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German Pages 368 [358] Year 2019
SCI EN T IA
REL IGIO
Gianluca De Candia
Der Anfang als Freiheit Der Denkweg von Massimo Cacciari im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie
VERLAG KARL ALBER
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Gianluca De Candia Der Anfang als Freiheit
VERLAG KARL ALBER
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SCI E N T IA
REL I G IO
Band 18
Herausgegeben von Markus Enders und Bernhard Uhde Wissenschaftlicher Beirat Peter Antes, Reinhold Bernhardt, Hermann Deuser, Burkhard Gladigow, Klaus Otte, Hubert Seiwert und Reiner Wimmer
Gianluca De Candia
Der Anfang als Freiheit Der Denkweg von Massimo Cacciari im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Gianluca De Candia The beginning as freedom Massimo Cacciari’s way of thinking in a field of tension of philosophy and theology Massimo Cacciari is one of the most important contemporary philosophers in Italy. This book is the first comprehensive German-language monography on his way of thinking. In examination with the speculative thinking from Augustinus to Schelling and the Christian ideas of Trinity and Creation, he developed the bold idea of a beginning above all origin - in order to achieve the absolute and redeemed freedom of God and of men. From there he comes to surprising insights into the theological-metaphysical and political laws of European cultural history, which allow a critical double look at the origins and the purpose of being and thinking as well as a theological re-reading of classical topics.
The Author: Dr. theol. Gianluca De Candia, born in 1983, has worked in the context of a Alexander von Humboldt Fellowships at the Westphalian Wilhelms University Münster and is a private lecturer there for philosophical fundamental questions of theology and a DFG scholarship holder.
Gianluca De Candia Der Anfang als Freiheit Der Denkweg von Massimo Cacciari im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie Massimo Cacciari ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Philosophen Italiens. Dieses Buch ist die erste umfassende deutschsprachige Monographie zu seinem Denkweg. In Auseinandersetzung mit dem spekulativen Denken von Augustinus bis Schelling und dem christlichen Trinitäts- und Schöpfungsgedanken entwickelt er die kühne Idee eines Anfangs vor allem Ursprung – um der absoluten und gelösten Freiheit Gottes und der Menschen willen. Von da her kommt er zu überraschenden Einsichten in die theologisch-metaphysischen und politischen Gesetze der europäischen Kulturgeschichte, die einen kritischen Doppelblick auf das Woher und Wozu von Sein und Denken sowie eine theologische Relektüre klassischer Themen ermöglichen und erfordern.
Der Autor: Dr. theol. Gianluca De Candia, geb. 1983, hat sich im Rahmen eines Alexander-von-Humboldt-Fellowships an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster habilitiert und ist dort Privatdozent für Philosophische Grundfragen der Theologie und DFG-Stipendiat.
Diese Veröffentlichung wurde durch die Alexander von Humboldt-Stiftung und das Bistum Münster unterstützt.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49061-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82040-7
τὸ ἓν στασιάζον πρὸς ἑαυτὸ Gregor von Nazianz, Oratio theologica, III, 2.
Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn Wie du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Not Und die Zucht, das meist nämlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstrahl, der Dem Neugeborenen begegnet. F. Hölderlin, Der Rhein, 148.
Der Ursprung enthält in sich das Gesetz des Kreislaufs. Was von ihm kommt, muss zu ihm zurück. Wo der Ursprung herrscht, kann es das Neue nicht geben. Die Herrschaft des Woher macht die Ernsthaftigkeit des Wozu unmöglich. P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung (1933)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Genetisch-systematische Deutungshypothese . . 2. Methodologischer Zugriff und Gliederung . . . . 3. Massimo Cacciari: Ein mitteleuropäischer Denker
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Erster Teil Die metaphysische In-Differenz des Anfangs Kapitel I Der Gedanke der schöpferischen Brechung . . . . . . . 1.1 Ausgangspunkt: Kritik und Krise der Grundlagen 1.2 Mitteleuropäische Krise und negatives Denken . 1.3 Schwelle: Das Ende der Philosophie . . . . . . .
Kapitel II Die Differenz über das Sagbare hinaus . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Antinomie und das Sich-Zeigen des Vorausgesetzten: Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Aufdeckung des Vorausgesetzten und des Möglichen: Rosenzweig und Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Schwelle: Die Differenz jenseits des Sichtbaren . . . . .
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Kapitel III Die protologische Differenz des Anfangs . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Kantische Eingrenzung des Anfangsproblems . . . . 3.2 Die Hegelsche Aufhebung des Anfangs in das Anfangende 3.3 Das Anfangsproblem in der Dreifaltigkeitstheologie . . .
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Inhalt
3.4 Ein dritter trinitarischer Weg jenseits von Hegel und Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das Anfangsproblem in der Schöpfungstheologie . . . 3.5.1 Kritische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . 3.6 Das Anfangsproblem in der Erlösungstheologie . . . . 3.6.1 Kritische Bemerkungen und Wiederaufnahme des Problems der göttlichen Natur . . . . . . . . . . 3.7 Zusammenfassung und Übergang: Zur diaporetischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel IV Die eschatologische Differenz der Freiheit . . . . . . . . . . . 4.1 Von der Sache selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das ἄπειρον als ewiges Un-Mögliches . . . . . . . . . . 4.3 Die existenzielle Analytik der Freiheit . . . . . . . . . . 4.4 Das Fünfte Platons und die Analogie zwischen der Einzigartigkeit und dem Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zusammenfassung und Übergang: Zur analogischen Rede Kapitel V Die dem Seienden selbst immanente Differenz . . . . . . . . . 5.1 Das philosophische Labyrinth . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Das Seiende als aporoúmenon . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Gute-Erste als Inhalt der »ungeschriebenen Lehren« . 5.4 Das Ἀγαθόν als transzendentale Möglichkeit der οὐσία . 5.5 Zusammenfassung und Übergang: Der mutmaßende Charakter des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel VI Die der Europa-Idee innewohnende Differenz . . . . . . . . 6.1 Aufgang Europas. Genealogie des europäischen Geistes 6.1.1 Die unüberwindbare grundlegende Differenz der griechischen Polis: Rückkehr zu Platon . . . . . 6.1.2 Die Entwurzelung des Nomos nach Carl Schmitt 6.2 Untergang Europas. Das Schicksal des europäischen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
6.2.1 Die Krise der europäischen Einheit und das Archipel als »neuer Anfang« . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Der »Untergehende Mensch« als Überwindung des homo democraticus . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Der Κατέχον oder das Un-Mögliche als unbegrenzte Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zusammenfassung und Übergang. Zur unpolitischen Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil Anfang, Freiheit und Vollzug im Konzept der Diaporetik. Kritischer Einblick in die Grundbegriffe Kapitel I Logischer Aspekt: Die Form der Diaporetik . . . . . . . . . . 1.1 Widerspruch und Diaporetik . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der platonische Hintergrund der diaporetischen Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel II Epistemologischer Aspekt: Der Inhalt der Diaporetik . . . . . . 2.1 Von der unmöglichen Notwendigkeit, das Eine zu definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das All-Mögliche und das positiv Ermöglichende . . . . 2.2.1 Die Interpretation von Eriugena bei Cacciari: Die ignorantia Dei und die kritische Frage nach dem Verhältnis von Anfang und Anfangendem . . . . . 2.2.2 Die Interpretation des Agathòn ἐπέκεινα τῆς οὐσίας bei Cacciari und die Aporien seiner Diaporetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die »indifferente All-Mitmöglichkeit« als formale Unbedingtheit der menschlichen Freiheit und deren Aporien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel III Theologischer Aspekt: Die theologischen Herausforderungen der Diaporetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Cacciari zum Dilemma der theologischen Anfangslehre . 3.2 Schwelle: Stand der Diskussion und weiteres Vorgehen . Der Anfang als Freiheit
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Inhalt
Dritter Teil Anfang als Freiheit Kapitel I Abgrund der Vernunft und göttliche Freiheit: Rückblick auf die neuzeitliche Angangsfrage als Gegenentwurf zur Diaporetik . 1.1 Kant: Abgrund der Vernunft als Spontaneität des Anfangen-Könnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Jacobi: Der ungelöste Gegensatz zwischen blinder Notwendigkeit und intelligenter Freiheit . . . . . . . . 1.3 Hegel: Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Notwendigkeit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Schelling: Göttliche Freiheit als Selbstaufklärung der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel II Die anfängliche Freiheit Gottes als Ermöglichungsgrund der Welt. Rückblick auf die historisch-systematische Entwicklung der Schöpfungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Augustinus zwischen Platonismus und Christentum: creatio ex nihilo und rationes seminales . . . . . . . . . 2.2 Aristotelismus, Platonismus und Christentum. Thomas von Aquin: die durch Kontingenz und Vorsehungs-Determinismus vermittelte Schöpfung . . . 2.3 Der Bruch mit Aristoteles. Die Neubestimmung der Kontingenz durch Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Zielscheibe von Scotus: Wesenheit und Schöpfung bei Heinrich von Gent . . . . . . . . . 2.3.2 Mögliche und freie Schöpfung des Zufälligen nach Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel III Anfang als Freiheit. Ausblick auf die gegenwärtige Theologie und Neukonzeptualisierung jenseits des Konkurrenzmodells (Theologische Mindestforderungen in sechs Thesen) . . . . . . 3.1 Der Anfang ist eher ein praktischer Ort als ein theoretischer Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3.2 Der Gedanke der Schöpfung ist zuallererst ein Erfahrungsurteil, sodann eine theoretische Einsicht . 3.3 Die Schöpfung als Über-gang des innertrinitarischen Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die creatio ex nihilo impliziert eine radikale Differenz 3.5 In der Person Christi nimmt die göttliche Freiheit die Form der Freiheitswahl an . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Das Eschaton als endgültige Vollendung der gottmenschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antike, Patristische und mittelalterliche Quellen 3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Das Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsarbeit, die im November 2017 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster angenommen wurde. Am Ende dieses Denkweges möchte ich der Fakultät meinen Dank aussprechen. Ich wurde getragen von ihrer großen Tradition und erfuhr mannigfache Hilfe von denen, die heute hier leben und arbeiten. In diesem Kontext geht mein besonderer Dank an Herrn Prof. Klaus Müller, der in diesen Jahren der Zusammenarbeit immer bereit war, meine theologischen Interessen und Forschungen zu fördern und auf meine Fragen bereitwillig einzugehen. Diese Arbeit verdankt ihre Entstehung wesentlich dem Beistand und den Anregungen von Herrn Prof. Elmar Salmann, mit dem ich seit meinen Studientagen an der Gregoriana in Rom verbunden bin, und dem ich heute für seine fachliche Beratung und seinen Aufwand als Zweitgutachter danke. Verbindlicher Dank gilt endlich der, auch persönlichen, Unterstützung, die das Verfahren durch den Bischof von Münster, Dr. Felix Genn, erfuhr. Dem Protagonisten dieses Buchs, Herrn Prof. Massimo Cacciari, danke ich für seine Gastfreundschaft und manche Anregung. Im Gedächtnis behalte ich unsere drei venezianischen Gespräche rund um das Verhältnis zwischen Erfahrung und Reflexion, also die immer neu auszulotende Beziehung zwischen unendlichem Meer und der begrenzten Insel im Sinne von Kant. Dafür war Venedig als Stadt zwischen terra ferma und Adria ein kongenialer Ort. Hilfreiche Auskünfte und mancherlei Unterstützung verdanke ich Herrn Prof. Thomas Leinkauf und meiner Frau, Dr. Maria Evelina Malgieri. Des Weiteren danke ich Frau Dr. Dorothee Zucca für die sprachliche Revision des Textes und Frau Dr. Giovanna D’Aniello für ihre Hilfe bei der Übersetzung der ersten, von mir auf italienisch verfassten Entwürfe des dritten Teils dieses Bandes. Der Anfang als Freiheit
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Vorwort
Ebenso wichtig wie die fachliche Betreuung ist die finanzielle Unterstützung, die den zur Erstellung dieser Arbeit notwendigen Freiraum gab. Mein besonderer Dank gilt daher der Alexander-vonHumboldt-Stiftung für die Gewährung eines dreijährigen Post-docStipendiums. Für die Aufnahme meiner Untersuchung in die Reihe Scientia & Religio möchte ich ihren Herausgebern, Prof. Markus Enders und Prof. Bernhard Uhde, von Herzen danken. Bei Lukas Trabert und seinen Mitarbeitern im Karl Alber Verlag Freiburg bedanke ich mich für die stets freundliche und hilfreiche Betreuung. Das Hauptwerk in diesen drei Jahren war nicht das Handwerk der Habilitation, sondern die Begleitung des Wachstums unserer beiden Kinder, Davide und Sofia. Sie erinnern mich und meine Frau, deren Geduld und großmütiges Geleit in dieser Zeit eminent wichtig war, jeden Tag daran, dass die großen Dinge im Leben sicherlich unseren ganzen Einsatz brauchen, ihr Gelingen aber nicht von uns abhängt, ganz in jenem Sinn, den ich am Ende dieses Buchs ins Auge fasse. Meinen Kindern, dem Anfang der Freiheit mit ihren ersten Schritten so nahe, sei das Buch gewidmet. An dieser Stelle weitet und wandelt sich der Dank in eine größere Andacht, die dem Denken erst seine Wahrheit gibt. Münster, im September 2018
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Einleitung
1.
