nicht zu zerstören vermochten. Eine immer stärker in Erscheinung tretende Ausnahme betraf jedoch den Werkzeugmaschinenbau: So legen zahlreiche betriebliche Erfahrungen, wenn sie den Weg in die Periodika des DMV fanden, nahe, dass der werkstattinterne Zusammenhalt durch die Verbindung des dominierenden Akkordlohns mit den Produktions- und Zeitstudien zumindest gefährdet wurde. Dies lag zum einen an der Beschneidung der Kommunikationskanäle: Zwischentätigkeiten wie Transporte, Absprachen, Instandhaltungen oder Umrüstungen verschwanden für viele Maschinenarbeiter völlig, weil teure Nebenzeiten qualifizierter Arbeiter verhindert und die genaue Akkordmessung ermöglicht werden sollte. In seiner Kritik an der Organisation der Firma Schütz ging der Ingenieur Wirth 1930 auch auf diese Zielstellung ein: So machte er in der Schlosserei „Beobachtungen, wo die Arbeiter in Gruppen zusammengestanden oder unnützerweise ihren Arbeitsplatz verlassen haben“, und bemängelte unnützes Herumlaufen vieler Hochqualifizierter auf der Suche nach Werkzeugen und Vorrichtungen. Nur eine konsequente Umstellung und Modernisierung der Maschinen, wie sie in anderen Betrieben lange vorherrschten, könne diese Unsitten eindämmen. Ansonsten seien durch das häufige Herum- und Beieinanderstehen von Facharbeitern, sowie den jeweiligen Zeitpunkt des Arbeitsbeginns und Arbeitsschlusses, welcher häufig eine Anzahl von Minuten hinter bzw. vor dem Vorschriftsmäßigen liegt […,] die Akkordsätze, welche so viel Leerlauf erlauben, beträchtlich zu hoch.
Hätten sich diese Maßnahmen einmal durchgesetzt, könne mit Hilfe der Maschinenzeitberechnungen nach dem REFA ein wesentlich günstigerer Akkord festgesetzt werden.55 Wirkte sich die Produktionsstudie daher kommunikationshemmend aus, entwickelte sich die anschließende Zeitstudie sogar zum Ort der neuen Solidaritätsfrage. Denn obwohl die Studien zu Beginn meistens öffentlich bei eingearbeiteten Kollegen durchgeführt wurden und nicht vorrangig der Akkordreduzierung dienten, setzte die Sorge um die „Gestehungskosten“ im Zuge der Absatzkrise bald andere Maßstäbe. Die rasche Ausbreitung der Studien und ihre Durchführung mitten im Arbeitsprozess machten sie zusehends zu einer Beziehung zwischen einem Arbeiter und dem Kontrolleur. Die Zwiespältigkeit, die damit für den Solidaritätsgedanken gegenüber den Kollegen einherging, stellte den zu Überprüfenden vor eine Wahl, die Hendrik de Man 1926 psychologisch umriss:
55 Überprüfung des Betriebes durch Oberingenieur Wirth, Bl. 48 – 62.
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[…] daß die Solidarität kein stabiler Zustand ist, keine sozusagen der Materie „Proletariat“ innewohnende Eigenschaft, sondern ein schwankender Gleichgewichtszustand zwischen zusammenhaltenden und auseinanderstrebenden psychologischen Kräften, die in stetem Kampfe einander entgegenwirken. Die sozialen, altruistischen Instinkte kristallisieren sich dabei als kollektiver Macht- und Geltungstrieb, mit gesellschaftlichem Schutztrieb und egalitärem Rechtsempfinden ethisch begründet, um die Zielvorstellung der absoluten Kohäsion Solidarität; aber immer erzeugen die Gegentendenzen des individuellen Geltungstriebs und Erwerbssinnes eine Spannung, deren juristischer Ausdruck der Konflikt zweier Grundsätze der proletarisch-sozialistischen Ethik ist: „gleiches Recht für alle zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse“ (oder: „ein jeder nach seinem Bedürfnis“) und „ein jeder nach seiner Leistung“.56
Schlüpfte der Zeitkontrolleur durch die ökonomische Situation mit den Jahren immer weiter in die Rolle eines Instruments zur Beschleunigung und Akkordreduzierung und nahm damit letztlich eine „moderne“ Meisterposition ein,57 kristallisierten sich daher auf der Gegenseite verschiedene Arbeitertypen heraus. Der erste Typ hält den Beamten für einen „ausgemachten Esel“: Kommt man zu Klasse eins, so wird zuerst die Feile von allen Seiten sorgfältig betrachtet und dann wird „gefeilt“, als ob Eier in den Schraubstock gespannt wären. Der Fräser „reinigt“ vor jedem neu eingespannten Stück seine Maschine so, als müsse er gleich drauf in einen Butterteig ein paar Nuten fräsen, dann haut er einen Vorschub in den Radkasten, daß jede Schnecke einen Wettlauf gegen ihn gewinnen würde. Schmunzelnd sieht der gute Mann, wie der Zeiger der Stoppuhr Runde um Runde macht und rechnet im stillen aus, um wie viele Minuten er diesmal den Kalkulator „gemacht“ hat.58
Während es sich bei diesem Verhalten des Arbeiters um eine nicht brauchbare Messung handelte, die höchstens disziplinarische Folgen hatte, trennte sich (aus Sicht vieler Gewerkschafter) bei den beiden übrigen Kontrollverläufen die Spreu vom Weizen: Ziel der Angriffe waren dabei vor allem jene Arbeiter, die im Angesicht des „Mannes mit der Stoppuhr“ anfingen, ihr Arbeitstempo zu erhöhen, langfristig aber nur die Akkordsätze drückten. Sie galten vielen Beobachtern aus dem DMV als „Parasiten“ und wurden für die entsolidarisierende Wirkung des Zeitstudiensystems verantwortlich gemacht.59 Von einem organisierten Arbeiter erwartete man dagegen ein ruhiges Weiterarbeiten und das Vertrauen darauf, dass dadurch ein guter 56 57 58 59
De Man, Der Kampf um die Arbeitsfreude, S. 265. Vgl. Zeitstudien – Die Praxis, in: MAZ 46 (1928) 51 – 52, S. 403. „Ein Zeitstudienbeamter“, Der Mann mit der Stoppuhr, in: MAZ 46 (1928) 41, S. 326. Vgl. Zeitstudien – Die Praxis, S. 403.
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Akkordsatz erreicht werden könne – ansonsten gebe es ja zahlreiche Beschwerdemöglichkeiten wie den Betriebsrat, die Akkordkommission oder Mindestsätze in Tarifverträgen.60 Im Anbetracht wirtschaftlicher Krisen und defizitärer wirtschaftlicher Mitbestimmung der Betriebsräte und Gewerkschaften schienen sich viele Sekretäre und organisierte Kollegen nichtsdestotrotz darüber im Klaren zu sein, dass Ermahnungen bei diesem Solidaritätsproblem nicht weiter halfen. Man brauche ein generelles Umdenken (siehe dazu Kap. 5.3): Den Gewerkschaften bleibt neben dem Kampf um die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen die Aufgabe, die neue Betriebsideologie zu schaffen und durch ihre Betriebsund Wirtschaftsräte gestaltend vorzubereiten.61
Alles in allem gerieten die vorgewerkschaftlichen, arbeitsplatznahen Solidaritätsstrukturen in der „Rationalisierungsphase“ zwar unter Druck, bewiesen aber sowohl im Werkzeugmaschinenbau als auch in der Eisen- und Stahlindustrie bemerkenswerte Kontinuität. Daran hatte das solidarische Potential eigen-sinniger Verhaltensweisen sicherlich großen Anteil. Denn anders als in zeitlich stärker kalkulierbaren Arbeitsorganisationen blieben den Arbeitern immer noch fertigungsimmanente Freiräume und sogar die Möglichkeit, diese dem Arbeitsprozess abzuringen. Dass in solchen temporären und auch räumlichen Reservaten gruppensolidarisches Verhalten in Form von Spielen, Neckereien und Plaudereien eingeübt wurde, scheint durchaus vorstellbar, war aber natürlich keineswegs zwingend der Fall. Im Gegensatz zu fließenden Systemen, die dem Menschen die Hoheit über den Arbeitsrhythmus entzogen und „als qualitativ neue Durchsetzung einer Verhaltenszumutung“ 62 daherkamen, behielt Eigen-Sinn hier jedoch die Fähigkeit, sich in und auch gegen eine vorgeschriebene Organisation einzurichten, weil die gesamte Taktung der Prozesse menschlicher blieb. Es ist daher auch anzuzweifeln, ob sich Eigen-Sinn (wie Lüdtke postulierte)63 wirklich unabhängig von einer übergeordneten Arbeitsorganisation artikulierte – vielmehr legen die Quellen den Befund nahe, dass er sich innerhalb von Fließorganisationen und anderen, dem Arbeiter entzogenen Fertigungssystemen rasch individualisierte und verstärkt der Kompensation von Ohnmachtsgefühlen diente. Auf Grund des Fehlens persönlicher und gruppeninterner Gestaltungsspielräume verteidigte Eigen-Sinn also eher das bedrohte Selbst: Diebstahl, Gedankenspiele während monotoner 60 Der Mann mit der Stoppuhr, S. 326. 61 Zeitstudien – Die Praxis, S. 403. 62 Jürgen Bönig, Fließarbeit und Bandarbeit in der deutschen Rationalisierung der 1920er Jahren, in: Technikgeschichte 56 (1989) 3, S. 256. 63 Vgl. Lüdtke, „Deutsche Qualitätsarbeit“, S. 191.
Die „Rationalisierungswelle“
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Arbeitsprozesse 64 und der Versuch, die Zeit in der Fabrik auf das Minimum zu reduzieren, waren für viele die letzten Wege auf der Suche nach Selbstbestimmtheit. Sie waren sowohl Drang nach etwas „Eigenrhythmus“ als auch Momente der Flucht aus einer omnipräsenten Zumutung. Dagegen deutet die Konstanz, mit der Akte der kollektiven Zuwiderhandlung auftraten, darauf hin, dass die Auswirkungen der Rationalisierung in der Hütten- und Werkzeugmaschinenbauindustrie weniger weit reichten und damit die Voraussetzungen für das solidarische Eigen-Sinnpotential geringer beschnitten 65 – wenn sich auch gleichzeitig immer Momente aufzeigen ließen, die dieser Tendenz widersprachen. Eigen-Sinn blieb spontan-mehrdimensional, während seine Unterschiede im obigen Vergleich auf die verschiedenen organisatorischen Grundlagen für diese Mehrdimensionalität zurückzuführen waren. Grundsätzlich bestanden dadurch für den DMV konstante Ansatzpunkte an der Basis, von denen aus ein Brückenschlag betrieblichen und gewerkschaftlichen Vorgehens hätte vollzogen werden können. Dennoch war dieser potentielle Basisdruck nicht mehr ansatzweise so schlagkräftig oder (wie in der Hüttenindustrie) radikal wie vor 1924: Vor dem Hintergrund einer wachsenden Sockelarbeitslosigkeit und schließlich der Weltwirtschaftskrise ließ sich nicht mehr so forsch vorgehen wie zu Beginn der Republik. Gerade in diesem Kontext wäre es daher umso 64 Viele der Arbeiter, die monotone und/oder Fließarbeit zu verrichten hatten, berichteten de Man von erotischen Gedanken bei der Arbeit. Diese würden von drastischen Thematisierungen der Sexualität während der Pausen begleitet. Dennoch besäßen diese Anzüglichkeiten kein solidarisches Potential – sie seien lediglich Ausdruck eines Fluchtmechanismus. Mit der Unfähigkeit, den innerindividuellen Konflikt sozial zu lösen, gingen bei ihnen häufiger Folgen wie Trunksucht einher. Vgl. de Man, Der Kampf um die Arbeitsfreude, S. 115, 129. 65 Die Bekanntmachungen des Betriebsrats der Maschinenbau AG Golzern-Grimma deuteten noch 1927 darauf hin, dass sich die üblichen Muster der Arbeiter, die Maschinen während der Arbeit zu putzen und die Arbeit früher zu verlassen, erhalten hatten. Vgl. Bekanntmachung des Betriebsrates und der Betriebsleitung vom 15. 8. 1927, Maschinenbau AG Golzern-Grimma, in: Sächsisches StA Leipzig, 20775, Nr. 223, Bl. 65. Bei Reinecker wurden 1929 individuelle Veränderungen an fertigen Teilen ohne Wissen der Meister festgestellt und eigenmächtige Einstellungen von Arbeitern beobachtet – Zeichen dafür, dass sich Eigen-Sinn keineswegs auf Arbeiter beschränkte. Die Reaktion der Leitung gab darüber hinaus Hinweise auf den Zusammenhang zur Arbeitsorganisation: „Es muss unbedingt eine Verschärfung der Kontrolle im Betrieb einsetzen.“ Mitteilung der Betriebsleitung vom 15. 11. 1929, J. E. Reinecker AG Chemnitz-Gablenz, in: Sächsisches StA Chemnitz, 31007, Nr. 354, Bl. 1. Die konstant-vielfältigen Akte des Eigen-Sinns in der Hüttenindustrie beobachtete die Werkszeitung der ehemaligen FAH noch zu Beginn der 50er Jahre. Vgl. Muß das sein …?, in: Mitteilungsblatt der Hüttenwerk Rheinhausen A. G. 2 (1950) 3, S. 10.
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wichtiger gewesen, die Vermittlung zu den überbetrieblichen Gewerkschaftsstrukturen zustande zu bringen.
6.2 Der DMV in der Rationalisierungsdebatte Die Rationalisierungseuphorie der Verbandsspitzen Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des technischen Fortschritts gelegen sei, stelle eine politische Leistung dar.66
In den Vorstandskreisen des DMV und der anderen ADGB-Gewerkschaften hatte man bis 1925 nicht nur sämtliche Vorbehalte gegen die aufkommende Rationalisierungswelle verloren, sondern begrüßte sie fortan sogar auf das Wärmste. Die planvolle Umgestaltung der betrieblichen Produktionsprozesse sowie der gesamten deutschen Wirtschaft galten als absolute Notwendigkeit. Daran änderten auch die Zweifel nichts, die sich bezüglich der tatsächlichen Durchsetzungschancen gewerkschaftlicher Ideen langsam einschlichen. Noch 1930 hielt Alwin Brandes 67 daher fest: Die Rationalisierung war für Deutschland volkswirtschaftlich notwendig. Doch ist sie unvernünftig durchgeführt worden, weil viel zu große Kapitalien im Gegensatz zur Konsumfähigkeit investiert worden sind.68
Er deutete damit bereits an, was für die meisten kritischen Beobachter Ende der 1920er Jahre schon lange klar war: Gefangen im Widerspruch zwischen ideologischem Anspruch und kapitalistischer Wirklichkeit war die Rationalisierungsposi 66 Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1978, S. 86. 67 Alwin Brandes (1866 – 1949) war nach einer Schlosserlehre und Wanderschaft (1880 – 1886) sowie Militärdienst (1886 – 1889) seit 1889 Mitglied der SPD und seit 1894 Mitglied des DMV. Von 1900 bis 1919 war er Bevollmächtigter bzw. Geschäftsführer des DMV in Magdeburg und von 1919 bis 1933 Vorsitzender im Hauptvorstand des DMV sowie Redakteur der Betriebsräte-Zeitschrift. In der NS-Zeit mehrfach in Haft (z. B. im KZ Sachsenhausen), bekleidete er nach 1945 das Amt des Bezirksverordnetenvorstehers von Köpenick. Vgl. Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, S. 86. 68 Brandes im Februar 1930, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 3., S. 250.
Der DMV in der Rationalisierungsdebatte
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tion des DMV gescheitert und hatte den Gewerkschaften noch dazu die Kräfte für einen Kampf gegen die Folgen der Weltwirtschaftskrise geraubt. Konformismus und Technikgläubigkeit, so Walter Benjamin, seien demnach eine langfristige „Ursache des späteren Zusammenbruchs“ 69 gewesen. Seine grundlegende Rationalisierungsposition legte der DMV – Vorstand zwischen 1926 und 1928 in den Jahr- und Handbüchern des Verbandes dar. Sämtliche Elemente des technischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Prozesses fanden dabei Zustimmung – Rationalisierung galt als die Grundvoraussetzung der Wohlstandssteigerung.70 Einer besonderen Unterstützung erfreuten sich vor allem die betrieblichen Ansätze, denn, so der Vorstand, der „technische[n] Weiterentwicklung, die die Rationalisierung in Wirklichkeit nur ist, haben die Gewerkschaften […] stets fördernd gegenübergestanden. Die Zeit der Maschinenstürmer ist vorbei.“ 71 Dementsprechend stand man hinter der Normung, Typisierung und Spezialisierung,72 hieß die Leistungssteigerung der Maschinen willkommen und forderte neben der Vermeidung „toter Zeiten“ auch eine planmäßige Anordnung und einen effektiveren Transport.73 In einer regelrechten Verehrung Ford’scher Prinzipien lobte man die erfolgreiche Umsetzung fließender Fertigungssysteme, sparsamer Produktionsmethoden und die konsequente Investierung in die Betriebe.74 Selbst dort, wo wie im Maschinenbau kaum Fließarbeit möglich war, zog der Vorstand aus der „Durchorganisation“ ein positives Fazit. Auch habe die rapide Steigerung der Drehzahlen, Schnittgeschwindigkeiten, Flexibilität und Belastbarkeit von spanenden Maschinen dem Werkzeugmaschinenbau einen großen Anstoß gegeben.75 Den Forderungen nach technisch-organisatorischer Umgestaltung stellte der Vorstand solche nach überbetrieblich-struktureller Rationalisierung zur Seite: In der Fusionierung konkurrierender Industriebetriebe zu Großkonzernen erblickte 69 70 71 72
Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 86. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1926, S. 53. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 59; An anderer Stelle hieß es: „Die Bestrebungen, für alle Maschinenarten eine bestimmte Anzahl Typen festzulegen und das Programm der einzelnen Werke auf ganz bestimmte Spezialitäten zu beschränken, verdienen also unsere weitestgehende Unterstützung. […] Dasselbe trifft auf die Normalisierung zu.“ Paul Krug, Ausführung der Aufträge in der Werkstatt, in: Betriebsräte-Zeitschrift 1 (1920) 11, S. 328. 73 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1928. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1929, S. 85 – 91. 74 Vgl. Ford, seine Ideen und Arbeitsmethoden. Vortrag mit über sechzig farbigen Lichtbildern, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1928, S. 14. 75 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1927, S. 116 f.
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man die „Vorstufe der kommenden sozialistischen Gemeinwirtschaft“.76 Unrentable Unternehmen sollten verschmolzen und damit rentabel gemacht oder stillgelegt werden.77 Ausgehend von der Beobachtung der Eisen- und Stahlindustrie (der ersten „Fließarbeit in Europa“) schlussfolgerten Publizisten wie Ludwig Preller,78 dass die flächendeckende Einführung der Fließarbeit unrentable Betriebe Stück für Stück verschwinden lasse. Die daraus entstehenden Riesenkonzerne mit ihren Monopolstellungen seien die notwendige Vorbedingung der Planwirtschaft, da sie der Maxime, nur so viel zu produzieren, wie gebraucht werde, am nächsten kämen.79 Der Tatsache, dass damit die Freisetzung von Arbeitskräften einhergehen musste, war sich die Gewerkschaftsleitung voll bewusst: Man hielt die Arbeitslosigkeit für ein unumgängliches (weil nur temporäres) Übel auf dem Weg in eine bessere Wirtschaftsordnung und forderte, ihre Folgen durch staatliche Maßnahmen abzumildern.80 Es deutete sich dabei bereits an, was zu einem Kennzeichen der Rationalisierungsposition des DMV werden sollte: Denn einerseits wurde man nicht müde zu betonen, dass „jede Art von Rationalisierung […] vor allem Rücksicht auf den arbeitenden Menschen nehmen“ müsse 81 – Arbeitsbelastung und Monotonie sollten durch Arbeitszeitverkürzung bekämpft, den steigenden Unfall- und Krankheitszahlen durch die Gewerbeaufsicht und die Betriebsräte begegnet und die zur Verfügung stehenden Methoden der Berufsberatung, Berufsschulung, Psychotechnik und Arbeitsphysiologie konsequent angewandt werden. Auch sprachen sich die meisten Gewerkschafter gegen das Akkordsystem in fließenden Betrieben aus, weil der wirtschaftliche Nutzen hier einseitig auf Kosten der Arbeiter erzielt werde.82 Andererseits war die Kernfunktion der Arbeiterschaft in der Rationalisierung für 76 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1926, S. 55. 77 Vgl. u. a. Paul Haase, Die betriebswissenschaftliche Umwälzung, in: MAZ 44 (1926) 40, S. 178 ff. 78 Ludwig Preller (1897 – 1974), seit 1920 Mitglied der SPD, arbeitete nach seiner Promotion 1922 als Gewerbeaufsichtsbeamter in Sachsen, war ab 1926 Gewerberat im Reichsarbeitsministerium und ab 1928 Regierungsrat in der Gewerbeaufsichtsabteilung des Sächsischen Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums. 1933 als „politisch unzuverlässig“ entlassen, wurde er nach 1945 Honorarprofessor in Stuttgart und 1948 Minister für Arbeit, Wirtschaft und Verkehr in Schleswig-Holstein. Er war darüber hinaus maßgeblich an der Reaktivierung der Gesellschaft für soziale Reform beteiligt. Vgl. Fritz Sänger, Die Volksvertretung. Handbuch des deutschen Bundestages, Rheinbreitbach 1985, S. 308. 79 Vgl. Ludwig Preller, Fliessarbeit und Planwirtschaft, in: Sozialistische Monats-Hefte 33 (1927) 1, S. 201. 80 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1926, S. 55. 81 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1927, S. 115. 82 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1926, S. 57.
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den DMV trotz dieser Beteuerungen stets eine andere: Fern jeglicher sozialer und arbeitsbezogener Rationalisierungsfolgen galten sie aus ihrer Konsumentenfunktion heraus als volkswirtschaftliches Mittel zum Zweck. So galt die Rationalisierung so lange als „unvollständig“ und „einseitig“, wie es nicht gelang, die Lohnhöhe an die gestiegene Rentabilität anzupassen. Im Rahmen einer Unterkonsumtionstheorie ging der Vorstand (ebenso wie alle anderen ADGB-Gewerkschaftsleitungen) davon aus, dass sich die Überkapazität der deutschen Industrie nur durch einen steigenden Absatz der Waren infolge von Lohnerhöhungen und eine Senkung der Preise bekämpfen lasse.83 Die aus dieser Erwägung heraus entstehende omnipräsente Rolle der Lohnhöhe verdrängte arbeitsbezogene Forderungen relativ schnell und wurde zum Kern der Position der Gewerkschaften.84 Beinahe jede Äußerung zu dieser Thematik beinhaltete daher den Hinweis auf die Notwendigkeit, die Kaufkraft durch Reallohnerhöhungen der Arbeiter zu stärken 85 – eine Sicht, aus der sich für den Vorstand die Rolle des DMV in der Rationalisierung ergab: Die Gewerkschaft sollte mit ihrem Lohnbezug den nötigen Ausgleich schaffen und dafür Sorge tragen, dass die Stimmung der Arbeiterschaft gegenüber den Rationalisierungsmaßnahmen nicht in Feindschaft umschlage.86 Vor diesem Hintergrund meinte man, die Gemeinwohlorientierung der DMV-Rationalisierungsposition erklären zu können, und lieferte noch dazu eine bequeme Begründung für die (ohnehin vorhandene) Konzentration auf Lohnfragen. In diesem Kontext erscheint auch der unbeirrbare Lenkungsoptimismus der Gewerkschaftsspitzen verständlicher: Ausschließlich beschränkt auf die Folgen der Rationalisierung, glaubten die Vorstände, dass die lohnpolitischen Kompetenzen der Gewerkschaften ausreichen würden, um die Rationalisierung mit den Arbeiterinteressen in Einklang zu bringen. An dem tatsächlichen Handlungspotential, das die Verbände in der Institutionenlandschaft der Rationalisierung besaßen, ging dieser Optimismus weit vorbei. So waren die Gewerkschaften weder an der betrieblichen noch an der überbetrieblichen Konzipierung und Durchführung der Rationalisierungsmaßnahmen beteiligt. Auch im DMV wurden die Organisationen, in denen sich diese Kompetenzen bündelten, kaum beachtet und die Kontakte zum VDI , REFA , RKW und zum Ausschuss für wirtschaftliche Fertigung (AWF ) kamen 83 Vgl. Peter Hinrichs/Lothar Peter, Industrieller Friede? Arbeitswissenschaft, Rationalisierung und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Köln 1976, S. 89 ff. 84 Vgl. Elisabeth Schalldach, Rationalisierungsmaßnahmen der Nachinflationszeit im Urteil der deutschen freien Gewerkschaften, Jena 1930, S. 4 f. 85 Die Forderung wurde in der Regel mit einem Hinweis auf die Rationalisierungspraxis in den USA versehen, wo man das Lohnideal eher verwirklicht sah. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1926, S. 59. 86 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1927, S. 116.
