Der Bereich des Parlamentsgesetzes [1 ed.] 9783428465392, 9783428065394


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Der Bereich des Parlamentsgesetzes [1 ed.]
 9783428465392, 9783428065394

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 549

Der Bereich des Parlamentsgesetzes Von

Reinhard Hermes

Duncker & Humblot · Berlin

REINHARD HERMES

Der Bereich des Parlamentsgesetzes

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 549

Der Bereich des Parlamentsgesetzes

Von Dr. Reinhard Hermes

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hermes, Reinhard: Der Bereich des Parlamentsgesetzes / von Reinhard Hermes. Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 549) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06539-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06539-5

Vorwort Die vorliegende Untersuchung hat im Sommersemester 1987 dem Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg als Dissertation vorgelegen. Sie ist auf dem Stand vom 31. 12. 1986. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Rainer Lagoni bin ich zu großem Dank verpflichtet. Er hat das Entstehen der Arbeit mit kritischem Zuspruch begleitet und mir als sein Assistent den notwendigen Freiraum für ihre Vollendung zugestanden. Seine Aufgeschlossenheit und Toleranz werden mir Vorbild bleiben. Herrn Professor Dr. Jürgen Schwabe bin ich für kritische Hinweise zu dem Abschnitt über die Grundrechte dankbar. Thomas Brinkmann, Maren Eilenberger, Norbert Zeiss, Bärbel Halledt und John Flüh sei gedankt für moralische und praktische Unterstützung. Edith Born danke ich für Zuspruch und Geduld. Meine Eltern haben mich während meines Studiums unterstützt. Ohne ihre Hilfe in den vergangenen zwei Jahren, als ich in den USA lebte, hätte diese Arbeit kaum erscheinen können. Ihnen danke ich von ganzem Herzen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem Bundesminister des Innern für einen Druckkostenzuschuß und dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme in sein Verlagsprogramm. New York, im September 1988 R. H.

Inhaltsverzeichnis Einführung

1 1

Erster Teil Begriff und Entwicklung des Gesetzes Vorbehalts I. Begriffsbestimmung

14 14

II. Zur Entwicklung des Gesetzesvorbehalts

15

1. Das deutsche Staatsrecht bis zur Weimarer Reichsverfassung

15

2. Der Gesetzesvorbehalt in der Genese des Grundgesetzes

17

3. Der Gesetzesvorbehalt i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

18

a) Der Gesetzesvorbehalt als Problem der Grundrechtsdogmatik

18

b) Der Weg zur Wesentlichkeitstheorie

21

c) Grenzen der "Wesentlichkeitstheorie

26

Zweiter Teil Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie

29

I. Der Begriff Legitimität

29

1. Ausgangspunkte

29

2. Legitimität als juristische Kategorie

30

3. Legitimität und Gesetz

33

II. Die Legitimität der Verfassung

34

1. Formale (genetische) Legitimität: Die Präambel

34

2. Materielle Legitimität

35

3. Legitimität durch Geltungsbewährung

37

HL Legitimation i n der Verfassungsordnung des Grundgesetzes

38

1. Institutionelle Legitimation

39

2. Personale Legitimation

39

8

Inhaltsverzeichnis 3. Funktionale Legitimation

40

4. Legitimation durch das Mehrheitsprinzip

40

5. Legitimation durch Verfahren

41

Dritter Teil Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG und der Gesetzesvorbehalt I. Das Demokratieprinzip 1. Das Parlament als Repräsentant des Volkes 2. Funktionen des Parlaments

44 45 45 46

a) Staatsleitung

47

b) Integrationsfunktion

48

3. Demokratische Legitimationsvermittlung durch das Parlament

50

a) Personale Legitimation

50

b) Demokratische Verfahren und Mehrheitsprinzip

52

(1) Verfahrensbeteiligte

52

(2) Öffentlichkeit

52

(3) Formalisiertes und rationales Verfahren

53

(4) Mehrheitsprinzip

54

4. Folgerungen II. Das Rechtsstaatsprinzip

54 55

1. Zum Begriff des Rechtsstaatsprinzips

56

2. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung - Das Gesetz als Garant für Freiheit, Gleichheit und Rechtssicherheit

57

a) Gleichheit

59

b) Freiheit

60

c) Rechtssicherheit

60

3. Rechtsstaatliche Legitimität und Gesetz

61

a) Legitimation durch das Gesetz

61

b) Gefährdungen

62

ΙΠ. Gewaltenteilung und allgemeiner Gesetzesvorbehalt

66

1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gewaltenteilungsgrundsatz

66

2. Zu Funktion und Legitimation von Gewaltenteilung

71

Inhaltsverzeichnis 3. Gewaltenteilung und Gesetzgebung

73

4. Gefährdungen?

74

IV. Folgerungen

74

1. Legitimationsfaktor Gesetz

74

2. Vom Gesetzgebungsstaat zum Jurisdiktionsstaat?

75

3. Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt

76

4. These: Modifizierung der Wesentlichkeitstheorie

78

Vierter

Teil

Grundrechte und allgemeiner Gesetzesvorbehalt I. Grundrechtstheorie und grundrechtliche Gesetzesvorbehalte

81 82

1. Die Status-Lehre Georg Jellineks

83

2. Die „erste Generation" der Grundrechtstheorien

84

3. Die „zweite Generation" der Grundrechtstheorien

86

4. Eine Bilanz

88

II. Zur Legitimität der Grundrechte und ihrer Vorbehalte

88

III. Grundrechtliche Gesetzes vorbehalte und allgemeiner Gesetzesvorbehalt . . . .

92

IV. Der Gesetzesbegriff der Grundrechte

95

Fünfter Teil Der Bereich des allgemeinen Gesetzesvorbehalts Ansätze einer Konkretisierung I. Die doppelte Problemstellung

103 103

II. Sachspezifische Kriterien 104 1. Grundrechtsrelevanz 104 a) Der Gesetzesvorbehalt i m objektiv-rechtlichen Bereich der Grundrechte 105 (1) Vorfeld der subjektiven Abwehrrechte: Schutzpflichten

105

(2) Grundrechtskollisionen

107

(3) Objektiv-wertsetzende Ausgestaltung

108

(4) „Leistungsrechte"

110

b) Konkretisierung nach dem Normzweck

111

10

Inhaltsverzeichnis 2. Determinationswirkung

114

3. Politische Umstrittenheit

117

4. Keine originäre Pflicht zur Legeferierung

120

ΙΠ. Normspezifische Kriterien

121

1. Das Vorbehaltsgesetz als allgemeines Gesetz

121

2. Die Funktion des Art. 80 I GG

126

3. Funktionale Grenzen der Gesetzgebung

131

a) Schulrecht

131

b) Auswärtiger Bereich

132

c) Weitere Bereiche

134

IV. Der Interpretationsprimat des Parlaments

136

Zusammenfassung

138

Literaturverzeichnis

141

Einführung Mit dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes, nach dem bestimmte hoheitliche Sachentscheidungen der Regelung durch das Parlament in Form des Gesetzes vorbehalten sind 1 , erlebt eine dogmatische Figur des Konstitutionalismus eine Renaissance, die durch die Kompetenzordnung des Grundgesetzes bereits verdrängt schien 2 . Auslöser dieser Entwicklung war die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, derzufolge wesentliche Entscheidungen vom Parlament durch Gesetz zu treffen sind 3 . Die „Wesentlichkeitstheorie", wie der Ansatz des Gerichts alsbald etikettiert wurde 4 , ist Gegenstand einer Kontroverse, bei der sich zwei Grundpositionen ausmachen lassen. Die eine beharrt darauf, daß neben den grundrechtlichen und organisationsrechtlichen Vorbehalten des Grundgesetzes kein Raum für einen Allgemeinvorbehalt bleibt 5 ; die Gegenauffassung sieht den Allgemeinvorbehalt verfassungsrechtlich im Demokratieprinzip und/oder im Rechtsstaatsprinzip verankert 6 . Beiden Ansichten gemein ist das Unbehagen an der Vagheit der Wesentlichkeitsf ormel und das Problem, die Reichweite des Gesetzesvorbehalts bzw. der 1 Dies als vorläufige Definition; vgl. F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Götz/Klein/Starck (Hg.), Die Öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 9 (14); W. Krebs, Der Vorbehalt des Gesetzes und die Grundrechte, 11. 2 Vgl. etwa Κ Vogel, Gesetzgeber und Verwaltung, W D S t R L 24,125 (149 ff.); H. J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das Grundgesetz, 27 ff.; zurückhaltend W. Krebs, (Fn. 1), 132. 3 BVerfGE 33, 301 (346); 33, 125 (158); 40, 237 (249 f.); 41, 251 (259 f.); 45, 400 (417 f.); 47, 46 (79 f.); 49, 89 (124 f.); 57, 295 (320 f.); 68, 1 (88); BVerfG, EuGRZ 1986, 577 (586 ff.). 4 Zuerst wohl von Th. Oppermann, Verhandlungen des 51. DJT, Bd. 1, Gutachten C, S. C 49 Anm. 104; s. dazu auch D. C. Umbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, Fs. Faller, 111 (112); aus der nahezu unübersehbaren Literatur zum Gesetzesvorbehalt seien zunächst genannt: die Referate von F. Ossenbühl und H. J. Papier, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Götz/Klein/Starck (Fn. 1), 9 ff.; M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685ff.; Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 316 ff.; E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 373 ff.; C. E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÒV 1984, 485 ff., alle mit umfassenden Nw.; s. auch bereits P. Selmer, Der Vorbehalt des Gesetzes, JuS 1968, 489 ff.; sowie neuestens J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 103 ff. 5 Z. B. H. J. Papier (Fn. 4), 48; Ph. Kunig (Fn. 4), 326. 6 Z . B . F. Ossenbühl (Fn. 1), 27; E. W. Böckenförde (Fn. 4), 391 ff.; M. Kloepfer (Fn. 4), 685 (695); F. Rottmann, Der Vorbehalt des Gesetzes und die grundrechtlichen Vorbehalte, EuGRZ 1985, 277 (295); H. Bethge, Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt für die Kommunalverwaltung, NVwZ 1983, 577.

12

Einführung

Gesetzesvorbehalte im konkreten Fall, etwa dem Schulrecht, dem Subventionsrecht oder dem Planungsrecht zu bestimmen, sei es gestützt auf einen Katalog von allgemeinen positiven 7 oder auch negativen 8 Topoi, sei es durch die Auslegung der Grundrechte. Die Schwierigkeiten werden nicht vermindert durch begriffliche Neuprägungen wie „Parlamentsvorbehalt", „Rechtssatzvorbehalt" oder auch „Verwaltungsvorbehalt", über deren Bedeutung und Verhältnis zum Gesetzesvorbehalt keine Einigkeit besteht 9 . Die vorliegende Arbeit setzt nicht bei einer Exegese einzelner spezieller Gesetzesvorbehalte oder „der" Grundrechtsvorbehalte an, sondern sucht die Rechtfertigung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts und seine Konkretisierung aus einer möglichst nicht a priori verengten Analyse der Funktionen des (Parlaments-) Gesetzes in der Verfassungsordnung zu gewinnen. Um den demokratischen, rechtsstaatlichen, Gewaltenteilungs- und grundrechtlichen Dimensionen von Gesetz und Gesetzesvorbehalt gerecht zu werden, ist ein möglichst neutraler Standpunkt von Vorteil, d. h. eine Perspektive, die der Analyse nicht implizit eine der Staatsfundamentalnormen 10 (Demokratie, Rechtsstaat etc.) unterlegt. Diese „neutrale" Perspektive zu gewinnen, dient die Einführung einer Kategorie, die auf den ersten Blick noch weniger faßbar erscheint als der Vorbehalt des Gesetzes: Legitimität. Gesetz und Legitimität bzw. Legitimation werden indes nicht selten in Verbindung gesetzt, so wenn von demokratischer und rechtsstaatlicher Legitimität des Gesetzes, einem „Legitimationsvorsprung" des Parlaments oder dem Verhältnis von Legalität zu Legitimität die Rede ist 1 1 . Auf der Basis eines funktionalen Legitimitätsbegriffs w i r d im folgenden der Versuch unternommen, die Legitimationsleistungen und -aufgaben, die dem Gesetz durch die Verfassung zugewiesen sind, zu ermitteln. Demokratische, rechtsstaatliche, Gewaltenteilungs- und Grundrechtsaspekte des Gesetzes(vorbehalts) werden unter dem Vorzeichen Legitimität zueinander in Beziehung gesetzt. Abschließend ist zu zeigen, daß dieser Ansatz nicht nur dogmatischer Klärung dient, sondern als Grundlage der Konkretisierung des allgemeinen und

7 s. F. Ossenbühl (Fn. 1), 28 ff.; D. C. Umbach (Fn. 4), 127 ff.; M. Kloepfer (Fn. 4), 693 ff.; H. U. Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalt, Fs. Juristische Gesellschaft, 113 (118 ff.), β C. E. Eberle (Fn. 4), 490 ff. 9 Zu Parlaments- und Rechtssatzvorbehalt s. nur H. Bethge (Fn. 6), 577; H. J. Papier (Fn. 4), 46 ff.; H. U. Erichsen (Fn. 7), 121 ff.; E. W. Böckenförde (Fn. 4), 393 f.; Der „Verwaltungsvorbehalt" war Thema der Staatsrechtslehrertagung 1984 mit Referaten von H. Maurer und F. E. Schnapp, W D S t R L 43 (1985), 135 ff. bzw. 172 ff. 10 Begriff von R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 I, Rz. 7. 11 s. dazu zunächst nur BVerfGE 33, 125 (159); 40, 237 (249); H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 78 ff.; Th. Würtenberger, Legitimität und Gesetz, Fs. Gesellschaft für Rechtspolitik, 533 ff.

Einführung

auch bestimmter spezieller Gesetzesvorbehalte taugt. Ebenso sollen das Verhältnis zwischen allgemeinen und grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten, die Funktion des Art. 80 I GG sowie die Bedeutung des allgemeinen Gesetzes eine Klärung erfahren.

Erster Teil

Begriff und Entwicklung des Gesetzesvorbehalts I. Begriffsbestimmung

Wer von Gesetzesvorbehalt spricht, muß sich zunächst zu einem bestimmten Gesetzesbegriff bekennen. Hier wird Gesetz im formellen Sinne verstanden, als der vom Parlament im Wege des verfassungsrechtlich hierfür vorgesehenen Verfahrens (Art. 76 - 78 GG) erlassene Hoheitsakt 1 . Die Diskussion um den materiellen Gesetzesbegriff kann an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben, denn sie betrifft weniger die Frage, was ein Gesetz ist, als das Problem, wann anstelle eines formellen Gesetzes ein im Range darunter stehender Rechtssatz, also eine Verordnung oder Satzung ergehen darf 2 . Die Antwort kann daher nicht im Wege der Begriffsklärung vorweggenommen werden. Entsprechend der schon eingangs gegebenen Definition 3 w i r d der Vorbehalt des Gesetzes formell, nämlich als verfassungsrechtliches Prinzip verstanden, nach dem bestimmte hoheitliche Sachentscheidungen der Regelung durch das Parlament in Form des Gesetzes vorbehalten sind. Der klassischen materiellen Definition, die den Vorbehalt des Gesetzes als „jenes allgemeine verfassungsrechtliche Prinzip (bestimmt), nach dem jeder staatliche Eingriff in Freiheit und Eigentum des Bürgers ein Gesetz oder eine formellgesetzliche Grundlage erfordern soll" 4 , wird mithin nicht gefolgt. Sie umschreibt nicht den Begriff, sondern den Anwendungsbereich des Vorbehalts. „Vorbehalt des Gesetzes" und „Gesetzesvorbehalt" werden nachfolgend synonym verwandt 5 . Die Befürworter einer Unterscheidung dieser Begriffe verstehen dagegen unter „Vorbehalt des Gesetzes" das allgemeine Prinzip und unter dem Terminus „Gesetzesvorbehalt" eine vom Grundgesetz im Einzelfall niedergelegte Verweisung auf das Gesetz - wie etwa bei den 1 Vgl. N. Achterberg, Parlamentsrecht, 735 f.; ähnlich D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 9. Diese Definition gilt analog auch für Landesgesetze, so etwa im Bereich des Schulrechts. 2 Vgl. nur E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 377 ff.; Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 21 ff.; N. Achterberg (Fn. 1), 706 ff. 3 s. o. Einführung. 4 W. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 11 m. w. N. 5 Ebenso F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Götz/ Klein/Starck (Hg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 9 ff.

.

r Entwicklung des Gesetzesorbehalts

Gesetzesvorbehalten der Grundrechte 6 . Diese Terminologie hat sich indessen nicht durchgesetzt. Gleichwohl ist es notwendig, zwischen dem allgemeinen Prinzip und seinen konkreten Ausprägungen zu unterscheiden. Letztere werden daher als spezielle oder Grundrechts- bzw. organisationsrechtliche Gesetzesvorbehalte im Gegensatz zu dem (allgemeinen) Gesetzesvorbehalt bezeichnet. I I . Z u r Entwicklung des Gesetzesvorbehalts 1. Das deutsche Staatsrecht bis zur Weimarer Reichsverfassung

Die dogmatischen Wurzeln des Gesetzesvorbehaltes 6a reichen in den Konstitutionalismus des frühen 19. Jahrhunderts zurück. Die Geschichte des Vorbehalts seit dieser Epoche ist hier nicht in Einzelheiten darzustellen oder auch nur zu skizzieren 7 , sondern mit einigen für das Verständnis der aktuellen Diskussion wichtigen Anmerkungen zu versehen. Der Gesetzesvorbehalt war in der konstitutionellen Ära der „juristische Problemausdruck" für die politische Rivalität zwischen Parlament und Monarch 8 . Die politischen Mitspracherechte, die sich das Bürgertum erkämpft hatte, fanden ihre Positivierung in dem durch die Verfassungen gewährleisteten Recht des Parlamentes, in bestimmten Gebieten den Monarchen und die Exekutive bindende Gesetze zu erlassen. Wichtigster Gegenstand parlamentarischer Mitwirkung waren Regelungen, welche die Individualsphäre der bürgerlichen Gesellschaft betrafen: Freiheit und Privateigentum. So heißt es in der klassisch-kurzen Formel des § 23 der Verfassung des Großherzogtums Hessen vom 17. 12. 1820: „Die Freiheit der Person und des Eigentums ist in dem Großherzogtum keiner Beschränkung unterworfen als welche Gesetz und Recht bestimmen" 9 .

Dieses Recht des Parlaments stand so sehr im Vordergrund seiner Kompetenzen, daß es zum Begriffsmerkmal von „Gesetz" geriet: Das Gesetz definierte sich als Regelung, die in Freiheit und Eigentum eingreift; der Geset6 Z. B. W. Krebs (Fn. 4), 11 m. w. N.; D. Jesch (Fn. 1), 31. 6a Der Begriff „Vorbehalt des Gesetzes" stammt von Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 69. 7 s. dazu die eingehenden Darstellungen von E. W, Böckenförde (Fn. 2), 377 ff.; D. Jesch (Fn. 1), 74 ff.; W. Krebs (Fn. 1), 11 ff.; H. Heller, Der Begriff des Gesetzes i n der Reichsverfassung, W D S t R L 4 (1932), 98 ff.; sowie zur Gesetzesgebungspraxis im 19. Jahrhundert R. Grawert, Gesetzgebung im Wirkungszusammenhang konstitutioneller Regierung, Der Staat, Beiheft 7,1984,113 ff. 8 So treffend F. Ossenbühl (Fn. 5), 15; s. dazu auch E, R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 16 ff. 9 Ähnliche Formulierungen enthielten ζ. B. die bayerische Verfassung von 1818, die badische Verfassung von 1818 und die preußische Verfassung von 1850, Nw. bei D. Jesch (Fn. 1), 123 ff.

16

1. Teil: Begriff und Entwicklung des Gesetzes Vorbehalts

zesvorbehalt war daher identisch mit dem sog. Eingriffsvorbehalt 10 . Die anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Parlaments, diesem durch die Verfassungen ebenso explizit zugewiesen, ließen sich unter diesen Gesetzesbegriff nicht subsumieren. Dabei waren sie zahlreich und - wie Grawert nachgewiesen hat 1 1 - von erheblicher praktischer Bedeutung. Zu nennen sind das Budgetrecht, die gesetzlichen Regelungen der Staatsorganisation, des Finanzwesens, des Justizwesens und der Wirtschaftsordnung, einschließlich der großen Kodifikationen des Privatrechts. Es gab zwar auch zahlreiche Regelungen in diesen Bereichen, die nicht durch Gesetz, sondern im Verordnungswege getroffen wurden, doch blieben dem Gesetz gemeinhin die „wichtigen" Angelegenheiten vorbehalten 12 . Die dogmatische Harmonie suchte Laband mit seinem dualistischen Gesetzesbegriff herzustellen 13 . Die Eingriffsformel definierte danach das materielle Gesetz, während Gesetzgebungsakte des Parlamentes außerhalb dieses Bereiches als „reine" oder „nur" formelle Gesetze bezeichnet wurden. Diese Differenzierung ermöglichte die begriffsjuristische Absicherung der Impermeabilitätsdoktrin, derzufolge der interne Bereich des Staates - dazu gehören das Haushaltsrecht, das Organisationsrecht und die besonderen Gewaltverhältnisse - ein rechtsfreier Raum und prinzipiell der Rechtsetzung durch das Parlament entzogen blieb. Die verfassungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen innerhalb dieses Bereiches, wie etwa das Budgetrecht, wurden als Überschreitung der dem Parlament „an sich" zukommenden Zuständigkeiten angesehen, denen die (materielle) Rechtsqualität fehle 14 , daher das Attribut des „bloß" formellen Gesetzes. Die großen kodifikatorischen Gesetzeswerke lassen sich freilich in das Schema formelles/ materielles Gesetz kaum integrieren. So ist das BGB weder als Komplex von Eingriffsnormen in Freiheit und Eigentum noch als Regelung des staatsinternen Bereichs zu begreifen, sondern Ausdruck der konstitutionellen Praxis, wichtige oder wesentliche Regelungen der Ordnung des Gemeinwesens in Form des Gesetzes zu treffen 15 . 10 s. nur G. Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, 97, 163; s. dazu D. Jesch (Fn. 1), 117 ff.; E. W. Böckenförde (Fn. 2), 271 ff. " R. Grawert (Fn. 7), 113 ff. 12 R. Grawert (Fn. 7), 157. 13 P. Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der preußischen Verfassungsurkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des norddeutschen Bundes, 3 ff.; ders., Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 60 ff.; s. dazu D. Jesch (Fn. 1), 20 ff. 14 P. Laband, Staatsrecht (Fn. 13), 60 ff.; dagegen bereits A. Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrecht, Bd. 2, 2. Teil, 99 ff.; der sich mit seiner Auffassung aber nicht durchsetzen konnte; s. dazu H. Heller (Fn. 7), 128 f. 15 R. Grawert (Fn. 7), 137; bereits Bluntschli w i l l der Gesetzesgebung alle diejenigen Kompetenzen übertragen, die „die gesamte Staatsordnung betreffen", J.-C. Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. 1, 453; s. dazu E. W. Böckenförde (Fn. 4), 196 f. („Kriterium der Wichtigkeit").

.

r Entwicklung des Gesetzesorbehalts

Mit der Weimarer Reichsverfassung entfiel die Dichotomie von monarchisch bestimmter Exekutive und Parlament. Die Kontinuität der Begriffe von formellem und materiellem Gesetz und des Eingriffsvorbehalts blieb jedoch gewahrt 16 . Das Gesetz behielt seine Funktion als primäres Regelungsinstrument für staatliche Regelungen, insoweit kaum beeinflußt durch den neuen demokratischen Unterbau. Allerdings wurde nunmehr das Strukturmerkmal der Allgemeinheit des Gesetzes stärker betont, als Bedingung rationaler Herrschaft und Schutz gegen Willkür 1 7 . Die Basis zu einer Überwindung des begriffsjuristischen Dualismus zwischen formellem und materiellem Gesetz legte gegen Ende der Weimarer Epoche Hermann Heller, der Gesetz als jede von der Volkslegislative gesetzte oberste Rechtsnorm definierte 18 . 2. Der Gesetzesvorbehält in der Genese des Grundgesetzes

Der allgemeine Gesetzesvorbehalt ist im Grundgesetz ebenso wie in der Weimarer Reichsverfassung nicht ausdrücklich normiert worden. In den Beratungen zu Art. 20 GG ging es allein um die Positivierung des Gesetzesvorranges. Die zunächst vorgeschlagene Fassung lautete: „Rechtsprechung und Verwaltung stehen unter dem Gesetz" 19 . Der Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates befaßte sich mit dem Gesetzesvorbehalt im Zusammenhang mit den Schranken des Art. 2 I GG 2 0 . Der Redaktionsausschuß hatte vorgeschlagen: „ I n diese Freiheit (seil, die allgemeine Handlungsfreiheit) darf die Verwaltung nur im Rahmen der Rechtsordnung eingreifen". Der Abgeordnete Dr. Schmid (SPD) wandte sich gegen die Formulierung „ i m Rahmen der Rechtsordnung". Er schlug statt dessen vor „innerhalb der Schranken des für alle gleichen Gesetzes". Auch wollte er die Notwendigkeit klargestellt wissen, daß die Exekutive zu einem Eingriff einer demokratisch zustandegekommenen gesetzlichen Ermächtigung bedürfe. Demgegenüber waren die Abgeordneten Dr. v. Mangold (CDU) und Zinn (SPD) der Ansicht, daß unter „Gesetz" auch Verordnungsrecht und Gewohnheitsrecht zu verstehen sei. Die Vielfalt des Lebens zwinge die Verwaltung zu Maßnahmen, die durch Gesetz nicht immer schnell genug geregelt werden könnten; dann müsse die Verwaltung die Möglichkeit haben, auch ohne gesetzliche Ermächtigung zu handeln. Schmid konnte sich mit 16 Ebenso wie die der maßgeblichen Staatsrechtslehre, verkörpert namentlich durch G. Anschütz und R. Thoma; s. nur R. Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 124 ff., 221 ff. 17 Vgl. R. Thoma, in: Anschütz/Thoma (Fn. 16), 226. is H. Heller (Fn. 7), 121, 123 unter Rekurs auf A. Haenel (Fn. 14), 275 ff.; s. dazu Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 101 ff. 19 Art. 21 IV des Entwurfs des Hauptausschusses, s. JöR N. F. 1 (1951), 197 ff.; s. dazu auch E. W. Böckenförde (Fn. 2), 396 Fn. 64. 20 JöR N. F. 1 (1951), 55 f.

2 Hennes

1. Teil: Begriff und Entwicklung des Gesetzes Vorbehalts

18

seiner A n s i c h t n i c h t durchsetzen. D i e r e v i d i e r t e u n d später v o m P l e n u m angenommene Fassung des A r t . 2 I G G l a u t e t : „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." D a z u f ü h r t e der Redaktionsausschuß i n einer „ A n m e r k u n g " 2 1 aus: „ I m übrigen werden die i n Art. 2 I behandelten Rechte 22 durch die gewählte Fassung schlechthin unter einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt im weitesten Sinne gestellt. In diese Rechte kann daher aufgrund einer jeden Norm, ζ. B. auch aufgrund eines sich bildenden polizeilichen Gewohnheitsrechts, eingegriffen werden." D e r allgemeine Gesetzesvorbehalt w u r d e d a m i t n u r i n Gestalt eines G r u n d rechtsschrankenvorbehaltes a k t i v i e r t 2 2 3 . 3. Der Gesetzesvorbehält in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Der Gesetzesvorbehalt

als Problem

der

Grundrechtsdogmatik

I n seinen allerersten Entscheidungen n ä h e r t sich das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzesvorbehalt eher tastend m i t einer f o r m a l e n Begriffsbestimmung: „Der Vorbehalt des Gesetzes besteht, wenn etwas - ungeachtet seines Inhalts - in Gesetzesform geregelt worden ist; dies kann dann nur i n der gleichen Form oder aufgrund besonderer Ermächtigung durch Verordnung aufgehoben oder geändert werden" 2 3 . I m m e r h i n zeigt dieser Satz, daß das Bundesverfassungsgericht den m a t e r i e l l e n Gesetzesbegriff Anschütz' u n d Thomas n i c h t z u übernehmen gedenkt. W e i t e r h i n f ü h r t das G e r i c h t i n dieser w e n i g beachteten E n t s c h e i d u n g aus, der V o r b e h a l t des Gesetzes k ö n n e sich „auch aus dem Herkommen, aus der Eigenart einer solchen Maßnahme und als allgemeinen, aus dem Grundgesetz abzuleitenden rechtsstaatlichen Erwägungen" ergeben 2 4 . Das G e r i c h t stellt den allgemeinen Gesetzesvorbehalt d a m i t einerseits i n die K o n t i n u i t ä t der Verfassungsentwicklung i n den deutschen 2

1 Insoweit i n JöR N. F. 1 nicht abgedruckt; zit. nach BVerfGE 6, 32 (40). Ursprünglich sollte auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit dieser allgemeinen Schranke unterfallen, s. JöR N. F. 1, 60 f. 22a In dieser Form w i r d der Gesetzesvorbehalt i n Art. 80 I GG vorausgesetzt, weshalb - anders als noch in Art. 101, 2 des Herrenchiemseer Entwurfs - auf seine Positivierung i n dieser Vorschrift verzichtet wurde; s. näher E. W. Böckenförde (Fn. 2), 395 f.; J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 68 ff. 23 BVerfGE 2, 307 (313). I n dieser Entscheidung stellte das BVerfG fest, daß der Vorbehalt des Gesetzes für die Änderung von Gerichtsbezirken gilt. 2 * BVerfGE 2, 307 (316). 22

II. Zur Entwicklung des Gesetzesvorbehalts

19

Staaten seit dem 19. Jahrhundert 25 . Andererseits nennt es als sedes materiae des Gesetzesvorbehaltes „allgemeine Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes" 26. Diese Überlegungen stellten in ihrer Konsequenz einen deutlichen Schritt über die Weimarer Lehre hinaus dar. Sie waren aber wohl zu zurückhaltend formuliert (und die betreffende Fallgestaltung zu speziell), um Wirkung als Grundsatzentscheidung entfalten zu können. Weichen stellte das Bundesverfassungsgericht dagegen mit dem „ElfesUrteil", das einen umfassenden Schutz der Freiheitssphäre des Bürgers durch die Grundrechte begründet 27 . Art. 2 I GG w i r d verstanden als allgemeines Grundrecht auf Freiheit, das die „Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne" meine. Daneben habe das Grundgesetz die Freiheit menschlicher Betätigung für bestimmte Lebensbereiche, die nach den geschichtlichen Erfahrungen dem Zugriff der öffentlichen Gewalt besonders ausgesetzt sind, durch besondere Grundrechtsbestimmungen geschützt 28 . Die Einzelfreiheitsrechte sind demnach als leges speciales zu Art. 2 I GG anzusehen, das als „Auffanggrundrecht" 29 alle Innominatfreiheiten schützt und somit „lückenlosen Grundrechtsschutz" gewährt. Die so bestimmte allgemeine Handlungsfreiheit w i r d begrenzt durch die Rechte anderer, das Sittengesetz und die verfassungsmäßige Ordnung. In der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts ist mit der Begrenzung durch die „verfassungsmäßige Ordnung" gemeint, daß die „Handlungsfreiheit unter Vorbehalt jedes verfassungsmäßigen Gesetzes garantiert werden solle" 3 0 . Der weit verstandenen, durch Art. 2 I GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit schloß sich alsbald eine extensive Interpretation des Rechts auf Eigentum (Art. 14 GG), das „alle Vermögenswerten Rechtspositionen" umfasse 31, an. Hieraus folgt, daß ein Eingriff in Freiheit und Eigentum nur insoweit zulässig ist, als durch einen Gesetzesvorbehalt die Legislative zu einem solchen generellen Eingriff ermächtigt ist 3 2 . Der überkommene Eingriff s vorbehält ist auf diese Weise in Anerkennung einer staatsrechtlichen Kontinuität rezipiert und findet seine Positivierung 25 Zur Entscheidung der Frage, ob Gerichtsbezirke nur durch Gesetz geändert werden dürfen, berief sich der Senat auf entsprechende Bestimmungen in Verfassungen der deutschen Länder des 19. J. beginnend mit der Bayerischen Verfassung (a. a. O., 316-318). 26 Neben dem Rechtsstaatsprinzip wird auch das Gewaltenteilungsprinzip genannt (Hervorhebung vom Verf.), BVerfGE 2, 307 (316). 27 BVerfGE 6, 32 ff. 28 BVerfGE 6, 32 (36 f.); s. dazu näher D. Suhr, Die Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 51 ff. m. w. N. und W. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 33. 29 G. Dürig spricht von einem durchaus „mütterlichen" Auffangrecht zur Abwehr aller praktisch werdenden Gefährdungen der Freiheit, in: Maunz/Dürig, Art. 2, Rz. 8. 30 BVerfGE 6, 32 (40). 31 So bereits BVerfGE 4, 219 (240); s. vor allem BVerfGE 24, 367 (389). 32 So zusammenfassend D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 137.

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1. Teil: Begriff und Entwicklung des Gesetzes Vorbehalts

in jenem Art. 2 I GG - wenngleich er nun mit materiellen Beschränkungen versehen ist, worauf das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich hinweist: Das Grundgesetz als wertgebundene Ordnung begrenze die öffentliche Gewalt und somit auch den Gesetzgeber. Gesetze seien nicht schon dann „verfassungsmäßig", wenn sie formell ordnungsmäßig ergangen seien. Sie müßten auch materiell in Einklang mit den obersten Grundwerten der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen 33 . Diese Interpretation durch das Gericht ist indes keineswegs zwingend aus dem Wortlaut des Art. 2 I GG und der Systematik ableitbar 34 . Sie wurde jedoch in ständiger Rechtsprechung wiederholt und ausgebaut 35 und stellte den engen Nexus zwischen Grundrechten und Gesetzesvorbehalt aus der Weimarer Zeit wieder her. Deutlich kam dies wenig später in einer Entscheidung von 1958 zum Ausdruck: „Der Inhalt dieses Allgemeinvorbehaltes (des Gesetzes) wird herkömmlich mit der Formel umschrieben, daß ein Gesetz dort erforderlich ist, wo ,Eingriffe in Freiheit und Eigentum' i n Frage stehen" 3 6 .

In den unmittelbar nachfolgenden Sätzen heißt es allerdings: „Ob diese Abgrenzungsformel (die sich durch die Gesetzesvorbehalte der Grundrechtsbestimmungen konkretisieren läßt) heute noch ausreichend ist, kann zweifelhaft erscheinen. Sie ist historisch auf die Staatsauffassung des liberalen Bürgertums zurückzuführen. Seither hat sich eine Hinwendung zu einer egalitär-sozialstaatlichen Denkweise und damit eine wesentliche Veränderung der Auffassung über die Stellung des Einzelnen zu der im Staat verkörperten Gesamtheit vollzogen. Diese Wandlung könnte auch die Grenzen des Gesetzesvorbehaltes verschoben und diesen Vorbehalt auf neue Bereiche ausgedehnt haben" 3 7 .

Das Gericht beließ es bei diesen Ausführungen im Konditional; für den zu entscheidenden Fall 3 8 stellte es lapidar fest, daß „jedenfalls" für das Verfahren der leistungsgewährenden Verwaltung kein Gesetzesvorbehalt gelte: „Dieses Gebiet liegt besonders weit von dem Bereich der Eingriffe in Freiheit und Eigentum entfernt. Erwägungen, die den Gesetzesvorbehalt für die Eingriffsverwaltung begründen, können also nicht herangezogen werden" 3 9 .

Das Bundesverfassungsgericht deutete damit, wenn auch mit Zurückhaltung, einen möglichen Wandel der Funktionen des Gesetzesvorbehaltes an. Praktische Konsequenzen ergaben sich daraus zunächst jedoch nicht. I n der Folgezeit baute das Gericht seine Rechtsprechung zu den Grundrechten aus. 33

BVerfGE 6, 32 (41). Zur K r i t i k s. G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 2, Rz. 17 - 21; D. Suhr (Fn. 28), 52 ff., 78 ff.; weitere Nw. bei v. Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 2, Rz. 6 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rz. 428. 35 Ζ. B. BVerfGE 16, 286 (303); 20, 150 (154); 34, 238 (246). 36 BVerfGE 8, 155 (166 f.). 37 A. a. O., 167. 38 Er betraf Verfahrensfragen des Lastenausgleichs nach dem LAG. 3 » BVerfGE 8, 155 (167). 34

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r Entwicklung des Gesetzesorbehalts

Der Vorbehalt des Gesetzes erschien lediglich in Gestalt der speziellen (Grundrechts-)Vorbehalte und warf keine besonderen dogmatischen Probleme auf. Das Bundesverfassungsgericht sah sich wohl mit der Frage konfrontiert, ob bestimmten Gesetzesvorbehalten auch nicht-formelle Gesetze, also Rechtsverordnungen genügen. Für Art. 103 Π GG wurde dies bejaht, sofern die Verordnung auf eine formellgesetzliche Grundlage nach Maßgabe des Art. 80 I GG gestützt war 4 0 . Erwähnt w i r d der Vorbehalt des Gesetzes in zwei Entscheidungen, die die Anwendbarkeit des Art. 191 bei Art. 14 41 und 3 I GG 4 2 betreffen. b) Der Weg zur Wesentlichkeitstheorie Einen Kurswechsel 43 brachte die „Gefangenenpostentscheidung" von 1970 44 . Darin stellte das Bundesverfassungsgericht klar, daß die Grundrechte mit ihren Gesetzesvorbehalten uneingeschränkt auch in jenen Bereichen gelten, die zuvor als „besondere Gewaltverhältnisse" dem angeblich „gesetzesfreien" Innenraum der Verwaltung zugeschlagen worden waren. Dies hielt das Gericht wegen der Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte, Art. 1 I I I GG, für nicht länger tragbar. Eine Bastion des deutschen Staatsrechts, die strikte Unterscheidung zwischen Allgemeinverhältnis und Sonderverhältnis, auch Impermeabilitätsdoktrin genannt, war damit gefallen 45 . Eine sachliche Ausdehnung seines Anwendungsbereiches erfuhr der Gesetzesvorbehalt (des Art. 12 GG) durch die numerus clausus-Entscheidung in demselben Band. Das Bundesverfassungsgericht trat hier der Auffassung entgegen, für den auf faktischer Kapazitätserschöpfung beruhenden numerus clausus sei überhaupt kein Rechtssatz erforderlich. Zwar gehöre die Bereitstellung von Studienplätzen zur Leistungsverwaltung, doch konnte das Bundesverfassungsgericht nach seiner Ansicht „offenlassen", „ob die rechtsstaatlichen Grundsätze vom Vorbehalt des Gesetzes und von der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns regelmäßig nur für die Eingriffsverwaltung und nicht gleichermaßen für die Leistungsverwaltung gelten".

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BVerfGE 14, 174 (185). BVerfGE 24, 367 (395). 42 BVerfGE 25, 371 (399). 43 Bezeichnung von G. Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, 1313 (1314). 44 BVerfGE 33, 1 ff. 45 s. dazu schon oben, 1. Teil, II. 1.; das Allgemeinverhältnis war auch ein definiens des Rechtssatzbegriffs und folglich des Gesetzesvorbehalts gewesen, s. dazu F. Rottmann, Der Vorbehalt des Gesetzes und die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, EuGRZ 1985, 277 (278), m. w. N. 41

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1. Teil: Begriff und Entwicklung des Gesetzesorbehalts

D e n n eine gesetzliche G r u n d l a g e sei deshalb erforderlich, w e i l die B e t e i l i g u n g an staatlichen L e i s t u n g e n die n o t w e n d i g e Voraussetzung f ü r die V e r w i r k l i c h u n g von Grundrechten darstelle46. W i e b e i l ä u f i g ordnet das Bundesverfassungsgericht m i t diesen Sätzen den Gesetzesvorbehalt d e m Rechtsstaatsprinzip zu. A u c h die A n f o r d e r u n g e n an die inhaltliche Ausfüllung des Vorbehalts w e r d e n i m numerus claususU r t e i l schärfer b e s t i m m t : „Wenn aber die Regelung in den Grundrechtsbereich des Art. 121 GG eingreift und sich hier als Zuteilung von Lebenschancen auswirken kann, dann kann in einer rechtsstaatlich-parlamentarischen Demokratie der Vorbehalt, daß in den Grundrechtsbereich lediglich durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf, nur den Sinn haben, daß der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selber treffen soll" 4 7 . I m gleichen Sinne stellt das G e r i c h t i m Facharzt-Beschluß fest: „Der Gesetzgeber darf sich (im Bereich der Grundrechtsgesetzgebung) seiner Rechtsetzungsbefugnis nicht völlig entäußern und seinen Einfluß auf den Inhalt der von den körperschaftlichen Organen zu erlassenden Normen nicht gänzlich preisgeben. Dies folgt aus den Prinzipien des Rechtsstaats wie aus dem der Demokratie. Fordert das eine, die öffentliche Gewalt in allen ihren Äußerungen auch durch klare Kompetenzordnung und Funktionstrennung rechtlich zu binden, so daß Machtmißbrauch verhütet und die Freiheit des Einzelnen gewahrt wird, so gebietet das andere, daß jede Ordnung eines Lebensbereiches durch Sätze des objektiven Rechts auf eine Willensentschließung der vom Volk bestellten Gesetzgebungsorgane muß zurückgeführt werden können" 4 8 . Das D e m o k r a t i e p r i n z i p ist d a m i t als w e i t e r e r verfassungsrechtlicher S t a n d ort des Gesetzesvorbehaltes g e n a n n t 4 9 . D i e U r t e i l e i m 33. B a n d l e i t e n die Wesentlichkeits-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts e i n 5 0 , i n der L i t e r a t u r ist b a l d v o n der Wesentl i c h k e i t s " t h e o r i e " die Rede 5 1 . Das W e s e n t l i c h k e i t s k r i t e r i u m ist zunächst allerdings maßgeblich n i c h t f ü r die Frage, ob der Gesetzesvorbehalt g i l t , sondern a l l e i n dafür, w i e der Gesetzesvorbehalt auszufüllen ist, wenn er g i l t ; anders gesagt, die Wesentlichkeitsrechtsprechung b e t r i f f t (in diesem S t a d i u m ) n i c h t die „Tatbestandsseite" des Gesetzesvorbehalts, sondern die „Rechtsfolgenseite". 46

BVerfGE 33, 303 (337). BVerfGE 33, 303 (346). 48 BVerfGE 33, 125 (158). 49 Die Ausführungen des Senats zum Rechtsstaats- und Demokratieprinzip lassen für sich betrachtet eine weitergehende, nämlich über den Grundrechtsbereich hinausreichende Bedeutung zu, als sie der Kontext rechtfertigt. 50 s. die Übersicht bei D. C. Umbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, Fs. Faller, 111 ff.; nach Umbach ist das numerus clausus-Urteil der eigentliche ,leading case' der Wesentlichkeitsrechtsprechung. 51 Zuerst wohl von Th. Oppermann, Verhandlungen des 51. DJT, Bd. 1, Gutachten C, 1976, 48 ff. (49 Anm. 104); weitere Nw. bei D. C. Umbach (Fn. 50), 112 Fn. 7a. 47

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r Entwicklung des GesetzesVorbehalts

Der Rückgriff des Bundesverfassungsgerichts auf das reichlich vage K r i terium der „grundlegenden" oder „wesentlichen" Entscheidung in den beiden genannten Fällen war im übrigen nicht zwingend erforderlich. Das Bundesverfassungsgericht hätte die Anforderungen an die Bestimmtheit von Gesetzen im Grundrechtsbereich ebenso über eine entsprechende Auslegung von Art. 80 I 2 GG gewinnen können 52 . Dies hätte allerdings im Gegensatz zu der allgemeinen Tendenz des Gerichts gestanden, die Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 12 GG zunehmend großzügig zu bemessen. Zur Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Ermächtigung sollte es ausreichen, wenn der „Sinnzusammenhang", in dem die Norm steht, und das Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt, erkennbar seien 53 . Diese Rechtsprechung entsprach einer gegenläufigen Strömung zur Ausweitung des Herrschaftsbereiches des Gesetzesvorbehaltes 54 . Zur „Tatbestandsseite" des Gesetzesvorbehaltes und zu seinem Standort in der Verfassung nimmt das Bundesverfassungsgericht ausführlich im zweiten Strafgefangenenbeschluß Stellung 55 : Der Grundsatz des Vorbehaltes des (allgemeinen) Gesetzes werde im GG nicht expressis verbis erwähnt. Seine Geltung ergebe sich jedoch aus Art. 20 I I I GG. Welche Bereiche von diesem Grundsatz erfaßt würden, lasse sich aus Art. 20 I I I GG aber nicht mehr unmittelbar erschließen. Insoweit sei vielmehr auf die jeweils betroffenen Lebensbereiche und Rechtspositionen des Bürgers und die Eigenart der Regelungsgegenstände insgesamt abzustellen. Die Grundrechte gäben dabei konkretisierende, weiterführende Anhaltspunkte. Die aus der bürgerlichliberalen Zeit stammende Formel, ein Gesetz sei nur bei „Eingriffen in Freiheit und Eigentum" erforderlich, sieht das Bundesverfassungsgericht mithin als nicht mehr zeitgemäß an. Eine neue Linie zieht es mit der Formulierung, die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar beträfen, müsse durch Gesetz erfolgen. Und das Bundesverfassungsgericht setzt noch ein weiteres hinzu: „Dem vom Parlament beschlossenen Gesetz kommt gegenüber dem bloßen Verwaltungshandeln die unmittelbarere (sie) demokratische Legitimation zu, und das parlamentarische Verfahren gewährleistet ein höheres Maß an Öffentlichkeit der Aus52 Im Facharztbeschluß sah sich das BVerf G durch die Satzungsautonomie der Ärztekammer gehindert, Art. 80 I 2 GG unmittelbar anzuwenden. Einer entsprechenden Anwendung hätte nichts im Wege gestanden; s. dazu D. C. Umbach (Fn. 50), 117. Im übrigen ging das BVerfG nach Maßgabe der im Apothekenurteil entwickelten Dreistufentheorie (BVerfGE 7, 377 (401)) vor; dazu G. Roellecke, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Grenzbereich der Gesetzgebung, NJW 1978, 1776 (1777). 53 s. dazu BVerfGE 38, 348 (357 f.) m. w. N.; zu den wechselnden Maßstäben, die das BVerfG bei Art. 80 I 2 angewendet hat, s. auch W. Braun, Offene Kompetenznormen - ein geeignetes und zulässiges Regulativ im Wirtschaftsverwaltungsrecht? VerwA 1985, 24 (54 f.). 54 Vgl. G. Kisker (Fn. 43), 1314. ss BVerfGE 40, 237 ff.

24

1. Teil: Begriff und Entwicklung des Gesetzes Vorbehalts

einandersetzung und Entscheidungssuche und damit auch größere Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen. A l l das spricht für eine Ausdehnung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts über die überkommenen Grenzen hinaus" 5 6 .

Das Bundesverfassungsgericht hat sich somit unter beträchtlichem dogmatischen Aufwand von den traditionellen Vorstellungen über den Gesetzesvorbehalt gelöst und das Fundament für eine differenzierende Interpretation des Gesetzesvorbehaltes gelegt 57 . I n der angesprochenen Entscheidung freilich sah sich das Gericht nicht veranlaßt, den Vorbehaltsbereich konkret zu erweitern. Vielmehr kam es zu dem Schluß, daß Verwaltungsverfahren und Verwaltungszuständigkeiten nicht durchgehend gesetzlich normiert werden müßten, ein „Totalvorbehalt" des förmlichen Gesetzes aus Art. 19 IV und 103 I GG mithin nicht abgeleitet werden könne. Auf der Linie des NC-Urteils und des zweiten Strafgefangenenbeschlusses lagen im folgenden eine ganze Reihe von Entscheidungen, die sämtlich zum Schulrecht ergingen und somit den Bereich von Grundrechten betrafen, insbesondere Art. 7, aber auch Art. 6 GG, ohne daß zwischen Eingriff und Leistung noch exakt unterschieden werden konnte. In der Entscheidung zur Hessischen Förderstufe heißt es: „Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, daß die gesetzlichen Vorschriften, die die Einführung der obligatorischen Förderstufe zum Gegenstand haben, auch die wesentlichen Merkmale festlegen. Das verlangt ... vor allem das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" 5 8 .

In dem Beschluß zur Hessischen Oberstufe wird ergänzend das Demokratieprinzip genannt 59 . In der Sexualkunde-Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Ob eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muß, oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst nach dem Grundgesetz. Hier vermittelt der Schutz der Grundrechte einen wichtigen Gesichtspunkt".

Das Gericht fährt fort mit der inzwischen klassisch gewordenen Formulierung: „ I m grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet somit ,wesentlich' i n der Regel wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" 60 .

56 BVerfGE 40, 237 (249 f.) (Hervorhebung vom Verf.); vgl. auch schon BVerfGE 33, 125 (159): „unmittelbarste demokratische Legitimation" des Parlaments. 57 Es trug dabei der Tatsache Rechnung, daß der moderne Staat aus dem Bereich der nur eingriffsbezogenen gesetzesgeberischen Kontrolle gewissermaßen herausgewachsen war, wie M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (686), einprägsam formuliert. 58 BVerfGE 34, 165 (192 f.); 41, 251 (259 f.); s. d. Übersicht bei D. C. Umbach (Fn. 50), 120. 59 BVerfGE 45, 400 (417 f.). 60 BVerfGE 47, 46 (79 f.).

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r Entwicklung des Gesetzesorbehalts

Zusammenfassend stellt das Bundesverfassungsgericht

i n einer neueren

E n t s c h e i d u n g fest: „Rechtsstaatsgebot und ... Demokratieprinzip verpflichten (den Gesetzgeber), die wesentlichen Entscheidungen i m Schulwesen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen (Parlamentsvorbehalt - vgl. hierzu die grundsätzlichen Ausführungen i n BVerfGE 40, 237 (249)). Was allerdings als wesentlich anzusehen ist und damit dem Parlamentsvorbehalt unterliegt, ist nach wie vor umstritten" 6 1 . Dieser ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist auch das Bundesverwaltungsgericht g e f o l g t 6 2 . Alle

genannten Entscheidungen

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des Bundesverfassungsgerichts

zum

Schulrecht s i n d v o m Ersten Senat getroffen w o r d e n . D i e „ W e s e n t l i c h k e i t s rechtsprechung" dieses Senats ist w e i t g e h e n d auf den genannten Bereich beschränkt geblieben, m i t einer Ausnahme v o n G e w i c h t , d e m d r i t t e n R u n d f u n k u r t e i l v o n 1982. Das Bundesverfassungsgericht k o n t u r i e r t i n dieser E n t s c h e i d u n g zunächst den Schutzbereich der R u n d f u n k f r e i h e i t u n d deren B e d e u t u n g f ü r die Sicherung der Meinungsfreiheit, die staatlicher Regelung bedürfe. Sodann f ü h r t es aus: „Die damit erforderliche rechtliche Ausgestaltung unterliegt dem Vorbehalt des Gesetzes (BVerfGE 47, 46 (78 f.) m. w. N.): Die notwendigen Entscheidungen sind wesentliche Entscheidungen, weil sie, abgesehen von der sachlichen Bedeutung des Rundfunks für das individuelle und öffentliche Leben der Gegenwart, im grundrechtsrelevanten Bereich ergehen und wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind (BVerfGE 47, 46 (79)). Namentlich treffen hier verschiedene Grundrechtspositionen zusammen, die miteinander in Konflikt geraten können" 6 3 . Neben A r t . 7 u n d 6 ist d a m i t auch der „ B e r e i c h " des A r t . 5 G G Gegenstand der Wesentlichkeitsrechtsprechung geworden.

ei BVerfGE 58, 257 (268); ähnlich bereits BVerfGE 51, 268 (290) (Grundschulauflösung). Dazu D. C. Umbach (Fn. 50), 121: „Diese letzte Feststellung ist in der Tat heute noch zutreffend". Zu den Entscheidungen des BVerfG zum Schulrecht s. zunächst H. Heussner, Vorbehalt des Gesetzes und „Wesentlichkeitstheorie", in: Fs. Erwin Stein, 111 ff.; J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 338 ff.; sowie unten 5. Teil, III. 3. 62 BVerwGE 47, 184 (189 f.) - Sexualerziehung; 47, 201 (203) - Fünf-Tage-Woche; 56, 155 (157) - Nichtversetzung; 57, 360 (363) - Sexualerziehung; 64, 308 (310) Fremdsprachenfolge. 63 BVerfGE 57, 295 (320 f.). In dieser Entscheidung hebt das BVerfG ferner die Bedeutung von Organisation und Verfahren für die Verwirklichung der Grundrechte hervor. Die Entscheidung ist durch das vierte Rundfunkurteil bestätigt und ergänzt worden, BVerfG, EuGRZ 1986, 577 (588 ff.). Der Gesetzesvorbehalt wird auf diese Weise (partiell) auch auf die früher individualrechtsfernen Organisations- und Verfahrensgestaltungen des Staates erstreckt, dazu M. Kloepfer (Fn. 57), 688 m. w. N. in Fn. 26.