Genetisch-systematische Deutungshypothese
»Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Anfangspunkt zurückgeführt ist« schreibt Schelling in seinen Schlussbemerkungen im System des transzendentalen Idealismus. 1 Dieser Gedanke eignet sich gut, um den Denkweg des italienischen Philosophen Massimo Cacciari werkgeschichtlich beschreiben, systematisch rekonstruieren und zugleich einige Einsichten kritisch weiterentwickeln zu können. Cacciari beginnt seine Forschung Ende der sechziger Jahre mit einer neuen, kritischen Interpretation des negativen Denkens der Philosophie in Mitteleuropa, das sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzog. Dabei sieht er das definitive Ende des idealistischen Vernunftparadigmas mit seinem synthetisch-versöhnenden Anspruch gekommen, zugleich aber schätzt er das dort veranschlagte Potenzial, das die Aussicht eröffnet, mit neuen autonomen Ausdrucksformen der Vernunft experimentieren zu können. Dieser paradigmatischen Zurückweisung bei gleichzeitiger kritischer Anknüpfung soll hier nachgespürt und darüber hinaus ebenfalls eine kritische Weiterentwicklung versucht werden. In Krisis (1976), Pensiero negativo e razionalizzazione (1977) und Dialettica e critica del politico (1978) zeigt Cacciari, dass der unumkehrbare Niedergang der klassischen Vorstellung von Vernunft als einer objektiven übergeordneten Struktur, die im sittlichen Staat Hegels ihre gesellschaftliche Verwirklichung finden sollte, nicht zu einem Ende der philosophischen Tätigkeit führt, sondern vielmehr neue Denkperspektiven eröffnet: einerseits die Entstehung eines neuen »Willens zur Macht« im Sinne eines kreativen Selbstverständnisses der Widersprüche des Seins und andererseits auf politischer Ebene die angestrebte neue kapitalistische Gesellschaftsordnung. 1
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Einleitung
Dieser extrem produktiven Natur des negativen Denkens ist die Schrift Dallo Steinhof (1980) gewidmet. Wie bei einem Gang durch eine Gemäldegalerie begibt sich der venezianische Philosoph auf eine Reise durch die Wiener Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zeigt, wie sich hinter den verschiedensten Ausdrucksformen (Musik, Malerei, Philosophie, Literatur) der Wiener Geistesforschung – in gewisser Hinsicht auch der deutschen – ein großes unwiderrufliches Problem verbirgt: Wie kann das Sagbare festgehalten werden, wenn sich die Ausdrucksform nicht auf eine ontologische Grundlage beziehen kann, die klare bestimmte Bedeutungsinhalte vorgibt? Die umfassende Auseinandersetzung mit den Denkern der Krise bzw. des negativen Denkens, zu denen für Cacciari insbesondere Nietzsche und Wittgenstein zählen, weckt das Bedürfnis, ein Denken zu suchen, dem es gelingt, die Wirklichkeit mit ihren Widersprüchen zu beschreiben, ohne darin zu verfallen, sie idealistisch-begrifflich auflösen oder deren Inhalt durch eine propositionale Logik erfassen zu wollen. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei das Aufgreifen des von Wittgenstein entwickelten »Mystik«-Begriffs. Diesen vertieft Cacciari in Dallo Steinhof und der Schrift Icone della Legge von 1985. Das Unaussprechbare übersteigt bei Wittgenstein den linguistischen Horizont, liefert dennoch aber zugleich einen Hintergrund für alles Gesagte, an dem jeder Satz (Proposition), der vorgibt, die Bedeutung/ das Bedeutende des bekannten Objekts beschreiben zu können, abprallt. Weil es unmöglich ist, einen Diskurs über das Fundament zu führen, ist das »Mystische« eine Chiffre für einen metaphysischen Überschuss hinter jedem Auftreten des beschreibenden und zergliedernden Nihilismus und dabei der Weg, diesen zu überwinden. Die besten Formen, in denen sich die Dialektik des Vorausgesetzten als Offenbarung und Verbergung manifestiert, sind für Cacciari die Ikone, die abstrakte Kunst und die Malerei. Da ein idealistisches dialektisches Denken nicht mehr plausibel ist, wird die ästhetische Suche wieder wichtig für das Denken, weil sie die Notwendigkeit, in Bildern zu denken, betont. Als eine Explikation dieser philosophischen Einsicht können die Werke Icone della Legge (1985) und L’Angelo necessario (1986) betrachtet werden. Sowohl die Ikone als auch der Engel sind Mittlerfiguren. Sie leben von einem Licht, das selbst nicht darstellbar ist, ihnen aber gestattet, sichtbar zu sein. So erschließen sie eine allgegenwärtige, aber nicht konzeptuell begriffene, metaphysische Öffnung. Als hermeneutische Orte bei dem Übergang vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, von Vorstellung und Realität, fordern 18
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Genetisch-systematische Deutungshypothese
der Engel und die Ikone die menschliche Deutungskraft heraus, und zwar – so die Forderung Cacciaris – frei von jeder Sehnsucht nach einem Fundament. So öffnen sie den Raum für eine notwendige Erschließung eines Denkens des immer schon Vorausgesetzten, das sich von jeglichem ontologischen Zwang befreit hat. Zur Vertiefung dieser metaphysischen Differenz zwischen »Sache« und Wort zieht Cacciari Franz Rosenzweig, einen weiteren jüdischen Denker, heran. Dieser hatte bei seiner Kritik des Idealismus versucht, wieder eine Spannung zwischen der Vorstellung von Offenbarung und dem Vorausgesetzten einzuziehen. Cacciari nimmt nun auf Schelling Bezug, so wie es bereits Rosenzweig in dem Werk Der Stern der Erlösung durchgeführt hatte. Eine kritische Interpretation der von diesen zwei Denkern vorgeschlagenen Bestimmungen des Vorausgesetzten treibt Cacciari zu einer Suche nach der Definition eines reinen Möglichen an. Er meint, dass Rosenzweig trotz seiner anti-hegelschen Absicht, das Vorausgesetzte als nicht vom Sein abhängig aufzufassen, dieses Vorausgesetzte am Ende doch als Beziehung zwischen Gott und Mensch und Welt definiert und letztendlich in Übereinstimmung mit seinem Erscheinen bzw. mit der Emergenz der Welt als Reich gebracht werde. Ungeachtet ihrer Bemühungen, die Bestimmungen des Vorausgesetzten (des Einen) als das Seynkönnende, das reine Seyende, als Indifferenz zu jeder Potenz und Aktuierung apriorisch rekonstruieren zu wollen, bleibt die positive Philosophie Schellings zuletzt doch in dem dialektischen Prozess befangen, für den das ›Mögliche‹ gleichbedeutend mit ›Mächtigkeit‹ (und Wille) ist, so dass das nicht realisierte (und gewollte) Mögliche letztlich nicht als ein solches zu bezeichnen ist. Die theoretische Herausforderung für Cacciari ist also, die genuine Explikation einer Definition des Vorausgesetzten als rein Mögliches zu wagen, das über eine notwendige Bestimmung des Seins hinausgeht, und zwar über eine Gleichwertigkeit zwischen Möglichem (δυνατόν / dynatòn) und wirklicher Macht (δύναμις / dýnamis), von der doch die gesamte westliche Philosophie ausging. Diesem Ziel, d. h. der Erweiterung des philosophiegeschichtlichen, metaphysischen, theologischen und anthropologischen Horizonts im Sinne der Eröffnung eines neuen Denkraumes, widmet sich Cacciari mit der Trilogie: Dell’Inizio (1990), Della cosa ultima (2004), Labirinto filosofico (2014). So kann hier an ebendiesem Werk der systematische Grundzusammenhang der Philosophie von Cacciari aufgewiesen werden. Mit dem ersten, größtenteils in Dialogform geschriebenen Band Der Anfang als Freiheit
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Einleitung
möchte Cacciari eine Konzeption des Anfangs als ›indifferente AllMitmöglichkeit‹ entwickeln – ein konzeptueller Anfang, der weit von der hegelschen Dialektik des Anfangs entfernt ist, die bekanntlich trotz der Unschuldsbeteuerung seitens der Theologie einen Großteil des theologischen Denkens für lange Zeit beeinflusst hatte. Für Cacciari sollte der Anfang wie ein absolut herkunftsfreier Abgrund gedacht werden, also als etwas ganz anderes als die traditionelle Vorstellung von origo (Ursprung), dessen Definition schon allein eine Notwendigkeit zum Anfang-geben impliziert, so dass der Anfang eigentlich vom »Prozess verschlungen wird« 2 und sich schließlich notwendig als restitutio aktuiert. Dabei greift Cacciari einerseits die neuplatonische Diskussion zur Unterscheidung von Unum und Esse der ersten Hypothese von Platons Parmenides und den Verlauf seiner Interpretation in Kants Kritizismus und im darauffolgenden Idealismus auf; andererseits nimmt er Bezug auf die theologischen Gedanken zum göttlichen Wesen und der Dreifaltigkeit bei den Kappadokischen Vätern, Augustinus, Johannes Scotus Eriugena bis hin zu Eckhart, Nikolaus von Kues und der zeitgenössischen Theologie. Nur eine Diaporie – so der eingeführte Terminus technicus – also ein spekulatives Vorgehen inmitten unlösbarer Antinomien, kann seiner Meinung nach den angemessenen Zugang zur Konzeption des Anfangs schaffen, also jener letzten Macht entsprechen, die ohne Notwendigkeit jede mögliche Welt in sich trägt und die genau deswegen schließlich die Möglichkeit ihrer eigenen Un-Möglichkeit impliziert. In Della cosa ultima, dem zweiten Band der Trilogie, geht der Autor noch eindringlicher auf das Wesen dieser letzten metaphysischen Instanz als Un-endliches ἄπειρον (Àpeiron) ein und greift in diesem Sinne offensichtlich die platonische Lehre über das Fünfte Element der Erkenntnis auf. Der philosophische Exkurs im Siebten Brief Platons ist sicher eine Inspirationsquelle für das philosophische Denken von Cacciari und wird von ihm als entscheidende Wegkreuzung der gesamten westlichen Metaphysik angesehen. Neben der Vertiefung einiger Aspekte aus dem Vorgängerwerk gibt es zwei systematische Neuerungen in Della cosa ultima: Auf der einen Seite wird die Konzeptualisierung des erkennenden Subjekts aufgegriffen, das sich Gedanken zum Anfang macht, auf der anderen Seite werden aus eschatologischer Perspektive das Anfangsdenken und seine Folgen in Bezug auf das Schicksal der Seele bzw. der menschlichen Frei2
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Cacciari, Filosofia e teologia, 1995, 413.