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selten über einige persönliche Bekanntschaften hinaus. Besonders im Falle des betrieblich immer wichtigeren REFA hatte der Verband bei Gründung und Arbeit der Organisation keinerlei Anteil genommen. Ähnlich verhielt es sich auch gegenüber der psychotechnischen Bewegung in der Arbeitswissenschaft – der DMV versäumte es, Planungs- und Verfahrensstrukturen unabhängig von den Unternehmen zu etablieren, und überließ der Industrie das Feld. Auf den technisch-organisatorischen, überbetrieblichen und wissenschaftlichen Wandel hatte er deshalb so gut wie keinen Einfluss. Dementsprechend fällt es schwer, überhaupt von einer direkten Beteiligung der Gewerkschaft an der Rationalisierung zu sprechen. Am ehesten erfüllte der Verband die Kriterien wohl indirekt: Indem die Sekretäre den Mitgliedern einen Rationalisierungskonsens verkauften, beschränkten sie sich auf eine Propagandafunktion, die den Rationalisierungsdiskurs stabilisierte und innergewerkschaftlich versuchte, eine Orientierungs- und Erziehungsfunktion wahrzunehmen.87 Traf dieses Vorgehen auch zusehends auf scharfe Kritik, war es historisch nur allzu leicht verständlich. Denn nichts lag den Gewerkschaftsvorständen ferner, als eine Position gegen den technischen Fortschritt zu beziehen, der weitestgehend mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt wurde. Um die enge Verbindung der Rationalisierungshoffnungen mit der Gemeinwohlorientierung der Gewerkschaften zu lösen, hätte mit tiefverwurzelten Ideen von der Zwangsläufigkeit der Rationalisierung, von einem reformistischen Politikverständnis und von der Zusammenarbeit mit der SPD gebrochen werden müssen.88 Für die Etablierung einer Gegenmacht im Angesicht eines zutiefst betrieblichen Wandlungsprozesses wäre außerdem eine wesentlich stärkere Betriebsbezogenheit gewerkschaftlichen Handelns notwendig gewesen – eine Entwicklung, die der „Lehre von 1918 bis 1923“ fundamental widersprochen hätte. Die gewerkschaftliche Strategie gegenüber der Rationalisierungsbewegung blieb daher auch von Vorgehensweisen geprägt, die sich bereits im Kaiserreich herausgebildet hatten:89 Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen, ein politisch-flankiertes zentrales Handlungsmuster und der kooperative Gang durch Schlichtungsinstitutionen ummantelten eine zentrale Vorstellung vom evolutionären Weg in den Sozialismus.
87 Vgl. Freyberg, Industrielle Rationalisierung, S. 371 ff. 88 Vgl. ebd., S. 374, 379. 89 Vgl. Gunnar Stollberg, Die Rationalisierungsdebatte 1908 – 1933. Freie Gewerkschaften zwischen Mitwirkung und Gegenwehr, Frankfurt am Main/New York 1981.
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Die wachsende Kritik der Mitgliedschaft
Auf Grund der fortwährenden Probleme, die für die Arbeiterschaft der Metallindustrie mit der Rationalisierung einhergingen, war dieses „Vorgehen“ der Gewerkschaftsspitzen innerhalb der Mitgliedschaft des DMV keinesfalls unumstritten. Mittelfristig äußerten sogar Mitglieder, die der grundsätzlichen Vorstandsposition positiv gegenüberstanden, Kritik an der offensichtlichen Unvereinbarkeit mit ihren Folgen: Rationalisierung ist das geflügelte Wort der Gegenwart. Kein vernünftiger Gewerkschafter wird sich gegen die technische Verbesserung der Betriebe wenden, selbst wenn sie vorübergehend Arbeitskräfte einspart. Eine Industrie, die ausführen muß, wird Schritt halten müssen mit den Einrichtungen seiner Wettbewerber im Auslande. Aber die Rationalisierung wird immer mehr benutzt, den Gewerkschaften und der Arbeiterschaft Schwierigkeiten zu machen.90
Diese „Schwierigkeiten“ umriss der Beobachter mit der Intensivierung und Beschleunigung der Arbeitsprozesse, dem grassierenden Überstundenwesen sowie dem Ansteigen der Krankheits- und Unfallzahlen. Während er aber, wie der Vorstand, die entstandenen Konflikte für lösbar hielt, breitete sich im DMV auch vermehrt eine Meinung aus, die diese Lösung in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem als unmöglich erachtete. So konnten selbst in der Metallarbeiter-Zeitung Stimmen vernommen werden, deren Stoßrichtung eindeutig Kritik am Ort der Gewerkschaft in Wirtschaft und Gesellschaft transportierte: Und hierin liegt der Kern des Rationalisierungsproblems, nicht nur in Amerika, sondern auch bei uns in Deutschland. Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß die Verbesserung der Produktions- und Verteilungsweisen ununterbrochen fortgesetzt werden muß, um die Herstellungskosten zu verringern und die Waren immer weiteren Teilen der Bevölkerung zugänglich zu machen. Aber ebenso unzweifelhaft ist es, daß unter dem herrschenden Wirtschaftssystem die Vorteile der Rationalisierung ausschließlich den Kapitalisten anheimfallen.91
Knapp drei Monate später wurde der Verfasser dann konkreter: In diesem Widerstreit zwischen der selbstherrlichen Bestimmung der Rationalisierung durch Privatkapitalisten und den furchtbaren Folgen, die die Allgemeinheit ausbaden muß, liegt der Angelpunkt der Sache. Da gibt es nur die zwei Möglichkeiten: entweder die Rationali 90 K. W., Die Lage im Ruhrgebiet. Der Umfang der Arbeitslosigkeit, in: MAZ 44 (1926) 26, S. 113. 91 Ibykus, Der Kern des Rationalisierungsproblems, in: MAZ 44 (1926) 31, S. 134.
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Abb. 11: Eine in der MAZ selten so klar formulierte Rationalisierungskritik: Die Rationalisierung als arbeitervertreibendes Ungeheuer
sierung verhindern oder sie den Privatkapitalisten aus der Hand nehmen, das heißt Sozialismus. Wer das nicht sehen will, der kann über die Folgen der Rationalisierung jammern, aber er kann sie nicht heilen.92
Beide Zitate deuteten an, was sich durch die Lagerung des Problems kaum verhindern ließ: Der Charakter der Rationalisierung und die Position des Verbandes, deren Widersprüche genau an der Schnittstelle des gewerkschaftlichen Dilemmas während der Weimarer Republik lagen, leisteten einer politischen Aufladung des Rationalisierungsdiskurses Vorschub und gaben kommunistischen Gewerkschaftern reichliches Argumentationsmaterial. Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich große Teile der immer schärferen Auseinandersetzung an der Haltung der Gewerkschaftsleitungen gegenüber der Rationalisierungsfrage entzündeten und die Vorwürfe grundsätzlicher wurden.
92 Ders., Vom Segen und Fluch der Rationalisierung, in: MAZ 44 (1926) 42, S. 186.
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Einer der wesentlichsten Kritikpunkte dieser „Rationalisierungsopposition“, der aber auch von vielen reformistischen Mitgliedern geteilt worden sein dürfte, bezog sich auf die eklatante Betriebsferne des gewerkschaftlichen Denkens und Handelns – ein Defizit, das selbst von vielen nichtgewerkschaftlichen Zeitgenossen erkannt wurde und sich seitdem wie ein roter Faden durch die (historischen und soziologischen) Interpretationen zog. Denn Erwägungen, die auf eine betriebliche Position des DMV oder gar eine Beeinflussung des technisch-organisatorischen Wandels selbst abzielten, suchte man in den Vorstands-, Bezirks- und auch den meisten lokalen Berichten vergeblich. Als eines von vielen Beispielen kann dafür das Programm herangezogen werden, welches der Bezirk Essen angesichts der Konzentration und Rationalisierung in der Schwerindustrie im Dezember 1926 beschloss: Von einer Infragestellung dieser Prozesse konnte darin genauso wenig die Rede sein wie von einer Rolle der Belegschaften. Die Delegierten stellten Lohnund Arbeitszeitforderungen, beschlossen Maßnahmen zur Stärkung der internationalen Zusammenarbeit und gingen auf die Frage ein, wie man das bestehende Betriebsrätesystem auf die neuen Konzernstrukturen ausdehnen könne. Und auch sonst klangen die Beiträge nicht neu: Da man zwangsläufige Entwicklungen nicht aufhalten könne, sei es die Arbeiterschaft, die die Organisationsnotwendigkeit verstehen müsse, um die „Gemeinwirtschaft“ herbeizuführen. In einer altbekannten Delegierung der Verantwortung beschwor man die Geschlossenheit und Disziplin der Organisation und beschwerte sich über die „Rührigkeit der Arbeiter“ gegenüber Verschlechterungen.93 Kritiken wie diese blieben seitens der Mitgliedschaft jedoch kaum noch unbeantwortet. In der Metallarbeiter-Zeitung gingen nun verstärkt kritische Kommentare ein, die den rein überbetrieblichen Ansatz der Gewerkschaft um eine betriebliche Positionierung erweitert sehen wollten. Sie forderten eine neue Schwerpunktsetzung gemäß dem Motto: „Es wird höchste Zeit, daß wir uns nicht nur mit dem Lohn und der Arbeitszeit, sondern auch ernstlich mit den Verhältnissen beschäftigen, die innerhalb der Betriebe herrschen“.94 Ihrer Meinung nach reflektiere das DMV – Vorgehen die qualitativen Auswirkungen der Umstellung der Produktion zu wenig und der DMV müsse sein betriebliches Potential nutzen, um Einfluss auf zentrale Elemente wie die Zeitstudien, Akkordkalkulationen und Geschwindigkeiten zu gewinnen.95 Während sich diese Forderungen auch weiterhin auf die Folgen der Rationalisierung fokussierten, machte sich in manchen Nebensätzen verstärkt ein Argu 93 Vgl. Konferenz des Essener Bezirks, in: MAZ 44 (1926) 51, S. 224. 94 Bl., Wie stehts heute im Betrieb?, in: MAZ 45 (1927) 17, S. 80. 95 Vgl. Isegrim, Das Gebot der Stunde. Verband und Fließarbeit, in: MAZ 44 (1926) 16, S. 67.
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ment bemerkbar, das der „Qualität“ der Rationalisierung für den DMV weitaus näherkam: Betriebliche Agitatoren und Vertrauensmänner erkannten, dass sich die Methoden zur Bestimmung von Zeit und Lohn negativ auf die Sozialbeziehungen zwischen den Arbeitskollegen auswirken konnten. Sie machten auf die Gefahren aufmerksam, die mit der Möglichkeit einhergingen, Kollegen untereinander auszuspielen, und wiesen auf die daraus erwachsenden Probleme für die betriebliche Solidaritätsgrundlage hin.96 Die größte Beachtung fand die Sorge um die Voraussetzungen der Organisation bei kommunistischen Beobachtern: In einer Umfrage unter siebzig KPD-Betriebszellen stellte man 1927 fest, dass die gängigen technischorganisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen häufig zu einer Beschädigung der eingeübten Kommunikationskanäle führten und den Prozess der Herausbildung arbeitsvermittelter Beziehungen unterbrachen. Die fortschreitende Individualisierung der Arbeitserfahrung schüre belegschaftsinterne Konkurrenzen und verschärfe sich durch Zeitstudien, Lohn- und Akkordzuschläge noch weiter. Parallel dazu ergäben sich immense Agitationsprobleme für Vertrauensmänner und Parteigenossen, da der Arbeitsprozess immer weniger disponible Zeiten und Räume zur Verfügung stelle. Unter diesen Bedingungen müssten die Agitatoren selbst die kleinsten sich bietenden Möglichkeiten nutzen: Wenn man sich von der Werkbank oder vom Fließband für keinen Augenblick entfernen kann, so beginnt das Fließband selbst zu agitieren, das ja mit dem Transport der Kurbellager auch den Transport von Flugblättern, Betriebszeitungen und jeglichem anderen Material besorgt.97
Ähnliche Überlegungen über die Auswirkungen der Rationalisierung auf vorgewerkschaftliche Strukturen und die Chancen zu deren Beeinflussung stellten reformistische DMV -Sekretäre in der Regel nicht an. Denn innerhalb des evolutionärsozialistischen Gedankenhorizonts spielte das Basispotential der Arbeiterschaft als aktives Element kaum eine Rolle. Die Notwendigkeit zu seiner gewerkschaftlichen Erschließung als Handlungsoption war vernachlässigbar, solange die Arbeiter die passive Mitgliedschaftsvoraussetzung erfüllten. Die überragende Bedeutung der staatlichen Schlichtung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre unterstrich dieses Verhältnis noch. Der fundamentale Unterschied hinsichtlich der Beziehung von Organisation und Arbeitern vor dem Hintergrund der Rationalisierung lag zwischen kommunistischen und reformistischen Gewerkschaftern daher nicht in der Frage nach dem Sinn oder der Art und Weise der Rationalisierung begründet – beide Lager 96 Vgl. Bl., Wie stehts heute im Betrieb?, S. 80. 97 V. Demar, Die Rationalisierung der Produktion und die politische Arbeit im Betrieb. Die Erfahrungen von 70 Betriebszellen der KPD, in: Die Kommunistische Internationale (1927) 20, S. 980.
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waren sich darüber einig, dass sie eine Vorbedingung des Sozialismus darstelle und unbedingt zu unterstützen sei. Der Graben verlief vielmehr zwischen Revolution und Evolution: Während die Mehrheit der DMV-Sekretäre der sozialdemokratischen Idee der Wirtschaftsdemokratie anhing und an eine Lenkung der Rationalisierung in sozialistische Richtung innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems glaubte, hielten kommunistische Gewerkschafter dies für eine Illusion und warfen der Mehrheit Blindheit vor der Tatsache vor, dass die Rationalisierung in diesem System per se kapitalistisch sei. Eine Umgestaltung der Wirtschaftsordnung könne auf diese Weise nicht erreicht werden; noch dazu, weil der Verband den Schlüssel zu seiner Massenbasis aus der Hand gebe. Neben ihrem stärkeren Betriebsbezug lehnten sie daher auch die Instrumente der Schlichtung und das Konzept der Wirtschaftsdemokratie ab und verhielten sich gegenüber dem Methodenrepertoire der Arbeitswissenschaft ausgesprochen skeptisch.98 An eine Beeinflussung des Vorstands war von dieser Seite jedoch nicht zu denken. Dessen feste Integration in das sozialdemokratische Lager drängte die kommunistische Kritik innerhalb des Verbandes ins Abseits und sorgte damit indirekt für ihre Radikalisierung. Deutlichen Ausdruck fand dies auf dem DMV – Verbandstag von 1928 in Karlsruhe, auf dem die innerverbandliche Opposition auf dem Verfahrenswege so marginalisiert wurde, dass sie sich zur Veröffentlichung einer eigenständigen Darstellung genötigt sah. Darin griff sie vor allem die Betriebslosigkeit des Vorgehens der Mehrheit an und warf dieser vor, die realen Chancen der Beeinflussung der Rationalisierung völlig zu verkennen. Besonders die Betriebsräte seien von den Verbänden so stark gezähmt worden, dass sie im Kontext der Rationalisierung jede Wirksamkeit eingebüßt hätten: Nach dem Betriebsrätegesetz soll der Betriebsrat eine Stütze der Unternehmer sein und gleichzeitig die Interessen der Arbeiter vertreten. Das ist miteinander unvereinbar. Dem Sinne dieser Bestimmung entspricht die in der „Metallarbeiter-Zeitung“ in letzter Zeit propagierte Wirtschaftsdemokratie.99
Selbst hinsichtlich der wenigen Möglichkeiten der Betriebsräte bescheinigte man der Gewerkschaftsleitung Versagen. Durch das kampflose Ausweichen auf die Schlichtung („die Unternehmer haben es ja gar nicht mehr nötig, etwas zu bewil-
98 Vgl. Alex Eggener, Aus der Praxis der „wissenschaftlichen Betriebsorganisation“, in: Die Internationale 11 (1928) 1, S. 18 – 22. 99 Der Rechtskurs im Deutschen Metallarbeiter-Verbande. Der Kampf der Opposition auf dem 18. Verbandstage des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Karlsruhe, herausgegeben von der „Opposition im Deutschen Metallarbeiter-Verbande“, Berlin 1928, S. 24.
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ligen“)100 entziehe man der kämpferischen Rekrutierung auf der Betriebsebene quasi die Daseinsberechtigung und hebe die Konflikte in den überbetrieblichen (und damit arbeiterfernen) Raum. Für eine aktive gewerkschaftliche Mobilisierung und Gegenposition am Arbeitsplatz bestehe daher immer weniger Anlass – mit massiven Auswirkungen auf das Verhältnis der Organisation zur Basis. Walter Benjamin brachte diesen Zusammenhang in seiner Kritik an den reformistischen Gewerkschaftsvorständen auf den Punkt: Sie gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen.101
Bei der Vernachlässigung der betrieblichen Ebene handelte es sich also um einen mehrdimensionalen Prozess. Einerseits war er, wie Preller treffend erkannte, struktureller Natur, verschob das Schwergewicht gewerkschaftlichen Vorgehens und subsumierte den Betrieb unter branchenbezogene Erwägungen: Dagegen führte diese Entwicklung zu Riesenorganisationen zusammen mit der Eingliederung der Rätebewegung in das System der zentralen Gewerkschaften immer stärker zur Hervorkehrung des überbetrieblichen Gedankens gegenüber dem des Betriebs. Die Feststellung eines christlichen Gewerkschaftlers in der „Kölnischen Zeitung“ 1927: „man denkt zentralgewerkschaftlich und fast behördlich, aber kaum noch betrieblich“, galt entsprechend auch für die Freien Gewerkschaften. Der Klassengedanke überwog die betriebliche Nähe. Die Sozialpolitik der Gewerkschaften verlief auf gleichen Bahnen.102
Andererseits besaß dieser Prozess aber auch eine qualitative Komponente, die im Zuge der technikgläubigen Rationalisierungsposition des Verbandes schonungslos offengelegt wurde und mit der eine Veränderung des Organisation-Mitglied-Verhältnisses über den räumlichen oder programmatischen Kontakt hinaus einherging. Denn die Gewerkschaftssekretäre verschoben nicht einfach nur den Organisationsschwerpunkt – sie erwiesen sich auch zunehmend als blind gegenüber dem betriebssozialen Wandel und den Folgen, die dieser auf die Organisationsgrundlage und Bindungskraft des DMV ausübte. Hatten die Praxis der Arbeitenden vor Ort und deren eingeübte Konfliktmuster schon seit der Anerkennung des Vertretungsanspruchs 1918/19 zusehends an Bedeutung verloren, verschwan 100 Ebd., S. 25. 101 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, S. 88. 102 Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 186. Die zitierte Einschätzung stammte von Paul Umbreit.
Der DMV in der Rationalisierungsdebatte
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den einzelbetriebliche Konfliktlinien und Forderungen nach 1924 völlig aus dem Gewerkschaftskatalog. Man klammerte Arbeitsrealitäten, Dispositionsspielräume und den organisatorischen Wandel zu Gunsten einer rationalisierten Zukunftsidee aus und überging alltägliche Arbeitspraxen und Zumutungen.103 Das daraus resultierende Vermittlungsdefizit, welches zahlreiche Beobachter der DMV-Betriebsarbeit bescheinigten, nahm die Führung nicht ernst. So tendierten die Versuche, die Mitglieder in die aktive Verbandsarbeit einzubinden, nach 1925 eher in Richtung einer neuen Außerbetrieblichkeit, anstatt die betriebliche Anschlussfähigkeit auszubauen (siehe Kap. 6.3). Warnungen vor der Überlastung eines vernachlässigten Werkstattvertrauensmännersystems,104 Fallbeispiele für die Wirkungslosigkeit der Betriebsräte im Kontext der Rationalisierungsbewegung 105 oder gar Mitteilungen über das betriebliche Abwerben von Maschinenbauarbeitern durch den CMV in Sachsen 106 (hier eigentlich ein unerhörter Vorgang für den DMV) fanden auf diese Weise keinen Widerhall im Handeln der mittleren und hohen Verbandsebenen. Vernebelt durch eine ideologisch-verklärte Technikfolgenabschätzung erkannten sie weder den wahren Charakter der Rationalisierung noch deren Gefahr für das betriebssoziale Fundament der Gewerkschaftsorganisation. Einer der hellsichtigsten Beobachter dieser Entwicklung war Götz Briefs, der den betriebssozialen Nachholbedarf der Gewerkschaften jedoch anmerkte, als es schon beinahe zu spät war: 103 Vgl. Lüdtke, „Deutsche Qualitätsarbeit“, S. 162, 182 f. 104 Nach einigen Jahren fast völligen Schweigens der Periodika bezüglich der Werkstattvertrauensmänner veranlasste die betriebliche Situation einige Mitglieder seit 1928 wieder, sich der Bedeutung dieser Institution zu widmen; so z. B.: „Vertrauensmann werden ist nicht schwer, Vertrauensmann sein dagegen sehr! Die Wahrheit dieser Worte ist unbestreitbar. Der Vertrauensmann ist im Betriebe nicht nur die Klippe, gegen die die Brandungen der Meinungen und Anschauungen anstürmen, sondern auch die lebende Auskunftei, von der man verlangt, daß sie alles wissen müßte.“ Pelo, Zwei Tage eines Vertrauensmannes, in: MAZ 46 (1928) 50, S. 397. 105 Die Zuschriften aus Chemnitz im Zuge der Betriebsrätestudie des DMV zeugten davon, dass verbriefte Mitwirkungsrechte der Betriebsräte einer Farce glichen und wirtschaftliche Kompetenzen gar nicht vorhanden seien. Auch würden die Betriebsräte als gewerkschaftliches Agitationsinstrument komplett ausfallen – in Chemnitz untersagte man ihnen die Werbung für den DMV, obgleich dieser die Tarifverträge abschloss. Vgl. Betriebsräte in der Metallindustrie. Material und Zahlen über Auswirkung des Betriebsräte-Gesetzes, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Berlin 1931, S. 48, 62, 73, 81. 106 Der Werkzeugdreher Erich Nagel rang dem DMV in der Maschinenfabrik Brehmer in Leipzig mehr als 40 Mitglieder ab und wurde dadurch bezeichnenderweise von einem DMV -dominierten Betriebsrat angegriffen. Vgl. Schreiben des CMV Bezirk Freistaat Sachsen an Dr. Alfred Jeremias vom 25. 9. 1930, Gebrüder Brehmer, Maschinenfabrik Leipzig, in: Sächsisches StA Leipzig, 20785, Nr. 22, Bl. 121 ff.
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Auch die Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft haben die eigentlichen betriebssozialen Probleme nicht aufgegriffen. Sie sahen den aussichtsvollsten Punkt ihres Kraftansatzes in der Lohnfrage und in der Arbeitsmarktorganisation; alles übrige blieb demgegenüber sekundär. Dagegen ist von Arbeitgeberseite eine einzelne Erstreckung der sozialen Betriebspolitik stärker gepflegt worden: viele Betriebe haben oft frühzeitig eine Reihe von Wohlfahrtseinrichtungen eingerichtet. Mag die Motivation nun humanitär oder kapitalistisch gewesen sein: in jedem Falle ist die innere Betriebsausgestaltung nach einer wertvollen Seite hin durch solche Wohlfahrtseinrichtungen bereichert worden.107
Den Kampf um die „innere Betriebsausgestaltung“ nahm der DMV vor seinem Ende nicht mehr auf. Der deutlich individualisierten Stoßrichtung des Werksgemeinschaftsgedankens der Arbeitgeber gedachte man mit anderen Mitteln beizukommen. In der Auseinandersetzung um die „Seele des Arbeiters“ fehlte dem Verband dadurch jedoch häufig die Rückkopplung an die Arbeitserfahrung als Generator gewerkschaftlichen Esprits.
6.3 Das „Rote DINTA“? – Mitglieder und Verband in der Rationalisierungsphase Ziele und Methoden des DINTA
In den frühen 1920er Jahren erkannten die Arbeitgeber zusehends, dass an eine erfolgreiche Reaktivierung der „gelben“ Werkvereine nicht zu denken war. Denn in ihrer betrieblich harmonisierenden und zugleich antigewerkschaftlichen Stoßrichtung konnte die wirtschaftsfriedliche Bewegung, die im Ruhrgebiet und in Chemnitz vor 1918 zwei Schwerpunkte besessen hatte, gegenüber der Vorkriegszeit kaum Geländegewinne verzeichnen.108 Weder die steigenden finanziellen Zuwendungen noch die Unterstützung bezahlter Agitatoren 109 führten zu ähnlichen Mitgliederzahlen oder betrieblichem Einfluss. Dies sollte sich aus Sicht der Unternehmer der Schwerindustrie mit der Gründung des Deutschen Instituts für technische 107 Götz Briefs, Vorwort, in: Peter C. Bäumer, Das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (Dinta), München u. a. 1930, S. VI. 108 Vgl. Klaus J. Mattheier, Werkvereine und wirtschaftsfriedlich-nationale (gelbe) Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974, S. 173 – 204. 109 Der lackierte Gelbe aus Chemnitz. Eine schöne Geschichte mit ernstem Hintergrund, in: MAZ 42 (1925) 5, S. 19.