26

1. Teil: Begriff und Entwicklung des Gesetzesorbehalts c) Grenzen der

Wesentlichkeitstheorie

D e u t l i c h z u r ü c k h a l t e n d e r i n t e r p r e t i e r t der Z w e i t e Senat des Bundesverfassungsgerichts den Bereich des Gesetzes Vorbehaltes, w e n n m a n die K a l karentscheidung v o n 1978 n i c h t sogar als einen K o n t r a p u n k t z u der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Ersten Senates ansehen w i l l 6 4 . G l e i c h i n den ersten Sätzen z u r Begründetheit der K l a g e (es handelte sich u m eine Vorlage des O V G M ü n s t e r gem. A r t . 100 I GG) stellt der Z w e i t e Senat fest: „Das Grundgesetz spricht dem Parlament nicht einen allumfassenden Vorrang bei grundlegenden Entscheidungen zu. Es setzt durch die gewaltenteilende Kompetenzzuordnung seinen Befugnissen Grenzen. Weitreichende - gerade auch politische - Entscheidungen gibt es der Kompetenz anderer oberster Staatsorgane anheim, wie ζ. B. die Bestimmung der Richtlinien der Politik durch den Bundeskanzler (Art. 65 I), die Auflösung des Bundestages (Art. 68 GG) oder wichtige außenpolitische Entscheidungen wie etwa über die Aufnahme oder den Abbruch diplomatischer Beziehungen (...). Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus i n Form eines allgemeinen Parlamentsvorbehaltes unterlaufen werden. Aus dem Umstand, daß allein die Mitglieder des Parlaments unmittelbar vom Volk gewählt werden, folgt nicht, daß andere Institutionen und Funktionen der Staatsgewalt der demokratischen Legitimation entbehren. Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation aus den in Art. 20 I I GG getroffenen Entscheidungen des Verfassungsgebers" 65. Dies ist eine deutliche Absage an eine u n i i m i t i e r t e Wesentlichkeitsrechtsprechung u n d bedeutet auch mindestens i n einer H i n s i c h t eine A b k e h r v o n der E n t s c h e i d u n g des gleichen Senats i m 40. B a n d 6 6 , als n ä m l i c h d o r t v o n der „ u n m i t t e l b a r e r e n " ( K o m p a r a t i v ! ) demokratischen L e g i t i m a t i o n des Parlaments die Rede w a r . N a c h dieser einleitenden K l a r s t e l l u n g schlägt der Z w e i t e Senat einen Bogen z u der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Ersten Senats u n d seiner eigenen E n t s c h e i d u n g aus dem 40. B a n d u n d stellt sich i n deren K o n t i n u i t ä t : „Heute ist es ständige Rechtsprechung, daß der Gesetzgeber verpflichtet ist - losgelöst vom Merkmal des Eingriffs - in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" 6 7 .

64 BVerfGE 49, 89ff., vgl. auch D. C. Umbach (Fn. 50), 121: „deutlich wird, daß der Zweite Senat die Reichweite der Wesentlichkeitskonzeption enger begrenzt." 65 BVerfGE 49, 89 (124 f.). 66 BVerfGE 40, 238 (249). 67 BVerfGE 49, 89 (127 f.); der Zweite Senat hatte bereits kurz zuvor auf die Rechtsprechung des Ersten Senats rekurriert, BVerfGE 48, 210 (221). Dieser Beschluß betraf das Einkommensteuerrecht; der Senat bejahte ohne weiteres die Geltung des Gesetzesvorbehalts, da der Freiheits- und Gleichheitsbereich der Bürger betroffen sei.

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r Entwicklung des Gesetzesorbehalts

Zum Beleg zitiert der Zweite Senat sämtliche Entscheidungen, die seit dem NC-Urteil zum Schulrecht ergangen sind. Damit sind jedoch Harmonie und Kontinuität der Rechtsprechung nur scheinbar gewahrt. Die Frage, ob der allgemeine Gesetzesvorbehalt prinzipiell begrenzt wird durch die Kompetenzen der anderen Staatsgewalten, insbesondere der Exekutive (Gewaltenteilungsargument) und diese im übrigen gleichermaßen demokratisch legitimiert seien (Demokratieargument), oder ob nicht die unmittelbare demokratische Legitimation des Parlaments diesem eine Prärogative zuweise, bleibt ungeklärt. Befürworter und Gegner einer Ausdehnung des allgemeinen Gesetzes Vorbehaltes können sich seither jeweils auf das Bundesverfassungsgericht berufen 68 . Nach bald dreißig Jahren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorbehalt des Gesetzes ist mit der KalkarEntscheidung zum ersten Mal der Ausdehnung des Gesetzesvorbehaltes eine Grenze gesetzt worden. Nach dem Kalkar-Beschluß 69 blieben - mit Ausnahme des dritten Rundfunkurteils - spektakuläre Entscheidungen im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes aus 70 bis 1983/84, als sich das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der „Nachrüstung" befassen mußte 71 . Die Kläger dieses Verfahrens hatten durchaus erkannt, welche Möglichkeiten und weittragenden Konsequenzen einige Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts zum Vorbehalt des Gesetzes bargen. Das Bundesverfassungsgericht blieb indes auf der in der Kalkar-Entscheidung entwickelten Linie, indem es der Regierung gleichermaßen wie dem Parlament institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation zusprach. Im übrigen setzte es ganz auf den Gewaltenteilungsgrundsatz: „Eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereiches des Art. 59 I I 1 GG auf nichtvertragliche Akte der Bundesregierung gegenüber fremden Völkerrechtssubjekten würde (...) einen Einbruch in zentrale Gestaltungsbereiche der Exekutive darstellen (...). Die grundsätzliche Zuordnung des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzenbereich der Exekutive beruht auf der Annahme, daß institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen" 7 2 .

68 Ζ. Β. A. Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers im Atomrecht, JZ 1985, 714 (715), einerseits, und C. E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, 485 (490 ff.) und J. Isensee, Mehr Recht durch weniger Gesetze? ZRP 1985, 139ff. andererseits. 69 Er wurde bestätigt durch den Mülheim-Kärlich-Beschluß, BVerfGE 53, 30 (56). 70 BVerfGE 57, 295 (320 f.); Erwähnung fand der Gesetzesvorbehalt noch in folgenden Entscheidungen: BVerfGE 56, 1 (13) - Leistungskürzungen; 62, 162 - Guthaben von DDR-Bewohnern; 64, 261 (268) - Hafturlaub. 71 BVerfGE 68, 1 ff. 72 BVerfGE 68, 1 (87).

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1. Teil: Begriff und Entwicklung des Gesetzes Vorbehalts

Die abweichende Meinung des Richters Mahrenholz machte den Dissens deutlich, der inzwischen um den Gesetzesvorbehalt ausgebrochen ist. Er kritisiert die Ansicht der Mehrheit, eine Mitwirkung des Parlamentes bedeute einen „Einbruch i n zentrale Gestaltungsbereiche der Exekutive" und verweist darauf, daß umgekehrt eher von der Gefahr „fortschreitender Aushöhlung" der Mitwirkungsbefugnisse des Gesetzgebers nach Art. 59 I I GG gesprochen werden müsse 73 . Vor allem aber bemängelt er, daß Art. 59 I I im Lichte des Art. 20 I I GG ausgelegt worden sei, ohne zuvörderst Art. 20 I I im Lichte des Art. 59 I I GG auszulegen. Denn Art. 59 I I GG sei selbst eine Positivierung des Gewaltenteilungsprinzips des Grundgesetzes. Deutlich wird an dieser Entscheidung und dem dissenting vote, daß das Bundesverfassungsgericht die Frage des „dogmatischen Aufhängers" für den Gesetzesvorbehalt noch keineswegs abschließend beantwortet hat.

73 BVerfGE 68, 1 (120 f.) mit Verweis auf Chr. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), 8 (60 ff.). Die Frage des GesetzèsVorbehaltes war allerdings nicht Mahrenholz' Haupteinwand gegen die Mehrheitsentscheidung.

Zweiter Teil

Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie I. Der Begriff Legitimität 1. Ausgangspunkte

Der traditionelle juristische Legitimitätsbegriff betrifft die Suche nach den obersten Rechtfertigungsprinzipien staatlicher Herrschaft, nach dem, was den Staat „ i m Innersten zusammenhält" 1 . Bis ins 19. Jahrhundert war dies in Europa die Monarchie von Gottes Gnaden; Legitimität bezeichnete daher die Rechtmäßigkeit monarchischer Erbfolge 2 . Nach den Revolutionen von 1830 und 1848 trat die dynastische Legitimität in Konkurrenz zu der demokratischen Legitimität, die die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft auf die Anerkennung und Mitwirkung der Staatsbürger stützt 3 . Demokratische Legitimität in diesem Sinne ist auch Grundlage unserer Verfassungsordnung 4 , im Sinne eines obersten Prinzips aber im Grunde verfassungstranszendent und für die Analyse von einzelnen Verfassungsnormen ungeeignet. In der Soziologie gibt Legitimität seit Max Weber das Motiv staatsbürgerlichen Gehorsams an 5 . Legitimität und Legitimitätsglaube werden demnach gleichgesetzt und können definiert werden als Anerkennung oder Akzeptanz (im positiven Sinne) staatlicher Herrschaft durch die Herrschaftsunter1

s. Th. Würtenberger, Legitimität, Legalität, in: Brunner/Conze/Kosellek (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 677 ff.; ders., Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechthche politische Begriffsgeschichte (eingehende Darstellung der römisch-rechtlichen Quellen dieses Begriffs); s. ferner H. Quaritsch, Legitimität, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1462 ff.; H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 11 ff. (insbesondere auch zu philosophischen Aspekten von Legitimität); D. Sternberger, Legitimacy, in: International Encyclopedia of Social Sciences, Bd. 9, 244 ff. 2 s. nur H. Quaritsch (Fn. 1), Sp. 1462. 3 s. Th. Würtenberger, Legitimität, Legalität (Fn. 1),678: „ i m l 9 . Jahrhundert wurde Legitimität zum politischen Kampfbegriff" ; kritisch gegenüber demokratischer Legitimität: C. Schmitt, Legalität und Legitimität, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 263 (273 f.); ders., Verfassungslehre, 90. 4 s. dazu U. Scheuner, Die Legitimitätsgrundlagen des modernen Staates, in: Achterberg/Krawietz (Hg.), Die Legitimität des modernen Staates, 1, 12 f.; Th. Würtenberger, Legitimität und Gesetz, in: Fs. Gesellschaft für Rechtspolitik, 533 ff.; H. Hofmann (Fn. 1), 60 ff. 5 M. Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Staatssoziologie, 99 ff.; s. dazu D. Sternberger (Fn. 1), 245 f.

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2. Teil: Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie

worfenen 6 . (Empirisch nachweisbare) Anerkennung findet die Herrschaftsordnung stets in mehr oder minder hohem Maße, Legitimität ist daher als relative oder „Fließgröße" 7 zu verstehen. Soziologische und politologische Untersuchungen beschäftigen sich mit der Erforschung der Ursachen oder Quellen der Legitimität der politischen Ordnung 8 , aber nicht nur dieser, sondern auch derjenigen einzelner politischer und gesellschaftlicher Institutionen. Diese verschiedenen Ausprägungen von Legitimität werden zueinander in Bezug gesetzt, und Legitimität, solcherart instrumentalisiert, wird zur universalen Kategorie erhoben 9. Zumindest implizit liegt auch juristischen Untersuchungen ein solcher relativer Legitimitätsbegriff zugrunde, wenn etwa von Legitimationsdefiziten die Rede ist 1 0 . 2. Legitimität als juristische Kategorie

Der soziologische Legitimitätsbegriff, der auf tatsächlich vorhandene oder mögliche Legitimationsmechanismen abstellt, bietet eine Grundlage für die Untersuchung auch spezifisch rechtlich erzeugter oder postulierter Legitimität. „Legitimität" wird daher im folgenden verstanden als „Anerkennung als rechtens". Damit ist zunächst gesagt, daß Legitimität nicht gleichzusetzen ist mit einer unreflektiert positiven Einstellung zu etwas, wie etwa Sympathie, sondern einen spezifischen Grund hat, an einem Maßstab orientiert ist 1 1 . Legitimität bezeichnet eine besondere Qualität von Anerkennung. „Legitimation" wird nachfolgend im Sinne eines Legitimität vermittelnden Verfahrens verstanden. Anerkennung als rechtens, diese Begriffsbestimmung enthält zwei Bezugsgrößen, die nachfolgend als „Legitimitätssubjekt" und „Legitimitätsobjekt" bezeichnet werden. Das Legitimitätsswöje/ct bestimmt, wer anerkennt. Anders ausgedrückt, wem gegenüber nach Anerkennung zu streben ist und die Legitimation zu erfolgen hat. Das Legitimitätsoöje/ci bezeichnet, was anerkannt wird bzw. sich zu legitimieren hat. Als Legitimitätsobjekt 6 In diesem Sinne auch P. Graf Kielmannsegg, Legitimität als analytische Kategorie, PVS 1971, 367 (367): „Legitimität ist soziale Geltung als rechtens ..."; vgl. auch U. Scheuner (Fn. 4), 12: „Legitimität bedeutet, daß der Staat eine dauerhafte Anerkennung bei den Bürgern findet. " 7 Begriff von J. Heidorn, Legitimität und Regierbarkeit, 267 m. w. N. 8 s. nur J. Heidorn (Fn. 7), 262 ff.; P. Graf Kielmannsegg (Fn. 6), 369 ff.; J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus; N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 9 P. Graf Kielmannsegg (Fn. 6), 368. 10 s. etwa H. H. Klein, Legitimität gegen Legalität, Fs. Carstens, 645 ff. 11 P. Graf Kielmannsegg (Fn. 6), 368 m. w. N., dem der hier vertretene Ansatz viel verdankt. Legitimität ist daher nicht gleichzusetzen mit „Konsens", denn diesem fehlt die „Maßstaborientierung". Allerdings wird der Begriff „Konsens" mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten verwendet, so daß sich Berührungspunkte mit dem hier vertretenen Legitimitätsbegriff ergeben können, s. dazu H. Vorländer, Verfassung und Konsens, 159 ff.; H. Hofmann (Fn. 1), 87 ff.

I. Der Begriff Legitimität

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können w i r vorläufig bestimmen: jede Form staatlicher* Herrschaftsäußerung. Das Legitimitätssubjekt ist in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes normativ bestimmt: das Volk. Das Prinzip der Volkssouveränität, in Art. 20 I I 1 GG manifestiert („alle Staatsgewalt geht vom Volke aus"), bedeutet daher auch: alle Staatsgewalt hat sich dem Volke gegenüber zu legitimieren. In diesem Sinne Ist Legitimität im Verfassungsstaat des Grundgesetzes immer demokratische Legitimität 1 2 . Mit „demokratischer Legitimität" wird daher nicht nur die über die Volkswahl vermittelte personaldemokratische Legitimitionskette angesprochen. Demokratische Legitimität, so verstanden, enthält zwei Implikationen: Art. 20 I 2 GG ist stets im Zusammenhang mit Art. 11 GG und den Grundrechten zu sehen, wie schon Art. 79 I I I GG klarstellt. Legitimation dem Volk gegenüber bedeutet daher Legitimation gegenüber potentiell jedem einzelnen, denn jeder einzelne als Teil des Volkes beansprucht gleichermaßen die vom Staat zu schützende Menschenwürde. Daraus folgt, daß politische Minderheiten nicht von dem Legitimitätssubjekt „Volk" ausgegrenzt werden können 1 2 3 . Ferner folgt aus dem Prinzip der Volkssouveränität, daß sich verfassungsstaatliche Herrschaft autonom, d. h. an sich selbst legitimiert 1 3 . Der Rückgriff auf übergeordnete heteronome Prinzipien wie dem marxistischen oder auf einer anderen Ideologie basierenden Wahrheitsanspruch ist verwehrt. Die „invocatio dei" - die in den ersten Entwürfen des GG im übrigen fehlte - ist nicht eine weitere Legitimationsquelle, sondern dient zur Bekräftigung der materiellen Legitimität 1 4 . Das Volk als Legitimitätssubjekt ist daher letztlich auch der Legitimitätsmaßstab, an dem sich die Verfassung mißt. Die materiellen Implikationen der Volkssouveränität als Legitimitätssubjekt sind geeignet, den Vorwurf der Wertneutralität, dem sich der soziologische Legitimitätsbegriff ausgesetzt sieht 15 , im Ansatz zu entkräften. Ein nationalsozialistisches oder anderes diktatorisches Herrschaftssystem läßt sich unter der Prämisse der Volkssouveränität nicht legitimieren. Legitimitätsobjekt ist die verfassungsrechtliche Ordnung in allen ihren Erscheinungsformen: eingesetzt werden können die Verfassung, eine Verfassungsinstitution, ein Verfassungsorgan, ein Gesetz oder auch ein Einzel12

In diesem Sinne auch H. Vorländer (Fn. 11), 258; E. Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, in: ders., Reformismus und Pluralismus, 404 f.; K. U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 188. 12a Ausländer sind nicht Teil des Souveräns als Legitimationssubjekt; sie genießen aber verfassungsrechtlichen Schutz, der seinerseits durch EG-Recht und völkerrechtlich abgesichert ist. Diese Rechte können nicht verletzt werden, ohne den eigenen Anspruch der Verfassung preiszugeben. 13 s. dazu N. Luhmann, Selbstlegitimation des Staates, in: Achterberg/Krawietz (Fn. 4), 65 ff. 14 s. dazu JöR N. F. 1 (1951), 21 ff.; 29; I. v. Münch, GGK, Präambel, Rz. 5; zum Begriff „materielle Legitimität" s. unten, 2. Teil, II. 15 s. dazu P. Graf Kielmannsegg (Fn. 6), 369.

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2. Teil: Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie

akt. „Legitimitätssubjekt" und „Legitimitätsobjekt" in diesem Sinne sind zu unterscheiden von „Legitimationsquelle". Dieser Begriff zielt auf die Ursache für und die Begründung von Legitimität ab. Ein Beispiel: das Gesetz (ein Legitimitätsobjekt) hat, sofern verfassungsmäßig zustandegekommen, eine Legitimationsquelle im Grundgesetz (das seinerseits Legitimitätsobjekt ist). Wir können daher von dër Legitimität der Verfassung, der Legitimität des Gesetzes16 etc. sprechen. Diese Ausprägungen von verfassungsstaatlicher Legitimität auf verschiedenen Ebenen sind aufeinander bezogen, sie bedingen und stützen sich - mit anderen Worten, sie legitimieren sich - gegenseitig, wie im einzelnen zu zeigen sein wird. Normativ manifestiert sich die Legitimität der Verfassung, des Gesetzes etc. dadurch, daß diese jeweils den Anspruch der Anerkennung als verbindlich erheben; Legitimität als normative Kategorie ist daher nicht bloße Chance der Anerkennung oder empirisch feststellbare faktische Hinnahme, sondern gleichzusetzen mit Legitimitätsanspruch. Hierin liegt die Abgrenzung zu den soziologischen Legitimitätsbegriffen 17 . Legitimität ist dabei nicht statisch zu verstehen im Sinne einer Eigenschaft, die der Verfassung zukommt oder nicht, sondern der Grad an Anerkennung, den die Verfassung (bzw. einzelne Verfassungsnormen) genießt, w i r d schwanken 18 . Der absoluten Größe entbehrend ist daher Legitimität auch als Prozeß verstanden worden, als ein Vorgang, der sich ununterbrochen vollzieht: eine Verfassung ist nicht legitim, sie w i r d es ständig 19 . Anders gesagt, der Legitimitätsanspruch der Verfassung und verfassungsrechtlicher Herrschaft bedarf der stetigen Einlösung, Bestätigung und Erneuerung 193 . Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Legitimität der Verfassung jeweils gänzlich zur Disposition stehen darf, anderenfalls vermag sie Krisen nicht zu bestehen. Ein beträchtlicher „Legitimitätssockel" muß vielmehr stets vorhanden sein; Kontinuität und Veränderung bedingen einander. Die Verfassungsordnung hat mithin einen permanenten Bedarf an Legitimation, dessen Befriedigung sie zugleich ermöglichen muß. Da verfassungsrechtliche Herrschaft sich selbst („autonom") legitimiert, wie w i r gesehen haben, muß der Verfassungsgeber die Bedingungen für ihre Legitimation setzen und Legitimationsmechanismen und -Strategien bereitstellen.

16 Um die es bei der Diskussion über das Verhältnis Legitimität zu Legalität geht; s. dazu H. H. Klein (Fn. 10) und unten, 3. Teil, IV. 2. 17 Zur rechtlichen Dimension von Legitimität s. C. Schmitt, Legalität und Legitimität (Fn. 3), 263 ff.; U. Scheuner (Fn. 4), 9. 18 s. dazu J. Heidom (Fn. 7), 265 f. 19 P. Graf Kielmannsegg (Fn. 6), 373; in Anknüpfung an die Integrationslehre R. Smends, der die Integration des Staates und damit auch seine Legitimität als geistigen Prozeß begreift, s. R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 18 ff., 107 ff., 119 ff. 19a In diesem Sinne sind Legitimität und Legitimation als Prozeß zu verstehen.

I. Der Begriff Legitimität

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Verfassungsrechtliche Legitimität wird einerseits durch die Normhierarchie vermittelt: die Verfassung, die ihrerseits den Anspruch erhebt, legitim zu sein, vermittelt und bestätigt den Verfassungsorganen Legitimität und mittelbar den Entscheidungen dieser Organe 20 . Umgekehrt bezieht die Verfassung Legitimität aus der Konkretisierung, Interpretation und Anwendung ihrer Normen durch die Verfassungsorgane und diesen nachgeordnete Hoheitsträger. Mit Kriele kann man daher von einem Legitimationszirkel sprechen 21 . Andererseits ist die materielle Verfassungsordnung auf die Vermittlung von Legitimation hin angelegt. Legislative, Exekutive und Judikative haben durch die Kompetenzordnung jeweils ihren Part der Legitimation verfassungsrechtlicher Herrschaft zugewiesen erhalten. Der Legitimation von hoheitlichen Entscheidungen dienen rechtsstaatliche und demokratische Verfahren und die Orientierung an den bzw. die Achtung der Grundrechte. Die Bürger nehmen durch die Wahlen, in Parteien und durch die Wahrnehmung der Meinungs- und Pressefreiheit an der politischen Willensbildung teil; dies bewirkt Legitimation durch Partizipation 22 . Die Beispiele zeigen, daß verfassungsstaatliche Legitimation nicht auf ein - formales - Prinzip reduziert werden kann, sondern die Verfassungsordnung eine - allerdings nicht unbegrenzte - Vielfalt von Legitimationsquellen oder -mechanismen nebeneinander bereithält 23 . „Legitimationsquelle" ist hier ebenso wie Legitimität normativ zu verstehen, d. h. sie bezeichnet weder einen empirisch-soziologisch nachweisbaren Ist-Zustand noch einen wünschenswerten Idealzustand, sondern einen Auftrag und Anspruch: Die Funktionsordnung, Verfahren, Grundrechte etc. sind von der Verfassung dazu bestimmt, legitimierend zu wirken, sie sind mit einem legitimatorischen Impetus versehen. 3. Legitimität und Gesetz

Im Gesetzgebungsstaat des Grundgesetzes ist das Gesetz das wichtigste Instrument staatlicher Gestaltung 24 . Ausgehend von dieser Prämisse kann 20 Vgl. H. Hofmann (Fn. 1), 58. M. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, W D S t R L 29 (1971), 46 (52). 22 s. dazu J. Heidorn (Fn. 7), 256 m. Nw. der politologischen Lit.; vgl. auch M. Kriele (Fn. 21), 64 ff., der auf den Zusammenhang zwischen demokratischer Legitimität und Meinungsfreiheit hinweist. 23 Vgl. das pluralistische Legitimitätskonzept J. Heidoms (Fn. 7), 275, der - aus sozialwissenschaftlicher Sicht - ein noch größeres Spektrum von Legitimationsfaktoren nennt; aus (verfassungs-)rechtlicher Sicht s. Th. Würtenberger (Fn. 4), 542 f. 24 Vgl. nur K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 560 ff. (580); sowie die Referate von K. Eichenberger und M. Kloepfer zum Thema: Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 7 ff. bzw. 63 ff. 21

3 Hermes

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2. Teil: Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie

das Gesetz auch als zentraler Transmissionsriemen für die Legitimation verfassungsmäßiger Herrschaft begriffen werden. Zu untersuchen bleibt dann, inwieweit sich demokratische, rechtsstaatliche, Gewaltenteilungs- und grundrechtliche Legitimation durch das Gesetz verwirklicht 2 5 . Damit ist zugleich eine Perspektive gewonnen für eine möglichst umfassende Analyse der Funktionen des Gesetzes, die Rückschlüsse auf den Vorbehalt des Gesetzes zulassen sollte. Quelle verfassungsrechtlicher Legitimation ist zunächst die Verfassung selbst, deren eigene Legitimität daher einer kurzen Betrachtung bedarf. A l l gemeine verfassungsstaatliche Legitimationsmechanismen wie Verfahren, Mehrheitsprinzip und funktionale Legitimation können sodann vor die Klammer gezogen werden, als Grundlage der Analyse demokratischer, rechtsstaatlicher, Gewaltenteilungs- und grundrechtlicher Aspekte der Legitimation durch das Gesetz. I I . D i e Legitimität der Verfassung 1. Formale (genetische) Legitimität: Die Präambel

In der Präambel zum Grundgesetz heißt es: „... hat das Deutsche Volk i n den Ländern ..., um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen".

Die Berufung auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes w i r d als formale Legitimität bezeichnet, weil sie auf das Subjekt der Verfassungsgebung, nicht auf den Inhalt der Verfassung abstellt 26 . Dieser Satz kann aber nicht ohne weiteres als Wiedergabe eines historischen Faktums angesehen werden, er begründet vielmehr zunächst nur einen Anspruch. Zum einen w i r d das Problem der Legitimität gleichsam zurückverlagert auf die Legitimität des Entstehungsaktes - nämlich die der dazu Berufenen - , zum anderen wird postuliert, daß der berufene pouvoir constituant - das Volk 2 7 - tatsächlich das Grundgesetz der Bundesrepublik beschlossen hat. Das Grundgesetz ist aber nicht vom Volk selbst geschaffen, sondern durch den Parlamentarischen Rat ausgearbeitet und von den Länderparlamenten ratifiziert worden. Indes sind verschiedene Versuche unternommen worden, die Schaf25 Die legitimatorische Bedeutung des Gesetzes haben - mit unterschiedlichen Akzenten - auch H. Hof mann (Fn. 1), 78 ff. und Th. Würtenberger (Fn. 4) untersucht; vgl. auch M. Kriele (Fn. 21), 64. 26 D. Murswiek, Die Verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 81. 27 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 87: „Eine Verfassung ist legitim, d. h. nicht nur als faktischer Zustand, sondern auch als rechtmäßige Ordnung anerkannt, wenn die Macht und Autorität der verfassungsgebenden Gewalt, auf deren Entscheidung sie beruht, anerkannt wird".

II. Die Legitimität der Verfassung

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fung des Grundgesetzes dem Volk zumindest juristisch zuzurechnen, indem der Parlamentarische Rat als Vertreter oder Repräsentant des Volkes angesehen oder eine nachträgliche konkludente Zustimmung des Volkes fingiert wurde 2 8 . Diese Theorien wirken jedoch gekünstelt und verfehlen den zentralen Aspekt; entscheidend ist, ob das Volk die Verfassungsgebung als legitim anerkannt hat 2 9 . Dafür spricht einiges. Zwar gelingt nicht immer der positive Nachweis von Legitimität, doch tritt um so deutlicher das Fehlen von oder ein Defizit an Legitimität zutage. Hätte das Volk sich durch den Parlamentarischen Rat nicht repräsentiert gefühlt, so wären ihm dessen Akte als Fremdbestimmung erschienen - und dies hätte sich - wenn nicht 1949, als die Souveränität noch bei den Alliierten lag, so doch im nachhinein - geäußert. Der Parlamentarische Rat wurde dagegen in seiner Arbeit anerkannt, weil trotz der besonderen Umstände der Zeit - die oberste Staatsgewalt wurde von den drei westlichen Alliierten ausgeübt - sich nicht der Eindruck verbreitete, die Verfassung sei oktroyiert worden. Dazu trug auch bei, daß die Mitglieder des Parlamentarischen Rates als integere und kompetente Persönlichkeiten bekannt waren und die wichtigsten politischen und geistigen Strömungen der Nachkriegs jähre repräsentierten'. Aus dieser Sicht scheint der Anspruch der Präambel daher als nicht ungerechtfertigt 30 . 2. Materielle Legitimität

Das Grundgesetz hat seinen materiellen Legitimitätsanspruch, seine „Überzeugungskraft qua inhaltlicher Richtigkeit" 3 1 positiviert. Die in Art. 79 I I I GG genannten Prinzipien - dazu gehören mindestens: Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und föderative Ordnung 32 sollen jeder Derogation entzogen als unabänderlich gelten, weil sie „richtig" und „rechtmäßig" seien. Das Demokratieprinzip im Sinne des Art. 79 I I I GG fußt auf dem Prinzip der Volkssouveränität; das Legitimitätssubjekt erfährt dadurch seine rechtliche Positivierung und Absicherung. 28

s. dazu instruktiv D. Murswiek (Fn. 26), 81 ff.; ferner H. Hofmann (Fn. 1), 60 ff. Und zwar von vorneherein; es geht nicht um eine retrospektive Betrachtung, ähnlich D. Murswiek (Fn. 26), 89: „maßgeblich ist, ob sich die Betroffenen (das Volk) repräsentiert fühlen". 30 Anders aber eine Auffassimg, nach der die Behauptung der Präambel falsch sei: das zur Entstehung des Grundgesetzes angewandte Verfahren könne nicht als legitim im Sinne westlich-demokratischer Tradition angesehen werden; s. U. Steiner, Verfassungsgebimg und verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 170; D. Murswiek (Fn. 26), 29

88.

31

So D. Murswiek (Fn. 26), 128. Im einzelnen ist vieles streitig; vgl. B. O. Bryde, in: 1. v. Münch, GGK, Art. 79, Rz. 24 ff.; s. dazu neuestens: P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln und verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: Fs. Haug, 81 ff. 32



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2. Teil: Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie Das Änderungsverbot des A r t . 79 I I I G G rechtfertigt sich indes n i c h t aus

der o b j e k t i v e n R i c h t i g k e i t der geschützten P r i n z i p i e n . D e r Verfassungsgeber h a t v i e l m e h r diesen Verfassungskern gesetzt, w e i l er sie f ü r r i c h t i g h i e l t 3 3 , ein A n s p r u c h , der b i s l a n g a n e r k a n n t w o r d e n ist. Dies läßt sich zunächst darauf z u r ü c k f ü h r e n , daß die Kernaussagen des Grundgesetzes i n einer verfassungs- u n d geistesgeschichtlichen K o n t i n u i t ä t s t e h e n 3 3 a . A l s P r o d u k t der w e s t l i c h e n T r a d i t i o n k n ü p f e n sie an V o r b i l d e r i n den d e u t schen, französischen u n d n o r d a m e r i k a n i s c h e n 3 3 b

Verfassungen a n 3 4 .

erster L i n i e m i t T r a d i t i o n u n d einer A u f l a g e der A l l i i e r t e n f o l g e n d

34a

In

, ist

auch die A u f n a h m e des Föderalprinzips i n den K a n o n der absoluten Werte zu erklären. I n w e i t geringerem Maße als die anderen P r i n z i p i e n erscheint es als „ s c h l e c h t h i n k o n s t i t u t i v " f ü r die Verfassungsordnung 3 5 . I m ü b r i g e n k ö n n e n f ü r den Geltungsanspruch der F u n d a m e n t a l n o r m e n der Verfassung u n d ihre A b h ä n g i g k e i t voneinander v e r n ü n f t i g e G r ü n d e angegeben werden. So ist der A c h t u n g s a n s p r u c h des I n d i v i d u u m s , der sich i n der Menschenwürde u n d der R e c h t s s u b j e k t i v i t ä t jedes einzelnen m a n i festiert, schlechthin k o n s t i t u t i v f ü r ein demokratisches Gemeinwesen, das sich dem V o l k , d. h. p o t e n t i e l l jedem I n d i v i d u u m gegenüber rechtfertigt. Menschenwürde u n d D e m o k r a t i e bedingen sich daher gegenseitig 3 6 ; Schutz u n d A b s i c h e r u n g erfahren sie d u r c h den Rechtsstaat. 33

So auch D. Murswiek (Fn. 26), 230. In diesem Zusammenhang ist auch die invocatio dei der Präambel zu sehen: „Wir müssen auch das Verlangen haben, daß eine volkspädagogische, sozialpsychologische, divergierende Kraft von dem Gesetz auszugehen hat, das w i r hier schaffen wollen. Diese divergierende Kraft muß auch schon in der Präambel zum Ausdruck gebracht werden, und zwar in der Weise, daß w i r auch in der Präambel den zentralen Gedanken des Grundgesetzes bereits so sichern, daß er nicht einfach durch einen Mehrheitsentscheid wieder weggefegt werden kann", so der Abgeordnete des Parlamentarischen Rates Dr. Süsterhenn, zit. nach JöR N. F. 1 (1951), 29; s. dazu I. v. Münch, GGK, Präambel, Rz. 5 ff. 33b Zum Einfluß der nordamerikanischen Verfassung auf das Grundgesetz s. auch H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 83 ff. 34 In diesem Sinne auch U. Scheuner (Fn. 4), 10 f., der von bestimmten epochal anerkannten Wertsetzungen als „Grundlagen der Legitimität" spricht. Die legitimatorische Kraft der Tradition ist freilich nicht identisch mit Max Webers Begriff von „traditioneller Herrschaft". Diese folgt für Weber aus dem „Glauben an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten, deren reinster Typ die patriarchalische Herrschaft (ist)", s. M. Weber, Die drei Typen legitimer Herrschaft, in: ders., Staatssoziologie, 101. 34a g Frankfurter Dokument Nr. 1 der Militärgouverneure aufgrund des Beschlusses der Londoner Sechsmächtekonferenz vom Juni 1948, abgedruckt in JöR N. F. 1 (1951), 1 f.: „Die verfassungsgebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform föderalistischen Typs schafft." 35 E. Forsthoff hat aus diesem Grunde versucht, das Föderalprinzip aus dem verfassungsfesten Kern „herauszuinterpretieren", in: Der Staat der Industriegesellschaft, 33a

66.

36 Nicht übersehen wird, daß zwischen Demokratie und Menschenwürde auch ein Spannungsverhältnis besteht, insofern es der demokratischen Mehrheit verwehrt ist, die Demokratie und die Grundrechte abzuschaffen. Zu diesem „demokratischen Paradox" s. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 407 ff. und unten, 4. Teil, II.

II. Die Legitimität der Verfassung

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Schließlich erleichtert der hohe Abstraktionsgrad der Fundamentalnormen ihre dauerhafte Anerkennung - allerdings um den Preis der Abhängigkeit von der Legitimität der sie konkretisierenden Normen der Verfassung und von der Verfassungspraxis. Ohne prägenden Einfluß auf die Verfassungswirklichkeit, also das Bild der Verfassung in der politischen Realität, verkehrt sich die Legitimität der abstrakten Norm ins Gegenteil, gerät diese zur Phrase. 3. Legitimität durch Geltungsbewährung

Die Verfassung vermittelt staatlichem Agieren Legitimität, bedarf ihrerseits aber auch der permanenten Bestätigung und Legitimitätszufuhr „von unten" aus der Verfassungspraxis. Die normative Kraft der Verfassung muß sich bewähren 37 ; Bierling bereits hat dafür den Begriff Geltungsbewährung geprägt 38 . Der Gedanke vom Prozeßhaften der Verfassung, der auf Smend zurückgeht, ist von der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik rezipiert worden. Nach Häberle „ist eine Verfassung nicht gegeben, sondern w i r d ständig gegeben" 39 ; Hesse spricht von der Verfassung, die „verwirklicht" werden muß 40 . Dem Anspruch der permanenten Selbstlegitimation der Verfassimg trägt das Grundgesetz durch seine Struktur Rechnung. So zeichnen sich die Fundamentalnormen der Verfassung durch materielle Offenheit für Konkretisierung, Ausgestaltung und Wandel aus, durch Flexibilität gegenüber jedoch nicht Spiegelung der - Veränderungen der Wirklichkeit. Offenheit bedeutet nicht Ungebundenheit, denn Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde sind eingebunden in ein systematisches Geflecht von konkreten Kompetenznormen (z. B. Art. 73, 74, 75 GG), materiellen Grundrechtsnormen, Verfahrensregeln sowie den Schatz an Konkretisierung und Auslegung, die ein notwendiges Maß an Kontinuität vermitteln, und denen gegenüber Veränderungsvorschläge die Argumentationslast tragen. Aus dieser limitierten Offenheit vermag die Verfassung dauerhafte Legitimität zu schöpfen 41 . 37 H. Hofmann (Fn. 1), 74. Damit wird, so Hofmann, „die Kategorie der Normativität i n die Zukunft geöffnet, um die Dimension der Zeit erweitert. Aus dem Problem der Legitimität der Verfassungsgebung wird auf dieser Stufe der Entwicklung die Frage der Legitimität der gegebenen Verfassung". 38 R. Bierling, K r i t i k der juristischen Grundbegriffe I, 145 (150). 39 P. Häberle, Besprechungsaufsatz zu U. Steiner, Verfassungsgebung und verfassungsgebende Gewalt des Volkes, AöR 94 (1969), 479 (485). 40 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rz. 41 ff.; vgl. auch M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 182: „die dynamische Rationalität immer neuen vernünftigen Interessenausgleichs ist die Legitimationsgrundlage unseres Verfassungssystems"; in diesem Sinne auch U. Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: G. Jakobs (Hg.), Rechtsgeltung und Konsens, 57: „Konsens in der Demokratie ist nicht ein einmaliges Geschehen, er bildet den Grundzug der politischen Vorgänge, in denen sich das Wirken eines Volksstaates abspielt".

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2. Teil: Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie

Weiterhin ist das Grundgesetz, wie Göldner sagt, in erster Linie Bekenntnisverfassung, nicht Organisationsverfassung 42 , es beschränkt sich nicht auf ein organisatorisches Korsett für den Staat, sondern bekennt sich zu materiellen Zielen - Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat sind als Staatszielbestimmungen 43 treffend charakterisiert. Die Verfassung stellt somit einen latenten Anspruch an die Gestaltung der Realität, sie hat eine Appellfunktion 4 4 . Das überschießende normative Element der Fundamentalnormen wird von der Wirklichkeit niemals ganz eingeholt, schon weil die Verfassung dann ihren Vorbildcharakter preisgäbe; andererseits muß es immer hinreichend erfüllt sein, damit der Anspruch real bleibt. Aus dieser doppelten latenten Spannung 45 zwischen konkreten Regeln und offenen Prinzipien und zwischen normativem Anspruch und dessen praktischer Einlösung gewinnt die Verfassung die legitimatorisch wirksame Dynamik, deren sie zu ihrer Erneuerung und Bestätigung bedarf. I I I . Legitimation in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes

Im Kalkarbeschluß 46 spricht das Bundesverfassungsgericht von „institutionell, funktionell und personell demokratischer Legitimation" des Parlamentes und der Regierung. Das Gericht geht also von einer Pluralität verfassungsrechtlicher Legitimationsfaktoren aus, ohne diese allerdings näher zu erläutern. Diese Legitimationsfaktoren sind offenbar so allgemeiner Natur, daß sie keiner spezifischen Verfassungsnorm zugehören. Ebenso übergreifend sind die Aspekte der Legitimation durch das Mehrheitsprinzip und der Legitimation durch Verfahren. Gemeinsam bilden sie eine Art „Allgemeinen Teil" verfassungsrechtlicher Legitimationsmechanismen 47 . Soweit das Bundesverfassungsgericht jeweils als zweites Attribut die Legitimation „demokratisch" nennt (also von funktionell-demokratischer oder institutionelldemokratischer Legitimation spricht), bezeichnet dies in unserem Zusammenhang nichts anderes als das Legitimitätssubjekt - das Volk - , nicht ein aliud oder einen Gegensatz zu etwa rechtsstaatlicher Legitimation 4 8 .

41 Zur Offenheit der Verfassung s. K. Hesse (Fn. 40), Rz. 19 ff.; P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 ff. 42 D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, 59: Die Bismarck'sche Verfassung ist für Göldner eine Organisationsverfassung. 43 s. dazu U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, Fs. Forsthoff, 325 ff. 44 D. Göldner (Fn. 19), 87 m. Nw. 45 Die Analyse profitiert hier von dem Spannungsmodell Göldners (Fn. 19), insbesondere 84 ff. 46 BVerfGE 49, 89 (125). 47 Vgl. auch die von Th. Würtenberger (Fn. 4), 542 f. genannten Legitimationskriterien. 48 Beim BVerfG wird die Bedeutung dieser Attribute nicht hinreichend klar; s. dazu H. Hofmann (Fn. 1), 79 Fn. 285.

III. Legitimation in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes

39

1. Institutionelle Legitimation

Das Grundgesetz konstituiert in Art. 20 I I GG und seinen organisatorischen Abschnitten die Staatsorgane entsprechend dem traditionellen Prinzip der Gewaltenteilung. Legislative, Exekutive und Judikative sind die Institutionen, die verfassungsmäßige Herrschaft ausüben. Das Parlament, die Regierimg und die oberste Gerichtsbarkeit sind dabei durch das Grundgesetz unmittelbar institutionell legitimiert, und zwar alle gleichermaßen, da sie durch die Verfassung selbst und nicht durch einen mittelbaren Akt oder aufgrund Landesrechts konstituiert worden sind. Als analytisches oder Differenzierungskriterium ist institutionelle Legitimation daher ungeeignet 49 . 2. Personale Legitimation

Demokratische Legitimation durch personale Rückbindung an das Volk bedeutet die konkrete - im Gegensatz zu einer lediglich generellen - Herleitung der Organwalterstellung aus einer Entscheidung des Volkes. Dafür genügt nicht die Konstituierung des Organs durch die Verfassung, sondern jeder Organwalter muß als natürliche - reale - Person jeweils besonders in sein Amt berufen werden 50 . Die Berufung erfolgt entweder unmittelbar durch das Volk selbst oder mittelbar durch vom Volk bestellte Organwalter, so daß sich eine ununterbrochene „Legitimationskette" vom Volk über die „volksnächsten" bis hin zu den volksentfernten Organwaltern ergibt 51 . Diese personale Seite ist meistens gemeint, wenn von unmittelbarer (direkter) und mittelbarer (indirekter) demokratischer Legitimation im Verfassungsrecht gesprochen wird 5 2 . Die personale Rückbindung der Staatsorgane an das Legitimationssubjekt ist ein Essentiale der Volkssouveränität. Sie sichert mittels Wahlen den Einfluß des Volkes auf die Staatsorgane und ermöglicht damit Legitimation durch Partizipation 53 . Von der personalen Legitimation zu unterscheiden ist die persönliche Legitimität, die Ansehen, Integrität und Sachkompetenz der jeweiligen Organwalter bezeichnet. Ein Mindestmaß an persönlicher Legitimität ist bei allen Organwaltern vorauszusetzen. Defizite in dieser Hinsicht wirken negativ auf die Institutionen zurück 5 4 . 49 Gleichwohl wird dieser Begriff im Anschluß an das BVerf G auch von der Literatur verwendet, vgl. nur F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 197. 50 So S. Magiera, Parlament und Staatsleitung, 103 m. w. N. 51 U. Scheuner, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 16 (1958), 124; vgl. auch BVerfGE 47, 253 (275); E. W. Böckenförde, Die mittelbare Demokratie als die eigentliche Form der Demokratie, Fs. Eichenberger, 315. 52 Vgl. etwa F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 197; M. Bullinger, Vertrag und Verwaltungsakt, 93. 53 Vgl. M. Kriele (Fn. 21), 64 ff. 54 Die Parteispendenaffäre liefert dafür einen anschaulichen Beleg.

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2. Teil: Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie 3. Funktionale Legitimation

Die Verfassungsorgane haben durch das Grundgesetz spezifische Funktionen zugewiesen bekommen in Form von mehr oder weniger explizit formalisierten Kompetenzen. Sie sind qua Verfassung legitimiert, diese Funktionen auch wahrzunehmen und ihren Kompetenzen entsprechende Entscheidungen zu treffen. Die funktionale Legitimation erschöpft sich indes nicht in der formalen Zuweisung von Kompetenzen durch das Grundgesetz. Die Funktionsverteilung unter den Verfassungsorganen legitimiert sich vielmehr auch durch ihren Anspruch, sachgerecht, rational und vernünftig zu sein und sich überdies in ihrer allgemeinen Struktur bewährt zu haben. Dies ist zugleich eine der Legitimationsgrundlagen des Gewaltenteilungsprinzips 55 . Hinsichtlich ihrer zentralen, durch das Grundgesetz ausdrücklich verliehenen Zuständigkeiten ist die funktionale Legitimation der Verfassungsorgane unbestritten. Dies gilt etwa für die Aufgaben der dritten Gewalt als Hüter der Rechtsordnung, das Gesetzgebungs- und Budgetrecht des Parlaments, die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und die Verwaltungsaufgaben der Exekutive. Jenseits der Kernkompetenzen und expliziten Aufgabenzuweisungen durch das Grundgesetz ist funktionale Legitimation in weit geringerem Maße evident. Wenn etwa der Bereich der auswärtigen Beziehungen als „sachlogisch gouvernemental" apostrophiert w i r d 5 6 , ersetzt die Behauptung die Begründung. Funktionale Legitimation entsteht vielmehr als Resultante einer systematischen Zusammenschau von expliziten Kompetenzzuweisungen und Zusammensetzung, Organisation und Verfahrensweise der jeweiligen Organe 57 . 4. Legitimation durch das Mehrheitsprinzip

Legitimatorische Kraft schöpft das Demokratieprinzip seinerseits unter anderem aus dem Mehrheitsprinzip 58 , dessen Legitimität allerdings selbst 55 Das neuerdings häufig durch den Begriff Funktionenteilung ersetzt wird, vgl. N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 112 ff.; G. Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, 55; K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 525, m. w. N.; zum Gewaltenteilungsprinzip s. ferner unten, 3. Teil, III. 56 In diesem Sinne W. Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, W D S t R L 12 (1954), 129 ff., 174; dagegen bereits kritisch E. Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, W D S t R L 12 (1954), 179 (196 f.) m . w . N.; s. auch F. Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 57 ff. 57 Vgl. BVerfGE 68, 1 (86) - Raketenstationierung; 67, 100 (135) - Flick-Akten; 70, 324 (364) - Parlamentsausschuß für Nachrichtendienste. 58 Vgl. nur BVerfGE 29, 154 (165): „ Z u den fundamentalen Prinzipien der Demokratie gehört das Mehrheitsprinzip". Es dient sogar als Begriffsbestimmung von ,Demokratie'; dazu und zum folgenden s. W. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 80ff.; H. Dreier, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Verfassungs-

III. Legitimation i n der Verfassungsordnung des Grundgesetzes

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der Begründung bedarf. Überkommene Vorstellungen wie die Fiktionstheorie, nach der die Geltung der Mehrheitsregel auf einem einstimmigen fiktiven - Beschluß aller beruht, und das maior-et-sanior-pars Theorem, demzufolge die Mehrheit am besten befähigt ist, die richtige, vernünftige Entscheidung zu treffen, vermögen nicht mehr zu überzeugen 59 . Das Mehrheitsprinzip findet seine Rechtfertigung vielmehr in einer Verbindung von formalen und materiellen Begründungen. Formal durch seinen prozeduralen Aspekt, insofern es ein offenes Verfahren der Willensbildung konstituiert, in dem für jeden die gleiche Möglichkeit besteht, sich und seine Vorstellungen durchzusetzen und für alle stets eine Alternative bleibt. Offenheit des Verfahrens impliziert prinzipielle Reversibilität aller Entscheidungen 60 , denn sie erhält die Möglichkeit, daß die unterlegene Minderheit auch einmal zur Mehrheit werden kann - und es sich aus diesem Grund „leisten" kann, sich dem Mehrheitsvotum zu beugen. Voraussetzung ist, daß die Bedingungen für offene Verfahren gewährleistet sind, nämlich Oppositionsfreiheit, Minderheitenschutz und verfahrensrechtliche Absicherung, damit das Mehrheitsprinzip nicht durch die Mehrheit beseitigt werden kann 6 1 . Den Schutz dieser immanenten Grenze des Mehrheitsprinzips sollen im Grundgesetz die nicht zur Disposition der Mehrheit gestellten Fundamentalnormen der Art. 1 und 20 GG gewährleisten. Materiell ist das Majoritätsprinzip in den Grundrechten verankert 62 , denn es stützt sich auf das Selbstbestimmungsrecht und die formelle Gleichheit der Abstimmenden. Selbstbestimmung bedeutet Teilhabe an Herrschaft durch die Inanspruchnahme rechtlich garantierter Beteiligungsfreiheit 62a und hat damit einen freiheitssichernden Aspekt. Die numerische Mehrheitsregel, die eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen der Beteiligten verbietet, trägt dem Gleichheitsgrundsatz Rechnung. 5. Legitimation durch Verfahren

Formale Strukturen und Verfahren beziehen legitimatorische Kraft, so erkannte Max Weber, aus dem Glauben an ihre Rationalität, aus der Erwartung, daß die darauf gestützte Herrschaft „nach bekannten Regeln und nicht nur wie die Gewalten, welche der Wilde durch den Zauberer beeinflussen will, irrational funktioniert, daß man, im Prinzip wenigstaat, ZParl 1986, 94 ff. (zugleich eine Besprechung von Heuns Werk); P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, JZ 1977, 241 ff.; U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. 59 s. dazu W. Heun (Fn. 58), 82 ff.; H Dreier (Fn. 58), 104; H. Hofmann (Fn. 1), 87. 60 Vgl. W. Heun (Fn. 58), 194 ff.; insbesondere 201. ei Vgl. P. Häberle (Fn. 58), 244; K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 610. 62 Vgl. P. Häberle (Fn. 58), 243; U. Scheuner (Fn. 58), 18 f.; H. Dreier (Fn. 58), 105. 62a H. Hofmann (Fn. 1), 77.

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2. Teil: Legitimität als verfassungsrechtliche Kategorie

stens, mit ihnen »rechnen', ihr Verhalten kalkulieren, sein eigenes Verhalten an eindeutigen Erwartungen orientieren k a n n " 6 3 .