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Genetisch-systematische Deutungshypothese
heit betrachtet. Insofern also in Dell’Inizio eine Protologie oder eine Untersuchung zum Problem des absoluten Anfangs oder der metaphysischen Herkunft vorgeschlagen wird, wird in Della cosa ultima diese Problematik aus theologisch-eschatologischer Sicht abgehandelt, indem die befreienden und gleichzeitig tragischen Implikationen gezeigt werden, die die Freiheit des Anfangs in Bezug auf die Ausübung der Freiheit des Menschen innehat. Im Verlauf dieser Argumentation wird die diaporetische Methode durch eine interessante Verwendung der analogischen Rede bereichert, die zudem die Fruchtbarkeit der metaphorischen Sprache und ihrer eschatologischen Bewahrheitung beinhaltet. In dem jüngeren Buch Labirinto filosofico, das im Moment als Abschluss des systematischen Tryptichons Cacciaris gelten muss, taucht die gleiche metaphysische Frage mittels eines neuartigen Vergleichs von Platonismus und Aristotelismus auf. Anhand einer eigenen Prüfung der Definition von οὐσία (ousía) in der Metaphysik des Aristoteles erweist sich die gesamte westliche Philosophie als eine Diskussion und zugleich eine Verdrängung jenes Problems, das von Platon im Siebten Brief aufgeworfen wurde. Es geht um das Erfordernis einer genaueren Beschreibung der Begriffe, mit denen ein Denken des Anfangs, das nicht per se durch eine propositionale Logik bestimmt werden kann, möglich wird. Es bleibt nichts anderes übrig als eine Art konjekturaler Erkenntnis anzunehmen, eine Form der dauerhaften Annäherung an das, was letztendlich ungreifbar bleibt. Die Konjektur ist also die Form, in der die Diaporetik ihr nicht dialektisches Denken der Differenz realisiert. Die Herausforderung, die metaphysische In–Differenz in all ihrer ursprünglichen Tragweite zu denken, erweist sich – so soll hier gezeigt werden – als Leitmotiv der Spekulation Cacciaris. Die mit Wittgenstein gedachte Differenz zwischen »Ding« und Wort, das Übermaß einer Differenz jenseits des Sichtbaren, das sich in den Topoi der Ikone und des Engels ausdrückt, die ontologische Differenz zwischen Anfang und Ursprung sowie zwischen göttlicher Natur und den drei Personen der Trinität, mit und über die neuplatonische, augustinische und idealistische Tradition hinaus gedacht, die Differenz zwischen der allmöglichen Freiheit des Anfangs und der Freiheit des Menschen, auch aus eschatologischer Sicht reflektiert, werden im Labirinto filosofico gelesen als eine dem Seienden immanente Differenz gelesen, als unlösbare Differenz zwischen dem, was das Wesen in sich ist und den Arten seiner Prädikation. Der Anfang als Freiheit
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Einleitung
Die In-Differenz, die immer fehlt und deshalb die Philosophie bleibend beschäftigt, ist für Cacciari also nicht nur der Ort der Wahrheit des Seins, sondern letzte Form der Gegebenheit des Guten. In diesem Sinne stellt der Autor im Gefolge von Plotin und Proklos eine fruchtbare Parallele zwischen der platonischen Untersuchung des Fünften im Siebten Brief und den Beobachtungen zum Ἀγαθὸν (Agathòn) in der Politeia her. Letztlich erscheint das Gute als eine transzendentale Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen dem Ding, das erscheint, und seiner οὐσία (ousía), auch wenn zwischen ihnen die größte Differenz bestehen bleibt. Auf der gnoseologischen Ebene bedingt sie die Möglichkeit der Erkenntniszugehörigkeit zwischen Intellekt und »Ding«, auch wenn sie von der immer noch größeren Differenz zwischen ihnen umgriffen wird. Die theoretische Dringlichkeit der spekulativen Geste Cacciaris besteht also darin, eine Figur des Anfangs zu sichern, die endlich frei von jedem Zwang, jeder Notwendigkeitslogik ist, um ein Bild der menschlichen Freiheit ohne onto-theologische Rückversicherung zu garantieren, die genau deswegen am Ende immer »tragisch« ist. Diese konstitutiv tragische Seite des menschlichen Vermögens zur Freiheit wird darüberhinaus von den politischen Schriften bestätigt: Geofilosofia dell’Europa (1994), L’Arcipelago (1997), Il potere che frena (2013). Sogar die Vorstellung von Europa wird im Sinne einer grundlegenden Spannung zwischen Gegensätzen, nämlich zwischen den Nationen dieses »Archipels« aufgefasst. Gegen jede vereinheitlichende Tendenz, die gewaltsam die Spannung zwischen Gegensätzen verringern will, gegen jede falsche Rückkehr zu einer scheinbaren europäischen origo, schlägt Cacciari als nunmehr echten europäischen Geist das Gesetz des vollkommenen Unterschiedes, das Kriterium der »Untrennbar-nie-Vereinten«, vor – eine Formel, die von Ferne an die christologische Definition von Chalcedon erinnert. Diese konstante Spannung zieht sich auch durch die Argumentation von Il potere che frena, in der die Untersuchung des Wesens des Κατέχον (Katèchon) im 2. Brief von Paulus an die Thessalonicher (2,6–7) eine dramatische Neudefinition des Verhältnisses von Theologie und Politik, Gut und Böse, Staat und Kirche einfordert. Die eben skizzierte Entwicklung von Cacciaris Denkweg macht die genetisch-systematische Deutungshypothese der Abhandlung hier aus. In Übereinstimmung mit Schellings Anmerkung, die zuvor zitiert wurde, lässt sich zeigen, dass der Denkweg Cacciaris darauf abzielt, dem Gedanken der In-Differenz seine metaphysische Dimen22
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Methodologischer Zugriff und Gliederung
sion zurückzugeben, also die Differenz als Urstruktur ontologischer, theologischer, gnoseologischer und teleologischer Ordnungen zu erweisen. Für ihn ist die In–Differenz der Anfang, das allmöglich Vorausgesetzte, welches den logisch-propositionalen Horizont übersteigt und die Spannung und das θαῦμα (thàuma) und Trauma der gesamten westlichen Philosophie darstellt: Das schreckliche Wunder seit den Anfängen. Deshalb wird das Urteil Heideggers über die seit Platon währende Seinsvergessenheit der westlichen Philosophie nicht einfach negiert oder kritisiert, sondern gänzlich überwunden, da bei Cacciari der Anfang nicht das Anfangende ist, obwohl er die Voraussetzung für alles Existierende ist. Der ursprünglich henologischen Perspektive Cacciaris gelingt es deshalb sogar der Krise des negativen Denkens und der damit einhergehenden Bestreitung des ontologischen Paradigmas zu widerstehen; dabei nimmt er die Perspektiven und die Grundfragen der besten neuplatonischen Traditionen auf. In diesem Sinne können keine idealistische Dialektik, keine vergessene Ontologie der Differenz, 3 kein dekonstruktives Verhalten 4 und kein heute aktueller »neuer Realismus« 5 wirklich den betreffenden Instanzen dieses Denkens entsprechen. Der einzige Weg, die einzige plausible philosophische Methode muss – so stellt es sich Cacciari dar – diaporetisch: also »dialogisch«, »analogisch«, »konjektural« und dabei in der Lage sein, immer wieder aufs Neue die Aporien und Antinomien der Differenz zu erkennen, zu aktualisieren und zu vertiefen.
2.
Methodologischer Zugriff und Gliederung
Jeder methodologische Zugriff und die damit zusammenhängende Wahl methodischer Überlegungen zur Klärung bestimmter Fragen beinhaltet schon immer eine philosophische Perspektive, die als solche der Kritik ausgesetzt ist. Bei meinem Vorgehen folge ich dem Grundgedanken einer Bestimmung der Genese philosophischer Grundoptionen, den Dieter Henrich entwickelt hat. 6 So gesehen scheint mir das Werk von Massimo Cacciari von der Bewahrheitung 3 4 5 6
Wie etwa bei G. F. Hegel. Wie etwa beim frühen M. Heidegger oder bei J. Derrida. Wie etwa bei M. Ferraris. Vgl. Henrich, Werke im Werden, 7–20.
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einer einzigen Grundfrage geprägt zu sein, nämlich jener nach der Bedeutung des Unaussprechlichen für den philosophischen Diskurs. Dies ist – wie zu zeigen sein wird – in der Tat die leitende Perspektive seiner Philosophie, die sich entlang der Reihe seiner Hauptwerke unter verschiedenen Hinsichten systematisch entfaltet. Deshalb folgen die einzelnen Kapitel des ersten Teils dem Weg einer allmählichen Erhellung der Grundintuition des Autors, so dass die sie tragenden Einsichten eine in ihrem Zusammenhang immer deutlicher werdende Gestalt annehmen. Hiermit handelt es sich also um eine Rekonstruktion der Vision seiner Metaphysik, die sinnvollerweise einer weiterführenden, kritisch abstandnehmenden Konfrontation mit seinen Thesen vorausgehen muss, die hier in den abschließenden Teilen der Untersuchung über Cacciari hinausgehend über Cacciari hinausgehend ausgeführt werden soll. Der so gewählte Zugang zu einer unterstellten Grundintention ist zugegebenermaßen eine bestreitbare, aber meiner Meinung nach notwendige Option – und dies aus den unterschiedlichsten Gründen. Denn selbst in italienischer Sprache fehlt immer noch eine vollständige Monographie, die die Intentionen und die werkgeschichtliche Entwicklung der komplex angelegten Philosophie Cacciaris nachgezeichnet hätte. Sodann muss der Eigenart des begrifflich-poetologischen Stils von Cacciari Beachtung geschenkt werden, der von vielen Kollegen geschätzt, von anderen hingegen als hermetisch und ›orakelhaft‹ 7 beurteilt wird. Seine Bücher folgen nicht einer klassisch akademischen Gangart. Vielmehr verwendet er verschiedene literarische Genres, etwa die Formen des Essays, des Dialogs, des Briefs, der Meditation, dies aber eben nicht ohne philosophisch-systematischen Grund, den zu sehen nicht gerade leicht fällt. Zudem liebt er, von der Etymologie der Begriffe auszugehen. Das geschieht vielleicht eher infolge einer Anlehnung an Heidegger, der eine philosophisch begriffene Etymologie bemühte, als von der Absicht, einen poetisch anspruchsvollen Stil entfalten zu wollen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass seine Hauptwerke (Dell’Inizio, Della cosa ultima und Labirinto filosofico) noch nicht ins Deutsche übersetzt und somit auch noch nicht weitgreifend zur Kenntnis genommen worden sind. Es ist freilich offenkundig, dass eine genetisch-systematische RekonstrukIm Jahr nach der Veröffentlichung von Dell’Inizio hat der Sprachphilosoph Massimo Baldini die Unlesbarkeit des Stils kritisiert: Baldini, Contro il filosofese, 1991, 85 ff.
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tion des Werkes eines philosophischen Denkers selbst eine hermeneutische Operation ist, die somit die Perspektive des vollziehenden Interpreten verrät. Im Licht dieser Bemerkungen ist meine methodische Wahl zu verstehen, auf verschiedenen Ebenen und anhand zahlreicher Wiederaufnahmen die Spur eines ständigen Differierens in der argumentativ-thematischen Entwicklung zu verfolgen. An jedem Scheitelpunkt seiner Überlegungen entdeckt Cacciari sowohl die Dynamik als auch den Hiatus eines ständigen Verweisens, einer Verschiebung, einer bleibenden Differenz zwischen Sagbarem und Unausdrücklichem, zwischen Anfang und Ursprung, usw., die sich gerade nicht auflösen lässt oder sich dem Zirkel eines Logozentrismus fügt, bei dem »wirklich« und »vernünftig« zusammenfallen müssten. Von daher begründet sich die diaporetische Leitidee Cacciaris. In der Form des methodologischen Vorgehens der Di-(f)ferenz wie auch im methodischen Rückgang auf Platon findet sich bei Cacciari eine gewisse Ähnlichkeit mit der philosophischen Denkweise von Jacques Derrida. Freilich besteht ein großer Unterschied: Während Derrida die Auflösung der klassischen Ontologie im Gestus einer im Oszillieren verharrenden Dekonstruktion betreibt, versucht Cacciari, die Rekonstruktion eines bleibenden Anfangs zu gewinnen und damit die Einsicht in eine erneuerte Form von Ontologie entgegen deren bereits philosophiegeschichtlich formulierten und immer wieder heftig beteuerten Ende. 8 Dabei greift er nun auf die sokratisch-platonische Weisheit und deren Primat des Mündlichen gegenüber dem Schriftlichen zurück, weil der Gedanke des Höchsten jedem Ausdruck widersteht. Unendlich reich sind die Aporien, und müssen es dieser Einsicht zufolge auch sein, auf die der Gedanke bei der Bestimmung der Voraussetzung von Sein und Denken stößt. Cacciari sieht diese Grundvoraussetzung als Prius der Idee der All-Mitmöglichkeit, der reinen Indifferenz, die stets di-(f)feriert. Dass dieser so aufgefasste Gipfelpunkt der Spekulation bei Cacciari nicht wenige Fragen aufwirft, ist offensichtlich. Aus der oben dargelegten Deutungsperspektive und unter Beachtung dieses differenztheoretisch angelegten philosophisch-hermeneutischen Hintergrunds ergeben sich sozusagen Rhythmus und theAuf der Suche nach der philosophisch-theologischen Grundeinsicht von Cacciari muss hier darauf verzichtet werden, dezidiert und genauer noch dem Einfluss von Jacques Derrida auf das Denken von Cacciari nachzugehen.