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Arbeitsschulung (DINTA) im Jahre 1925 ändern: Gegründet in Düsseldorf, geleitet von Carl Arnhold und finanziell unterstützt von den Vereinigten Stahlwerken unter Albert Vögler, unternahm man einen qualitativ neuen Anlauf in Richtung eines betrieblichen Ausgleichs und der vielbemühten „Werksgemeinschaft“.110 Die grundlegende Intention hinter dem DINTA machte Vögler auf der Gründungsveranstaltung deutlich: Vorbeigegangen sind wir an dem wichtigsten Faktor jeden Produktionsprozesses, dem Menschen. […] Die Einsichtigen unter uns und vor allem die, auf denen die Verantwortung besonders schwer lastet, sind zu der Erkenntnis gekommen, daß wir in der Arbeiterfrage – ich will das Wort ruhig in der Fassung, wie es uns geläufig ist, benutzen – festgelaufen sind. […] Die große Masse unserer Arbeiter, und ich muß hinzufügen, auch unserer Angestellten, steht dem Werk und dem Prozeß im Werk fremd, sogar feindselig gegenüber. […] Was hilft es, wenn Sie die (technischen) Kenntnisse, die Sie gewinnen, möglichst schnell in die Tat umsetzen, wenn ein so gewaltiger Faktor wie die Arbeiterschaft nicht innerlich an ihren Arbeiten teilnimmt?111
Im Rahmen des DINTA gedachten die Arbeitgeber daher, ein planmäßiges Vorgehen zu entwickeln, mit dem die drohende Blockierung der Leistungsmotivation überwunden, die Position der Gewerkschaften geschwächt und dem proletarischen Klassenbewusstsein ein wirtschaftsfriedliches Pendant entgegengesetzt werden sollte. Mit Begriffen wie „Arbeitsfreude“, „sittlicher Ertüchtigung“, „intellektueller Betätigung“ und „geistigem Sozialismus“ versuchten sie, die Tendenz zur „Entseelung der Arbeit“ ideologisch zu kompensieren.112 Die Kernaufgaben der neuen Organisation lagen dazu in der standardisierten Berufsausbildung und der Heranziehung von zukünftigen Führungskräften für die Industrie.113 Mit Hilfe der Methodik der Arbeitswissenschaft erstellte man Kriterien für die Bewerberauswahl, bewertete die Bedeutung der Ausbildungspraxis neu und beabsichtigte durch Ansätze in F reizeit, 110 Vgl. Bäumer, Das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung; vgl. Peter Hinrichs, Um die Seele des Arbeiters. Arbeitspsychologie, Industrie- und Betriebssoziologie in Deutschland 1871 – 1945, Köln 1981; für die amerikanische „Vorlage“: Mary Nolan, Visions of modernity. American business and the modernization of Germany, New York 1994. 111 Zitiert nach: Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 202. 112 Vgl. Hinrichs/Peter, Industrieller Friede?, S. 85 f. 113 Vgl. Albin Gladen, Berufliche Bildung in der deutschen Wirtschaft 1918 – 1945, in: Hans Pohl (Hrsg.), Berufliche Aus- und Weiterbildung in der deutschen Wirtschaft seit dem 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1979, S. 53 – 73; vgl. Paul Osthold, Betriebliche Menschenführung als Begriff. Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung, in: Ruhr und Rhein 9 (1928), S. 282 – 287, 322 – 325; vgl. ders., Der Kampf um die Seele unseres Arbeiters, Düsseldorf 1927.
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Sport und Presse die Arbeiter und ihre Familien auch nach Arbeitsschluss zu beeinflussen. Das Ziel war es, die empfundenen „Trennwände versinken“ 114 zu lassen, die Arbeiterschaft mit dem Unternehmen auszusöhnen und parallel dazu von der „Wiege bis zur Bahre“ zu begleiten. Der Schwerpunkt lag dabei stets auf dem Betrieb. So schrieb Arnhold, das DINTA wolle „den neuen Menschen im neuen Produktionsprozeß. Aus den Betriebsstatisten, die nur so mitmarschieren, sollen Betriebsakteure werden, die bestimmend in das Räderwerk des Gesamtmechanismus eingreifen.“ 115 Unterstützt wurde diese „Charakterbildung“, die das DINTA etwa durch Wanderfahrten für Lehrlinge voranzutreiben hoffte, durch zahlreiche Maßnahmen der Einzelunternehmen, wo sich die Arbeiterbüros und die Betriebswirtschaftsstellen der „Werksgemeinschaft“ annahmen. Jubiläumsfeiern, Betriebssportvereine, Betriebsfahnen und generell die Organisation der Arbeiterannahme sollten die Stoßrichtung des DINTA flankieren und die proletarische Lebenswelt im Sinne einer „Erfassung des ganzen Menschen“ an das Unternehmen binden. Die wichtigste Rolle in diesem System spielte jedoch die Werkszeitungsbewegung.116 Bereits Anfang der 1920er Jahre hatten die Ruhrindustriellen die redaktionelle Arbeit der Werkszeitungen gebündelt und programmatisch vereinheitlicht – eine Stabsstelle, die man 1925 an das DINTA übergab und wo man sich fortan der geschickten Ausnutzung dieser Organe widmete. Im Zentrum stand dabei der Betriebsbezug: Mit Nachrichten über Jubilare, sportliche Ereignisse, Vereinsversammlungen und betriebliche Leistungen sollten die Arbeiter angesprochen und in ihrer Beziehung zum Unternehmen gelenkt werden. Der Stolz auf den eigenen Beruf und die Position im Betrieb ging dabei Hand in Hand mit einem propagierten Zusammengehörigkeitsgefühl, das aggressive Konfliktaustragungen und eine gewerkschaftliche Betätigung als Störung des Betriebsfriedens ausschloss. Hierin war eine klar antigewerkschaftliche Stoßrichtung zu erkennen: Gewachsene Solidaritätsbeziehungen am Arbeitsplatz und damit der potentielle Basisdruck sollten quasi „überschrieben“ und dem gewerkschaftlichen Einfluss entfremdet werden.117 In diesem Kampf um denselben Adressaten hatten die Werkszeitungen (zumindest der Idee nach) einen unschlagbaren Vorteil: Sie transportierten Nachrichten, die auch für die Familienmitglieder der Arbeiter von Interesse waren, und fanden dadurch Eingang in den Arbeiterhaushalt; konnten ihre Ziele wenn auch nicht direkt über 114 Clemens Seifert, Das Dinta. dient zur Kapitalisierung der Arbeiterseele, in: MAZ 50 (1932) 21, S. 122. 115 Zitiert nach: ebd. 116 Während die Werkszeitungen in der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets omnipräsent waren, unterhielten im Maschinenbau Sachsens nur die größeren Unternehmen eine solche Zeitung; so etwa Wanderer in Chemnitz, Pittler in Leipzig und Hille in Dresden. 117 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 686.
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den Arbeiter, so doch indirekt über ein häufig sehr überzeugendes Medium übertragen werden: seine Frau. Reger schrieb über diesen Zusammenhang: Nicht Fries oder irgendeiner seiner Kollegen, Herr Drees verstand es, den Scheiterhaufen von der Otto-Heinrich-Hütte produktiv zu machen. Er wußte, daß es genügte, wenn der Arbeiter die Werkszeitung in die Tasche steckte, wo sie nachher von seiner Frau gefunden wurde. Spätestens mit dem Moment, da das erste Exemplar auf dem Tische einer Arbeiterwohnung lag, war die Beeinflussung perfekt. Denn bevor der Mann seine Stulle darin einwickelte, hatte es die Frau, hatten es die Kinder gelesen, und Herr Drees fesselte sie mit Romanen, Modeberichten, Gedichten, Witzen und Rätseln.118
Wachsendes Problembewusstsein
Es erscheint vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich, dass die Werkszeitungen von den meisten Gewerkschaftssekretären bekämpft wurden. Ihnen galt das Lesen der Werkszeitungen als Klassenverrat und die Fokussierung auf „Nebensächlichkeiten“ als wirtschaftsfriedliche Indoktrination. Im Gegensatz zur Vorkriegszeit waren es aber genau diese Blätter, die ein weitergehendes Nachdenken über die defizitären Inklusionsmechanismen der Gewerkschaft im DMV anstießen. Anders als gegenüber den „gelben“ Werkvereinen gestaltete sich das Verhältnis des Metallarbeiterverbands zu den Werkszeitungen (und auch zum DINTA allgemein) nämlich ambivalenter. Zwar lehnte der Verband die Idee der „Werksgemeinschaft“ seitens der Arbeitgeber rundheraus ab, doch gelangten viele aufmerksame Beobachter im DMV und in der Gewerkschaftsbewegung schnell zu der Einsicht, dass sich deren Stoßrichtung zu einem schwerwiegenden Nachteil für den Verband entwickeln könnte. Denn das DINTA beschwor eine Konfrontation, der man im DMV kaum mit Appellen an die Mitglieder beikommen konnte: Auch hier wie in so vielen ähnlich gelagerten Fällen genügt nicht die Polemik gegen die soziale Tendenz des Gegners, und die Abstinenz gegenüber der von ihm in Angriff genommenen sachlichen Aufgabe der Arbeitsgestaltung ist nicht erlaubt, sondern es muß seiner positiven Leistung eine eigene positive Leistung auf demselben Felde entgegengesetzt werden, wenn man überzeugen will. […] Das Problem steht auf der Tagesordnung. Es wird entweder gegen die Arbeiterbewegung gelöst werden und so die Anziehungskraft ihrer Gegner verstärken; oder es wird unter tätiger Mitwirkung der Arbeiterbewegung und im Sinne ihrer Idee von der herrschaftslosen freiheitlichen Disziplin der Arbeit gelöst werden.119 118 Reger, Die Union der festen Hand, S. 634. 119 Eduard Heimann, Soziale Betriebsarbeit, in: Neue Blätter für den Sozialismus 1 (1930), S. 220 – 226. Zitiert nach: Wolfgang Zollitsch, Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und
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Die Reaktionen von DMV-Mitgliedern gegenüber der DINTA unterschieden sich also von jenen gegenüber den Werkvereinen nicht auf Grund des offensichtlichen Erfolgs der Werkgemeinschaftsideologie, der viele Arbeiter mit Misstrauen begegneten, sondern weil die DINTA ein Feld bestellen wollte, das der DMV aus Sicht vieler Mitglieder seit 1918 vernachlässigt hatte. Im Kontext der Beobachtung von Erosionsprozessen der gewerkschaftlichen Anziehungskraft und Mobilisierungsfähigkeit erschienen die Versuche, die betrieblichen Gegensätze im Sinne der Unternehmer auszugleichen, als ungleich schärferer Angriff auf die Grundlagen des Inklusionsarrangements des DMV als vor 1918. Gleichzeitig erklärte diese Konstellation die merkwürdige Hassliebe, die aus vielen DMV-Äußerungen zur DINTA sprach: Denn was das DINTA beabsichtigte und viele Gewerkschaftsmitglieder ersehnten, war zwar einerseits grundverschieden und unvereinbar, aber andererseits auch wesensähnlich – es ging um die Strategien im Kampf um die „Seele des Arbeiters“, der den einen als konfliktfreies Ideal daherkam und den anderen als eine straffe und vom Klassencharakter beseelte Organisationsdisziplin vorschwebte. Die Grundlagen der Hassliebe gegenüber dem DINTA waren das Bewusstsein für den Krisenzustand gewerkschaftlicher Organisation in den 1920er Jahren und die Tatsache, dass die neue Stelle für „Werksgemeinschaft“ in ihren Methoden dem DMV einiges voraushatte. In vielerlei Hinsicht und vor allem in Bezug auf die Metallarbeiter-Zeitung diente sie daher zunehmend als eine Blaupause, deren Existenz man in der Gewerkschaftsleitung aber niemals zugegeben hätte. Man machte im Umgang mit den Mitgliedern die Erfahrung, dass die Wege der Verbandsarbeit nach 1914 zu einer eher unpersönlichen Vertretung verkommen waren, durch die die brüchige Anziehungskraft des Verbandes kaum konserviert werden konnte. Es drohte ein Bindungsverlust, der die rechtlich garantierte Gewerkschaft zu einer inhaltlosen Hülle degenerierte. Seit 1925 kritisierten Artikel im Verbandsorgan daher immer wieder die „hoffnungslose Lohnbewegerei“,120 deren abstrakter Charakter keinen vitalen Austausch zu der Metallarbeiterschaft herstellen könne. Die wachsende Betriebsferne und die Probleme vieler Werkstattvertrauensmänner entstünden durch eine „mangelnde Kenntnis des Seelenlebens der Arbeiterschaft“ und die „Vorstellungsarmut der Führer“.121 Man attestierte den örtlichen Leitungen eine mangelnde Anpassungsfähigkeit an ein Publikum, für dessen erfolgreiche Inklusion scheinbar andere Mechanismen notwendig waren als in der Zeit des Kaiserreiches. Im Kampf „um die Seele des Arbeiters“ stimmten also weder Problembewusstsein noch Methode: Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Jahre 1928 bis 1936, Göttingen 1990, S. 112. 120 K. Opel, Andere Wege, in: MAZ 42 (1925) 36, S. 142. 121 Peter Loosen, Was uns noch fehlt, in: MAZ 46 (1928) 9, S. 70.
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Man klagt über Teilnahmslosigkeit und Dummheit der Masse, ahnt aber nicht, daß man selbst die Hauptschuld trägt, indem man alles unbeachtet läßt, was auf die Arbeitermasse irgendwie Anziehung ausüben könnte. Man muß einmal versuchen, sich in die Seele des Arbeiters hineinzuversetzen und in „ihrer“ Sprache zu ihnen zu reden.122
Um den problematischen Begriff zu bemühen: Die Gewerkschaftsbewegung war unmodern geworden und erwies sich als zusehends unfähig, mit der sich rasch wandelnden Gesellschafts-, Medien- und Freizeitentwicklung Schritt zu halten. Entsprechend der vielformulierten Kritik: „Die Kunst, andere Menschen für etwas zu gewinnen oder für eine gute Idee aufnahmefähig zu machen, kommt nicht aus der Luft geflogen“,123 bemängelten Mitglieder das Fehlen moderner Filmvorführungen und die Verkennung der Bedeutung des Sports für die Arbeiterschaft. Auch die geselligen Abende und Familienveranstaltungen (man erinnere sich an Göhres Schilderungen) kämen kaum noch zustande, worunter die Qualität des Zusammengehörigkeitsgefühls stark leide.124 Mittel, wie sie von anderen Bewegungen angewandt wurden (gemeint war in der Regel das DINTA), fänden keinen Weg in das verbandliche Instrumentarium, weshalb viele Beobachter den Verweis auf den „Geist der Zeit“ auch nicht gelten lassen wollten. Sie forderten dagegen ein aktives Vorgehen, dessen Wortlaut häufig aus einem DINTA-Artikel hätte stammen können: Man sagt vielfach, es läge am „Geiste der Zeit“. Gut, modeln wir dann eben diesen Geist um. Dazu ist aber notwendig, daß wir unsere Brüder und Schwestern, aber auch uns selber kennen lernen. Betreiben wir also Seelenkunde!125
Die „Krise der Gewerkschaften“ verorteten die Kritiker im Verband demnach nicht in der Stärke seiner Feinde oder den wirtschaftlichen Verhältnissen, sondern in einer mangelnden inneren Festigkeit und Inklusivität der Organisation selbst, an der die Führung die Hauptschuld trage. Fast alle Artikel machten dafür drei miteinander zusammenhängende Faktoren verantwortlich: Den Verlust des Kampfcharakters im Zuge der Schlichtung und Systemintegration, die defizitären Bildungsbemühungen des Verbandes und schließlich (und am breitesten diskutiert) den Verfall des Gewerkschaftsgedankens. Allzu lange habe sich niemand im DMV um die „Differenzierungen der Geister“ oder „Gedankendifferenzierungen“ 126 gekümmert und 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Vgl. K. E., Mehr für den Verband werben, in: MAZ 49 (1931) 10, S. 78. 125 Loosen, Was uns noch fehlt, S. 70. 126 Viktor Stein, Eine Krise der Gewerkschaften?, in: Betriebsräte-Zeitschrift 10 (1929) 17, S. 505, 507.
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den Industriellen das Feld überlassen. Den Fortschritt in deren Vorgehen, das nicht mehr die Methoden „des Königs Stumm oder des Herrn Krupp“ umfasse, sondern von einer „Individualisierung der Bearbeitung“ 127 motiviert sei, habe man im DMV verschlafen – ein selbst verschuldeter Nachholbedarf, der nur durch konsequente Analyse der neuen Methoden aufzuholen sei. Die Essenz dieser Erkenntnis, aus der sich das widersprüchliche Bild des DINTA im DMV ergab, fasste Erik Reger kurz und treffend zusammen: „Nichts wird sich ändern, wenn die Führer nicht, statt von der Masse zu reden, an den einzelnen Mann herangehen. Die Arbeiter müßten eine Ida [gemeint ist das DINTA] aufmachen wie die Industriellen.“ 128 Im Vergleich zur Zeit des Kaiserreiches und auch zur Phase massenhafter Gewerkschaftsbeitritte erscheint es bemerkenswert, wie deutlich sich das Verhältnis zwischen Verbandsführung und Arbeiterschaft im Spiegel der Quellen verändert hatte: War es lange Zeit das sprachliche Bild der „Schachfigur“ und damit die Frage nach dem Grad der Beeinflussung der Mitglieder durch die Führung, die im Mittelpunkt der Beziehung gestanden hatte, kamen seit 1925 andere Termini auf. Im Zuge der Selbstverständlichkeit lohnpolitischer Fortschritte und der gewerkschaftlichen Betriebsferne verschob sich die Rolle des Akteurs weg von den Leitungen hin zu der abstrakten Bereitschaft der Arbeiter zur Mitgliedschaft. Besonders der Vorstand war vom aktiven Lenker zum Bittsteller an das zunehmend instrumentelle Gewerkschaftsverständnis der Metallarbeiter geworden. Denn im Gegensatz zum Kaiserreich, wo sowohl Verband als auch Arbeiterschaft „nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen“ hatten, wandelten sich die Arbeitsbeziehungen durch Anerkennung und Verrechtlichung nach 1918 zu einem eher „geistigen Ringen“ 129 – mit unverkennbaren Folgen für das Gewerkschaftsverständnis vieler Arbeiter und einen Bereich, dem sich die überbetriebliche Gewerkschaftspolitik kaum noch widmete: Die Mechanisierung des ganzen Lebens in der kapitalistischen Entwicklung hat auch unsere Gewerkschaftskämpfe beeinflußt und die – sehr gefährliche – Folge mit sich gebracht, daß manche Arbeiter und Arbeiterinnen die Gewerkschaft wie einen Automaten betrachten, in den man den Mitgliedsbeitrag nur dann hineinwirft, wenn sofort die Zuckerln der Lohnerhöhung herausfallen.130
Neben dem „Automaten“ sei, so die Kritiker, für viele Mitglieder der DMV „nur der Regenschirm, an den man bloß bei schlechtem Wetter denkt“.131 Große Teile 127 Vgl. ebd., S. 507. 128 Reger, Die Union der festen Hand, S. 665. 129 Richard Wagner, Gewerkschaftswerbung, in: MAZ 48 (1930) 5, S. 39. 130 Ebd. 131 Die Gewerkschaftsbewegung als Regenschirm, in: MAZ 50 (1932) 41, S. 244.
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der Mitgliedschaft blieben notorisch inaktiv, stünden nicht für Ämter zur Verfügung und seien „in ihrer scheinbaren Bescheidenheit verletzend anspruchsvoll“.132 Sie brächten gegenüber dem Verband nur so lange Solidarität auf, wie sich effektiver Nutzen daraus ziehen lasse, machten den DMV aber genau dadurch zu einem unpersönlichen und letztlich austauschbaren Dienstleister. Diese Krise der Gewerkschaftsmentalität führten nicht wenige auf falsch gesetzte Prioritäten der Organisation zurück: Im Laufe der Jahrzehnte ist die Geselligkeit – leider – immer mehr abhanden gekommen, zum Schaden der menschlichen Solidarität, der Kollegialität und der Organisation. Früher bildete jede Mitgliedschaft viel mehr als heute eine Kameradschaft, eine Familie.133
Vor allem jahrelang organisierte Arbeiter vermissten die gewerkschaftliche Individualität des Kaiserreichs, als man aus einer hochinklusiven Verfolgungssituation heraus den Weg in die Privatsphäre der Mitglieder fand. Ihnen fehlte der Appell an das Gefühl – etwa durch unbürokratisch-persönliche Aufnahmezeremonien und Jubiläen im Kreise der Kollegen – und damit der soziale Kitt, der die Bewegung zu mehr machte als zu einem reinen Selbstzweck. Diese Schieflage sei, so ein Beobachter, auf den fundamentalen Wandel zurückzuführen, der den Ort der Agitation erfasst habe: Während der DMV in den ersten Jahren seines Bestehens ein zurückgedrängtes, aber gut integriertes Nischenphänomen bildete und in der „Betriebsphase“ einen doppelten Kurs aus betrieblicher Verankerung und außerbetrieblicher Milieueinbindung verfolgte, sei alles Außerbetriebliche seit 1918 vernachlässigt worden: Während früher die Wohnung des Kollegen eine ausschlaggebende Rolle spielte, um den nötigen Kontakt mit der Organisation herzustellen, so ists heute nur der Betrieb. Durch Schaffung der Betriebsräte, die die gewerkschaftlichen Funktionäre im Betrieb sind, ist dieses Verhältnis umgestaltet worden. Der Kontakt zur Organisation wird also heute fast nur im Betrieb aufrecht erhalten.134
Diese Diagnose des individuellen Defizits des DMV wog umso schwerer, weil sich auch die Betriebsarbeit der Gewerkschaft verrechtlicht hatte, immer stärker überbetriebliche Aushandlungskanäle in den Mittelpunkt rückten und für eine mitglieds 132 E. Bruggmann, Das liebe ich, in: MAZ 46 (1928) 16, S. 126. 133 Eine Kluft droht. Zwischen beschäftigten und unbeschäftigten Arbeitern, in: MAZ 49 (1931) 43, S. 310. 134 Eine Kluft droht. Zwischen beschäftigten und unbeschäftigten Arbeitern, in: MAZ 49 (1931) 42, S. 304.
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bezogene, persönliche Betreuung im Betriebsrätesystem nur selten Platz blieb. Ein Paradebeispiel für die Folgen für das Gewerkschaftsverständnis lieferte wiederum Erik Reger in seiner Schilderung des Organisationsverhaltens von Erich Dopslaff: Manche Leute, die mit den Verhältnissen weniger vertraut waren, wunderten sich, wie dieses im angeblichen Zeitalter einer straff organisierten Arbeiterschaft möglich sein könne. Nun, Heinrich Dopslaff war seit Kriegsende dreimal in die Gewerkschaft ein- und wieder ausgetreten. Solange die Inflation dauerte und die sogenannten Lohnerhöhungen durchgesetzt wurden, war Dopslaff organisiert. Als dann nach der Marktstabilisierung die Löhne mäßig, aber fest wurden, schimpfte seine Frau jede Woche über die abgeführten Beiträge. […] Um das nicht mehr anhören zu müssen, trat er aus. Bald darauf spitzte sich die Lage zu, ein Streik schien zu drohen, er bekam Angst. Den Streikbrecher zu machen, schämte er sich noch, und außerdem hieß es, in Zukunft sollten für die Unorganisierten die Tarife keine Gültigkeit mehr haben. […] Er trat wieder bei, bis die Gefahr beseitigt war. „Siehst du“, sagte seine Frau, „die haben ja nich mal die Courage zu streiken“, und er antwortete: „Ja, ja, ich gehe ja schon wieder raus.“ Doch ließ er sich nochmal beschwätzen, als der Sprecher seines Betriebsrayons ihn bearbeitete, und da er immer noch nicht so recht zog, sogar den Betriebsrat Fries mitbrachte. Da konnte er nun nicht widerstehen, als der Vorsitzende des Betriebsrats sich selbst um ihn bemühte und ihn mit gönnerhafter Miene als „Kollegen“ ansprach, und diesmal blieb er dabei, bis die Arbeitszeit heraufgesetzt wurde. Diesen Anschlag auf seine Freiheit aber quittierte er sofort damit, daß er denen den Rücken kehrte, die versucht hatten, ihn zu vereiteln. Allmählich begann es aus seinem Schimpf eine Mannhaftigkeit zu werden, wenn man ein Unorganisierten war.135
Regers Beschreibung machte, obgleich fiktiv, die Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Lage in den späten 1920er Jahren deutlich: Eindeutig besaß der Verband immer noch großes Anziehungspotential, solange man die Arbeiter und Mitglieder persönlich erreichte und es vermochte, eine Bindung aufzubauen, die über kurzfristige, abstrakte Interessen hinausging. In solchen Fällen war es auch unwahrscheinlich, dass der Werksgemeinschaftsgedanke großen Charme versprühte: Die Wirkmächtigkeit direkten Kontakts und letztlich das Vorspielen der Illusion, trotz verschiedener Stellungen Teil einer Klasse und Schicksalsgemeinschaft zu sein, band Arbeiter weiterhin erfolgreich an die Idee der Bewegung. Den ohnehin suspekten Deutungsangeboten der Unternehmer gegenüber erwies sich die Betriebsarbeit des Verbands daher als überlegen, musste sie doch keinen so großen Spagat bewerkstelligen. Eine „Organisation mit Gesicht“ und mit einem positiven Integrations-
135 Reger, Die Union der festen Hand, S. 530 f.
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gefühl war also unschlagbar, sah sich aber zahlreichen herausfordernden Faktoren gegenüber, die Reger ebenfalls anschnitt: Zum einen, und hier lag der wohl wichtigste Unterschied zur Vorkriegszeit, wurde die Gewerkschaft zunehmend mit dem politisch-wirtschaftlich verquickten System der Weimarer Republik identifiziert und geriet in die Gefahr, für dessen Wirkungen verantwortlich gemacht zu werden. Dass man dieser Interpretation immer seltener den vielbeschworenen Kampfescharakter des Verbands entgegensetzte, stimmte die Kritiker umso trauriger, hatte es doch aus Sicht der Arbeiter die Folge, positive Ergebnisse als kampflose Selbstverständlichkeiten aufzufassen, für die eine Mitgliedschaft gar nicht notwendig war – ein Sachverhalt, den Reger in Dopslaffs Furcht vor einer Beschränkung der Tariferfolge auf Organisierte sehr gut einfing. Neben dieser Instrumentalisierung der Gewerkschaftsidee zeigte er aber zum anderen auch, welcher Wandel sich in der Rolle des familiären Umfelds der Arbeiter abgespielt hatte. Vor allem in der Aktivierung der Frau, die zwar auch zuvor vorhanden war, durch die Stoßrichtung der DINTA und der Werksgemeinschaft aber nochmals massiv an Bedeutung gewann, ergaben sich alltägliche Möglichkeiten, die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft in Frage zu stellen. Als Transmissionsriemen dienten dazu die finanzielle Hoheit der Arbeiterfrau in der Familie und die konsequente, konfliktarme Entpolitisierung in den Werkszeitungen. Beide Faktoren, Instrumentalisierung und familiärer Bezug, traten mit dem schwindenden betrieblichen Ansatz des DMV in Konflikt und führten im Kontext konjunktureller Entwicklungen, gewerkschaftlicher (Miss-) Erfolge und verbandlicher Agitationsmaßnahmen zu einem weiterhin fluktuierenden Organisationsverlauf, für den Reger mit seiner Arbeiterfigur einen literarischen Prototypen lieferte. Die innergewerkschaftliche Debatte
Vor dem Hintergrund zahlreicher Mobilisierungsprobleme – der Vorstand und die Bezirke beklagten bereits 1925 mangelnde Anteilnahme der Arbeiter und eine fehlende Rückendeckung bei Lohnverhandlungen 136 sowie den schlechten Besuch von Versammlungen – gewannen die Positionen der „Werksgemeinschaft“ in ihrer proletarisch-klassenbezogenen Spielart allmählich größere Attraktivität für den Verband. In unverhohlener Anlehnung an das DINTA sollte der Entfremdung von der Basis eine eigene „positive Leistung“ entgegengesetzt werden: Wie sagte doch der Vater des Dinta-Unwesens, der Ober-Ingenieur Arnholt, zu einer Reihe katholischer Besucher: „Wir können machen, was wir wollen, wir haben die Leute fest in
136 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1925, S. 66 f.