Verfahren und Verfahrensrechte sind dem Juristen durch die Justizgrundrechte (Art. 19 IV, 103,104 GG) vertraut. Darüber hinaus w i r d ihnen zunehmend ein hoher Stellenwert für die Legitimation von verfassungsrechtlicher Herrschaft auch im Bereich der materiellen Normen der Verfassung zuerkannt. So haben die Grundrechte nach dem Bundesverfassungsgericht auch eine Verfahrensdimension 64 . „Verfahren" bezeichnet inzwischen ein ganzes Bündel von Grundsätzen, das der Differenzierung bedarf 65 . Die legitimatorischen Leistungen von Verfahren haben Niklas Luhmann einerseits und Jürgen Habermas andererseits analysiert. Die formale Theorie Luhmanns und der „materiale Gegenentwurf" 66 Habermas' haben die Diskussion über Verfahren maßgeblich beeinflußt und bilden gleichsam deren Eckpunkte. „Legitimation durch Verfahren" ist durch Luhmanns gleichbetiteltes Buch 6 7 geradezu zum geflügelten Wort geworden. In hochkomplexen Gesellschaften, so die Aüsgangsthese Luhmanns, ist Legitimität im Sinne eines faktischen, aktuell bewußten Konsenses über wichtige Entscheidungsinhalte nicht nur empirisch nicht feststellbar, sondern auch faktisch undenkbar 6 8 . Dennoch müssen bindende Entscheidungen durchgesetzt und akzeptiert werden. Dies können nach Luhmann allein Verfahren bzw. Verfahrenssysteme leisten: sie söllen die Entscheidungshinnahme auch unabhängig von der sachlichen Richtigkeit der vorgetragenen Argumente bewirken. Nicht die Anerkennung von Entscheidungsinhalten ist maßgeblich, sondern nur das Verfahren der Entscheidungsfindung 69 . Habermas geht es demgegenüber um vernünftige Resultate von Verfahren, die zu erzielen seien durch deren Ausrichtung am Modell des idealen Diskurses. „Idealer Diskurs" bezeichnet eine Form der Kommunikation, die nach bestimmten Regeln abläuft, wozu gehören: kein Termindruck und glei63 M. Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 427 (473). Zum angeblich irrationalen Denken der „Wilden" vgl. aber C. Lévi-Strauss , Das wilde Denken, insbesondere 49 ff., 282 ff. 64 Zuerst BVerfGE 24, 367 (401); 49, 220 (232 ff.); 56, 249, 262 ff. (m. abw. Meinung Böhmers), alle zu Art. 14 GG; s. dazu H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensrechte, insbesondere 137 ff., R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 433. es Vgl. R. Alexy (Fn. 64), 430. 66 J. Heidorn (Fn. 7), 120, der einen guten Überblick über die Theorien Luhmanns und Habermas' vermittelt. 67 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 68 N. Luhmann (Fn. 67), 2. 69 N. Luhmann (Fn. 67), 5; freiwillige Anerkennung und Legitimität sind für Luhmann nachgerade ein Widerspruch: „Wo die Hinnahme als freigewählte Einstellung den Einzelnen zugerechnet wird, sich also nicht von selbst versteht, kann man nicht von Legitimität sprechen, weil nicht die Geltung der Entscheidung, sondern der freie Wille die Entscheidung trägt". So N. Luhmann, Gesellschaftliche und politische Bedingungen des Rechtsstaates, in: ders., Politische Planung, 53 ff. (61).

III. Legitimation in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes

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che Chancen für alle Teilnehmer, ihre Forderungen und Argumente einzubringen. Ziel des Diskurses ist ein zwangloser und allgemeiner Konsens 70 . Luhmanns Verdienst 71 ist der Nachweis des Eigengewichts von Verfahren für die Legitimation von Entscheidungen. Seine These, nach der Verfahren an die Stelle der Anerkennung von Inhalten treten, findet in bestimmten Bereichen staatlicher Herrschaft Bestätigung. So beruht die Legitimität von Spezialgesetzen, die nur von wenigen Experten verstanden werden, zum großen Teil darauf, daß sie in einem formell ordnungsgemäßen (Gesetzgebungs-)Verfahren zustande gekommen sind. Habermas' ideale Kommunikationsgemeinschaft dagegen hat ihrem eigenen Anspruch nach Modellcharakter. Zumindest Elemente davon finden sich - jedenfalls der Intention nach - auch in verfassungsrechtlichen Verfahren, etwa der Geschäftsordnung des Bundestages, die den einzelnen Abgeordneten Immunität, Indemnität und Rederecht garantieren. Verfahrensrecht ist daher (auch) Kommunikationsrecht 72 . Die legitimatorische Wirkung von Verfahren beruht daher auf formalen und materialen Gründen, deren Klammer die Verfassung formt. Die Beachtung der formalen Verfahrensregeln bildet die Grundlage von Erwartungssicherheit und Vertrauen. In Form von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bilden sie den Kern der Legitimation des Rechtsstaatsprinzips. Darüber hinaus müssen Verfahren bestimmten Spielregeln folgen, die vernünftige Resultate bzw. Ergebnisgerechtigkeit begründen. Die materiellen Aspekte der Mehrheitsregeln, die „Kommunikationsgrundrechte" des Art. 5 GG, der Minderheitenschutz und der Anspruch auf rechtliches Gehör dienen diesem Ziel 7 3 , damit sich die legitimierende Kraft vernünftiger Einigung 7 4 entfalten kann. Die Legitimität der Verfahren, nach der Luhmann nicht fragt, folgt daher aus ihrer Einbindung in die materialen Verfassungsprinzipien.

70 J. Habermas, Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus, 148 ff.; s. dazu J. Heidorn (Fn. 7), 120 ff. und R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 134 ff. 71 Auf die kritischen Einwände gegen Luhmann, die vor allem an seine Verabsolutierung formaler Strukturen anknüpfen, kann hier nicht näher eingegangen werden, s. dazu J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 202 ff.; H. Vorländer (Fn. 12), 215; J. Heidorn (Fn. 7), 83 ff. 72 P. Häberle, Zeit und Verfassung, Zeitschrift für Politik 21 (1974), 111 f. (120). Damit w i r d zugleich ein Stück Legitimation durch Partizipation erreicht; s. dazu D. Göldner (Fn. 19), 81 f. m. w. N.; das Habermas'sche Diskursmodell greift R. Alexy auf (Fn. 70), 261 ff. 73 In diesem Sinne auch R. Zippelius, Legitimation im demokratischen Verfassungsstaat, in: Legitimität des modernen Staates, 84 (90 f.); E. Fraenkel (Fn. 12), 433; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3, Rz. 384 a (Fn. 1). 74 J. Habermas, Einführungsreferat, in: W. Oelmüller (Hg.), Transzendentalphilosophische Normbegründungen, 123 ff. (129); Th. Oppermann, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, W D S t R L 33 (1975), 13 bezeichnet Habermas' Politiktypus sogar als „hyperparlamentarisch".

Dritter Teil

Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 G G und der Gesetzesvorbehalt Das Bundesverfassungsgericht sieht - ebenso wie eine in der Literatur verbreitete Auffassung - den allgemeinen Gesetzesvorbehalt verfassungsrechtlich in Art. 20 GG verankert 1 . Das Demokratieprinzip wird gemeinsam mit dem (oder an Stelle des) Rechtsstaatsprinzip(s) als den Gesetzesvorbehalt konstituierend interpretiert, während dem Gewaltenteilungsgrundsatz eine den Vorbehaltsbereich limitierende Funktion zukommen soll 2 . Die Prinzipien des Art. 20 GG dürfen dabei nicht isoliert als konkrete Regeln verstanden werden, aus denen sich der Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts deduzieren ließe, sondern das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip etc. sind Inbegriffe für je eine Gruppe von Verfassungsnormen 2a , die zusammen betrachtet der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung der grundgesetzlichen Ordnung das Gepräge geben3. Der bisweilen pauschale Rekurs des Bundesverfassungsgerichts auf die Prinzipien des Art. 20 GG verleiht diesen den Charakter von Chiffren für ein Bündel von spezifischen anderenorts getroffenen Aussagen. Mit der Einbeziehung der „Auffüllungsbestimmungen" 4 zu den Fundamentalnormen des Art. 20 GG kann dem Einwand begegnet werden, Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip seien infolge ihrer Allgemeinheit zur Konkretisierung des Gesetzesvorbehaltes ungeeignet5. 1 Vgl. BVerfGE 40, 237 (248); 49, 89 (126); aus der Literatur vgl. nur M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685ff.; F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Götz/Klein/Starck (Hg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 9 ff. 2 BVerfGE 45, 400 (417 f.); 47, 46 (78); 58, 257 (278) zur Begründung des Gesetzesvorbehaltes aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip; die limitierende Funktion des Gewaltenteilungsgrundsatzes wird i n BVerfGE 49, 89 (126) und 68, 1 (87) betont. 2a Zur Gliederung von Normen in Regeln und Prinzipien, s. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 71 ff. 3 Vgl. nur K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 600; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rz. 127 ff.; BVerfGE 42, 312 (330): „Es läßt sich aus dem (Demokratie-)Prinzip nichts anderes und nicht mehr entwickeln, als sich aus der Verfassungsvorschrift ergibt, die das Prinzip unter dem entscheidungserheblichen Gesichtspunkt konkretisiert" (die Entscheidung betraf Art. 137, 140 GG). 4 Den Begriff verdanke ich R. Lagoni; R. Herzog spricht von „Ausführungsbestimmungen", in: Maunz/Dürig, Art. 20 I, Rz. 25. 5 So aber z. B. H. U. Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalt, Fs. Juristische Gesellschaft, 113 (118); skeptisch auch Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 316 ff.

I. Das

eatprinzip

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I. Das Demokratieprinzip

Die demokratische Begründung des Gesetzesvorbehaltes hebt in erster Linie auf die unmittelbare, nämlich durch Volkswahl begründete Legitimation des Parlamentes ab, die diesem eine Führungsrolle oder „so etwas wie eine Suprematie" unter den Verfassungsorganen sichere 6. Daraus folgt nach einer Meinung, daß das Parlament berufen sei, im Wege der für Exekutive und Legislative verbindlichen Gesetzgebung alle Bereiche staatlicher Tätigkeit zu steuern 7. Nach der Gegenansicht kann das Demokratieprinzip nicht zur Begründung einer Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts über die positiv im Grundgesetz geregelten Fälle hinaus dienen, da auch die Exekutive und die Judikative zumindest mittelbar demokratisch legitimiert seien8. Diese Positionen, im Sinne eines Entweder/Oder verstanden, belegen, daß der über das Demokratieprinzip begründete Gesetzesvorbehalt als Problem der Kompetenzabgrenzimg zwischen Legislative und Exekutive begriffen werden muß, reduzieren den Vorbehalt so aber auf einen einzigen Aspekt. Neuere Überlegungen versuchen, ausgehend von der Stellung des Parlaments im Staatsaufbau 9 , aus den spezifisch parlamentarischen Verfahrensnormen allgemeine Aussagen über die Entscheidungskompetenzen und -vorbehalte des Parlamentes zu gewinnen. In die Richtung einer funktionsorientierten Auslegung des Demokratieprinzips zielt - unter Berücksichtigung der Legitimitätskategorien - auch der hier vertretene Ansatz. 1. Das Parlament als Repräsentant des Volkes

Die Staatsform der Bundesrepublik kann als mittelbare oder repräsentative Demokratie bezeichnet werden 10 . Damit ist zweierlei ausgesagt: Zum einen stehen unmittelbar demokratische bzw. plebiszitäre Beteiligungsformen des Volkes an der staatlichen Willensbildung im Hintergrund, sie prägen nicht die Staatsorganisation wie etwa in der Schweiz. Auch Befürworter einer Einführung von Volksbefragungen oder Volksentscheiden auf Bundesebene11 zielen nicht auf die Ersetzung der mittelbaren Demokratie, son6

So M. Kloepfer (Fn. 1), 686. So insbesondere D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 171 ff.; in diesem Sinne auch die „frühe" Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG, ζ. Β. E 40, 237 (249 f.); 33, 125 (159). 8 H. U. Erichsen (Fn. 5), 116; F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 197. 9 M. Kloepfer (Fn. 1), 693 ff.; C. E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, 485 (490 ff.); D. C. Umbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, Fs. Faller, 111 (126 ff.) 10 Vgl. nur Κ Stern (Fn. 3), 600 ff.; E. W. Böckenförde, Die mittelbare Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, Fs. Eichenberger, 301 ff.; sowie die Referate von Th. Oppermann und Hans Meyer zum Thema: Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: W D S t R L 33 (1975), 9 ff. bzw. 69 ff. 7

46

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

dem nur auf deren Ergänzung in bestimmten Fällen 12 . Zum anderen ist „Repräsentation" Ausdruck der zentralen Stellung des Parlaments im Staatsgefüge. Repräsentieren bedeutet „Handeln für andere, anstelle anderer". Sie ist dabei aber nicht mit der privatrechtlichen Vertretung gleichzustellen. Denn Repräsentation beruht nicht auf einer individuellen Vollmacht, sondern liegt in einer stärker abstrahierenden Sphäre: „der Repräsentant vergegenwärtigt eine Nation, das Volk, den Staat" 1 3 . Ohne einer „Repräsentationsmythologie" 14 anheim zu fallen, kann Repräsentation als Inbegriff der spezifischen Parlamentsfunktionen angesehen werden. Positiviert ist das Repräsentationsprinzip in Art. 38 GG. Danach sind die Abgeordneten - und nur diese, nicht auch die Regierung 15 - Vertreter des ganzen Volkes. Sie unterliegen keinen Weisungen seitens der Repräsentierten oder Dritter, ihre Handlungen werden dem Volk aber zugerechnet. Daraus resultiert eine legitimatorische Schlüsselstellung des Parlamentes: als Ersatz für 1 6 oder (aus anderer Sicht) als qualitativ höhere Form 1 7 von Selbstentscheidung des Volkes erheben parlamentarische Akte den Anspruch besonderer Legitimität. Das Parlament vertritt das Volk umfassend, mithin auch als Legitimitätssubjekt, gegenüber dem sich exekutivische Gewalt verantworten muß. Um dieser Rolle gerecht zu werden, ist das Parlament seinerseits auf ein hohes Maß von Legitimität im Sinne von Anerkennung durch die Repräsentierten angewiesen18. 2. Funktionen des Parlaments

Die Funktionen des Parlamentes hat - bezogen auf das englische Parlament - bereits Walter Bagehot bestimmt. Sein Aufgabenkatalog (Wahlfunk11 In einigen Bundesländern wie Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen sind sie landesverfassungsrechtlich vorgesehen; s. dazu A. Weber, Direkte Demokratie im Landesverfassungsrecht, DÖV 1985, 178 ff. 12 s. etwa Chr. Graf Pestalozza, Der Popularvorbehalt; und bereits E. Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat. 13 K. Stern (Fn. 3), 961; in diesem Sinne auch N. Achterberg, Parlamentsrecht, 77. 14 Begriff von R. Herzog, Möglichkeiten und Grenzen des Demokratieprinzips, in: Demokratie und Verwaltung, 485. Zum Wesen der Repräsentation s. G. Leibholz, Repräsentation in der Demokratie; nach C. Schmitt ist „Repräsentation kein normativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existentielles", in: ders., Verfassungslehre, 209 (Hervorhebung im Original). 15 Vgl. H. Meyer (Fn. 10), 80. 16 In diesem Sinne etwa K. U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 180 ff., insbesondere 198. 17 So namentlich H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 238 ff.; E. W. Böckenförde (Fn. 10), 313 ff. 18 In ähnlichem Sinne spricht E. W. Böckenförde (Fn. 10), 319 vom „inhaltlichen Repräsentationsbegriff", der darin bestehe, „daß das Handeln der Leitungsorgane so beschaffen ist, daß der einzelne und die Bürger insgesamt (das Volk) in diesem Handeln sich wiederfinden können. "

I. Das

eatprinzip

47

tion, Gesetzgebungsfunktion, Willensbildungsfunktion, Öffentlichkeitsfunktion und Kontrollfunktion) 1 9 dient auch modernen verfassungsrechtlichen Untersuchungen als Richtschema 20 . Die Wahl- oder Kreationsfunktion ist im Grundgesetz abschließend geregelt. Der Bundestag wählt den Bundeskanzler (Art. 63 bzw. Art. 67 GG) und wirkt an der Wahl des Bundespräsidenten (Art. 54 GG) und der Bestellung der obersten Richter des Bundesverfassungsgerichts (Art. 94 I 2 GG) sowie der Bundesrichter (Art. 95 GG) mit. Bis zu einem gewissen Grade definieren bereits diese Normen das Verhältnis der Staatsorgane zueinander. Die herausgehobene Stellung des Bundestages tritt durch einen Vergleich mit der des Reichstages nach der Weimarer Reichs Verfassung hervor: dort nahmen Reichstag und Reichspräsident Einfluß auf die Bestellung des Reichskanzlers. Es bestand gemäß Art. 53, 54 WRV mithin eine doppelte (dualistische) Abhängigkeit des Reichskanzlers gegenüber zwei volksgewählten Organen 21 , während für die Wahl des Bundeskanzlers ausschließlich der Bundestag zuständig ist. Die weiteren Aufgaben des Parlaments werden im folgenden unter zwei Begriffe subsumiert: Staatsleitung und Integration. a) Staatsleitung Die aus dem Repräsentationsprinzip resultierende politische Führungsfunktion des Parlamentes manifestiert sich in seiner Beteiligung an der „Staatsleitung", die definiert werden kann als „der durch die Verfassung begründete und begrenzte Aufgabenbereich umfassender und grundlegender Planimg, Festlegung und Durchführung der Organisation, der Ziele und Aufgaben sowie der Rechtsordnung des Staates" 22 . Staatsleitung in diesem Sinne verstanden ist der gemeinsame Nenner für Aufgaben, die nicht nur einem Organ zugewiesen sind, sondern dem bekannten Diktum Friesenhahns zufolge „Parlament und Regierung gewissermaßen zu gesamter Hand zustehen" 23 . 19

W. Bagehot (1826 - 1877), The English Constitution, 195: „ I t (the Parliament) must elect a ministry well, legislate well, teach the nation well, express the nation's w i l l well, bring matters to the nation's attention well." 20 Z. B. H. P. Schneider, Das parlamentarische System, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 239 (261). 21 Κ. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 979. 22 S. Magiera, Parlament und Staatsleitung, 83: „Staatsleitung" ist nicht gleichzusetzen mit „Regierung". Dieser Begriff ist.den Kompetenzen der Exekutivspitze vorbehalten. 23 E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, W D S t R L 16 (1958), 9 (36); s. dazu H. P. Schneider (Fn. 20), 269; E. Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, W D S t R L 12 (1954), 179 (196 f.) spricht in gleichem Sinne von dem auswärtigen Bereich als „kombinierter Gewalt"; für die politische Planung ähnlich auch F. Ossenbühl, Gutachten B, DJT 1974, S. Β 79.

48

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

Die wichtigste Handlungs- und Einwirkungsform des Parlamentes auf die Staatsleitung ist das Gesetz: „Gouverner c'est légiférer", diese alte „Weish e i t " 2 4 beansprucht auch unter dem Grundgesetz Geltung. Die Gesetzgebungskompetenzen des Parlamentes umfassen die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte (Art. 2 I, I I 2; 5 II; 6 V; 7 IV; 8 II; 10 II; 11 II; 12 I, II; 13 II, III; 14 I, III; 16 I; 101; 103; 104 GG) 2 4 a und die noch zahlreicheren - im weiteren Sinne - organisationsrechtlichen Gesetzesgebungskompetenzen (z. B. Art. 21 II; 24 I; 26 II; 28 II; 29 VII; 38 III; 48 III; 59 II; 80 I; 84 V; 87 I; 87 b I; 89 II; 91 a II; 95 III; 98 I; 109 III; 110 GG) 25 . Auch die Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen Bund und Ländern (Art. 70-75; 105 GG) legen durch ihre Bezeichnung (Kapitel V I I trägt die Überschrift: Die Gesetzgebung des Bundes) nahe, daß sie im Wege der Gesetzgebung ausgefüllt werden sollen 26 . Bei der Diskussion um den Gesetzesvorbehalt stehen die organisationsrechtlichen Bestimmungen im Hintergrund oder sind wie im Fall des Art. 59 I I GG sogar als Ausnahmebestimmungen 27 ausgelegt worden. Beteiligung an der Staatsleitung ist demgegenüber als gemeinsamer Nenner aller Gesetzesvorbehalte und -ermächtigungen anzusehen. Vor allem als Gesetzgeber partizipiert das Parlament an der Staatsleitung. Differenzieren kann man nach dem Ausmaß der Partizipation: Am größten ist es bei materiell abschließenden Regelungen, die der Exekutive nur den Vollzug überlassen. Häufiger sind Gesetze mit materiellen Vorgaben oder Rahmengesetze, die der Ausfüllung durch Verordnungen und exekutivische Eigenverantwortung (Ermessen) bedürfen. Bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen kann sich die Beteiligung des Parlaments u. U. auf die Billigung des von der Exekutive ausgehandelten Vertragswerkes beschränken. Der Bundestag übt in diesem Fall als Gesetzgeber primär eine Kontrollfunktion aus. Die Übergänge zwischen insbesondere den ersten beiden Kategorien sind fließend, deutlich wird aber die Flexibilität und Geschmeidigkeit des Instrumentes Gesetz in der Hand des Parlamentes. b) Integrationsfunktion Integration als Aufgabe der Verfassung und der Verfassungsorgane hat in Anknüpfung an Rudolf Smend 27a - für das Grundgesetz Hesse herausge24 K. Stern (Fn. 3), 1002. 24a Die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte binden auch den Landesgesetzgeber. 25 s. dazu S. Magiera (Fn. 22), 175 f. 26 So auch G. Püttner, Diskussionsbeitrag, in: Götz/Klein/Starck (Fn. 1), 112. 27 So BVerfGE 1, 351 (369); W. Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, W D S t R L 12 (1954), 129 ff.; s. dazu F. Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 51; s. dazu kritisch bereits E. Menzel (Fn. 23), 179 (195 ff.) m. w. N.; S. Magiera (Fn. 22), 248 f.; vgl. aber BVerfGE 68, 1 (84 ff.). 27a R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 18 ff., 56 ff., 67 ff.

I. Das

eatprinzip

49

stellt 2 8 . Er versteht darunter die Stiftung politischer Einheit durch die Verbindung der in der „Wirklichkeit menschlichen Lebens bestehenden Vielfalt der Interessen, Bestrebungen und Verhaltensweisen zu einheitlichem Handeln und Wirken" 2 9 . Integration, nach Hesse ein Prozeß ständiger Erneuerung, bei dem Gegensätze und Konflikte nicht ignoriert werden dürfen, leistet das Parlament unter anderem durch die Gesetzgebung30. Integration ist aber auch eine prae- und praeterlegislatorische Aufgabe der Volksvertretung, der es als „Forum der Nation" nachkommt. Diese nach Bagehot „expressive" Funktion gibt dem Parlament auf, sich mit allen wichtigen politischen Fragen zu befassen, sich zu informieren, zu artikulieren und Stellung zu beziehen 31 . Die Abgeordneten des Bundestages spiegeln zwar nicht die Bevölkerungsstruktur wider, doch sie „repräsentieren" als Mehrheit und Opposition eine Pluralität von gesellschaftlichen Gruppen und Interessen. Die Äußerungen des Parlamentes sind deshalb nicht auf einen harmonisch klingenden Chor, sondern auf Dissonanzen und Kontroversen hin angelegt, in An-, Aus- und Rücksprache mit den Bürgern 32 . Die Forum-Funktion ist als Vorbereitung und Begleitung der Gesetzgebungstätigkeit im engeren Sinne unverzichtbar, sollen Gesetzgebungsprozesse nicht zu formalisierten Ritualen ohne Überzeugungskraft erstarren. Defizite in dieser Hinsicht sind in der Verfassungswirklichkeit unverkennbar. An die Stelle großer Debatten ist die Wiedergabe von in Parteigremien festgelegten Sprachregelungen getreten, die Arbeitsüberlastung der Abgeordneten tut ein übriges. Überlegungen zu einer Reform der Parlamentsarbeit 33 zielen denn auch darauf ab, ein Stück Parlamentarismus zurückzugewinnen - in der richtigen Erkenntnis, daß die expressive Funktion als Anspruch der Verfassung bestehen bleibt, dessen mangelnde Einlösung nicht als „Verfassungswandel" hingenommen, sondern als Defizit empfunden wird und Parlamentsverdrossenheit bewirkt 3 4 .

28 K. Hesse (Fn. 3), Rz. 5 ff. 29 K. Hesse (Fn. 3), Rz. 6. 30 Ebd., Rz. 7: Hesse w i l l mit diesem Hinweis dem Einwand begegnen, seine Lehre beruhe auf einem überzogenen Harmoniedenken; dazu D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, 47 ff. 31 Vgl. nur K. Stern (Fn. 3), 1006 ff.; E. W. Böckenförde (Fn. 10), 319. 32 H. Meyer (Fn. 10), 99 spricht in diesem Zusammenhang von der „Umsetzungsfunktion"; E. Stein, Staatsrecht, 95 von der „Rückkopplungsfunktion" des Parlaments; s. auch BVerfGE 20, 56 (98). 33 Die gegenwärtig vor allem aus der Mitte des Parlaments kommen, so durch die von der Abgeordneten Hamm-Brücher geleitete interfraktionelle Arbeitsgruppe, s. dazu BT Drucks. 10/1983. 34 Vgl. nur K. Stern, 1007 m. Nw. 4 Hermes

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG 3. Demokratische LegitimationsVermittlung durch das Parlament

Die oben allgemein beschriebenen 35 verfassungsrechtlichen Legitimationsmechanismen sind im folgenden im Hinblick auf das Parlament - in Abgrenzung zur Regierung - zu konkretisieren. a) Personale Legitimation In der Ordnung des Grundgesetzes, das bewußt auf Elemente einer Präsidialverfassung verzichtet hat, wird allein das Parlament direkt vom Volk gewählt und damit unmittelbar personal legitimiert. Die Wahl zum Bundestag bewirkt einen Legitimationsschub 36 . Das Parlament steht damit dem „Legitimitätssubjekt" - dem Volk - am nächsten, und zwar nicht nur als Institution, sondern auch durch seine Mitglieder als Personen 37. Die personale Legitimation der Bundestagsabgeordneten findet Absicherung ferner in Art. 38 I 2 GG, wonach die Abgeordneten an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Personale Legitimation ist ferner eine Form von Legitimation durch Partizipation, insofern das Volk über die personale Zusammensetzung von Organen entscheidet. Der Entscheidung der Bürger gehen indessen die Verfahren der Kandidatenaufstellung und Listenplacierung voraus, die von den Parteien bestimmt werden. Nicht die Abgeordneten, sondern die Parteien stehen zur Wahl, wird daher argumentiert; die repräsentative Demokratie sei in eine Parteiendemokratie umfunktioniert worden 38 . M i t Magiera ist dagegen einzuwenden, daß das parteigeprägte Wahlverfahren eher aus sich gegenseitig ergänzenden als aus einander widersprechenden Elementen besteht. Denn die Parteien tragen durch ihre Programme, Leistungen in der Vergangenheit und durch die Spitzenkandidaten, die zusammen genommen einen politischen Rahmen für die einzelnen Kandidaten bilden, dazu bei, dem Wähler die Auswahl zwischen den Bewerbern für die Mandate zu erleichtern. Es treten also personale und sachinhaltliche Merkmale zusammen 39 . Voraussetzung ist allerdings, daß die Verfahren der parteiinternen Kandidatenaufstellung ihrerseits demokratisch geprägt und nicht nur von den Führungsspitzen manipuliert sind. 35

s. o., 2. Teil, III. Vgl. BVerfGE 44, 125 (139); vgl. auch M. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, W D S t R L 29 (1971), 46 (63): „Die regelmäßig wiederkehrende Wahl des Bundestages und der Landtage ist der Kern der demokratischen Legitimation". Vgl. S. Magiera (Fn. 22), 103. 38 s. dazu H. P. Schneider, Entscheidungsdefizite der Parlamente, AöR 1980, 4 ff.; N. Achterberg, Parlamentsrecht, 82 ff.; G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 104 ff. 39 Vgl. S. Magiera (Fn. 22), 105; s. dazu auch Th. Oppermann (Fn. 10), 46. 36

I. Das Demokratieprinzip

51

Die Regierung ist gegenüber dem Volk personal nur mittelbar legitimiert; sie leitet ihre personale Legitimität vom Parlament her. In aller Regel sind die Regierungsmitglieder auch (und zwar zunächst) gewählte Bundestagsabgeordnete. Mittelbar empfängt auch die oberste Gerichtsbarkeit personale Legitimation. Die obersten Bundesrichter werden von Bundestag und Bundesrat gewählt (Art. 94 I GG); die Richter der obersten Bundesgerichte werden vom Bundesminister der Justiz gemeinsam mit dem Richterwahlausschuß, in dem Bundesabgeordnete vertreten sind, berufen (Art. 95 I I GG) 3 9 a . Die Regierung sucht darüber hinaus personale Legitimation unmittelbar aus den Parlamentswahlen zu gewinnen, wenn sie sich als personelle Alternative, als Kanzler oder als Regierungsmannschaft dem Wähler präsentiert. Dies kann soweit gehen, daß in der Parlamentswahl eine Regierungswahl gesehen und die Wahl des Kanzlers durch das Parlament zu einer formellen Bestätigung zurückgestuft wird 4 0 . Dagegen steht zwar Art. 67 GG, wonach der Bundestag während der Legislaturperiode den Bundeskanzler durch die Wahl eines Nachfolgers absetzen kann. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht diese Norm in gewisser Weise relativiert. In seinem Urteil zur Bundestagsauflösung und Neuwahl führte der Zweite Senat aus, der Bürger habe bei der Bundestagswahl das Gefühl, über die Person des künftigen Bundeskanzlers zu entscheiden: „Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, daß ein gemäß Art. 67 GG ins Amt berufener Bundeskanzler sich mit einem Glaubwürdigkeitsdefizit behaftet fühlen mag, das seine Amtsautorität mindert. Skepsis in der Bevölkerung allgemein könnte durchschlagen bis in den Kreis der eigenen organisierten Anhängerschaft und durch den Ruf eines Kanzlers zweiter Güte die politische Handlungsfreiheit lähmen" 4 1 .

Unter diesen Umständen, fuhr das Gericht fort, sei die Entscheidung (des Bundespräsidenten) für die vorzeitige Auflösung des Bundestages verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Diese Begründung, mit der zwei Richter des Senats nicht einverstanden waren, ist auf erhebliche K r i t i k in der Lehre gestoßen42. Im übrigen ließe sich fragen, ob durch den Regierungswechsel nicht vielmehr die Abgeordneten einer bestimmten Partei ein Glaubwürdigkeitsdefizit empfunden haben 43 . Die Position des Parlamentes 39a Zur demokratischen Legitimation der Bundesverfassungsrichter s. F. Schuppert (Fn. 27), 213. 40 Vgl. Th. Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 263 ff. 41 BVerfGE 62, 1 (60) m. abweichender Meinung der Richter Zeidler, Rinck und Rottmann. 42 Vgl. nur J. Delbrück/R. Wolfrum, Die Auflösung des neunten Deutschen Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht, JuS 1983, 758 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 351 f. m. w. N. 43 s. dazu die Überlegungen Th. Oppermanns (Fn. 10), 53 zum sog. generellen Mandat.

4'

52

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

als einzigem Mittler personaler Legitimation zwischen den Bürgern und den anderen Staatsorganen, in bewußter Abkehr von der Stellung des Reichstags, wird durch das Bundestagsauflösungsurteil des Bundesverfassungsgerichts im übrigen nicht angetastet. Das Parlament hat gegenüber den anderen Staatsorganen daher einen Vorsprung an personaler Legitimation 4 4 .

b) Demokratische Verfahren

und Mehrheitsprinzip

Die Qualität des demokratisch-parlamentarischen Verfahrens im Unterschied zum Regierungshandeln läßt sich mit Hesse bestimmen als - seinem Anspruch nach - das „eines freien politischen Willensbildungsprozesses, der sich in voller Publizität vollzieht und optimale Berücksichtigung sowie optimalen Ausgleich der unterschiedlichen Bestrebungen verbürgt" 4 5 . Diese Charakterisierung setzt sich aus mehreren Elementen zusammen 46 . (1) Verfahrensbeteiligte Der Bundestag besteht aus den Mitgliedern verschiedener, miteinander konkurrierender Parteien, weist mithin eine heterogene Interessenstruktur auf. Die Parlamentarier sind formal gleichgestellt und unabhängig. Die Exekutive ist hingegen hierarchisch organisiert. Dies bedingt - zumindest nach außen hin - eine homogene Interessenstruktur. (2) Öffentlichkeit Parlamentarische Verfahren laufen öffentlich ab. Entscheidungen sind in öffentlicher Plenardebatte (Art. 42 I 1 GG) zu begründen, werden dort „attackiert, modifiziert und verteidigt, kontrolliert und verantwortet" 4 7 . Darin liegt die „Transparenzleistung" der parlamentarischen Regierungsweise, die verlangt, daß der gesamte Willensbildungsprozeß für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird. Denn dies ist die einzig wirksame Kontrolle: Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht 44

In diesem Sinne auch H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 77, 82 f. K. Hesse (Fn. 3), Rz. 504. 46 Zum folgenden instruktiv: W. Graf Vitzthum, Parlament und Planung, 232 ff.; zum parlamentarischen Verfahren s. auch G. Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, 256 ff.; C. E. Eberle (Fn. 9), 489 m. w. N.; W. Brohm, Staatliche Verwaltung als eigenständige Gewalt und die Grenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVB1 1986, 321 (329 f.). 47 So einprägsam W. Graf Vitzthum (Fn. 46), 232; vgl. auch Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 161 ff. 45

I. Das

eatprinzip

53

möglich 48 . Die legitimierende Funktion von Öffentlichkeit ist eine doppelte. Erstens w i r d der Entscheidungsprozeß nachvollziehbar für den politisch interessierten Bürger, er sieht sich nicht einer Entscheidung gegenüber, die aus einer „black box" zu kommen scheint. Zweitens steht die Entscheidungsfindung unter dem Einfluß und dem Druck der öffentlichen Meinung, muß dieser gegenüber begründet und gerechtfertigt werden. An der Bildung der öffentlichen Meinung sind die Bürger beteiligt, sie nehmen Einfluß auf die politische Willensbildung; auf diese Weise wird Legitimation durch Partizipation erzeugt 49 . Dem steht nicht entgegen, daß Ausschußberatungen in der Regel nicht öffentlich sind. Diese Regelung erleichtert die Erzielung von Konsens und Kompromissen und fördert damit das Verfahren insgesamt. Die Öffentlichkeit w i r d im übrigen mit der Rückgabe der Sache an das Bundestagsplenum gleichsam rückwirkend wieder hergestellt, denn über das Ergebnis der Ausschußberatungen wird öffentlich berichtet, einschließlich der Wiedergabe von Minderheitsmeinungen 50 . (3) Formalisiertes und rationales Verfahren Zahlreiche parlamentarische Verfahrensschritte und -bedingungen sind formalisiert. Dies gilt insbesondere für das Procedere bei der Gesetzgebung mit jeweils mehreren „Lesungen". Die Partizipation der Abgeordneten bzw. der Fraktionen an den Debatten ist durch die gleichmäßige Verteilung der Redezeit gesichert. Bestimmte Mindest- und Höchstfristen sind zu beachten^. Diese formalen Vorschriften bezwecken die Sicherung inhaltlicher Offenheit des Entscheidungsprozesses. Alle relevanten Sachargumente sollen eingeführt, gründlich und nachvollziehbar begründet und diskutiert werden. Alle Auffassungen sollen Gehör finden und im Lichte der Information, der Logik, der Sachkunde und der Erfahrung kritisch überprüft werden 52 . Mit einem Wort: das Verfahren erhebt den Anspruch, rational zu sein. Die Rationalität des Verfahrens soll die Rationalität des Ergebnisses, die inhaltliche Qualität der Entscheidung fördern 53 . Demgegenüber sind die Verfahren im Bereich der Regierung formal weniger gebunden, aber auch inhaltlich weniger offen (da durch Zielvorgaben der Exekutivspitze mehr eingegrenzt). In der Ministerialverwaltung sind die Verfahrensabläufe, etwa bei Gesetzesinitiativen, wohl streng formalisiert, allerdings immer im Rahmen 48

BVerfGE 40, 296 (327). s. W. Graf Vitzthum (Fn. 46), 235; G. Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, 1313 (1315). 50 s. Chr. Starck (Fn. 47), 162. si Vgl. BVerfGE 10, 4, 12 ff.; 60, 374 (380 f.) 52 So W. Graf Vitzthum (Fn. 46), 238. 53 So Chr. Starck (Fn. 47), 160. 49

54

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

der politischen Zielvorgaben. Eine prinzipielle Offenheit des Entscheidungsergebnisses besteht - anders als bei dem parlamentarischen Verfahren - nicht. (4) Mehrheitsprinzip Das parlamentarische Verfahren endet mit einer Mehrheitsentscheidung. Auf die spezifische Legitimation der Mehrheitsregel ist bereits eingegangen worden. Ihre Anwendung setzt im übrigen „die Bereitschaft zu Toleranz, zu Verhandlung und Kompromiß, zu Adaption und Koordination voraus" 54 , denn anders w i r d eine tragfähige parlamentarische Mehrheit kaum Zustandekommen. Im Bereich der Regierung w i r d das Mehrheitsprinzip, wenn auch in geringerem Umfang, zwar ebenfalls angewandt, etwa bei Kabinettsentscheidungen im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern (Art. 63, 3 GG). Im übrigen bestimmt aber der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik (Kanzlerprinzip, Art. 63, 1 GG), und die Bundesminister leiten ihre Geschäftsbereiche in eigener Verantwortung (Ressortprinzip, Art. 65, 2 GG). 4. Folgerungen

Die Funktionen des Parlaments begründen in ihrer Gesamtschau einen sachlich umfassenden Zuständigkeitsbereich des Parlaments 55 , denn Integration und Staatsleitung dulden nicht die Ausklammerung bestimmter Materien. Das Bundesverfassungsgericht hat freilich die politisch bedeutsamen Eigenzuständigkeiten der Exekutive, namentlich Art. 65 (Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers), 59 (außenpolitische Entscheidungen), 68 (Auflösung des Bundestages) und 81 GG (Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes) betont, die durch eine aus dem demokratischen Prinzip begründete umfassende Parlamentszuständigkeit nicht überspielt werden könnten 56 . Zutreffend daran ist, daß der Exekutive wichtige Kompetenzen zustehen; die angeführten Artikel des Grundgesetzes tragen jedoch nicht den Schluß, das Parlament sei von der Beteiligung an bestimmten materiellen Entscheidungen ausgeschlossen. Art. 68 und 81 GG sind Organisations- und Verfahrensnormen, die der Bewältigung von politischen Ausnahmekonstellationen im Verhältnis Exekutive-Parlament dienen. Art. 65 GG regelt seiner syste54

s. W. Graf Vitzthum (Fn. 46), 239. In diesem Sinne auch W. Graf Vitzthum (Fn. 46), 230: „einzigartige verfassungsrechtliche Position der Volksvertretung"; K. Hesse (Fn. 3), Rz. 572: „alle diese Einzelkompetenzen sind nur Bestandteile der verfassungsmäßig vorausgesetzten, aber nicht vollständig umschriebenen Gesamtaufgabe demokratischer Gesamtleitung, Willensbildung und Kontrolle, deren Wahrnehmung Sache des Bundestages ist". 56 BVerfGE 49, 89 (124 ff.) - Kalkar; zustimmend E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 389; F. Ossenbühl (Fn. 8), 197; H. U. Erichsen (Fn. 5), 116. 55

II. Das Rechtsstaatsprinzip

55

matischen Stellung nach primär die Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Exekutivspitze 57 , schließt aber (vorbehaltlich exklusiver Kompetenzzuweisungen) a priori ebensowenig wie Art. 59 GG die maßgebliche Beteiligung (nicht die Dominanz) des Parlaments an allen materiell wichtigen Entscheidungen mit Außenwirkung aus 58 . Diese rechtfertigt sich außerdem aus der unmittelbaren personalen Legitimation des Parlaments und des parlamentarischen Verfahrens, die es insoweit über die Exekutive hinaushebt. Das Bundesverfassungsgericht hebt demgegenüber hervor, auch die Exekutive sei eine verfassungsunmittelbare Institution und institutionell seien alle Gewalten gleichermaßen legitimiert. Institutionelle Legitimation ist, wie oben dargetan wurde, aber ein interpretatorisch und analytisch unergiebiges Kriterium 5 9 , das mit der Zielrichtung verwandt wird, die spezifische personale und prozedurale Legitimation des Parlaments in den Hintergrund zu drängen. Demokratische Legitimität w i r d damit „sehr entschieden zu einem verfassungstranszendenten Prinzip, zu einer verfassungsrechtlich belanglosen Kategorie reduziert" 6 0 , eine Konsequenz, dem der hier vertretene Ansatz zu begegnen sucht. I I . Das Rechtsstaatsprinzip

Das Rechtsstaatsprinzip wird neben oder sogar an Stelle des Demokratieprinzips als sedes materiae des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes angesehen 61 . H. H. Rupp leitet aus dem Rechtsstaatsprinzip einen umfassenden Gesetzesvorbehalt ab 6 2 . Für Rupp ist Rechtsstaat nahezu gleichbedeutend mit Gesetzesstaat: „Die These von der beschränkten Geltung des Gesetzesvorbehaltes führt zu nichts anderem als zur rechtlichen Ungebundenheit der Leistungsverwaltung ... Es geht um die Frage, ob die Verwaltung eine dem Recht unterworfene Gewalt i s t " 6 3 .

Im Zentrum nicht nur der Überlegungen Rupps zu den rechtsstaatlichen Aspekten des Gesetzesvorbehaltes steht weniger das Parlament als handelndes Organ, sondern das Gesetz als Rechtssatz mit seiner dogmatischen 57

s. dazu auch unten, 3. Teil, III. 1. s. dazu näher den Abschnitt über Gewaltenteilung, 3. Teil, III. 2. 59 s. o.; 2. Teil, III. 1.; wie hier auch H. Hofmann (Fn. 44), 79. 60 H. Hofmann (Fn. 44), 79, Fn. 285; K. U. Meyn (Fn. 16), 201, Fn. 78 ff., bezeichnet die Argumentation des BVerfG mit der institutionellen Legitimation als „semantischen Trick". 61 Das BVerfG stützt den Gesetzesvorbehalt auf das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip, BVerfGE 45, 400 (417); 58, 257 (278); an anderer Stelle nennt es nur das Rechtsstaatsprinzip, E 48, 210 (221) oder „Art. 20 I I I GG": E 40, 237 (248); 49, 89 (126); in der Literatur werden überwiegend beide Prinzipien genannt, s. nur F. Ossenbühl (Fn. 1), 19 m. w. N. 62 H. H. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 113 ff. 63 H. H. Rupp (Fn. 62), 124, 129 (Hervorhebung im Original); s. dazu K. Stern (Fn. 3), 808. 58

56

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

Struktur und seinem Rang in der Normenhierarchie. Der „Herrschaft des Parlaments" wird die „Herrschaft des Gesetzes" gegenüber gestellt 64 . 1. Zum Begriff des Rechtsstaatsprinzips

Der Ausdruck „Rechtsstaat" ist eine spezifische deutsche Wortprägung, der seine juristischen Konturen durch den Konstitutionalismus und Liberalismus des 19. Jahrhunderts erhielt 65 . Ohne die historischen Quellen zu verleugnen, hat Rechtsstaat als Verfassungsgrundsatz aber eine spezifische Ausprägung durch das Grundgesetz erfahren 66 . Stern hat mit seiner Definition die Lehre weitgehend hinter sich: „Rechtsstaatlichkeit bedeutet, daß die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig i s t " 6 7 .

Damit ist das Rechtsstaatsprinzip ein außergewöhnlich vielseitiges, ganz unterschiedliche verfassungsrechtliche Aspekte zusammenfassendes Rechtsprinzip 6 8 . Die Aspekte oder „Elemente" 6 9 der Rechtsstaatlichkeit, die überwiegend in den „Ausführungsbestimmungen" 70 dieses fundamentalen Grundsatzes zu finden sind, verleihen ihm insgesamt Kontur 7 1 . Gegen die herrschende Begründung des Rechtsstaatsprinzips wendet sich Kunig 72. Er kritisiert die „Formelhaftigkeit" des Umgangs mit dem Rechtsstaatsprinzip 73 , dessen postulierter „hoher Rang" eher geignet sei, die Aussagen konkreter Verfassungsnormen zu verwischen, als klärend zu wirken 7 4 . Rechtsstaatlichkeit sieht Kunig demgegenüber allein in den positiven Bestimmungen des Grundgesetzes, namentlich den Grundrechten verwirk-

64 s. M. Kloepfer (Fn. 1), 685; vgl. auch F. Rottmann, Der Vorbehalt des Gesetzes und die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, EuGRZ 1985, 277 (293 ff.); Chr. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, 477 ff. 65 s. dazu R. Dreier, Der Rechtsstaat im Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht, JZ 1985, 353 (353); K. Stern (Fn. 3), 764 ff. 66 Vgl. BVerfGE 7, 89 (92 ff.); 52, 131 (144 f.). 67 K. Stern (Fn. 3), 781 m. zahlreichen Nachweisen in Fn. 14. 68 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VII, Rz. 3. 69 K. Stern (Fn. 3), 784; s. K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 7 (9) m. w. N. zu den verschiedenen Katalogen von „Elementen", „Grundpostulaten" und „Folgerungen", die dem Rechtsstaatsprinzip entnommen werden. 70 Begriff von R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 I, Rz. 27. 71 Vgl. K. Stern (Fn. 3), 783; U. Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaates in Deutschland, in: „Staatstheorie und Staatsrecht", Gesammelte Schriften, 208 ff.; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VII, Rz. 21. 72 Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. 73 Ph. Kunig (Fn. 72), 233 ff. 74 Ph. Kunig (Fn. 72), 258, 259 ff.

II. Das Rechtsstaatsprinzip

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licht, die das Rechtsstaatsprinzip bündelnd bezeichne; ein Mehr als seine konkreten Ausformungen enthalte es nicht 7 5 . Auf die Konsequenzen der Lehre Kunigs für den Gesetzesvorbehalt wird zurückzukommen sein 76 , zunächst ist bei der zentralen konkreten Ausformung von Rechtsstaatlichkeit bzw. einem „Element" des Rechtsstaatsprinzips, nämlich Art. 20 I I I GG, anzusetzen, der lautet: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden".

Der erste Halbsatz begründet - über seinen Wortlaut hinaus - die Verfassungsbindung aller Gewalten 77 , der zweite Halbsatz die „Rechtsgebundenheit" der Exekutive und der Legislative. Die Formel „Gesetz und Recht" ist nicht als Tautologie zu verstehen 78 . Sie „hält vielmehr das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken" 79 . Das Gesetz ist also nicht schon deshalb „Recht", weil es formell rechtmäßig zustande gekommen ist, es muß auch inhaltliche Voraussetzungen erfüllen, nämlich der materiellen Gerechtigkeit entsprechen 80 . Mit der Formel „Gesetz und Recht" bekennt sich das Grundgesetz zum materiellen Rechtsstaat 81 . 2. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung - Das Gesetz als Garant für Freiheit, Gleichheit und Rechtssicherheit

Kernstück der Rechtsstaatlichkeit ist die Bindung der Zweiten (und Dritten) Gewalt an das Gesetz, auch bezeichnet als Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 82 . Dem Gesetz ist damit durch Art. 20 I I I GG ein exzeptioneller Rang eingeräumt - ganz im Sinne der deutschen staatsrechtlichen Tradition - , der pointiert zum Ausdruck gebracht wird mit dem Satz: Rechtsstaat ist gleich Gesetzesstaat83. Aus der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung folgt zunächst, daß die Verwaltung nicht gegen Gesetze84 verstoßen ™ Ph. Kunig (Fn. 72), 463. 76 s. unten, 3. Teil, IV. 4.; im folgenden wird an der traditionellen Begrifflichkeit festgehalten. 77 Vgl. nur R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VI, Rz. 1. 78 So aber F. E. Schnapp, in: I. v. Münch, GGK, Art. 20, Rz. 36; zu den Interpretationsproblemen im Zusammenhang mit dieser Formel s. R. Dreier (Fn. 65), 354 ff.; G. Roellecke und Chr. Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, W D S t R L 34 (1976), 7 ff. bzw. 93 ff. 79 BVerfGE 34, 269 (286); zustimmend K. Stern (Fn. 3), 799 m. w. N. so K. Stern (Fn. 3), 799. 81 Vgl. E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel (Fn. 20), 477 (479 ff.). 82 Vgl. bereits C. Schmitt, Verfassungslehre, 130 f. 83 s. dazu K. Stern (Fn. 3), 771; Ph. Kunig (Fn. 72), 21 ff. 84 „Gesetz" ist hier nicht nur im formellen Sinne zu verstehen, denn die Verwaltung ist auch an Rechtsverordnungen gebunden, s. K. Stern (Fn. 3), 803.

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

darf. Dieser Vorrang des Gesetzes wird auch als „negative Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" bezeichnet. Das Gesetz hat damit die Eigenschaft, staatliche Willensäußerungen niedrigeren Ranges, insbesondere Verwaltungsakte und Allgemeinverfügungen, rechtlich zu hindern oder zu zerstören, wo ein Widerspruch zwischen dem Gesetz und der Willensäußerung niedrigeren Ranges besteht 85 . Das Gesetz kann selbst nur durch ein Gesetz geändert oder aufgehoben werden. Der rechtsstaatliche Gesetzesvorbehalt besagt, daß Exekutivakte der Ermächtigung in einem Gesetz bedürfen 86 . Er wird in Art. 20 I I I GG vorausgesetzt, weil ansonsten offenbliebe, in welchem Umfang die vollziehende Gewalt gebunden wäre, und der Vorrang seinen Sinn verlöre 87 . Der Gesetzesvorbehalt steckt mithin den Bereich der Gesetzesherrschaft bzw. gesetzesakzessorischen Herrschaft positiv ab, expressiv verbis im Grundgesetz vor allem hinsichtlich Eingriffen in Grundrechte und in den staatsorganisationsrechtlichen Vorbehalten. Der Gesetzesvorbehalt wird daher als „positive Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" bezeichnet 88 . Soweit der Gesetzesvorbehalt gilt, erfährt die Herrschaft des Gesetzes eine Sicherung gegen Aushöhlung durch die Bedingung, daß gesetzliche Ermächtigungen bestimmten Anforderungen zu genügen haben, nämlich nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sind. Diese Anforderungen leitete das Bundesverfassungsgericht zunächst unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip ab 8 9 . Später zieht es zur Begründung auch Art. 80 GG heran. Diese Norm stellt das Bestimmtheitspostulat zwar nach seinem Wortlaut nur für bundesgesetzliche Verordnungsermächtigungen auf, wird aber als verallgemeinerungsfähiger Rechtsgrundsatz angesehen, der für alle gesetzliche Ermächtigungen einschließlich der von Landesgesetzgebern Geltung beansprucht 90 . Globalermächtigungen durch Blankettnormen sind daher nicht mehr 9 1 zulässig. Materiell „aufgeladen" w i r d der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit durch seine Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken: Gesetze sollen freiheits- und gleichheitssichemd wirken. Die Legislative ist daher an die Grundrechte gebunden, wie Art. 1 I I I GG eigens hervorhebt (zusätzlich zu Art. 20 I I I GG: Aus der dort bestimmten Verfassungsbindung der gesetzgebenden Gewalt folgt nämlich auch die Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte).

es BVerfGE 40, 237 (247). se Vgl. nur H. J. Wolff/ Ο. Bachof, Verwaltungsrecht, Bd. 1, 184. 87 Vgl. K. Hesse (Fn. 3), Rz. 201; vgl. auch K. Stern (Fn. 3), 805; BVerfGE 40, 237 (248 f.). 88 K. Stern (Fn. 3), 805; Chr. Starch (Fn. 47), 288. 89 BVerfGE 8, 274 (325 f.). 9° s. nur BVerfGE 58, 257 (277). 91 Anders noch unter der Weimarer Reichsverfassung, s. dazu D. Jesch (Fn. 7), 153 f.