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matische Gliederung der vorliegenden Untersuchung. Gerade über das Selbstverständnis des Autors hinaus wird hier ein Zusammenhang zwischen den frühen Werken und der Trilogie hergestellt, der aus dem im ersten Kapitel dargelegten fruchtbaren paradigmatischen Bruch resultiert. Mit der so als Ausgangspunkt aufgeworfenen Problemstellung geht es um eine Form negativen Denkens, das in Mitteleuropa zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert stattfand – und dies in deutlichem Gegensatz zu Hegel. Dabei gilt Wien als geographischer und symbolischer Ort, an dem die Krise der idealistischen Dialektik besonders zur Sprache gekommen war. Eben dies stellt nun für Cacciari ein Labor für die Herauskristallisierung einer neuen Idee von Philosophie dar. So gesehen stellen die theoretisch-kulturellen Diagnosen, die vor allem in der Krisisschrift von 1976 dargelegt wurden, die perspektivbildende Voraussetzung für die gesamte Entwicklung der Metaphysik Cacciaris dar. Das jüdische Denken am Anfang des 20. Jahrhunderts, vor allem das von Wittgenstein und Rosenzweig, wird deshalb hier im zweiten Kapitel behandelt. Die Untersuchungen Nietzsches zur antinomischen Natur der Realität öffnen sich – so stellt es sich Cacciari dar – der Idee des Vorausgesetzten, das grundsätzlich über den Horizont des Sagbaren hinausgeht. In Übereinstimmung mit Cacciari zeige ich, dass man gerade durch die kritische Auseinandersetzung mit Schelling und dessen Überlegungen zum Begriff des Möglichen zu einer neuen philosophischen Einsicht geführt wird. Nach diesem Denkschritt erweist sich das dritte Kapitel als das für den Argumentationsgang theoretisch bedeutsame. Denn nun wird die Argumentation Cacciaris in seinem Werk Dell’Inizio anhand eines bündigen Vergleichs entscheidender Positionen der philosophischen und theologischen Tradition zum Problem des Anfangs durchsichtig und so auch genuer nachzuzeichnen möglich. Anhand einer Kritik der griechischen Philosophie der Antike (Platon und Neuplatonismus), der frühchristlichen Theologie (Kappadokische Väter und Augustinus), der Aufklärung (Kant) und des Idealismus (Hegel, Schelling) versucht Cacciari, gerade jenseits des onto-theologischen Vorurteils auf die klassische Unterscheidung von Unum und Esse zurückzugehen. Ist dieser systematische Stand erreicht, können nun die Überlegungen zur protologischen Differenz des Anfangs im vierten Kapitel expliziert sowie Überlegungen zur eschatologischen Differenz von göttlicher und menschlicher Freiheit aus Della cosa ultima systematisch mit einbezogen werden. Daraus lassen sich im fünften Kapitel 26
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die neu verstandenen ontologischen Konsequenzen ziehen, die Cacciari in seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles im Buch Labirinto filosofico durchgeführt hat. Hier zeigt sich eine dem Seienden immanente Differenz, die für den Gesamtzusammenhang dieses differenztheoretischen Denkens von Bedeutung ist und damit zur Ausdifferenzierung auch noch der politischen Dimension führt. Die grundlegende Antinomie, die die Wahrheit des Seienden und seiner haecceitas ausmacht, wird für Cacciari zum Anlass, das politische Leben Europas als irreduzible Pluralität neu lesen zu können. Deshalb zeigt das sechste Kapitel den Übergang von dieser Reflexion zur politischen Idee von Europa. Die dem Sein innewohnende Differenz wird so zum Gesetz der politischen Interaktion. Es entsteht in all dem – hier expliziert in den ersten sechs Kapiteln – ein tiefenscharfer Einblick in das Wesen anfänglicher Freiheit, frei von aller klassisch ontologischen Nötigung, wie sie von Aristoteles bis Hegel und der von ihnen bestimmten Theologie unvermeidbar war. Der absolute Anfang, wie die menschliche Freiheit, erschöpft sich nie in einem Akt, ist in keinem Ursache-Wirkung-Verhältnis einzufangen. Deshalb werden hier klassische Denkmuster wie Erstursächlichkeit, naturnotwendige Bewegung, Sein als Bonum comunicativum sui gesprengt und somit neue Möglichkeiten eröffnet. Das wirkliche Drama der klassischen Metaphysik und somit der christlichen Theologie ist es, die Unterscheidung zwischen dem überwesentlichen Einen (hyperoùsion) und dem Einen-das-ist aus dem Parmenides des Platon unterdrückt zu haben. Damit wurde der Anfang stets unmittelbar mit dem Anfangenden, der Macht des Anfangen-müssens, gleichgesetzt. Das Faszinierende der anfänglichen Freiheit, die Cacciari aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, besteht dagegen in dem Unvordenklichen und Offenem seiner Voraussetzung und seines Ziels. Für Cacciari ist der Anfang also der Zustand der All-Möglichkeit vor Gott, einer reinen Indifferenz zu allem, was erstehen kann, ja selbst zum Nicht-Entstehen, ohne das die Freiheit Gottes bedingt und zur Selbstmitteilung gezwungen wäre. Unter Rückgriff auf die Theorien des Nihil bei Scotus Eriugena und die Potenzenlehre Schellings bestimmt Cacciari die Instanz des Nichts als eine solche »indifferente All-Mitmöglichkeit«, als Abgrund, aus dem Gott als Freiheit immer neu hervortritt, in welcher er sich zu sich selbst und der Welt ohne Zwang entscheiden kann. Am Höhepunkt dieses diaporetisch entfalteten Denkens werden jedoch neue problematische Züge sichtbar. Der Anfang als Freiheit
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Deshalb sind im zweiten Teil die kritischen Gesichtspunkte zu sammeln und zu sichten, die sich im Gang der Darlegungen aufgedrängt haben. Dort also werden die theoretischen und begrifflichen Spannungen der Diaporetik sozusagen geortet, und dies aus streng philosophischer wie theologischer Sicht. Es ist hier vor allem die Konsistenz der diaporetischen Methode anhand ihrer Grundbegriffe zu erörtern und zu fragen, ob es berechtigt ist, den Anfang als indifferente All-Mitmöglichkeit aufzufassen und auch so zu bezeichnen, insofern notwendig das Unmögliche einzuschließen ist. Damit ist auch die Bestimmung eines hinreichenden Grundes für die Existenz der Welt und des Menschen verunmöglicht. Hieraus ergeben sich weitere spekulative Fragen: Jene nach der – wenn auch analogen – Gleichstellung von Einem und Ἀγαθὸν (Agathòn) wie die andere nach Gott als Nicht-Anfang, welche vermutlich ebenso viele Probleme aufwirft wie sie zu lösen vorgibt. In der Auseinandersetzung mit diesen angedeuteten Fragen kann dann im dritten Teil der Versuch unternommen werden, eine alternative Lektüre zur Interpretation des Anfangsproblems zu profilieren, die über die Linie Kant-Schelling-Cacciari hinausweist. Meine These ist, dass das von Kant und Schelling gedachte Unbedingte einer Kausalität aus Freiheit als Abgrund menschlicher Vernunft weniger einen Bruch mit der intellektuellen Erfahrung denn eine Selbstaufklärung der Vernunft selbst bedeutet. Diese These wird dann in den abschließenden Überlegungen als zu prüfende Hypothese unterstellt. So wird im folgenden Kapitel die historisch-systematische Entwicklung der Schöpfungstheologie nachgezeichnet, die, ungeachtet der von Cacciari diagnostizierten Aporie, im Ausgang von Duns Scotus eine tragfähige Lösung anbietet. Bei allen epistemologischen Unterschieden haben Scotus wie auch Kant und Schelling sich mit dem Nezessitarismus bzw. mit dem Problem des Notwendigkeitsdenkens auseinandergesetzt und dem Abgründigen der Freiheit Gottes Raum gegeben: so sehr Gott wesentlich Liebe ist, ist er doch – und gerade deswegen – in seinem Schöpfungs- und Heilshandeln gänzlich frei. Von da aus erwachsen Fragen, die die theologische Hermeneutik angehen und stets neu anregen: Inwieweit ist es theologisch denkbar, Gott als absoluten, voraussetzungslosen und doch seinem Wesen entsprechenden, tief anzulegenden Anfang anzunehmen und damit gleichzeitig die Nichtableitbarkeit göttlicher und menschlicher Freiheit wie der geschichtlichen Ereignisse zu garantieren? Mit anderen 28
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Worten: wie sind Spontaneität und Verlässlichkeit in Gott und zwischen Gott und Mensch zusammen zu wahren? Um ihnen gerecht zu werden, orientiere ich mich an dem freiheitstheoretischen Offenbarungsmodell, um so die Diskrepanz, die Konkurrenz, zwischen Anfang und Freiheit überwinden zu können. Denn der Rückgriff auf dieses Paradigma erlaubt, einen theologisch gültigen Begriff von Freiheit zu entwickeln, der den dogmatischen Annahmen im Blick auf die Freiheit in der göttlichen Trinität und in Bezug auf die Schöpfung, die Erlösung und die eschatologische Vollendung wahrt, so dass damit der Gedanke Raum gewinnt, dass »die Geschichte Gottes mit den Menschen eine wirklich offene ist«. 9 So würden wir formal wie inhaltlich zu dem Anfangspunkt zurückkehren, an dem sich das Denken Cacciaris entzündet hat, um jene Wahrheit des Beginnens zu suchen, die immer aussteht und nach der die Vernunft stets von neuem unterwegs ist.
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Massimo Cacciari: Ein mitteleuropäischer Denker
Massimo Cacciari ist in Europa nicht nur wegen seiner philosophischen Schriften bekannt, sondern auch wegen seines jahrzehntelangen linkspolitischen Engagements in Italien. Sein intellektuelles Interesse ist breit gefächert und kam schon in jungen Jahren zum Ausdruck, wie einige seiner ersten Artikel zeigen, die in der Studentenzeitung »Il Volto« erschienen. Noch während des Philosophiestudiums und den ersten Lehraufträgen 10 beginnt er Ende der sechziger Jahre seine aktive politische Zeit bei der radikalen Linken. 11 Er Pröpper, Gott hat auf uns gehofft …, 315. Am 28. Juni 1967 schließt Cacciari sein Studium mit Auszeichnung an der Universität Padua ab. Diese Arbeit mit dem Titel »Systematische Funktion, Bedeutung und Probleme der Kritik Kants am ästhetischen Urteil« (718 Seiten) wurde nie veröffentlicht. Sein Betreuer, Prof. Sergio Bettini, Ordinarius für Kunstgeschichte des Mittelalters, hatte zu jener Zeit eine Vertretungsstelle für das Fach Ästhetik an der Philosophischen Fakultät inne. Zweitbetreuer war Prof. Dino Formaggio, Ordinarius für Ästhetik an der Pädagogischen Fakultät, dessen Assistent Cacciari wird. In einem Interview erklärt er 1981: »Ich habe Bettini sehr viel zu verdanken. Er gab mir Derrida, Foucault und Lacan in einer Zeit zu lesen, als sie in Italien fast unbeachtet waren, vor allem in den Kreisen des offiziellen Marxismus […] Bettini war ein wirklicher Lehrer.« Calimani, La polenta e la mercanzia, 69. 11 Ein interessantes Porträt des jungen Cacciari und der von ihm vertretenen Positionen in den politischen Diskussionen der venetischen Linken sowie in den zahlreichen 9
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arbeitet mit der Zeitschrift »Classe operaia« zusammen, die er aber in Folge einer ideologischen Auseinandersetzung unter den Herausgebern verlässt; er gründet mit Cesare De Michelis die Zeitschrift für Kultur und Ästhetik »Angelus Novus« (1964–1968) und mit Alberto Asor Rosa die marxistisch geprägte Zeitschrift für Politik und Kultur »Contropiano« (1968–1971). In den achtziger Jahren ist er Mitbegründer anderer wichtiger philosophisch-politischer Zeitschriften: »Il Centauro« (1981–1986), »Laboratorio politico« (1981– 1985), »Paradosso« (1990–2002). Nach zwanzig Jahren Lehrtätigkeit als Professor am Lehrstuhl für Ästhetik am Institut für Architektur in Venedig (ab 1980 als zugeordneter Professor und ab 1985 als Ordinarius) gründet er 2002 auf Ruf von Don Luigi Maria Verzé (1920–2011) die Philosophische Fakultät an der Universität Vita-Salute San Raffaele in Mailand, an der er erst Ordinarius für Ästhetik und dann bis 2005 Dekan ist. Neben einer Vielzahl von philosophischen Schriften hat er die italienische Übersetzung der Werke von Hartmann, Simmel, Lukács, Fink und Hofmannsthal herausgegeben. Obwohl Cacciari schon früher Abgeordneter der kommunistischen Fraktion im italienischen Parlament (1976–1983) war, ist er erst relativ spät wieder zurück auf der politischen Bühne. Zweimal wurde er von 1993–2000 und von 2005–2010 zum Bürgermeister von Venedig gewählt und von 1999– 2000 war er Abgeordneter des Europaparlaments des Partito Democratico. Wenngleich er sich als nichtgläubig, als ›karrierebewusster Ketzer‹ 12 erklärt, zeigt er seit langem ein pointiertes spekulatives Interesse an den großen Themen der Theologie. Er ist mehrmals bei der sogenannten Cattedra dei non credenti (Lehrstuhl für den Dialog mit den Nichtgläubigen) von Kardinal Carlo Maria Martini in Mailand eingeladen worden. In Italien hat er sich mit den unterschiedlichsten Theologen nachdrücklich auseinandergesetzt: Bruno Forte, Piero Coda, Elmar Salmann, mit den Kardinälen Gianfranco Ravasi und Walter Kasper. Die Vielseitigkeit seiner Interessen und die große Bandbreite seiner kulturellen Kompetenzen machen es schwer, Cacciari in eine bestimmte Ecke stellen zu wollen, was per definitionem einer unzuläs-
Redaktionssitzungen der unten genannten Zeitschriften findet sich in: Borso, Il giovane Cacciari, 1994. 12 Schümer, Ein Philosoph an der Macht, in: FAZ (2. 6. 2014).
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Massimo Cacciari: Ein mitteleuropäischer Denker
sigen Vereinfachung gleichkäme. Er ist weder ein reiner Politiker, 13 noch Philosoph oder Gelehrter der Klassischen Antike, 14 weder ausschließlich Theologe, noch Ästhetiker oder nur Architekturexperte. 15 Er ist ein Denker Mitteleuropas, der von vielen Fragestellungen angezogen wird, mit denen sich deutschsprachige Autoren am Ende des 19. Jahrhunderts auseinandersetzten, vor allem aber jene, die mit der Stadt Wien in Verbindung zu bringen sind. 16 Dort ist sein philosophisches Denken verwurzelt.