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der Hand!“ Nun, sorgen wir Gewerkschafter dafür, daß nicht er, sondern wir die Leute fest in der Hand haben.137
Bei der Frage nach der Methodik zeigte sich jedoch recht schnell, dass die Adaption der DINTA-Vorlage im DMV nur punktuell vonstattenging. Auf die „hohe“ Gewerkschaftspolitik wirkten sich die Mahnungen von der Basis kaum aus – sie blieb an überbetrieblichen Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen interessiert und entwickelte kaum betriebliche oder gar psychologische Strategien im Kontakt mit Arbeiterschaft. Die große Ausnahme bildete die Redaktion der Metallarbeiter-Zeitung, die den verstreuten, uneinheitlichen und meist lokal begrenzten Ideen zur Stärkung der „Organisationsgemeinschaft“ ein Sprachrohr zur Verfügung stellte und zahlreiche Versuche zur Organisation und Lenkung des Diskurses unternahm. Sie erfüllte dabei letztlich eine ähnliche Funktion wie die Werkszeitungszentrale des DINTA und transportierte das Ideal des Zusammenhalts (freilich mit ganz anderer Ausrichtung). Doch noch viel stärker als auf der unternehmerischen Seite, wo die Werksgemeinschaft eher ein ideologischer Standpunkt als ein konkretes Programm war, stellte sich aufseiten der Gewerkschaft heraus, dass die Presse in der Tat der einzige Ansatzpunkt im „geistigen Ringen“ blieb. Die Rolle des DMV hatte diesbezüglich viel mit jener in der Rationalisierungsbewegung gemeinsam: Sie blieb (beinahe) ohne praktisches Handeln der Gewerkschaftsleitung auf einen Diskurs beschränkt. Innerhalb der Debatte ließen sich drei Kernthemen ausmachen, die auf vielfältige Art miteinander zusammenhingen: Man fragte sich, wie „angestaubte“ Gewerkschaftsmethoden wieder attraktiv gemacht werden könnten, wie sich geeignetes Personal gewinnen und bilden lasse und wie man angesichts der Bedrohung durch das DINTA eine Ausweitung des Wirkungsbereichs erzielen sollte. Bei der ersten Frage zeichnete sich eine deutliche Tendenz ab: Die Reaktivierung des traditionellen Instrumentariums wurde als Aufgabe zur Wiederbelebung des abebbenden Versammlungsbesuchs interpretiert. In der Reihe „Wie den Versammlungsbesuch bessern?“ sammelte und veröffentlichte die MAZ-Redaktion zahlreiche Mitgliederzuschriften, in denen die gesamte Bandbreite des empfundenen Beziehungsproblems zur Basis aufschien. Bereits in der ersten Ausgabe wurde dabei deutlich, dass sich in der Gewerkschaftsbewegung seit dem Kaiserreich scheinbar irreversible Verschiebungen ergeben hatten, die höchstens kompensiert werden konnten – eine Beobachtung, die sich wie ein roter Faden durch die Zuschriften zog und von einer tiefen Sehnsucht nach der alten Anziehungskraft zeugte:
137 Um die Seele des Arbeiters, in: MAZ 45 (1927) 9, S. 36.
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Der Hauptgrund, warum die Mitglieder, vor allem die jungen, nicht kommen, ist in der heutigen Art der Gewerkschaftsarbeit zu suchen. Den jetzigen Lohnbewegungen fehlt die Begeisterung der Kämpfe der Vorkriegszeit. Heute werden die Lohnbewegungen meistens am grünen Tisch geregelt. Das Mitglied ist nur mittelbar, nicht unmittelbar beteiligt. Ein Streik ist aber immer ein tiefes Erlebnis, dessen Eindruck von Dauer ist. Vor dem Krieg spürte das Mitglied selbst, was es heißt zu kämpfen und daß man nur durch Einigkeit und Zusammenschluß in der Organisation etwas erreichen kann. Dadurch waren die Mitglieder auch mehr für die Verbandstätigkeit zu gewinnen. Die Zeiten kommen nicht wieder.138
Man vermisste „innere Gebundenheit“ und die gewerkschaftliche Sensibilität für das Stimmungsmoment der zwischenmenschlichen „Geschlossenheit“.139 So wurden ganz konkrete Maßnahmen zurückgefordert, die in der Vorkriegszeit eine integrierende Rolle gespielt hatten: Kinder- und Familienfeste sollten den Kontakt zu den Interessen der Arbeiterfrauen herstellen und einen pädagogischen Einfluss auf die Kinder ausüben.140 Mit geselligen Abenden unter den Kollegen verband man die Hoffnung einer Renaissance des Gemeinschaftsgefühls.141 Großes Unverständnis herrschte auch bezüglich der gewerkschaftlichen Aufnahmepraxis, die als unpersönlich, kühl und bürokratisch empfunden wurde. Vielmehr sollte der Eintritt in den Verband etwas Besonderes für den Arbeiter sein und ihm das Gefühl geben, als geschätzter und wichtiger Teil eines Ganzen zu gelten. Auf manch unscheinbare Besonderheiten der Tagesordnung bei Versammlungen, die den Ortsverwaltungen als nebensächlich erschienen, für den Arbeiter aber weit mehr waren als unbedeutende Kleinigkeiten, wurde daher wieder Wert gelegt: Die versammelten Mitglieder sollten zur Begrüßung des neuen Mitglieds aufstehen, es generell brieflich und herausgehoben zu seiner ersten Sitzung einladen und ihm dabei einen eigenen Tisch neben dem Rednerpult zuweisen.142 All diesen Forderungen war eines gemein: Sie setzten im Kampf gegen die Gleichgültigkeit der Mitglieder einer, als entindividualisiert und abstrakt empfundenen Gewerkschaftspolitik den Blick für das Besondere entgegen – in der Hoffnung, dadurch den Brückenschlag zwischen Arbeiter und Organisation gewährleisten zu können. Besonders ältere Mitglieder, die das Aufkommen des instrumentellen Gewerkschaftsverständnisses erlebt hatten, verwiesen implizit immer wieder auf die Lehre von 1918 bis 1924 und die Notwendigkeit, eine gewerkschaftliche „Geistes-
138 Heinrich Franke, Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 45 (1927) 49, S. 338. 139 Ebd. 140 Vgl. ebd. 141 Vgl. Fritz Kummer, Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 46 (1928) 3, S. 22. 142 Vgl. Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 46 (1928) 5, S. 38.
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bildung“ anzustoßen. Zu diesem Punkt, in dem der DMV sicherlich die größte Schnittmenge mit dem DINTA aufwies, äußerte einer der Beobachter: […] daß nach meinem Bedünken bei unserer Geistesbildung die Seele zu kurz kommt. Man legt mehr Wert auf die Bildung des Verstandes als auf die des Gemütes. Unsere Aufklärungs- und Werbearbeit nimmt den Weg mehr über den Kopf als über das Herz. Darin scheint mir eine der großen Ursachen des ungenügenden Erfolges unserer Bildungsarbeit und der allseitig beklagten Teilnahmslosigkeit der Mitgliedschaft, insonderheit des jungen Geschlechtes zu liegen.143
Um dieser Forderung methodisch nachzukommen, mahnten die meisten Zuschriften eine modernere Ausgestaltung der Gewerkschaftsversammlungen an. Die Verbesserungsvorschläge, in denen sich häufig die Sorge um den Anschlussverlust an mediale Neuerungen Bahn brach, differenzierten dabei durchaus zwischen verschiedenen Ortsverwaltungsgrößen und Auditorien. So sollten in kleineren Orten, in denen bisher kaum mediale Unterstützungen eingesetzt wurden, Lichtbildvorträge dazu dienen, „trockene“ Themen anschaulicher zu machen.144 In größeren Orten dagegen und vor allem bei Frauenversammlungen (dieser Umstand soll noch eine Rolle spielen), wo solche Mittel entweder aus Gewöhnung oder aus biologistischen Erwägungen heraus als wenig nützlich erachtet wurden, sah man den Weg in der Stärkung des gewerkschaftlichen Filmwesens.145 Die grundlegend positive Konnotation dieses neuen Mediums konnte, so die Idee, die Akzeptanz als Kommunikationskanal zur Mitgliedschaft untermauern, und ließ sich gut als moderner Transmissionsriemen für gewerkschaftliche Positionen einspannen. Dies betraf auch die Methoden der Agitation: All das Jammern über Kino und Radio, so das Mitglied Richard Wagner, bringe letztlich nichts, weil „die Menschen […] andere geworden [sind]“.146 Nur durch die Anerkennung dieser Entwicklung, an der die Arbeiterbewegung selbst großen Anteil gehabt habe, könne der nötige Schritt zur Anpassung der Agitationsmethoden geleistet werden. Werbung über Film, Radio und Leuchtreklame sei daher als Weg in die Modernität grundsätzlich bestens geeignet – eine Ende der 1920er Jahre innerverbandlich breit geteilte Einschätzung. Darüber hinaus dachten viele Mitglieder über die geeignete Versammlungsumgebung nach und fragten sich, wie das oft beobachtete Abdriften in die Langeweile verhindert werden könne. Als besonderes Übel galten dabei verqualmte Lokale, durch die der Besuch automatisch separiert werde, und generell die Wahl 143 144 145 146
Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 46 (1928) 4, S. 30. Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 45 (1927) 52/53, S. 362. Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 45 (1927) 47, S. 322. Wagner, Gewerkschaftswerbung, S. 39.
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von weit entfernten, schlecht belüfteten, dunklen und zu kleinen Versammlungsräumen. Waren solche Probleme beseitigt, galt es vielen als großes Anliegen, zwei oft miteinander verwandte Barrieren für den Versammlungsbesuch abzubauen: die einseitig politische und damit für einen kleinen Teil der Besucher bevormundende Darstellung und den „bösen Vielredner“.147 Als Auswahlkriterium für den Diskussionsstoff sollten daher nicht politische Grabenkämpfe und Grundsatzdiskussionen dienen, sondern neben der Aktualität die Frage vorherrschen, welche Anziehungskraft die Thematik auf die Zuhörer ausübe. Als überaus produktiv für das Selbstvertrauen des Redners und auch als „lebensechter“ für die Besucher stellte es sich deshalb heraus, Kollegen aus den Betrieben vortragen zu lassen – ein Vorgehen, in dem viele den Wunsch erfüllt sahen, zu den Mitgliedern „in ihrer eigenen Sprache“ zu sprechen.148 Die Nähe zum DINTA-Konzept wurde auch im zweiten innergewerkschaftlichen Kernthema der späten 1920er Jahre deutlich. Denn ausgehend von den Erkenntnissen der ersten Hälfte des Jahrzehnts rückte nun verstärkt die Bildung von betrieblichen Führungskräften auf die Agenda.149 Anders als beim Kampf „um die Seele“ des Arbeiters, wo die Überlegungen dezidiert auf die Organisationspsychologie und den außerbetrieblichen Raum abzielten, stand dabei jedoch die „klassische“ betriebliche Arbeit im Mittelpunkt. Betriebsräte und Vertrauensleute sollten mit dem nötigen Rüstzeug ausgestattet werden, um ihre gesetzlichen Aufgaben bestmöglich wahrzunehmen (Betriebsräte) und das „Rückgrat der Organisation“ im Betrieb wieder zu stärken (Werkstattvertrauensleute). Das Vorzeigeprojekt (in diesem Punkt engagierte sich auch der Vorstand) war die 1926 gegründete Wirtschaftsschule des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Bad Dürrenberg. Unter der Leitung von Georg Engelbert Graf 150 wurden hier Betriebsräte, Vertrauens 147 Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 45 (1927) 47, S. 322. 148 Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 45 (1927) 50, S. 346. 149 Die Agenda des Vorstandes in: Winke für die proletarische Bildungsarbeit, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1924; als analysierte Quellensammlung in: Lothar Wentzel, Die Bildungsarbeit des Deutschen MetallarbeiterVerbandes, 1891 – 1933. Eine Dokumentation, Köln 1995. 150 Georg Engelbert Graf (1881 – 1952) zählte nach 1918 zu den wichtigsten Pädagogen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Er trat 1908 der SPD bei und war im Zentralbildungsausschuss der Partei tätig. Von 1917 bis 1922 gehörte er der USPD an und redigierte diverse Jugendzeitschriften wie etwa die Freie Jugend. Zwischen 1919 und 1921 arbeitete er als Lehrer an der sozialistischen Schule in Tinz bei Gera und war von 1921 bis 1933 für den Bildungsbereich des DMV verantwortlich. Von 1928 bis 1933 war er Mitglied des Reichstages. Nach 1945 war er unter anderem Universitätsdozent in Jena und Berlin und verfasste zahlreiche Werke sowohl wissenschaftlichen als auch belletristischen Inhalts. Vgl. Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 470.
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leute und auch Verbandsangestellte in auf sie zugeschnittenen Kursen unterrichtet. Je nachdem, ob der betriebliche oder verbandliche Fokus auf der Tagesordnung stand, unterschieden sich die zwanzig Einzelkurse signifikant. Neben einem kleinen Anteil Basiswissen, den die hauptamtlichen Lehrer übernahmen (Graf, Ernst Fraenkel, Otto Richter, August Sitz und Otto Eichler), vermittelten zahlreiche Gastredner Spezialwissen. Unter diesen befanden sich mit Otto Suhr, Fritz Naphtali, August und Anna Siemsen, Max Adler und Paul Hermberg wichtige Vertreter unterschiedlicher Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung. Zwischen 1926 und 1931 wurden auf diese Weise unter wechselnder Besetzung 47 Betriebsrätekurse für 1823 Teilnehmer und 37 Spezialkurse für Beisitzer an Arbeitsgerichten und Arbeitsämter durchgeführt.151 Betrachtet man allerdings die pädagogische Ausrichtung der Schule anhand der Äußerungen ihres Leiters, wurde schnell klar, dass es hier nicht um die „menschliche Qualität“ der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung ging, die viele Mitglieder in der Metallarbeiter-Zeitung forderten. So formulierte Graf: Damals war die Gewinnung der Mitglieder, die Agitation für die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen die Hauptsache. Unsere Führer waren Apostel, die in die Welt zogen, um zu predigen und zu werben, die vielfach an das Gefühl appellieren mußten.152
Gerade dieses Profil, mit dessen Reaktivierung sich manches Mitglied einverstanden erklärt hätte, lehnte Graf strikt ab. Seiner Meinung nach könne gewerkschaftliche Erwachsenenbildung nur ohne Ansehen der Person stattfinden. Sie sei Zweckbildung im Hinblick auf die Sache und auf die Vermittlung von Wissen für die sozialen und ökonomischen Aufgaben. Als „doppelgleisiger Entwicklungsprozess“, der sich einer integrativen Grundposition und der Spezialisierung von Fähigkeiten verpflichtet sah, sollten die legalen Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten ausgelotet werden, um die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben.153 Mit dieser Konzentration auf die politischen (und aus Sicht der Arbeiter abstrakten) Ziele der Gewerkschaftsbewegung ging eine innere Widersprüchlichkeit der Lehre einher, die als „Ambivalenz zwischen Theorie und Praxis“ 154 151 Vgl. Franz-Josef Jelich, „Das Ideal für unsere Schule ist das Internat“. Zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Bad Dürrenberg, in: Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.), Soziale Bewegung, Gemeinschaftsbildung und pädagogische Institutionalisierung. Erwachsenenbildungsprojekte in der Weimarer Republik, Essen 1996, S. 138 f. 152 Zitiert nach: ebd., S. 134. 153 Vgl. ebd., S. 135 f. 154 Ebd., S. 140.
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bezeichnet wurde. Denn einerseits transportierte die Schule eindeutig Ideen des Korporatismus, der Wirtschaftsdemokratie und damit der Einbindung in das wirtschaftliche System, während andererseits an einer Rhetorik des Klassenkampfes festgehalten wurde, die angesichts der tatsächlichen Entwicklung nichts als überholte Propaganda war. An dieser Form der „Charakterbildung“ von Führungspersonen, die nicht einem individuellen, sondern sachlich-politischen Verständnis der Betriebsarbeit Vorschub leistete, war auch der Tagesablauf in Bad Dürrenberg ausgerichtet: Die Schule war ein streng geleitetes Internat mit einer klosterähnlichen Atmosphäre, striktem Alkoholverbot, Hausarbeit und Nachtruhe ab 22 Uhr.155 Ausdruck einer neuen Empfindsamkeit gegenüber der „Seele“ des Arbeiters konnte und wollte sie daher auch gar nicht sein. Dies galt auch für eines ihrer Partnerprojekte, die „Schule der Arbeit“ in Leipzig, die Vorbildcharakter für ähnliche Gründungen in Jena (unter Adolf Reichwein), Thum, Zehlendorf und Saarbrücken haben sollte. Junge Arbeiter (die meisten waren in ihren Zwanzigern) wurden hier ebenso auf die Arbeit als Vertrauensmann oder Betriebsrat vorbereitet. Vergleicht man ihren Unterricht mit jenem für die Vertrauensmänner durch das Chemnitzer Gewerkschaftskartell in der Vorkriegszeit, werden die Unterschiede im gewerkschaftlichen Bildungscharakter und damit auch in Bezug auf das Verhältnis zu den Mitgliedern deutlich. Standen 15 Jahre zuvor noch Unterrichtsthemen wie die „Denkordnung“ der Arbeiter, rhetorischer Stil und das Einspielen von sozialen Verhaltensweisen auf dem Stundenplan, erschöpfte sich das Angebot in Leipzig genauso wie in Bad Dürrenberg in der Geschichte der Arbeiterbewegung, den Grundlagen der Volkswirtschaft, der Reichsverfassung und dem Parteisystem sowie den arbeitsrechtlichen Grundlagen.156 Zumindest pädagogisch hatte die verbandliche Seite des Verhältnisses der Organisationsebenen obsiegt. Es steht zu vermuten, dass die Zuschriften in der Metallarbeiter-Zeitung mit ihren Forderungen nach geeigneteren Vertrauensleuten 157 etwas anderes gemeint hatten. Generell unterschied sich der Lehrplan gewerkschaftlicher Bildungseinrichtungen in den 1920er Jahren qualitativ fundamental von der Art und Weise, wie der betriebliche und gesellschaftliche Wandel in der Metallarbeiter-Zeitung thematisiert wurden. Denn die grundlegenden Begriffe, mit denen man die Verortung der Gewerkschaft innerhalb der Prozesse überdachte, wurden in den Bildungsstätten 155 Vgl. ebd., S. 139. 156 Vgl. Schreiben des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung an das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten mit einer Erklärung der Einrichtung „Schule der Arbeit“ und der Bitte um finanzielle Förderung vom 4. 5. 1928, in: Sächsisches HStA Dresden, 10717, Nr. 6229, Bl. 8395, S. 1 – 4. 157 Vgl. etwa: Wie den Versammlungsbesuch bessern?, in: MAZ 46 (1928) 1, S. 5.
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mit einer anderen Intention benutzt. Schlagwörter wie „Freizeit“ und „Familie“, „Frau“ und „Jugend“ interessierten in Bad Dürrenberg nur vor dem Hintergrund gesetzlicher und politischer Zielvorstellungen. Der Aspekt des inneren Zusammenhalts der Bewegung spielte dabei keine Rolle. Es ging um die Frage, wie man gewerkschaftliche Betriebs- und Politikvorstellungen trotz des Wandels verwirklichen oder in deren stabile Ausrichtung integrieren könne. Demnach zählte vor allem die Wirkung auf die Organisation als „Fels in der Brandung“. Dagegen zeichneten aufmerksame Beobachter unter den Mitgliedern ein anderes Bild: Für sie waren die Schlagwörter Faktoren, auf die man nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Omnipräsenz offener reagieren müsse und die daher auch eine Öffnung gegenüber neuen Themen und Methoden anstoßen sollten. Der vielfach diagnostizierte Nachholbedarf entstehe nur, weil die Führung einseitig die Organisationsebene im Blick behalte, ohne zu bemerken, was darunter vor sich gehe. Die dynamische Anziehungskraft des Wandels auf die Arbeiterschaft führe, wenn sich die Organisation nicht bewege, zu einer weiteren Entfremdung von der Basis. Im gleichwertigen Neben- und Miteinander von Verband und Mitgliedern seien demnach bisher die falschen Prioritäten gesetzt worden und es bestehe neben der Betriebsferne auch die Gefahr einer programmatischen, methodischen und vor allem lebensweltlichen Imbalance, deren Folgen die Leitungen täglich beobachten könnten: eine wachsende Gleichgültigkeit, ein schlechter Versammlungsbesuch und ein zunehmend instrumentelles Gewerkschaftsverständnis. Einige der bemerkenswertesten Versuche, sich scheinbar entfernende Interessen zweier Ebenen abzustimmen, bezogen sich auf das Verhältnis der Gewerkschaft zum Sport.158 Sie seien hier exemplarisch an einem anonymen Beispiel veranschaulicht:159 Der Verfasser vertrat darin die Ansicht, dass sich im Verhältnis zur wachsenden Bedeutung des Sports große Ähnlichkeiten zu den Beziehungen zwischen der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften in den 1890er Jahren aufzeigen ließen. Die „scheelen Blicke“ der Gewerkschaften auf die Sportvereine beruhten demnach auf der Angst vor Mitgliederverlust und dem Vorwurf der Verwässerung des Blicks für die Klassengegensätze. Eine solche Interpretation durch einen Gewerkschafter nahm das Fazit beinahe vorweg. So schrieb er weiter: „Dem Zug der Zeit kann sich eben auf Dauer kein moderner Mensch und keine moderne Organisation verschließen.“ Um den Sport mit den Verbandsinteressen auszusöhnen, müsse man 158 Zur Problematik dieses Verhältnisses vgl. Volker Schmidtchen, Arbeitersport – Erziehung zum sozialistischen Menschen? Leitwerte und Jugendarbeit in zwei Ruhrgebietsvereinen in der Weimarer Republik, in: Jürgen Reulecke/Wolfhard Weber (Hrsg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 345 – 376. 159 Vgl. Gewerkschaften und Sport, in: MAZ 46 (1928) 19, S. 150.