II. Das Rechtsstaatsprinzip

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Gesetze sollen die Grundrechte darüber hinaus auch sichern und ausgestalten (konkretisieren) 92 . Zwar äußert sich der Staatswille in vielfältiger Form; das Gesetz ist nur eine dieser Möglichkeiten. Dem Gesetz kommt jedoch eine Sonderstellung von seinen Funktionen und seiner Stellung in der Normenhierarchie her zu. Die Besonderheiten des Gesetzes sind (auch) auf weitere „Elemente" 9 3 des Rechtsstaatsprinzips bezogen und lassen sich durch deren Analyse erschließen. a) Gleichheit Das Gesetz ist seit jeher als eine allgemeine, nicht nur einzelne Sachverhalte und Personen betreffende Regelung verstanden worden. Die Allgemeinheit des Gesetzes als solche soll Gerechtigkeit sichern und die willkürliche Diskriminierung oder Privilegierung einzelner verhindern 94 und auf diese Weise der Sicherung des Grundrechts aus Art. 3 I GG dienen. „Allgemeinheit" wird allerdings nicht mehr als konstituierendes Merkmal von „Gesetz" angesehen; Einzelfall- bzw. sog. Maßnahmegesetze sind nicht generell unzulässig 95 . Aber das Verbot der Einzelfallgesetzgebung gilt immerhin noch gem. Art. 19 I 1 GG für Grundrechtsbeschränkungen. Für Gesetze, die nicht dem Art. 1911 GG unterfallen, gilt das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 3 I GG 9 6 . Deshalb sind es wohl mehr als nur „Reste des Gedankens der Gerechtigkeitssicherung durch normative Allgemeinheit" 9 7 , die auch heute noch das Bild des Gesetzes prägen. Auch die sog. Maßnahmegesetze mögen zwar die Regelung einzelner Sachverhalte zum Gegenstand haben, meistens sind sie aber in dem Sinne als „allgemein" anzusehen, als sie mehrere oder eine Vielzahl von Personen direkt oder indirekt betreffen können und/oder eine grundsätzliche Frage entscheiden mit entsprechender Wirkung für die Zukunft 9 8 .

92 s. dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 180 ff.; W. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), 7 (30 ff.); W. Krebs, Zum aktuellen Stand der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes, JURA 1979, 304 (309 f.). 93 Beziehungsweise im Sinne Ph. Kunigs: Konkrete Ausformungen. 94 s. dazu M. Kloepfer (Fn. 1), 693; F. Rottmann (Fn. 64), 293; E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 78 ff. sowie unten, 5. Teil, III. 1. 95 BVerfGE 10, 234 (246 ff.); 25, 371 (396); 36, 383 (400); s. dazu R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 19 I, Rz. 5, 25 ff. 96 s. ausführlich R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 191, Rz. 9. 97 So aber M. Kloepfer (Fn. 1), 685. 98 Dies ist allerdings nicht unstreitig; s. zur Bedeutung des Art. 19 I 1 einerseits K. Hesse (Fn. 3), Rz. 330: „die Vorschrift besitzt praktisch keine Bedeutung", und R. Herzog, i n Maunz/Dürig, Art. 19 1, Rz. 3, 13 ff. andererseits, für den Art. 19 1 eine Norm von zentraler Bedeutung darstellt.

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

b) Freiheit Der Sicherung von Freiheit dient der rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot), der für alle staatlichen Gewalten gleichermaßen g i l t " , sich aber insbesondere an den Gesetzgeber richtet: „Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt (...), daß der Einzelne vor unnötigen Eingriffen der Öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt; ist ein solcher Eingriff i n Gestalt eines gesetzlichen Gebots oder Verbots aber unerläßlich, so müssen seine Voraussetzungen möglichst klar und für den Bürger erkennbar umschrieben werden (BVerfGE 9, 137 (147, 149)). Je mehr dabei der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden" 1 0 0 .

Aus dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht - in Verbindung mit der Auslegung des Art. 80 I GG durch das Gericht - hervor, daß der Gesetzgeber die Leitlinien, die wesentlichen Tatbestände, aus denen sich die Grundrechtseinschränkung ergibt, selbst zu bestimmen hat 1 0 1 . Er darf die zur Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderliche Güterabwägung nicht gänzlich auf die vollziehende Gewalt abwälzen 102 . c) Rechtssicherheit Das Prinzip der Rechtssicherheit zielt zunächst auf einen Vertrauensschutz des Bürgers, wenn es etwa gewisse rückwirkende belastende Gesetze verbietet 103 . Über diesen besonderen Aspekt hinaus ist der Schutz des Vertrauens des Bürgers in die Kontinuität und Konsequenz staatlichen Handelns als allgemeiner verfassungsrechtlicher Rechtsgrundsatz anerkannt 104 . Die Kontinuität und Transparenz des Gesetzes ist dabei höher zu veranschlagen als bei anderen staatlichen Entscheidungen. Dies ist bedingt zum einen durch die relative Langwierigkeit und Schwerfälligkeit des Gesetzge99 s. dazu grundlegend P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit, insbesondere 19 ff., 134 ff.; BVerfGE 17, 306 (313 f.); 30, 292 (316 f.), ständige Rechtsprechung; s. die umfassenden Nw. bei Ph. Kunig (Fn. 72), 195 ff. Kunig selbst sieht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht im Rechtsstaatsprinzip, sondern in den Grundrechten angelegt (354 ff.). 100 BVerfGE 17, 306 (313 f.). 101 Vgl. BVerfGE 7, 282 (302); 14, 174 (185 f.); 63, 88 (111); zu Art. 80 s. unten, 5. Teil, III. 2. 102 Dies ist eine Kernaussage der frühen Wesentlichkeitsrechtsprechung, s. etwa BVerfGE 33, 125 (158); vgl. auch K. Stern (Fn. 3), 807 m. Nw. aus der Literatur. loa vgl. BVerfGE 21,117 (131 ff.); 30, 342 (401) zur sog. echten Rückwirkung, und E 48, 403 (415) zur unechten Rückwirkung, s. dazu Th. Würtenberger (Fn. 40), 341; Ph. Kunig (Fn. 72), 208 ff. 104 vgl. Th. Würtenberger (Fn. 40), 366; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VII, Rz. 57 ff. spricht in diesem Zusammenhang von dem Grundsatz der Verläßlichkeit staatlichen Handelns.

II. Das Rechtsstaatsprinzip

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bungsprozesses, dessen Phasen gleichwohl - zumindest prinzipiell - transparent, weil öffentlich, ablaufen 105 . Ist eine Entscheidung als Gesetz erst einmal gefallen, so hat sie die Vermutung ihrer Bestandskraft über einen absehbaren Zeitraum für sich. Das Gesetz kann nur revidiert oder modifiziert werden durch eine Norm gleicher Rangstufe, ein anderes Gesetz. Dagegen können Entscheidungen der Exekutive geändert werden durch andere Exekutivakte und durch Gesetz. Gesetze bieten so einen Orientierungsrahmen für den Bürger, ermöglichen ihm, staatliches - gesetzeskonformes Handeln in etwa vorherzusehen. Ein zusätzliches Maß an Rechtssicherheit durch Gesetze besteht, soweit der Gesetzgeber an die von ihm selbst statuierte Sachgesetzlichkeit 106 gebunden ist im Sinne einer durchgängigen und willkürfreien Berücksichtigimg einmal vorgenommener gesetzlicher Bewertungen 107 . Inwieweit ein Vertrauen des Bürgers in die „Systemgerechtigkeit" zukünftiger gesetzlicher Regelungen - oder auch in den Fortbestand geltender Gesetze - im einzelnen schutzwürdig sein kann, ist allerdings noch ungeklärt. Das Bundesverfassungsgericht hält sich hier noch zurück: die Systemwidrigkeit einer gesetzlichen Regelung allein verstoße nicht gegen die Verfassung 108 . 3. Rechtsstaatliche Legitimität und Gesetz

a) Legitimation

durch das Gesetz

Das formell und materiell verfassungsmäßig zustandegekommene Gesetz bezieht seine Legitimität zunächst aus der Verfassung selbst. Seinerseits legitimiert das Gesetz die Akte der gesetzesakzessorischen Verwaltung (und die der Dritten Gewalt); d. h. die Verwaltung wird ihre Entscheidungen unter anderem dadurch legitimieren können, daß sie auf deren Gesetzeskonformität verweist. Mittelbar durch das Gesetz legitimiert so die Verfassung Verwaltungsentscheidungen. Akte der Exekutive sind im übrigen auch unmittelbar an die Verfassung gebunden (etwa an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) und schöpfen damit auch Legitimität aus dieser 109 . Der Legitimationsstrang Grundgesetz - Verwaltung ist damit in der Regel ein doppelter. Die Bedeutung des Gesetzes erschöpft sich indes nicht in der Funktion eines legitimatorischen Bindeglieds. Legitimationsleistungen 105

s. dazu Chr. Starck (Fn. 47), 161, 169 ff. s. BVerfGE 13, 331 (340); 34, 103 (115); 45, 363 (375) bezogen auf den strafprozessualen Instanzenzug; 59, 36 (49). 107 s. K. Stern (Fn. 3), 838 m. Nw. los BVerfGE 59, 36 (59). Die Literatur geht z.T. weiter, s. Th. Würtenberger (Fn. 40), 368; Chr. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat. 109 Wegen Art. 1 I I I GG gilt dies gleichermaßen für die gesetzesakzessorische wie für die nicht gesetzesakzessorische Verwaltung. 106

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

erbringt das (Parlaments-)Gesetz in materieller Hinsicht durch seine Strukturmerkmale der Allgemeinheit und Transparenz, und - vor allem - durch das Produzieren von Rechtssicherheit. Denn Berechenbarkeit und Planmäßigkeit der Machtausübung gehören zu den Grundvoraussetzungen jeder legitimen Staatsgewalt 110 . Wohl trifft es zu, daß die rechtsstaatlichen Forderungen nach Klarheit und Bestimmtheit von Normen nicht beschränkt sind auf die Gesetzgebung durch das Parlament, sondern auch die Rechtsetzung durch die Exekutive betreffen 111 . Das Parlamentsgesetz ist dennoch wegen der langfristigen Festlegung von Zielen und seiner erschwerten Reversibilität prinzipiell geeignet, ein höheres Maß an Rechtssicherheit als an seiner Stelle denkbare Exekutivakte 1 1 2 zu bieten und damit insoweit einen höheren Grad an Legitimation. Nicht nur demokratische, sondern auch rechtsstaatliche Legitimation liefert dabei - seinem Anspruch nach - auch das Gesetzgebungsverfahren, dies vor allem wegen des stark formalisierten Procedere 113 . Darüber hinaus ist für die rechtsstaatliche Legitimation von Gesetzen die Sachqualität der Gesetzgebung maßgeblich 114 . Bei der Sachqualität der Gesetzgebung geht es darum, unter zureichender Berücksichtigung der politischen, sozialen und funktionalen Bedingungen praktikable, an Rechtssicherheit und Gerechtigkeit orientierte Normen zu schaffen 115 . „Sachqualität" in diesem Sinne ist wohl eine Legitimationsgrundlage aller staatlichen Entscheidungen. Besonders wichtig für die Gesetzgebung ist sie aber deshalb, weil Gesetze auf andere, dem Gesetz nachgeordnete staatliche Akte ausstrahlen. Qualitäts- und damit Legitimationsdefizite in Gesetzen können durch gesetzesakzessorische Akte oder Normen nicht oder nur unzureichend kompensiert werden. b) Gefährdungen Nicht zu verkennen ist, daß die Fähigkeit der Gesetzgebung, Rechtssicherheit zu erzeugen und für Sachqualität der Gesetze zu sorgen, derzeit erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist. Damit steht die rechtsstaatliche Legitimation von Gesetzen auf dem Spiel. Die „Leiden" des Gesetzes und der Gesetzgebung sind vielfältig und gut dokumentiert 1 1 6 . Der geläufigste K r i 110

537 ff.

s. die Nw. in Fn. 104 sowie Th. Würtenberger,

Legitimität und Gesetz (Fn. 40),

111 Zur Normenklarheit s. BVerfGE 1, 14 (45); 20, 150 (158 ff.); 45, 400; 65, 1 (34); zur Bestimmtheit BVerfGE 17, 67 (82); 21, 209 (213); vgl. dazu M. Kloepfer (Fn. 1), 691. 112 s. dazu M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 86 f. 113 Vgl. Κ Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 7 (28); Chr. Degenhart (Fn. 64), 479; kritisch Ph. Kunig (Fn. 72), 372. 114 s. dazu K. Eichenberger (Fn. 113), 12 f.; Chr. Degenhart (Fn. 64), 480 f., 483 ff. m. w. N. us κ. Eichenberger (Fn. 113), 12.

II. Das Rechtsstaatsprinzip

63

tikpunkt betrifft die Quantität der Gesetzesproduktion: Normenflut, Gesetzesinflation, überzogene Verrechtlichung aller Lebensbereiche lauten hier die Stichworte 1 1 7 . Die Wirkungen sind Unübersichtlichkeit des Rechtsbestandes und zunehmende Schwierigkeiten, das Recht zu überblicken, befolgen und durchzusetzen 118 . Die Ordnungsfunktion des Rechts gerät in Gefahr. Anstatt das Rechtsbewußtsein zu hegen, wird Rechtsmüdigkeit erzeugt. Die große Quantität der Gesetzgebungstätigkeit bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Qualität der Produkte: verfehlte Normstrukturen, systematische Unkorrektheiten oder Widersprüche, logisch und sachlich unter- oder überproportionierte Festlegungen sind die Folge. Die Bezüge zu materialen Grundwertungen der Verfassung, insbesondere den Grundrechten, geraten aus dem Blick. Der Schwund an präziser Begrifflichkeit, an Klarheit, Einfachheit und Verständlichkeit der Gesetzessprache kommt hinzu. Die Folgen sind, daß Gesetze an Glaubwürdigkeit und an rationaler Steuerungskraft einbüßen 119 . Die „Lagebeurteilung" mag generalisierend und undifferenziert erscheinen - es gibt auch gute bis vorzügliche Gesetze in beachtlicher Z a h l 1 2 0 - , gleichwohl entspricht sie einem weitverbreiteten Bild und ist schon deshalb von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die Legitimität der Gesetzgebung. Die Ursachen dieser Übernormierung sind unterschiedlicher Provenienz 1 2 1 . Die Ausdehnung der Staatsauf gaben, insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge und der Wirtschaftslenkung hat eine Flut von Gesetzen nach sich gezogen. Die Integration der Bundesrepublik in die Europäische Gemeinschaft und darüber hinaus die wachsende internationale Verflechtung machen eine Fülle von Aus- und Durchführungsregelungen erforderlich 1 2 2 . Neben diesen „heteronomen" Einflüssen auf die Gesetzgebung kann aber auch kein Zweifel daran bestehen, daß Defizite der Gesetzgebung bestanden, die ausgeglichen werden mußten. Dies gilt insbesondere für den Bereich der sog. Besonderen Gewaltverhältnisse 123 . Als weitere Ursachen 116 s. nur F. Ossenbühl (Fn. 1), 9 mit umfassenden Nw. und R. Novak , Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 40 (41 ff.); Th. Würtenberger (Fn. 108), 536; Chr. Degenhart (Fn. 64), 481 ff. 117 Die schon aus den Titeln der Publikationen ersichtlich sind, s. z. B. H. Sendler, Normenflut und Richter, ZRP 1979, 227 ff.; J. Isensee, Mehr Recht durch weniger Gesetze, ZRP 1985, 139ff.; weitere Nw. bei F. Ossenbühl (Fn. 1), 9. 118 s. W. Leisner, „Gesetz w i r d Unsinn ..." Grenzen der Sozialgestaltung im Gesetzesstaat, DVB1. 1981, 849 ff. m. Nw., sowie die in Fn. 116 zitierte Literatur. Κ. Eichenberger (Fn. 112), 16. 120 Worauf K. Eichenberger (Fn. 113), 19 hinweist. 121 s. dazu M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat (Fn. 112), 70; Chr. Degenhart (Fn. 64), 482 ff.; W. Leisner (Fn. 118), 853 ff. 122 s. dazu R. Novak (Fn. 116), 57; H. Hill, Impulse zum Erlaß eines Gesetzes, DÖV 1981, 487 ff. 123 Darauf weist insbesondere M. Kloepfer (Fn. 112), 71 ff. m. w. N. hin; vgl. auch F. Ossenbühl (Fn. 116), 11, der fortbestehende Normdefizite aufzeigt.

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

sind personale und prozedurale Defizite der Gesetzgebung zu nennen. Gesetze werden nur zu häufig als kurzfristige politische Instrumente geoder besser mißbraucht 1 2 3 a . Nicht übersehen werden darf auch, daß der große Bestand an ζ. T. sehr speziellen Normen eine Art legislatorischer Kettenreaktion auslöst und aufrecht erhält, denn der Gesetzesbestand muß häufig geändert bzw. angepaßt werden 1 2 3 b . Wenn es gilt, Folgerungen aus dieser Malaise zu ziehen, so herrscht weithin Einigkeit, daß die Gesetzesflut eingedämmt werden müsse. Unter den dafür angebotenen Rezepten rangiert neben Vorschlägen zur Modifizierung des Gesetzgebungsverfahrens 124 die Forderung nach einer Begrenzung des über Gebühr ausgeweiteten Gesetzesvorbehaltes an erster Stelle 125 . Indessen ist die These, die Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts habe maßgeblich zu der Normenflut beigetragen, bei näherem Hinsehen kaum belegbar. Denn zum einen impliziert sie, daß die Gesetzgebungstätigkeit sich ganz oder überwiegend auf die Ausfüllung des Gesetzesvorbehalts beschränkt, während sie sich tatsächlich auch (und gerade) auf die Bereiche fakultativen Zugriffsrechts für den Gesetzgeber erstreckt 126 . Zum anderen hat sich gezeigt, daß vom Parlament freigelassene Regelungsräume alsbald durch administrative oder judikative Rechtserzeugung aufgefüllt werden 1 2 7 . Die K r i t i k an der Gesetzgebung geht aber keineswegs einher mit einer positiven Bewertung der Normsetzung und Entscheidungsabläufe der Verwaltung. Diese weisen vielmehr die gleichen oder ähnliche Schwachstellen auf wie die Gesetzgebung 128 . Beispiele hierfür liefern die Verordnungen und Richtlinien im Schulrecht 129 . Die gefährdete Legitimitätsvermittlung durch Gesetz kann daher nicht oder kaum durch eine Verlagerung der Normsetzung auf die Verwaltung kompensiert werden. Weiterhin bestehen nach wie vor Normdefizite, etwa im Arbeitskampfrecht und im Staatshaftungsrecht 1 3 0 . Namentlich die grundrechtlichen Spezialvorbehalte stehen im

123a

s. dazu näher Chr. Degenhart (Fn. 64), 483. i23b vgl. w. Leisner (Fn. 118), 851: „Ein Gesetz zwingt zum nächsten"; M. Kloepfer (Fn. 112), 81: „Gesetzesänderung als Regelfall des Gesetzes". 124 s. nur Κ Eichenberger (Fn. 113), 23. 12 * Vgl. etwa M. Kloepfer (Fn. 112), 74; J. Isensee (Fn. 117), 139 ff. 126 Das unbestritten vorhanden ist, vgl. nur M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (695); J. Pietzcker, Gesetzesvorrang und Gesetzesvorbehalt, JuS 1979, 710 (712); s. auch Chr. Degenhart (Fn. 64), 483, der die Maßnahmegesetze und die zu stark (politisch) anlaßbezogene Gesetzgebung kritisiert, die einem hohen Änderungsdruck ausgesetzt sei. 127 So mit Recht F. Ossenbühl (Fn. 116), 12. 128 Zwischen Gesetz und Verordnung wird bei den Klagen über die Normenflut ohnehin nicht immer differenziert; s. auch W. Leisner (Fn. 118), 854. 129 s. dazu H. S endler, Gesetzesrecht und Richterrecht im Schulwesen, DVB1 1982, 381 (385 ff.); P. Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzes vorbehält, 18 ff. 30 1 s. F. Ossenbühl (Fn. 1), 11 ff. m. w. Ν.; M. Kloepfer, Arbeitsgesetzgebung und Wesentlichkeitstheorie, NJW 1985, 2497 ff.

II. Das Rechtsstaatsprinzip

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übrigen nicht zur Disposition des Parlaments, sie enthalten auch Verfassungsaufträge 131 . Soweit der Gesetzesvorbehalt danach überhaupt in einen Zusammenhang mit der Normenflut gebracht werden kann, ist zu differenzieren zwischen einer sachlichen oder sektoralen Begrenzung (Beispiel: die Frage eines Gesetzesvorbehalts für Subventionen), also der „Tatbestandsseite" und einer Begrenzung der Regelungsdichte von Vorbehaltsgesetzen, der „Rechtsfolgenseite". Das Problem liegt - tatsächlich und legitimatorisch - auf der Rechtsfolgenseite. Eine zu hohe Regelungsdichte konterkariert nämlich die geforderten Legitimationsleistungen des Gesetzes, denn Rechtssicherheit wird nicht geboten wegen des hohen Änderungsdrucks, und die gleichheitssichernde Allgemeinheit geht verloren. Ein weiteres kommt hinzu. Gesetze bedürfen nach klassischer Auffassung der Vollziehung, d. h. der Konkretisierung durch die Verwaltung 1 3 2 . Konkretisierung ermöglicht die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit und vermittelt dadurch materiale Legitimität. Bei bestimmten Verfahren der Gesetzesvollziehung ist die Möglichkeit der Partizipation für die Bürger gegeben, z. B. durch Anhörung im Bau- und Planungsrecht. Solche Verfahren erhöhen zusätzlich die Legitimität von Entscheidungen. Schließlich sind Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsakte der Kontrolle durch die Gerichte unterworfen. Gerichtliche Überprüfungen von Verwaltungsentscheidungen beeinflussen - in zunehmendem Maße - die Legitimität dieser Entscheidungen 133 . Der Rechtsschutz gegen nachkonstitutionelle Gesetze ist dagegen auf die Kontrolle ihrer Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht beschränkt 134 . Bei zu hoher Regelungsdichte vermag das Gesetz mithin die ihm zukommende rechtsstaatliche legitimatorische Wirkung nicht oder nur eingeschränkt zu entfalten, und zugleich werden die legitimatorischen Leistungen des Gesetzesvollzuges nicht genutzt. Das Rechtsstaatsprinzip ist nach alledem zugleich Quelle und Grenze der Legitimation durch Gesetz.

131 132

(156).

s. die Nw. in Fn. 92. Dazu eingehend H. Maurer, Der Verwaltungsvorbehalt, W D S t R L 43 (1985), 135

133 E. W. Böckenförde sieht die Bundesrepublik aus diesem Grunde auf dem Weg zum Jurisdiktionsstaat, s. ders., Gesetz und Verwaltung, 402. 134 s. aber BVerfGE 70, 35 (54 ff.) zu Hamburgischen Bebauungsplänen, die im Einklang mit der Sonderregelung des § 188 I I 1 BBauG auch in Gesetzesform erlassen werden können, aber gleichwohl der Normenkontrolle gem. § 47 VwGO unterliegen sollen; s. aber die abweichende Meinung des Richters Steinberger, a. a. O., 59 ff.

5 Hermes

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG Π Ι . Gewaltenteilung und allgemeiner Gesetzesvorbehalt

Die mit dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip begründete Ausdehnung des Gesetzes Vorbehaltes, die sich in der frühen Wesentlichkeitsrechtsprechung verwirklichte, wurde alsbald von warnenden Stimmen begleitet, welche die gewaltenteilende Ordnung des Grundgesetzes gefährdet sahen. Bereits 1968 schrieb etwa Ossenbühl: „Die unbestrittene Suprematie des Parlaments in der Verfassungsordnung ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem schrankenlosen Parlamentsabsolutismus. Aus der hegemonialen Position des Parlaments folgt keineswegs eine abhängige, unselbständige,,parlamentshörige' Exekutive. Gegen eine solche Konsequenz steht schon das Prinzip der Gewaltenteilung" 1 3 5 .

Gegen einen „Totalvorbehalt" 1 3 6 des Gesetzes, der einer „KompetenzKompetenz" 1 3 7 oder Kompetenzusurpation gleichkomme, wandte sich auch das Bundesverfassungsgericht im Kalkar-Beschluß 138 , einer Entscheidung, die als Selbstkorrektur des Gerichts begrüßt wurde. Für das Bundesverfassungsgericht ist das Gewaltenteilungsprinzip zum beherrschenden Kriterium für die Abgrenzung des Gesetzesvorbehalts gediehen, wie das Raketenstationierungsurteil belegt 139 . Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Gewaltenteilung ist daher im folgenden kurz nachzuzeichnen. 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gewaltenteilungsgrundsatz

Das Bundesverfassungsgericht geht im dritten Band zum ersten Mal näher auf den Grundsatz der Gewaltenteilung ein 1 4 0 . Dessen Bedeutung liege „ i n der politischen Machtverteilung, dem Ineinandergreifen der drei Gewalten und der daraus resultierenden Mäßigung der Staatsherrschaft". Er sei jedoch nirgends rein verwirklicht. Auch in den Staatsordnungen, die das Prinzip anerkennen, seien gewisse Überschneidungen der Funktionen und Einflußnahmen der einen Gewalt auf die andere gebräuchlich 141 . Der Hinweis auf andere Staatsordnungen läßt darauf schließen, daß das Bundesverfassungsgericht (noch) ein dem GG vorausgesetztes Prinzip der Gewaltenteilung im Sinn hat (eben die „reine" Gewaltenteilung). I n ähnliche Rich135

F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 201. s. K. Stern (Fn. 3), 808; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht, Bd. 3, 196, jeweils m. w. N. 137 Begriff von E. Denninger, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 43 (1985), 203. 138 BVerfGE 49, 89 (126 f.). 139 BVerfGE 68,1 (86 f.): „Die Demokratie, die das Grundgesetz verfaßt hat, ist eine rechtsstaatliche Demokratie, und das bedeutet im Verhältnis der Staatsorgane zueinander vor allem eine gewaltenteilende Demokratie" (Hervorhebung im Original). 140 BVerfGE 3, 225 ff.; s. dazu und zum folgenden B. Sinemus, Der Grundsatz der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 4 1 1 BVerfGE 3, 225 (247). 136

III. Gewaltenteilung und allgemeiner Gesetzes vorbehält

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tung hatte es zuvor tendiert, als es - eher beiläufig - Art. 59 I I GG als eine Ausnahmebefugnis der Legislative bezeichnete 142 . Später präzisierte das Gericht seine Auffassung: Der Grundsatz der Gewaltenteilung sei „allerdings nicht streng durchgeführt. Das Grundgesetz enthält zahlreiche Gewaltenverschränkungen und Balancierungen. Dem Verfassungsaufbau der Bundesrepublik Deutschland entspricht nicht eine absolute Trennung der Gewalten, sondern ihre gegenseitige Kontrolle und Mäßigung" 1 4 3 .

Mit dieser Judikatur lief das Bundesverfassungsgericht Gefahr, die Konturen der Gewaltenteilung gänzlich zu verwischen. Es versuchte, dem durch die Entwicklung der sog. „Kernbereichstheorie" zu begegnen 144 . Danach ist keine der drei Gewalten berechtigt, in den Kernbereich der beiden anderen einzugreifen, und der Gesetzgeber darf sie dazu auch nicht ermächtigen. Damit sei „ausgeschlossen, daß eine der Gewalten die ihr von der Verfassung zugeschriebenen typischen Aufgaben preisgibt", heißt es in einem späteren Beschluß 145 . Wie der „Kern" bzw. die „typischen" Funktionen der Staatsgewalten exakt zu bestimmen seien, bleibt freilich ungewiß. Das Bundesverfassungsgericht hat immerhin versucht, einige Interpretationsrichtlinien zu entwickeln: Keine Funktion dürfe ein von der Verfassung nicht vorgesehenes (sie) Übergewicht erhalten 146 . Verfassungswidrig sei demnach eine Machtzusammenballung bei einem Funktionsträger, der diesem einen „allumfassenden" Vorrang einräume 147 . Das Gericht exemplifizierte die Kernbereichsthese vorrangig an der Rechtsprechungsgewalt 148 . In dem Prüfungsgebührenbeschluß von 1972 faßt das Bundesverfassungsgericht sein Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips und die Kernbereichsthese zusammen, um das Verhältnis zwischen Parlament und Exekutive zu bestimmen: „Für das Verhältnis von Legislative und Exekutive bedeutet dies: Im freiheitlichdemokratischen System des Grundgesetzes fällt dem Parlament als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zu. Nur das Parlament besitzt die demokratische Legitimation zur politischen Leitentscheidung. Zwar billigt das Grundgesetz - wie Art. 80 verdeutlicht - auch eine „abgeleitete" Normsetzung der Exekutive. Die Rechtsetzung der Exekutive kann sich aber nur in einem beschränkten vom Gesetzgeber vorgezeichneten Rahmen vollziehen ... Das Parlament darf sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entziehen, daß es einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht der Exekutive überträgt, ohne dabei genau die Grenzen dieser übertragenen Kompetenzen bedacht und bestimmt !42 BVerfGE 1, 351 (369); 1, 372, 394; s. dazu F. Schuppert (Fn. 27), 49 ff. 143 BVerfGE 7, 183 (188 f.) 144 Zuerst wohl in BVerfGE 9, 268 (279 f.); zustimmend K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 541; s. dazu auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 I, Rz. 115. 14 5 BVerfGE 34, 52 (59). 148 BVerfGE 9, 268 (274 f.); 22, 106 (111); 34, 52 (59). 147 BVerfGE 49, 89 (125). i « BVerfGE 22, 49 (79 f.); 31,145 (175); 48, 246 (262); 56, 54 (80 f.); s. dazu Κ Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 893 ff. m. w. N. 5'

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

zu haben (BVerfGE 1, 14/60). Genügt die Legislative dem nicht, so wird die vom Grundgesetz vorausgesetzte Gewaltenbalancierung im Bereich der Normsetzung einseitig verschoben. Eine pauschale Übertragung normsetzender Gewalt auf die Exekutive ist mit dem Prinzip der Gewaltenteilung unvereinbar" 1 4 9 .

Art. 80 I 2 GG w i r d damit als eine Möglichkeit der Konkretisierung des Gewaltenteilungsprinzips vereinnahmt. Zweifelhaft aber bleibt, inwiefern diese Interpretation tatsächlich aus der zuvor umrissenen Kernbereichstheorie folgt. Wieso soll das Parlament nicht einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht der Exekutive übertragen dürfen, ohne dadurch bereits den „Kern" seiner Normsetzungsbefugnisse preiszugeben? Das Bundesverfassungsgericht scheint sich der Tragfähigkeit seiner Argumentation selbst nicht ganz gewiß zu sein, denn es fährt (unmittelbar an die zitierte Passage anschließend) fort: „ A l l dies ergibt sich auch aus dem Rechtsstaatsprinzip, insofern es verlangt, daß für den Bürger hinreichend berechenbar ist, was Inhalt einer auf eine gesetzliche Ermächtigung gestützte Verordnung sein k a n n " 1 5 0 .

Das Verständnis dieser Rechtsprechung w i r d nicht erleichtert, wenn man berücksichtigt, daß das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Gewaltenteilung teils als Emanation des Rechtsstaatsprinzips versteht, teils gleichrangig neben dieses stellt 1 5 1 . Im Kalkar-Beschluß von 1978 diente der Gewaltenteilungsgrundsatz dem Gericht als Handhabe zur Eindämmung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts. Auf einige Passagen dieser Entscheidungen sei daher nochmals hingewiesen: „Das Grundgesetz ... setzt durch die gewaltenteilende Kompetenzordnung seinen (des Parlaments) Befugnissen Grenzen. Weitreichende - gerade auch politische Entscheidungen gibt es der Kompetenz anderer oberster Staatsorgane anheim, wie zum Beispiel die Bestimmung der Richtlinien der Politik durch den Bundeskanzler (Art. 65 Satz 1 GG), die Auflösung des Bundestages (Art. 68), die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes (Art. 81) ... Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus ... unterlaufen werden" 1 5 2 .

Zweifelsohne ist die Bestimmung der Richtlinien der Politik eine wichtige Kompetenz des Bundeskanzlers. Allerdings regelt Art. 65 GG primär die Kompetenzverteilung innerhalb des Verfassungsorganes „Bundesregierung". Die materiellen Aufgaben der Bundesregierung und der anderen Verfassungsorgane können diesem Verfassungssatz nicht entnommen werden, er setzt sie vielmehr voraus 153 . Auch die Hinweise des BundesverfassungsBVerfGE 34, 52 (58 f.). 150 BVerfGE 34, 52 (60). 151 s. BVerfGE 9, 268 (281 f.); 68, 1 (87) einerseits, und E 34, 52 (59); 67, 100 (130) andererseits. 152 BVerfGE 49, 89 (125).

III. Gewaltenteilung und allgemeiner Gesetzesvorbehlt

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gerichts auf Art. 68 und 81 GG sind kaum geeignet, Erkenntnisse über die materielle Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Regierung zu liefern 1 5 4 . Es fällt auf, daß das Bundesverfassungsgericht bei der sich anschließenden ausführlichen und sehr konkreten Prüfung des § 7 I, I I AtomG auf den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht mehr zu sprechen kommt 1 5 5 . Vielmehr verneint es einen Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes im Sinne der Wesentlichkeitstheorie mit der Begründung, es hätten sich seit Inkrafttreten des Atomgesetzes im Jahre 1959 keine so wesentlichen Änderungen im Hinblick auf die Nutzung der Kernspaltungstechnik und ihrer möglichen Folgewirkung ergeben, daß ein „Nachfassen" des Gesetzgebers von Verfassungs wegen geboten erschienen wäre 1 5 6 . Schließlich bejaht das Bundesverfassungsgericht auch die hinreichende Bestimmtheit der inkriminierten Normen des AtomG 1 5 7 . Diese Ausführungen haben mit dem „allgemeinen Grundsatz der Gewaltenteilung" im Sinne der Kernbereichsthese wenig zu tun. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung des § 7 AtomG zu dem gegenteiligen Ergebnis gekommen wäre, also den Gesetzesvorbehalt oder das Bestimmtheitsgebot als verletzt angesehen hätte, so wäre damit keinesfalls ein „Gewaltenmonismus" in Form des allgemeinen Parlamentsvorbehaltes indiziert gewesen. Das „Gewaltenmonismus-Argument" erscheint in identischer Fassung unter Berufung auf den Kalkar-Beschluß im Raketenstationierungsurteil von 1984 158 . In der Entscheidung heißt es weiterhin: „Der Grundsatz der parlamentarischen Verantwortung der Regierung setzt notwendigerweise einen Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung voraus. Die Demokratie, die das Grundgesetz verfaßt hat, ist eine rechtsstaatliche Demokratie, und das bedeutet im Verhältnis der Staatsorgane zueinander vor allem eine gewaltenteilende Demokratie" 1 5 9 .

153 s. dazu schon oben, 3. Teil, I. 3. b); wie hier auch Liesegang, in: I. von Münch, GGK, Art. 65, Rz. 1; anders aber Chr. Starck (Fn. 47), 199: „verfassungskräftiger Vorbehalt der Exekutive". 154 s. oben, 3. Teil, II. 1.; vgl. auch U. Scheuner, Die Lage des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik Deutschland (1974), in: Gesammelte Schriften, 361 (368): „weitgehend irrealistischer Gesetzgebungsnotstand des Art. 81, dessen Anwendimg nur in eine aufgeschobene ernste Verfassungskrise führen könnte". 155 Jedenfalls nicht, was das Verhältnis Legislative-Exekutive betrifft; dagegen kommt mehrfach das Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den „politischen Staatsorganen" zur Sprache, etwa E 49, 89 (131, 135, 136); s. dazu Β. Sinemus (Fn. 140), 262. 156 BVerfGE 49, 89 (130); s. dazu kritisch A. Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers im Atomrecht, JZ 1985, 714 ff. is? BVerfGE 49, 89 (133 ff.). iss BVerfGE 68, 1 (86 f.). 159 BVerfGE 68, 1 (87); im gleichen Sinne bereits BVerfGE 67, 100 (139).

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

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Eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 59 I I 1 GG auf nichtvertragliche Akte der Bundesregierung stelle (dagegen) einen Einbruch in zentrale Gestaltungsbereiche der Exekutive dar. Die grundsätzliche Zuordnung der Akte des auswärtigen Verkehrs beruhe auf der „Annahme, daß institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die sachlichen, personellen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die äußeren Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen" 1 6 0 .

Es fragt sich, inwieweit diese Argumentation Art. 20 I I GG entnommen werden kann und nicht vielmehr die vorkonstitutionelle Tradition der auswärtigen Gewalt perpetuiert. Sollten in der politischen Realität tatsächlich organisatorische Defizite einer verstärkten Mitwirkung des Parlaments an der Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt entgegenstehen - den Beweis dafür blieb das Bundesverfassungsgericht in dem Raketenstationierungsurteil schuldig - so kommt eher eine verfassungsrechtliche Pflicht in Betracht, derartige Defizite abzugleichen 1 6 1 . M i t seiner Kernbereichstheorie gerät das Bundesverfassungsgericht i m übrigen - jedenfalls semantisch - in eine Parallele zu der Wesensgehaltsproblematik der Grundrechte, zu Art. 19 I I GG. Dies bewirkt eine doppelt schiefe Optik. Zum einen liegt Art. 19 I I die Dogmatik der Grundrechte zugrunde, derzufolge in den Schutzbereich eingegriffen werden darf, der Wesensgehalt (oder „Kern") des betreffenden Grundrechts aber unangetastet bleiben muß. Versteht man eine Kompetenzzuweisung des GG an eine Gewalt entsprechend als „Eingriff in den Schutzbereich" einer der beiden anderen Staatsgewalten (der unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist, sofern er den Kernbereich der anderen Staatsgewalt unangetastet läßt), so bedingt dies eine dem GG vorausgesetzte Konzeption der Gewaltenteilung, die doch gerade vermieden werden sollte 1 6 2 . Zum anderen ist die Parallele nicht einmal konsequent durchgehalten, weil das Bundesverfassungsgericht, wenn es diesem Argumentationsmuster folgt, meist direkt zum „Kern" vordringt und fragt, ob der Kernbereich verletzt ist, anstatt zunächst im „Vorfeld" des Gewaltenkerns nach rechtfertigenden Gründen für den vermuteten „Eingriff" zu forschen 163 .

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Ebenda. Zu den Defiziten des Parlamentes im auswärtigen Bereich s. Chr. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, W D S t R L 36 (1978), 8 (34 f.); F. Schuppert (Fn. 27), 68 ff. 162 So das BVerfG selbst, E 7,183 (188): „Dem Verfassungsaufbau der Bundesrepublik Deutschland entspricht nicht eine absolute Trennung der Gewalten, sondern ihre gegenseitige Kontrolle und Mäßigung"; zu den verwandten Begriffen „Kernbereich" und „Wesensgehalt" s. auch N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 191 ff. 163 So im Raketenstationierungsurteil, BVerfGE 68, 1 (87). 161

III. Gewaltenteilung und allgemeiner Gesetzesvorbehlt

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In der Zusammenschau eignet sich das Gewaltenteilungsargument des Bundesverfassungsgerichts - so die Analyse Sinemus' - zu „inhaltlich höchst offener, strategisch multifunktionaler sowie entscheidungstaktisch mitunter apologetischer Verwendung und (wird) dazu auch genutzt" 1 6 4 . Deduktionen aus „dem" Gewalteneilungsprinzip ist nach alledem mit Skepsis zu begegnen 165 . 2. Zu Funktion und Legitimation von Gewaltenteilung

Gewaltenteilung nach dem Grundgesetz ist funktionsorientiert: die Staatsgewalt wird in bestimmte, besonders aufeinander bezogene Funktionen aufgespalten und durch die positiven Normen des Grundgesetzes den drei Staatsorganen zugeordnet 166 . Das Geflecht der Beziehungen der Staatsorgane zueinander läßt sich dabei gliedern in Funktionsteilung (oder Separation), Hemmung (oder Kontrolle) und Kooperation 167 . Da diese Funktionen durch die Normen des Grundgesetzes erst konstituiert werden, ist es vom Ansatz her verfehlt, bestimmte Kompetenzen wie Art. 80 I (Normensetzung durch die Exekutive), Art. 76 I (Gesetzesinitiativrecht der Bundesregierung), Art. 59 I I GG (Zustimmung des Parlaments zu politischen völkerrechtlichen Verträgen) als Ausnahme zu der „eigentlichen" Gewaltenteilung anzusehen 168 . Als Prinzip setzt Gewaltenteilung allerdings eine gewisse Distanz zwischen den Staatsorganen voraus. Kooperation und Kontrolle können nur stattfinden, wenn die beteiligten Organe nicht integriert sind, sondern ihnen jeweils eine selbständige unabhängige Entscheidimgsbefugnis und ein eigener Verantwortungsbereich zusteht 169 . Diese Bedingung hat das Bundesverfassungsgericht in dem Flick-Akten-Urteil herausgestellt: „Gründe (dem Untersuchungsausschuß Akten vorzuenthalten) können sich insbesondere aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz ergeben. Die Verantwortung der 164

B. Sinemus (Fn. 140), 362 (unter Berücksichtigung der Bände 1 - 50). In diesem Sinne auch K. U. Meyn (Fn. 16), 213. 166 s. Κ Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 521 ff., 536; für Stern ist die Gewaltenteilung im Rechtsstaatsprinzip verankert, s. Staatsrecht, Bd. 1, 792; N. Achterberg (Fn. 162), 112 ff. w i l l den Begriff Gewaltenteilung aus diesem Grunde durch Funktionstrennung ersetzt wissen; zum folgenden auch G. Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, insbesondere 196 ff., R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, insbesondere 280 ff. und S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 240 ff. 167 Vgl. K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 539; die Gliederung ist allerdings nicht normativ, sondern analytisch zu verstehen. 168 Vgl. K. U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 214; S. Magiera (Fn. 166), 88; G. Zimmer (Fn. 166), 22 ff., insbesondere 30 f. 169 Dies hat für die Kontrollfunktionen des Parlaments insbesondere U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, Fs. Gebhard Müller, 379 (391 ff.) herausgearbeitet; s. auch W. Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 41 ff. 165

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

Regierung gegenüber Parlament und Volk (vgl. BVerfGE 9, 268 (281)) setzt notwendigerweise einen ,Kernbereich' exekutiver Eigenverantwortung voraus (Scholz, AöR 105 (1980), S. 598)), der einen auch von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt. Dazu gehört ζ. B. die Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterung im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und -internen Abstimmungsprozessen vollziehen" 1 7 0 .

„Kernbereich" in diesem Sinne betrifft den internen Organisations- und Entscheidungsbereich der Regierung und stellt klar, daß die drei Staatsgewalten nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Materielle Zuständigkeiten werden durch diese Kernbereiche nicht begründet 171 . Weitergehende Schlüsse aus dem Gewaltenteilungsprinzip auf konkrete Kompetenzen laufen Gefahr, der Verfassung ein aprioristisch-kategorisches Modell zu unterlegen, jedenfalls was das Verhältnis Legislative-Exekutive betrifft 1 7 2 . Ähnliches gilt für alternative Gewaltenteilungsmodelle, die auf die „neue Frontstellung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion" abheben 173 . Zwar ist der Dualismus zwischen Regierung und Opposition augenfällig, doch sollte er nicht theoretisch übersteigert werden 174 . Gerade den „neuen" Interpretationen von Gewaltenteilung liegt nämlich die vorkonstitutionelle Idee der Staatsgewalten als realen Mächten, die sich gegenüberstehen, zugrunde. Die legitimatorische Bedeutung der Gewaltenteilung verkörpert sich zunächst in dem Anspruch, die Staatsgewalt arbeitsteilig und möglichst sachgerecht, rational und effizient zu organisieren - also funktionale Legitimation zu leisten 175 . Soweit mehrere Statsorgane bei Entscheidungsprozessen zusammenwirken, sei es kooperativ, sei es im Wege der (mitlaufenden oder nachträglichen) Kontrolle 1 7 6 , wird gewissermaßen die „Legitimationsbasis" der Ergebnisse verbreitert, wozu auch die in der Regel formalisierten Kooperations- und kontrollverfahren beitragen 177 . Die Judikative gewinnt Legitimation aus ihrer Unabhängigkeit und Distanz zu den anderen Staats-

170 BVerfGE 67, 100 (139). 171 So auch N. Achterberg (Fn. 162), 201 f.; G. Zimmer (Fn. 166), 23. 172 s. K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 536 zu in diese Richtung zielenden Ansätzen. 173 s. dazu K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 1022 ff. und Bd. 2, 546 ff., dort auch zu anderen Gewaltenteilungskonzepten. 174 So mit Recht Th. Oppermann (Fn. 10), 63. 175 Vgl. BVerfGE 68, 1 (86): Verteilung der Staatsgewalt auf verschiedene Organe, „die nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise geeignet sind, jeweils die möglichst richtigen Entscheidungen zu treffen". 17 6 s. dazu W. Krebs (Fn. 169), 27 ff., 122 ff. 177 s. dazu auch Chr. Degenhart (Fn. 64), 479, für den das Zusammenwirken verschiedener Organe rechtsstaatliche Funktion hat; ein gutes Beispiel ist das Verfahren nach Art. 113 GG bei Gesetzen, die Ausgabenerhöhungen über den Haushaltsplan hinaus vorsehen.

III. Gewaltenteilung und allgemeiner Gesetzes vorbehält

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organen; ihr Verhältnis zu Exekutive und Legislative kommt der traditionellen Vorstellung von Gewaltenteilung noch am nächsten 178 . 3. Gewaltenteilung und Gesetzgebung

Der Gesetzgebungsprozeß zeigt deutlich, daß das traditionelle Bild von „der" Legislative 179 einem kooperativen Verfahren gewichen ist 1 8 0 . Der Bundestag kann Gesetzesinitiativen einbringen (Art. 77 I 1 GG), er hat alle Gesetzesvorhaben in mehreren Lesungen zu beraten und schließlich darüber zu entscheiden (Art. 7711 GG). Neben dem Bundesrat, dessen Mitwirkungsrechte (Art. 761, II, III; 77 II-IV, 78 GG) die föderale Struktur der Bundesrepublik absichern, nimmt die Bundesregierung durch ihr Initiativrecht maßgeblichen Einfluß auf die Gesetzgebung. In der Praxis w i r d die Mehrzahl der Gesetzesentwürfe in den Bundesministerien ausgearbeitet und von der Regierung eingebracht 181 . Der daraus resultierende große Einfluß der Exekutive auf die Gesetzgebung hat den Begriff vom „parlamentslosen Parlamentsgesetz" geprägt 182 . Mit Eichenberger empfiehlt es sich demgegenüber zu differenzieren zwischen den verschiedenen Stadien des GesetzgebungsVerfahrens. Entwurf, Ausarbeitung, Abstimmung mit bereits geltenden Gesetzen und Redaktion des Gesetzgebungsvorhabens können und müssen nicht unbedingt vom Parlament geleistet werden, diese Vorarbeiten, die „Gesetzespräparation", können gerade bei komplizierten Gesetzesvorhaben nur von der Ministerialbürokratie bewältigt werden. Dem Parlament obliegt aber die Entscheidung über und die Verantwortung für das Gesetz (Deliberationsfunktion) 183 . Daher darf es mit einem formalen Akt des Absegnens nicht sein Bewenden haben, sondern das Parlament muß seinen Sachverstand einbringen und vor allem seine politische Perspektive gegenüber dem Vorhaben deutlich machen, gegebenenfalls die Regierung zu Änderungen oder Alternativen auffordern oder diese selbst vornehmen. So ergibt sich ein Zusammenwirken im Sinne eines Ineinandergreifens verschiedener, sich ergänzender und zur abschließenden Entscheidung weiterführender Maßnahmen von Parlament und Regierung 184 . 178

s. dazu K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 543. H. D. Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, 149, weist darauf hin, daß die überkommenen Begriffe der „Exekutive" und der „Legislative" auch heute noch die Diskussion beeinflussen. 180 Anders G. Zimmer (Fn. 166), 219, der die Befugnis zur förmlichen Gesetzgebung als exklusiven „Wirkvorbehalt" des Parlaments begreift. 181 In den 1. bis 9. Wahlperioden (1949 - 1983) wurden 61,1 % der Gesetzesentwürfe von der Regierung, 33,6 % aus dem Bundestag und 5,3 % aus dem Bundesrat eingebracht (Quelle: P. Schindler, Deutscher Bundestag, 1949 - 1983, Parlaments- und Wahlstatistik, ZParl 1983, 467). 182 H. Quaritsch, Das parlamentslose Parlamentsgesetz. 183 K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 29 ff. 179

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG 4. Gefährdungen?

Die warnenden Hinweise des Bundesverfassungsgerichts und der Lehre auf das Gewaltenteilungsprinzip als Damm gegen einen hypertrophen Gesetzesvorbehalt könnten eine gewisse Schutzbedürftigkeit von Regierung und Verwaltung gegen Übergriffe des Parlaments signalisieren 184a . Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer hat sich 1984 unter dem Stichwort „Der Verwaltungsvorbehalt" mit diesem Thema befaßt. Maurer in seinem Referat und die Mehrzahl der Diskussionsteilnehmer hielten die Verwaltung indes nicht für so schutzbedürftig, daß ihr ein eigener Vorbehaltsbereich zuzugestehen sei 1 8 5 . Dem kann nur zugestimmt werden. Eine „Parlamentshegemonie" steht - unabhängig von der Interpretation des Gesetzesvorbehaltes - nicht zu befürchten. Eher hat sich der steuernde Einfluß des Parlaments auf die Verwaltung und die Gesetzesinhalte vermindert 1 8 6 . Die realen Gravamina der Gesetzesflut betreffen die zu vielen und zu detaillierten Normen, die nicht von Gesetzesvorbehalten geboten sind und an denen das Parlament infolge Überlastung auch nicht sinnvoll mitgewirkt hat 1 8 7 . Gesetze von derartigem Zuschnitt sind legitimatorisch dysfunktional. I V . Folgerungen 1. Legitimationsfaktor Gesetz

Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip konstituieren die legitimatorische Funktion des Gesetzes. Die unmittelbare personale Legitimation des Parlaments w i r k t sich ebenso wie das demokratisch-parlamentarische Verfahren legitimierend auf die Gesetzeserzeugung aus 188 . Rechtsstaatliche Legitimität vermittelt das Gesetz, indem es Rechtssicherheit erzeugt und Gleichheit und Freiheit gewährleistet. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und das Gewaltenteilungsprinzip zeigen dem Gesetz aber auch Grenzen auf. Die Produktion von zu vielen, „schnell gestrickten" und zu ausführlichen Geset184

s. H. Maurer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 153. s. J. Ipsen, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 43 (1984), 246. 185 s. H. Maurer, Der Verwaltungsvorbehalt, W D S t R L 43 (1985), 135 (164 f.) und die Diskussionsbeiträge von F. Ossenbühl (206 f.); O. Bachof (217 f.); der Mitreferent F. E. Schnapp w i l l zumindest die „Binnensteuerung des Exekutivapparates" einem Verwaltungsvorbehalt unterstellen (173, 192 ff.). 186 s. die Diskussionsbeiträge von D. Rausching und J. Ipsen, W D S t R L 43 (1985), 218 f. bzw. 246 f., sowie W. Leisner (Fn. 118), 850 ff.; H. P. Schneider, Entscheidungsdefizite der Parlamente, AöR 1980, 4 (19 ff.). 187 Es sind mithin die rechtsstaatlichen Defizite der Gesetzgebung, die auch die Legitimation durch Gewaltenteilung beeinträchtigen; s. dazu oben Fn. 116-118 mit begleitendem Text. 188 Vgl. M. Kriele (Fn. 36), 64: „Die Wahl vermittelt die demokratische Legitimität des Gesetzes". 1843

IV. Folgerungen

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zen drängt den Einfluß des Parlaments auf die Gesetzesinhalte zurück und vermindert die rechtsstaatliche Qualität der Gesetze 189 . Von ebenso großer legitimatorischer Bedeutung ist ein zweiter, kompetenzieller Aspekt: das Gesetz ist nicht nur Transmissionsriemen für die Legitimation staatlichen Agierens, sondern vermittelt seinerseits auch dem Parlament Legitimität. Die materiellen Funktionen des Parlaments der Staatsleitung und Integration, die - wie dargetan wurde - sachlich nicht begrenzt sind, müssen von diesem auch wahrgenommen werden: das Parlament muß seine Kompetenzen ausfüllen, um seine Legitimität im Sinne der oben sog. Geltungsbewährung bewahren und erneuern zu können 1 9 0 . Wichtigstes Handlungsinstrument des Parlaments ist die Gesetzgebung. Der Gesetzesvorbehalt sichert daher die legitimen Mitwirkungsrechte des Parlaments 191 . 2. Vom Gesetzgebungsstaat zum Jurisdiktionsstaat?