Im Jahr 1999, während seines Mandats als Bürgermeister von Venedig, erhält Cacciari den Hannah-Arendt-Preis für seine politische Philosophie. 14 Am 24. Mai 2014 erhält Cacciari die Ehrendoktorwürde in Literatur und Klassischer Philologie der Universität Alma Mater Studiorum in Bologna. Schon 2003 erhielt er die Ehrendoktorwürde für Architektur an der Universität Genua und 2007 für Politik an der Universität Bukarest. 15 Vgl. Cacciari, Großstadt. Baukunst. Nihilismus, 1995; Wohnen, Denken, die Frage nach dem Ort, 2002. 16 Im Jahr 2002 wurde Cacciari der Preis der Akademie Darmstadt für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland verliehen. Dazu vgl. Flasch, Vom Marx zum Engel. Laudatio auf Massimo Cacciari, 2002, 93–98; Cacciari, Gefährliche Wahlverwandtschaften. Dankrede, 2002, 99–104. 13
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Erster Teil Die metaphysische In-Differenz des Anfangs
Kapitel I Der Gedanke der schöpferischen Brechung
1.1 Ausgangspunkt: Kritik und Krise der Grundlagen Cacciaris Denken entwickelt sich hauptsächlich als »kritisches« Denken unter dem Einfluss der Krise, in die die Dialektik von Hegel wie auch von Marx in der mitteleuropäischen Kultur zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert geriet. Angesichts dessen, was der Philosoph selbst in einem Interview preisgibt, 17 müssen mindestens zwei Phasen in seinem Denken unterschieden werden: Eine erste in der Zeit vor 1968, in denen er eine Kritik im Modus des Genitivs vollzieht, d. h. eine direkt auf wirtschaftlich-politische Themen bezogene Kritik, die einer weitläufigen ökonomischen, idealistischen und soziologischen Interpretation von Karl Marx, wie sie zu jener Zeit in Italien üblich war, entgegentreten sollte. 18 Die zweite Entwicklungsphase seines kritischen Denkens setzt mit einem Kulminationspunkt ein, dem Aufsatz: Krisis. Saggio sulla crisi del pensiero negativo da Nietzsche a Wittgenstein (Krisis. Aufsatz über die Krise des negativen Denkens von Nietzsche bis Wittgenstein) 1976. Von da ab versteht er sich in der Tradition eines radikalen Skeptizismus. »Kritik« bedeutet ihm nun, jeden Grundlagendiskurs, jede ontologisch vorgefasste Bedeutungsordnung gänzCacciari, Pensare il tragico, 1985, 97–106. Vertreter dieses idealistischen Marxismus in Italien waren Nicola Badaloni (1924– 2005) und Galvano della Volpe (1895–1968). Cacciari indes vertritt in jenen Jahren den »dialektischen Philosophen Marx« in Anlehnung an die Schriften von Georg Lukács (Geschichte und Klassenbewußtsein und Die Seele und die Formen) und die antihistoristischen Thesen der Geschichtsphilosophie Benjamins. Diese Schriften haben seine Entwicklung geprägt. Das lässt sich anhand der Zeitschrift »Classe operaia« belegen. Es sollen dezidiert die Probleme der »Arbeiterklasse« diskutiert werden, ohne dass dabei jedoch in die Form einer historischen Ideologie, einer revolutionären, »erlöserischen« oder »paternalistischen« Auslegung des Marxismus zu verfallen wäre. 17 18
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I · Der Gedanke der schöpferischen Brechung
lich anzweifeln zu müssen; als eine solche stimmt sie mit den Ausdrucksformen des »negativen Denkens« 19 überein. Die Krisisschrift nimmt eine entscheidende Rolle in der philosophischen Entwicklung Cacciaris ein: Auf der einen Seite ist sie das Ergebnis seiner vorangegangenen Überlegungen, 20 auf der anderen der Ausgangspunkt für seine sich nun entwickelnde Philosophie. Diese Schrift muss zunächst im kulturellen Kontext des italienischen Marxismus in Italien Ende der sechziger Jahre gesehen werden. 21 In jenen Jahren brachen die Ideologien zusammen, auch die marxistische. Überall verbreitete sich das Bedürfnis nach einer Neuorientierung. Nicht zuletzt hatte die im Verlag Adelphi erschienene und von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (ab 1964) herausgegebene kommentierte Ausgabe der Schriften Nietzsches das Interesse der italienischen Linken am Nihilismus, an einer wissenschaftlichen und fachlichen Kritik am Vernunfbegriff, an den Schriften Heideggers nach Sein und Zeit 22 wieder geweckt mit der Folge, einen beträchtlichen Teil der marxistischen Thematiken nunmehr im Sinne eines abgewandelten negativen Denkens zu verstehen. Die marxistisch geprägten Intellektuellen ließen also Autoren wie Gramsci, Lukács, Sartre hinter sich, um nach neuen Inspirationsquellen zu suchen. 23 Dieser Wendung des Forschens fügt sich das Werk Krisis ein, indem der Vollzug des Umbruchs und dessen Unabwendbarkeit zum ersten Mal dezidiert vor dem Hintergund der Mit dem Terminus »negatives Denken« meint Cacciari die Krise und Überwindung der idealistischen Vernunft-Vorstellung ausgeführt von Seiten Schopenhauers, Nietzsches und Wittgensteins. In gewisser Hinsicht betrachtet er das Denken dieser drei Autoren in Anlehnung an Ricoeur als »Schule des Zweifels« (Marx, Nietzsche, Freud). »Doch diese drei Meister des Zweifels sind keine Meister des Skeptizismus […] Alle drei aber legen den Horizont frei für eine authentischere Sprache, für ein neues Reich der Wahrheit, das nicht allein mittels einer ›dekonstruktiven‹ Kritik ins Licht zu rücken ist, sondern vielmehr durch die Freilegung, die Entdeckung, die Erfindung einer Kunst des Interpretierens.« Ricoeur, Die Interpretation, 1969, 47. Vgl. dazu Erster Teil, Kap. I 1.2. 20 Cacciari selbst präsentiert die Schrift in der Vorbemerkung als Vollendung seiner marxistischen Kritik an der bürgerlichen Ideologie, mit der er 1969 in der Zeitschrift »Contropiano« begonnen hatte. Sulla genesi del pensiero negativo. In: Contropiano 1 (1969), 131–200; Dialettica e tradizione. In: Contropiano, 1 (1969), 125–152; Entsagung. In: Contropiano, 2 (1971), 411–440. 21 Vgl. Badeschi, La parabola del marxismo in Italia. 1945–1983. 22 Einer der Ersten war 1963 Gianni Vattimo: Essere, Storia e Linguaggio in Heidegger, 1963. 23 Für ein Panorama der italienischen Philosophie in jenen Jahren vgl. Rossi, Avventure e disavventure della filosofia, 315 ff. 19
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Ausgangspunkt: Kritik und Krise der Grundlagen
mitteleuropäischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, die in Nietzsche und dem späten Wittgenstein seine bedeutendsten Vertreter hatte, 24 gedeutet wird. Die These dieser ersten bedeutenden Schrift von Cacciari ist, dass sich die Vorstellung der Vernunft als einer natürlichen, festen und unveränderbaren Ordnung sowie auch das dialektische Denken Hegels schon seit Schopenhauer – ein Repräsentant des negativen Denkens – in einer Krise befinden. Entgegen der weit verbreiteten Tendenz, das Negative Denken nur als dekonstruktiv zu fassende »Unvernunft« zu verstehen, 25 bedeutet es für Cacciari, »der zentrale produktive Faktor der zeitgenössischen Ideologie« 26 zu sein. Sicherlich ist dieses Denken entstanden als eine kategorische Ablehnung des Allgemeingültigkeitanspruchs des klassischen Vernunftbegriffs, mit dem offensichtlich nur vorgegeben wurde, das Irrationale der Welt und ihre Widersprüche in optimistischen Vernunftsynthesen auflösen zu dürfen, ja zu müssen. Dennoch soll das Ergebnis des negativen Denkens nicht einfach nur destruktiv oder nihilistisch begriffen werden. Merkmal dieser neu gewendeten philosophischen Haltung ist – so betont nun Cacciari – ein bewusstes Experimentieren mit neuen Ausdrucksformen von Vernunft und Wissensordnungen, die die Widersprüche des Menschen und der Welt auf konstruktive Art jenseits der bis dato geltenden Denkschemata neu interpretieren können. In diesem Sinne bietet die Untersuchung in der Krisisschrift 24 Ein Jahr vor der Publikation der Krisisschrift bringt Aldo Gargani das Buch Il sapere senza fondamenti heraus, in dem er auf Wittgensteins Sprachspiel aufmerksam macht. Cacciari erwähnt diese Schrift in seinem Aufsatz nicht, aber er wird sie später in seinem Buch Dallo Steinhof anerkennen (vgl. bes. Anm. 7, 26). Das parallele Schaffen von Cacciari und Gargani, wie Restaino feststellt (Dal pensiero negativo al pensiero debole, 738–745), findet auch in dem gemeinsamen Werk Crisi della ragione (1979) eine Bestätigung. Der Einführungstext von Aldo Gargani steht im Einklang mit der in dem Buch Krisis vorgeschlagenen Diagnose: Gargani konstatiert das Ende des Anspruchs der »klassischen« Vernunft, bei der sich jede kleinere Ordnung auf eine unveränderbare »Überordnung« beziehen muss. Er impliziert damit das Ende der Vernunft als »Natur«, bzw. »auf der einen Seite der Natur des Denkens oder besser der Naturgesetze des Denkens und auf der anderen Seite der objektiven Struktur der Welt« (Gargani, Introduzione. In: Crisi della ragione, 9). Gargani selbst sowie auch Cacciari sehen den klarsten Ausdruck der klassischen Vernunft in den absoluten Konzepten von »Raum« und »Zeit« der Newtonschen Physik, deren Gültigkeit von der Relativitätstheorie endgültig in Frage gestellt wurde. 25 Vgl. Vattimo, Introduzione. In: Estetica moderna, 31. 26 Vgl. Cacciari, Krisis. 8. Zu diesem Thema: Rella, Krisis e Critica. In: Aut Aut, 159/ 160 (1977), 127–142.
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I · Der Gedanke der schöpferischen Brechung
eine neu aufscheinende Perspektivität, die es erlaubt, die Kultur des 19. Jahrhunderts neu verstehen zu lernen. Damit aber enthält sie – wie hier zu rekonstruieren ist – diejenigen Voraussetzungen, anhand derer die innere Logik der Philosophie Cacciaris sichtbar gemacht werden kann.
1.2 Mitteleuropäische Krise und negatives Denken Mit der Veröffentlichung der Krisisschrift bietet Cacciari eine historisch-philosophische Rekonstruktion vom Scheitern des idealistischen Entwurfs und dessen Anspruch, eine allgemeine Theorie der Vernunft aufgestellt zu haben, die kraft dialektischer Synthesen für universell erklärt werden kann. Zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert löst sich Cacciari zufolge während der Krise der klassischen Physik auch das klassische Paradigma des idealistischen Vernunftbegriffs auf, mit dem man sich auf objektive Kategorien wie »Subjekt« oder »Objekt« und im weiteren Sinne auf allgemein gültige Wissens- und Ordnungsschemata beruft. Die Autoren, die er als Vertreter des negativen Denkens ansieht, sind Schopenhauer, Nietzsche und Wittgenstein; vor allem den beiden Letzteren schreibt er das Verdienst zu, die grundlegende Antinomie des Realen erkannt und diese auch im positiven Sinne als »Neuorientierung« für nunmehr anders zu begreifende Denkformen genutzt zu haben. Nietzsche und Wittgenstein haben weder versucht, das »Negative« zu beseitigen, noch wollten sie es in einem synthetisch-dialektischen Sinne (also doch noch idealistisch) auflösen. Vielmehr sahen sie darin ein entscheidendes Element für die Bildung eines neuen kreativen Willens, der nicht von sich aus vorgibt, den permanenten Widerspruch zwischen ihrem »Sagen« und der »Begrenztheit« der Existenz zu beseitigen. Aus diesem Grund kommen sie nicht – anders als Schopenhauer – zu einem pessimistischen Ergebnis, sondern zu einem solchen, das in der Lage ist, »neue Ordnungen« zu produzieren. 27 Die Wiener Fin-de-siècle Kultur ist für Cacciari ein Labor, in dem diese neue Denkweise im Bereich der Kunst, der Psychoanalyse, der Philosophie, der Wissenschaft und der Ökonomie erprobt wird; so
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Cacciari, Krisis, 8.
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Mitteleuropäische Krise und negatives Denken
spricht er von einer »ernste[n] Wiener Apokalypse«. 28 Die erste Etappe dieses vernunftkritisch angelegten Rekonstruktionsprozesses wird gebildet durch die Gedanken Arthur Schopenhauers (1788–1860) in seiner Kritik des dialektischen Systems und der daraus folgenden Hinterfragung des wissenschaftlichen Grundlagenwissens eo ipso. Schopenhauer hat festgestellt, wie beschränkt die Newtonsche Interpretation der Kategorien »Raum« und »Zeit« als »ontologischen« Modellen für wissenschaftliche Vernunft sind; er hat den Kantschen Versuch, dieses Kategorienpaar als Formen eines transzendentalen Schematismus anzunehmen, für gescheitert erklärt. Denn für Schopenhauer gibt es keine transzendentale Korrespondenzstruktur zwischen Erkenntnis- und Phänomenebene, noch die Möglichkeit, a priori eine Kongruenz zwischen der logischen, realen und repräsentierenden Ebene herzustellen. Die Schlüsse von Schopenhauers Überlegungen sind wohl bekannt: Verneinung eines Sinnprinzips, Verneinung der empirischen Realität und der Primats des Nichts. Cacciari ist nicht an diesen pessimistischen Ergebnissen von Schopenhauer interessiert; er lehnt sie ab. Ihn interessiert vielmehr die Entstehung einer Epistemologie, die die Erkenntnis- und Repräsentationsebene von der realen Ebene abtrennt. In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es in Österreich eine parallele Entwicklung in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften, und zwar die Phänomenologie Ernst Machs (1838–1916) sowie die ökonomischen Theorien von Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914). In der Naturwissenschaft entwickelt Mach – ausgehend von einer Ablehnung der ontologischen Allgemeingültigkeit der Newtonschen Mechanik – die Theorie, dass sich die Naturwissenschaft nicht für die »Gründe« (eine Kategorie, die er durch »Funktion« ersetzt) interessiert, sondern dafür, ob Phänomene, die mathematischen Bezügen folgen, regelmäßig auftreten oder nicht. Die Übereinstimmung, die es in der Naturwissenschaft zwischen Wort und Phänomen geben kann, ist also rein funktioneller Natur und nicht a priori festgelegt. In diesem Sinne basieren sowohl die wissenschaftlichen Theorien wie auch die Naturgesetze auf reinen Fakten und wandeln sich deswegen bei Änderungen des empirischen Experiments. Sie stellen theoretische Schemata dar, die letztendlich gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen, d. h. sie dienen dazu, Sinneswahrnehmungen zu strukturieren, um Naturphänomene in gewisser Weise vorhersehen zu können. 28
Ebd.