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daher zuerst akzeptieren, dass die Jugend „selbstständiger“ und „selbstbewusster“ geworden sei und in der sportlichen Betätigung eines ihrer wesentlichen Freizeitinteressen erblicke. Daher könne es perspektivisch auch nur um „Annäherung“ der Gewerkschaft an den Sport und nicht um Ablehnung gehen. Auf die Gefahren, die der gesellschaftliche Trend für den Verband mit sich bringe, müsse man sich eben einlassen. Dennoch sei es eine vordringliche Aufgabe, den Sport nicht zum „Selbstzweck“ werden zu lassen, der die gewerkschaftliche Betätigung völlig in den Hintergrund treten lasse. Denn hier lag wiederum eine der großen Befürchtungen des Verbandes, die immer wieder zu scharfen Tönen gegenüber der Sportbewegung führte: Man sah in den „unpolitischen Nur-Sportlern“ eine Tendenz verwirklicht, die die Leichtigkeit und Schnelligkeit des sportlichen Erfolgs der langfristigen und entbehrungsreichen Betriebsarbeit der Gewerkschaft vorzog. Der (wahrscheinlich etwas überzogene) Respekt vor dem harmonisierenden Ansatz des DINTA, den dieses gemeinsam mit den Werken in der Förderung von Werkssportvereinen unterstützte, war dabei unüberhörbar. Besonders die jungen Arbeiter könnten auf schleichende Weise nicht nur den Blick für die wirtschaftlichen Gegensätze verlieren – sie würden auch dazu verleitet, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Die Forcierung der Jugendarbeit
1928 war diese Erkenntnis aber nicht mehr neu. Einzig die Umstände hatten sich geändert. Nach dem etwa zehnjährigen Aufbau einer gewerkschaftlichen Jugendorganisation in der Vorkriegszeit, mit der man vor allem in den sächsischen Großstädten Fortschritte erzielt hatte, verschwand die Jugendarbeit in den turbulenten Nachkriegsjahren beinahe völlig von der verbandlichen Agenda. Erst im Zuge der hereinbrechenden Krise entsannen sich einige Gewerkschafter wieder der Bedeutung dieses Themas und erkannten, dass die gewerkschaftliche Bildungsarbeit seit 1918 besonders gegenüber den Jugendlichen schmerzlich gelitten habe. Die Heranziehung des Nachwuchses entpuppte sich für den DMV plötzlich „im Interesse der Arterhaltung sogar [als] seine erste Pflicht“.160 Um aus den Jugendlichen „nicht nur verbandsbuchbesitzende und markenklebende Mitglieder, sondern Träger der Organisation und gute Sozialisten“ 161 zu machen, konzentrieren sich die Äußerungen zur Jugendarbeit seit 1923 verstärkt auf den inneren Gehalt der Gewerkschaftsmitgliedschaft. Sie versuchten, den besonderen Bedürfnissen junger Arbeiter entgegenzukommen und den Erlebnischarakter der gewerkschaftlichen Arbeit zu transportieren. Im Kampf gegen das „Gestrüpp kleinbürgerlicher Erziehung“ und
160 G. Schubert, Mehr Jugendarbeit!, in: Betriebsräte-Zeitschrift 4 (1923) 1, S. 26. 161 Ebd.
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die „heillose Verwirrung“ 162 durch die Volksschule forderten sie ein pädagogisches Umdenken: Im Mittelpunkt sollten fortan selbstbewusstes und weitgehend selbstbestimmtes Handeln der jungen Kollegen stehen, die man dadurch erfolgreicher an die Organisation zu binden hoffte als zwischen 1918 und 1923. Als sich nach 1925 neben dem DINTA auch die Freizeittrends verfestigten, sah man sich in dieser Sicht bestätigt und es kristallisierten sich mehrere Eckpunkte der aus Sicht der Verantwortlichen idealen Behandlung der Jugendlichen im DMV heraus: die Orientierung an den „Kampfesjahren“ der Gewerkschaften und der Appell an das Gerechtigkeitsgefühl („Die Jugend will Ideale – geben wir ihr sie!“),163 die Übertragung von Verantwortung und das Gebot der Gleichwertigkeit der Mitglieder sowie die teilweise scharfe Zurechtweisung der so genannten Besserwisser unter den älteren Kollegen. Verwaltungstechnisch versuchte man, durch Jugendvertrauensleute und Lehrlingsobmänner den betrieblichen Kontakt enger zu gestalten, und übertrug gleichzeitig wichtige Aufgaben an die neuen Amtsträger.164 Durch dieses Prinzip, Jugendliche durch Jugendliche bearbeiten zu lassen, sollte jungen Arbeitern der Bezug zur Gewerkschaft durch ihresgleichen und in „ihren Worten“ vermittelt werden. Parallel dazu kamen nun wieder Gedanken in Mode, die schon in den Nachkriegsjahren massiv von den Ruhrgebietsverwaltungen des DMV vertreten wurden: Auf dem Verbandstag von 1921 hatten die Sekretäre aus Bochum, Duisburg und Düsseldorf zahlreiche Anträge zur Jugend- und Lehrlingsfrage gestellt, die alle den Aufruf zur stärkeren Gewichtung dieses Themas enthielten. Sie beantragten separate Jugendzeitschriften, spezielle Jugendleiterkurse, einen regelmäßigen Reichsjugendtag des DMV, die Einstellung von Bezirksjugendleitern und die Herausgabe geeigneten Agitationsmaterials – Forderungen, die damals wenig Gehör fanden und einige Jahre später erneut zu vernehmen waren.165 Doch mit Innovationen im Verbandsaufbau und der Anpassung der Gewerkschaftspresse war es nach 1925 nicht mehr getan, was für die meisten Beobachter an den geschickten Instrumentalisierungen des DINTA lag. Fahrten in der Gruppe und im Automobil zu Sportveranstaltungen oder Besichtigungen regten gewerkschaftliche Überlegungen genauso an wie die Kaffee-und-Kuchen-Nachmittage der DINTA-Lehrlingswerkstätten mit den Eltern der Jugendlichen.166 Sie weckten langsam die Einsicht, das „Seelenleben“ der Jugend fernab bürokratischer Erwägungen mit den Gewerkschaftszielen und -methoden in Einklang zu bringen: 162 163 164 165
Ebd., S. 25. E. Dörfler jr., Die Alten und die Jungen, in: MAZ 45 (1927) 35, S. 226. Vgl. Schubert, Mehr Jugendarbeit, S. 28; vgl. Dörfler, Die Alten und die Jungen, S. 226. Die fünfzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes , S. 48 f. 166 Vgl. Dörfler, Die Alten und die Jungen, S. 226.
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Den Jungen und Mädchen einen Vorwurf zu machen, wäre verfehlt. Hierbei ist doch einmal vor allen Dingen zu berücksichtigen, daß junge Menschen keine alten sind und das Seelenleben der Jugend von den Erwachsenen verschieden ist. Der Junge will Persönlichkeitsentfaltung. Das wird ihm vom Sport gegeben. Wenn er gut schwimmt, fußballt oder turnt, dann wird er bewundert. Diese Bewunderung ist Ansporn. […] Dann noch etwas anderes, was erwähnt werden muß. In der Zeit von 14 bis 18 oder noch mehr Jahren spielt, unbewußt, das Geschlechtsgefühl eine große Rolle. Unser Junge oder Mädel glaubt als Sportskanone unwiderstehlichen Einfluß auf das andere Geschlecht auszuüben. Und es ist ja auch so. […] In der Arbeiterbewegung und insbesondere in den Gewerkschaften wird eine Tätigkeit entfaltet, die nicht die Beachtung findet wie auf dem obengenannten Gebiet. Es sei denn, daß jemand sich schon in jungen Jahren in eine führende Stelle hineingearbeitet hat. Aber all das andere, was stillschweigend getan wird, um die Organisation zu festigen und so dem Proletariat zu dienen, tritt ja kaum in Erscheinung.167
Auf den ersten Blick hatte der DMV den modernen Phänomenen also scheinbar kaum etwas entgegenzusetzen. Einige Beobachter schlugen daher vor, über den Tellerrand bisheriger Diskussionen hinauszuschauen und den empfundenen Rückstand auf der betrieblichen Ebene und durch die Generierung eines Kollegialitätserlebnisses aufzuholen. Dabei stand jedoch nicht selten die ältere Kernmitgliedschaft im Weg. Denn die Aufrufe, den Jugendlichen eine Atmosphäre im Betrieb zu schaffen, in der sie sich geschätzt und gleichzeitig gefordert fühlten, kollidierten häufig mit der quasi bis heute traditionellen Art der generationellen Sozialbeziehungen in berufsstolzen und qualifikationsbestimmten Berufsfeldern. Und dies setzte sich in der Gewerkschaft fort: Ältere Kollegen betrachteten die „Jungen“ als „Stifte“,168 denen man möglichst ihre untergeordnete Stellung bewusst machte, sie vor allem zur Erledigung unliebsamer Arbeiten einteilte und deren Äußerungen mit zahlreichen Vorurteilen begegnet wurde. Vor diesem Hintergrund musste Jugendarbeit demnach auch immer Bildungsarbeit an den älteren Mitgliedern bedeuten: Die Unterrichtung muß dahin gehen, daß die Älteren gegenüber der Jugend vor allen Dingen die Seelenbeschaffenheit der jungen Menschen berücksichtigen. Also Kameradschaftlichkeit und Freundschaft! Nicht gleich, wenn einmal so ein junges Menschenkind den Mut aufgebracht hat und in einer Versammlung seine Meinung ausspricht, über den oder die Betreffende herfallen und mit dem Besserwissen des Alters nun alles in Grund und Boden stampfen. (Sehr richtig! Schriftleitung der MZ.) Es ist ja ganz klar, daß ein junges Mädel oder ein junger Bursche gefühlsmäßig an die Betrachtung der Dinge herangeht. Da kommt
167 Ebd. 168 W. Steininger, Werbearbeit unter den jugendlichen Arbeitern, in: MAZ 45 (1927) 31, S. 194.
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man dann als älterer Mensch her und macht den Jungen in warmen, liebevollen Worten auf seine unrichtige Meinung aufmerksam und zeigt ihm ganz unauffällig, wie man diese oder jene Angelegenheit zu behandeln hat. Sind mehrere ältere Kollegen beieinander und besprechen eine wirtschaftliche oder politische Angelegenheit, und gesellt sich dann ein junger Mensch zu ihnen, dann nicht abbrechen, sondern ihn als gleichwertigen Kollegen betrachten. Das hebt in der Jugend das Verantwortlichkeitsgefühl.169
Gleichzeitig stellte der Autor aber auch in Rechnung, dass die Jugendlichen ihrerseits den alten Kollegen nicht ebenfalls mit Besserwisserei und aufmüpfiger Ablehnung begegnen sollten. Ihren Hunger nach „Idealen“ könne man am besten stillen, indem ihnen vor Augen geführt werde, welch ruhmreiche Persönlichkeiten aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen seien und wie diese in den „großen Kämpfen“ der Vorkriegszeit die gegenwärtigen Freiheiten erkämpft hätten – ein Argument, das von den jungen Kollegen nur allzu leicht umgedreht werden konnte. Denn Ruhm und Kämpfe erblickte die Schriftleitung in der Gewerkschaft der 1920er Jahre scheinbar nicht mehr. Die Reaktivierung verblasster Erinnerungen an Klassensolidarität musste zur Agitation unter Arbeitern eingesetzt werden, die unter gänzlich anderen gesellschaftlichen und politischen Umständen sozialisiert und politisiert worden waren. Für sie hatte dieses Vorgehen jedoch den faden Beigeschmack inne, von einer Idee vertröstet zu werden, die im Prinzip in der Vergangenheit lebte und der Integrationsfähigkeit der Zeit der „Systemkonfrontation“ nachtrauerte. Insofern war die in der Metallarbeiter-Zeitung verbreitete Position auch ein untrügliches Zeichen für die Schwierigkeiten, die für die Gewerkschaft mit dem Ende des Kaiserreichs aus verbandsinklusiver Sicht einhergegangen waren. Und auch aus einem anderen Blickwinkel heraus erwiesen sich die vorhandenen Ideen als defizitär: Der Weg der Gewinnung der Jugendlichen war zwar notwendigerweise ein Weg des gegenseitigen Einvernehmens, doch wurde zu keiner Zeit ins Auge gefasst, dass er auch ein Weg des gegenseitigen Profitierens werden könnte. Viele Beamte betrachteten die Jugend nicht als Reservoir für Ideen und mögliche Veränderungen, sondern als Schwamm, dem es ausschließlich ein feststehendes Ziel zu vermitteln gelte. Die fallende Attraktivität der Gewerkschaften für die Jugendlichen mochte daher auch dem Umstand geschuldet sein, dass diese (so ausgeklügelt und liebevoll ihre Behandlung auch sein mochte) den Verband nicht als Ort der Selbstverwirklichung betrachteten und vor allem das Moment selbstbestimmten und individuellen Handelns vermissten.
169 Dörfler, die Alten und die Jungen, S. 226.
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Die Frau des Mitglieds und die Frau als Mitglied
Stärker als gegenüber den jungen Arbeitern manifestierten sich die Bemühungen um die Erweiterung der klassischen Organisationsklientel nur gegenüber den Frauen. Der Ansatz war dabei sogar zweigleisig: Einerseits bemühte sich vor allem die Redaktion der Metallarbeiter-Zeitung, den Anschluss an die proletarische Familie herzustellen, und intensivierte im Zuge dessen besonders den Fokus auf die Frau des Mitglieds. Andererseits war aber auch die Frau als Mitglied mittlerweile von größerer Bedeutung. Im Kontext der Ausweitung weiblicher Industriearbeit während der 1920er Jahre diskutierte man ihre gewerkschaftliche Rolle und die Wege ihrer Gewinnung am Ende des Jahrzehnts innverbandlich hochkontrovers. Im Kern hatten beide Diskurse eines gemeinsam: Die Frau wurde darin als ein Opfer ihrer Biologie und die gewerkschaftliche Frauenarbeit als Überwindung der damit einhergehenden Schwächen interpretiert, während sich an dieser Sichtweise vor allem bei der Betrachtung der Frau als Mitglied innerverbandlicher Widerstand regte. Bis zum Beginn der Rationalisierungsphase dominierte im DMV jedoch weitestgehend ein Frauenbild, das diese spätere Unterscheidung noch nicht traf und das Verhältnis der proletarischen Frau zum Verband eher als Problem denn als Chance auffasste. Ob als „Störfaktoren roter Patriarchen“ 170 in der gewerkschaftlichen Rechtsberatung oder als wachsende Bedrohung männlich dominierter industrieller Erwerbsarbeit im Ersten Weltkrieg 171 – Frauen forderten fest verwurzelte Denkmuster der fast ausschließlich männlichen Gewerkschaftsführungen heraus und galten diesen stets als Ausnahme, die der Vorstellung vom Naturell der Metallindustrie widersprach. Und selbst gegenüber Frauen außerhalb der Fabriktore bewies das Bild der Barriere für gewerkschaftliches Vorankommen große Beharrungskraft: In ihrer Rolle als Haushaltsvorstand belegte man Frauen von männlichen Kollegen immer wieder mit dem Vorurteil, dass diese von vornherein den Mitgliedsbeitrag als „zwecklose Ausgabe“ betrachten würden. Daher müsse, so ein Beobachter 1925, endlich die Einsicht reifen, dass die Mitgliedsbeiträge der arbeitenden Familienmitglieder kein verschwendetes Geld seien. 172 Es
170 Beatrix Geisel, Frauen als „Störfaktoren“ roter Patriarchen. Die Rechtsberatungspraxis der freigewerkschaftlichen Arbeitersekretäre (1894 – 1933), in: IWK 34 (1998) 3 – 4, S. 343 – 363. 171 Vgl. Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989; vgl. auch Brigitte Kassel, Der „männliche Familienernährer“. Zur Lohn- und Tarifpolitik des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1891 – 1933, in: IWK 34 (1998) 3 – 4, S. 364 – 380; vgl. auch dies., Frauen in einer Männerwelt. Frauenerwerbsarbeit in der Metallindustrie und ihre Interessenvertretung durch den Deutschen Metallarbeiter-Verband (1891 – 1933), Köln 1997. 172 Vgl. Jede Frau arbeite mit!, in: MAZ 42 (1925) 49, S. 194.
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ist bemerkenswert, dass sich an dieser Interpretation trotz aller Differenzierungen vor 1933 immer dann nichts änderte, wenn Hauskassierer oder Hausagitatoren auf Widerstand trafen. So ging ein Hausagitator aus Hannover auf die Hindernisse ein, die ihm von Hausfrauen in den Weg gelegt wurden: Sie würden ihre Männer mit finanziellen Argumenten so stark beeinflussen, dass man diese Kollegen nur noch im Betrieb abkassieren könne.173 Auch warf man den Frauen vor, den Besuch des Kassierers zum Anlass zu nehmen, „um ihre schlechte Laune an den Mann zu bringen“.174 In all diesen Vorwürfen manifestierte sich jedoch nicht nur ein Bild der Frau – für die Agitatoren war der „Hausdrachen“ umso bedrohlicher, je schwieriger die Überzeugung des unorganisierten Arbeiters ablief. Denn der Tatsache, dass sich ein Arbeiter weigerte, dem Verband beizutreten und sich auch nicht aktiv dazu bewegen ließ, maß man gern die Charaktereigenschaft der Feigheit bei, die sich in fehlender Durchsetzungsfähigkeit gegenüber der Frau ausdrücke. Die klassensolidarische Ehre galt in diesen Fällen als beschädigt und in einer langfristig prägenden pejorativen Zuschreibung verband man den Unorganisierten mit „weibischen“ Charakterzügen. So warfen beispielweise die CMV -Mitglieder während der Werkstattversammlungen für die GHH den unorganisierten Arbeitern der Hütte vor, sich feige vor der Pflicht zu drücken, und würzten die Anschuldigungen mit dem Verweis auf die häusliche Herrschaft ihrer Frauen;175 eine Konnotation, die sich scheinbar großer Beliebtheit erfreute, denn selbst 25 Jahre später versah ein Beitragskassierer die „Organisationsferne“ eines Arbeiters mit dem Verweis: „[…] schließlich kann man auch seine Frau vorschicken, wenn es an eigener Tapferkeit mangelt.“ 176 Angesichts dieser Entwicklung erscheint es nicht mehr verwunderlich, dass sich Hausfrauenbilder im DMV auch nach dem Perspektivenwechsel von 1926 bis 1928 radikal unterscheiden konnten. Weil ihre Rolle immer auf das Engste mit dem Organisationsverhalten ihrer Männer verbunden blieb, schwankte der Tenor zwischen der finanziellen Blockade und einem wichtigen Beitrag zur gewerkschaftlichen Erziehung und Integration. Besonders die Metallarbeiter-Zeitung entdeckte die Hausfrau in diesen Jahren nämlich neu. Entsprechend der Maxime „Der erste Agitationsbezirk eines Gewerkschafters ist seine Familie“ erlebte die Frau als Ehegattin, Mutter und „Erzieherin des künftigen Gewerkschaftergeschlechts“ 177 einen steilen Bedeutungsanstieg. Man verlangte von ihr umfassendes Wissen über die 173 Vgl. K. Sch., Werbearbeit von Haus zu Haus, in: MAZ 45 (1927) 14, S. 58. 174 E. M., Der Beitragskassierer ist auch Kollege, in: MAZ 50 (1932) 32, S. 190. 175 Vgl. Polizeiliche Überwachungsberichte 1905 – 1909, Gutehoffnungshütte Oberhausen, in: RWWA, 130 – 300143/0, Bl. 33. 176 E. M., Der Beitragskassierer ist auch Kollege, S. 190. 177 Fritz Kummer, Die Frau des Gewerkschafters, in: MAZ 46 (1928) 2, S. 12.
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Gewerkschaftsbewegung, regen Austausch mit ihrem arbeitenden Ehemann und eine Beteiligung an gewerkschaftlichen Versammlungen und Vorträgen.178 Für Vorstand und Redaktion berührten sich in dieser Frage Frauen-, Jugend- und Familienpolitik mit der Sorge um die Zukunft der Gewerkschaft. In einer fieberhaften Suche nach Möglichkeiten, die Reichweite des Verbands in die Arbeiterfamilien auszudehnen und sich somit ihrer pädagogischen Ressourcen zu versichern, veränderten sie die Metallarbeiter-Zeitung in einer Weise, von der sie glaubten, das sie dem Wesen und „Seelenleben“ der Hausfrauen entgegenkomme. Neben Artikeln über Kochrezepte und optimierte Haushaltsführung erweiterte sich das Blatt nun auch um Ausführungen über das richtige Eheverhältnis, die Erziehung der Kinder und generell über die Bedeutung der Ehefrau für die Familie. Dazu ging man sogar über den Anzeigenteil hinaus und platzierte Produktwerbung (sogar für Alkohol) im Verbandsorgan. Um diesen Wandel einzuordnen, sei auf die parallele Kritik an der Werkszeitungsbewegung in eben dieser Metallarbeiter-Zeitung hingewiesen: Die Werkszeitungen werden sämtlich unentgeltlich an die Arbeiter der Werke abgegeben. Sie verkörpern teils den Typus des Familienblattes: Ratschläge fürs Haus, die Frau als Mutter, kleine Gratisanzeigen: „Kinderwagen zu verkaufen“ oder so ähnlich. […] Alles in allem: Die Dinta-Werkszeitungen sind scheinbar neutral, spritzen aber unter diesem Deckmantel eine Menge politisches Gift in die Arbeiterschaft hinein.179
Trotz heftiger Angriffe auf das DINTA schien Nachahmung der einzig gangbare Weg, um dem unpolitischen Familienbezug der Werkszeitungen etwas entgegenzusetzen. Auf dem Verbandstag von 1928 in Karlsruhe verteidigte die Redaktion daher die fundamentale Veränderung der Gewerkschaftszeitung mit der Begründung, man müsse ein „gewerkschaftliches Familienblatt“ 180 etablieren. Die Umstellung der Zeitung sei notwendig gewesen, da die Gewerkschaftsbewegung „in die Familien der Kollegen hineingetragen“ 181 werden solle. Vor allem gegenüber den Frauen sei vieles vernachlässigt worden. Ratgeber, Erziehungsfragen und Haushaltstipps müssten deshalb in einer leicht verständlichen Sprache die nötige Anschlussfähigkeit herstellen. Und auch gegenüber den Jugendlichen transportiere man in Zukunft „das, 178 Vgl. MAZ 46 (1928) 3, S. 20. Viele Kommentare in diese Richtung waren von einem Familienbild geprägt, das Siegfried Reck aus der Sicht des Familienvaters als „Arbeiter mit politisiertem familialem und außerfamilialem Privatleben“ charakterisierte. Vgl. Siegfried Reck, Arbeiter nach der Arbeit. Sozialhistorische Studie zu den Wandlungen des Arbeitsalltags, Lahn-Gießen 1977, S. 166. 179 Die werksgemeinschaftliche Dinta, in: MAZ 45 (1927) 28, S. 166. 180 Der Verbandstag in Karlsruhe, in: MAZ 46 (1928) 34, S. 265 ff. 181 Ebd.
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was ihrer geistigen Höhe entspricht“.182 Die einzige Kritik an der Redaktion, die sich in Karlsruhe durchsetzen konnte, bezog sich auf die Werbung: In einer Umfrage unter den Absolventen der DMV-Schule in Bad Dürrenberg hatte sich herausgestellt, dass ein großer Teil der Befragten den Anzeigeteil für kapitalistische Unternehmen mit dem Anspruch eines sozialistischen Blattes für nicht vereinbar betrachtete.183 Der Annoncenteil wurde daher wieder auf den Stellenmarkt beschränkt. In der Folgezeit fiel sogar eines der letzten Bedenken der Redaktion bei der Gestaltung der Gewerkschaftszeitung als Familienblatt: Es wurden Romane abgedruckt, durch die jene angebliche Charakterschwäche der Frauen gewerkschaftlich instrumentalisiert werden sollte, gegen die man sich jahrelang in Bezug auf die Werkszeitungen verwehrt hatte. So wurde noch 1928 in der Metallarbeiter-Zeitung folgende Einschätzung kritiklos abgedruckt: Hierbei muß festgestellt werden, daß die Arbeiterfrau in dieser Beziehung am meisten sündigt. Sie will ihre „Geschichte“ haben, den Roman, in dem in jedem Kapitel mindestens ein Mensch abgemurkst wird oder in dem hochherzige Grafen arme Mädel heiraten. Sie will Aufregendes lesen, Aufschneidereien, unwahrscheinliche Vorkommnisse, Liebes- und Abenteuergeschichten, die ihrem Auge mit knalligen Schlagzeilen aufgedrungen werden. Dann ist das Blättchen „interessant“. Sie will auch „mehr Papier“ haben, um die Butterbrote einzuwickeln und den Ofen in Brand zu setzen.184
1932 erwiderte die Schriftleitung der Zeitung auf ähnliche Vorwürfe, die auf den Abdruck des Romans „Das Leben der Marie Szameitat“ abzielten, in einer Art und Weise, die die ambivalente Haltung gegenüber Elementen der Werksgemeinschaftsideologie deutlich machte: Die Bedenken wurden aber schließlich überwunden von der Notwendigkeit, daß ein Gewerkschaftsblatt, will es seinen Zweck ganz erfüllen, unbedingt auf den Familientisch der Mitglieder kommen muß. Das Gewerkschaftsblatt muß auch für Frauen und Kinder der Kollegen anziehend, fesselnd gemacht werden, soll unsere Werbearbeit nicht ewig elendes Stückwerk bleiben.185
Der Andrang und die Nachfragen, die auf den Roman folgten, gaben der Redaktion Recht. Einige Arbeiter berichteten sogar, dass sie die Metallarbeiter-Zeitung 182 Ebd. 183 Vgl. F. K., Wie gefällt die Metallarbeiter-Zeitung? Das Ergebnis einer Umfrage, in: MAZ 46 (1928) 31, S. 247. 184 V. K., Die Zeitung der Arbeiterfrau, in: MAZ 46 (1928) 13, S. 100. 185 Schriftleitung der MAZ, Die Metallarbeiter-Zeitung als Bindeglied, in: MAZ 50 (1932) 6, S. 34.