Die überragende Bedeutung des Gesetzes kommt in der traditionellen Gleichsetzung von Legalität (im Sinne von Gesetzesherrschaft) und Legitimität zum Ausdruck 1 9 2 . Doch das Gesetz trägt offenbar seine Legitimität nicht mehr ohne weiteres in sich wie noch zu Zeiten des bürgerlichen Rechtsstaates des 19. Jahrhunderts, was auch mit der oben beschriebenen Krise der Gesetzgebung zu tun hat 1 9 3 . Die Kontroverse um Legalität und Legitimität, oder: Legitimität gegen Legalität 1 9 4 unterstreicht, daß das Gesetz legitimierungsbedürftig ist - und in der Verfassungswirklichkeit insoweit Defizite bestehen. Tatsächlich ist Legalität eine - wenn auch nicht hinreichende - Bedingung von Legitimität 1 9 4 3 . Bei der Kontroverse steht, wie Hesse formuliert, „Legitimität gegen L e g i t i m i t ä t " 1 9 4 b . In diesem Zusammenhang ist auch die Diskussion um die Rechtfertigung zivilen Ungehorsams zu sehen 1940 . Das Grundgesetz selbst geht in den Vorschriften über die 189 Auf dieser Erkenntnis beruht auch die zu wenig beachtete limitative Funktion der Wesentlichkeitstheorie: der Gesetzgeber hat das Wesentliche - aber auch nur dieses - zu regeln, in diesem Sinne E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 395. 190 s. dazu oben, 2. Teil, II. 3. 1 91 M. Kloepfer (Fn. 1), 694. 192 s. nur H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 277 ff.: „Herrschaft von Gesetzen nicht von Menschen". 193 s. Th. Würtenberger, Legitimität und Gesetz, in: Fs. Gesellschaft für Rechtspolitik, 533 (535); R. Zippelius, Legitimation im demokratischen Verfassungsstaat, in: Achterberg/Krawietz (Hg.), Legitimation des modernen Staates, 84 ff. 194 Vgl. nur H. H. Klein, Legitimität gegen Legalität, Fs. Carstens (Bd. 2), 645 ff. i94a Für C. Schmitt besteht die Legitimität der parlamentarischen Demokratie dagegen nur noch in ihrer Legalität; s. ders., Legalität und Legitimität, 269. In der Antithese zwischen Legalität und Legitimität dokumentiert sich, so Schmitt „der Zusammenbruch eines Legalitätssystems, das in einem gegenstands- und beziehungslosen Formalismus und Funktionalismus endet (a. a. O., 270).

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3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (z. B. Art. 100 I GG) davon aus, daß Gesetze nicht in jedem Fall verfassungsmäßig sind. Verfassungswidrige Gesetze aber entbehren der verfassungsrechtlichen Legitimität. Böckenförde hat mit Blick auf diese Entwicklung einen Wandel von parlamentarischem Gesetzgebungsstaat hin zum verfassungsvollziehenden Jurisdiktionsstaat konstatiert 1 9 5 . Die Rechtsgewährung liegt nach seiner Auffassung primär nicht mehr beim Gesetzgeber, sondern in der Verantwortung der Gerichte. Die Analyse findet in der politischen Realität Bestätigung, in der nahezu jedes politisch kontroverse Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt wird. Offenbar verhilft erst dieses Siegel der Verfassungsmäßigkeit dem Gesetz zu Legitimität. Die Konsequenz aus dieser Entwicklung darf aber nicht lauten, daß die legitimatorischen Funktionen des Gesetzes, die diesem normativ von der Verfassung zugewiesen sind, preisgegeben werden, denn ein adäquater Ersatz ist nicht vorhanden. Das Bundesverfassungsgericht, dessen Aufgabe Schutz der Verfassung und Kontrolle der Verfassungsorgane ist, kann nicht auf Dauer allein die Hauptlast der Legitimitätsvermittlung tragen 196 . Das Parlament muß vielmehr den ihm zugewiesenen Part der Legitimation übernehmen und dadurch seine eigene Legitimität stärken, indem es eine schlankere und effektivere, aber auch keine Bereiche von zentraler Bedeutung für das Gemeinwesen ausklammernde Gesetzgebungstätigkeit entfaltet. 197 . 3. Parlaments vorbehält und Rechtssatzvorbehalt

In der Literatur mehren sich die Stimmen, die den Gesetzesvorbehalt aufspalten wollen in einen Parlamentsvorbehalt und einen Rechtssatzvorbehalt 1 9 8 . Der (demokratische) Parlamentsvorbehalt soll die Gestaltungs194c s. dazu die gegensätzlichen Positionen (die schon aus den Titeln ihrer Aufsätze deutlich werden) von G. Frankenberg, Ziviler Ungehorsam und rechtsstaatliche Demokratie, JZ 1984, 266 ff. einerseits, und U. Karpen, „Ziviler Ungehorsam" im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1984, 249ff., andererseits; sowie Th. Würtenberger (Fn. 193), 533 ff. m. w. N. 195 E. W. Böckenförde (Fn. 189), 402; s. auch Th. Würtenberger (Fn. 193), 537: „Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes wird zur Quelle seiner Legitimität". 196 s. dazu Chr. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 88 ff., 138 ff. 197 Die legitimatorische Bedeutung der Gesetzgebung stellt auch W. Leisner heraus (Fn. 118), 852: „Die Staatsform der parlamentarischen Demokratie ruht auf dem Gesetz, mag auch Art. 20 GG dies nicht genügend betonen"; vgl. auch U. Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der Demokratie, Fs. H. Huber, 222 (246): „So w i r d es richtig sein, wenn man das Geschick des modernen Staates mit dem seiner Parlamente für unlöslich verbunden hält." Zustimmend der Richter Böckenförde, abweichende Meinung zum vierten Parteienfinanzierungsurteil, BVerfGE 73, 40 (117); s. dazu auch C. Schmitt, Legalität und Legitimität, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 283 (269 f.) und ders., Nachbemerkung zu: Das Problem der Legalität, a. a. O., 448 f.

IV. Folgerungen

77

ansprüche des Parlaments sichern, aber nicht unbedingt die Gesetzesform erfordern, sondern auch durch bloße parlamentarische Entschließungen wahrgenommen werden können 1 9 9 . Der Rechtssatzvorbehalt besage demgegenüber, daß bestimmte Maßnahmen nur durch abstrakte und generelle Regelungen mit rechtlicher Außenwirkung getroffen werden dürfen, d. h. auch durch Rechtsverordnungen und Satzungen 200 . Der Gesetzesvorbehalt, so etwa Kloepfer, ist danach die Schnittmenge von Rechtssatz- und Parlamentsvorbehalt. Nach einer ähnlichen Theorie ist der Parlamentsvorbehalt als zum Delegationsverbot qualifizierter Gesetzesvorbehalt zu begreifen 201 . Der Ansicht Kloepfers und anderer muß mit Skepsis begegnet werden. Die demokratischen und rechtsstaatlichen Aspekte des Gesetzesvorbehalts greifen ineinander und lassen sich nicht einfach auseinanderdividieren. Das Gesetz ist aufgrund des Gesetzgebungsverfahrens und seines Ranges in der Normenhierarchie mehr als bloß die Addition von parlamentarischer Entscheidung und Rechtssatz. Zweifelhaft bleibt auch, ob der schlichte Parlamentsbeschluß die ihm zugedachte Rolle der Sicherung parlamentarischer Mitwirkungsbefugnis übernehmen kann. Entschließungen entfalten, anders als Gesetze, keine rechtliche Bindungswirkung, nicht einmal für das Parlament selbst 202 . Selbst wenn man davon auf interpretatorischem Wege Ausnahmen statuieren wollte, bliebe schlichten Parlamentsbeschlüssen der Ruch der Zweitrangigkeit. In der Praxis haben Parlamentsentschließungen bislang nicht einmal stets politische Verbindlichkeit bewiesen 203 . Sie dienen· eher Meinungskundgebungen denn Beiträgen des Parlaments zu verbindlichen Entscheidungen. Erinnert sei nur an die Entschließung des Bundestages zu dem Kohlekraftwerk Buschhaus (deretwegen der Bundestag eigens aus den Ferien zu einer Sondersitzung einberufen worden war). Sie wurde wenige Wochen später sang- und klanglos revidiert 2 0 4 .

198 Vgl. nur M. Kloepfer (Fn. 1), 694 ff.; F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 9 (17 ff.); H. J. Papier, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 48 ff.; H. U. Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalt, Fs. Juristische Gesellschaft, 113 ff. sowie neuestens J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 129 ff. 199 M. Kloepfer (Fn. 1), 694. 2 °o M. Kloepfer (Fn. 1), 694. 201 H. U. Erichsen (Fn. 198), 113; im gleichen Sinne F. Ossenbühl (Fn. 198), 23; W. Krebs, Zum aktuellen Stand der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes, JURA 1979, 304 (311); F. Rottmann, Der Vorbehalt des Gesetzes und die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, EuGRZ 1985, 277 (294). 202 s. dazu S. Magiera (Fn. 22), 210 ff., 213; N. Achterberg, Parlamentsrecht, 738 ff.; Κ Seilmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, 38 ff. 203 s. aber die positivere Einschätzung des Parlamentsbeschlusses durch S. Magiera (Fn. 22), 215 f. 204 BT-Drucks. 10/1805; s. dazu die Diskussion auf der Staatsrechtslehrertagung 1984, W D S t R L 43 (1985), 202 ff. zum Thema „Verwaltungsvorbehält" mit den Diskussionsbeiträgen von D. Rauschning (218 f.); R. Breuer (220 f.) und E. Schmidt-Jortzig (234 f.).

78

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

Sinn des Rechtssatzvorbehalts ist nach Kloepfer die Sicherung der Rechtssphäre der Bürger. Diese könne regelmäßig durch jedes materielle (generelle, d. h. gleichheitssichernde) Gesetz wahrgenommen werden 2 0 5 . Bei diesem Ansatz bleibt indes die spezifisch parlamentarisch vermittelte Legitimation durch das Gesetz außer Betracht, und dies in dem besonderen legitimitätssensiblen Bereich der Grundrechte 206 . Im Grundrechtsbereich muß das Parlament außerdem auch unter dem kompetenziellen Aspekt selbst agieren, denn seine Legitimität als Organ der Staatsleitung wäre gefährdet, wenn es die Regelung von wichtigen die Rechtssphäre der Bürger betreffenden Fragen in weitem Rahmen der Exekutive überließe. Im übrigen soll keineswegs geleugnet werden, daß sich auch Rechtsverordnungen und Satzungen durch legitimationsfördernde Strukturen auszeichnen, etwa durch allgemeine Geltung, die Verfahren ihres Zustandekommens und Rechtsverbindlichkeit. Dem Gesetzgeber ist es gerade unter diesem Gesichtspunkt gestattet, Rechtsetzungsbefugnisse an den Verordnungs- oder Satzungsgeber zu delegieren und sich selbst dadurch zu entlasten 207 . Der Verordnungsgeber ist aber auf eine formellgesetzliche Ermächtigung nach Maßgabe von Art. 80 I GG und der Satzungsgeber auf die gesetzliche Verleihung von Satzungsautonomie angewiesen. Die originäre Rechtsetzung steht dagegen prinzipiell dem Parlament zu. Aus diesem Grunde ist es eine verfehlte Optik, das Parlamentsgesetz als einen qualifizierten Rechtssatz anzusehen 208 . Zur Lösung des Problems, welche inhaltliche Anforderungen an die Ausfüllung des Gesetzesvorbehaltes zu stellen sind, wie detailliert und bestimmt die parlamentsgesetzliche Regelung zu sein hat, bedarf es nach alledem nicht der terminologischen Differenzierung zwischen Parlamentsund Gesetzesvorbehalt 209 . 4. These: Modifizierung der Wesentlichkeitstheorie

Das Fazit der bisherigen Überlegungen führt in die These: Der allgemeine Gesetzesvorbehalt gilt - vorbehaltlich explizierter Kompetenzzuweisungen durch das Grundgesetz - überall dort, wo für hoheitliche Regelungen ein hoher Legitimationsbedarf besteht, er w i r d ausgestaltet und begrenzt durch 205 206 207

III. 2.

M. Kloepfer (Fn. 1), 694. s. dazu sogleich das folgende Kapitel. s. dazu B. O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art. 80, Rz. 20; sowie unten, 5. Teil,

208 s. J. Staupe (Fn. 198), 131 zur Unklarheit der in der Literatur verwendeten Terminologie. 209 So auch E. W. Böckenförde (Fn. 189), 393 f.: „Der Gesetzesvorbehalt der Wesentlichkeitstheorie (ist) umfangmäßig im Grunde auf den Parlamentsvorbehalt zurückzuführen".

IV. Folgerungen

79

die Leistungsfähigkeit des Parlaments und die Struktur des Gesetzes. Dieser Ansatz hat Berührungspunkte mit der Wesentlichkeitstheorie, erschöpft sich jedoch nicht in der wenig fruchtbaren Dichotomie wesentlich/unwesentlich, sondern gestattet Differenzierungen, die eine Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts ermöglichen. Dies wird im fünften Kapitel zu belegen sein. Für den allgemeinen Gesetzesvorbehalt bleibt auch unter dem Grundgesetz Raum. Die positiven Kompetenzzuweisungen an den Gesetzgeber, die das Grundgesetz enthält, machen den Rückgriff auf das allgemeine Prinzip nicht entbehrlich, und zwar aus mehreren Gründen. Die Einzelkompetenzen haben, auch wenn sie zahlreich sind, doch jeweils punktuellen Charakter, sie definieren Gesetzesvorbehalt und Gesetzgebungsfunktion nicht, sondern setzen deren allgemeine Bestimmung voraus 210 . Weiterhin ist den positiven Gesetzesvorbehalten namentlich der Grundrechte der gebotene Grad der Regelungsdichte nicht unmittelbar zu entnehmen. Allgemeine Kriterien, jeweils in Bezug gesetzt zu dem spezifischen Grundrecht - wie das vom Bundesverfassungsgericht verwendete Merkmal der Intensität des Eingriffs 2 1 1 können Auslegungshilfen bieten. Ferner sind die Kompetenzen von Parlament und Exekutive insofern nicht positiv abschließend normiert und gegeneinander abgegrenzt, als dem Parlament unbestritten ein fakultatives Zugriffsrecht für gesetzliche Regelungen jenseits der speziellen Gesetzesvorbehalte konzediert w i r d 2 1 2 . Die zulässige Frage ist daher, ob sich das Zugriffsrecht in bestimmten Fällen nicht zu einer Zugriffspflicht verdichten kann. Nach einer beachtlichen Auffassung in der Literatur sollen die hier dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt zugewiesenen Funktionen dagegen gänzlich in den Grundrechtsvorbehalten aufgehen 213 . Der Vorbehalt des Art. 2 I GG sei nämlich weit genug, um als „Auffangvorbehalt" dienen zu können. Außerdem werde so der Gefahr entgangen, die unterschiedlich ausgeformten speziellen Grundrechtsvorbehalte (z. B. Art. 2 II, 8 II, 13 I I GG) durch einen Allgemeinvorbehalt zu überspielen. Für diesen Ansatz spricht auf den ersten Blick, daß gerade Regelungen im Grundrechtsbereich wegen ihrer Einwirkung auf Individualinteressen in besonderem Maße legitimationsbedürftig sind und von den Grundrechtsvorbehalten mithin abgedeckt werden könnten. Dagegen ist schon einzuwen-

210 E. W. Böckenförde (Fn. 189), 381 f. 211 BVerfGE 41, 251 (265 f.); 48, 210 (221); 58, 257 (277 f.); s. dazu W. Krebs (Fn. 201), 312. 212 s. die Nw. in Fn. 126 sowie G. Zimmer (Fn. 166), 325 ff. 213 s. Κ Vogel, Gesetzgeber und Verwaltung, W D S t R L 24 (1966), 125 (147 ff.); Ph. Kunig (Fn. 72), 327; H. J. Papier (Fn. 198), 48; zurückhaltend W. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 132.

80

3. Teil: Die Fundamentalprinzipien des Art. 20 GG

den, daß bei einigen Grundrechten Lücken bestehen, die weder von den jeweiligen Spezialvorbehalten noch von Art. 2 I GG geschlossen werden können 2 1 4 . Weiterhin können auch Regelungen außerhalb der Grundrechtsbereiche einen hohen Legitimationsbedarf aufweisen. Schließlich steht der aus dem Demokratieprinzip resultierende, kompetenzielle Aspekt des Gesetzesvorbehalts seiner ausschließlichen Verankerung in den Grundrechten entgegen. Auch Art. 2 I GG erscheint nicht geeignet, mit den aus der Staatsleitungsfunktion des Parlaments begründeten gesetzlichen Partizipationsrechten befrachtet zu werden. Die Abgrenzung der Grundrechtsvorbehalte ist in der Tat ein Problem, das jedoch durch eine Abschichtung der speziellen (Grundrechts-)Vorbehalte von dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt befriedigender, das heißt die Konturen der Grundrechtsvorbehalte bewahrend, gelöst werden kann, als ein integratives Modell. Der Nachweis für diese These ist im folgenden Kapitel zu erbringen.

214

III.

s. J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 30 ff.; näher unten, 4. Teil,

Vierter

Teil

Grundrechte und allgemeiner Gesetzesvorbehalt Die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Schlußstein einer primär grundrechtlich motivierten Ausdehnung des Gesetzes Vorbehalts. Den Grundrechten war dem Anspruch des A r t . 1 I I I GG

entsprechend zur Geltung auch in den ehedem „Besonderen Gewaltverhältnissen" zu verhelfen 1 . Außerdem trug das Gericht, wenn auch zurückhaltender, der Erkenntnis Rechnung, daß die Ausübung bestimmter Grundrechte, namentlich des Art. 12 GG, durch staatliche Leistungen erst ermöglicht wird 2 . Schließlich war mit der Entwicklung grundrechtlicher Organisations· und Verfahrensgehalte eine erhebliche Grundrechtserweiterung verbunden 3 . „Wesentlich" definiert das Bundesverfassungsgericht dementsprechend als „ i n der Regel wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" 4 . Der Gesetzesvorbehalt gilt, so heißt es kurz, für Maßnahmen im „ grundrechtsrelevanten Bereich " 5 . Diese nur scheinbar griffige Formel wirft mehr Probleme auf als sie löst 6 . Wie sind grundrechtsrelevante von grundrechtsirrelevanten Maßnahmen (so es diese überhaupt gibt) abzugrenzen 7? In welchem Verhältnis steht der 1 Grundlegend BVerfGE 33, 1 (10 ff.) - Strafgefangenenbeschluß; anschließend vor allem die Entscheidungen zum Schulrecht: BVerfGE 34, 165 (192 f.) - Hessische Förderstufe; 41, 251 (259) - Speyer-Kolleg; 47, 46 (78 f.) - Sexualkunde-Unterricht und 58, 257 (268) - Schulausschluß; s. dazu zunächst D. C. Umbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, Fs. Faller, 111 (118); W. Krebs, Der Vorbehalt des Gesetzes und die Grundrechte; sowie neuestens J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 114 ff. 2 Grundlegend BVerfGE 33, 303 (337) - numerus clausus; s. dazu P. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht im Leistungsstaat: Die Numerus-Clausus Entscheidung vom 18. 07. 1972, DÖV 1972, 729 ff.; H. D. Jarass, Der Vorbehalt des Gesetzes bei Subventionen, NVwZ 1984, 473 (475 ff.). 3 BVerfGE 37, 132 (141, 148); 52, 214 (219); 56, 216 (236); s. dazu M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (688). 4 BVerfGE 34, 165 (192); 40, 237 (248 f.); 41, 251 (260 f.); 47, 46 (79 f.). 5 s. BVerfGE 47, 46 (79); 49, 210 (221). 6 Zur K r i t i k an der Wesentlichkeitstheorie s. nur M. Kloepfer (Fn. 3), 689: „ebenso rhetorisch einprägsam wie rechtlich unklar"; C. E. Eberle, Gesetzes vorbehält und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, 485 (487); G. Kisker, Neue Aspekte zu dem Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, 1313 (1317); F. Rottmann, Der Vorbehalt des Gesetzes und die grundrechtlichen Vorbehalte, EuGRZ 1985, 277 m. w. N.; G. Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, 9 f., 25; H. J. Papier, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 41 ff. 7 s. C. E. Eberle (Fn. 6), 487.

6 Hermes

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

grundrechtsrelevante Gesetzesvorbehalt zu den spezifischen Grundrechtsvorbehalten; ist er Summe, eine Art gemeinsamer Nenner der Spezialvorbehalte oder betrifft er einen darüber hinaus gehenden Bereich 8? Wird nicht die „Schrankensystematik" der Grundrechte durch den Begriff der Grundrechtsrelevanz überspielt 9 ? Die „Schrankensystematik" oder - bescheidener - das Verhältnis der einzelnen Grundrechtsvorbehalte zueinander stellt freilich auch für die Kritiker der Wesentlichkeitstheorie ein Problem dar, gleich ob sie den allgemeinen Gesetzesvorbehalt nach anderen Gesichtspunkten von den Grundrechtsvorbehalten abgrenzen wollen oder ob sie die Grundrechtsvorbehalte - mit dem Auffangtatbestand des Art. 2 I GG - für abschließend halten 10 . Die Lösung des Problems muß bei den Funktionen der Grundrechte ansetzen. Denn die grundrechtlichen Vorbehalte - dies stellt die Rechtsprechung zu den Besonderen Gewaltverhältnissen unter Beweis - sind nicht zu trennen von den Grundrechten, denen sie beigegeben sind. Die Funktionen der Grundrechtsvorbehalte sind denen der Grundrechte gewissermaßen akzessorisch 11 . Daher bedarf es einer Diskussion der Grundrechtstheorien, soweit diese Konsequenzen für die Vorbehalte haben. Dem Grundansatz der Untersuchung folgend ist sodann die Legitimationsfunktion der Grundrechte und ihrer Vorbehalte zu erörtern, um auf dieser Basis die grundrechtlichen von dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt abzugrenzen und den Gesetzesbegriff der Grundrechte zu klären. I. Grundrechtstheorie und grandrechtliche Gesetzesvorbehalte

Grundrechte sind komplexe Gebilde, jedes für sich und erst recht in ihrer Gesamtheit. Das einzelne Grundrecht kann beschrieben werden als ein Bündel von Positionen unterschiedlichen Inhalts und unterschiedlicher Struktur 1 2 . Die Konkretisierung dieser Positionen und die Bestimmung der Funktionen der Grundrechte in der Verfassungsordnung sind im einzelnen umstritten 13 . Konsens herrscht jedoch darüber, daß die Grundrechte zumin8

s. F. Rottmann (Fn. 6), 290 ff.; H. J. Papier (Fn. 6), 46 ff. Uneinigkeit herrscht freilich, ob die Vorbehalte der Grundrechte eine „Schrankensystematik" oder nicht vielmehr ein „Schrankenwirrwarr" (so J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 445) bilden; s. dazu I. v. Münch, GGK, Vorbemerkung zu Art. 1 - 19, Rz. 53 m. w. N. Jedenfalls sind die Vorbehalte der einzelnen Grundrechte unterschiedlich ausgestaltet. 10 s. dazu M. Kloepfer (Fn. 3), 688; Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 316 ff., 320; J. Staupe (Fn. 1), 193 ff.; J. Schwabe (Fn. 9), 30 ff. 11 Vgl. auch J. Staupe (Fn. 1), 114. 12 s. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 229. 13 Aus der nahezu unüberschaubaren Literatur s. die Überblicke bei A. Bleckmann, Staatsrecht I I - Allgemeine Grundrechtslehren, 171 ff.; R. Alexy (Fn. 12), 28 ff.; J. Schwabe (Fn. 9), 5 ff.; Chr. Starck, Die Grundrechte des Grundgesetzes. Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Verfassungsauslegung, JuS 1981, 237 ff. 9

I. Grundrechtstheorie und grundrechtliche Gesetzesvorbehalte

83

dest auch die Beziehung zwischen Individuum und Staat betreffen. In dieser Feststellung liegt daher ein geeigneter Ansatzpunkt für die Analyse der Grundrechtstheorien im Hinblick auf die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. 1. Die Status-Lehre Georg Jellineks

Die möglichen Beziehungen zwischen Individuum und Staat hat Georg Jellinek in seiner Status-Lehre beschrieben 14 . Status ist „eine das Individuum qualifizierende Beziehung zum Staate" 15 . Ausgangspunkt 16 ist der passive Status, der die allgemeine Unterwerfung des einzelnen unter die Rechtsordnung bezeichnet 17 . Für die Grundrechte von Bedeutung sind der status negativus (oder status libertatis) als Schutz einer individuellen Freiheitssphäre gegen staatliche Intervention 18 , der status activus, der die Kompetenz der einzelnen zur Teilnahme an der staatlichen Willensbildung begründet 19 , und schließlich der status positivus, der die „rechtlich geschützte Freiheit, positive Leistungen zu verlangen", beschreibt 20 . Die Status-Lehre ist dabei keine Grundrechtstheorie, sondern ein analytisches Modell, dieses allerdings von Klarheit und Kohärenz 21 . Die Arten der Beziehungen zwischen Individuum und Staat werden abschließend beschrieben, doch nicht deren Inhalte 2 2 . Insbesondere ist es nicht notwendig, die Zahl der status um ein allgemeines Verfahrensrecht (status processualis) zu ergänzen 23 . Denn Verfahrensgarantien, deren Bedeutung zunehmend erkannt wird 2 4 , sind notwendige Bestandteile der negativen, aktiven und positiven status 25 . Die formale Struktur der Status-Lehre, die Ansatzpunkt für K r i t i k war 2 6 , macht sie geeignet, den Grundrechtstheorien, die Inhalt und Rang14 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte; ders., Allgemeine Staatslehre, 419 ff. 15 G. Jellinek (Fn. 14), 14. 16 Oder in R. Alexys (Fn. 12), 232 Deutung: Abstraktion über die vollständig beschreibbaren Positionen. 17 G. Jellinek (Fn. 14), 14; näher R. Alexy (Fn. 12), 230 f. 18 G. Jellinek (Fn. 14), 87 et passim. ι 9 G. Jellinek (Fn. 14), 136; näher R. Alexy (Fn. 12), 242 f. 20 G. Jellinek (Fn. 14), 121; vgl. R. Alexy (Fn. 12), 238 ff. 21 s. R. Alexy (Fn. 12), 243 ff., dort auch zu Versuchen in der modernen verfassungsrechtlichen Literatur, andere oder weitere status zu unterscheiden. 22 Zwischen dem status als solchem und dem Inhalt der status ist also zu unterscheiden; vgl. R. Alexy (Fn. 12), 231. 23 So aber P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), 52, 81, der auch von einem „grundrechtlichen due process" spricht; s. dazu auch D. Grimm, Verfahrensfehler als Grundrechtsverstöße, NVwZ 1985, 865 ff. 24 s. die Nw. zur Rechtsprechung des BVerfGE in Fn. 3, sowie H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, insbesondere 217 ff. 25 Treffend ist daher das Bild der Verfahrensgarantien als Sicherungen der „offenen Flanken der Grundrechte". 26 Nw. bei R. Alexy, 243 ff.; s. auch v. Mangold/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 1, Rz. 110.

6*

84

4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzesvorbehlt

folge der Grundrechtspositionen bestimmen wollen, die Kategorien zu liefern. 2. Die „erste Generation" der Grundrechtstheorien

Eine erste Bestandsaufnahme der Grundrechtstheorien hat 1974 ErnstWolfgang Böckenförde vorgenommen 27 . Böckenförde unterscheidet fünf Grundrechtstheorien, (in seiner Reihenfolge) die liberale, die institutionelle, die Werttheorie, die demokratisch-funktionale und die soziale Grundrechtstheorie. Diese Theorien lassen sich in zwei Gruppen einteilen; die eine betrifft das Bürger-Staat-Verhältnis im Sinne G. Jellineks (liberale, demokratisch-funktionale und soziale Theorie), die andere (institutionelle und Werttheorie) weist darüber hinaus. Für die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie sind die Grundrechte in erster Linie Freiheitsrechte gegen den Staat 28 . Dem status negativus w i r d die Präponderanz gegenüber den anderen status zugesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hebt die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte vor allem in den Entscheidungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hervor, beginnend mit dem Apothekenurteil 29 , zuletzt bestätigt und materiell erweitert durch das Volkszählungsurteil 30 . Im Vordergrund der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie stehen die demokratiebezogenen Grundrechte wie Meinungsfreiheit (Art. 5 I), Versammlungsfreiheit (Art. 8) und Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) 3 1 . Für diese Auffassung nimmt der status activus einen besonderen Rang ein 3 2 . Nach der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie können die notwendigen materiellen und sozialen Voraussetzungen für die Realisierung grundrechtlicher Freiheit für den Einzelnen nur mit staatlicher Hilfe erreicht werden. Der Bürger muß daher Ansprüche auf staatliche Leistungen bzw. auf Teilhabe an staatlichen Einrichtungen haben 33 ; dem status positivus wird folglich zentrale Bedeutung zugmessen. 27 E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529 ff.; kritisch dazu J. Schwabe (Fn. 13), 5 ff.; zur Funktion von Grundrechtstheorien s. auch R. Alexy (Fn. 12), 508 ff. 28 E. W. Böckenförde (Fn. 27), 1530 f.; R. Alexy (Fn. 12), 510; J. Schwabe (Fn.13), 11 f.; W. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), 8 (32 ff.). 29 BVerfGE 7, 377 (404 ff.). 30 BVerfGE 65, 1 (38 ff.); s. dazu schon oben, 1. Teil, II. 3., und Ph. Kunig (Fn. 10), 195 ff., 350 ff. 31 Zur demokratischen Funktion der Grundrechte s. BVerfGE 7, 198 (208) - Lüth; 25, 256 (263 ff.) - Blinkfüer; 69, 315 (347 ff.) - Brokdorf; 50, 290 (337) - Mitbestimmung. 32 s. etwa H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 542: „Die Grundrechte sind dem Staatsbürger nicht zur freien Verfügung eingeräumt, sondern in seiner Eigenschaft als Glied der Gemeinschaft und damit auch im öffentlichen Interesse"; s. auch H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 3, der von der Sozialpflichtigkeit der Grundrechte spricht.

I. Grundrechtstheorie und grundrechtliche Gesetzesvorbehalte

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Die institutionelle Grundrechtstheorie und die Werttheorie der Grundrechte greifen über das Bürger-Staat-Verhältnis hinaus und lassen sich daher nicht mit den Jellinek'schen Kategorien erfassen. Für die institutionelle Theorie enthalten die Grundrechte nicht primär individualbezogene Rechte, sondern verkörpern objektive Ordnungsprinzipien für die von ihnen geschützten Lebensbereiche. Die Freiheit selbst wird zu einem Institut erklärt, das sich in der näheren rechtlichen Ausgestaltung entfaltet und verwirklicht 3 4 . Den objektiven Gehalt der Grundrechte hebt auch die Werttheorie der Grundrechte hervor. Die Grundrechte normieren danach ein Wert - oder Güter - , ein Kultursystem; das Bundesverfassungsgericht hat dafür den Begriff „objektive Wertordnung" geprägt 35 . Die institutionelle und die Werttheorie sind miteinander verwandt, jene betont formale Strukturen, diese legt den Schwerpunkt auf materielle Werte. Keine der Grundrechtstheorien ist „ i n Absolutstriche gesetzt" erträglich 3 6 . Das Bundesverfassungsgericht bedient sich bekanntlich wahlweise aller der genannten Theorien 36a , eine Methodik, die unterschiedlich bewertet wird 3 7 . Für die Grundrechtsvorbehalte hat dies zur Konsequenz, daß sie unterschiedliche Zielrichtung und Reichweite bekommen, je nachdem, welche Theorie oder - bescheidener - welcher Aspekt der Grundrechte jeweils in den Vordergrund gerückt wird. Wenn etwa die Grundrechte nach der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie auch Leistimgsansprüche begründen, erfassen die Vorbehalte (der Art. 12 und 14 I GG) auch die Modalitäten der Gewährung und der Rücknahme der Leistungen. Für die liberale Theorie sind bei staatlichen Leistungen die Grundrechte und ihre Vorbehalte dagegen nicht einschlägig 38 .

33 s. dazu P. Häberle (Fn. 23), 66 ff.; Κ. H. Friauf, Zur Rolle der Grundrechte im Interventions- und Leistungsstaat, DVB1 1971, 674 (676 f.); W. Krebs (Fn. 1), 78; kritisch H. J. Papier, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 78; aus der Rechtsprechung s. BVerfGE 33, 303 (331 ff.) - numerus clausus; BVerfGE 40, 121 (133) Existenzminimum; BVerwGE 23, 347 (348 f.); 27, 360 (362 f.); 70, 290 (293) - Privatschulsubventionierung. 34 Grundlegend P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 104 ff.; s. auch F. Rottmann (Fn. 6), 291 f.; aus der Rechtsprechimg s. BVerfGE 57, 295 (319 f.) - Drittes Rundfunkurteil; weitere Nw. bei E. W. Böckenförde (Fn. 27), 1532. 35 BVerfGE 7, 198 (207) - Lüth; ähnlich E 21, 362 (371 f.): „die Grundrechte (statuieren) als objektive Normen ein Wertsystem"; s. dazu H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 51 ff., 131 ff.; Chr. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 58 ff. 36 Zur K r i t i k s. E. W. Böckenförde (Fn. 27), 1530 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1, Rz. 128 ff. (kritisch gegenüber den objektiven Grundrechtstheorien). 36a s. die Nw. in Fn. 29 bis 36. 37 E. W. Böckenförde (Fn. 27), 1536 plädiert für die Entwicklung einer Grundrechtstheorie der Grundrechte anstelle der topischen Methode des BVerfG; s. dagegen die positivere Bewertung R. Alexys (Fn. 12), 516 ff. 38 s. näher K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 808 ff.; K. Hesse, Grundrechte. Bestand und Bedeutung, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 79 (99 f.).

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

Die Grundrechtstheorien begründen außerdem eine Art Rangfolge der Grundrechte 38a . So mißt das Bundesverfassungsgericht den Grundrechten auf Leben, Freiheit der Person und körperliche Unversehrtheit einen Höchstrang zu 3 8 b . Nach der demokratisch-funktionalen Theorie kommt den „politischen" Rechten die Präponderanz gegenüber „nur" privatnützigen Rechten D e r Rang eines Grundrechts beeinflußt auch den Umfang der Delegazu38c tionsbefugnis des Gesetzgebers: wenn besonders wichtige Grundrechte betroffen sind, muß er die Einschränkung bzw. Konkretisierung selbst vornehmen 39 . Schwieriger noch als bei den status-orientierten Grundrechtstheorien gestaltet sich die Bestimmung des Anwendungsbereichs der Grundrechtsvorbehalte bei den objektiven Grundrechtstheorien. Denn die Beschränkung der Grundrechte (und ihrer Vorbehalte) auf das Bürger-Staat-Verhältnis entfällt, ebenso scheidet die Intensität eines Eingriffs als Kriterium der Delegationsbefugnis aus. Hinzu kommt, daß vor allem bei der Werttheorie die Grundrechte in ihrer Gesamtheit, eben als Werteordnung begriffen werden, in der das einzelne Grundrecht ebenso wie sein Gesetzesvorbehalt aufgeht 40 . 3. Die „zweite Generation" der Grundrechtstheorien

Neuere Grundrechtstheorien versuchen, die Unterscheidung zwischen Abwehr- und Leistungsrechten wie auch die Differenzierung zwischen den Grundrechten als subjektiven Rechten und ihrem objektiven Gehalt zugunsten eines einheitlichen, integrativen Erklärungsansatzes zu überwinden. Die Lösungsvorschläge können als eher liberale und eher soziale Theorien bezeichnet werden 41 . Eberhard Grabitz strebt eine Verrechtlichung des Freiheitsbegriffs an 4 2 . Er bezieht das Freiheitsprinzip und das Sozialstaatsprinzip kohärent auf38a

s. ζ. B. BVerfGE 7, 198 (215): „Die im Grundrechtsabschnitt enthaltene Wertordnung ist zugleich eine Wertrangiordnung (Hervorhebung im Original); s. dazu I. v. Münch, GGK, Art. 2, Rz. 68 ff. 38b s. etwa BVerfGE 39, 1 (42) - Fristenlösung; 49, 24 (53) - Kontaktsperre. 38c Den „hohen Rang" der Versammlungsrechte betont das Bundesverfassungsgericht im Brokdorf-Urteil, BVerfGE 69, 315 (348); zur Bewertung von öffentlicher und privater Meinung als Schutzgut des Art. 5 I GG s. v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 5, Rz. 16 m. w. N. 39 s. die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Justizgrundrechten (Art. 101 - 104); s. nur BVerfGE 10, 251 (258); 51, 60 (73); näher Ph. Kunig, in: v. Münch, GGK, Art. 103, Rz. 23, Art. 104, Rz. 9; allgemein s. I. v. Münch, GGK, Art. 2, Rz. 68 ff. 40 s. dazu F. Rottmann (Fn. 6), 292, 295; H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, Der Staat 1985, 351 (371). 41 So A. Bleckmann (Fn. 13), 250. 42 E. Grabitz, Freiheit als Verfassungsprinzip, 137: „Als Verfassungsprinzip ist Freiheit zu unterscheiden von einer vorstaatlichen und damit vor-(verfassungs-) rechtlichen Freiheit"; s. dazu A. Bleckmann (Fn. 13), 250.

I. Grundrechtstheorie und grundrechtliche Gesetzesvorbehalte

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einander, in dem Sinne, daß rechtlich gesicherte Freiheit nur ein begrenztes Maß an sozialen Entfaltungschancen des Individuums eröffne 43 . Die normative Konkretisierung des Freiheitsprinzips durch die Freiheitsrechte ist nach Grabitz unvollkommen, was dadurch zum Ausdruck gebracht werde, daß von Verfassungs wegen der Gesetzgeber in Gestalt der den Freiheitsrechten beigefügten Gesetzesvorbehalte die Kompetenz zugewiesen erhalte, diese Konkretisierung zu vollenden 44 . Weiter in Richtung einer sozialen Grundrechtstheorie geht Dieter Suhr. Für ihn ist „das neue Paradigma der Freiheit die Freiheit der Menschen durch die Menschen" 45 . Die individuelle Freiheit wird zur Freiheit auf Gegenseitigkeit. Bei seinem Verständnis von Freiheit hat Suhr keine Schwierigkeiten, Teilhaberechte in seinen Begriff von Freiheit zu integrieren; er versteht „Freiheit als Teilhabe, Teilhabe als Freiheit" 4 6 . Eine dezidierte Gegenposition zu Suhr und anderen Vertretern sozial orientierter Grundrechtstheorien vertritt Bernhard Schlink, „Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion", der Titel seines Aufsatzes 47 kennzeichnet das Anliegen. Die Grundrechte sind nach Schlink entsprechend ihrem Wortlaut in erster Linie Freiheitsrechte, geschützt gegen Eingriffe und Beschränkungen. Das sog. Eingriffs- und Schrankendenken finde hier sein textliches Fundament 48 . Die Angewiesenheit des Bürgers auf staatliche Leistungen, Organisationen und Verfahren läßt sich, so Schlink, im Rahmen eines modernen Schrankendenkens berücksichtigen. Im Zusammenspiel der Freiheitsrechte mit dem Gleichheitssatz ließen sich brauchbare Lösungen finden, denn dieser verwehre dem Staat nicht nur ungleiche Eingriffe, sondern ebenso ungleiche Zuteilungen von Leistungsansprüchen 49 . Es geht in dieser Untersuchung nicht um die Würdigung dieser Theorien 50 , sondern nur um ihre Auswirkungen auf die Interpretation der grundrecht« E. Grabitz (Fn. 42), 237. 44 E. Grabitz (Fn. 42), 247. 45 D. Suhr, Freiheit durch Geselligkeit. Institut, Teilhabe, Verfahren und Organisation im systematischen Raster eines neuen Paradigmas, EuGRZ 1984, 529 (534 ff.); eingehender ders., Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 165 ff. 46 D. Suhr (Fn. 45), 537; die Teilhabe an staatlichen Leistungen ist danach nur der Sonderfall eines umfassenden Prinzips, 47 B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, 457 ff. 48 B. Schlink (Fn. 47), 457. 49 B. Schlink (Fn. 47), 465. Beispiel hierfür nach Schlink: Wenn der Staat die Wirtschaft fördert und dabei nur über knappe Mittel verfügt, dann müssen diese gleichmäßig untei möglichst geringem Eingriff in die Position der Wettbewerber verteilt werden. 50 s. etwa A. Bleckmann (Fn. 13), 243 ff. zu Grabitz' Theorie; F. Rottmann (Fn. 6), 281, 291 zu Schlink und Suhr; Κ. H. Ladeur, Klassische Grundrechtsfunktion und „postmoderne" Grundrechtstheorie. Eine Auseinandersetzung mit B. Schlink, K r i t i sche Justiz 1986, 197 ff.

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

liehen Gesetzesvorbehalte. Der Ansatz Suhrs unterscheidet nicht zwischen objektiv- und subjektivrechtlichem Gehalt der Grundrechte und sieht sich unter dem Aspekt des Gesetzesvorbehalts daher ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt wie die Werttheorie Grabitz\ Dessen Theorie hebt die Differenzierung zwischen negativen und positiven Freiheiten wohl auf; neben der Betonung der Grundrechtsvorbehalte als Konkretisierungsgebote ermöglicht sein Ansatz indes auch keine schärferen Abgrenzungskriterien für die einzelnen Vorbehalte. Schlinks Überlegungen führen zu einer Dynamisierung des Art. 3 I GG, denn das allgemeine Gleichheitsrecht soll in Verbindung mit den Freiheitsrechten Grundrechtsschutz auch im Bereich staatlicher Leistungen bieten. Inwieweit Art. 3 I GG damit auf die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte einwirkt, bleibt freilich ungewiß 51 . 4. Eine Bilanz

Eine herrschende Grundrechtstheorie gibt es gegenwärtig nicht, eher kann man von einem herrschenden Theoriebündel sprechen 52 . Auch die integrativen Grundrechtstheorien der „zweiten Generation" haben an diesem Befund nichts zu ändern vermocht. Der Geltungsbereich der Grundrechte, einzeln und in ihrer Gesamtheit, entbehrt der festen Konturen. Das gleiche gilt folglich auch für die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. Die Theorienpluralität ermöglicht - oder suggeriert - eine gewisse Offenheit der Interpretation der Grundrechte und ihrer Vorbehalte. In Verbindung mit der weiten Auslegung des Art. 2 I GG bietet dieser Umstand die Möglichkeit, die Grundrechte als Auffangtatbestände für die Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts zu verwenden 53 , auf Kosten freilich einer trennscharfen Bestimmung der Vorbehalte der speziellen Freiheitsrechte. Ein Lösungsansatz hat die demokratischen und rechtsstaatlichen Dimensionen des Gesetzes sowie die legitimatorische Bedeutung der Grundrechte zu berücksichtigen, ohne dabei die Differenzierung der Grundrechtsvorbehalte zu verwischen.

I I . Z u r Legitimität der Grundrechte und ihrer Vorbehalte

Das Grundgesetz sieht seine materiellen Legitimitätsgrundlagen gemäß Art. 79 I I I in den Prinzipien der Art. 1 und 20 GG, wie bereits dargelegt wurde 5 4 . Art. 1 GG bezieht dabei in gewissem Sinne auch die anderen 51 Zu diesem Problem s. bereits G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3, Rz. 303 ff., 354, 374. 52 So R. Alexy (Fn. 12), 516. 53 s. Κ Vogel, Gesetzgeber und Verwaltung, W D S t R L 24 (1966), 125 (149 ff.); Ph. Kunig (Fn. 10), 320; H. J. Papier (Fn. 33), 46 f.; s. dazu auch H. Bethge (Fn. 40), 361 f. 54 s. oben, 2. Teil, II. 2.

II. Zur Legitimität der Grundrechte und ihrer Vorbehalte

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Grundrechte ein. Denn Art. 11 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar") ist nicht allein als Einleitungsformel für die nachfolgenden Grundrechte zu verstehen, wie nach dem Wortlaut des Art. 1 I I I GG zu vermuten stünde, sondern nach dem Bundesverfassungsgericht selbst ein Grundrecht 55 . Nach einer von Günter Dürig vertretenen Lehre strahlt Art. 1 I GG darüber hinaus insofern auf alle anderen Grundrechte aus, als diese jeweils einen „Menschenwürdegehalt" als Kern umschlössen56. Diese Auffassung hat sich zwar nicht durchsetzen können, doch unter dem Blickwinkel der Legitimität signalisiert sie etwas Richtiges: Über Art. 1, insbesondere Abs. 2 und 3 GG bezieht das Grundgesetz auch die anderen Grundrechte in bestimmtem Umfang in den veränderungsfesten Kern ein. Art. 1 I I GG enthält das Bekenntnis „zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten". Das Grundgesetz knüpft damit an die historischen Vorbilder der Menschenrechtsausbildung (auch) anderer Staaten an, wie Frankreich und den USA. Diese sollen in ihrem Vorbildcharakter auch die Legitimation der grundgesetzlichen Ordnung fördern. Die Grundrechte sind zwar keineswegs identisch mit den Menschenrechten, orientieren sich aber in Formulierung und Zusammenstellung an (völkerrechtlichen) Menschenrechtskodifikationen 57 . Ob jedes Grundrecht einen Menschenrechtskern enthält, wie ζ. T. vertreten wird, kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben 58 . Der Plural in Art. 1 I I (Bekenntnis zu den Menschenrechten) und Art. 1 I I I GG (nachfolgende Grundrechte) signalisiert jedenfalls, daß über Art. 79 I I I GG ein Ensemble von Grundrechten veränderungsfest bleiben soll 5 9 . Nicht nur die Menschenwürde i. e. S., sondern die Grund- und Menschenrechte gemeinsam bilden demnach eine Legitimationsgrundlage der grundgesetzlichen Ordnung. Die Wertordnungslehre des Bundesverfassungsgerichts ist daher zugleich eine Legitimationstheorie 60 . Zu den anderen Legitimationsgrundlagen der Verfassungsordnung, namentlich dem Demokratieprinzip, stehen die Grundrechte in einer kom55 BVerfGE 45, 187 (227) - Lebenslange Freiheitsstrafe, s. I. v. Münch, GGK, Art. 1, Rz. 1 ff. 56 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1, Rz. 6 ff.; s. dazu W. Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, 201 ff. 57 Insbesondere war die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen von 1948 ein Vorbild, s. H. Bethge (Fn. 40), 379 ff. m. w. N. 58 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1, Rz. 80. 59 Dies ist mittelbar auch Art. 19 I I GG zu entnehmen, der einen nicht antastbaren Kern jedes einzelnen Grundrechts schützt, allerdings nicht gegen verfassungsändernde Gesetze i. S. v. Art. 79 I GG, sondern nur gegen den „einfachen" Gesetzgeber. Demgegenüber erscheint die Frage, ob Art. 19 I I seinerseits änderungsfest ist, nachrangig, wenn nicht akademisch. Im Zusammenspiel von Art. 19 I I und Art. 1 II, I I I GG erscheint es kaum vorstellbar, daß ein oder gar mehrere Grundrechte in mit Art. 79 GG konformer Weise gänzlich aufgehoben werden könnten; s. dazu B. O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art. 79, Rz. 36. 60 s. dazu Chr. Gusy (Fn. 35), 60 ff.

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

plexen Beziehung 61 . Einerseits bedingen und ergänzen das Demokratieprinzip und die Grundrechte einander. So ist die Sicherung politischer Partizipationsrechte durch das aktive und passive Wahlrecht, die politische Betätigungsfreiheit in Parteien und Bürgerinitiativen sowie durch die Kommunikationsrechte des Art. 5 GG konstitutiv für das demokratische Herrschaftssystem. Das Demokratieprinzip seinerseits steht in Verbindung mit den rechtsstaatlichen Gewährleistungen - im Dienst der Sicherung der Grundrechte, insofern es repressionsbegründenden Verfestigungen von Machtstrukturen vorbeugt und Willkürherrschaft ausschließt 62 . Andererseits stehen die Grundreche zur Demokratie in einem Spannungsverhältnis 63 , weil sie demokratischen Entscheidungen materielle Grenzen ziehen und so als „negative Kompetenznormen" fungieren 64 . Darin liegt die normtheoretische Grundlage des sogenannten Paradoxes der Demokratie, das auf das alte Problem der Abschaffung der Demokratie durch die Demokratie zielt 6 5 . Demokratische Entscheidungen ihrerseits vermögen in bestimmten Grenzen die von den Grundrechten zunächst (prima facie) erfaßten Freiheitsbetätigungen 653 zu limitieren. Das demokratische Paradoxon ist damit zugleich ein legitimatorisches Paradoxon 66 . Die Grundrechte schützen die Interessen der Legitimitätssubjekte - der Bürger also. Staatliches Agieren im Bereich der Grundrechte ist daher prinzipiell legitimitätssensibel. Dies gilt ebenso für staatliche Maßnahmen, die die Grundrechte positiv ausgestalten, fördern oder die Ausübung grundrechtlich verbürgerter Freiheiten durch die Bereitstellung von Leistungen erst ermöglichen, wie für Regelungen, die auf den Ausgleich kollidierender Grundrechtsinteressen zielen. In besonderem Maße legitimitätssensibel und damit legitimationsbedürftig - sind Einschränkungen von prima facie grundrechtlich gewährleisteten Freiheitsbetätigungen, also Grundrechtseingriffe 67 .

61 s. zum folgenden R. Alexy (Fn. 12), 407 ff.; G. Roellecke, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Grenzbereich zur Gesetzgebung, NJW 1978,1776 (1779 f.). 62 K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 625. 63 s. dazu R. Alexy (Fn. 12), 407 ff., der von eitler notwendigen Kollision zwischen dem Prinzip der Demokratie und den Grundrechten spricht. 64 H. Goerlich (Fn. 24), 212; s. dazu auch K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 625. 65 s. R. Alexy (Fn. 12), 407; freilich läßt sich diese Aussage auch ins Positive wenden: die Grundrechte verhindern eine demokratische Abschaffung der Demokratie und dienen in ihrer beschränkenden Wirkung der Sicherung demokratischer Strukturen. 65a Zu dieser Terminologie näher R. Alexy (Fn. 12), 87 ff. 66 Die Folgen dieser Erkenntnis können hier nur angedeutet werden: das Paradox zwingt zur Suche nach Lösungen im Einzelfall, die jeweils der Begründung bedürfen; s. näher R. Alexy (Fn. 12), 117 ff. 67 Vgl. BVerfGE 48, 210 (222); das BVerfG zieht aus dem Unterschied von belastenden und begünstigenden Regelungen im Steuerrecht Konsequenzen für den gebotenen Grad der Regelungsdichte; s. dazu F. Rottmann (Fn. 6), 291.

II. Zur Legitimität der Grundrechte und ihrer Vorbehalte

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In vielen Bereichen hat sich die Differenzierung zwischen Eingriff und Leistung freilich überlebt, sind Belastung und Begünstigung durch staatliche Maßnahmen unentwirrbar miteinander verwoben 68 . Der Legitimationsbedarf wird in diesen Fällen beeinflußt von Parametern (die auch bei „klassischen" Eingriffen eine Rolle spielen) wie Intensität der Maßnahme, Stellenwert der betroffenen Grundrechte, Kreis der Adressaten und Dauer der Auswirkungen. Da die Grundrechte legitimatorisch von zentraler Bedeutung sind, wird die Legitimität der Verfassungsorgane im Sinne der oben beschriebenen Wechselwirkung 69 maßgeblich geprägt von deren Agieren im Bereich der Grundrechte. So sind Ansehen und Reputation des Bundesverfassungsgerichts in hohem Maße zurückzuführen auf seine Entscheidungen zu den Grundrechten 70 . Die legitimatorische Begründung für die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte liegt nach dem Gesagten darin, daß für staatliche Maßnahmen mit Grundrechtsbezug ein hoher Legitimationsbedarf indiziert ist. Mit diesem korrespondiert das Legitimationspotential, mit dem die Verfassung das Parlament in seiner Funktion als Gesetzgeber ausgestattet hat. Die oben beschriebenen 71 Legitimationsleistungen des Parlaments bedürfen dabei mit Blick auf die Grundrechte noch einer Ergänzung durch die These „Was alle betrifft, kann nur von allen entschieden werden" 7 2 - wenn diese auch mediatisiert wird durch das Repräsentationsprinzip als Zurechnungstatbestand. In diese Richtung geht auch die Begründung, die im 19. Jahrhundert für die Geltung des Gesetzesvorbehalts gegeben wurde: „Volenti non fit iniur i a " 7 3 . Ohne daß die staatsrechtlichen Implikationen dieser Zeit damit zu tradieren wären, ist dieser Satz nicht gänzlich überholt 74 , wenn er auch nicht mehr ohne den Zusammenhang mit materiellen Verfassungsprinzipien wie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gesehen werden kann.