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Cacciari beweist den für ihn als spekulativen Virtuosen typischen interdisziplinären Blick, indem er den gleichen Paradigmenbruch zwischen Repräsentations- und Phänomenebene in den Theorien des österreichischen Ökonomen und Zeitgenossen Machs, nämlich bei Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914) feststellt. Ausgehend von einer Kritik der Werttheorie, wie sie in Marx’ Kapital dargestellt wird, behauptet Böhm-Bawerk indes, dass ein neues Wertund Preisprinzip eingeführt werden müsse, das auf einem subjektiven Nutzen basiere. Entscheidend ist hier, dass der österreichische Ökonom beim Definieren des Wertes eines Guts nicht auf ein äußeres Gesetz zurückgreift, auf keine »a priori« existierende Regel, wie es im weitesten Sinne in der Marxschen Theorie der Fall war, in der der Wert entweder wie im 1. Bd. des Kapitals von der Arbeitsmenge oder wie im 3. Bd. von den Produktionskosten abhing. Böhm-Bawerk reduziert die Werttheorie also auf ein Rechenproblem. Diese hänge mit der Frage des subjektiven Geschmacks zusammen, welcher den Markt bestimme und von der Wirtschaft beobachtet und erklärt werden müsse. »Wissenschaftlich« sei in diesem Sinne nur jene Erklärung, die, wie bei Mach, von einer Verhaltensanalyse der einzelnen Individuen oder Phänomene ausgehe. Was nach Cacciaris Meinung das Problem darstellt, welches im Folgenden sowohl die epistemologische Theorie Machs wie auch die öknomische Böhm-Bawerks scheitern lässt, ist, dass keiner von beiden »eine Theorie der Erneuerung und eine Verbindung zwischen Entwicklung und Krise« 29 auf- bzw. herzustellen vermochte. Mit dieser Beobachtung endet die erste Etappe von Cacciaris Analyse, die in diesem Sinne eine konstruktive Umdeutung der Krise vorlegt – was seiner Meinung nach auch Nietzsche und Wittgenstein taten. Anders als Schopenhauer, Mach und Böhm-Bawerk haben sie sich aber nicht gescheut, die Krise als Chance zu betrachten und neu zu interpretieren. Obwohl Nietzsche im Prinzip bei der Kritik der Newtonschen Mechanik und des Kantschen Apriorismus mit Schopenhauer und Mach übereinstimmt, erkannte er doch den antinomischen Charakter der natürlichen Realität und lehnte jede mathematische Lösung, jede Grundannahme, jede stabile Übereinstimmung zwischen Subjekt und Objekt ab. Gleichzeitig hat er jene Brüche als Entstehungsort eines perfekteren, rein immanent agierenden Willens verstanden, der keine Rechtfertigung im Universellen 29
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Ebd., 37.
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Mitteleuropäische Krise und negatives Denken
sucht. Es ist offensichtlich, dass diese Vorstellung von »Willen« der Auffasung Schopenhauers völlig fremd ist; denn für Schopenhauer stellt der Wille einen Verzicht auf die Welt dar. Die von Nietzsche in den Nachgelassenen Fragmenten (1885–1889) 30 beschriebene Vorstellung von Realität ist flexibel, vielseitig und beinhaltet Widersprüche; sie kann daher nicht auf eine klare Bedeutung festgelegt werden. Trotzdem entfaltet sich gleichzeitig die kreative Deutungskraft des Menschen mit ihrem ganzen Potenzial, ihrem Willen zur Macht, der auf die Realität einwirkt, sie verändert und dem Mensch eine gewisse Herrschaft garantiert. In diesem Sinne hat Nietzsches Wille zur Macht, der eine Bestätigung durch die Naturwissenschaft erfährt, für Cacciari »nichts von einem ›vitalistischen Irrationalismus‹, noch will er die Krise der naturwissenschaftlichen Grundlagen einfach nur auf eine subjektive Ebene bringen, sondern jener Wille tritt als Interpretation und Lösung dieser Krise auf«. 31 Für Cacciari ähnelt die Interpretation des Willens zur Macht als organisierender und formgebender Kraft des Negativen im Prozess einer neuen Rationalisierung den Thesen des späten Wittgenstein in den Grundlagen der Mathematik 32. Nachdem er sich von seinen früheren Positionen im Tractatus logico-philosophicus, 33 in dem eine Übereinstimmung von Sprache und Realität noch besteht, entfernt hatte, behauptet Wittgenstein nun, dass die logische Mathematik davon lebe, die abstrakte Prüfung der Bedingungsmöglichkeiten ihrer Wahrheit abzulehnen. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie die von Mach und Böhm-Bawerk erkannte Problematik im Laufe der Überlegungen von Wittgenstein zur Mathematik und zur Sprache in ganz eigenen Tönen wiederkehrt. Für den späteren Wittgenstein braucht die Mathematik keine äußeren »Regeln«, auf die sie sich gründet. Das, was die mathematischen Zeichen kohärent und benutzbar macht, ist einfach deren Eigenschaft, zu »guten Ergebnissen« 34 zu führen. Die Mathematik gibt da30 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente: KSA 7,3 (Herbst 1884 – Herbst 1885), 1974; KSA 7,4,1 (Juli 1882 – Winter 1883, 84), 1984; KSA 7,4,2 (Frühjahr 1884 – Herbst 1885), 1986; KSA 8,1 (Herbst 1885 – Herbst 1887), 1974; KSA 8,2 (Herbst 1887 – März 1888), 1970; KSA 8,3 (Anfang 1888 – Anfang Januar 1889), 1972. 31 Cacciari, Krisis, 64. Für einen Überblick der Deutung Nietzsches in Italien, in der auch die Originaldeutung Cacciaris des Willens zur Macht zu finden ist, wird verwiesen auf: Masini, Nietzsche in italienischer Perspektive, 99–103. 32 Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe 4, 199–491. 33 Ders., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe 1, 9–83. 34 Vgl. Cacciari, Krisis, 78.
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her nicht vor, die Realität, wie sie ist, »auszudrücken« oder eine spekulative Beziehung zwischen Begriff und Sache anzunehmen, sondern beschränkt sich gewöhnlich darauf, sich selbst in »Formen« und »Formeln« zu zeigen. Mit einer ähnlichen Logik lehnt Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen 35 ab, Wörtern eine Bedeutung zuzuweisen, die sich von einem ihnen innewohnenden Grund oder einem elementaren Abbild der Realität ableiten lassen könnten; somit kommt es zur Idee des ›Sprachspiels‹. Jeder Versuch einer Aufstellung oder logischen Begründung wissenschaftlicher Grundregeln – wie das noch im Tractatus der Fall war – ist nun verschwunden und es wächst das Bewusstsein, sich notwendigerweise auf das Sagbare zu beschränken. Diese epistemologische Haltung und ihr Überhang finden in dem Begriff der »Mystik« ihren Ausdruck, einer Kategorie, die auch für die Überlegungen Cacciaris zentral sein wird. Das »Mystische« ist bei Wittgenstein »keine transzendente Erfahrung, sondern das Gegenteil […] Das ›Mystische‹ ist eine sehr begrenzte Erfahrung […]. Die Menge sinnvoller Aussagen ist deswegen nichts anderes als die Menge der naturwissenschaftlichen Äußerungen. Das Mystische zeigt, dass dies nichts mehr mit Philosophie zu tun hat. Das Mystische heißt, sinnvolle Aussagen auf jene der Naturwissenschaft zu beschränken. Und genau darin besteht die Grenze des Wissens.« 36 Die Bejahung dieser Grenze könnte auf den ersten Blick als eine Art Defätismus der Vernunft erscheinen, obwohl sie ganz im Gegenteil eine Gelegenheit zu neuen Denkübungen darstellt. Der wissenschaftliche Diskurs hat für Wittgenstein nicht den Zweck, eine Theorie aufzustellen, sondern ein Bild der Realität zu erzeugen, das trotz seiner unvermeidbaren Oberflächlichkeit die Welt nutzbar macht. Es gibt also keine vorbestimmte Bedeutung von oben mehr, keine vorgeformte Übereinstimmung zwischen Ausdrucksund Realitätsebene. Was bleibt, ist eine kreative Bedeutungsinstanz, die so vorher undenkbar war. Diese hängt mit dem Sprachgebrauch einer Lebensgemeinschaft zusammen und folgt – wie jedes Spiel (Sprachspiel) – bestimmten Regeln. 37 Und weil diese Regeln sich nur auf das in der Welt Bestehende beziehen können, beanspruchen sie auch nicht, allgemein gültig zu sein und sind veränderbar. 35 36 37
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Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 285–544. Cacciari, Krisis, 94 f. Ebd., 85 ff.
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Schwelle: Das Ende der Philosophie
Im Zuge der Beiträge von Nietzsche und Wittgenstein weist Cacciari auf die Entstehung eines neuen Bildes vom Menschen, von Vernunft und Philosophie zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert hin: Letztlich geht es nicht mehr darum, die Krise zu lösen, sondern sie zu orten und als grundlegende Perspektive des Menschen, als Experimentierfeld neuer Denkordnungen und als Prämisse einer neuen Vorstellung von Philosophie anzuerkennen. Die mitteleuropäischen Denker des 21. Jahrhunderts lehnen es ab, die Welt an sich zu beschreiben, wie es in der klassischen Philosophie der Fall ist, sondern nur so, wie sie sich zeigt. Das Bewusstsein dieser unüberwindbaren Grenze, dieser radikalen Endlichkeit, »führt nicht zu einer naturalistischen Verzweiflung, sondern zu neuen Vernunftordnungen, einer Vernunft ohne Grundlagen. Die Krisisschrift beginnt mit einer Beschreibung der verschiedenen Ausdrucksformen dieser Vernunft der Gegenwart«. 38 Die letzten zwei Kapitel dort sind der Wiener und der deutschen Kultur der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet und zeigen eine große Bandbreite von Ausprägungen »negativen Denkens«: Die Musik von Mahler, Weber, Schönberg, die Literatur von Musil, Rilke, George, Hofmannsthal, Altenberg und Kraus, die Kunst von Kandinsky und Klimt sowie die Psychoanalyse von Freud. 39
1.3 Schwelle: Das Ende der Philosophie Ein Problem, das Cacciari in den Überlegungen zum negativen Denken als Ergebnis der westlichen Dominanz einer Konzeption universeller Vernunft aufwirft, betrifft die Frage, welchen Sinn man der Philosophie nach der Kritik von Nietzsche und Wittgenstein noch geben kann. Wenn das Sagbare nur innerhalb der engen Grenzen der Natur liegt, dann scheint folglich die Aufgabe der Philosophie kleiner geworden zu sein. In diesem Sinne hieße Philosophieren, sich mit der Beschreibung der Beziehung zwischen »Zeichen« und »Bedeutung« auf eine rein funktionale (pragmatische) Ebene zu beschränken und Cacciari, Pensare il tragico, 97–106. In diesselbe Richtung weist der folgende Essay Dello Steinhof (1980) belegt. Cacciari zeigt dort ebenfalls, wie produktiv das negative Denken gewirkt hat. Er stellt eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten vor, die trotz ihrer unterschiedlichen Ausdrucksformen in Musik, Malerei, Philosophie, Literatur das gleiche Problem bearbeiten, und zwar geht es immerfort um das, was in einer »Realität ohne Grundlagen« mithilfe verschiedener Sprachformen gesagt werden kann. 38 39
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dieser eine praktische Ordnung zuzuerkennen. Hier befinden wir uns in der Nähe von Heideggers Feststellung zur Technik, 40 die weit von einer Entartung des naturwissenschaftlichen Wissens entfernt ist, sondern im Gegenteil die letzte Synthese der westlichen Metaphysik darstellt. In dem Buch Krisis 41 und in dem im folgenden Jahr erschienenen Pensiero negativo e razionalizzazione 42 finden sich Elemente, die auf ein »Ende der Philosophie«, oder besser auf eine Auflösung der Philosophie in die Praxis hindeuten, der allein es zukäme, die Ordnungen des zivilen Lebens zu verändern. 43 Den Philosophiebegriff, den Cacciari kritisiert und dessen Ende er postuliert, ist nicht jener, der üblicherweise mit der Tätigkeit des Philosophierens gleichgesetzt wird. »Ende der Philosophie« bedeutet hier Ende des dialektischen Idealismus, Ende des Anspruchs, die Antinomien des Realen in einer höheren Synthese versöhnen zu können. Rationalisierung bleibt für Cacciari trotzdem ein positiver Ausdruck des Denkens, eine »Verkörperung der Ratio, Notwendigkeit des Werdens als Konflikt und Machtbejahung«. 44 Im Laufe seiner Arbeit wird er zeigen, dass es nicht nur erlaubt ist, neue Ausdrucksmittel der Vernunft zu erproben, sondern auch notwendig, dies zu tun auch ungeachtet des Bewusstseins, sich nicht mehr auf eine sichere Grundlage beziehen zu können. Wie kann also diese Vorstellung der Philosophie von Cacciari bezeichnet werden – einfach als »postmodern«? In der Storia della filosofia contemporanea (von Nicola Abbagnano und von Giovanni Fornero), ordnet Franco Restaino Cacciari den italienischen Theoretikern der Postmoderne 45 zu. Das Ziel RestaiHeidegger, Die Frage nach der Technik (1953), Gesamtausgabe, I, Bd. 7, 5–36. »Hinter uns liegt die Entwicklung, die wir verfolgt haben. Vor uns liegen die Thesen von Marx, die wir durch Wittgenstein in ihrer ganzen Negativität erfassen können: Die Philosophen deuten die Welt auf andere Art (Sie können sie und ihre verschiedenen »Spiele« genau beschreiben, das Ergebnis ist gleich), es geht aber darum, sie zu ändern.« Cacciari, Krisis, 92 f. 42 An einigen Stellen scheint Cacciari, das Ende der Philosophie zu erklären. Zum Beispiel schreibt er in Pensiero negativo e razionalizzazione: »Die Philosophie ist weder verraten noch mystifiziert, sie ist abgenutzt, das ist alles. Ihre Nutzung war Element, Materie für die Erschaffung dieses Systems.« 68 f. 43 Die auf logisch-epistemologischer Ebene von Cacciari in der Krisisschrift dargelegten Überlegungen erfahren eine weitere, politisch-marxistische Entwicklung in den zwei anschließend erschienenen Aufsätzen Pensiero negativo e razionalizzazione (1977) und Dialettica e critica del politico. Saggio su Hegel (1978). 44 Cacciari, Pensiero negativo e razionalizzazione, 50. 45 Restaino, Dal pensiero negativo al pensiero debole, 738–745. 40 41
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Schwelle: Das Ende der Philosophie
nos ist nicht, wie er 1994 schreibt, Cacciaris gesamtes philosophisches Schaffen bis 1994 erfassen zu wollen, sondern nur der Diskussion in Italien zwischen den 60er und 70er Jahren Rechnung zu tragen. Restaino erwähnt ausschließlich Cacciaris Krisisschrift, die er in eine Reihe stellt mit Il sapere senza fondamenti (1975) von Aldo Giorgio Gargani und dem Buchmanifest Il pensiero debole (1985), herausgegeben von Gianni Vattimo und Pier Aldo Rovatti. 46 Aus heutiger Perspektive erfordert Cacciaris »Postmodernität« wegen seiner Originalität – allgemein sowie hinsichtlich seiner systematischen Weiterentwicklung im Verlaufe seines weiteren Schaffens – allerdings eine eingehendere Erläuterung. Der »Cacciari der Krisisschrift« ist in dem Sinne postmodern, insofern er die von Nietzsche und Wittgenstein eröffnete Perspektive aufnimmt. Dennoch sind negatives Denken und linguistische Pluralität als Dauerbedingung des Denkens keine »postmodernen« Merkmale, wenn damit nur eine »schwache« Vorstellung des Denkens gemeint ist, wie zum Beispiel bei Richard Rorty, der sogar den späten Wittgenstein als Rechtfertigung für eine generelle Wende von der Theorie zur Erzählung 47 nimmt. Der »postmoderne Standpunkt« hingegen, für den Cacciari eine Auflösung der Grundlagen diagnostiziert sowie eine Entstehung »neuer Ordnungen« zuschreibt, bleibt der einer Rationalisierung – ein Standpunkt, der es erlaubt, das Reale als Antinomie zu sehen, weiterhin philosophisch über den Verlust der Grundlagen nachzudenken, die Aporie selbst zu analysieren und dies alles zu einer logischen und strengen Methode zu entwickeln, die »diaporetisch« genannt wird. Aus der Sichtweise Cacciaris muss die »Krise« im Mittelpunkt bleiben, fast wie etwas Transzendentales, wie eine tragische unausweichliche Dimension des Denkens, die zudem das Denken ständig in Bewegung hält. 48 Dieser absolut »tragische« Aspekt im Zentrum seiner Philosophie nähert ihn eher an eine Form der neuexistenzialistischen Metaphysik, wie die von Luigi Pareyson (1918– 1991), an, als an eine Philosophie verstanden als »literarisches Genre«, wie dies bei Rorty der Fall ist. Durch alle Werke hindurch entwickelt sich neben einer feinsinnigen Analyse der Ausdrucksweisen Zum Thema der ›Postmodernität‹ Cacciaris siehe: Catapano, Coincidentia oppositorum, 475–495. 47 Rorty, Contingency, irony and solidarity, 1989. 48 In der Krisisschrift heißt es: »Das wirklich Entscheidende sind nicht die vielen neuen Ordnungen an sich, sondern der unlösbare elementare Widerspruch zwischen diesen und der andauernden Krise.« Cacciari, Krisis, 8. 46
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der Krise ein eigenständiger Denkprozess, der – ausgehend von einer unausweichlichen Feststellung des negativen Denkens – eine eigene theoretische Linie entwickelt. Er bleibt also der These eines »Ende der Philosophie« im Sinne einer idealistischen Versöhnung von Widersprüchen verpflichtet. Denn er ist sich sehr wohl bewusst, dass die große Tradition des Idealismus angesichts dieser strukturellen, von den Denkern der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmten Antinomie der Realität machtlos ist. Gerade aber in der Verneinung einer wie auch immer gearteten synthetisch-versöhnenden Vernunft besteht für Cacciari eine Herausforderung – also in dem Versuch, eine philosophische Antwort auf die gleichen Fragen des Idealismus geben zu müssen, dies aber in einer Form, die dezidiert den antinomischen, grundlagenlosen Charakter der Gegenwart miteinbezieht.