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jetzt gar nicht mehr ihren Frauen geben konnten, wenn sie selbst noch einen Blick hineinwerfen wollten.186 Dennoch hatte sich die Handlungsfähigkeit des DMV hinsichtlich der Frau des Arbeiters damit erschöpft. Über Versuche der medialen Beeinflussung ging man bis 1933 nicht hinaus. Es ist deshalb nur schwer abzuschätzen, welchen praktischen Einfluss die Presseoffensive des DMV ausübte. Zwar erscheint es nicht als abwegig, dass sich einige Frauen durch ihre neue Adressatenrolle gewerkschaftlich angesprochen fühlten und ihren Männern gegenüber keinen finanziellen Druck mehr machten, doch muss auch in Betracht gezogen werden, dass die Metallarbeiter-Zeitung für manche nur eine Ausweitung des spärlichen Unterhaltungsangebots bedeutete. Sobald eine Frau jedoch in der Metallindustrie erwerbstätig war und damit in den Organisationsbereich des DMV fiel, standen dem Verband auch andere Instrumente zur Verfügung. Vor allem die betrieblichen Wege der Agitation und Interessenvertretung hätten eine persönliche Anschlussfähigkeit generieren und auf diesem Wege das gewerkschaftliche Potential der Arbeiterinnen im Sinne eines echten Industrieverbandes nutzen können. Bis 1933 zeigte sich jedoch immer wieder, dass an eine einfache Übertragung der betrieblichen Methoden auf weibliche Kollegen nicht zu denken war. Dem standen Vorurteile der Männer in den Betriebsräten und der Vertrauensmänner genauso im Wege wie das traditionelle Frauenbild in den Gewerkschaftsleitungen. Doch es existierten auch Kritiker: So wendete sich Engelbert Graf, der bei der Durchführung von Frauenkursen in Bad Dürrenberg regelmäßig mit der Marginalisierung der Kolleginnen konfrontiert wurde, mit scharfen Worten gegen die omnipräsente männliche Priorisierung: […] und die Frau ist heute – muß es sein! – nicht allein Heimweibchen, sondern handfeste Kameradin und Konkurrentin des Mannes an allen Arbeitsstellen. Es gibt Leute, die das bedauern. Auch in der Arbeiterschaft ist die Zahl der Männer noch riesengroß, die, wenn auch nicht immer eingestandenermaßen, am liebsten in dieser Beziehung, das heißt in bezug auf die soziologische Stellung der Frau die Entwicklung rückwärts schrauben möchten. Selbst die modernen Arbeiterverbände, die Gewerkschaften, tragen in ihrem Aufbau, in der Zusammensetzung ihres Funktionärskörpers sowohl wie in den Einzelmaßnahmen oft nur noch allzu sehr der Stimmung Rechnung, die die Frau am liebsten wieder in die Küche, an den Waschkorb und an die Wiege verbannen möchte. Man hat auch in den Gewerkschaften und in den Betrieben leider noch manchmal den Eindruck, daß die Frauen wohl geduldet werden, daß aber im übrigen die Frau ihre Stellung in der Gesellschaft sich erst in mühsamem Kampfe erobern muß.187 186 Vgl. ebd. 187 Georg Engelbert Graf, Der Frauenbildungskursus des DMV vom 10. bis 23. Juni 1923 in Gudensberg, in: Betriebsräte-Zeitschrift 4 (1923) 14, S. 422.
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In Bezug auf die Position vieler führender DMV -Beamter traf Graf damit den Nagel auf den Kopf. Für diese Gruppe, die sowohl in einer männlich dominierten Metallindustrie als auch Gewerkschaftsbewegung groß geworden war, blieb die Vorstellung, dass sich die Frau des Mitglieds und die Frau als Mitglied in einer Person vereinigen könnten, lange Zeit unvorstellbar. Mit besonderer Schärfe wandte man sich gegen die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen, die ihren Männern freiwillig Platz machen sollten. Arbeit „ohne Not“, aus freiem Willen und sogar aus Gründen der Selbstverwirklichung galt bei ihnen als Verrat an der Arbeiterklasse und dem kulturellen Fortschritt. Nicht wenige forderten daher ein generelles Berufsverbot.188 Obwohl sich der Ton der Debatte seitens der Führung zusehends abmilderte, um die steigende Zahl von Arbeiterinnen in der Metallindustrie nicht zu verprellen, erblickte man in der Erwerbsarbeit von Frauen immer noch eine unerwünschte Ausnahmeerscheinung und Gefahr für Verband und Arbeiterfamilie. Als sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit der männlichen Arbeiter erhöhte und die Situation abzeichnete, dass lohntechnisch günstigere Arbeiterinnen in den Fabriken arbeiten könnten, während die Männer arbeitslos zu Hause blieben, wurde diese Position in vielen Zuschriften an die MetallarbeiterZeitung schonungslos offengelegt. In einer biologischen Überhöhung verteidigten männliche Mitglieder eingebrannte Geschlechterrollen in Familie, Gesellschaft und Arbeit. Zunächst, und dies zog sich wie ein roter Faden durch die Argumentationen, fühlten sie sich jedoch dazu verpflichtet klarzustellen, dass sie nichts gegen die generelle Emanzipation der Frau einzuwenden hätten. Ihr Fokus solle auf der Arbeit der Frau liegen: Eine allgemeine geistige Rückständigkeit, die sich prinzipiell und unbeschränkt gegen die Gleichberechtigung der Frau wendet, ist, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht zu verzeichnen. Der neue Geist der Kameradschaftlichkeit der Geschlechter, der Offenheit und Natürlichkeit des gegenseitigen Verkehrs wird begrüßt. Neue Eheformen, neue Wege des Zusammenlebens öffnen sich. Nur über das Thema Frauenarbeit hat der Mann der Werkstatt seine besondere Meinung.189
Eine solche Einleitung wurde allerdings nur allzu oft vorangestellt, um sie danach völlig zu relativieren und das Verhältnis von Frau und Arbeit doch wieder biologisch, familiär und kulturell aufzuladen. Im gewählten Beispiel folgte beispiels-
188 Die Fabrikarbeit der verheirateten Frau. Die Aussprache, in: MAZ 48 (1930) 20, S. 158. 189 E. Langenberg, Zum Problem der Frauenarbeit in der Metallindustrie, in: BetriebsräteZeitschrift 10 (1929) 25, S. 766.
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weise gleich darauf der Angriff auf die radikalen Frauenrechtlerinnen und deren Idee der „Gleichberechtigung“ durch den Hinweis auf die körperlichen Unterschiede von Mann und Frau: Eins übersehen sie dabei: Die biologische Verschiedenheit der Geschlechter, die weitgehenden Unterschiede in der körperlichen und geistigen Konstitution von Mann und Frau! Solange der Körper der Frau anderen Gesetzen unterworfen ist, wird jede öde Gleichmacherei daran scheitern. Die kritiklosen Schreibereien bürgerlicher Damen müssen haltmachen vor den nüchternen Feststellungen des Arztes.190
Diese Unterschiede seien es auch, die die Rollen der Geschlechter in Natur und Familie bestimmten und Frauenarbeit zu einem folgenschweren Ungleichgewicht machten: Mutter Natur hat schon in den uralten Tagen den Mann als Ernährer, die Frau als Gebärerin geschaffen. Wohl kann die Frau, dem Zwang des Kapitalismus gehorchend, den Mann als Ernährer vertreiben oder ersetzen, doch keine Kathederweisheit und kein dividendehungriger Kapitalist kann den Mann befähigen, die Funktionen der Frau zu übernehmen. Selbst wenn die Kinder bereits geboren sind, kann der Mann nie die Mutter ersetzen. Das innere Band der Familie zerreißt, wenn der Zusammenhalt der Familie durch die Frau fehlt.191
Von dieser Feststellung war es dann auch nicht mehr weit bis zur grundsätzlichen Position, dass sich die Gleichberechtigung der Frau eben nicht auf die Arbeitswelt erstrecke. Die Arbeitslosigkeit während der Wirtschaftskrise lieferte dazu die passende Drohkulisse: Wird es zum Dauerzustand, daß große Schichten der arbeitenden Bevölkerung ohne Arbeit sind, kommt es häufiger vor, daß der Mann zu Hause hockt, indes die Frau in die Fabrik gehen muß und so der Familie entwächst, dann ist eine fortschreitende Dezimierung der Rasse unvermeidlich.192
Im Anbetracht der Tatsache, dass Arbeiterinnen seit 1919 konstant etwa ein Fünftel der Erwerbstätigen in der Metallindustrie stellten und zwischen 1924 und 1931 6,5 bis 8,5 Prozent der Mitglieder des DMV ausmachten,193 erschienen Äußerungen
190 Ebd., S. 768. 191 Ebd., S. 769. 192 Ebd., S. 770. 193 Der DMV in Zahlen, S. 125.
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gegen die Frauenarbeit nicht nur als weltfremd, sondern im Sinne eines positiven Organisationsanreizes auch als überaus kontraproduktiv. Wollte man die weibliche Metallarbeiterschaft organisieren, mussten auch die größten Gegner der Frauenarbeit diese anerkennen und einsehen, dass Brandmarkungen als unerwünschte Ausnahme eben jene Unterrepräsentierung mit verursachten. Hatte man sich aber mit der Existenz von Arbeiterinnen in männlich dominierten Berufen arrangiert und die Notwendigkeit betrieblicher Agitationsmaßnahmen eingestanden, kamen zu dem Rollenverständnis nicht selten die üblichen weiblichen Charakterzuschreibungen, die einen individuellen Agitationsansatz extrem erschwerten. So waren Beobachter wie Franz Ulrich der Meinung, dass der Charakter der Frau ihrer Solidarisierung hinderlich sei und die organisatorische Erfassung immer wieder zurückwerfe. Besonders das Vorurteil der Affektiertheit und des chaotischen Gefühlslebens war in den Köpfen vieler Gewerkschafter verbreitet: Suchen schon durch Kleidung (das soll natürlich kein Vorwurf sein) mehr zu scheinen. Diejenigen, die das nicht mehr tun und wirkliche Proletarierinnen sind, machen keinen Eindruck mehr bei ihresgleichen. Gefühl ist bei den Frauen eben alles. Lachen und Weinen sind nahe beisammen. Hier muß man einhaken, beim Gefühl. Mit Energie.194
Ulrich stand hier Pate für ein Denkmuster, das viele weibliche Kritiker als das eigentliche Agitationsproblem bezeichnen sollten: Denn die Agitationsmethoden, die Ulrich für die Arbeiterinnen vorschlug und die gegenüber männlichen Kollegen altbewährt waren, trugen trotz aller vordergründigen Beteuerungen der Wertungsfreiheit stets einen bevormundenden Beigeschmack: Das Aufklären ist eine äußerst persönlich benotete Sache. Man muß jede Einzelne bearbeiten, bei jeder auf ihre ganz persönlichen Wünsche eingehen. Doch immer wieder mit Teilnahmsvolle und Energie, wenns sein muß, mit ein bißchen Grobheit.195
Die Meinung, dass Arbeiterinnen gutgemeinte „Grobheit“ vertragen würden, offenbarte ebenso wie einige erhellende Nebenbemerkungen (es sei wichtig zu wissen, „wo die Frauen hingehören“)196 das Defizit einer persönlichen Agitation von Männern gegenüber Frauen: Weil die Kolleginnen von vornherein als widerspenstig und schwer mobilisierbar galten, traten ihnen die männlichen Gewerkschafter
194 Franz Ulrich, Die Organisierung der Frauen. Wie gewinnt man sie?, in: MAZ 47 (1929) 39, S. 310. 195 Ebd. 196 Ebd.
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nicht in ihrem üblichen Habitus gegenüber. Sie machten „auf Frau“ 197 und luden die gewerkschaftliche Werbung dadurch mit einem unnatürlichen und aufgesetzten Charakter auf, der den Arbeiterinnen auffallen musste. Grundsätzliche Positionen wie jene Ulrichs („Sag mir keiner, die Männer wollten nur immer wieder Männer. […] Müßte mit den Männern soviel Umstände gemacht werden, wäre es schlimm“)198 wurden auf diese Weise subkutan transportiert und nährten unter den Arbeiterinnen das Bild einer maskenhaften Organisation, die Weiblichkeit nur unter männlichem Vorzeichen einsetze. Es ist daher kaum verwunderlich, dass diese Praxis die wenigen führenden Frauen in der Gewerkschaftsbewegung besonders störte: So schrieb Judith Grünfeld: „[N]icht Vermännlichung, sondern Vermenschlichung tut not“,199 und Rosa Wenzel fragte bereits 1923: Warum behandeln wir die Arbeiterin und ihr Verhältnis zur Gewerkschaft besonders? Wird nicht unser Herz beruhigt durch einen Blick in unser Statut, wo von Rechten und Pflichten aller Mitglieder, also von vollster Gleichberechtigung die Rede ist?200
Nicht nur diskursiv zeigten solche Mahnungen am Ende der 1920er Jahre durchaus Wirkung. Immer wieder forderten jetzt auch männliche Beamte eine Intensivierung der Agitation durch (und hier lag der entscheidende Punkt) weibliche Führungskräfte des DMV . Diese waren auch vorhanden: In Bad Dürrenberg und Tinz (bei Gera) hatte man seit einigen Jahren Frauenkurse durchgeführt, um einen weiblichen Funktionärsstamm aufzubauen.201 Dieser sollte nun vergrößert und dazu eingesetzt werden, das „Gesicht“ des DMV für die Arbeiterinnen zu wandeln. Die Einsicht von Beamten wie Fritz Kummer, der DMV sei noch „viel zu viel eine Einrichtung für die Männer“,202 bedeutete jedoch nicht, dass sich gängige Vorurteile oder die Methodik betrieblicher Gewerkschaftsarbeit grundsätzlich geändert hatten: „Die Werbearbeit muß, soll sie Erfolg haben, der Sprache, dem Gefühlsleben und der Eigenart der Frauenarbeit entsprechen.“ 203 Dennoch zogen auch männliche Verantwortliche nun Schlüsse, die den betrieblichen Vermittlungsproblemen und den Beschwerden weiblicher DMV -Kolleginnen gerecht wurden: Man solle, so
197 198 199 200 201
Vgl. Rosa Wenzel, Wie gewinnt man die Kollegin?, in: MAZ 41 (1923) 36 – 37, S. 139. Ulrich, Die Organisierung der Frauen, S. 310. Judith Grünfeld, Die Arbeiterin in der Metallindustrie, in: MAZ 49 (1931) 22, S. 175. Wenzel, Wie gewinnt man die Kollegin?, S. 139. Vgl. Elfriede Welzer, Die Organisierung der Frauen. Wie gewinnt man sie?, in: MAZ 47 (1929) 32, S. 254. 202 Fritz Kummer, Die Organisierung der Frauen. Wie gewinnt man sie?, in: MAZ 47 (1929) 22, S. 169. 203 Ebd.
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Kummer, die gewerkschaftliche Werbung organisierten Arbeiterinnen überlassen, die Vorträge in Frauenversammlungen keinen alten Gewerkschaftern mehr übertragen, Frauen in die Ortsverwaltungen und Agitationsausschüsse berufen und grundsätzlich männliche Gewohnheiten der Gewerkschaftsdemokratie (wie das Rauchen) überdenken.204 Dass diese Ansätze erfolgversprechend waren, zeigten Berichte aus Leipziger Betrieben, in denen durch die Reorganisation des Vertrauensleutekörpers Anschluss an weiblich dominierte Belegschaften hergestellt werden konnte.205 Fazit – DMV und DINTA in den späten 1920er Jahren
Zusammenfassend lässt sich das Verhältnis zwischen DMV und DINTA wohl am besten als das ungleicher Zwillinge beschreiben. Beide Organisationen beäugten sich in ihrer Arbeiterpolitik seit 1925 argwöhnisch und bezogen große Teile ihres Handlungsbedarfs aus dem Vorgehen des Gegners. Gleichzeitig waren die Ähnlichkeiten in Konzeption und Methodik jedoch nicht zu übersehen: Werksgemeinschaft und Organisationsgemeinschaft, Harmonisierung und Klassenkampf stützten sich im Kampf „um die Seele“ des Arbeiters auf eine Ideologie gefühlsmäßiger Bindung an eine disziplinierende Unternehmens- oder Verbandsstruktur. Dass diese Zielstellungen nicht recht funktionieren wollten, verdankten beide Organisationen sogar einem gemeinsamen Defizit. Denn über Ideologie ging das konkrete Handeln kaum hinaus: Nimmt man die Bildungsansätze in Lehrwerkstätten und Bildungseinrichtungen einmal aus, entwickelte bis 1933 weder das DINTA noch der DMV ein geschlossenes Programm und der Bezug auf das „Seelenleben“ der Arbeiter beschränkte sich bald weitestgehend auf die Inhalte der Presseorgane. Zu einer Zeitungsbewegung reduziert, zeigte sich vor allem im DMV , dass die Verbindung zahlreicher punktueller Ansätze nicht ausreichte, um eine programmatisch und strukturell festgefahrene Verbandspolitik nachhaltig zu reformieren und für die Arbeit am Mitglied zu sensibilisieren. Gegen den allseits diagnostizierten inneren Bindungsverlust entfalteten die Ideen vieler Gewerkschafter, von denen wir nur aus der Metallarbeiter-Zeitung wissen, daher vielleicht lokale Wirkungskraft – einen Fokuswechsel der immer überbetrieblicheren Organisation stießen sie nicht an.
204 Vgl. ebd; vgl. Suse Pflugbeil, Die Organisierung der Frauen. Wie gewinnt man sie?, in: MAZ 47 (1929) 31, S. 246. 205 Vgl. M. P., Die Organisierung der Arbeiterinnen. Wie gewinnt man sie?, in: MAZ 47 (1929) 31, S. 262.
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
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6.4 Zusammenfassende Schlussbetrachtung – Der DMV von 1925 bis 1933 und das Ende des Verbandes Die Mitgliederentwicklung
Nach dem Einbruch der Mitgliederzahlen 1923/24 erholte sich der DMV für zwei Jahre zunächst kaum. In Chemnitz stagnierten die Zahlen, während sie im Ruhrgebiet (vor allem auf Grund der Hüttenarbeiter) in einigen Verwaltungsstellen bis 1926 sogar noch weiter sanken (Tab. 18). Erst im Zuge der wirtschaftlichen Erholung und gewerkschaftlicher Erfolge in Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen stiegen die Mitgliedszahlen seit 1927 wieder an. In Chemnitz hatte der DMV 1928 sogar wieder den Vorkriegsstand erreicht. Trotz beachtlicher Zuwachsraten erlangte man die Organisationszustände der unmittelbaren Nachkriegszeit jedoch nie wieder. Bei großen Teilen der Arbeiterschaft in der Eisen- und Stahlindustrie, in der weiterverarbeitenden Industrie und bei Jugendlichen, Frauen und Ungelernten hatte es sich der Verband zwischen 1918 und 1924 verscherzt. Da ihre Beitritte nicht auf langfristig angelegte Betriebsarbeit oder Programmatik zurückzuführen waren und ihre Beziehungen zum DMV auf Hoffnungen basierten, endete ihre Mitgliedschaft in der Inflation und dem Angriff der Unternehmer. Und auch zwischen 1925 und 1933 war das gewerkschaftliche Vorgehen kaum für ihre Zurückgewinnung geeignet: Der Verband blieb auf seine Kernklientel fokussiert und hatte seinen Schwerpunkt wie auch vor 1914 in der qualifizierten Arbeiterschaft klein- und mittelbetrieblicher Metallunternehmen. Denn dort waren sowohl die vorgewerkschaftlichen Basisstrukturen als auch eine traditionelle Betriebsverankerung durch das Werkstattvertrauensmännersystem gegeben. Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass die Mitgliederzahlen in Chemnitz in Höhe und Zuwachsrate in etwa jenen der Vorkriegszeit entsprachen. Durch die betriebliche Anschlussfähigkeit und die Lohn- und Arbeitszeiterfolge gewann der DMV die Arbeiter jener Bereiche zurück, die er auch vor 1914 schon breit organisieren konnte.
406
Die Rationalisierungsphase von 1925 bis 1933
90000 80000 Chemnitz
Mitglieder am Jahresende
70000 60000
Freigewerkschaftlich organisierte Hüttenarbeiter
50000
Duisburg 40000 Dortmund
30000 20000
Essen
10000 0 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 206
Abb. 12: Mitgliederentwicklung des DMV in Chemnitz, Duisburg, Dortmund, Essen 207 208 (1922 – 1931) und der freigewerkschaftlich organisierten Hüttenarbeiter (1922 – 1930)
Obgleich die Eisen- und Stahlindustrie nicht zu diesen Bereichen gehört hatte, glich sich doch der Kurvenverlauf in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre dem des Chemnitzer DMV merklich an. Denn auch hier waren nun jene betrieblichen Basisstrukturen vorhanden, an die der Verband gewerkschaftlich anschließen konnte. Zwar etablierte sich kein vergleichbares Werkstattvertrauensmännersystem – die Betriebsrätearbeit und vor allem die Erfolge in der Lohn- und Arbeitszeitfrage ließen die Mitgliederzahlen unter den Hüttenarbeitern von 1926 bis 1928 aber wieder sprunghaft ansteigen, sodass ein Bochumer Sekretär 1927 bemerkte: „Wir können mit Freuden feststellen, daß der Deutsche Metallarbeiter-Verband in den Betrieben wieder bedeutend an Ansehen gewonnen hat.“ 209 Und selbst im Zuge
206 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1922, S. 168; für 1923 S. 49; für 1924 S. 64; für 1925 S. 69; für 1926 S. 258; für 1927 S. 338; für 1928 S. 368; für 1929 S. 374; für 1930 S. 428; für 1931 S. 434. 207 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1922, S. 68; für 1923 und 1924 S. 102; für 1925 S. 95; für 1926 S. 256, 260; für 1927 S. 338, 340; für 1928 S. 368, 370; für 1929 S. 374, 376; für 1930 S. 428, 430; für 1931 S. 434, 436. 208 Vgl. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 635. Der Wert für 1923 (50.000) ist eine Schätzung des Verfassers. 209 Die Reichskonferenz der Hüttenarbeiter, in: MAZ 45 (1927) 24, S. 134.
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
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der Weltwirtschaftskrise blieb dieser Zugewinn zunächst weitestgehend erhalten. Im Jahrbuch für 1930 schlussfolgerte der Vorstand sogar: Wenn trotz der vielen, im Berichtsjahr vorgenommenen Entlassungen und Stillegungen ganzer Betriebe der Rückgang an Mitgliedern nicht größer ist, so kommt darin das große Vertrauen der Mitglieder zu ihrer Organisation zum Ausdruck. Es ist eine gewisse Festigkeit im Mitgliederstand zu beobachten. Daran ändert die Tatsache nichts, daß im Jahre 1931 ein weiterer Mitgliederrückgang zu verzeichnen ist. Die Zahl der Beschäftigten in der Metallindustrie ist ganz erheblich kleiner geworden. Damit ist auch die Möglichkeit eingeschränkt, neue Mitglieder für die Organisation zu werben.210
Mit Blick auf die Widerstandsbedingungen gegen Wirtschaftskrise und Nationalsozialismus beinhaltete diese Einschätzung bereits den Kardinalfehler der Gewerkschaftsbewegung: Die Führungen verwechselten einen festen Mitgliederstand mit dem Vertrauen der Mitglieder, ohne in Betracht zu ziehen, dass sich unterhalb des Zahlens der Beiträge höchst unterschiedliche Organisationsmentalitäten verbergen konnten. Beseelt vom „Evangelium der Zahl“, waren die zahlreichen Überlegungen zur Qualität der Gewerkschaftsmitgliedschaft scheinbar nicht bis zum Vorstand durchgedrungen. Vor dem Hintergrund dieser Diskrepanz sollen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit im Folgenden noch einmal zusammengefasst und zugespitzt werden. Inhaltliches und theoretisches Fazit – Die Entwicklung des DMV 1891 bis 1933 und das Ende des Verbandes
Für die Entwicklung des DMV bis 1933 galt letztlich genau das Gleiche wie in der Vorkriegszeit: Je nachdem, wie es den Gewerkschaftern gelang, den Verband gegenüber den Push- und Pull-Faktoren jeden einzelnen Arbeiters zu postieren, gestaltete sich auch dessen Verhältnis zur Gewerkschaft. Neben den technischorganisatorischen Vorbedingungen für eine arbeitsbezogene solidarische Grundlage, die im Zuge der Rationalisierung häufig unter Druck gerieten, spielten dafür besonders das betriebliche Vorgehen der Gewerkschaft und ihre überbetrieblichen Verhandlungsergebnisse eine zentrale Rolle. Innerhalb dieser Eckpunkte verorteten sich die verschiedenen Facetten des Verhältnisses zwischen (potentiellen) Mitgliedern und dem DMV und nur in den seltensten Fällen dürfte einer dieser Faktoren für dieses Verhältnis ausschlaggebend gewesen sein. Eine erfolgreiche Vermittlung von Organisation und Arbeiterschaft blieb auch weiterhin auf ein
210 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1930, S. 158.