β» Vgl. nur BVerfGE 40, 237 (249); 58, 257 (273 f.); W. Krebs (Fn. 1), 102 ff.; J. Pietzcker, Gesetzesvorrang und Gesetzesvorbehalt, JuS 1979, 710 ff.; sowie neuestens J. Staupe (Fn. 1), 117 ff. m. w. N. 69 s. oben, 2. Teil, II. 3. 70 Vgl. H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1253 (1275 f.) 71 s. oben, 3. Teil, I. 3. 72 s. dazu H. Goerlich (Fn. 24), 223: quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet; F. Dürrenmatt, Die Physiker, These 17: Was alle angeht, können nur alle lösen. 73 s. dazu R. Roellecke (Fn. 61), 1779. 74 So aber M. Kloepfer (Fn. 3), 685.

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzesvorbehlt Ι Π . Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und allgemeiner Gesetzesvorbehalt

Die Formel des Bundesverfassungsgerichts, nach der der Gesetzesvorbehalt im „grundrechtsrelevanten" Bereich gelten soll, wird durch die Analyse grundrechtlicher Legitimität bestätigt - und noch zugespitzt. Denn der legitimationsbedürftige Bereich staatlichen Handelns betrifft die Grundrechte, macht an den Grenzen der subjektiven Grundrechtsverbürgungen aber nicht halt, sondern erstreckt sich auch auf deren Vor- und Umfeld; er erfaßt potentiell alle Regelungen, die Auswirkungen auf Individualinteressen haben, seien diese nun subjektiv-grundrechtlich geschützt oder nicht 7 5 . Unter dem Gesichtspunkt der Grundrechtsrelevanz läßt sich aus diesem Grund die erhoffte Konturierung der speziellen Grundrechtsvorbehalte nicht zurückgewinnen. Eine Rückbesinnung auf die Jellinek'schen Kategorien eröffnet jedoch eine Möglichkeit zur Lösung des Dilemmas, wenn nämlich subjektive und darüber hinausgehende objektive Funktionen der Grundrechte präzise unterschieden werden 76 . Auf dieser Grundlage, so die These, kann die Geltung der speziellen Grundrechtsvorbehalte mit ihren spezifischen Anforderungen auf die Grundrechte als subjektive Rechte beschränkt werden, während im darüber hinausgehenden objektiven Bereich der Grundrechte der allgemeine Gesetzesvorbehalt zur Anwendung kommt, auf den die Schrankensystematik nicht anzuwenden ist. Die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil begründet und seither in ständiger Rechtsprechung ausgebaut 77 . Die Literatur ist dem überwiegend gefolgt 78 , doch fehlt es auch nicht an kritischen Stimmen. Vor allem zwei Einwände werden vorgebracht. Erstens werde häufig nicht deutlich, was mit objektiv-rechtlicher oder „institutioneller" Seite der Grundrechte überhaupt gemeint sei 79 . Zweitens wird befürchtet, daß über die objektiv-rechtliche Dimension der

75 Vgl. C. E. Eberle (Fn. 6), 485: „Keine Regelungen (sind) im Staat-Bürger-Verhältnis denkbar, die nicht auf irgendeine Weise einen Grundrechtsbezug besitzen". 76 s. dazu Chr. Starck, Die Grundrechte des Grundgesetzes, JuS 1981, 327, 328 ff.; J. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 5 ff.; R. Alexy (Fn. 12), 159 ff. 77 s. BVerfGE 7, 198 (205 ff.); s. bereits BVerfGE 6, 55 (72 f.) - Ehegattenbesteuerung; sowie BVerfGE 20, 162 (175) - Spiegel; 35, 79 (114) - niedersächsisches Vorschaltgesetz; 39, 1 (14) - Fristenlösung; zuletzt BVerfGE 73, 261 (LS). 78 Vgl. nur P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 GG, 180 ff.; K. Hesse, Grundrechte. Bestand und Bedeutung, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 93 ff.; H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, AöR 110 (1985), 363 ff.; R. Alexy (Fn. 12), 411 ff., 447 ff., jeweils m. w. N. 79 So vor allem J. Schwabe (Fn. 9), 286 ff.; W. Martens (Fn. 28), 190; H. Goerlich (Fn. 35), 51 ff., 131 ff.

III. Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Allgemeinvorbehalt

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subjektiv (-abwehrrechtliche) Gehalt der Grundrechte verkürzt zu werden drohe 80 . Trotz zuweilen unpräziser Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts und in der Literatur 8 1 sollte Einigkeit bestehen, daß subjektive und objektive Dimensionen der Grundrechte nicht als Gegensatz verstanden werden dürfen. Vielmehr sind auch die subjektiven Grundrechte objektiv-rechtlich verbindlich; mit objektivrechtlichem Gehalt eines Grundrechts ist aber eine staatlichen Organen erwachsende Pflicht gemeint, die neben die subjektivrechtliche Verbürgung tritt und über sie hinausreichen kann. Einer Uminterpretation der Grundrechte in „nur" objektives Recht tritt das Bundesverfassungsgericht selbst entgegen, wenn es betont: „Die Grundrechte sind in erster Linie individuelle Rechte (...). Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung dieser Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung" 8 2 .

Darüber hinaus entzieht sich die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte einer formelhaften Definition, sondern bezeichnet im Sprachgebrauch der herrschenden Lehre ein Bündel von Aspekten: erstens über die Abwehrrechte hinausreichende objektive Schutzpflichten (etwa bei Art. 2 I I GG), zweitens die „objektiv-wertsetzende" Ausgestaltung der Grundrechte (namentlich bei Art. 5 - Presse- und Rundfunkrecht, Art. 6 - Eherecht und Art. 14 - Eigentumsordnung), drittens grundrechtsrelevante staatliche Leistungen 83 . Viertens schließlich üben die Grundrechte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine mittelbare (objektive) Wirkung auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privatrechtssubjekten aus 84 . Ansätze einer positiven Bestimmung der objektiven Gehalte der Grundrechte folgen, soweit sie für den Gesetzesvorbehalt relevant sind, im fünften Kapitel. Die hier vertretene Lösung bietet mehrere Vorteile. Der Erkenntnis folgend, daß sich der grundrechtlich motivierte Bedarf nach gesetzlich vermittelter Legitimation und die subjektiven Geltungsbereiche der Grundrechte zwar schneiden, aber nicht decken 84a , erlaubt sie erstens eine trenn80 s. J. Schwabe, Grundrechtlich begründete Pflichten des Staates zum Schutz gegen staatliche Bau- und Anlagegenehmigungen? NVWZ 1983, 523 (527); v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1, Rz. 124 spricht von der Gefahr einer „Entsubjektivierung" der Grundrechte. 81 s. die kritischen Nachweise bei J. Schwabe (Fn. 9), 286 ff. 82 BVerfGE 50, 290 (337) - Mitbestimmung; ebenso v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1, Rz. 126; s. bereits O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 61, 129. 83 Für Einzelheiten und Nachweise, s. unten, 5. Teil, II. 1. a). 84 Dies ist gleichzeitig der wichtigste Anwendungsfall der objektiven Schutzpflichten, s. BVerfGE 7, 198 (205 ff.). - Lüth; st. Rspr., zuletzt BVerfGE 73, 261 - LS; ablehnend J. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 16 ff., 154 ff.; gegen ihn R. Alexy (Fn. 12), 417 ff., 482 ff. 84a Für eine strikte Differenzierung zwischen den Funktionen der Grundrechte und denen der Gesetzgebung plädiert G. Barbey (Fn. 6), 11.

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

schärfere Abgrenzung der Grundrechte als subjektive Rechte, deren diese bedürfen, um justiziabel zu bleiben. Bislang blieb nämlich häufig unklar, ob das Bundesverfassungsgericht auch zu dem subjektiven Geltungsbereich eines Grundrechts Aussagen treffen wollte, wenn es von dem grundrechtsrelevanten Gesetzesvorbehalt sprach 84b . Die Bestimmung der subjektiven Grundrechtsbereiche wird daher erleichtert, wenn sie von dem heteronomen Problem des Gesetzesvorbehalts entlastet bleibt. Ein Beispiel: Der normstrukturellen Präponderenz von Abwehrrechten gegenüber Leistungsrechten kann besser Rechnung getragen werden 840 . Abwehrrechte können durch eine einzige denkbare Handlung des Staates, nämlich durch Unterlassen, erfüllt werden, während bei Leistungsansprüchen prinzipiell mehrere Alternativen zur Verfügung stehen, so daß sich das Problem einer Auswahlreduktion auf eine Alternative qua Verfassung stellt - die in der Praxis vom Bundesverfassungsgericht getroffen werden müßte 8 4 d . Außerdem muß die Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Ressourcen Berücksichtigung finden. Diese Umstände legen eine zurückhaltende Interpretation der Grundrechte als subjektive Leistungsrechte nahe. Gleichwohl können staatliche Leistungen eminenten Einfluß auf die Grundrechtswirklichkeit haben. In diesem Fall ist der allgemeine (grundrechtsrelevante) Gesetzesvorbehalt anzuwenden. Zweitens findet die hier vorgeschlagene Lösung eine Stütze in der Konzeption des Art. 5 I I GG. Danach finden die in Art. 5 I GG geschützten Rechte ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Die gesetzliche Regelung des Rundfunkwesens läßt sich indes nur mit Mühe als „allgemeines Gesetz" bezeichnen, denn sie zielt gerade auf die grundrechtliche Betätigung. Auch ist ihr (primärer) Gegenstand nicht die Beschränkung der Rundfunkfreiheit, sondern deren Ermöglichung. Im Rundfunkrecht kann daher der Gesetzesvorbehalt besser als allgemeiner (grundrechtgrelevanter) Gesetzesvorbehalt als über Art. 5 I I GG begründet werden 84e . 84b Ζ. B. BVerfGE 47, 46 (79 f.) - Sexualkunde: „ I m grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet somit ,wesentlich4 in der Regel wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte". 84c s. dazu und zum folgenden R. Alexy (Fn.12), 455 ff.; in diesem Bereich, d. h. bei grundrechtlichen Leistungspflichten, erkennt auch J. Schwabe (Fn. 9), 292 die Berechtigung einer objektivrechtlichen Funktion der Grundrechte an. 84d s. R. Alexy (Fn. 12), 461; die Frage der Entscheidung über den Inhalt sozialer Grundrechte ist daher ein Problem der Gewaltenteilung; s. dazu auch W. Martens (Fn. 28), 35 f. 84e Vgl. H. D. Jarass (Fn. 2), 475: „Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt greift nur dort ein, wo eine staatliche Maßnahme den Schutzbereich eines Grundrechts beeinträchtigt". Aus den weiteren Ausführungen Jarass' geht hervor, daß er mit „Schutzbereich" die Grundrechte als subjektive Rechte meint; s. auch BVerfGE 57, 295 (321) Drittes Rundfunkurteil, wo das Gericht im Hinblick auf die Ausgestaltung des Rundfunkwesens gerade nicht den Gesetzesvorbehalt des Art. 5 I I GG heranzieht; s. dazu auch H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen, AöR 110 (1985), 363 (391) sowie unten, 5. Teil, II. 1. a).

IV. Der Gesetzesbegriff der Grundrechte

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Drittens schließlich können über den allgemeinen Gesetzesvorbehalt auch Lücken der grundrechtlichen Spezialvorbehalte im subjektiv-rechtlichen Bereich geschlossen werden. J. Schwabe hat darauf hingewiesen, daß trotz der weiten Interpretation des Art. 2 I GG in einigen Fällen die grundrechtlichen Vorbehalte außerstande sind, die Verwaltung an das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage zu binden, so ζ. B. bei ausländischen juristischen Personen und im Hinblick auf Handlungen, die nicht von einem spezifischen Grundrecht geschützt werden, ohne von Art. 2 I GG aufgefangen zu werden 85 . Der grundrechtlich motivierte oder „grundrechtsrelevante" Gesetzesvorbehalt erweist sich damit als ein - möglicherweise der wichtigste, aber nicht der einzige 86 - Anwendungsbereich des allgemeinen Gesetzes Vorbehalts. Die Grundrechte als Ensemble sind demnach neben dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip konstitutiv für den allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Damit ist die systematische Harmonie hergestellt: Alle expliziten Gesetzesvorbehalte des Grundgesetzes, seien sie den Grundrechten oder den Organisationsnormen beigegeben, sind speziell zu dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Dieser gelangt zur Anwendung, soweit die Spezialvorbehalte nicht anwendbar sind oder nicht ausreichen, keine exklusive Kompetenzzuweisung an ein anderes Organ vorliegt und ein Legitimationsbedarf besteht, der ein Parlamentsgesetz erfordert und von diesem erfüllt werden kann. Freilich besteht nicht nur für grundrechtsrelevante, sondern auch für andere Entscheidungen von zentraler oder „wesentlicher" Bedeutung ein hoher Legitimationsbedarf 87 . Der Versuch, eingrenzende Kriterien für „Grundrechtsrelevanz" und Wesentlichkeit zu gewinnen, folgt im abschließenden fünften Kapitel. I V . Der Gesetzesbegriff der Grundrechte

Neben dem Problem der Konturierung des grundrechtsrelevanten Gesetzesvorbehalts besteht auch Uneinigkeit über den Gesetzesbegriff der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. Strittig ist, ob bestimmten Grundrechts85 Ζ. B. das Verbot, sich unfriedlich zu versammeln; s. näher J. Schwabe (Fn. 9), 31 ff. Schwabe nennt ferner gesetzliche Beschränkungen von Ausländern im Bereich von Deutschenrechten. Allerdings soll nach BVerfGE 35, 382 ff. Art. 2 I GG bei Ausländern anstelle der Deutschenrechte einen Mindestschutz bieten. Diese Konstruktion ist sehr strittig, s. J. Schwabe, a. a. O. mit umfassenden Nw. zu beiden Auffassungen. 86 Ein hoher Legitimationsbedarf kann auch im Hinblick auf Entscheidungen bestehen, die nur sehr mittelbar mit den Individualrechten zu tun haben, etwa im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik und im Umweltschutz, s. dazu im einzelnen unten, 5. Teil, I. 1., 2., 3. 87 s. dazu die Beispiele in Fn. 85.

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

vorbehalten anstelle von förmlichen Gesetzen auch materielle Gesetze, also Rechtsverordnungen und Satzungen, genügen 88 . Das Grundgesetz hat expressis verbis keinen eigenen Gesetzesbegriff entwickelt 8 9 . Für die Interpretation der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte könnte aber Art. 104 I GG einen Hinweis geben, in dem es heißt: „Die Freiheit der Person kann nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden".

Der mögliche Gegenschluß, nach dem in allen anderen Fällen, bei denen das Adjektiv „förmlich" fehlt, ein materielles Gesetz zur Einschränkung des Grundrechts genügt, ist, soweit ersichtlich, aber von niemanden gezogen worden. Prononciert vertritt im Gegenteil Achterberg die Auffassung, „Gesetz" im Sinne des Grundgesetzes sei immer ein förmliches Gesetz; er vertritt damit einen monistischen Gesetzesbegriff 90. Die herrschende Lehre differenziert dagegen nach den einzelnen Grundrechten. Wo in den Grundrechtsartikeln ausdrücklich Einschränkungen „durch Gesetz" oder „aufgrund eines Gesetzes" vorgesehen sind, also in Art. 5 II, 8 II, 11 I I einerseits und in Art. 2 I I 3, 6 III, 8 II, 10 II, 13 III, 16 I 2 GG andererseits, dürfen diese nur in Gestalt förmlicher Gesetze erfolgen 91 . Bei Art. 12 (Regelungsvorbehalt) und insbesondere bei Art. 14 I 2 GG (Inhalt und Schranken werden durch das Gesetz bestimmt) sollen auch materielle Gesetze ausreichen, jedenfalls soweit primär der Inhalt bzw. der Schutzbereich dieser Grundrechte betroffen ist 9 2 . Der Ansatz für die Lösung des Problems ist in Art. 80 I GG zu suchen. Danach können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder eine Landesregierung ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen im Gesetz bestimmt werden. Das bedeutet: materielle Gesetze bedürfen - soweit sie in Form einer Verordnung erscheinen - immer einer formellgesetzlichen Grundlage, wobei der exekutive Verordnungsgeber nicht nur formal, sondern auch inhaltlich an den Willen des Gesetzgebers gebunden ist 9 3 . Jedes Einschrän88 Zum Streitstand s. Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 32 ff.; W. Krebs (Fn. 1), 112 ff., N. Achterberg, Parlamentsrecht, 706 ff.; H. J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 30 ff. 89 s. N. Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289 (291). 90 N. Achterberg (Fn. 89), 298. 91 Vgl. im einzelnen Chr. Starck (Fn. 88), 34. 92 So dezidiert H. J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14, Rz. 279: im Bereich des Art. 14 sollen nach Papier, Rz. 286, allerdings eigentumstangierende Steuereingriffe der parlamentarischen Gesetzgebung vorbehalten bleiben, während etwa die Bestimmung der Schranken des Grundeigentums zu einem erheblichen Teil durch die gemeindliche Bauleitplanung erfolge. 93 s. nur B.-O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art. 80, Rz. 3, 20; K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 662 ff.; Ausnahmen gelten nur für die Übergangsregelungeri der Art. 119, 127

IV. Der Gesetzesbegriff der Grundrechte

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kungs-, Regelungs- oder Inhaltsschrankenbestimmungsgesetz im materiellen Sinne in Form der Verordnung zu den Grundrechten bedarf demnach der formellgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, anders gesagt: zwischen Grundrecht und Verordnung muß immer ein formelles Gesetz stehen. Dies kann deshalb so pauschal behauptet werden, weil mit dem Bundesverfassungsgericht davon auszugehen ist, daß Art. 80 I GG zwar nicht direkt oder analog in den Bundesländern gilt, die in ihm niedergelegten Grundsätze aber aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungssystem folgend auch für die Landesgesetzgebung Verbindlichkeit besitzen 94 . Gesetze im materiellen Sinne sind ferner Satzungen, die von in den Staat eingeordneten juristischen Personen des Öffentlichen Rechts im Rahmen ihrer gesetzlich verliehenen Autonomie erlassen werden 95 . Nach einhelliger Meinung gilt Art. 80 I GG nicht für Satzungen 96 . Rechtsverordnungen und Satzungen unterscheiden sich nämlich prinzipiell: Sie sind Ausdruck zweier voneinander zu trennender innerstaatlicher Organisationsprinzipien: der Dekonzentration und der Dezentralisation. Durch Verordnungsermächtigung gibt der (parlamentarische) Gesetzgeber die ihm zustehende Normsetzungsbefugnis partiell an eine Stelle der bürokratisch-hierarchisch organisierten Exekutive ab. Dagegen wird durch gesetzliche Verleihung der Autonomie einer selbständigen, vom staatlichen Verwaltungsapparat separierten Verwaltungseinheit die Befugnis eingeräumt, nicht nur partiell, sondern in dem umfassenden Rahmen ihres gesamten Kompetenzbereichs Recht zu setzen 97 . Auch die autonome Satzungsmacht beruht demnach auf einem Parlamentsgesetz, ist aber scheinbar nur formal, d. h. im Hinblick auf den Gründungsakt, gesetzesakzessorisch. In dem hier interessierenden Bereich der Grundrechtseingriffe wird die strikte Trennung zwischen Verordnung und Satzung freilich abgemildert: Soweit der autonome Verband nicht nur allgemein die ihm übertragenen Aufgaben wahrnimmt und die dazu erforderlichen Organisationsnormen erläßt, sondern zugleich zu Eingriffen in die Grundrechte ermächtigt ist, darf der (parlamentarische) Gesetzgeber diesem eine inhaltlich schrankenlose Gestaltungsfreiheit nicht und 132 IV GG sowie im Verteidigungsfall (Art. 115 k GG); keine Ausnahmen stellen die (mißverständlich sogenannten) gesetzesändernden Verordnungen dar. Damit sind gesetzliche Regelungen angesprochen, die die Exekutive ermächtigen, in Rechtsverordnungen vom Gesetzesinhalt abzuweichen, ζ. B. in § 10 Ladenschlußgesetz; derartige „Delegalisierungen" hat das Bundesverfassungsgericht in engen Grenzen für zulässig erklärt, s. BVerfGE 7, 282 (291); 15,151 (160); 22,180 (214); s. näher F. Ossenbühl, in: H. U. Erichsen/W. Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 I I I 2 b. 94 Vgl. nur BVerfGE 55, 218 (226). 95 Vgl. BVerfGE 10, 20 (49 f.); B.-O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art 80, Rz. 10. 96 BVerfGE 12, 319 (325); 37, 1 (25); K. Stern (Fn. 6), 657; kritisch zur Rechtsprechung des BVerfG aber K. U. Meyn, Autonome Satzung und demokratische Legitimation, DVB1 1977, 593 (596). 97 Vgl. F. Ossenbühl, in: Erichsen/Martens (Fn. 93), § 7 IV 2; s. auch Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 330 ff. 7 Hermes

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

zugestehen. Denn - so hat das Bundesverfassungsgericht im Facharztbeschluß für Art. 12 GG entschieden - die notwendige Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und der freien (beruflichen) Selbstbestimmung des Einzelnen ist in erster Linie dem parlamentarischen Gesetzgeber übertragen. Dies ergebe sich daraus, daß der Regelungsvorbehalt in Art. 12 I 2 GG in die Form des Gesetzes Vorbehalts gekleidet sei 98 . Allerdings dürften auch der Selbstgesetzgebung autonomer Körperschaften nicht so starke Fesseln angelegt werden, daß für eigenverantwortliches Handeln nicht mehr genügend Spielraum bestünde 99 . Insgesamt ergibt sich, daß der Gesetzgeber bei Satzungsermächtigungen dem Ermächtigungsempfänger einen größeren Spielraum inhaltlicher Gestaltungsfreiheit eröffnen darf (auch im Grundrechtsbereich) als bei Verordnungsermächtigungen der Exekutive 1 0 0 . Jedenfalls muß aber jede Grundrechtseinschränkung durch oder aufgrund einer Verordnung oder Satzung eine formellgesetzliche Ermächtigungsgrundlage haben. Insoweit erfordern die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte generell ein förmliches Gesetz 101 . Eine andere Frage ist, wann und inwieweit der Gesetzgeber seine Befugnisse zur Grimdrechtseinschränkung auf den Verordnungsgeber und/oder auf den Satzimgsgeber übertragen darf. Es ist dieses Problem, das verkürzend unter den Stichworten „formelles/materielles Gesetz" oder Rechtssatzvorbehalt/Parlamentsvorbehalt bei grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalten diskutiert w i r d 1 0 2 . Die meisten der ausdrücklichen Schrankenvorbehalte enthalten die Formel „... kann beschränkt werden durch oder aufgrund eines Gesetzes", mit Ausnahme von Art. 5 I I und Art. 14 I 2. Vereinzelt ist versucht worden, aus der Formulierung „aufgrund eines Gesetzes" die Zulässigkeit von Verordnungsermächtigungen herzuleiten 103 . Nach der grammatischen Interpretation ist diese Auslegung nicht zwingend: „aufgrund eines Gesetzes" kann ebensogut bedeuten: durch Einzelakt, der unmittelbar auf einem formellen Gesetz beruht. Soweit diese Interpretation den Gegenschluß impliziert, daß bei Fehlen der Formulierung „aufgrund eines Gesetzes" eine Verordnungsoder Satzungsermächtigung ausscheide 104 , überzeugt sie nicht und hat auch keine nachhaltige Unterstützung erfahren. So hat für das Bundesverfas98 BVerfGE 33, 125 (158). 99 BVerfGE 33, 125 (158). 100 s. dazu näher H. Bethge, Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt für die Kommunalverwaltung, NVwZ 1983, 577 (580 f.). 101 So im Ergebnis auch N. Achterberg (Fn. 88), 736. 102 s. dazu die Nw. oben, 3. Teil, Fn. 198. 103 A. Hamann, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 19, Anm. Β 2 d. 104 So für die alte Fassung des Art. 12 I 2 GG: v. Mangoldt/Klein, Grundgesetz, Art. 12, Anm. V 6; BVerwGE 3, 254 (256).

IV. Der Gesetzesbegriff der Grundrechte

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sungsgericht die Änderung des Art. 12 I GG (von „durch Gesetz" zu „durch oder aufgrund eines Gesetzes") nur klarstellende Funktion 1 0 5 . Bei Art. 1412 GG hat das Bundesverfassungsgericht immer auch materielle Gesetze als Inhalts- oder Schrankenbestimmungen des Eigentums gelten lassen 106 , sofern sie von einem formellen Gesetz gedeckt waren - obwohl hier die Formel „aufgrund eines Gesetzes" fehlt. Auch im Bereich von Art. 101 I 2 und 103 I I GG hält das Bundesverfassungsgericht mit Zustimmung der überwiegenden Lehre Verordnungsermächtigungen nicht für generell unzulässig, wenngleich der Gesetzgeber die Ermächtigung insbesondere bei Art. 103 I I GG so eindeutig und präzise zu umreißen gehalten ist, daß Strafbarkeit und Art der Strafe schon aus ihr, nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung entnommen werden können 1 0 7 . Einzig Art. 104 11 GG („Beschränkung der Freiheit der Person aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgesehenen Formen") scheint nach seinem strikt formulierten Wortlaut die Zulässigkeit von Verordnungsermächtigungen i. S. d. Art. 80 1 GG auszuschließen. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht eine „Spezifizierung" des Eingriffstatbestands durch ein nichtförmliches Gesetz für zulässig erklärt, wenn sie die „Rechtssicherheit und die Freiheit des einzelnen nach Sinn und Zweck des Art. 104 wahre" 1 0 8 . Diese Rechtsprechung ist nicht ohne K r i t i k geblieben. Insbesondere w i r d bemängelt, daß das Bundesverfassungsgericht den zu fordernden Grad an Bestimmtheit von der Schwere des Eingriffs abhängig macht 1 0 9 . Ein Freiheitsbeschränkungen erlaubendes nichtförmliches Gesetz müsse dagegen in jedem Einzelfall auf ein förmliches Gesetz zurückgeführt werden können, das die Einzelheiten des Eingriffs so detailliert regele, wie es dem hohen Rang des Art. 104 GG entspreche 110 . Dennoch wird zwischen Art. 103 I I und Art. 104 1 GG trotz der unterschiedlichen Formulierung des Gesetzesvorbehaltes nicht differenziert. In Rechtsprechung und Schrifttum werden praktisch identische Anforderungen an den Bestimmtheitsgrad der Ermächtigungsnorm gestellt 111 . Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung kann die These gewagt werden, daß es dem Gesetzgeber bei keinem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt 105 Vgl. nur BVerfGE 21, 72 (73); 33, 125 (126); R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 12, Rz. 294. 106 BVerfGE 8, 71 (79); 9, 338 (343); 58, 137 (146). 107 s. BVerfGE 1, 14 (60); 51, 60 (73); 14, 174 (185); 32, 346 (362); 71, 108 (114 ff.); BVerfG EuGRZ 1986, 619 (626 f.) - Sitzdemonstration, zu Art. 103; BVerfGE 6, 45 (50 f.); 21, 139 (145); 40, 269 (271) zu Art. 101 GG; s. näher Ph. Kunig, in: I. v. Münch, GGK, Art. 103, Rz. 23; Art. 101, Rz. 23. 108 BVerfGE 14, 174 (187); 14, 245 (251); 51, 60 (70 f.) (die Enscheidungen betrafen Freiheitsstrafen aufgrund der StVZO und der Wehrdienstordnung). 109 BVerfGE 14, 251 (254). 110 So Ph. Kunig, in: v. Münch, GGK, Art.104, Rz. 10, vgl. aber I. v. Münch, GGK, Art. 2, Rz. 68. 111 Nw. bei Ph. Kunig (Fn. 110), a. a. O. 7*

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzesvorbehlt

prinzipiell untersagt ist, die Exekutive zu Grundrechtseinschränkungen durch Verordnung zu ermächtigen. Allerdings darf der Gesetzgeber der Exekutive nicht einen beliebig großen Gestaltungsspielraum zugestehen. Dies ist schon wegen der Formulierung des Art. 80 I GG bei Verordnungen ausgeschlossen112. Im übrigen ist unter dem Aspekt der einzelnen Grundrechte zu unterscheiden. Generell läßt sich sagen: Je größer die Intensität des Grundrechtseingriffs ist, desto eingehender und präziser müssen die formellgesetzlichen Ermächtigungen an den Verordnungs- bzw. Satzungsgeber bemessen sein 113 . Weiterhin ist zu differenzieren nach der Bedeutung der geschützten Grundrechte. So erlauben etwa Art. 101, 103 und 104 GG wie dargestellt prinzipiell nur Delegationen des Gesetzgebers in sehr beschränktem Umfang. Das gleiche gilt für Art. 2 I I 1 hinsichtlich Eingriffen in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Hier ist es kaum denkbar, daß der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber mehr als nur Spezifizierungen und Präzisierungen der formellgesetzlichen Regelung zugestehen kann 1 1 4 . Besonderheiten scheinen aber zu gelten für Art. 2 I und Art. 14 I 2 GG. Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit w i r d begrenzt durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Von den drei Schranken interessiert hier nur die „verfassungsmäßige Ordnung" 1 1 5 . Nach dem Elfes-Urteil bezeichnet „verfassungsmäßige Ordnung" die Gesamtheit aller Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind 1 1 6 . In Verbindung mit dem in derselben Entscheidung niedergelegten Bekenntnis des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 I GG als Schutz der Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne bezeichnet „verfassungsmäßige Ordnung" damit einen allgemeinen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt, der für alle staatlichen Eingriffe gilt, die nicht bereits von den Schutzbereichen der speziellen Freiheitsrechte erfaßt werden 117 . Auch bei diesem Grundrecht hängt die Delegationsbefugnis des Gesetzgebers von der Intensität des Eingriffs ab. Denn auch im Bereich der unbenannten oder „Innominat"-Freiheiten des Art. 2 I GG kann es zu Grundrechtseingriffen von großer Intensität kommen, vor allem, wenn das durch 112

Zur Funktion des Art. 80 I GG s. näher unten, 5. Teil, III. 2. Vgl. nur BVerfGE 41, 251 (265 f.); 48, 210 (221); 58, 257 (278); D. C. Umbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, Fs. Faller, 111, 128 f. 114 BVerfGE 22, 180 (219); vgl. I. v. Münch, GGK, Art. 2, Rz. 68; weniger eindeutig ist dies allerdings für die aus Art. 2 I I 1 GG folgende Pflicht des Staates, Leben und Gesundheit vor Gefahren zu schützen, vgl. dazu BVerfGE 53, 30 (65) - Mülheim-Kärlich; 49, 89 (141) - Kalkar. 115 s. dazu Th. Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, 106 ff. mit umfassenden Nw.; v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2, Rz. 13 ff. 116 BVerfGE 6, 32 LS 3. 117 Allgemeine Meinung, s. nur I. v. Münch, GGK, Art. 2, Rz. 31; vgl. auch J. Schwabe (Fn. 9), 425 ff. 113

IV. Der Gesetzesbegriff der Grundrechte

101

A r t . 2 I i. V. m. A r t . 1 I G G geschützte A l l g e m e i n e Persönlichkeitsrecht betroffen ist. H i e r s i n d an die i n h a l t l i c h e B e s t i m m t h e i t v o n gesetzlichen E r m ä c h t i g u n g e n hohe A n f o r d e r u n g e n zu s t e l l e n 1 1 8 . I m P r i n z i p g i l t d a m i t f ü r A r t . 2 I G G nichts anderes als f ü r die anderen Grundrechte: Z u i h r e r E i n s c h r ä n k u n g muß eine formellgesetzliche E r m ä c h t i g u n g s g r u n d l a g e bestehen, die Verordnungs- oder Satzungsmacht verleihen k a n n 1 1 9 . Bei A r t . 14 I 2 sollen z u r B e s t i m m u n g v o n I n h a l t u n d S c h r a n k e n des Eigentums n a c h verbreiteter Auffassung materielle Gesetze ausreichen. Starch

e t w a deutet n u r m i t Z u r ü c k h a l t u n g eine Begrenzung der Delega-

tionsbefugnis des Gesetzgebers an: „Fraglich dürfte freilich sein, ob Inhaltsbestimmungen jeglicher Intensität von sog. nur materiellen Gesetzen festgelegt werden dürfen oder ob nicht vielmehr gewisse Primärregelungen der parlamentarische Gesetzgeber zu normieren h a t " 1 2 0 . Das Bundesverfassungsgericht h a t die Frage i n z w i s c h e n e i n d e u t i g b e a n t w o r t e t . I m Buchablieferungsbeschluß heißt es: „Zwar werden nach Art. 1412 GG Inhalt und Schranken des Eigentums ,durch die Gesetze' bestimmt. Daraus leitet sich aber keine generelle Pflicht des Gesetzgebers ab, den Inhalt der Rechtsstellung des Eigentümers bis ins letzte selbst zu regeln. Im Blick auf die elementare freiheitssichernde Bedeutung des Art. 14 I 1 GG (vgl. BVerfGE 24, 367 (389); 50, 290 (339)) ist er allerdings gehalten, die Voraussetzungen, unter denen der Gebrauch des Eigentums beschränkt werden darf, durch eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmte Ermächtigung selbst festzulegen" 1 2 1 . Bestätigt w i r d dies i n d e m richtungsweisenden Naßauskiesungsbeschluß: „Der Gesetzgeber muß bei der Wahrnehmung des ihm in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erteilten Auftrages, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, sowohl die grundgesetzliche Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG als auch das Sozialgebot des Art. 14 Abs. 2 beachten" 1 2 2 . A u c h i m B l i c k auf A r t . 2 I u n d 14 I 2 G G ergeben sich n a c h alledem keine A b w e i c h u n g e n zu den f ü r die ü b r i g e n Freiheitsrechte geltenden G r u n d s ä t zen. A l l g e m e i n g i l t daher: A l l e Grundrechtsvorbehalte erfordern zunächst ein formelles Gesetz. D e m Gesetzgeber ist es allerdings gestattet, seine 118 s. BVerfGE 65, 1 (LS 2 und 44 ff.) - Volkszählung; vgl. bereits BVerfGE 27, 1 (6) - Mikrozensus; 27, 344 (350 f.) - Scheidungsakten; 35, 202 (220) - Lebach. 119 s. BVerfGE 54, 143 (144) - Taubenfütterung; 59, 275 (278) zu Art. 2 I; vgl. auch R. Alexy (Fn. 1), 309 ff.; J. Schwabe (Fn. 9), 28, 425 ff.; Th. Wülfing (Fn. 115), 106 ff. Art. 2 I GG soll darüber hinaus nicht nur einem Gesetzesvorbehalt, sondern einem Rechtsvorbehalt unterliegen, denn auch verfassungsmäßiges Gewohnheitsrecht bilde eine Einschränkung (s. I. v. Münch, GGK, Art. 2, Rz. 31 unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte). Das BVerfG hat allerdings bislang noch in keinem Fall eine Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit auf Gewohnheitsrecht gestützt. 120 Chr. Starch (Fn. 88), 34; s. auch H. J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14, Rz. 279 ff. 121 BVerfGE 58, 137 (146). 1 22 BVerfGE 58, 300 (338).

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4. Teil: Grundrechte und allgemeiner Gesetzes vorbehält

Rechtssetzungsbefugnisse in bestimmtem Umfang auf den Verordnungsgeber (oder den Satzungsgeber) zu übertragen. Die Verordnungsermächtigung muß den Voraussetzungen des Art. 80 I 2 GG genügen. Darüber hinaus hängt das Ausmaß der Delegationsbefugnis von der Bedeutung des jeweiligen Grundrechts und der Intensität des intendierten Eingriffs ab 1 2 3 . Der Streit um formelle und materielle Gesetze bei den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten im Sinne eines Entweder - Oder entbehrt daher der verfassungsrechtlichen Grundlage 124 .

123 124

Zu diesen Kriterien s. im einzelnen unten, 5. Teil, II. 1. b). Vgl. Chr. Starck (Fn. 88), 36; N. Achterberg (Fn. 88), 736.

Fünfter Teil

Der Bereich des allgemeinen Gesetzesvorbehalts Ansätze einer Konkretisierung I. D i e doppelte Problemstellung

Die in den vorangegangenen Abschnitten entwickelte und im folgenden zu konkretisierende These lautet: Der allgemeine Gesetzesvorbehalt kommt jenseits der speziellen Vorbehalte und exklusiven Kompetenzzuweisungen dann zur Anwendimg, wenn staatliche Regelungen im besonderen Maße der Legitimation bedürfen, und soweit das Parlamentsgesetz geeignet ist, legitimierend zu wirken 1 . Die Zweistufigkeit der These entspricht dem doppelten Problem, das sich stellt. Erstens ist zu klären, wann der parlamentarische Gesetzgeber tätig werden muß. Damit sind die vorbehaltsbegründenden Umstände oder die „Tatbestandsseite" des Vorbehalts angesprochen. Wenn der Gesetzgeber in Aktion zu treten hat, ist weiter zu fragen, wieviel er selbst regeln muß und inwieweit er Normsetzungsbefugnisse an die Exekutive (oder den Satzungsgeber) delegieren darf, womit die vorbehaltsausfüllenden Umstände oder die Rechtsfolgenseite des Vorbehalts benannt sind 2 . Die Rechtsfolgenseite ist ferner auch bei den speziellen Vorbehalten zu bestimmen: Wenn ein Grundrecht als subjektives Recht durch eine Regelung betroffen wird, ist die Tatbestandsseite seines Vorbehalts indiziert, zunächst aber noch nicht entschieden, welche inhaltlichen Anforderungen an das Vorbehaltsgesetz zu stellen sind. Soweit sich die nachstehenden Überlegungen auf vorbehaltsausfüllende Umstände beziehen, betreffen sie daher auch die Grundrechtsvorbehalte.

1

s. oben, 3. Teil, IV. 4.. Die Differenzierung nach Tatbestands- und Rechtsfolgenseite des Gesetzesvorbehalts findet sich auch bei M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (691 f.); C. E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, 485 (486 m. w. N.); A. Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers im Atomrecht, JZ 1985, 714 (715); zur zweifachen Verwendung des Wesentlichen s. auch P. Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, 59. BVerfGE 48, 210 (221) - Einkommensteuer - spricht hinsichtlich der Rechtsfolgenseite von dem „Grundlegenden"; BVerfGE 49, 89 (127) legt „gleiche Maßstäbe an die Geltung und Ausfüllung des Gesetzes Vorbehaltes" an; ansonsten trennt das BVerfG nicht klar zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenseite; im Grundrechtsbereich sieht es die Tatbestandsseite wohl als indiziert an und beschäftigt sich daher nur mit den inhaltlichen Anforderungen an die Gesetzgebimg, s. BVerfGE 41, 251 (259 f.) - Speyer-Kolleg; 47, 46 (78 f.) Sexualkunde; 58, 257 (268 f.) - Schulversetzimg. 2

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Indikatoren und Kriterien zur Bestimmung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts werden vom Bundesverfassungsgericht und der Literatur in zahlreichen Variationen vorgeschlagen 3. Den im einzelnen unterschiedlichen Auffassungen ist gemein, daß sie die Mehrfunktionalität des Gesetzes durch verschiedene Kriterien einzufangen suchen. Insoweit folgt der hier vertretene Ansatz der überwiegenden Meinung. Die - legitimatorisch relevanten - Kriterien werden nachfolgend in zwei Gruppen eingeteilt, die in etwa der Tatbestands- und der Rechtsfolgenseite des Gesetzesvorbehalts entsprechen. Die erste Gruppe der hier sogenannten „sachspezifischen" Kriterien betrifft mithin primär die Frage, wann das Parlament aufgerufen ist, als Gesetzgeber tätig zu werden. Die „normspezifischen" Kriterien benennen vorbehaltsausfüllende Gesichtspunkte und sollen dabei die legitimatorischen Leistungen und Grenzen des Gesetzes als Rechtssatz sowie die Legitimationseffekte untergesetzlicher Verfahren berücksichtigen 4 . I I . Sachspezifische Kriterien

In diesem Abschnitt sind materielle Kriterien für den allgemeinen Gesetzesvorbehalt zu nennen, die primär auf die Entscheidungsprärogative des Parlaments abheben. 1. Grundrechtsrelevanz

Der allgemeine Gesetzesvorbehalt kommt im Grundrechtsbereich für Regelungen in Betracht, bei denen die Grundrechte nicht als subjektive, die Anwendung ihrer spezifischen Vorbehalte auslösende Rechte betroffen sind, sondern in ihrem darüber hinausweisenden objektiven Gehalt berührt werden. Objektivrechtlicher Gehalt ist als Oberbegriff zu verstehen für verschiedene - sich teilweise überschneidende - Aspekte einzelner Grund3 BVerfGE 40, 237 (249) stellt auf die Unmittelbarkeit der Betroffenheit des Bürgers ab, BVerfGE 47, 46 (79) auf die Grundrechtsrelevanz; in: BVerfGE 48, 210 (222) werden die Eigenart des geregelten Sachbereichs, das Ausmaß der Grundrechtsbetroffenheit und die „Intensität des Verhaltens, zu dem die Verwaltung ermächtigt wird", genannt; im Dritten Fernsehurteil stellt das BVerfGE einen Anforderungskatalog für die gesetzliche Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit auf, BVerfGE 57, 297 (320 ff); in BVerfGE 58, 257 (268) heißt es freilich: „Was allerdings als wesentlich anzusehen ist und damit dem Parlamentsvorbehalt unterfällt, ist nach wie vor umstritten". - Von den Ansätzen der Literatur seien zunächst erwähnt: D. C. Umbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, Fs. Faller, 111 (127), der eine „Relevanztrias" aufstellt, und C. E. Eberle (Fn. 2), 490 ff.; der den Parlamentsvorbehalt in Fallgruppen negativ umgrenzen will; s. auch J: Staupe, Parlaments vorbehält und Delegationsbefugnis, 236 ff. 4 s. dazu insbesondere H. J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzes vorbehalte und das grundrechtliche Demokratieprinzip, 36; C. E. Eberle (Fn. 2), 491; F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 33 ff.

II.

spezifische Kriterien

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rechte und der Grundrechte als Ensemble, die von den subjektiven Grundrechten abzugrenzen sind 5 (dazu a)). In einem zweiten Schritt ist der objektiv-grundrechtliche Vorbehalt nach der anderen Seite hin abzugrenzen gegenüber nicht hinreichend grundrechtsrelevanten Maßnahmen (dazu b)). a) Der Gesetzesvorbehalt im objektiv-rechtlichen Bereich der Grundrechte (1) Vorfeld der subjektiven Abwehrrechte: Schutzpflichten Bestimmte staatliche Entscheidungen wie die Verwirklichung von technischen Großprojekten bewirken die Gefährdung der Grundrechte eines individuell kaum abgrenzbaren Kreises von Menschen. Zwar können sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Grundrechtsgefährdungen jedenfalls im Bereich des Art. 2 I I GG soweit konkretisieren, daß sie subjektive Klagerechte auslösen6, und eine große Zahl (potentiell) Betroffener im „Einzugsbereich" eines Kernkraftwerkes schließt die Anerkennung ihrer Klagebefugnis gegen das Projekt nicht aus7. Im Mülheim-KärlichBeschluß stützte das Bundesverfassungsgericht die Klage- und Antragsbefugnis der nur wenige Kilometer vom Standort des geplanten Kernkraftwerks wohnenden Beschwerdeführerin auf Art. 2 I I und 19 IV GG, hob in der Begründetheit aber allein auf die objektiv-rechtliche Pflicht der staatlichen Organe ab, sich schützend und fördernd vor die in dem subjektiven Abwehrrecht genannten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren 8 . Die Verwendung des Begriffs „objektiv-rechtlich" erklärt sich zunächst aus der Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts, derzufolge der Einfluß der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen (hier zwischen Kernkraftwerksbetreibern und Anwohnern) stets als „nur" objektiv-rechtlich oder mittelbar anzusehen 5 Zu der nachfolgenden Kategorisierung s. vor allem H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektiv-rechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), 363 ff.; s. ferner R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 428 ff., 447 ff., 477 ff.; kritisch J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 286 ff.; H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. K r i t i k einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, 51 ff., 131 ff. e s. BVerfGE 53, 30 (57) - Mülheim-Kärlich; BVerfGE 46, 160 (165) - Schleyer; s. auch E. Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 Abs. 2 GG im Immissionsschutzrecht, in: AöR 106 (1981), 214 ff. 7 So mit Recht J. Pietzcker, „Grundrechtsbetroffenheit" in der verwaltungsrechtlichen Dogmatik, in: Fs. Bachof, 132 (143) m. w. N.; anders aber F. Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981,1 (7), für den die Abgrenzbarkeit des Betroffenenkreises ein Kriterium für die Zuerkennung von Grundrechten ist: „Wo alle gleichermaßen betroffen sind, kann von einer individuellen Betroffenheit nicht mehr die Rede sein". 8 BVerfGE 53, 30 (48 ff., 57); s. bereits BVerfGE 6, 55 (76) - Ehegattenbesteuerung; 39, 1 (41) - Fristenlösung; 46, 160 (164) - Schleyer; 49, 89 (141) - Kalkar; bestätigt durch BVerfGE 56, 54 (73) - Fluglärm.

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

ist 9 . Die Unterscheidung zwischen subjektiven Abwehrrechten und objektiven Schutzpflichten folgt für das Gericht aber auch daraus, daß Schutzpflichten in unterschiedlicher Weise erfüllt werden können. Welche konkreten Maßnahmen zu ergreifen seien, hätten die staatlichen Organe in erster Linie in eigener Verantwortung zu entscheiden 10 . Subjektiv-rechtlich relevant und damit gerichtlich korrigierbar seien nur evidente Verletzungen der Schutzpflicht 11 . Der Schutzpflichtgehalt einzelner Grundrechte weist damit eine strukturelle Gemeinsamkeit mit Leistungsgrundrechten auf, die ebenfalls in unterschiedlicher Weise erfüllt werden können 12 . Die genannten Entscheidungen zeigen, daß subjektiv-rechtliche (die Klagebefugnis begründende) und objektiv-rechtliche Funktionen der Grundrechte parallel bestehen können 13 . Dies w i r d ferner offenbar, wenn das Bundesverfassungsgericht die objektive Bedeutung eines Grundrechts für das demokratische Gemeinwesen herausstellt, die neben die individuelle Freiheitsbetätigung trete und deren Schutz verstärke 14 . Für den Gesetzesvorbehalt bedeutet dies: Soweit subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Komponenten eines Grundrechts (im Sinne des Bundesverfassungsgerichts) zusammentreffen, ist der jeweilige Spezialvorbehalt des betreffenden Grundrechts ausgelöst. Doch unter dem Gesichtspunkt der Schutzpflicht geht die objektiv-grundrechtliche Bedeutung etwa der Errichtung von Kernkraftwerken über den subjektiv-rechtlich geschützten Aspekt hinaus und erfordert daher die Anwendung des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes. Dies liegt zum einen daran, daß potentielle Gefahren auch von räumlich sehr weit entfernten Anlagen ausgehen (wie das TschernobylUnglück belegt), zum anderen können sich Risiken, die gegenwärtig für den einzelnen Grundrechtsträger nur eine statistisch vernachlässigbare Größe darstellen, in der Zukunft für eine nicht absehbare Zahl von Menschen realisieren. Was für den Einzelnen als in mehrfacher Hinsicht - nämlich räumlich, zeitlich und den Grad der Wahrscheinlichkeit betreffend - nur mittelbaren Grundrechtsbezug hat, besitzt für die Gemeinschaft Grundrechtsrelevanz. Ein weiteres Beispiel liefert die Problematik der Genmani9 Dagegen wendet sich J. Schwabe, für den auch in Fällen der (von ihm „sogenannten") Drittwirkung und bei „Schutzrechten" allein ein Abwehranspruch, nämlich ein negatorischer Unterlassungsanspruch i n Betracht kommt, s. ders., Grundrechtlich begründete Pflichten des Staates gegen staatliche Bau- und Anlagegenehmigungen, NVWZ 1983, 523 ff.; ders., Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 16 ff.; 154 ff.; gegen ihn aber R. Alexy (Fn. 5), 416 ff. 10 BVerfGE 56, 54 (80); s. auch BVerfGE 50, 290 (333) - Mitbestimmung. 11 BVerfGE 56, 54 (81); s. dazu H. D. Jarass (Fn. 5), 380. 12 s. aber R. Alexy (Fn. 5), 427 f., der keinen strukturellen, sondern nur einen graduellen Unterschied zwischen Abwehr- und Schutzrechten sieht, da sich das auf Prognosespielräume bezogene Abwägungsproblem jeweils in vergleichbarer Weise stelle. 13 Vgl. J. Schwabe (Fn. 5), 295 f. mit weiteren Beispielen. 14 So bereits BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth; in diesem Sinne auch BVerfGE 69, 315 (342 ff.) - Brokdorf.