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Kapitel II Die Differenz über das Sagbare hinaus
2.1 Die Antinomie und das Sich-Zeigen des Vorausgesetzten: Wittgenstein Cacciari führt seine Forschung zu den Fragestellungen des mitteleuropäischen Denkens in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts mit zwei weiteren interdisziplinär angelegten Schriften fort: Dallo Steinhof (1980) und Icone della Legge (1985). Das Gebäude Steinhof ist eine von Otto Wagner zwischen 1904– 1907 erbaute Kapelle im Wiener Jugendstil auf dem Grundstück einer ehemaligen psychiatrischen Anstalt in Niederösterreich. Auf einem der höchsten Punkte der Umgebung Wiens gelegen, bietet die Kirche am Steinhof eine uneingeschränkte Sicht auf Wien. Der Autor wählt diesen symbolischen Ort aus, um im tragischen Licht der Krise die unterschiedlichen, im Zuge des negativen Denkens entstandenen »Dialekte« der Wiener Forschung in den ersten fünf Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zu beobachten. In den Vorbemerkungen zu seinem Buch 49 weist Cacciari darauf hin, dass es sich hier nicht nur um eine thematische Erweiterung seiner vorangegangenen Schriften handelt. 50 Es geht ihm um eine neue Richtung für die Forschung, die er allerdings nicht dezidiert offenlegt, sondern es dem Leser selbst überlässt, diese zur Entdeckung zu bringen. Neu an den Überlegungen in Dallo Steinhof sind zweifelsohne eine weitere Vertiefung des Begriffs des »Mystischen« bei Wittgenstein, auf den er schon in der Krisisschrift eingegangen war, wie auch
Cacciari, Dallo Steinhof, 11. Hier sind die Aufsätze in den Zeitschriften »Laboratorio Musica« (Luigi Nono, Hg.) und »Nuova Corrente« (Giovanni Sechi, Hg.) gemeint: Cacciari, Oikos (1975), Krisis (1976), Instancabili utopie (1978). Zur Person Luigi Nonos (1924–1990) wird auf eine kleine Denkschrift unter Mitwirkung Cacciaris verwiesen: Migranten, 1995.
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ein stärkeres Interesse für das jüdische Denken in dieser Zeit, dem er sich ausführlich in seiner folgenden Arbeit Icone della Legge von 1985 widmet. Bevor auf den Begriff des »Mystischen« eingegangen wird, soll die zweite Neuerung näher betrachtet werden. Die Bevorzugung von Autoren jüdischer Abstammung wird im ersten Teil von Icone della Legge deutlich, in dem vor allem der Terminus »Gesetz« hinsichtlich seines breiten Problemgehalts thematisiert wird. Die Protagonisten dieses ersten Teils, der sich in drei Kapitel unterteilt, sind vier Juden: Rosenzweig (Der Stern der Erlösung), Kafka (Der Prozess; Vor dem Gesetz), Freud (Der Mann Moses und die monotheistische Religion) und Schönberg (Moses und Aron). Den Ausgangspunkt für diese Schrift bildet die als Paradox aufgefasste Situation der Forschung zu dieser Zeit. Das Interesse für die grundlegenden Voraussetzungen eines jeden Gesetzes nimmt ab, zugleich aber wird seltsamerweise auf dem Gesetz als solchem beharrt. Der antinomische Charakter dieser Überlegungen zum Gesetz betrifft überraschenderweise verschiedenste Bereiche: Mathematik (Brouwers Intuitionismus), Jura (Der Nomos der Erde von Schmidt), Literatur (Kafka), Malerei (Malevič, Mondrian, Klee), Religionsphilosophie (Rosenzweig). Ebendiese Problematik wird im zweiten Teil mit dem Thema der Ikone verbunden. Das Interesse konzentriert sich also auf die orthodoxe Ikonentheologie (Florenskij) und die abstrakte Kunst von Malevič, Mondrian, Klee. Die unlösbare Antinomie, die den Verlust eines gemeinsamen Nomos kennzeichnet, spiegelt sich auch im Bereich der Darstellung wider, in der Dialektik zwischen den Regeln des Sichtbaren und dem Sichgeben des Unaussprechlichen dort, wo es sich entzieht. 51 Abgesehen von der eindringlichen Analyse Cacciaris in den einzelnen Kapiteln, die hier nicht erläutert werden können, bleibt die Frage nach den Gründen dafür, warum er bei seinen Überlegungen zum antinomischen und grundlagenlosen Charakter des Denkens der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf nicht gerade wenige Denker jüdischen Ursprungs trifft. Es ist bekannt, dass Cacciari schon in jungen Jahren sich von Karl Marx und Walter Benjamin angezogen sah. Beide stehen für einen Zu erwähnen ist, dass Cacciari das Problem der »ikonographischen Darstellung« im logischen Zusammenhang mit der Krise des Idealismus und der damit verbundenen Notwendigkeit, in Symbolen zu denken, sieht. Aus Gründen der Logik wird die Diskussion zum Problem der über den Horizont des Sagbaren hinaus bestehenden Differenz im Kap. II 2.3 geführt, im engen Zusammenhang mit dem 1986 erschienenen L’Angelo necessario.
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Die Antinomie und das Sich-Zeigen des Vorausgesetzten: Wittgenstein
Judaismus, der sich von seiner eigenen religiösen Tradition emanzipiert hat. Vor dem Hintergrund der vorherigen Überlegungen zum negativen Denken kann diese Vorliebe für den Judaismus als integraler Bestandteil bei der Betrachtung zum Auseinanderbrechen des klassischen Vernunftparadigmas gedeutet werden. In der Tat besteht hier eine große Ähnlichkeit zwischen dem jüdischen Dasein und dem Versuch, Krise generell zu verstehen. Unter diesem Aspekt könnte man sagen, dass der Judaismus, vor allem dort, wo er nicht direkt mit einer religiösen Ausrichtung verbunden ist, die Form par excellence darstellt, um die Krise auszudrücken. In ihm steckt das starke Bewusstsein, dass die Bedeutung eines Textes nicht eindeutig ist, sondern sich in verschiedene, unendliche Interpretationsstränge auffächert (wie im Talmud). 52 Es besteht also das Bewusstsein vom Fehlen des höchsten Namens (Ihwh) für den, von dem man sich kein Bild machen kann, auch von der Notwendigkeit, in einer permanenten Verschiebung (Exil) zu leben, weil ein eigenes Land fehlt; daher ergibt sich das radikale Fehlen einer festen Grundlage. Der Judaismus im 20. Jahrhundert ist ein Denken im Zeichen des bestehenden Bruchs zwischen Heimat und Exil, Versprechen und Erfüllung, Zeit und Ewigkeit. 53 Es ist daher gut nachzuvollziehen, wie dieser Einfluss des jüdischen Geistes die Untersuchung Cacciaris noch einmal weiterbringt in Bezug auf seine Überlegungen in der Krisisschrift: Es findet also ein Übergang von einer Untersuchung der unlösbaren Antinomie der Vernunft statt – in die sie bei ihrem Versuch, die Wirklichkeit zu erkennen, gerät – zu einem Denken des Vorausgesetzten als reflektierendem Hintergrund jeder Antinomität (sowohl des Nomos als auch der ikonographischen Darstellung). 54 Wittgenstein und RoDieser höchst mehrdeutige Charakter der jüdischen Exegese ist Cacciaris Meinung nach auch ein Merkmal der Schriften von Franz Kafka. Ganz neu ist, dass Cacciari die Erzählungen Kafkas als »Parabeln« (also weder als »Allegorie« noch als »Metapher«) behandelt und einen Vergleich mit den Parabeln der Evangelien anstellt: La parabola spezzata. In: Hamletica, 109–117. 53 »Das heutige Judentum lebt vor allem von der Wiederentdeckung des antinomischen und paradoxen Charakters der eigenen Tradition. Keine traditionelle ›Kette‹, keine Religion (religio), die die Folge der Interpretationen an eine ›ruhige‹ Grundlage bindet: Keine Interpretation, die als Ergebnis eine erschöpfende Erklärung der archè – des Anfangs bietet« Cacciari, Edmond Jabès im heutigen Judentum – Eine Spur. In: Migranten, 59, 59–88. »In De Migratione Abrahami erklärt Philon, in welchem Sinne Jude Wanderer bedeutet …« ebd. 54 An dieser Stelle ist wichtig, was Cacciari selbst in einem Interview sagt: »Ich habe festgestellt, dass das Sagen der Krise, aber letztendlich alles Sagen etwas Unergründ52
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II · Die Differenz über das Sagbare hinaus
senzweig sind dabei die Leitfiguren in diesem Gedankengang; zudem bleiben sie von großer Bedeutung für die gesamte Entwicklung der Philosophie Cacciaris. Denn in seiner Schrift Dallo Steinhof widmet er sich der Vertiefung des Wittgensteinschen Begriffs des über das Sagbare hinausgehenden »Mystischen« 55 und ein wichtiger Teil in Icone della Legge greift die Schrift Der Stern der Erlösung von Rosenzweig auf. Das, was letztlich die Überlegungen dieser beiden doch sehr verschiedenen Denker verbindet, ist auf der einen Seite die Kritik am Allgemeingültigkeitsanspruch des Vernunfbegriffs; das meint die Vorstellung, dass alles sagbar, produzierbar und lösbar sei, und auf der anderen Seite, dass das Sich-geben eines essentiellen und für den Geist letztlich unbegreifbaren Vorausgesetzten zu unterstreichen ist. Was Wittgenstein direkt betrifft, so verweist Cacciari auf das Vorwort der Philosophischen Bemerkungen vom November 1930, in dem die Ablehnung des vorherrschenden Geistes der europäischen und amerikanischen »Zivilisation« zum Ausdruck gebracht wird. 56 Denn diese bares und Unsagbares verrät […] die Erfahrung des Sagens wird zu einem permanenten Wagnis, manifestiert eine Struktur des Aufschiebens, in der das Andere sich niemals als klares Bedeutung-Bedeutendes gibt. Das alles zeigt, dass sich das Sagen auf einen unsagbaren Grund projiziert, dass jedes Sagen mit dem Unaussprechlichem verbunden ist und es niemals als ein vollständiges Verstehen definiert werden kann. Das Unaussprechliche ist struktureller Teil des Sagens. Das bedeutet im Alltag, dass mein Anderes nie auf eine meiner Bedeutungen reduziert werden kann, dass alles mich Betreffende niemals mir gehört, dass, was ich liebe, mir immer fehlen wird. Dieses Thema ist bei vielen Zeitgenossen zu beobachten: Die mystische Dimension Wittgensteins, die Stille als ein die Form konstituierendes Moment bei Musikern wie Anton Webern …« Cacciari, Pensare il tragico, 101 f. 55 In einer Anmerkung von 1931 heißt es: »Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt« Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe 8, 38; zit. in: Dallo Steinhof, 29. 56 »Dieses Buch ist für solche geschrieben, die seinem Geist freundlich gegenüberstehen. Dieser Geist ist ein anderer als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation, in dem wir alle stehen. Dieser äußert sich in einem Fortschritt, in einem Bauen immer größerer und komplizierterer Strukturen, jener andere in einem Streben nach Klarheit und Durchsichtigkeit welcher Strukturen [auch] immer. Dieser will die Welt durch ihre Peripherie – in ihrer Mannigfaltigkeit – erfassen, jener in ihrem Zentrum – in ihrem Wesen. Daher reiht dieser ein Gebilde an das andere, steigt quasi von Stufe zu Stufe immer weiter, während jener dort bleibt, wo er ist, und immer dasselbe erfassen will. Ich möchte sagen, dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben, aber das wäre heute eine Schurkerei, d. h. es würde nicht richtig verstanden werden. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben und soweit es nicht