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produktives Entgegenkommen durch geeignete Transmissionsriemen angewiesen. Daher erscheint es auch als einseitig, die Position der Arbeiterschaft einzig auf Grundlage des Rationalisierungsoptimismus der Gewerkschaften und fehlenden Aufbegehrens als „resignative Integration“ 211 zu kennzeichnen. Noch verwegener ist es gar, aus der Entmündigung der Arbeiter durch den Taylorismus auf die Zentralisierung und Stärke der Gewerkschaftsorganisation zu schließen,212 als ob sich aus mangelnden betrieblichen Spielräumen die willfährige Gewerkschaftsmitgliedschaft ergeben hätte. Solche Ansätze denken das Verhältnis zwischen Organisation und Arbeiter entweder aus der einen oder der anderen Richtung, ohne eine Sensibilität für die sich verändernden Ausprägungen ihres Zusammentreffens aufzubringen. So sind die Organisationsentwicklungen des DMV in Chemnitz und im Ruhrgebiet zwischen 1925 und der Weltwirtschaftskrise ab 1929 auf eine Verbindung mehrerer Elemente zurückzuführen, die gemeinsam erklären können, wieso die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft zwischen 1929 und 1933 keinen nennenswerten Widerstand leistete. Das Nachzeichnen der veränderten Grundlagen und die Würdigung mehrerer Ebenen der Gewerkschaftsorganisation verhindern dabei außerdem einseitig politische Begründungen der Schwäche der Arbeiterbewegung 213 und entkräften auch den alten Vorwurf des Verrats der Bürokratie an den kampfwilligen Massen. Die vorliegende Arbeit konnte zeigen, dass eine erfolgreiche gewerkschaftliche Organisation und Interessenvertretung industrieller Metallarbeiter auf die Existenz vorgewerkschaftlicher Basisstrukturen angewiesen war. Diese speisten sich wiederum aus einer Vielzahl von Traditionen, Erfahrungen und lebensweltlichen Faktoren, waren aber zu einem großen Teil auch davon abhängig, dass die technisch-organisatorischen Fertigungsstrukturen eine Solidarisierung im Arbeitsprozess zuließen. Auf den ersten Blick – und dies ist sicherlich der Grund dafür, dass der Maschinenbau von der älteren Sozialgeschichte gern zu den Stammkreisen des DMV gezählt wurde – waren diese Grundlagen in den maschinenbaulichen Werkstattindustrien mit ihrer handwerklichen Tradition und hohen Qualifikation vorhanden. Der Stand der technischen Entwicklung, die Zwänge der Produktpaletten und Kundenwünsche sowie die daraus resultierenden Schwierigkeiten, die Arbeitsteilung zu steigern und fließende Systeme einzuführen, führten hier dazu, dass der Einfluss der Arbeiter auf ihre Tätigkeiten sehr hoch blieb. Auch wenn das 211 Vgl. Stollberg, Die Rationalisierungsdebatte 1908 – 1933, S. 125. 212 Vgl. Richard Vahrenkamp, Wirtschaftsdemokratie und Rationalisierung. Zur Technologiepolitik der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, in: GM 34 (1983), S. 734 f. 213 Eine solche Interpretation, in der keinerlei innergewerkschaftliche Faktoren berücksichtigt werden, legte prototypisch vor: Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin 1987.
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Gleichgewicht zwischen qualifizierter Handarbeit und qualifizierter Maschinenarbeit besonders in den 1920er Jahren stark herausgefordert wurde, bestimmten viele Maschinenbauarbeiter weiter selbst über ihren Arbeitsrhythmus, erhielten auf Grund weiterbestehender Qualifikationsanforderungen hohe Löhne und konnten den betrieblichen Machtrahmen zu Gunsten eines „Produktionspaktes“ beeinflussen. Der Arbeitsprozess im optimierten Werkstattprinzip bot ihnen ausreichend (wenn auch verglichen mit den 1890er Jahren gesunkene) Kommunikationsspielräume, Zwischenräume der Nichtarbeit und somit Reservate der Aneignung der eigenen Arbeit, die in fließenden Arbeitssystemen kaum noch gegeben waren. Hinzu kamen die relativ homogene Herkunft der Arbeiter und ihre ähnlichen Wanderungs- und Lebenserfahrungen: Betriebliche Kommunikation wurde in Sachsen nur selten durch sprachliche, kulturelle oder konfessionelle Grenzen erschwert. Alles in allem waren die Voraussetzungen für eine betriebliche solidarische Grundlage im Chemnitzer Maschinenbau konstant günstig. Innerhalb der neuralgischen Kategorien Arbeitsteilung, Arbeitsorganisation, Qualifikation, Herkunft und Kommunikation spielte sich in vielen Werken ein soziales Muster ein, das einer gemeinsamen Interessenfindung und -artikulation entgegenkam. Bis in die 1920er Jahre hinein, als sich Arbeits- und Machtbeziehungen beider Industrien zunehmend anglichen, boten die Verhältnisse in der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets keine entsprechenden Anschlussmöglichkeiten. Die auf Grund der Produktmerkmale sehr frühe Chance, den Arbeitsprozess fließend zu gestalten und die Arbeitsteilung zu erhöhen, machten die Hüttenindustrie im „Drive-Systems“ zu der Industrie der Ungelernten. Arbeits- und Machtbeziehungen tendierten durch gute Kontrollmöglichkeiten zu einem antreiberischen „Durchregieren“ der Meister und die wenigen kommunikativen Zeitfenster wurden eher zur individuellen Ohnmachtsbekämpfung genutzt, anstatt solidarische Beziehungen einzuüben. Auch eigen-sinniges Verhalten (im Maschinenbau einer der Wege, auf spielerische Art und Weise Bindungen unter Kollegen zu festigen) beinhaltete auf den Hütten stärker entsolidarisierende Muster. Hinzu kam der heterogene Aufbau der Belegschaften, die sich auf Grund der Verbindung von Migrations- und betrieblichen Machtmustern in einer „Unterschichtung“ niederschlug, die eine soziale Entfremdung im Arbeitsprozess noch sprachlich und kulturell untermauerte. Erst im Wandel vom „Drive-“ zum „Crew-System“ und der damit verbundenen „Rückkehr der Qualifizierten“ erweiterten sich die Spielräume der Hüttenarbeiter wieder. Organisiert in festgefügten und nach innen immens solidarischen „Crews“, die für einen Teil des Arbeitsprozesses allein zuständig waren, sank nicht nur die Möglichkeit der Arbeitskontrolle rapide – als neue Grundlage sozialer Gruppenbeziehungen führte das „Crew-System“ sowohl im Arbeitsprozess als auch in den produktiven Machtbeziehungen zu einer Vervielfachung der Handlungsspielräume
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und muss daher als Türöffner für die Gewerkschaften bezeichnet werden. Denn besonders in der Vorkriegszeit, als die Verbände über keine gesetzlich verankerte betriebliche Stütze verfügten, konnte eine organisatorische Erfassung kaum gegen atomisierende und entsolidarisierende Produktionsanordnungen durchgesetzt werden. Die Hilflosigkeit des DMV in der Eisen- und Stahlindustrie des „Drive-Systems“ war dafür das beste Beispiel. Auch macht sie schlaglichtartig deutlich, welch immens wichtige Rolle der Betrieb und die Akte der physischen Arbeitsverrichtung und ihrer Organisation für die Gewerkschaften spielten – war der Betrieb ein „soziales Handlungsfeld“, machte dies die Verbände zu einem großen Teil auch zu Ergebnissen betrieblicher Sozial- und Machtbeziehungen. Doch auf den zweiten Blick zeigte die Frühphase der Gewerkschaft im Chemnitzer Maschinenbau und ihre Entwicklung während der Weimarer Republik in beiden analysierten Industrien auch, dass arbeitsplatznahe Solidaritätskanäle für eine organisatorische Erfassung und Disziplinierung keinesfalls ausreichten. Gewerkschaftliche Organisation war und blieb auf ein verbandliches Entgegenkommen, ein Herunterbrechen abstrakter Verbandspolitik auf die lebensweltliche Ebene der Arbeiter und deren verständliche Vermittlung angewiesen. Ohne die gleichberechtigte Verzahnung dieser gewerkschaftlichen Arbeit mit der Rolle der betrieblichen Arbeit lassen sich die Organisationsverläufe und die sich darüber entwickelnden politischen Prozesse nicht verstehen. Seit 1897 wurde diese Verzahnung für den DMV von den Werkstattvertrauensmännern übernommen, und es ist anzunehmen, dass ein bedeutender Teil des Erfolgs in Chemnitz und des Misserfolgs im Ruhrgebiet auf die unterschiedlichen Ausprägungen dieser Betriebsverankerung zurückzuführen waren. Denn in der Arbeit der Vertrauensleute manifestierte sich der Ort, an dem Verband und Arbeiter jeden Tag und von Angesicht zu Angesicht aufeinandertrafen. Der große Vorteil für die Gewerkschaft war dabei der persönliche Kontakt mit dem „ganzen Arbeiter“, seinen Fragen, Ängsten, Schwächen und Organisationspotentialen – ein Vorgehen, das ein abstrakt-handwerkliches Arbeiterbild und eine indirekt-politische Methodik ablöste und die Grenze zwischen handwerklicher und Betriebsphase markierte. Darüber hinaus stellten die Werkstattvertrauensmänner zum ersten Mal betriebliche Berührungspunkte zum Eigen-Sinn von Metallarbeitern her und war bei geschickter Kanalisierung in der Lage, das solidarische Potential mancher dieser Verhaltensweisen zu erschließen. Aus diesem Grund bildete Eigen-Sinn auch mehr als einen bloßen Störfaktor und die Fähigkeit von Individuen, sich aufgezwungenen Herausforderungen punktuell zu entziehen – als janusköpfige Folge der betrieblichen Herrschaftsordnung übte er auf vielfältige Weise kollegiale Handlungsmuster ein und konnte diese genauso gut in Frage stellen. Die Installation des Werkstattvertrauensmännersystems öffnete diesen Bereich für die vorsichtige gewerkschaftliche Beeinflussung.
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
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War der Eigen-Sinn der Metallarbeiter somit einerseits eine Chance für den
DMV, bedeutete er andererseits auch eine große Herausforderung: Denn parallel zur
innerbetrieblichen Aneignung der eigenen Arbeit wirkten solche Verhaltensweisen auch innerhalb der Gewerkschaft und bedrohten Disziplinansprüche und Aktionsvorstellungen der lokalen Verbandsleitungen. Die konstante und mehrdimensionale Art und Weise, mit der die Mitglieder dabei vorgingen, reichte von mutwilliger Schädigung bis hin zu kleinsten „Anpassungen“ und dürfte wohl meistens dem Reflex geschuldet gewesen sein, die Regeln der Gewerkschaftsmitgliedschaft mit der täglichen Lebenswelt in Einklang zu bringen. Unhinterfragtes Instrument statuarischer Bestimmungen waren hier nur die wenigsten. Diese Janusköpfigkeit eigen-sinnigen Verhaltens zeigte demnach auch, dass sich nicht nur betriebliche Herrschaft einer andauernden Infragestellung „von unten“ ausgesetzt sah, sondern auch Gewerkschaften einen alltäglichen Interpretationsprozess „von unten“ durchliefen, in dem es darum ging, Vorstellungen von einer Interessenvertretung der Arbeiter immer wieder aufs Neue abzustimmen. Indem sich die Metallarbeiter auf diese Weise den DMV aneigneten, machten sie ihn erst zu „ihrem“ Verband und leisteten einen Beitrag zur innerorganisatorischen Demokratie, dessen Wirkungen als wesentlich weitreichender einzuschätzen sind als die Beschlüsse mancher Generalversammlung. Für die Geschichtsschreibung zur Arbeiterbewegung stellt die Einbeziehung eigen-sinnigen Arbeiterverhaltens eine zentrale Erweiterung dar. Sie zeigt, dass die Geschichte gewerkschaftlicher Verbände zum großen Teil auch informeller Natur war, sich nicht allein an Vorstandstischen, in Parlamenten oder Dachverbänden abspielte, sondern in ihren Grundlagen maßgeblich aus dem Verhalten auf der „untersten Ebene“ speiste. Gleichzeitig blieb aber auch das Verhalten von hauptberuflichen wie freiwilligen Funktionsträgern immer für kleinere und größere „Anpassungen“ offen. Ideen schematischer Klassenbildungsprozesse werden durch Organisationsgeschichten an der Schnittstelle von Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte daher auch stark in Frage gestellt. Der Wert informeller, teils widerständiger, querliegender oder gar stummer Zeugnisse des Arbeiterverhaltens lässt sich durch verallgemeinernde Stufenmodelle nur schwer integrieren. Dass deren Systematisierung dennoch lohnen und den historischen Blick auf Gewerkschaftsorganisationen bereichern kann, sollte durch diese Arbeit aufgezeigt werden. Mit der Bildung der Arbeiterausschüsse (in der Hüttenindustrie seit 1916, im Maschinenbau schon vor dem Ersten Krieg) und schließlich dem Betriebsrätegesetz im Jahre 1920 institutionalisierten sich die gewerkschaftlichen Möglichkeiten betrieblicher Mitwirkung und wurden erstmals rechtlich garantiert. Allerdings machten sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit mehrere Probleme bemerkbar, die den Brückenschlag gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebenen bis 1933 stark belasten sollten: Die Spaltung der Sozialdemokratie breitete sich in den DMV aus
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und führte zu einer politischen Unsicherheit zwischen Verband und Arbeiterschaft. Die großen Hoffnungen einer Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft konnten nicht erfüllt werden. Das Betriebsrätegesetz schuf ein intermediäres Amt, das die Widersprüche der sozialistischen Gewerkschaftskonzeption befeuerte und den Fokus der betrieblichen Arbeit verschob. Und schließlich trennte man die tariflichen und betrieblichen Kompetenzen zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat auf und leistete dadurch einer neuen Überbetrieblichkeit Vorschub, die den Kontakt zur Ebene der alltäglichen Arbeit allmählich verlor. Die Einnahme einer dezidiert betrieblichen Gegenposition war plötzlich weder programmatisch noch methodisch vorgesehen, und die Werkstattvertrauensmänner und Arbeiterausschüsse büßten zu Gunsten der Betriebsräte einen großen Teil ihrer früheren Bedeutung ein. Mochte dieses Vorgehen aus Sicht des Vorstands und auf Grund des Charakters der Gewerkschaftsbewegung während des Kaiserreichs absolut folgerichtig erscheinen – es verlegte dennoch den Schwerpunkt gewerkschaftlicher Arbeit vom Betrieb an die überbetrieblichen Verhandlungstische und entfremdete die Organisation von den Belegschaften. Aus Sicht der radikal betriebsbezogenen Hüttenarbeiter endete dadurch das industriegewerkschaftliche Experiment gleich wieder – sie quittierten die gewerkschaftliche „Betriebspolitik“ schon vor 1923 mit massenhaftem Austritt. Dennoch behielt der DMV in der Orientierungsphase auch einen unübersehbar betrieblichen Charakter: Sowohl die einzelbetriebliche Vorkriegstradition als auch die Konfrontation mit dem Syndikalismus führten dazu, dass sich die Gewerkschaft nicht völlig von der Ebene der Einzelbetriebe trennen konnte. Die zunehmende Erkenntnis, sich nicht mehr in begrenzten Einzelaktionen durchsetzen zu können,214 das Ende des Betriebssyndikalismus und der endgültige Sieg des innerverbandlichen Reformismus verschoben jedoch die Prioritäten und generierten eine wachsende Betriebsferne. Die Ohnmacht des Verbands in der Inflationsperiode und die Rücknahme zentraler Errungenschaften der Revolution besiegelten diese Entwicklung mit einem spektakulären Einbruch der Mitgliederzahlen. Bei vielen Beamten weckte diese Zäsur aber auch Hoffnungen: Als „Reinigungskrise“ interpretiert und auf eine mangelnde Bildung politisierter „Novembermitglieder“ mit einem instrumentellen Gewerkschaftsverständnis zurückgeführt, glaubten sie, die Zeit der politischen Spaltung und Instabilität überwunden zu haben. Verglichen mit der Dekade vor 1924 waren die Verbandsposition und das gewerkschaftliche Vorgehen während der Rationalisierungsphase dann auch wesentlich stabiler. Aus einer positiven Rationalisierungsposition und Unterkonsumptionstheorie heraus betrachtete man die betriebliche Rationalisierung lenkungsoptimistisch und
214 Vgl. Lothar Wentzel, Inflation und Arbeitslosigkeit. Gewerkschaftliche Kämpfe und ihre Grenzen am Beispiel des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1919 – 1924, Hannover 1981.
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glaubte, die Arbeiterschaft allein durch die Lohn- und Arbeitszeitkonzentration vor den Folgen schützen zu können. Einen Blick für die solidaritätsgefährdenden betrieblichen Wirkungen hatte man dabei nicht. Auch schien man programmatisch und methodisch die Fühlung zu den Mitgliedern zu verlieren. Es fiel vielen Mitgliedern auf, dass sich das Verhältnis der Arbeiterschaft zum Verband im Gegensatz zum Kaiserreich verändert hatte und nun stärker eine Kosten-Nutzen-Erwägung im Mittelpunkt stand. Mahnungen und Vorschläge, diesem Defizit zu begegnen, gab es zahlreiche, doch blieben sie meist auf den Diskurs beschränkt und wurden nicht zu einem echten Programm konkretisiert. Dass sich die Kritik dennoch so stabil über Jahre artikulierte, deutet darauf hin, dass „Mitgliedschaft“ nicht gleich „Mitgliedschaft“ war – unterschiedliche Gewerkschaftsverständnisse sorgten dafür, dass die reine Zahl nach 1918 einen schlechteren Gradmesser für gewerkschaftlichen Erfolg darstellte als in der politisch und wirtschaftlich „simpleren“ Vorkriegszeit. Nimmt man die Hinweise der Mitglieder, aber auch des Vorstands und der Bezirksleitungen, ernst, so hatte der DMV in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre also ein Mobilisierungs- und Integrationsproblem, das sich in der Diskrepanz von Quantität und Qualität schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit angedeutet hatte. Die Beantwortung der Frage, wieso die Gewerkschaftsbewegung 1933 keinen Widerstand leistete, sollte daher neben den politischen und wirtschaftlichen Argumenten (die zweifellos einleuchten) auch organisationsinterne Faktoren einbeziehen.215 Aus dieser Sicht war die Gewerkschaft Anfang der 1930er Jahre nicht nur durch ihre staatsbezogene Tradition, die in der omnipräsenten Schlichtung ihren deutlichsten Ausdruck fand,216 und die grassierende Arbeitslosigkeit macht- und kraftlos – sie war es trotz einer immer noch bedeutenden Mitgliedschaft auch innerlich. Mangels einer integrativen Gewerkschaftsidee machte der DMV sowohl einen ohnmächtigen als auch blutleeren Eindruck. Die aktive Gestaltungskraft des „Schachspielers“ hatte über Jahre hinweg einer Automatenmentalität Platz gemacht.
215 Manfred Scharrer gab beispielsweise 1984 zu bedenken, dass man für die Beantwortung der Frage „Einstellung“ und „Verhalten“ der „einfachen Mitglieder“ einbeziehen müsse, um im Anschluss eine politische Geschichte zu schreiben. Vgl. Manfred Scharrer, Anpassung bis zum bitteren Ende. Die freien Gewerkschaften 1933, in: ders. (Hrsg.), Kampflose Kapitulation. Arbeiterbewegung 1933, S. 77. 216 Brandes fasste das Dilemma 1932 in einfache Worte: „Wir dürfen uns der Mitarbeit nicht entziehen, aber alles vermeiden, was uns für den Inhalt der Ausführungsbestimmungen verantwortlich macht.“ Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 4, S. 126; zum Schlichtungswesen vgl. Johannes Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik. Tarifpolitik, Korporatismus und industrieller Konflikt zwischen Inflation und Deflation, 1919 – 1932, Berlin 1989.
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Mit dem (vor allem kommunistischen) Vorwurf der verräterischen „Arbeiteraristokratie“ hatte diese Verschiebung des Verhältnisses zwischen Organisation und Arbeiterschaft aber nur partiell zu tun. Fernab der Tatsache, dass eine solche Anschuldigung die Beziehungen ideologisch zu verschärfen versuchte, traf sie diese nämlich nur auf der Verbandsseite. Unter der Überschrift „Zurück zur Gewerkschaft“ fing ein Beobachter diese Schieflage 1932 gut ein: Die enge Verbundenheit der Arbeiter miteinander, die erste Vorbedingung eines ersprießlichen Arbeitens für unsere Sache, hat in der Zeit nach der Revolution dadurch einen gewaltigen Riß mitbekommen, daß sich aus unseren Reihen eine „Arbeiteraristokratie“ herausschälte. Der Opportunismus trat in Erscheinung. Dies erschwerte einerseits die gewerkschaftliche Werbearbeit und bestimmte andererseits viele Arbeiter, sich von der Gewerkschaft abzuwenden. Welche Bedeutung man auch immer diesen Dingen geben mag, unseren Führern kann man die Schuld daran nicht allein zuschreiben. Wir Arbeiter tragen selbst die Schuld daran. Wir warfen die Flinte ins Korn und kümmerten uns zu wenig oder gar nicht mehr um unsere Sache, oder machten nur noch in „Politik“. Zu einem „Reinigungsprozeß“ war die Mehrzahl von uns nicht reif. Die Indifferenten ließ man unbearbeitet, einige wenige suchten nach einem neuen Zusammenschluß außerhalb ihrer alten Organisation. Dann sah ein großer Prozentsatz der organisierten Kollegen in der Gewerkschaft kein Kampforgan mehr, sondern eine „Versicherung“ für die verschiedensten Lebensnöte. Und so ist es auch heute noch. Die „wohlerworbenen Rechte“ zu hüten, ist Hauptzweck geworden. Alles andere tritt bei diesen Kollegen kaum noch in den Vordergrund.217
Die Krise des DMV war aus dieser Sicht nicht allein ein Führungsproblem. Sie ging aus einem defizitären Zusammenspiel und Entgegenkommen zweier Organisationsebenen hervor, an dessen Beginn die Novemberrevolution stand. Denn nach den Versäumnissen in der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hatte sich die Verbandsleitung in eine Lage hineinmanövriert, in der sie zunehmend dazu gezwungen war, kapitalistische Politik bei weiterhin sozialistischer Ausrichtung zu betreiben und zu verkaufen. Dieser Widerspruch bewirkte nicht nur die Offenlegung der fundamentalen Politisierung der Gewerkschaft, er belastete auch die Vermittlungskanäle zur Mitgliedschaft und hatte nach 1925 großen Anteil an der ausweglosen Integration in das wirtschaftliche und politische System. Für viele DMV-Sekretäre stand am Anfang der Erklärung von 1933 demnach der Verweis auf 1918/19. Wenige Monate vor Hitlers Amtsantritt machte dies der Chemnitzer Beamte Ulrich auf dem Dortmunder Verbandstag deutlich:
217 Zurück zur Gewerkschaft!, in: MAZ 50 (1932) 4, S. 22.
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Die schlechte Lage der Arbeiterschaft in der Gegenwart erklärt sich zum großen Teil auch daraus, daß wir im Jahre 1918 unsere Machtstellung nicht eingesetzt haben; heute sind die, die wir damals schonten, unsere schlimmsten Feinde.218
Dass sich aus Sicht des DMV – Vorstands im Jahre 1932 der Schwerpunkt der Gewerkschaftsarbeit auf die „Verteidigung des bisher Errungenen“ und den „Kampf um die Erhaltung des gegenwärtigen Kulturzustandes der Menschheit überhaupt“ 219 verlagert hatte, sprach demnach nicht nur für die Stärke der Gegner und die Macht der Verhältnisse, sondern auch für eine jahrelange versäumte Integrationsleistung und Fesselung der Mitglieder bei paralleler Vernachlässigung der dazu nötigen Instrumente. Für eine Einordnung der Geschichte des DMV in die Gewerkschaftshistoriographie haben diese Überlegungen über das Verhältnis von Arbeitern und Verband zwischen 1891 und 1933 weitreichende Folgen: Denn offenbar war die Krise im Zuge überbetrieblicher Zentralisierung und Arbeiterferne im gesamten Untersuchungszeitraum und in beiden Industrien angelegt. Nicht nur in der gern als chronischgewerkschaftsfern eingestuften Hüttenindustrie, auch in den „Stammkreisen“ 220 der weiterverarbeitenden Metallindustrie zeigten sich konstant Erscheinungen der Distanzierung, Entfremdung und des Konflikts mit den (potentiellen) Mitgliedern. Die Beziehungskrise beider Ebenen wird dadurch von einem industriespezifischen Phänomen zu einem organisationssoziologischen Problem des Gesamtverbandes. In diesem Zusammenhang wären weiterführende Forschungen sicherlich vielversprechend: Vor allem im Vergleich mit anderen Metallbranchen und mit anderen deutschen und nichtdeutschen Gewerkschaftsverbänden könnte die Beziehungsdiagnose für den DMV erweitert, kontextualisiert und internationalisiert werden.221 Es steht zu vermuten, dass es sich um ein in der Logik des Verbandsaufbaus, seiner Ziele und politischen Ausrichtung angelegtes soziales Problem der Vermittlung partiell gegensätzlicher Erfahrungs- und Handlungsräume handelte. Organisationssoziologisch betrachtet dürfte es sich daher bei allen deutschen Gewerkschaften des Untersuchungszeitraums um eine vermittlungsproblematische Gratwanderung
218 Der Verbandstag in Dortmund, in: MAZ 50 (1932) 36, S. 214. 219 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1932, S. 296. 220 Vgl. zu dieser Interpretation: Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen, S. 446 f.; vgl. Schönhoven, Expansion und Konzentration, S. 306 ff. 221 Für die gewerkschaftliche Frühphase vgl. Eisenberg, Deutsche und englische Gewerkschaften; viele Ansätze im Zusammenhang der Streikbewegungen liefert auch Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland, England und Frankreich; vgl. für die schweizerischen Metallarbeiter Vetterli, Industriearbeit, Arbeiterbewußtsein und gewerkschaftliche Organisation.