II.

spezifische Kriterien

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pulation, deren Entwicklung die Grundrechtsgüter des Art. 2 I I 1 GG und die Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG berühren - weniger in dem gegenwärtigen Experimentierstadium als durch die zu erwartenden Ergebnisse 143 . Die Benda-Kommission hat denn auch für eine gesetzliche Regelung dieses Komplexes plädiert 1415 . (2) Grundrechtskollisionen Eine besondere Konstellation von staatlichen Schutzpflichten ist in Fällen gegeben, bei denen ein Dritter, gegen dessen Handeln die Schutzpflicht gerichtet ist, sich ebenfalls auf ein Grundrecht berufen kann, also Grundrechte kollidieren 15 . So hatte das Bundesverfassungsgericht in der Fristenlösungsentscheidung 16 den durch Art. 2 I i. V. m. 1 I GG verbürgten Schutz der Intimsphäre der Frau mit dem Recht des Embryos auf Leben, Art. 2 I I GG, zum Ausgleich zu bringen. Grundrechtskollisionen bestehen auch bei anderen Grundrechten, etwa zwischen den Betreibern von genehmigten Anlagen (Art. 12, 14 GG) und Anliegern (Art. 2 II, u. U. Art. 14 GG) und im Bereich der Kommunikationsrechte des Art. 5 zwischen innerer und äußerer Rundfunk- und Pressefreiheit 17 . Der Schutz des einen Grundrechts geht dabei zu Lasten des anderen 18 . Dem Gesetzgeber steht bei dem gebotenen Ausgleich der Grundrechte ein Spielraum zur Verfügung, der nach zwei Seiten begrenzt ist. Zum einen bestimmt die aus dem einen Grundrecht folgende Schutzpflicht, was der Gesetzgeber zur Förderung des begünstigten Grundrechts (im Fristenlösungsfall: des Rechts auf Leben des Embryos) mindestens tun muß. Sie enthält ein „Untermaßverbot" 19 . Auf der anderen Seite besteht eine Grenze, bis zu der das andere Grundrecht zugunsten des geschützten zurückgedrängt werden darf 2 0 . Zwischen diesen Polen kann der Gesetzgeber entscheiden, 14a s. dazu aus der umfangreichen Literatur H. Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation - Wissenschaft im rechtsfreien Raum? JZ 1986, 253 ff.; E. Benda, Humangenetik und Recht - Eine Zwischenbilanz, NJW 1985, 1730 ff. jeweils mit umfassenden Nw. 14b s. Bundesminister für Forschimg und Technologie (Hg.), „In-Vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie", 46 ff.; skeptisch aber H. Hofmann (Fn. 9), 260. 15 Zu Grundrechtskollisionen s. H. D. Jarass (Fn. 5), 382 ff.; H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, insbesondere 272 ff.; J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 317 ff. 16 BVerfGE 39, 1 (42). 17 s. BVerfGE 52, 283 (298) - Tendenzschutz; 59, 231 (262) - Rundfunkmitarbeiter; kritisch dazu H Bethge (Fn. 15), 140 ff. 18 s. H. D. Jarass (Fn. 5), 383. 19 Begriff von C. W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984) 201, (228); aufgegriffen in diesem Zusammenhang von H. D. Jarass (Fn. 5), 383. 20 s. BVerfGE 28, 243 (261) - Zweites Kriegsdienstverweigerimgsurteil: „Die schwächere Norm darf nur soweit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint, ihr sachlicher Grundwertgehalt muß in jedem Fall

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

welche Maßnahmen er zugunsten des einen Grundrechts treffen will, ohne durch subjektive Ansprüche in die Pflicht genommen zu werden. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht im Fristenlösungsurteil ausgeführt: „Wie der Staat eine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahme er für zweckdienlich und geboten h ä l t " 2 1 . Einen Spielraum vergleichbarer Art gestand das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auch im Mitbestimmungsurteil zu, wo es den Ausgleich der Grundrechte der Arbeitnehmer aus Art. 12 und der Anteilseigner aus Art. 14 GG nicht von der Verfassung determiniert, sondern dem Gesetzgeber auf getragen sah 22 . (3) Objektiv-wertsetzende Ausgestaltung Die objektiv-wertsetzenden Aspekte der meisten Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder herausgestellt 23 . Dem Gericht geht es dabei um das positiv-fördernde Einwirken der Staatsorgane auf die Grundrechte; es unterscheidet daher zwischen grundrechtsbegrenzenden und grundrechtsausgestalteten Regelungen 24 . Exemplarisch belegen dies die Entscheidungen zur Presse- und Rundfunkfreiheit. In den vier Rundfunkurteilen wird eine Pflicht des Gesetzgebers angenommen, „durch gesetzliche Vorkehrungen für die Freiheit des Rundfunks Sorge zu tragen" 2 5 . Dazu bedürfe es der Ausgestaltung durch eine positive Ordnung 26 . Das Bundesrespektiert werden". Außerdem stellt das BVerfG auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ab, vgl. BVerfGE 63, 131 (144) - Gegendarstellung; vgl. auch das Dritte Kriegsdienstverweigerungsurteil, BVerfGE 69,1 (25 f.) m. abw. Meinung Böckenförde und Mahrenholz, a. a. O., 57 (81 ff.) 21 BVerfGE 39, 1 (44); ebenso E 46, 160 (164) - Schleyer. Der Dissens zwischen der Senatsmehrheit und den dissentierenden Richtern im Fristenlösungsfall lag gerade darin begründet, daß letztere den Spielraum des Gesetzgebers durch die Fristenlösung für nicht überschritten hielten, während die Mehrheit die Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Embryo zu einer (strafrechtlichen) Sanktionsbewehrung verdichtete, s. E 39, 1 (70, 73 ff.). 22 BVerfGE 50, 290 (349); im gleichen Sinne BVerfGE 52, 283 (298) - Tendenzschutz; vgl. H. D. Jarass (Fn. 5), 385; zum Arbeitsrecht s. auch M. Kloepfer, Arbeitsgesetzgebung und Wesentlichkeitstheorie, NJW 1985, 2497 ff., der aus der „Wesentlichkeitstheorie" eine Verfassungspflicht zur Gesetzgebung im Arbeitskampf recht folgert. 23 BVerfGE 12, 205 (261 f.) - Rundfunk; 20, 162 (175 f.) - Spiegel; 31, 58 (68) - Ehefähigkeit; s. dazu H. D. Jarass (Fn. 5), 369 ff., 390 ff.; Th. Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, 65 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 180 ff.; H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, Der Staat 1985, 351 (364 ff.). 24 s. BVerfGE 52, 283 (299) - Tendenzschutz; s. dazu H. D. Jarass (Fn. 5), 390 ff.; R. Alexy (Fn. 5), 448 ff. 25 BVerfGE 57, 295 (322); 12, 205 (261 f.); 31, 314 (326); BVerfG EuGRZ 1986, 577 (588 ff.) 26 BVerfGE 57, 295 (321).

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spezifische Kriterien

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Verfassungsgericht räumt durchaus ein, daß die positive Ausgestaltung auch Belastungen mit sich bringt, etwa für die betroffenen Rundfunkveranstalter und als solche Träger des Grundrechts aus Art. 5 I GG 2 7 . Es stellt aber fest: „die aus Art. 5 I GG folgende Aufgabe, Rundfunkfreiheit rechtlich auszugestalten, berechtigt jedoch nicht zu einer Beschränkung des Grundrechts. Eine solche ist nur gemäß Art. 5 I I GG zulässig" 28 . Daraus ist zweierlei zu schließen: zum einen unterstellt das Bundesverfassungsgericht offenbar die positive Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit nicht dem speziellen Gesetzesvorbehalt des Art. 5 GG, und zum anderen sieht es die mit der Ausgestaltung zwangsläufig verbundenen Belastungen als gegenüber den positiven Effekten so zweitrangig an, daß nicht einmal sie den speziellen Vorbehalt auszulösen vermögen 29 . Die hier vertretene Differenzierung zwischen dem Grundrecht als subjektivem Recht, das die Anwendung seines Vorbehalts auslöst, und dem darüber hinausgehenden objektiv-rechtlichen Bereich, für den der allgemeine Gesetzesvorbehalt gilt, findet somit eine Bestätigung. Eine andere - sehr strittige - Frage ist allerdings, ob und gegebenenfalls inwieweit ein subjektiver Anspruch des Bürgers auf positive Ausgestaltung des Rundfunkwesens anzuerkennen ist 3 0 . Der objektiv-rechtliche Bereich des Art. 5 I GG geht über den subjektiv-rechtlichen Schutzbereich aber in jedem Fall hinaus. Die objektiv-rechtliche Bedeutung der Grundrechte kommt außerdem im Rahmen der an den Grundrechten orientierten Ausgestaltung der Privatrechtsordnung zum Tragen. Die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften sind überwiegend allgemein in Form von Generalklauseln gefaßt, so daß die Ausstrahlwirkung 31 oder mittelbare Einwirkung 3 2 des Grundrechts erst in der Rechtsanwendung durch die Gerichte aktualisiert wird 3 3 . Doch der

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BVerfGE 57, 295 (322). s. H. D. Jarass (Fn. 5), 391: „die belastenden Auswirkungen auf die Rundfunkbetreiber können als faktische Nebenfolgen der Ausgestaltung des Rundfunkwesens angesehen werden, die mangels hinreichender Schwere den subjektiven Schutzbereich des Art. 5 GG nicht beeinträchtigen", s. dazu H. U. Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 10 ff. 29 Das BVerfG unterscheidet auch an anderer Stelle zwischen grundrechtsbegrenzenden und grundrechtsausgestaltenden Regelungen, z . B . E 5 2 , 2 8 3 (299) - Tendenzschutz. Unklar ist, ob die grundrechtsausgestaltenden Regelungen einem eigenen Typus zugehören sollen (so wohl H. D. Jarass, Die Freiheit des Rundfunks vom Staat, 19 ff., skeptisch aber ders. (Fn. 5), 393, Fn. 150), oder eine Ausformung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts darstellen, wie hier vertreten wird. 30 s. dazu ausführlich R. Alexy (Fn. 5), 451 m. w. N. 31 BVerfGE 7, 198 (207) - Lüth; 34, 269 (280) - Soraya; kritisch J. Schwabe (Nw. in Fn. 9). 32 Chr. Starck, Die Grundrechte des Grundgesetzes, JuS 1981, 237 (243 ff.); kritisch C. W. Canaris (Fn. 19), 209 ff. 33 Aus der neueren Rspr. s. BVerfGE 52, 131 (165) - Arzthaftung; 66, 116 (135 f.) Wallraf; s. näher H. D. Jarass (Fn. 5), 377. 28

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Gesetzgeber erläßt auch spezifisch grundrechtsausgestaltende Normen des Privatrechts, so namentlich im Hinblick auf das Eigentum 34 , aber auch im Eherecht 35 . Während Art. 14 GG expressis verbis einen Auftrag an den Gesetzgeber zur Grundrechtsausgestaltung enthält 3 6 (nach Art. 14 I 2 GG sind nicht nur Schranken, sondern auch Inhalt des Eigentums durch Gesetz zu bestimmen), gelangt bei der positiven Ausgestaltung anderer Grundrechte der allgemeine Gesetzesvorbehalt zur Anwendung. (4) „Leistungsrechte" Die Grundrechtsrelevanz von staatlichen Leistungen ist bereits dargetan worden 37 . Unter legitimatorischen Gesichtspunkten macht es dabei nur geringen Unterschied, ob es um die Organisation und das Verfahren der Zulassung zu existierenden Einrichtungen geht oder um das kostenverursachende Zurverfügungstellen tatsächlicher Leistungen des Staates. Der erstgenannte Bereich wird als derivater Leistungsanspruch über den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG subjektiv-rechtlich eingefangen 38 . Die Anerkennung originär subjektiver Leistungsrechte in größerem Umfang kollidiert dagegen schnell mit der Planungs- und Finanzhoheit des Gesetzgebers 39 . Von der subjektiv-rechtlichen Komponente gelöst können staatliche Leistungsgewährungen dagegen zwanglos dem grundrechtsrelevanten Gesetzesvorbehalt zugeordnet werden - in Verknüpfung mit dem - übergreifenden - Sozialstaatsprinzip und in Harmonie mit der Etathoheit des Gesetzgebers, Art. 110 GG 4 0 . Die Abgrenzung der Grundrechte als subjektive Rechte ist dadurch freilich nicht präjudiziert. Auch im Bereich originärer staatlicher Leistungen können subjektive Ansprüche bestehen, so ζ. B. auf Abwehr von gleichheitsverletzenden Leistungen an Konkurrenten im Subventionswesen 41 . Nur vermag dieser Aspekt nicht allein den Gesetzes34 s. BVerfGE 14, 263 (276 ff.) - Umwandlungsgesetz; 50, 290 (339 ff.) - Mitbestimmung. 35 Vgl. BVerfGE 31, 58 (69): „Die Verwirklichung der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG bedarf einer allgemeinen familienrechtlichen Regelung". 36 So auch P. Häberle (Fn. 23), 181. 37 s. oben, 4. Teil, I. 2., 3. 38 s. B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, 457 (465 f.); K. Hesse, Grundrechte. Bestand und Bedeutung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 96 f. 39 Vgl. nur W. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), 7 (30 ff.); R. Alexy (Fn. 5), 454 ff.; K. Hesse (Fn. 38), 98 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1, Rz. 114 ff. 40 In diesem Sinne auch H. J. Papier (Fn. 4), 101 ff. (umfassend zur Budgetfunktion des Parlaments), ders., Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 49 f.; W. Krebs, Der Vorbehalt des Gesetzes und die Grundrechte; weitergehend: J. Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, AöR 107 (1982), 15 ff. 41 Dies hebt B. Schlink (Fn. 38), 465 hervor.

II.

spezifische Kriterien

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vorbehält im Leistimgsbereich zu tragen, ohne das subjektive (!) Gleichheitsrecht überzustrapazieren 42 . b) Konkretisierung

nach dem Normzweck

Die Abgrenzung von grundrechtsrelevanten staatlichen Regelungen von solchen ohne hinreichenden Individualrechtsbezug ist von zentraler Bedeutung, sollen die von dem subjektiven Recht gelösten objektiven Grundrechtsgehalte und der darauf gestützte Gesetzesvorbehalt nicht jegliche Kontur verlieren 43 . In diesem Zusammenhang erweist es sich als von Vorteil, nach vergleichbaren Abgrenzungsproblemen Ausschau zu halten. Im Grundrechtsbereich ist dies die Frage des Grundrechtsschutzes gegen faktische Beeinträchtigungen der Grundrechte, kurz der faktische Grundrecht seingriff 44 . Nach der allgemein akzeptierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs gewähren die Grundrechte nicht nur Abwehransprüche gegen zielgerichtete „finale" Eingriffe des Staates, sondern in gewissem Umfang auch gegen unbeabsichtigte belastende Nebenwirkungen 45 . Klassische Fälle sind die Beeinträchtigungen des Grundeigentums durch öffentliche Baumaßnahmen oder des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb durch Subventionsleistungen an Konkurrenten. Als entscheidendes Abgrenzungskriterium wurde zunächst nur die „Unmittelbarkeit" der Grundrechtsbeeinträchtigung herangezogen 46. Danach besteht Grundrechtsschutz nur, wenn zwischen dem Akt des Staates und dem Eintritt des beeinträchtigenden Erfolges beim Grundrechtsträger keine Zwischenursachen wirksam geworden sind, die eine nur mittelbare Kausalitätsverbindung zwischen Handlung und Erfolg herstellen würden. Die Beschränkung des Schutzes auf unmittelbare Auswirkungen erwies sich indes als wenig befriedigend 47 . 42

So auch H. D. Jarass (Fn. 5), 397. Vgl. nur die Befürchtungen von C. E. Eberle (Fn. 3), 487; G. Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, 1313 (1317). 44 s. dazu H. U. Gallwas (Fn. 28), 10 ff.; U. Ramsauer, Die Bestimmung des Schutzbereichs von Grundrechten nach dem Normzweck, VerwA 1981, 89 ff. 45 Dies gilt insbesondere für Einwirkungen auf das Eigentum, vgl. BVerwG, DVB1 1968, 35 (Beeinträchtigung eines Kohleförderungsunternehmens durch Genehmigung überirdischer Anlagen); Β GHZ 57, 359 (Beeinträchtigung des Zugangs zu einem Grundstück durch den U-Bahn-Bau); weitere Beispiele bei U. Ramsauer (Fn. 44), 90 und F. Meyer/F. O. Kopp, Allgemeines Verwaltungsrecht, 470 ff. 46 Vgl. nur BVerwG, DÖV 1971, 871; s. im einzelnen U. Ramsauer (Fn. 44), 92 ff. 47 So läßt dieser Begriff kaum eine eindeutige Abgrenzung zu lediglich mittelbaren Beeinträchtigungen zu. Die Anerkennung eines umfassenden Grundrechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 6, 32 ff. - Elfes) steht einer Beschränkung auf das formale Kriterium der Unmittelbarkeit entgegen; s. näher U. Ramsauer (Fn. 44), 94 ff. m. Nw. 43

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Ulrich Raumsauer sucht mit seiner Normzwecklehre verschiedene Gesichtspunkte zur Abgrenzung des faktischen Grundrechtseingriffs zu integrieren 48 . Zunächst bleiben diejenigen Beeinträchtigungen unberücksichtigt, die als Ausdruck des allgemeinen Lebensrisikos anzusehen sind 49 . Maßgeblich sind sodann die Dichte der Erfolgsbeziehung, die sich ihrerseits zusammensetzt aus dem sogenannten Wirkungsfaktor (der Länge der Kausalkette zwischen hoheitlicher Maßnahme und Wirkung beim Betroffenen) und dem Handlungsfaktor (der die Zielrichtung der Maßnahme angibt). Ferner ist auf die Intensität der Einwirkung auf das Grundrecht abzustellen. Die Begriffe der Schwere und des Sonderopfers, die das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof zu den Enteignungsfällen heranziehen 50 , werden so als weitere Kriterien fruchtbar gemacht. In der Kombination ihrer Merkmale gelangt die Normzwecklehre zu einem praktikablen Abgrenzungsverfahren. Allerdings wurde die Normzwecklehre nicht für die Bestimmung der (nur) objektivrechtlichen Gehalte der Grundrechte entwickelt, sondern für die Abgrenzung ihrer subjektiven Schutzbereiche in bestimmten Konstellationen. Doch nach Maßgabe der dargestellten Aspekte (institutionelle Ausgestaltung, Lösung von Grundrechtskollisionen etc.) können Normzweckgesichtspunkte zur Bestimmung des grundrechtsrelevanten Gesetzesvorbehaltes Verwendung finden 51 . Die Intensität der Grundrechtsauswirkung einer Regelung ist für das Bundesverfassungsgericht ohnehin der zentrale Parameter der Grundrechtsrelevanz 52 . Durch die „Dichte der Erfolgsbeziehung" erfährt das Merkmal der Intensität noch eine Spezifizierung, ζ. B. um die Folgen von Leistungsgewährungen auf die Wahrnehmung der Grundrechte der Empfänger oder Dritter bewerten zu können 53 . Als zusätzliche flankierende Normzweckelemente sind der Zeitaspekt und der quantitative Aspekt zu nennen. Der Zeitaspekt berücksichtigt die Dauer der Auswirkungen einer Maßnahme auf Grundrechtsinteressen, die ζ. B. bei Entscheidungen über 48 U. Ramsauer, Die faktischen Beinträchtigungen des Eigentums, 115 ff.; ders. (Fn. 44), 99 ff., der an zivilrechtliche Zurechnungslehren im Deliktsrecht anknüpft, s. d. Nw. a. a. O., 100. 49 U. Ramsauer (Fn. 44), 103. so U. Ramsauer (Fn. 44), 104 ff.; vgl. BGHZ 45, 150 (152 f.); 60, 126 (130); BVerwG 32, 178 ff. 51 Vgl. auch H. U. Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalte, Fs. Juristische Gesellschaft, 113 (119 ff.). 52 Vgl. nur BVerfGE 33,125 (158 f.); 47, 46 (82); auf die Konkretisierungsbedürftigkeit des Begriffs Intensität weist J. Staupe (Fn. 3), 122 f. hin. 53 s. H. J. Papier (Fn. 40), 59, der zu Recht darauf hinweist, daß etwa öffentliche Subventionierungen Privater unter bestimmten Voraussetzungen auch die subjektiven grundrechtlichen Schutzbereiche tangieren, so daß die grundrechtlichen Sondervorbehalte wirksam werden; s. auch H. D. Jarass, Der Vorbehalt des Gesetzes bei Subventionen, NVwZ 1984, 473 ff.

II.

spezifische Kriterien

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Kernenergiekonzepte wegen des Entsorgungsproblems hoch zu veranschlagen ist 5 4 . Die Anzahl aktuell oder potentiell Betroffener ist ebenfalls als Maßstab für das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung zu berücksichtigen 55 . Schließlich sind die staatsleitenden Aspekte der Grundrechte, ihre konstitutiven Funktionen für das Gemeinwesen in Ansatz zu bringen, wie dies das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die institutionelle Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit hervorgehoben hat 5 6 . Die Kriterien der Grundrechtsrelevanz sind je für sich und in ihrem Zusammenspiel nicht in einer Entweder-Oder-Struktur organisiert, sondern bilden gleitende Skalen 57 . Je größer die Erfolgsdichte, die Intensität und die Dauer der Auswirkungen, die Zahl der Betroffenen und der Gemeinschaftsbezug bei einer Regelung im objektiven Bereich der Grundrechte bei der notwendigen ex-ante Betrachtung zu veranschlagen sind, desto eher ist sie grundrechtsrelevant und damit vom Gesetzgeber zu treffen. Grundrechtsrelevanz in diesem Sinne betrifft die Tatbestandsseite des Gesetzesvorbehalts, beeinflußt auf der Rechtsfolgenseite aber auch die inhaltlichen Anforderungen an das Parlamentsgesetz, also den Grad der gebotenen „Regelungsdichte" 58 . Die Formel des Bundesverfassungsgerichts - "Je stärker eine Maßnahme in die Grundrechte eingreift, desto höher sind die Anforderungen an die Regelungsdichte des hierzu ermächtigenden Parlamentsgesetzes zu stellen. Wesentliches muß der Gesetzgeber selbst regeln" 59 - gilt nicht nur für die spezifischen Grundrechtsvorbehalte, sondern auch für den allgemeinen grundrechtsrelevanten Gesetzesvorbehalt 60. Dem Kriterium der Grundrechtsrelevanz kann ferner ein Negativschluß entnommen werden: Unwesentliche Fragen braucht - und soll - der Gesetzgeber nicht regeln. Insofern schützt die Wesentlichkeitstheorie den Gesetzgeber vor sich selbst 603 . Eine andere - strittige - Frage ist, ob daraus folgt, daß die grundrechtlichen Spezialvorbehalte für unwesentliche oder Bagatelleingriffe in ihre subjektiven Schutzbereiche schon auf die Tatbestandsseite nicht gelten, in diesem Bereich mithin der Exekutive ein originärer Rechtsetzungsbereich zuzugestehen sei 6 0 b . Das Problem ist weitgehend über

54 Gleiches gilt für staatliche Regelungen im Bereich der Genmanipulation; s. zu diesem Aspekt auch J. Staupe (Fn. 3), 252. 55 Vgl. J. Pietzcker (Fn. 7), 143. 56 BVerfGE 57, 295 (323 ff.). 57 In diesem Sinne auch H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6, Rz. 11, der die Wesentlichkeit als eine Art Gleitformel bezeichnet. 58 Vgl. nur M. Kloepfer (Fn. 2), 691 f. 59 BVerfGE 58, 257 (269). 60 Zwischen denen das BVerfG ohnehin nicht differenziert; s. dazu oben die Nw. in Fn. 2. 60a So auch E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 392 ff.

8 Hermes

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

eine flexible Interpretation des Art. 80 I 2 GG zu lösen. Rechtsverordnungen bedürfen nach dieser Vorschrift stets einer formellgesetzlichen Grundlage, die aber hinreichend allgemein gehalten sein kann 6 0 c . 2. Determinations Wirkung

Der Gesetzesvorbehalt gilt für „grundlegende, normative Bereiche", so das Bundesverfassungsgericht 61. Nach Eichenberger soll das Gesetz das „Grundlegende, Belangvolle, Gewichtige, Gefestigte, womöglich auch das Dauerhafte und Stabilisierende bringen" 6 2 . Kloepfer w i l l dem Parlamentsvorbehalt insbesondere dort zur Geltung verhelfen, wo „normative Entscheidungen von substantiellem Gewicht für das politische System der Bundesrepublik Deutschland" zu treffen seien 63 . Diese und ähnliche Formulierungen 64 zielen alle in die gleiche Richtung: Wesentliche Entscheidungen auch ohne näheren Grundrechtsbezug sollen dem Gesetzgeber vorbehalten sein. Wann aber ist eine Entscheidung „wichtig für das Gemeinwesen"? Ein Indikator, der der Präzisierung zugänglich ist, wird hier als „Determinationseffekt" bezeichnet. Gemeint ist damit die dauerhafte gestaltende, zukunftsprägende Wirkung einer Entscheidung 65 , die dann in besonderem Maße legitimationsbedürftig ist. Dazu gehören bestimmte staatliche Regelungen mit „Exklusivitätswirkung": Angesichts der zunehmenden Interdependenz staatlichen und privaten Agierens berühren sie aktuell und potentiell eine Vielzahl individueller Interessen, und zwar nicht nur durch positive Beeinflussung, sondern vor allem auch durch den Ausschluß einer Reihe von alternativen Regelungen, die an ihrer Stelle denkbar gewesen wären. Als Beispiel sei zunächst nur auf den Planungsbereich verwiesen 66 : Die Ent-

60b Dafür: M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 63 (74); G. Kisker (Fn. 43), 1318 (Fn. 36); dagegen: F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 23. 60c s. dazu unten, 5. Teil, III. 2. sowie H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, § 101 V I I d 3. 61 BVerfGE 49, 89 (126); das Gericht fährt fort: „zumal im Bereich der Grundrechtsausübung". Diese Formulierung läßt darauf schließen, daß nicht nur im grundrechtsrelevanten Bereich grundlegende Fragen dem Gesetzesvorbehalt unterfallen sollen. 62 Κ Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, W D S t R L 40 (1982), 9 (27). 63 M. Kloepfer (Fn. 2), 692. 64 Vgl. S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 306: „Das Parlamentsgesetz umfaßt grundsätzlich die bedeutsamen Regelungen, unabhängig, ob es sich um Eingriffe oder Leistungen oder staatsleitende Maßnahmen handelt"; D. C. Umbach (Fn. 3), 127: „Bedeutung der Regelung für die Allgemeinheit bzw. das öffentliche Interesse"; ähnlich H. J. Papier (Fn. 4), 93. 65 Vgl. dazu auch Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff der Grundrechte, 169 ff.; S. Magiera, (Fn. 64), 182; J. Staupe (Fn. 3), 252.

II. Sachspezifische Kriterien

115

Scheidung zugunsten eines Verkehrskonzepts, das den Straßenbau forciert, schließt angesichts der begrenzten räumlichen und finanziellen Ressourcen eine großzügige Förderung des Schienenverkehrs aus. Weiterhin ist die Reversibilität einer Maßnahme zu berücksichtigen: Je geringer diese, d. h. die faktische Möglichkeit ihrer Rücknahme zu veranschlagen ist, je eher ihre Verwirklichung mithin vollendete Tatsachen schafft, desto stärker ist der Determinationseffekt. Das trifft etwa auf Planungsentscheidungen zu - der Bau eines Kanals durch ein Landschaftsschutzgebiet kann kaum zugunsten einer Wiederherstellung des Naturzustandes rückgängig gemacht werden. Auf die Bedeutung der prinzipiellen Reversibilität staatlichen Handelns für die Legitimation des Mehrheitsprinzips ist bereits hingewiesen worden 67 . Um so mehr bedürfen Entscheidungen, deren Reversibilität faktisch eingeschränkt ist, der demokratischen Legitimation durch den Gesetzgeber. Bestimmte staatliche Regelungen weisen prinzipiell einen hohen Determinationseffekt auf und können daher dem Vorbehaltsbereich zugeordnet werden, sofern sie nicht ohnehin von speziellen Gesetzesvorbehalten erfaßt werden. So sind Organisationsnormen und Verfahrensregelungen auf Dauer angelegt. Denn einmal geschaffene Strukturen verselbständigen sich und beeinflussen ihrerseits individuelle und öffentliche Interessen. Die Reversibilität von Organisationsentscheidungen ist daher gering zu veranschlagen. Darin liegt die legitimatorische Begründung für die zahlreichen speziellen staatsorganisatorischen Gesetzesvorbehalte des Grundgesetzes 68. Dies kann gleichermaßen für Fälle gesetzgeberischen Unterlassens gelten, wie das Bundesverfassungsgericht im Dritten Fernsehurteil ausgeführt hat: „Bei dieser Sachlage (i. e. Gefahr des Mißbrauchs und der Konzentration von Meinungsmacht) würde es dem verfassungsrechtlichen Gebot, die Freiheit des Rundfunks zu gewährleisten, nicht gerecht werden, wenn nur staatliche Eingriffe ausgeschlossen würden und der Rundfunk dem freien Spiel der Kräfte überlassen würde (...). Dies um so weniger, als einmal eingetretene Fehlentscheidungen - wenn überhaupt - nur bedingt und unter erheblichen Schwierigkeiten rückgängig gemacht werden könnten" 6 9 .

Einen wichtigen Indikator für den Determinationseffekt einer Entscheidung liefert der dazu notwendige Aufwand an finanziellen Ressourcen des 66 s. dazu W. Graf Vitzthum, Parlament und Planung, 288 ff.; Th. Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 185, die sich eingehend mit der Rolle des Gesetzgebers beschäftigen. 67 s. oben, 2. Teil, III. 4. Κ. M. Meyer-Abich, Grundrechtsschutz heute - Die rechtspolitische Tragweite der Konfliktträchtigkeit technischer Entwicklungen für Staat und Wissenschaft, ZRP 1984, 40, weist auf das zunehmende Maß irreversibler Entwicklungen infolge technischer Entwicklungen hin. 68 Vgl. Chr. Starck (Fn. 32), 175; näher R. Stettner, Grundzüge einer Kompetenzlehre, 339 ff., 346 ff. 69 BVerfGE 57, 295 (323).

8*

116

5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Staates. Die Wahl einer bestimmten Ausgabe führt zum Verzicht auf die Verwirklichung alternativer Projekte. Die weichenstellende Funktion von finanziellen Engagements wird um so deutlicher, wenn damit Folgekosten über einen längeren Zeitraum entstehen, die die Disponibilität zukünftiger Staatseinnahmen beschneiden. Ohnehin werden über die Aufteilung der finanziellen Ressourcen des Staates zentrale politische und soziale Entscheidungen getroffen. Neben dem Aspekt der Grundrechtsrelevanz liefern diese Umstände eine Begründung für die Geltung des Gesetzsvorbehaltes für Subventionen 70 . Alle staatlichen Ausgaben sind - ebenso wie die zu erwartenden Einnahmen - in den Haushaltsplan eingestellt und im einzelnen aufgeschlüsselt. Es wird daher die Auffassung vertreten, das Haushaltsgesetz trage in jedem Fall staatlicher Ausgaben dem Gesetzesvorbehalt Genüge 71 . Dagegen ist einzuwenden, daß aber weder Subventionsempfänger noch das Subventionsverfahren im Haushaltsplan festgelegt sind 72 . Der Haushaltsplan ist außerdem zu einem „Paket" geschnürt, auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite. Er spiegelt die generelle Ausgaben- und Einnahmepolitik der Regierung und die Verteilung der Ausgaben auf die Bereiche Soziales, Verteidigung etc. wider. Der einzelne Etatposten tritt demgegenüber in seiner spezifischen Bedeutung zurück - das Parlament kann zwar Einfluß auf den Haushaltsplan nehmen und Modifizierungen verlangen, aber zustimmen kann es ihm nur insgesamt oder gar nicht. Der Haushaltsplan ist schließlich durch den Jahres- (oder Zweijahres-)Rhythmus seiner Aufstellung bestimmt. Folgekosten von Etatposten können daher nur unzureichend berücksichtigt werden 7 2 3 . Nach alledem kann der Haushaltsplan nicht als dem Gesetzesvorbehalt ipso facto genügend angesehen werden 73 . Das gleiche gilt für den Vorschlag eines sog. Allgemeinen Subventionsgesetzes74, das zwar dem Aspekt der Verfahrensgewährleistung Rechnung trägt, aber inhaltlich nicht differenziert. Ein staatlicher Aufgabenbereich sei noch kurz beleuchtet, bei dem die Geltung des Gesetzesvorbehalts über den Determinationseffekt begründet werden kann, ohne daß es auf die dort nicht einfach zu beantwortende Frage 70 Aus der Fülle literarischer Äußerungen zu diesem Thema sei nur verwiesen auf H. D. Jarass, Der Vorbehalt des Gesetzes für Subventionen, NVwZ 1984, 473 ff. m. w. Ν.; A. Bleckmann, Ordnungsrahmen für das Recht der Subventionen, Gutachten D zum 55. Deutschen Juristentag, 71 ff.; H. Bauer, Der Gesetzesvorbehalt i m Subventionsrecht, DÖV 1983, 53 ff. 71 So etwa BVerwGE 58, 45 (48). 72 Vgl. H. D. Jarass (Fn. 70), 478. 72a Dies ist Ausfluß des sog. Bepackungsverbotes des Art. 110 IV GG; s. dazu H. Fischer-Menshausen, in: I. v. Münch, GGK, Art. 110, Rz. 24. 73 So bereits G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3, Rz. 464; H. J. Papier (Fn. 40), 59. 74 So aber A. Bleckmann (Fn. 70), 57 f.; H. Bauer (Fn. 70), 58.

II.

spezifische Kriterien

117

eines hinreichenden Grundrechtsbezugs ankommt: Umweltschutz 75 . Gegenwärtig hat der Umweltschutz, abgesehen von einigen Landesverfassungen, noch keinen Verfassungsrang. Mittelbar sind zwar regelmäßig Grundrechte, etwa aus Art. 2 I I oder 14 I GG tangiert, doch ist damit die Problematik nicht angemessen erfaßt. Inzwischen ist die weichenstellende Wirkung umweltpolitischen Handelns (und Unterlassens) nahezu unbestritten. Am „Kreuzweg zwischen Ökonomie und Ökologie" haben staatliche Entscheidungen für die Umwelt und die Wirtschaftsordnung gleichermaßen große Bedeutung. Umweltschäden sind häufig nicht oder nur mit sehr großem Aufwand zu reparieren, und Veränderungen der ökonomischen Bedingungen zugunsten der Umwelt vermögen ihrerseits eine erhebliche Dynamik der Wirtschaftsstruktur in Gang zu setzen, die der Staat nur begrenzt steuern kann. Der Ausgleich zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen ist über dies in hohem Maße von Prognosen und Wertungen geprägt und stellt dadurch große Anforderungen an die Vermittlung von Legitimität 7 6 , eine Aufgabe, an der das Parlament mitzuwirken hat. 3. Politische Umstrittenheit

Als Kriterium für die Geltung des Gesetzesvorbehalts kann auch die politische Umstrittenheit einer Materie oder einer bestimmten Maßnahme Berücksichtigung finden. Die Formel: „Das Wesentliche ist das politisch Kontroverse" 77 hat Kisker bereits 1977 geprägt. In die gleiche Richtung zielt Ossenbühl, der „Angelegenheiten von politischer Bedeutung" dem Parlament zuweisen will. Zwar sei damit die Grenzziehimg weitgehend den subjektiven Vorstellungen der verantwortlichen Staatsorgane, insbesondere dem Parlament überantwortet, aber, so Ossenbühl, „wo ist die nach der Idee des Grundgesetzes besser aufgehoben als hier! " 7 8 . Dieser Ansatz hat mehr Ablehnung als Zustimmung hervorgerufen 79 . Schon die Ausgangsthese der Befürworter dieses Kriteriums w i r d als zweifelhaft angesehen, weil sie impliziere, daß das Parlament den entstandenen Konflikt auch tatsächlich lösen könne, dies sei aber in vielen Fällen empirisch wenig wahrscheinlich 80 . Der Einwand trifft insofern nicht, als das 75 s. dazu D. Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980), 167 ff.; H. J. v. d. Heide, Die Herausforderung der Rechtsordnung durch die Umweltgefahren der Industriegesellschaft, DÖV 1985, 461 ff.; H. Hofmann, Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, 87 ff. 76 Vgl. nur D. Rauschning (Fn. 75), 167 ff. m. w. N. 77 G. Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, 1313 (1318). 78 F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 241 m. Nw.; s. auch J. Staupe (Fn. 3), 126, 248 ff. 79 Vgl. BVerfGE 49, 89 (126); H. J. Papier (Fn. 40), 43; C. E. Eberle (Fn. 2), 487; Κ Nevermann, Lehrplanrevision und Vergesetzlichung, VerwA 1980, 40 (247) m. Nw. 80 s. K. Nevermann (Fn. 79), 247.

118

.Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Kriterium der politischen Umstrittenheit von seinen Befürwortern vor allem dann herangezogen wird, wenn eine Entscheidung zu treffen ist und fraglich ist, ob das Parlament durch einen Gesetzesbeschluß daran zu beteiligen ist. Weder mit noch ohne Gesetz kann im übrigen in allen Fällen eine rasche Lösung von Konflikten erreicht werden: politische Kontroversen werden nicht einmal immer durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgeschlossen. Dies hindert nicht, das Gesetz als maßgeblichen Schritt auf dem Weg zur Lösung politischer Konflikte anzusehen. Gegen die politische Umstrittenheit als Kriterium für den Gesetzesvorbehalt wird ferner eingewandt, daß damit politischen Modeströmungen, manipuliert durch professionelle Meinungsmacher, nachgegeben würde mit der Konsequenz, daß tagespolitische Strömungen maßgeblich die Interpretation der Verfassung beeinflußten 81 . Doch auch die Befürworter dieses Kriteriums reden nicht einer sklavischen Anbiederung des Parlaments an die öffentliche Meinung das Wort. Das Parlament selbst hat zu beurteilen, ob es einer politischen Kontroverse durch Gesetz ein Ende setzen w i l l bzw. eine Exekutiventscheidung an sich ziehen soll. Ein einklagbarer Anspruch auf Gesetzgebungstätigkeit entsteht auch nicht qua Umstrittenheit der Materie. Für die Berücksichtigung dieses Kriteriums spricht, daß die politische Umstrittenheit einer Frage einen hohen Legitimationsbedarf signalisiert. Die Staatsleitungs- und Integrationsfunktionen des Parlaments sind damit angesprochen ebenso wie die rechtsstaatlich und demokratisch legitimierenden Aufgaben des Parlamentsgesetzes. Als forum publicum ist das Parlament kein Debattierklub, der nur reden, aber keine Entscheidungen herbeiführen kann, sondern es muß die auf der Bühne des Bundestages ausgetauschten Argumente auch umsetzen können. Die Integration politisch kontroverser Angelegenheiten ist besonders wichtig: Die Richtungsweisung aus der Kontroverse heraus bzw. über sie hinaus, die Einbettung in den staatlichen und politischen Gesamtzusammenhang ist Ausprägung der Staatsleitungsaufgabe des Parlaments 82 . Ein weiteres kommt hinzu: In gewissem Umfang gewinnt das Volk als Legitimationsadressat auf diesem Weg an politischem Einfluß, nicht auf die Entscheidung selbst, aber auf Form und Verfahren, in der sie ergeht. Der Druck der öffentlichen Meinung ist so eine Form unmittelbarer politischer Partizipation des Volkes. Es ist diese Konsequenz, die den stärksten Einwand gegen das Kriterium der politischen Umstrittenheit auslöst. Hier sehen Vertreter der Lehre, aber auch das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Gewaltenteilung tangiert. Es könne nicht sein, daß die Kompetenzordnung des Grundgesetzes „von außen" verändert oder manipuliert β1 C. E. Eberle (Fn. 2), 487. 82 s. dazu bereits oben, 3. Teil, I. 2.; s. auch Chr. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, 477 (483).

II.

spezifische Kriterien

119

werde 83 . Diese Furcht erscheint jedoch weitgehend unbegründet. Es geht nicht um eine Verschiebung (oder gar Aushöhlung) der Kompetenzordnung, sondern um ihre Konkretisierung im einzelnen Fall. Insofern ist sowohl unbestritten, daß der Vorbehaltsbereich des Parlaments nicht generell und eindeutig fixiert, mithin der Bestimmung unter Rücksichtnahme auf die Besonderheiten des jeweiligen Sachbereichs zugänglich ist 8 4 , wie es allgemeiner Auffassung entspricht, dem Parlament über den Vorbehaltsbereich (die Zugriffspflicht) hinaus ein weit verstandenes Zugriffsrecht einzuräumen. Die politische Umstrittenheit ist geeignet, im Einklang mit anderen Kriterien das Zugriffsrecht zu einer Zugriffspflicht zu verdichten, nach Maßgabe allerdings eines nicht eng zu umschreibenden Beurteilungsspielraumes bzw. einer Auslegungsprärogative des Parlaments 843 . Es handelt sich somit um einen begrenzten, mehrfach gefilterten Einfluß des Souveräns. Darin liegt eine Auswirkung der öffentlichen Meinung, deren Stellenwert im Verfassungsleben gerade auch vom Bundesverfassungsgericht hoch eingestuft w i r d und eine entsprechende Absicherung über die Interpretation des Art. 5 I GG als demokratisches Grundrecht erfährt 85 . Auf diese Weise üben die Bürger auch zwischen den Wahlen Einfluß auf das politische Handeln der Staatsleitung aus, darin eingeschlossen die Kompetenzwahrnehmung und -bestimmung der Staatsorgane. H. H. Klein spricht in diesem Zusammenhang von der „Rückkopplung des staatlichen Willensbildungsprozesses an den Vorgang der öffentlichen Meinungsbildung" 86 . Die Berücksichtigung der politischen Umstrittenheit bei der Konkretisierung des Parlamentsvorbehalts findet schließlich eine normative Stütze in Art. 59 I I GG, wonach Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln, der Zustimmung des Parlaments durch Gesetz bedürfen. Das Adjektiv „politisch" enthält schon ein Element der Umstrittenheit: eine beendete Kontroverse verliert ihren „politischen" Charakter und geht in den Vorrat an allgemeinem Konsens über 87 . Art. 59 I I GG ist daher Bestätigung der hier 83

Vgl. nur BVerfGE 49, 89 (126) - Kalkar: „auch die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, vermag die durch die Verfassung zugeordneten Entscheidungskompetenzen nicht zu verschieben"; C. E. Eberle (Fn. 2), 487 m. w. N. 84 So das Bundesverfassungsgericht u. a. ebenfalls in der Kalkar-Entscheidung, BVerfGE 49, 89 (127). 84a Zu den Konsequenzen dieser Auffassung s. unten, 5. Teil, III. 2., 3. 85 Vgl. nur BVerfGE 25, 256 (264) - Blinkfüer; 7, 198 (208) - Lüth. 86 H. H. Klein, Legitimität gegen Legalität? Fs. Carstens, Bd. 2, 651. Hinter dieser Auseinandersetzung verbirgt sich die tieferreichende Frage nach Methode und Beteiligten der Verfassungsinterpretation. Nach Maßgabe der genannten filternden Einschränkung ist der Einfluß der öffentlichen Meinung Ausdruck der „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" im Sinne Häberles (so der Titel seines Aufsatzes, JZ 1975, 297). Entgegen den Befürchtungen der Kritiker Häberles - s. nur A. Bleckmann, Staatsrecht I I - Allgemeine Grundrechtslehren, 64 ff. - impliziert dies nicht eine Gleichschaltung von politischer Realität und normativem Anspruch der Verfassung. Nur darf die Verfassung den materialen Bezug zur Realität nicht verlieren. 87 Auf diesen Zusammenhang hat bereits Th. Oppermann, Gutachten C zum 51. DJT, 56, Fn. 125, hingewiesen.

120

5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

vertretenen Auffassung, nicht eine „Ausnahme" zu der Kompetenzordnung des Grundgesetzes 88. Die Vorschrift ist im übrigen ein Beleg für das breite Spektrum möglicher Formen des Parlamentsgesetzes: Der Regierung obliegt die Aushandlung von Verträgen, und sie behält die Freiheit, den Vertragsschluß durch Unterzeichnung herbeizuführen. Der Bundestag gibt nur seine Zustimmung. Die politische Umstrittenheit einer Entscheidung hat nach alledem zumindest indizielle Wirkung für die Geltung des Gesetzes Vorbehalts 89 . 4. Keine originäre Pflicht zur Legeferierung

Eine originäre Pflicht zu gesetzgeberischem Tätigwerden ist aus der hier vertretenen Interpretation des Gesetzesvorbehalts generell jedoch nicht abzuleiten. Das Parlament kann von Verfassungs wegen nicht verpflichtet werden, bestimmte, bislang rechtsfreie Materien, die also überhaupt noch nicht Gegenstand staatlicher Maßnahmen waren, gesetzlich zu regeln. Anderenfalls würde die Unabhängigkeit des Parlamentes zu stark beschnitten und das Bundesverfassungsgericht in die Rolle eines Ersatzgesetzgebers bzw. -initiators gedrängt. Der Gesetzesvorbehalt betrifft vielmehr die Frage, wann und inwieweit der Gesetzgeber tätig werden muß, wenn eine Materie staatlich geregelt werden soll oder bereits geregelt worden ist (und eine Pflicht zum gesetzgeberischen Nachfassen in Betracht kommt 8 9 3 ). Ausnahmen von diesem Grundsatz gelten nur, soweit das Grundgesetz konkrete und unbedingte Gesetzgebungsaufträge enthält, so namentlich in den Organisationsnormen (z. B. Art. 91 a II, 98 I, 104 a V GG - die in der Regel bereits erfüllt sind) und soweit den Grundrechten (in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip) originäre Leistungsrechte zu entnehmen sind, was für einen Anspruch auf das Existenzminimum anerkannt ist 8 9 b .

88 Anders BVerfGE 1, 372 (382 f.); 68, 1 (86): „Die strikte Begrenzung der den gesetzgeberischen Körperschaften im Rahmen des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eingeräumten Befugnisse ist ein Element der Gewaltenteilung, wie sie das Grundgesetz ausgestaltet hat"; zur K r i t i k an dieser Argumentation s. oben, 3. Teil, III. 1. sowie die abweichende Meinung des Richters Mahrenholz (a. a. O., 127 ff.). 89 So im Ergebnis auch P. Lerche (Fn. 2), 20; J. Staupe (Fn. 3), 248; Chr. Degenhart (Fn. 82), 483; H. Maurer (Fn. 57), § 6, Rz. 11. 89a s. dazu P. Badura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgeberischen Parlaments zur Nachbesserung von Gesetzen, Fs. Eichenberger, 481 ff. 89b BVerwGE 1, 159 (161); ein Rechtsanspruch auf Fürsorge besteht inzwischen gem. § 4 1 BSHG; s. auch § 1 BSHG: „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht".

III. Normspezifische Kriterien

121

I I I . Normspezifische Kriterien

Ist die Tatbestandsseite des Gesetzesvorbehalts erfüllt, so stellt sich das Problem, welche inhaltlichen Anforderungen an das Vorbehaltsgesetz zu stellen sind. Neben dem Maß der Grundrechtsrelevanz kommt es dabei auf die strukturbedingten Legitimationsleistungen und -grenzen des Parlamentsgesetzes an 9 0 , die Form und „Regelungsdichte" des Vorbehaltsgesetzes bestimmen 91 . 1. Das Vorbehaltsgesetz als allgemeines Gesetz

In der Analyse des Rechtsstaatsgrundsatzes und des Gewaltenteilungsprinzips ist deutlich geworden, daß die legitimierende Wirkung des Gesetzes ihre Ergänzung findet in dem konkretisierenden Vollzug, der im gewissen Umfang die Partizipation der Betroffenen und jedenfalls die gerichtliche Überprüfung ermöglicht 92 . Dies lenkt den Blick auf die Problematik der Einzelfall- und Maßnahmegesetze, die sich dadurch auszeichnen, daß sie der Konkretisierung durch die Verwaltung nicht bedürfen und die in ihnen verkörperten Entscheidungen der Überprüfung durch die einfachen Gerichte nicht zugänglich sind. Es geht dabei nicht um die Frage, inwieweit diese überhaupt zulässig sind. Indes könnten sich Anhaltspunkte für eine negative Abgrenzung des Gesetzesvorbehalts ergeben in dem Sinne, daß der allgemeine Gesetzesvorbehalt Einzelfall- oder Maßnahmegesetze jedenfalls nicht erfordert 93. Im Grundgesetz ist das Einzelfallgesetz nur an einer Stelle ausdrücklich erwähnt, nämlich in Art. 19 I GG. Danach muß ein grundrechtseinschränkendes Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat diese Norm keine große Bedeutung erlangt 94 . Im Gegenteil, das Gericht hat den Geltungsbereich des Art. 191 GG sehr eng ausgelegt. So wendet es - unter dem Beifall eines Teils der Lehre 95 - die Vorschrift im Bereich von Art. 2 I und Art. 12 GG sowie im 90 Vg. auch K. Eichenberger (Fn. 62), 7 (27), der auf die „Leistungsfähigkeit und Akzeptationsverschaffung der rechtssetzenden Organe" abstellt. 91 Als „Formen" des Gesetzesvorbehalts können Regelungs- und Normierungsvorbehalte von Zustimmungsvorbehalten unterschieden werden; zu dieser Terminologie und weiteren Vorschlägen, s. J. Staupe (Fn. 3), 304 ff. 92 s. oben, 3. Teil, III. 3. 93 Vgl. C. E. Eberle (Fn. 2), 490 ff., der den Gesetzesvorbehalt ausschließlich negativ abgrenzen will. 94 s. den Überblick und die Bewertung bei S. Hendrichs, in: I. v. Münch, GGK, Art. 19, Rz. 9 ff., und die unterschiedlichen Einschätzungen bei K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rz. 330, der dieser Vorschrift praktisch keine Bedeutung zumißt einerseits, und R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 19 I, Rz. 3 („wesentlicher Grundsatz") andererseits. 95 Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 237; s. auch E. Grabitz, Freiheit als Verfassungsprinzip, 82 m. Nw. auch zur Gegenauffassung in Fn. 157.