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gehandelt haben. Interessant und aufschlussreich wären deshalb vor allem ähnliche Analysen von Verbänden aus Ländern, in denen diese ein anderes Verhältnis zur Ebene der täglichen Arbeit oder zur Politik einnahmen als im deutschen Raum.222 Auf der Ebene der historischen Empirik versprächen solche Ansätze darüber hinaus eine konzeptionelle Erweiterung gängiger Quellenauswahl und Quelleninterpretation, die sowohl die Untersuchungsgegenstände als auch das Narrativ gewerkschaftlicher Forschung näher an den täglichen Erfahrungsrahmen heranrücken und damit dynamisieren würden. Viele Quellenfunde ließen sich auf diese Weise besser einordnen als durch formell-politische Lesarten. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass eine theoretische und empirische Verbindung der Arbeiter- mit der Arbeiterbewegungsgeschichte in der Lage ist, sowohl einseitig kultur- oder sozialhistorische sowie politisierende Interpretationen zu vermeiden, um stattdessen Gewerkschaftsgeschichte als breites soziales Handlungsfeld zu analysieren. Wichtige ältere Deutungsangebote wie die arbeiterfernen Verbandsleitungen oder die desinteressierten, apathischen Arbeiter bildeten daher in Wirklichkeit zwei Seiten einer organisationssoziologischen Medaille, die auf eine beziehungsinterne Schieflage hindeutete. Entsprechend waren Gewerkschaften dort erfolgreich, wo dieses Wechselverhältnis ausgeglichener gestaltet werden konnte. Der Quellenbegriff der „Schachfiguren“ deutet als Symbol für die „guten Jahre“ des Verbandes daher weniger ein Verhältnis von Befehl und Gehorsam an: Es ging im Kern um die relativ harmonische, wenn auch nicht reibungslose Vermittlung der Organisationsebenen, um ein entgegenkommendes, einvernehmliches „Inklusionsarrangement“ zwischen Arbeitern und Verbandsvertretern, das den Erfolg der Gewerkschaftsbewegung vor 1914 maßgeblich mitbestimmte und nach 1919 verlorenging. Folglich stellt eine Orientierung an Inklusions- oder Exklusionsdiskursen eine wichtige Methode dar, gewerkschaftlichen Wandel einzuordnen. Aus der Auseinandersetzung darüber, wer als Mitglied in Frage kam und was man von diesem verlangte, ergab sich für den DMV ein phasenartiger Ablauf bestimmter VerbandMitglieder-Verhältnisse, die jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Agitation und Verbandsarbeit einhergingen: Auf eine handwerklich hochexklusive Gründungszeit folgte ein inklusiveres Umdenken in der Betriebsphase, das aber 222 Vgl. dazu den deutsch-amerikanischen Vergleich bei Welskopp, Arbeit und Macht; für den Bezug zu Politik und betrieblicher Ebene im Vergleich zu Großbritannien finden sich viele Ansätze bei Mommsen/Husung (Hrsg.), Auf dem Wege zur Massengewerkschaft; vgl. ebenso den immer noch lesenswerten und in vielerlei Hinsicht wieder aktuellen Band: Braun u. a. (Hrsg.), Gesellschaft in der industriellen Revolution; vgl. neuerdings für französische, belgische und amerikanische Entwicklungen die Beiträge in: Bluma/Uhl (Hrsg.), Kontrollierte Arbeit – Disziplinierte Körper?
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dennoch viele potentielle Mitglieder (auf Grund betrieblicher Atomisierung oder nationaler Herkunft, jedoch oft auf beleidigende Art und Weise) außen vor ließ. Dem Schock der frühen Kriegszeit schloss sich schließlich eine Phase beispielloser Inklusion an, die sich aber nach anderen Kriterien vollzog als in der Vorkriegszeit und in der großen Ernüchterung 1923/24 spektakulär scheiterte. Der Rückzug der 1920er Jahre war dann jedoch nicht mehr selbst gewählt wie der Vorstoß des frühen Jahrhunderts, sondern entsprach mangelnden Inklusionsfähigkeiten des Verbandes. Auch aus dem konzeptionellen Blickwinkel des Inklusionsarrangements heraus steht daher eines fest: Eine statische, an Modellen und Schemen der Klassenbildung orientierte Gewerkschaftsgeschichte geht weit an der Verbandsentwicklung vorbei, wie sie in dieser Arbeit zu erklären versucht wurde. Möchte man den Charakter der Organisation dennoch mit einer Klassenbildung verbinden, dann war die Arbeiterklasse gleichbedeutend mit einem sich ständig wandelnden Sozialgefüge, das nie „fertig“ wurde und zumindest auf seiner gewerkschaftlichen Seite der in der Einleitung prognostizierten „Gewerkschaft im Fluss“ glich. Der rasante technisch-organisatorische Wandel und die sich mit ihm verändernden betriebssoziologischen Organisationsgrundlagen machten genauso wie politische und gesellschaftliche Umbrüche jederzeit gewerkschaftliche Neujustierungen notwendig, um die einmal gewonnene Position nicht zu gefährden. Der DMV war daher über seine verschiedenen Vertreter trotz aller Zentralisierungsbestrebungen und interner Verkrustungen keine Einbahnstraße, sondern eine lernende, dynamische und anpassungsfähige Organisation.
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5. Internetdokumente Tagungsbericht: Eigen-Sinn: Herrschaft als soziale Praxis in Ostmitteleuropa nach 1945. Ein internationaler Workshop für Nachwuchswissenschaftler, 16. 10. 2014 – 18. 10. 2014 Frankfurt an der Oder, in: H-Soz-Kult, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/ tagungsberichte-5717, 5. 12. 2014. Priemel, Kim Christian, Heaps of Work. The Ways of Labour History, in: H-Soz-u-Kult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2014-01-001, 23. 1. 2014.
8. Sach- und Personenregister A ADGB 133, 207, 304, 308, 310, 327 f., 362,
365 Agitation 18 – 21, 23, 27, 32 – 34, 73, 76 – 79, 81 – 86, 106, 109, 110, 113, 118, 137, 142, 154, 157 ff., 177 – 186, 196, 205, 207, 214, 216 f., 225 – 230, 233 – 243, 269 ff., 275, 277, 279, 284, 288, 298, 317, 319, 323, 337, 342, 370, 373 f., 381, 383, 386, 388, 392, 394, 396, 399, 402 ff., 416 Agitationsreisen 81 f., 113 f., 157 Akkordlohn 47, 49, 54, 55, 57, 96, 107, 143, 169, 170 f., 223, 248, 285, 311, 315, 346 f., 353 f., 358 ff., 364, 369 f. Alkohol 173, 214, 244, 389, 397 Angelernte Arbeit(er) 52, 54, 81, 105, 120, 125, 127, 132, 162 ff., 169 ff., 202 ff., 246, 262, 332, 355, 356 Angloamerikanische Gewerkschaften 80, 416 Anreißer 49 ff., 54, 164 Arbeiter-Auskunftsbüro/ Arbeiter-Sekretariat 141, 206 – 211, 216 Arbeiterausschüsse 26, 100, 198, 254, 279, 286 – 292, 309, 322, 324, 411, 412 Arbeitslosigkeit 20, 23, 49, 119, 138, 230, 249, 251, 258, 260 f., 268, 326, 338, 352, 353, 357, 361, 364, 367, 400, 401, 413 Arbeitsorganisation/Arbeitssysteme 16, 23 f., 34, 36, 40 – 57, 65, 69, 92 – 96, 134, 167, 220 – 224, 230, 245, 246, 343 – 351, 355 f., 360 f., 409 Arbeitsteilung 22, 48, 90, 408, 409 Arbeitsvorbereitung 162, 164, 170, 171, 247, 248, 345, 347 Austauschbau 44, 57, 161, 167, 171, 203, 223, 245, 346, 349 Automatenfertigung 132, 160, 355 B Baumwoll-/Textilindustrie 29, 36, 39, 119 ff., 124, 144, 209, 211, 261, 296 Benjamin, Walter 362 f., 372
Beschleunigung 22, 27, 40, 145, 160, 164, 169 – 172, 176, 245 – 257, 262, 292, 313, 346, 353, 355, 359, 367 Betriebsräte 26, 33, 255, 288, 298, 300, 308, 309 – 326, 336, 342, 352, 360 – 364, 369, 371, 373, 381, 382, 387 ff., 399, 406, 411, 412 Bildung 31, 33, 111, 117, 142, 175, 183, 186, 194, 211 – 216, 222, 232, 244, 298 f., 315, 331, 333, 335 – 339, 342, 376, 379, 386 – 389, 391, 393, 399, 404, 411 f. Bochumer Verein 99, 108 ff., 147, 153, 155 Böhmen 125 – 132, 134 ff., 141, 143 f., 153 Branchenorganisationen 72 f., 81, 176, 185, 280, 372 Brandes, Alwin 362, 413 Brücke 306 C CMV 104, 108, 206, 231 ff., 284, 308, 318, 373,
396 „Crew-System“ 220 – 226, 228, 231, 250, 256, 283, 286 f., 289, 325 f., 344 f., 353, 356 f., 409. D Degradierung 93 f., 96 f., 105, 151 f., 318, 320, 325, 353 f. Dequalifikation 93, 164, 352, 356 Diebstahl 67, 100, 255 ff., 360 DINTA 374 – 404 Dispositionsspielräume 24, 47, 51 f., 54 ff., 58, 63, 69, 94, 164, 170, 172, 223, 251, 256, 356, 373 Dißmann, Robert 273, 275, 302 – 305, 306, 309 f., 327 – 331, 335 Disziplin 15, 17, 19, 25, 33, 34, 46, 60, 66, 69, 87, 88, 94, 101, 172, 187, 192, 193 f., 198, 251, 253, 255, 286, 289 f., 301, 330 – 333, 339, 342, 346, 357, 359, 369, 377, 378, 404, 410, 411 Dreher 41 f., 51 – 55, 67, 81, 96, 97, 105, 106, 120, 125, 127, 129, 132, 137, 162, 163, 164, 166, 169, 170, 176, 184, 186, 202, 203, 205, 207, 219,
Sach- und Personenregister
228, 246, 261, 264, 273, 320, 321, 354, 355, 356, 373 „Drive-System“ 91 f., 94 f., 98, 102, 105, 107, 112, 149, 151 f., 162, 170, 220 ff., 227, 409 f. E Eigen-Sinn 7, 25 f., 30, 34, 40, 65 – 70, 85, 88 f., 98 – 101, 136, 174, 187, 190, 191, 224, 251 – 257, 290, 318, 360 f., 409 ff. Einrichter 164, 166, 170, 172 Einstein, Norbert 316, 325 Elektroantrieb 51, 247 Erzgebirge 122, 127 ff., 131, 141 ff. F Facharbeit(er) 52, 163, 164, 165, 201, 202, 204, 246, 247, 262, 264, 332, 356 ff. Fachvereine 71 ff., 75, 76, 79, 82, 103, 105, 106, 207, 236, 304 Familie 32, 66, 85, 112, 134, 138, 152 f., 214, 216, 251, 258, 266 f., 376, 379, 381, 383, 385, 390, 395 – 398, 400, 401 Fließfertigung 43 f., 91, 94, 98, 169, 221, 246, 343 – 346, 351, 354, 355, 356, 360 – 364, 370, 408, 409 Fluktuation 89, 96, 109, 132, 138, 139, 140, 151, 152, 237, 261, 295 Frauenarbeit/-organisation 124, 201 f., 261, 262, 282, 284 f., 331, 356, 395 – 404, 405 Fremdenfeindlichkeit 97, 143 f., 152, 154, 156, 158, 240 Friedrich-Alfred-Hütte (FAH) 100, 150, 151, 221, 231, 232, 233, 250, 251, 255, 257, 283, 284, 288 – 291, 308, 324, 331, 351, 361 G Generalkommission 190, 207, 258, 277, 302 Gewalt (körperliche) 68, 100, 101, 152, 171, 173 f., 183, 270, 272 Gewerkschaftskartell 33, 80, 141, 186, 206 – 213, 216, 220, 260, 268, 277, 298, 304, 389 Gießerei/Gießer 39 – 42, 46 f., 54, 94, 125, 129, 135, 197, 202 f., 245, 261, 265
467
Göhre, Paul 34 f., 39, 41, 46, 48 – 51, 53 – 64, 66 f., 69, 75, 82 – 87, 93, 128, 131, 134, 163, 165, 175 ff., 184, 211, 214, 245, 379 Graf, Georg Engelbert 333, 387 f., 399 f. Gutehoffnungshütte (GHH) 95, 96, 108, 144, 146, 149, 152, 155, 231, 232, 287, 300, 309, 311, 313, 323, 396 H Handwerkliche Traditionen/Ursprünge 21, 27, 31, 46 f., 62, 76, 80, 82, 92, 94, 97 f., 105 f., 112, 114, 118 – 121, 124 f., 130 ff., 136 ff., 142, 153, 158, 163 f., 171, 204 f., 216, 241, 408, 410, 416 Hartmann 31, 36 – 39, 121, 130, 131, 132, 198, 199, 205, 206, 249, 261, 262, 264, 265, 266, 321, 348, 351 Haubold 36, 120, 129, 130, 135, 173, 198, 199, 255, 265 Hausagitation 179, 181, 234 ff., 239 H.-D. 104, 206, 219, 284, 288, 308, 318 Heilmann, Ernst 71, 85, 219, 260 Heldt, Max 219, 298, 303 Hilfsarbeiter 47, 48, 50 ff., 56, 57, 63, 67, 93, 97, 135, 162, 163, 202, 203, 225, 229 Hochöfen 90 – 93, 105, 145, 150, 152, 221, 227 f., 231, 250, 284 Huè, Otto 107 f., 155 – 158, 233, 234 I Industrialisierung 28, 29, 118 – 123, 142, 144 – 149 Industrieverbandsprinzip 20, 74, 76, 81, 204, 229, 241, 309, 324, 326 – 330, 399 Ingenieurwissenschaften 59 f., 161, 171, 247 f. J Jugendarbeit (gewerkschaftliche) 199, 201, 202, 214 ff., 331 f., 387, 390 – 394, 397, 405 K Kappel 31, 39, 41, 51, 60, 67, 68, 73, 75, 198, 199, 264 Kinderfeste 213 f., 216, 385 Kolonnenarbeit 47, 50, 56 ff., 69, 92 – 97, 107, 135, 151 f., 168, 220 ff., 228, 283, 346
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Konfessionen 102 ff., 117, 126, 133 f., 206, 409 Konstruktion/Konstrukteure 42, 44 ff., 52, 162, 171, 247 f., 349 Kontrolle 19, 23, 24, 32, 40, 46, 48 f., 52, 57 f., 64, 67, 69, 84, 89, 93 ff., 97, 101 f., 108, 171, 173 f., 176, 223, 248, 254, 288, 307, 322, 336, 345, 346, 356, 361, 409 Kontrolleure 56, 101, 358, 359 KPD/Kommunisten 302, 305 ff., 357, 368, 370 f., 414 Krankheit 131, 174, 182, 209, 216, 219, 364, 367 Krause, Robert 73, 106, 137, 191, 196, 217, 218, 265, 266 f., 273 Kriegsgefangene 150, 262, 282 ff. Krupp 59, 100, 101, 102, 105, 107, 130, 150, 155, 221, 232, 238, 252, 253, 283, 285, 287, 288, 380 Kummer, Fritz 241, 316 f., 327 ff., 385, 396, 403 f. L Leichtsinn 224 M Mehrbanksystem 169, 353 Meister (Betrieb) 26, 45 f., 48 f., 58 – 64, 68 ff., 84, 88, 93 ff., 98 f., 108, 120, 143, 152, 171 ff., 184, 196, 200, 223, 248, 255, 357, 359, 361, 409 Messarbeit 42, 52, 53, 160, 161, 164, 165, 166, 221, 247, 248, 346, 358, 359 Metallarbeiter-Zeitung 33, 60, 76, 77, 98, 106, 107, 138, 154, 174, 180, 182, 186, 197, 228, 229, 241, 269, 275, 280, 304, 308, 310, 316, 326, 337, 367, 369, 371, 378, 384, 388, 389, 394 – 400, 404 Migration 16, 17, 32, 97, 115 – 159, 409 Mikropolitik/Spiele 15, 19, 24, 61, 64 f., 68, 70, 85, 136, 173 ff., 224, 251, 256, 360, 409 Modelltischlerei 42, 45 ff., 120, 135, 169, 245 Montage 41, 46, 48 f., 56 f., 62 f., 64, 92, 162, 168, 222, 245 f., 345 ff. Monteure 48 f., 56 f., 59, 62, 69, 93, 125, 127, 166 Müller, Max Wilhelm 220, 303
Sach- und Personenregister
Müller, Richard 302 ff., 309 f. N Neckereien 68, 99, 136, 173 ff., 187, 360 Normung und Typung 248 f., 349, 354, 363 Noske, Gustav 219, 260, 277, 306 P Passarbeit 44, 160 – 164, 166, 170, 246 Pittler 245, 254, 346, 376 Phoenix 105, 108, 146, 147, 149 Polnische Arbeiter/Migranten 97, 108, 147, 149 f., 152, 154 ff., 158 f., 240 f., 283 Preller, Ludwig 132, 297, 332, 364, 372, 375 „Produktionspakt“ 58, 60, 89, 90, 93, 95, 99, 133, 172, 176, 223, 409 Puddelverfahren 92, 98, 145 Q Qualifikation 21 f., 40, 44 – 47, 52, 54 f., 62, 90, 92 ff., 116, 120, 124, 133, 135, 149, 151, 154, 162, 164 – 167, 171, 176, 204 f., 228, 347, 356, 393, 408 f. R Rätesystem 277, 302 ff., 309, 310, 372 REFA 248, 344, 358, 365, 366 Reichel, Georg 241, 304, 327, 329, 335 Reinecker 31, 36, 37, 38, 161 ff., 198, 199, 245 f., 261, 262, 265, 351, 352, 361 Revolution 1918/19 27, 220, 248, 250, 251, 277, 280 f., 292 f., 297 f., 302 f., 330 f., 335, 340 f., 371, 412, 414 Riemann, Emil 73, 79, 81 f., 88 Riemann, Karl 72, 73, 76, 88, 106, 137, 216 RKW 248, 344, 365 Rüstungsproduktion 201, 248, 250 f., 259, 261, 263, 271, 279, 280, 293 S Sachsen 28 f., 31, 33, 36 – 39, 71, 72, 79, 81, 86, 102, 103, 104, 108, 113, 118, 121 f., 126 f., 128 ff., 142, 144, 146, 149, 169, 178, 191, 195, 202, 206, 216, 217, 226, 278, 294 ff., 308,
Sach- und Personenregister
309, 315, 333, 338, 343, 353, 364, 373, 376, 409 Schlicke, Alexander 78, 106, 219, 241 – 244, 273 – 276, 278, 298, 302, 331 Schlosser 40 f., 48, 50, 53 – 57, 62, 63 f., 67, 69, 72 ff., 80, 94, 119, 120, 125, 127, 129, 133, 135, 137, 155, 160, 162 – 166, 169, 170, 174, 176, 186, 202, 203, 207, 229, 242, 243, 261, 322, 354, 356, 358, 362 Schmiede 40 ff., 47, 51, 54, 57, 63, 74, 80, 94, 97, 120, 121, 125, 127, 135, 163, 169, 170, 174, 196, 202, 203, 245, 247, 354 Schütz 253, 255, 347, 358 Seidel, Richard 311, 314 f., 338 Sender, Tony 313 ff., 326 Serienproduktion 44 f., 47, 164 f., 169 f., 174, 176, 196, 245, 248, 344, 345, 349, 353 f., 356 Severing, Carl 234, 242, 298 Siegnoth, Joseph 133 Sozialdemokratie/(M)SPD 30, 71 – 75, 82, 84 – 87, 102 f., 137, 210, 214, 219, 260, 268, 271, 277, 280, 293, 302, 305 ff., 308, 339, 371, 387, 390, 411 „Sozialistengesetz“ 71 ff., 76, 102, 109, 137, 212, 218 Spiegel, Karl 110, 236 f. Sport 376, 379, 390 f., 392 f. Stinnes-Legien-Abkommen 293, 302 Streik 15, 60, 79, 85, 89, 104, 143, 170, 189, 190, 195, 198, 199, 203, 217, 218, 231, 232, 251, 258, 260, 263 – 267, 272, 274 f., 277 f., 286 – 290, 301, 307 ff., 319, 324, 331, 333, 352, 382, 385, 415 Stundenlohn 55, 56, 62 Syndikalismus/FAU 320, 322 ff., 332, 412 T Taylorsystem 170, 316 f., 408 „Team-System“ 91 ff., 97, 105 Technisch-organisatorischer Wandel 18 f., 22 – 25, 30 f., 36 – 57, 90 – 96, 116, 134, 144, 151, 160 – 177, 220 – 226, 343 – 352, 363, 366, 369, 370, 407, 408, 417 Textilmaschinenbau 36
469
U Überkapazitätskrise 23, 250, 344, 348 f., 351 f., 357, 365 Überwachung (polizeilich) 23, 78, 86, 95, 103, 108, 109, 218, 231, 232, 266, 270 ff., 283, 396 Ungrade, Emil 106, 226, 234 Union 31, 36, 37, 44, 62, 155, 161, 167, 168, 196, 249, 348, 350 Unorganisierte Arbeiter 19 f., 32 f., 77, 79 f., 82, 110 ff., 158 f., 177, 179 f., 184, 186 f., 196, 199, 208, 230, 231, 261, 285, 288, 291 f., 301, 318, 330, 382, 396 Unternehmer/Arbeitgeber 19, 21, 23, 25, 31 f., 34, 37, 58, 60, 66, 89, 93, 104, 106 – 109, 111, 119, 128, 134, 143, 153, 175, 186, 188 f., 195, 196 ff., 234, 251 – 257, 262, 264, 266, 276, 281 ff., 286 f., 289, 296, 300 – 305, 311 – 316, 321, 325, 331, 333, 335, 343, 344, 357, 371, 374 f., 377 f., 382, 384, 405 Unterstützungswesen (gewerkschaftlich) 15, 76, 89, 137 ff., 141, 179, 191, 200, 207, 231, 260, 261 USPD 271, 273, 274, 277, 303, 305, 307, 314, 315, 325, 387 V Vereinsgesetz 72, 77, 78 f., 195, 202, 217 Versammlungen 27, 33, 72 – 79, 81 ff., 88, 106, 108 – 114, 136, 138, 156, 178 – 184, 186, 188, 193 f., 199, 200, 207, 211, 216 f., 230, 231 – 244, 254, 265 – 269, 273, 274, 276, 278 f., 289 f., 302, 303 ff., 308, 320, 323, 326, 336, 337, 339, 376, 383 – 390, 393, 396, 397, 404, 411 Vertrauen 20, 26, 69, 100, 101, 183, 186, 199, 212, 216, 223, 274, 277, 280, 297, 318, 359, 387, 407 Verwaltungsstruktur (gewerkschaftliche) 76, 77 f., 109, 112, 138 ff., 142, 157, 186, 191 ff., 195 ff., 212, 217, 236 ff., 294 ff., 336, 392 Volkshaus „Kolosseum“ 141, 211 f., 307 Volksstimme 60, 212, 220, 259 f., 263, 270, 271, 277, 306 Vorständekonferenz der Gewerkschaften 277, 278, 305, 306
470
W Wanderer-Werke 31, 36, 133, 198, 200, 249, 261, 262, 265, 307, 346, 349, 350, 355, 357, 376 Werkstattprinzip 42, 44, 51, 67, 167, 170, 246, 248, 345, 346, 347, 355, 356, 409 Werkstattvertrauensmännersystem 26, 85, 113, 140, 175, 177, 181 – 200, 202, 218, 226, 231, 238, 244, 264, 268, 270, 276, 289, 318 – 321, 325, 336, 337, 373, 378, 387, 405, 406, 410, 412 Werkszeitungen 361, 376, 377, 383, 384, 397, 398 Werkvereine 104, 186, 198, 199, 205, 206, 262, 282, 286, 288, 374, 377, 378 Werkzeugmacher 164, 170, 245
Sach- und Personenregister
Wirtschaftsschule des DMV Bad-Dürrenberg 387 ff., 398 f., 403 Wissell, Rudolf 106, 207, 298 Woldt, Richard 222, 298 f., 357 Z Zeitstudien 247, 346 f., 354, 357 – 360, 369 f. Zentralarbeitsgemeinschaft 302, 304, 305, 335 Zentralverband der Walzwerkarbeiter Deutschlands 337 Zernicke, Hermann 304 Zimmermann 31, 36, 37, 39, 40, 41, 46, 161, 198, 264, 265, 348 Zuckschwerdt, Franz 76, 106, 137 „Zweiter Umbruch der Fertigungstechnik“ 42, 44, 92, 160 – 170, 202, 203, 245 f., 262
INDUSTRIELLE WELT SCHRIF TENREIHE DES ARBEITSKREISES FÜR MODERNE SOZIALGESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON ANDREAS ECKERT UND JOACHIM RÜCKERT
EINE AUSWAHL
BD. 92 | SABINE RUDISCHHAUSER GEREGELTE VERHÄLTNISSE
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EINE GESCHICHTE DES TARIF-
ARBEIT UND RECHT SEIT 1800
VERTRAGSRECHTS IN DEUTSCHLAND
HISTORISCH UND VERGLEICHEND,
UND FRANKREICH (1890–1918/19)
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