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Bereich der als Freiheitsrecht interpretierten Eigentumsgarantie des Art. 14 GG überhaupt nicht an 96 . Denn, so das Bundesverfassungsgericht, das Allgemeinheitsgebot gelte nur dann, wenn der Gesetzgeber aufgrund eines speziellen, im Grundgesetz enthaltenen Vorbehalts ein Grundrecht einschränke. Gesetzliche Regelungen im Bereich von Art. 2 I, 12 I und 141 stellten jedoch keine „Einschränkungen" i. S. v. Art. 19 1 GG dar 9 7 . Auch innerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 19 I GG hat das Gericht das Verbot von Einzelfallgesetzen restriktiv ausgelegt 98 . Es versucht, seinen Standpunkt von der Gegenposition, also von einer begrifflichen Fixierung des generellen Gesetzes zu gewinnen. An den Grad der A l l gemeinheit stellt das Gericht keine allzu hohen Anforderungen. Ein Gesetz müsse zwar abstrakt gefaßt sein, damit es auf eine unbestimmte Vielzahl von Fällen passe. Aber auch Sonderregelungen, die eine Ausnahme zu den Grundvorschriften statuierten, seien in diesem Sinne „abstrakt" 9 9 . Dabei spiele die erforderliche Größe der von der gesetzlichen Regelung betroffenen Gruppe als solche keine Rolle 1 0 0 . Ein Gesetz müsse nur abstrakt formuliert und auf einen nach generellen Merkmalen begrenzten Personenkreis anwendbar sein 101 . Diese Form verbiete nicht, daß ein Gesetz nur auf eine bestimmte Person oder Personenvereinigung anwendbar sei, wenn nur nicht dieser Kreis im Gesetz abschließend und für die gesamte Geltungsdauer des Gesetzes festgelegt sei 102 . Dem Gesetzgeber sei es schließlich nicht verwehrt, einen bekannten konkreten Sachverhalt zum Anlaß für eine allgemeine Regelung zu nehmen 103 . Bei dieser Großzügigkeit des Bundesverfassungsgerichts verwundert es nicht, daß auch solche Gesetze als „allgemein" anerkannt wurden, die tatsächlich nur einen von vornherein genau begrenzten Personenkreis betrafen und betreffen sollten, und von denen anzunehmen war, daß sie darüber hinaus nicht mehr zur Anwendung gelangen würden 1 0 4 . In der Literatur war demgegenüber unter dem Stichwort „Maßnahmegesetz" selbst die Zulässigkeit von Einzelfallgesetzen bestritten worden, die keine Grundrechtseingriffe sind und damit eindeutig außerhalb des unmittelbaren Anwendungsbereiches des Art. 19 I GG liegen 105 . Mit seiner 96

Vgl. BVerfGE 25, 371 (399) zu Art. 2 I und 14 GG; s. auch E. Grabitz (Fn. 95), 82. Vgl. BVerfGE 13, 97 (122); 24, 367 (396). 98 Bislang hat es noch in keinem Fall ein Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 191 GG für nichtig erklärt. 99 BVerfGE 1, 418 (427). 100 BVerfGE 8, 338 (361 f.). ιοί BVerfGE 12, 81 (96). 102 BVerfGE 10, 89 (107); s. dazu Chr. Starck (Fn. 95), 58. 103 BVerfGE 7, 129 (150); 10, 234 (240); 11, 343 (348). 104 ζ. B. BVerfGE 7, 129 (150 f.) - Lex Schörner; 10, 234 (238 ff.) - Lex Platow; s. dazu R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 191, Rz. 40. los Grundlegend E. Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, Gedächtnisschrift W. Jellinek, 221 ff.; weitere Nw. bei R. Herzog, in Maunz/Dürig, Art. 19 I, Rz. 5. 97

III. Normspezifische Kriterien

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Lex-Rheinstahl-Entscheidung setzte das Bundesverfassungsgericht dieser Diskussion zunächst ein Ende, indem es den Begriff des Maßnahmegesetzes als „verfassungsrechtlich irrelevant" qualifizierte und Art. 191 GG im übrigen als nicht verallgemeinerungsfähig erklärte 1 0 6 . Einigkeit herrscht heute wohl darüber, daß das Grundgesetz nicht immer allgemeine und generelle Gesetze verlangt 1 0 7 . Im Gegensatz zu der sehr formalen Betrachtungsweise des Bundesverfassungsgerichts bemüht sich ein Teil der Lehre um eine materielle Begründung des in Art. 19 1 GG statuierten Verbotes und seine Einordnung in den Kontext anderer (materieller) Normen des Grundgesetzes. So ist nach überwiegender und zutreffender Ansicht Art. 19 1 GG als ein Sonderfall des allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 I GG, zu begreifen 108 , denn durch die unterschiedliche Anwendung von Normen ohne Ansehung der Person erfährt das Gleichbehandlungsgebot eine Absicherung. Selbst wenn minimalisiert, so Dürig, enthalte der Gleichheitssatz immer noch gleichsam verfahrensrechtliche Begründungs- und Argumentationspflichten gegenüber der Ungleichbehandlung (etwa erfolgend durch ein neues Gesetz) 109 . Das allgemeine Gesetz sichert darüber hinaus der Verwaltung einen Handlungsund Entscheidungsspielraum, dessen sie bedarf, um ihre Aufgabe sachgerecht erledigen zu können 1 1 0 . Die Verwaltung w i r d nämlich in die Lage versetzt, individuelle Probleme des Gesetzesvollzugs, die der Gesetzgeber durch eine noch so detaillierte Fassung des Gesetzes nicht antizipieren kann, angemessen zu berücksichtigen. Schließlich ermöglicht das allgemeine Gesetz eine gerichtliche Kontrolle der gesetzeskonkretisierenden Entscheidungen bzw. einer „dazwischen geschalteten" Verordnung 111 . Das Gesetz selbst ist hingegen nur durch ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht angreifbar 112 . 106 BVerfGE 25, 371 (396 f.). Vgl. nur R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 191, Rz. 6 f. 108 s. dazu Chr. Starck (Fn. 95)/211 ff. m. w. N.; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 19 I, Rz. 9; strittig ist allerdings, ob sich die Bedeutung des Art. 19 I GG darin erschöpft oder ob diese Norm eine zusätzliche Aussage enthält; s. dazu Chr. Starck (Fn. 95), 78. 109 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 I, Rz. 204. Prägnant hatte bereits L. Duguit formuliert: „La loi peut être mauvaise, injuste, mais étant formulé par la voie générale et abstraite, ce danger se trouve réduit au minimum" (zit. nach H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 297 m. w. N.). 110 Vgl. H. Maurer, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 43 (1985), 232; R. Herzog, in: Maunz/Dürig. Art. 20 V, Rz. 110 f.; s. auch oben, 3. Teil, II. 3. sowie den folgenden Text. 111 H. Goerlich, Formenmißbrauch - Einzelfallgesetz - Gewaltenteilung, DÖV 1985, 945 ff.; ähnlich G. Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, 278 ff. Für Roellecke ist wesentliches Kennzeichen des Gesetzes die Offenheit des Verfahrens. Ein Einzelfallgesetz liege dann vor, wenn es die offene Diskussion vor den Gerichten unmöglich mache; s. auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 V, Rz. 111. 112 Eine Ausnahme soll neuerdings gelten für den Rechtsschutz gegen Hamburger Bebauungspläne in Gesetzesform, die mit einer Normenkontrollklage gem. § 47 107

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Den materiellen Aspekten des allgemeinen Gesetzes kann auch die Begriffsbestimmung des „allgemeinen" Gesetzes entnommen werden. Der Rückgriff auf die Begriffspaare generell - individuell und konkret abstrakt ist dazu nicht erforderlich. Vielmehr sind allgemeine Gesetze solche, die von der Verwaltung vollziehbar und dadurch der gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind 1 1 3 . Das allgemeine Gesetz in diesem Sinne wird der legitimatorischen Funktion des Gesetzes am besten gerecht 114 . Daraus ist zu folgern: Der allgemeine Gesetzesvorbehalt erfordert prinzipiell (nur) allgemeine Gesetze 115 . Damit ist nicht gesagt, daß Einzelfallgesetze generell unzulässig sind; sie kommen im vorbehaltsfreien Bereich in Betracht. Ein exakter Maßstab ist danach zwar nicht geliefert, denn die Bandbreite an Regelungsdichte ist bei allgemeinen Gesetzen groß. Dennoch führt der hier vertretene Standpunkt weiter. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Im Hinblick auf die Genehmigung von Kernkraftanlagen ist die Reichweite des Gesetzesvorbehalts besonders ausführlich und kontrovers diskutiert worden 1 1 6 . Allgemein sind dabei alle Regelungen, die Anforderungen an die technische Sicherheit einer Kernkraftanlage als Typ betreffen. Nicht allgemein ist die Wahl des konkreten Standortes und die Genehmigung der dort zu errichtenden Anlage. Die Forderungen nach einer Entscheidung über Standort und Einzelgenehmigung durch Gesetz ist bislang auch nur vereinzelt erhoben worden 1 1 7 . Sie hätte der Bürgerbeteiligung weitgehend den Boden entzogen - es sei denn, man hätte in die Gesetzgebungsverfahren entsprechende Verfahrensschritte (Hearings) eingebaut. Im übrigen wären dadurch auch die gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschlossen worden. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, daß den Gerichten die (selbstgewählte?) Aufgabe zufiel, technische Sicherheitsstandards festzulegen bzw. bei deren Nichtvorhandensein die Genehmigung auszusetzen. Dabei ging es um allgemeine, nicht standortspezifische Fragen, die der VwGO angreifbar seien, s. BVerfGE 70, 35 (53 ff.) mit abw. Meinung Steinberger, a. a. O., 59 ff.; zu diesem Problem auch H. Goerlich (Fn. 111), 945 f. 113 s. aber Chr. Starck (Fn. 95), 49 ff., 195 ff., der zwischen allgemeinem und generellem Gesetz differenziert. 114 Vgl. auch O. Bachof, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 43 (1985), 217: „das rechtsstaatliche Rechtsschutzsystem erfordert vollzugsfähige und deshalb generellabstrakte Gesetze". 115 In diesem Sinne auch H. Maurer, Der Verwaltungsvorbehalt, W D S t R L 43 (1985), 137 (156 ff.); vgl. auch die Diskussion auf der Staatsrechtslehrertagung zu diesem Thema, a. a. O., 203 f. 116 s. dazu nur A. Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers im Atomrecht, JZ 1985, 714 ff.; H. W. Rengeling, Vorbehalt und Bestimmtheit des Atomgesetzes. Zur Verfassungsmäßigkeit des Schnellen Brüters von Kalkar, NJW 1978, 2217 ff.; Chr. Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz: Friedliche Nutzung der Kernenergie, DVB1 1983, 926 (930 ff.). 117 So aber J. Listi, Die Entscheidungsprärogative des Parlaments für die Errichtung von Kernkraftwerken, DVB11978,10 (16 f.), der für einen Vorbehalt des Landesgesetzes für die Standortentscheidung plädiert.

III. Normspezifische Kriterien

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Gesetzgeber wohl in größerem Umfang selbst hätte regeln müssen 118 . Insofern hätte die vom Bundesverfassungsgericht allgemein anerkannte, aber im konkreten (Kalkar-)Fall nicht als bestehend angesehene Pflicht des Gesetzgebers zum „Nachfassen" eher aktualisiert werden müssen 119 . Kontrovers diskutiert (u. a. auf der Staatsrechtslehrertagung 1984) wurde auch die Genehmigung des Kohlekraftwerks Buschhaus im Sommer 1984 120 . Dieser Fall setzt zunächst ein Beispiel dafür, daß schlichte Parlamentsbeschlüsse auch „schlicht verpuffen" können. Die Frage war, ob und wie der Bund konkret auf die Genehmigungsentscheidung des Landes Niedersachsen hätte Einfluß nehmen können und sollen. Die zutreffende Antwort gab Meessen: „Es wäre durchaus möglich, daß aus konkretem Anlaß eine Änderung des der Genehmigung zugrundeliegenden Gesetzes vom Bundestag beschlossen wird. Und wenn ich die Entscheidungen Kalkar und Buschhaus richtig sehe, handelt es sich um weichenstellende Entscheidungen. Insofern könnte der Bundestag, ohne die Vollzugskompetenzen des Landes anzutasten, die Kriterien der Genehmigung so neu formulieren, daß der Spielraum des Landes beim Vollzug erheblich eingeengt würde - durch Gesetz selbstverständlich, nicht durch Parlamentsbeschluß und damit auch unter Beteiligung des Bundesrates - , um die Entscheidung in diesem Fall, aber auch in anderen Fällen mehr oder weniger zu präjudizieren" 1 2 1 .

Das vom Bundestag zu erlassende Gesetz wäre mithin ein allgemeines Gesetz gewesen. Der Präzisierung der Bedeutung von allgemeinen Gesetzen mag ein Gegenbeispiel dienen. Die Hamburger Bürgerschaft beschloß im Frühjahr 1984 ein Gesetz, nach dessen einzigem Artikel ein bestimmtes Gymnasium geschlossen werden sollte 1 2 2 . In den Jahren zuvor hatte die Schulbehörde (die den Kultusministerien in den Flächenländern entspricht), zweimal versucht, das betreffende Gymnasium im Wege der Verordnung zu schließen, war aber jeweils vor dem OVG Hamburg gescheitert. Die verfassungsrechtliche Beurteilung dieses Gesetzes ist unabhängig davon, ob man es unter Anwendung der formalen Kriterien (individuell-generell, konkret-abstrakt) 118 Das gilt auch hinsichtlich der räumlichen Nähe zu bevölkerten Gebieten, weil dieses Problem in der dicht besiedelten Bundesrepublik immer vorhanden ist. 119 So auch A. Roßnagel (Fn. 116), 716 f.; nach dem Tschernobyl-Unglück steht zu erwarten, daß die Diskussion erneut in Gang kommt; vgl. zur legitimatorischen Brisanz dieses Themas auch E. Wienholtz, Verfassung und Technologie - zur Legitimation technologiepolitischer Entscheidungen durch Konsensprozesse, DÖV 1985, 136 ff. 120 VVDStRL 43 (1985), 218 ff.; BT-Drucks. 10/1805. 121 K. M. Meessen, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 43 (1985), 223 (Hervorhebung vom Verf.). 122 „Gesetz zur Schulorganisation betreffend das Gymnasium Wilhelmsburg" vom 27. Juni 1984 (HambGVBl., 134). Einziger Paragraph: „Klassen der Jahrgangsstufe 5 der Beobachtungsstufe des Gymnasiums werden am Gymnasium Wilhelmsburg, Rotenhäuser Damm 98 - 100, ab 1. August 1984 nicht mehr eingerichtet. Dadurch wird die Schließung des Gymnasiums eingeleitet."

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

als allgemein qualifiziert - feststeht, daß es nicht konkretisierendem Vollzug durch die Verwaltung zugänglich ist. Das Verwaltungsgericht gab dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, die die vorläufige Einschulung sichern sollte, mit der zutreffenden Begründung statt, das Gesetz sei wegen Verstoß gegen Art. 3 I i. V. m. 19 IV GG voraussichtlich verfassungswidrig 123 , weil es von dem ansonsten (und gleichzeitig für andere Schulen) praktizierten Verfahren der Schulschließung auf dem Verordnungswege abweiche, der nach wie vor nach § 41 I I I HmbSchulG vorgesehen sei. Das Gesetz sei vielmehr „lanciert" worden, um die Rechtsprechung des HambOVG auszuhebeln und den Eltern die Rechtsschutzmöglichkeit zu nehmen 124 . Eine Ausnahme von der Gleichsetzung von Vorbehaltsgesetz und allgemeinem Gesetz muß allerdings dort gelten, wo eine Exekutiventscheidung ohnehin nicht des (Verwaltungs-)Vollzuges bedarf und fähig ist. So ging es bei dem Raketenstationierungsurteil allein darum, ob das Parlament in rechtlich relevanter Weise - also durch Gesetz - hätte zustimmen müssen. Ein entsprechendes Gesetz wäre als „Einzelfallgesetz" zu qualifizieren gewesen, ohne daß sich die geschilderten Konsequenzen ergeben hätten, weil die „Ausführung" des Gesetzes bzw. die Durchführung des Beschlusses jenseits deutscher Hoheitsgewalt liegen. Die mangelnde Allgemeinheit hätte mithin nicht gegen eine gesetzliche Zustimmung bzw. Ermächtigung des Bundestages an die Regierung, ihrerseits der „Nachrüstung" in den NATOGremien zuzustimmen, gesprochen 125 . 2. Die Funktion des Art. 80 I GG

Gemäß Art. 80 I GG können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Länderregierungen durch Gesetz ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen nach Satz 2 Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt sein. Der Begriff „Gesetz" ist in diesem Fall eindeutig formell, als Parlamentsgesetz zu verstehen. Einigkeit herrscht wohl insoweit, als Art. 80 I GG nicht als sedes materiae des Gesetzesvorbehalts anzusehen ist, sondern die Geltung des Gesetzesvorbehalts voraussetzt 126 . Doch messen Rechtsprechung und Literatur der Verordnungsermächtigung des Art. 80 I GG im allgemeinen und der Interpretation des „Bestimmtheitserfordernisses" des Art. 80 I 2 GG im 123

VG Hamburg, Beschluß vom 27. 07. 1984, Az. 3 VG 1898/84 (unveröffentlicht). Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts wurde bestätigt durch das Oberverwaltungsgericht, OVG Bs IV 20/84, teilweise abgedruckt in NVwZ 1985, 51 ff. Das Hauptsacheverfahren ist durch Vergleich erledigt worden; s. zu beiden Entscheidungen H. Goerlich (Fn. 111), 946. 125 v g l den positiv normierten Zustimmungsvorbehalt des Art. 59 I I GG, dem ebenfalls nicht durch allgemeine Gesetze Rechnung getragen wird. 12 ® Vgl. nur M. Kloepfer (Fn. 2), 692 f.; E. W. Böckenförde (Fn. 60a), 395 f. 124

III. Normspezifische Kriterien

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besonderen eine nicht unerhebliche Bedeutung bei der Konkretisierung und Begrenzung des Gesetzesvorbehalts zu. Bereits erwähnt - und in dieser Form zurückgewiesen - wurden Ansätze der Literatur, den Gesetzesvorbehalt zu einem Rechtssatzvorbehalt umzudeuten, als dessen qualifizierte Ausprägung in besonderen Fällen der Vorbehalt des Parlamentsgesetzes anzusehen sein soll 1 2 7 . Zunächst ist jedoch die Position des Bundesverfassungsgerichts zu erörtern, das Art. 80 I 2 GG in die Konkretisierung seiner Wesentlichkeitstheorie gewissermaßen integriert. Das Kriterium der Grundrechtsrelevanz w i r d dabei nicht mehr nur als Maßstab für die Erforderlichkeit eines parlamentarischen Gesetzes verwendet, sondern auch für die Bestimmung des nach Art. 80 I GG gebotenen Grades an Bestimmtheit der gesetzlichen Ermächtigung herangezogen 128. Am deutlichsten kommt dies in der Schulentlassungsentscheidung zum Ausdruck 1 2 9 , auf die das Gericht seither mehrfach Bezug genommen hat 1 3 0 . Das Gericht kommt zunächst zu dem Schluß, es sei unter Anwendung des Wesentlichkeitskriteriums verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß die Festlegung der Versetzungsvoraussetzungen in den Ausbildungsgängen der Regelung im Verordnungswege überlassen bleibe 1 3 1 . Es stelle sich aber die weitere Frage, so heißt es anschließend, welche rechtsstaatlichen Anforderungen an Inhalt und Ausmaß einer gesetzlichen Ermächtigung zu stellen seien: „Art. 8012 verlangt, daß Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigimg im Gesetz bestimmt werden. Das Parlament soll sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entäußern können, daß es einen Teil der Gesetzgebungsmacht der Exekutive überträgt, ohne die Grenzen dieser Kompetenzen bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, daß schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll (...). Zur Klärung können - wie auch sonst bei der Auslegung einer Vorschrift - der Sinnzusammenhang der Norm mit anderen Bestimmungen und das Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt, berücksichtigt werden (...). Welche Bestimmtheitsanforderungen im einzelnen erfüllt sein müssen, ist von den Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität der Maßnahme abhängig (...). Es ist weiter zu berücksichtigen, daß das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit die notwendige Ergänzung und Konkretisierung des aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes darstellt. Es muß deshalb im Lichte dieses Verfassungsprinzips und seiner Auslegung durch die Rechtsprechung interpretiert 127 So vor allem H. U. Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalt, Fs. Juristische Gesellschaft, 113 f. 128 Kritisch D. Wilke, Urteilsanmerkung (zur Schulentlassungsentscheidung BVerfGE 58, 257 ff.), JZ 1982, 758 (759); kritisch auch M. Kloepfer (Fn. 2), 693; B.-O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art. 80, Rz. 20 ff., 34; zur Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 80 11 auch U. Ramsauer, in: AK, Art. 80, Rz. 46 ff. 1 29 BVerfGE 58, 257 (276 ff.). 130 Ζ. B. BVerfGE 62, 203 (210 ff.) 131 BVerfGE 58, 257 (276).

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

werden. Die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm muß der Grundrechtsrelevanz der Regelung entsprechen, zu der ermächtigt wird. Greift die Regelung erheblich in die Rechtsstellung des Betroffenen ein, so müssen höhere Anforderungen an den Bestimmtheitsgrad der Ermächtigung gestellt werden, als wenn es sich um einen Regelungsbereich handelt, der die Grundrechtsausübung weniger tangiert" 1 3 2 .

Gegen diese Verknüpfung von Vorbehaltsbereich und Bestimmtheitsanforderungen i. S. v. Art. 8012 G G 1 3 3 ist einzuwenden, daß sich Art. 8012 auf sämtliche Gesetze bezieht, in denen Verordnungsermächtigungen enthalten sind, ohne daß es darauf ankommt, ob das Parlament wegen eines Gesetzesvorbehalts handeln muß oder ob es kraft freier Entscheidung tätig wird. Schon deshalb kann das Bestimmtheitsgebot nicht in jedem Fall die notwendige Ergänzung und Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts darstellen 1 3 4 . Von dieser K r i t i k ausgehend, gelangt Wilke zu folgendem Schluß: Ergebe sich aus der Verfassung - und sei es auch nur aus der ihr „untergeschobenen" Wesentlichkeitstheorie - das Erfordernis eines förmlichen Gesetzes, so besage dies lediglich, daß eine Regelung durch Parlamentsgesetz nötig sei. Von den seltenen Fällen eines Delegationsverbotes (ζ. B. gem. Art. 59 I I 1, 79 und 110 I I 1 GG) abgesehen, lasse sich einem Gesetzesvorbehalt jedoch nicht entnehmen, wie die Arbeitsteilung zwischen Parlament und Verordnungsgeber beschaffen sei. Diese Frage sei vielmehr in Art. 80 I 2 GG geregelt, der ausreichenden Spielraum gewähre, um - je nach der Bedeutung der Materie oder Maßnahme - die normsetzende Exekutive am langen oder kurzen Zügel zu führen 1 3 5 . Damit hat Wilke jedoch die Verknüpfung von Gesetzesvorbehalt und Art. 80 I 2 GG, die er an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kritisiert, gerade wieder hergestellt! Der Vorbehalt und Verordnungsermächtigung integrierende Ansatz des Bundesverfassungsgerichts und auch die K r i t i k Wilkes haben ihren Ursprung nicht zuletzt darin, daß der durch den Vorbehalt gebotene Grad an Konkretisierung und Regelungsdichte des Gesetzes schon semantisch in der Nähe der „Bestimmtheits"-Anforderungen des Art. 80 I GG steht. Demgegenüber ist mit einer im Vordringen befindlichen Auffassung zwischen der Abgrenzung des Gesetzesvorbehalts und den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 I GG zu unterscheiden 136 . Die Bestimmtheitserfordernisse des Art. 80 I 2 GG setzen wegen ihrer Gül132

BVerfGE 58, 257 (277 f.) - Hervorhebung vom Verf. Die auch in anderen Entscheidungen betont wird: in BVerfGE 49, 89 (127) gerät Art. 80 I zur „Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts"; in BVerfGE 62, 169 (183) wird die Grundrechtsrelevanz einer Vorschrift als Voraussetzung für das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot bezeichnet; kritisch dazu M. Kloepfer (Fn. 2), 691. 134 So ζ. Β. M. Kloepfer (Fn. 2), 691; H. J. Papier (Fn. 40), 56 f.; D. Wilke (Fn. 128), 759; W. Krebs, Zum aktuellen Stand der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes, JURA 1979, 304 (311). 13 5 D. Wilke (Fn. 128), 760. 136 So vor allem E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 395 f.; ebenso H. J. Papier (Fn. 40), 56 f. 133

III. Normspezifische Kriterien

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tigkeit für alle Verordnungsermächtigungen nur einen rechtsstaatlichen Mindeststandard von einer entgegen der Konnotation dieses Begriffs nicht zu unterschätzenden Bedeutung: Art. 80 I 2 verhindert die Ausstellung von Blankettermächtigungen an die Verwaltung, gewährleistet damit den Verbleib der Rechtssetzungsprärogative beim Parlament 137 , zwingt dieses, die Konsequenzen seines Handelns mit zu berücksichtigen. Damit w i r d zugleich der Durchsetzung allgemein rechtsstaatlich orientierter Verfassungsdirektiven gedient, wie Rechtsklarheit und Rechtssicherheit (im Sinne von Vorhersehbarkeit für den rechtsunterworfenen Bürger) 138 . Diese Direktiven gelten zwar für alle Gesetze, auch für solche, die keine Verordnungsermächtigungen erhalten, aber ihre Erfüllung sah der Verfassungsgeber wohl gefährdet, wenn die Möglichkeit der Delegation überstrapaziert würde 1 3 9 . Den Zielen des Art. 80 I GG kann Genüge getan werden, ohne daß es einer restriktiven Auslegung der Bestimmtheitsklausel bedarf. Zu Recht legt das Bundesverfassungsgericht ohnehin im allgemeinen einen recht großzügigen Maßstab an die Bestimmtheit von Inhalt, Zweck und Ausmaß an. An dem Gesetz muß sich ergeben, welches Programm durch die Verordnung erreicht werden soll 1 4 0 , wobei es genüge, wenn das Gesetz die Grenzen der auf seiner Grundlage möglichen Regelung hinreichend deutlich macht 1 4 1 . Für die Frage, ob eine Ermächtigung hinreichend bestimmt ist, gelten die allgemeinen Auslegungsregeln 142 . Damit erweist sich der „Zweck" der Ermächtigung als eigentlich zentrale Kategorie, da „Inhalt" und „Ausmaß" in weitem Umfang der Auslegung zugänglich sind 1 4 3 . Der durch Art. 80 GG eröffneten Möglichkeit zur Delegation von Normsetzungsbefugnissen kann damit im Sinne der Wesentlichkeitstheorie eine dem Parlament entlastende Funktion zugesprochen werden. Die Befugnis der Exekutive zum Erlaß außenwirksamer Normen kann durch generelle, sich auf Zielvorgaben beschränkende Ermächtigungen begründet werden, die spezielle Ermächtigungen und darauf bezogene Detailregelungen des Gesetzgebers entbehrlich machen 144 . Der Eindruck der Unübersichtlichkeit, ja Widersprüchlichkeit, den die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 I GG vermittelt 1 4 5 , rührt daher, daß das Gericht die vorgenannten Maßstäbe mit mate137 H. Soell, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 43 (1985), 245 spricht daher mit Recht Art. 80 I 2 auch eine demokratische Komponente zu, nämlich die Führungsrolle des Parlaments zu sichern. 138 s. dazu Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 390 ff. 139 s. E. W. Böckenförde (Fn. 136), 395. 140 BVerfGE 58, 257 (277). 141 BVerfGE 58, 283 (291); s. dazu B.-O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art. 80, Rz. 20 m. w. N. 142 BVerfGE 8, 274 (324), st. Rspr. 143 B.-O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art. 80, Rz. 22. 144 So E. W. Böckenförde (Fn. 136), 395; G. Kisker (Fn. 43), 1318 f.

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

riellen Aspekten der Wesentlichkeit, der Grundrechtsrelevanz etc. einer Regelung vermengt, die in eine ganz andere Richtung zielen 146 . Mißverständnisse erwachsen namentlich aus der Verbindung des nicht eindeutig definierten Terminus „wesentlich" mit der Interpretation des Art. 80 I GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So heißt es in der Sexualkunde-Entscheidung : „Ob eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muß oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz" 1 4 6 a .

Daraus könnte man schließen, auch der Verordnungsgeber dürfe „wesentliches" regeln, obwohl das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle postuliert, daß „der Gesetzgeber verpflichtet ist, in grundlegenden normativen Bereichen (...) alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" 14613 . Was aber „inhaltlich bestimmt" heißt, soll sich nach der Schulentlassungsentscheidung wiederum aus der Grundrechtsrelevanz (und damit der „Wesentlichkeit"?) der Regelung ergeben 1460 . So hat Art. 80 GG ein erhebliches Maß an Unsicherheit in die Rechtsprechung der Bundesrepublik gebracht 147 . Nach dem hier vertretenen Ansatz wird Art. 80 I GG demgegenüber auf die seinem systematischen Standort angemessene Funktion als formelle Organisationsnorm beschränkt und damit konturierbar. Daraus folgt: Art. 80 I GG gilt für alle (auch vorbehaltsfreie) Gesetze und hat mit der Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts nichts zu tun. Die Grenzen auch der Rechtsfolgenseite des Gesetzesvorbehalts folgen vielmehr - ebenso wie seine Geltung - aus dem Demokratieprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten. Die vom Bundesverfassungsgericht genannten Kriterien wie „Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes" und „Intensität" der Maßnahme 1473 finden dabei Berücksichtigung, jedoch losgelöst von Art. 80 I GG. Dieses Ergebnis hindert keineswegs daran, die Möglichkeit von Verordnungsermächtigungen generell in die Überlegungen zur Abgrenzung des Vorbehaltsbereichs einzubeziehen. Rechtsverordnungen (ebenso wie Satzungen) haben mit dem Gesetz den gleichheitssichernden Aspekt der gene145 Nach Auffassung B.-O. Brydes, in: I. v. Münch, GGK, Art. 80, Rz. 23 sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur „Bestimmtheit" i. S. v. Art. 80 I 2 GG schlechterdings nicht vorhersehbar. 146 Für die integrative Verbindung des Art. 80 I mit den Grundrechten plädiert dagegen U. Ramsauer, in: AK, Art. 80, Rz. 54. i46a BVerfGE 47, 46 (79) - Hervorhebung vom Verf. i46b BVerfGE 49, 89 (127 f.). 146c s. die bei Fn. 132 zitierte Passage. 147 So die Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Dmcks. 7/5924, 90; B.-O. Bryde, in: I. v. Münch, GGK, Art. 80, Rz. 34 m. Nw. 147a V g L BVerfGE 58, 257 (276).

III. Normspezifische Kriterien

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rellen Norm gemein 148 . Durch die Art ihres Zustandekommens und ihre Verbindlichkeit nach außen werden sie höheren rechtsstaatlichen Ansprüchen gerecht als interne Verwaltungsrichtlinien oder Verwaltungsakte 149 . Daraus kann gefolgert werden, daß der Gesetzgeber bei dem Grad der Regelungsdichte eines Gesetzes die legitimierende Bedeutung der Delegation auf den Verordnungsgeber berücksichtigen darf. Rechtsverordnungen entlasten den Gesetzgeber damit auch im Hinblick auf die Erzeugung von Legitimität 1 5 0 . 3. Funktionale Grenzen der Gesetzgebung

Die Berücksichtigung von funktionalen Grenzen und der Sachstrukturen spezifischer Regelungsmaterien bei der Abgrenzung des Gesetzesvorbehalts ist legitimatorisch geboten 151 . Dies ist in aller Regel allerdings nicht eine Frage des „ob" (der Tatbestandsseite), sondern des „wie" der Einflußnahme durch den Parlamentsgesetzgeber. Das Gesetz ist ein hinreichend geschmeidiges Instrument, um den Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes und seines Umfeldes 152 gerecht zu werden. Wenn allerdings allzu pauschal auf Argumente oder gar Zwänge der „Praxis" oder - eleganter - der „Sachlogik" rekurriert w i r d 1 5 3 , ist Zurückhaltung am Platze. Im Rahmen dieser Untersuchung kann nur mit exemplarischen Anmerkungen zu einigen kontroversen Bereichen Stellung genommen werden. a) Schulrecht

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Curriculare Entscheidungen (vulgo: Lehrpläne), so formuliert Nevermann, bedürften nicht nur der politischen, sondern auch der wissenschaftlichen und praktischen Legitimation 1 5 5 . Die pädagogischen Sachgesetzlichkeiten 148 Dies ist die Hauptbegründung für den sog. Rechtssatzvorbehalt, vgl. nur M. Kloepfer (Fn. 2), 690 ff. 149 s. bereits oben, 3. Teil, IV. 4. 150 Insoweit ist den Befürwortern eines Rechtssatzvorbehalts zuzustimmen. 151 So bereits oben, 3. Teil, II. 3.; IV. 4. 152 Darauf weist das Bundesverfassungsgericht - allerdings im Zusammenhang mit Art. 80 I GG - selbst immer wieder hin, s. nur BVerfGE 8, 274 (307); 58, 257 (277 ff.); 68, 319 (333). 153 s. dazu H. Sendler, Gesetzesrecht und Richterrecht im Schulwesen, DVB1. 1982, 381 (385). 154 Die nahezu unübersehbare Literatur kann hier nicht nachgewiesen werden; s. dazu neuestens J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis. Zur Wesentlichkeitstheorie und zur Reichweite legislativer Regelungskompetenz insbesondere im Schulrecht, 72 ff. mit umfassenden Nw., sowie H. Heussner, Vorbehalt des Gesetzes und Wesentlichkeitstheorie. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schulrecht, Fs. E. Stein, 111 ff. 155 K. Nevermann, Lehrplanrevision und Vergesetzlichung - Verfassungsrechtliche Grenzen der Parlamentarisierung curricularer Entscheidungen, VerwA 1980, 241 (257).

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

sowie die pädagogische Freiheit der Lehrer seien zu achten 156 . Mit Blick auf das Schulrecht konstatiert auch Eberle: „Der Interessenausgleich durch das Parlament verliert um so mehr seinen Sinn, je zwingender eine bestimmte Regelung durch die Sachstrukturen des Regelungsbereichs geboten i s t " 1 5 7 . Soweit die nicht ungefährliche, weil wenig klar abzugrenzende Denkfigur der „Legitimation durch Praxisnähe" dazu dienen soll, um der Exekutive ihren „ Arkanbereich" zu erhalten, ist ihr indes mit Vorsicht zu begegnen 158 . Das Argument der Sachgesetzlichkeit droht anderenfalls zur kleinen Münze, zur salvatorischen Klausel für einen weiten Spielraum der Verwaltung zu werden. Die gesetzliche Bestimmung staatlicher Eingriffe und Leistungen, Organisation und Verfahren im Schulrecht bewirkt nämlich gerade nicht eine den Besonderheiten des Schulwesens unangemessene Einschränkung pädagogisch gebotener Freiräume 159 . Diese ist eher anzulasten der „bis zum Perfektionismus gesteigerten Bürokratisierung und Bevormundung der Schule durch die Kultus Verwaltungen" 160. Die Diskussion um den Gesetzesvorbehalt im Schulrecht ist allzu sehr fixiert auf die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Parlament und Verwaltung 1 6 1 , während die „ pedagogicalquestion-doctrine" des Bundesverfassungsgerichts 162 nur das Verhältnis des Verfassungsgerichts zum Normgeber betrifft 1 6 3 und die sog. pädagogisch Freiheit den Lehrer vor einengender Normierung gleich welcher Provinienz schützen soll 1 6 4 . Im übrigen ist ein nach den verschiedenen Regelungsbereichen der Grundrechte differenzierender Maßstab für die Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt anzulegen 165 . b) Auswärtiger Bereich Fragwürdig erscheint die Berufung auf die Besonderheiten der Entscheidungsmaterie auch im Hinblick auf Akte im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik, für die im Hinblick auf ihre innerstaatliche Umsetzung erheblicher Legitimationsbedarf bestehen kann. Das Raketenstationierungsurteil wurde im Zusammenhang mit dem Gewaltenteilungsprinzip 156 vgl. BVerfGE 47, 46 (83); 58, 257 (271). 157 c. E. Eberle (Fn. 2), 491. iss So auch H. Sendler (Fn. 153), 385. 159 vgl. H. U. Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalt, Fs. Juristische Gesellschaft, 113 (123). 160 BVerfGE 58, 257 (271). 161 So K. Nevermann (Fn. 155), 258. ι 6 2 BVerfGE 45, 400 (417 ff.). 163 So zutreffend H. Sendler (Fn. 158), 385. 164 H. Sendler (Fn. 158), 388. 1 65 s. näher H. U. Erichsen (Fn. 159), 124 ff., für den „Richtschnur (ist), daß die Eltern allein aufgrund der gesetzlichen Regelung die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können"; vgl. auch BVerfGE 41, 400 (425); 59, 104 (114); sowie J. Staupe (Fn. 3), 338 ff.

III. Normspezifische Kriterien

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bereits kritisch angesprochen 166 . Das Bundesverfassungsgericht war darin der Auffassung, daß „typischerweise allein die Regierung über die ... Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde, äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren . . . " 1 6 7 . Das Gericht hatte dabei offenbar eher traditionelle diplomatische Gepflogenheiten im Auge - die auch heute noch eine große Rolle spielen und die niemand dem Gesetzesvorbehalt unterstellen w i l l 1 6 8 - als den zu entscheidenden Fall. Denn die Diskussion über Für und Wider der „Nachrüstung" wurde auf NATO-Ebene und innerhalb der Mitgliedsländer über einen Zeitraum von drei Jahren kontrovers geführt. Für den Bundestag hätte ohne weiteres die Möglichkeit bestanden, der Raketenstationierung durch einen verbindlichen Gesetzesakt zuzustimmen 169 . Der prinzipiell erforderliche Handlungsspielraum der Regierung in der Außenpolitik wäre dadurch nicht in unerträglicher Weise beeinträchtigt worden. Denn die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht zu Art. 59 I I 1 GG aufgestellt hat, könnten entsprechend herangezogen werden: „So kann der Bundestag kraft Art. 59 I I 1 GG weder verhindern noch erzwingen, daß die Bundesrepublik Vertragsverhandlungen unterläßt, aufnimmt oder abbricht oder Vertragsentwürfe bestimmten Inhalts gestaltet, noch kann er erzwingen, daß ein Vertrag, zu dem ein Zustimmungsgesetz im Sinne des Art. 59 I I 1 GG ergangen ist, von der Exekutive auch abgeschlossen ... w i r d " 1 7 0 .

Der Regierung verbleibt mithin ein beträchtlicher Initiativspielraum sowie freie Hand für die Letztentscheidung, ob sie von der Zustimmung Gebrauch machen w i l l 1 7 1 . Die Raketenstationierung war andererseits grundrechtsrelevant 172 , von determinierender Wirkung für die zukünftige Verteidigungspolitik der Bundesrepublik und des NATO-Bündnisses und darüber hinaus politisch sehr umstritten. Die Indikatoren für einen hohen Legitimationsbedarf waren sämtlich gegeben. Der Bundestag hätte daher der „Nachrüstung" durch Gesetz zustimmen müssen 173 .

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s. oben, 3. Teil, III. 1. 167 BVerfGE 68, 1 (87). 168 s. dazu und zum folgenden F. Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 49 ff. 169 So wie in den Niederlanden das Parlament formell über die Aufstellung von cruise missiles im Rahmen der „Nachrüstung" entschieden hat. i™ BVerfGE 68, 1 (85). 171 Ebenso O. Rojahn, in: I. v. Münch, GGK, Art. 59, Rz. 31; Th. Maunz, in: Maunz/ Dürig, Art. 59, Rz. 18; F. Schuppert (Fn. 168) spricht daher von Zustimmungsgesetzen als Ausdruck gestaffelter Zuständigkeit von Regierung und Parlament. 172 Die Gefahr von Unfällen und damit die Risiken für die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit sind denen der Kernkraftwerke vergleichbar. 73 1 So auch der Richter Mahrenholz i n seiner abweichenden Meinung, BVerfGE 68, 1 (131), der Art. 59 I I GG für direkt anwendbar hält; so auch W. Däubler, Stationie-

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Ein ähnliches Problem kann sich bei der Kündigung völkerrechtlicher Verträge ergeben. Der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts 174 und der überwiegenden Lehre 1 7 5 , daß Kündigungen schlechterdings nicht der Zustimmung in Form eines Bundesgesetzes bedürften, auch wenn damit erhebliche Auswirkungen auf innerstaatliche Belange verbunden sind, ist nicht zuzustimmen. Vielmehr muß auch hier ein differenzierender Maßstab angelegt werden, wobei der Legitimationsbedarf der Entscheidung einerseits und die Handlungsfähigkeit der Regierung andererseits Berücksichtigung zu finden haben. Gleiches gilt im übrigen im innerstaatlichen Recht bei Gliedstaatenverträgen, wie der Fall der Kündigung des NDR-Staatsvertrages zeigt 1 7 6 . c) Weitere Bereiche Skepsis ist ferner angebracht gegenüber der These von der Regelungsfeindlichkeit des technischen Sicherheitsrechts 177 . Die Festlegung von Restrisiken nach dem allgemein akzeptierten Grundsatz der umgekehrten Proportionalität von Schadensausmaß und Schadenswahrscheinlichkeit 178 ist nämlich nicht das Ergebnis naturwissenschaftlicher Dezision, sondern das Resultat komplexer, von Wertungen bestimmter Entscheidungsvorgänge 179 . Die Hinnahme des „kalkulierten Risikos" einer Technologie setzt eine Abwägung zwischen den potentiell betroffenen Grundrechtsinteressen und den erhofften wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erträgen voraus, die zu den genuinen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers gehört 180 . Freilich darf von dem Gesetzgeber nichts Unmögliches verlangt werden; auf „offene Normen" bzw. Allgemeinformeln wie „allgemein anerkannte Regeln der Technik" wird er im Interesse seiner Handlungsfähigkeit, der Kontinuität der Gesetzgebung und der raschen Anpassung an den technischen Fortschritt nicht verzichten können 1 8 1 . Doch gilt es auch die Ambivalenz solcher

rung und Grundgesetz; a. Α.: Α. Weber, Nachrüstung und Grundgesetz, JZ 1984, 589 (593); I. v. Münch, Rechtsfragen der Raketenstationierung, NJW 1984, 577 (581); A. Bleckmann, Gesetzesvorbehalt für Nachrüstung? DVB1 1984, 6 (10 ff.). BVerfGE 68, 1 (84). 175 Th. Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 59, Rz. 17; O. Rojahn, in: I. v. Münch, GGK, Art. 59, Rz. 53 m. Nw. auch zur Gegenmeinung; I. v. Münch (Fn. 173), 581; E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, W D S t R L 16 (1958), 70. 176 BVerwGE 60, 162 (175 ff.). 177 Vgl. F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 34; ders., Die Bewertung technischer Risiken bei der Rechtsetzung, DÖV 1982, 833 ff. ne vgl. BVerwGE 45, 51 (61); BVerfGE 49, 84 (139). 179 s. dazu eingehend E. L. Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 197 ff. 180 vgl. A. Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz" des Atomrechts? NVwZ 1984, 137 (141 f.). lei F. Ossenbühl (Fn. 177), 34.

III. Normspezifische Kriterien

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Formeln im Auge zu behalten 182 . Ein Beispiel. Nach Art. 7 I I Nr. 3 AtomG darf die „Genehmigung einer (Kernenergie-)Anlage nur erteilt werden, wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist".

Diese „ i n die Zukunft hin offene Fassung" des § 7 I I Nr. 3 AtomG dient, so das Bundesverfassungsgericht, einem „dynamischen Grundrechtsschutz". Sie helfe, den Schutzzweck des § 1 Nr. 2 AtomG 1 8 3 jeweils bestmöglich zu verwirklichen 1 8 4 . Der Gesetzgeber überträgt dabei jedoch die Festlegung des Maßes der Dynamik auf die Naturwissenschaften; er rezipiert zwar technische Innovation, nimmt aber nicht steuernd auf Maßnahmen Einfluß, die über die Erhaltung des Bestehenden weit hinausgehen 185 . Die Frage der Grenzen der Normierbarkeit stellt sich jedoch mit aller Schärfe im Bereich der Wirtschaftssteuerung 186 . Das besondere Merkmal der Wirtschaftssteuerung (gegenüber der Wirtschaftsordnung und »Überwachung) ist ihre ausschließliche Zukunftsbezogenheit 187 . Entscheidungen in diesem Bereich sind von zahlreichen Prognosen und komplexen Abwägungsvorgängen abhängig, die nur unvollkommen vom Gesetzgeber antizipiert und determiniert werden können. Gesetze werden sich hier nicht selten auf Zielvorgaben beschränken müssen 188 in Form sog. offener Kompetenznormen 189 . Auch in diesem Bereich ist indes eine differenzierende Betrachtungsweise angezeigt - gerade dort, wo der Rekurs auf das Argument der Nicht-Normierbarkeit notwendig erscheint. Sofern konkrete wirtschaftspolitische Entscheidungen von großer Tragweite anstehen, kommt eine „Rückholkompetenz" oder gar ein „Rückholvorbehalt" 1 9 0 des Gesetzgebers in Betracht, mithin die Möglichkeit für das Parlament, die der Exekutive gesetzten allgemeinen Maßstäbe selbst zu konkretisieren. 182 v g l H. J. Papier, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, 63 ff.; E. L. Neil (Fn. 179), 197 ff. 183 § ι ]sjr. 2 AtomG: „Zweck dieses Gesetzes ist, Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen und durch Kernenergie oder ionisierende Strahlen verursachte Schäden abzugleichen". 184 BVerfGE 49, 89 (136) - Kalkar. 185 s. dazu näher A. Roßnagel (Fn. 180), 138 ff.; H. Hofmann (Fn. 75), 89 f. 186 s. dazu eingehend W. Braun, Offene Kompetenznormen - ein geeignetes und zulässiges Regulativ im Wirtschaftsverwaltungsrecht? VerwA 1985, 24 ff., 158 ff. 187 W. Braun (Fn. 186), 34; R. Geitmann, Bundesverfassungsgericht und „offene" Normen, 136 ff. 188 v g l n u r d a s Stabilitätsgesetz von 1969. «» s. ζ. Β. Art. 109 GG i. V. m. d. StabG; näher W. Braun (Fn. 186), 158 ff.; vgl. auch H. U. Erichsen, Die sog. unbestimmten Rechtsbegriffe als Steuerungs- und Kontrollmaßgaben im Verhältnis von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, DBV1 1985, 22 (26 ff.). 190 Zu Vorschlägen in diese Richtung s. J. Staupe (Fn. 3), 305; G. Kisker (Fn. 43), 1318.

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5. Teil: Ansätze einer Konkretisierung

Die sachgesetzlichen Grenzen sinnvoller - und legitimatorisch wirksamer - gesetzlicher Normierung sind darüber hinaus allgemein kaum bestimmbar. Sie werden überwiegend auf der zweiten Stufe des Gesetzesvorbehalts sichtbar werden, wenn es um die Regelungsdichte und Regelungsstruktur (bindender Auftrag an die Verwaltung, Ermächtigung, Verordnungsermächtigung, Einräumung von Beurteilungsspielraum etc.) geht. Die Frage, ob das Parlament über eine bestimmte Maßnahme mitentscheiden soll, w i r d sich dagegen in der Regel mit dem Verweis auf „Sachgesetzlichkeiten" nicht negativ beantworten lassen. I V . Der Interpretationsprimat des Parlaments

Als gewichtiges Argument gegen die „Wesentlichkeitstheorie" ist schließlich vorgetragen worden, daß die Konkretisierung bei der Vagheit und Unschärfe dieser Formel unweigerlich auf das Bundesverfassungsgericht zukomme und eine allseits unerwünschte Kompetenzverschiebung zu dessen Gunsten (bzw. Lasten) bewirke 1 9 1 . Dem ist entgegenzuhalten, daß jedes oberste Bundesorgan zur Konkretisierung seiner Kompetenzen primär selbst aufgerufen ist. Dies gilt, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, in besonderem Maße für das demokratisch legitimierte Parlament 1 9 2 . Die Kriterien für den Gesetzesvorbehalt sind jeweils und bezogen aufeinander nicht starr, sondern auf einer Skala zwischen „nicht zutreffend" und „eindeutig zutreffend" angesiedelt. Ihre isolierte und kombinierte Bewertung muß vom Bundestag selbst vorgenommen werden, dem dabei ein nicht zu eng bemessener Beurteilungsspielraum und die Entscheidungsprärogative einzuräumen ist. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist es bislang gewesen, die vermeintlich bestehenden sachlichen (sektoralen) Ausnahmen von der Geltung des Gesetzesvorbehalts (etwa bei den besonderen Gewaltverhältnissen) zu beseitigen und dem Gesetzgeber durch die näher definierte Wesentlichkeitstheorie verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Wahrnehmung seiner Kompetenzen aufzuzeigen 193 . Darüber hinaus beschränkt sich das Gericht zu Recht auf die Aufhebung offensichtlich fehlsamer Entscheidungen des Gesetzgebers. Auf den Gesetzesvorbehalt gewendet bedeutet dies: Das Bun191 Vgl. nur M. Kloepfer (Fn. 2), 692. 192 Vgl. nur BVerfGE 4, 331 (350); 56, 54 (80 f.); s. dazu eingehend Chr. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 138 ff.; H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1253 (1280 f.); R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane, insbes. 37 ff.; F. Schuppert (Fn. 168), 207 ff. 1 93 Zum Kontrollumfang des BVerfG s. auch P. Badura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Parlaments zur „Nachbesserung" von Gesetzen, Fs. Eichenberger, 481 (487).

IV. Interpretationsprimat des Parlaments

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desVerfassungsgericht wird kaum seine Auffassung an Stelle des Gesetzgebers setzen, wenn dieser zu dem Schluß kommt, eine Materie sei nicht wesentlich. Es wird das Parlament aber gegebenenfalls an seine Pflicht erinnern müssen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine bestimmte Regelung wesentlich (genug) ist, daß sie eine gesetzesförmliche Entscheidung erfordere. Die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts w i r d mithin auf die Frage zielen, ob das Parlament das durch den Gesetzesvorbehalt gebotene Untermaßverbot 194 verletzt hat.

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Begriff von H. D. Jarass (Fn. 5), 395.

Zusammenfassung Die Untersuchung hatte sich zum Ziel gesetzt, den Anwendungsbereich des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes zu bestimmen, ohne bei der wenig ergiebigen Dichotomie wesentlich/unwesentlich zu verharren. Das komplexe Problem des Gesetzesvorbehalts wurde deshalb aus einer einheitlichen Perspektive untersucht, nämlich unter dem Gesichtspunkt der Legitimationsaufgaben, die das Gesetz nach dem Grundgesetz erfüllen soll. Legitimität - im Sinne von „Anerkennung als rechtens und verbindlich" wurde als zentrale Kategorie des Verfassungsrechts vorgestellt. Die demokratische Verfassungsordnung des Grundgesetzes, so lautete die These, ist auf ein hohes Maß an Legitimität angewiesen. Die Legitimität der Verfassung und die Legitimationsmechanismen des Grundgesetzes wurden zunächst in einem allgemeinen Teil diskutiert, um sodann die spezifischen Legitimationsaufgaben des Parlaments, die dieses als Gesetzgeber wahrzunehmen hat, zu erhellen. Es zeigte sich, daß das Gesetz dogmatisch wie legitimatorisch gleichermaßen auf den Pfeilern „Demokratie" und „Rechtsstaat" ruht. Das Parlament als Entscheidungsträger ist von ebenso großer Bedeutung wie das Gesetz als Rechtssatz, anders ausgedrückt, der kompetenziell-demokratische und der normstrukturell-rechtsstaatliche Aspekt des Gesetzesvorbehaltes ergänzen einander. Diese Überlegungen führten in die These: Der allgemeine Gesetzesvorbehalt kommt - jenseits der speziellen Vorbehalte und exklusiver Kompetenzzuweisungen - immer dann zur Anwendung, wenn staatliche Regelungen im besonderen Maße der Legitimation bedürfen, und soweit das Parlamentsgesetz geeignet ist, legitimierend zu wirken. Aus dieser Interpretation ergaben sich mehrere Konsequenzen: 1. Bestrebungen, den allgemeinen Gesetzesvorbehalt in einen Parlamentsvorbehalt und einen Rechtssatzvorbehalt aufzuspalten, sind ebenso abzulehnen wie die Meinung, der allgemeine Gesetzesvorbehalt gehe in den Grundrechten auf. Diese Ansätze führen nämlich zu einem Verlust an legitimatorischer Substanz. 2. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, derzufolge aus dem Gewaltenteilungsprinzip eine Begrenzung des Gesetzesvorbehalts abzuleiten sei, ist zurückzuweisen. Vielmehr sind eine funktional-differenzierende Betrachtung nach Regelungsmaterien anzustellen und die norm-

Zusammenfassung

139

strukturellen Grenzen des Gesetzes zu berücksichtigen. Die vielberufene Gefahr einer Parlamentssuprematie besteht ohnehin nicht. 3. Der legitimationsorientierte Ansatz ermöglicht eine praktikable Abgrenzung der grundrechtlichen Spezialvorbehalte von dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Gerade weil die Grundrechte (und ihre Spezialvorbehalte) und der allgemeine Gesetzesvorbehalt zunächst unter demselben Aspekt, nämlich dem der Legitimation analysiert werden, können ihre unterschiedlichen Funktionen alsdann um so präziser unterschieden werden: Die grundrechtlichen Spezialvorbehalte gelten danach im subjektivrechtlichen Bereich der Grundrechte; soweit die Grundrechte darüber hinaus eine objektivrechtliche Dimension haben, kommt der allgemeine Gesetzesvorbehalt als grundrechtsrelevanter Vorbehalt zur Anwendung. 4. Der Gesetzesbegriff der Grundrechte kann geklärt werden: Die Grundrechtsvorbehalte erfordern stets ein formelles Gesetz als Ermächtigungsgrundlage für untergesetzliche Eingriffe, diese kann aber der Bedeutung des Eingriffs entsprechend hinreichend allgemein gefaßt sein. Im fünften Teil der Untersuchung schließlich wird die zuvor erarbeitete Lösung in zwei Gruppen von Kriterien konkretisiert. 1. Die sog. „sachspezifischen" Kriterien betreffen die Tatbestandsseite des Gesetzesvorbehalts, also die Frage, wann der Gesetzgeber tätig werden muß. An erster Stelle ist die Grundrechtsrelevanz von staatlichen Maßnahmen im (nur) objektiven Bereich der Grundrechte zu nennen. Die Geltung des Gesetzesvorbehalts kann insbesondere für Regelungen in den Bereichen der Leistungsverwaltung, der wertsetzenden Ausgestaltung der Grundrechte und bei Grundrechtskollisionen begründet werden, ohne daß es zu Friktionen mit der „Schrankensystematik" der Spezialvorbehalte kommt. Zur Abgrenzung gegenüber nicht hinreichend relevanten Maßnahmen wird die Normzwecklehre Ulrich Ramsauers herangezogen. Weitere vorbehaltsbegründende Kriterien sind die zukunftsprägende Wirkung (der Determinationseffekt) und die politische Umstrittenheit von staatlichen Entscheidungen. 2. Die normspezifischen Kriterien betreffen die Rechtsfolgenseite des Gesetzesvorbehalts, also die Frage, wieviel der Gesetzgeber selbst regeln muß und inwieweit er Normsetzungsbefugnisse delegieren darf. Der Gesetzesvorbehalt erfordert zunächst in der Regel nur ein allgemeines Gesetz, das dem konkretisierenden Vollzug (der ebenfalls legitimatorisch wirksam ist) zugänglich ist. Dagegen hat Art. 80 I GG - entgegen einer verbreiteten Auffassung - mit der Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts nichts zu tun. Diese Norm setzt vielmehr einen rechtsstaatlichen Mindeststandard für jegliche Gesetzgebung, auch außerhalb des Vorbehaltsbereiches.

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Zusammenfassung

Schließlich war anhand einiger exemplarischer Bereiche auf die funktionalen (und legitimatorischen) Grenzen der Gesetzgebung hinzuweisen, ebenso aber vor einer pauschalen und leichtfertigen Verwendung des Arguments angeblicher Nicht-Normierbarkeit zu warnen. Namentlich im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik muß das Parlament an legitimatorisch sensiblen Entscheidungen mitwirken. Denn das Gesetz, so zeigte sich, ist hinreichend geschmeidig und flexibel, um den Besonderheiten spezifischer Regelungsbereiche Rechnung zu tragen. Abschließend war der Befürchtung entgegenzuwirken, die vorgeschlagene Bestimmung des Gesetzesvorbehalts könne zu einer Belastung für das Bundesverfassungsgericht werden. Der Interpretationsprimat für den Gesetzesvorbehalt verbleibt nämlich beim Parlament.

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