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Die Antinomie und das Sich-Zeigen des Vorausgesetzten: Wittgenstein
ist von einem klaren »Fortschritts«-Willen gekennzeichnet und ihre Form ist typisch aufbauend: »Für sie ist alles produzierbar, sagbar, manifestierbar, alles kann (durch)sichtig gemacht werden«. 57 Da die Zivilisation vorgibt, die Welt-wie-sie-ist auszudrücken, muss sie jede metaphysische Differenz zwischen dem Sagen und den »Dingen«, zwischen dem Denken und der Wirklichkeit abschaffen. Sie hat es sich also auf die Fahnen geschrieben, die ursprüngliche metaphysische Differenz des Vorausgesetzten abzuschaffen. Wittgenstein will nicht die Differenz zwischen Ausdrucksform und Wirklichkeit abschaffen, sondern beschränkt sich darauf, die Welt, wie sie sich zeigt, auszudrücken. Sollte also im Verlauf der Zivilisation Schritt für Schritt das Unsagbare abgeschafft werden, 58 so möchte Wittgenstein hingegen das Rätselhafte, das über jeder Gedankenwelt schwebt, erhalten. Für ihn bleibt das Unsagbare bestehen; es zeigt sich sogar. Für Cacciari ist genau dies der wirkliche Sinn von »Klarheit«, so wie Wittgenstein dies meint. Auf die Vorstellung von Fortschritt bezogen, bestimmt sich Klarheit geradezu als »das Gegenteil, indem sie behauptet, dass der Hintergrund der Bedeutung das Un-aussprechbare sei, da es immer auf die Differenz zwischen Ding und Wort zurückverweist.« 59 Während sich Cacciari in der Krisisschrift mehr auf den beschränkend-negativen Aspekt des »Mystischen« konzentriert, geht es nun um dessen beschränkend-positive Seite. 60 Wie Ilario Bertoletti 61 richtigerweise beobachtet hat, wird das »Mystische« bei Wittgenstein von Cacciari im Sinne der Schranke aufgefasst, und zwar, wie Kant diesen Terminus gebraucht, um einen mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzen reinigen, als er selbst davon rein ist.« Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen (Vorwort), Werkausgabe 1, 7. 57 Cacciari, Critica del Moderno, 56. 58 Vgl. Ders., Ancora sul Mistico, 136. 59 Der Autor zieht eine interessante Parallele zwischen der Klarheit im Sinne von Wittgenstein und dem Aufklären im Sinne von Sigmund Freud. Währen für den ersten das Ergebnis der Analyse die einfache Entdeckung eines ersten, verborgenen Denkens ist, führt die Analyse des anderen zu etwas Anderem als es erscheint. Vgl. Critica del Moderno, 57. 60 »Wittgenstein kennzeichnet das Unsagbare nicht als negativ, sondern er sagt, dass sich das Unsagbare zeigt, dass sein Raum das Sich-zeigen ist, was das Mystische ist«. Ancora sul Mistico, 137. 61 Vgl. Bertoletti, Sul pensiero di Massimo Cacciari. In: Humanitas 54 (1/1999), 89– 106; 92 f. Der Anfang als Freiheit
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in erster Linie negativen und beschränkenden Grenzbegriff auszudrücken, der Wittgenstein und Cacciari dann dazu dienen kann, das »Sprachspiel« nicht absolut machen zu müssen. In Dallo Steinhof wird das »Mystische« noch als etwas der Kantischen Grenze nur Ähnliches gedeutet: Als positive Grenze drückt es die Differenz und das Hinausgehende eines im Hintergund jeder Sprache existierenden unaussprechlichen Vorausgesetzten aus. So erscheint das »Mystische« jetzt schließlich als eine »vorausgesetzte Präsenz« 62 hinter jedem Sagen; aber deswegen wird es nicht im Sinne von »Erhaben«, einer Überschreitung der Erfahrung angenommen. Das »Mystische« Wittgensteins in nicht-statischer oder esoterischer Perspektive zu sehen, wäre ein Verrat an dessen eigener Bedeutung. Die Dimension des Mystischen ist vielmehr sehr nah an dem philosophischen Problem par excellence, dem Sich-zeigen des Vorausgesetzten. Die gleiche Problematik steht Cacciaris Meinung nach auch im Zentrum der Untersuchung eines anderen Denkers jüdischen Ursprungs, nämlich bei Franz Rosenzweig. Mit den Überlegungen zur Offenbarung kritisiert auch er offensichtlich den Idealismus und dessen dialektischen Anspruch, vollständig den Hintergrund des Daseins aufdecken zu wollen. 63 Aus diesem Grund kann Der Stern der Erlösung als nächste Etappe des »jüdischen Weges«, auf dem sich Cacciari bewegt, gesehen werden. Diesen zu verlassen, wird er sich aber bald gezwungen sehen – und zwar in Richtung auf eine kritische Vertiefung der anti-hegelschen Deutung von Schelling. Es ist bekannt, dass die philosophische Perspektive Rosenzweigs ihren Ausgangspunkt hat in einer Kritik des Idealismus und einer Wiederaufnahme anti-hegelscher Kritikgründe, die in der »positiven Philosophie« Schellings sozusagen enthalten sind. 64 Der Einfluss eines gewissen Cacciari, Ancora sul Mistico, 138. Cacciari zufolge ist die letzte Phase von Heideggers Denken, in der er über die Dialektik der Aletheia nachdenkt, nicht weit von Wittgensteins und Rosenzweigs Denken der Differenz entfernt. Vgl. ebd. 139 f. Der Diskurs Heideggers wird von Cacciari aufgenommen im Aufsatz: Filosofia e teologia, 1995, 365–421. 64 Rosenzweig erklärt, gegen Hegel und für Schelling zu sein: Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. I: Briefe und Tagebücher, 538. Bemerkenswert ist die Wiederaufnahme und Neudeutung einiger Begriffe von Schelling, wie etwa: erfahrende Philosophie, absoluter Empirismus (Darstellung des philosophischen Empirismus, 1836), erzählende Philosophie (Die Weltalter. Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813), die Vorstellung des Zeit-Wortes. Er besteht auf dem Wort »denken« im Gegensatz zu »verstehen« und »begreifen« (Erlanger Vorträge, 1821). 62 63
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Die Antinomie und das Sich-Zeigen des Vorausgesetzten: Wittgenstein
Idealismus auf Rosenzweigs Philosophie ist daher nicht zu leugnen. Was sich verändert, das ist die Art, in der er auf die für den Idealismus typischen Fragen antwortet. So schreibt Cacciari knapp: »Im Stern geht es um das finis philosophiae, nicht um dessen Bestätigung.« 65 In der Gesamtstruktur des Werkes Der Stern der Erlösung ist der für den Idealismus typische Versuch erkennbar, der Abschaffung des Todes etwas entgegenzusetzen, da Rosenzweig das Buch mit dem Gedanken des Todes (mit dem Haupttitel »vom Tode«) anhebt und es mit einer Öffnung zum Leben schließt (»ins Leben«). Im Gegensatz zum dialektischen Idealismus, der sich für die Abschaffung der unauflösbaren Voraussetzung des Todes und der diesbezüglichen Angst des Einzelnen einsetzt, beginnt Rosenzweig sein »neues Denken« gerade bei dem Für-den-Tod-sein als Erfahrung eines harten Rufs, der den anmaßenden Ton der Philosophie unterbricht, um den Menschen an der »dunklen Voraussetzung alles Lebens« zu orientieren. 66 Zweitens ist der Schluss des Buches mit dem offenen Tor zum Leben eine weitere paradoxe Umkehrung der philosophischen Methode, bei der normalerweise am Anfang sozusagen eine Türschwelle überschritten wird. Die gesamte Philosophie Rosenzweigs kann dagegen als Weg zu jenem Tor hin gedeutet werden, als »rechte Vorarbeit«, 67 um zu jener letzten Schwelle zu gelangen, wo geschrieben steht: »Einfältig wandeln mit deinem Gott.« 68 Das Tor stellt also am Ende des Buches nicht einen Schluss, sondern einen neuen Anfang dar, ein Wandeln, das sich ein-fältig ankündigt; entscheidend ist die Präposition »mit«, die als Beleg für das Leitmotiv des Buches zu nehmen ist. In der Tat stellt dieses »mit« die Chiffre für Rosenzweigs Vorstellung von dem Vorausgesetzten als eines Beziehungszusammenhangs dar (»mit deinem Gott«). Bei der Vertiefung dieser Einsicht trifft das neue Denken auf die Überlegungen des späten Wittgenstein, d. h., auch für Rosenzweig ist das Vorausgesetzte nicht, sondern es gibt sich. Es ist die irreduzible und nicht weiter entwickelbare Beziehung zwischen Gott und Mensch und Welt: Gott-MenschWelt-Zusammenhang. Diese Beziehung ist kein Objekt, sie entzieht sich also jeder Ist-Frage. Sie wird als Horizont gedeutet, in dem sich die Erfahrung des Dabeiseins (mit) und der Zu-ordnung zu und der 65 66 67 68
Cacciari, L’errante radice, 19. Rosenzweig, Einleitung. In: Der Stern der Erlösung, 9. Ders., Briefe und Tagebücher, Bd. II., 763 f. Ders., Tor. In: Der Stern der Erlösung, 203 ff.
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Unterscheidung (und) zwischen den drei Trägern des »Wesens« 69 gibt. Über Gott, den Menschen, die Welt kann nichts a priori gesagt werden, nichts Bestimmtes: Alles, was man über die Drei denken und erzählen kann, gehört in den Bereich ihrer historischen Manifestation. In diesem Sinne ist das Vorausgesetzte als Beziehungszusammenhang zwischen den Dreien kein bestimmtes »das«. Vielmehr ist es die Tatsache, »dass« 70 etwas ist. Die drei Teile, aus denen sich die Struktur des Sterns zusammensetzt, erzählen von den vorweltlichen Bedingungen des Vorausgesetzten (erster Teil), dem phänomenologischen Geschehen (antihegelisch) des Vorausgesetzten bzw. Eingehen, Transzendieren und Interagieren der Drei, dem Drama ihrer ›Bewahrheitung‹ (zweiter Teil) und schließlich von der eschatologischen Realisierung der Beziehung zwischen Gott und dem jüdischen Volk (dritter Teil). Solch eine Definition des Vorausgesetzten wirft viele Fragen auf. Entscheidend ist hier, ob dessen theoretische Fassung vor dem Hintergrund der gleichen anti-hegelschen Gründe haltbar ist, die auch schon in der positiven Philosophie Schellings angeführt wurden, so dass Rosenzweig sie wiederaufnehmen kann. Hier wird dieser Fragestellung nachgegangen, um genauer sehen zu können, wie Cacciari innerhalb dieser Debatte Position bezieht und inwiefern sich daraus ein wichtiger systematischer Fortschritt für seinen eigenen Denkweg ergibt.
Für Rosenzweig ist es nicht möglich zu begreifen, was die drei »Wesenheiten« (Gott – Mensch – Welt) in sich sind. Man kann nur deren Werden, deren Manifestieren erzählen. Der Begriff der »Essenz« widerspricht also der Form der Beziehung, dem Vorausgesetzten, aus Rosenzweigs Perspektive gesehen nicht. Die Beziehung, die nicht weiter zu entwickeln ist, wird daher als Kriterium und Substanz (das Subject des Systems bei Schelling) gedacht. Folglich ist Gott selbst »Substanz«, aber in einem neuen Sinne: Als Freiheit, sich für die Erschaffung zu entscheiden, gefolgt von der freien Entscheidung der Kreatur, den Schöpfer anzuerkennen. In diesem Sinne schreibt Cacciari: »Das Jenseits der Essenz ist der Kern des neuen Denkens. Die Frage nach der Essenz führt jedes Mal etwas auf etwas anderes zurück, hebt die Entität auf, beziehungsweise stellt sie »in die Wahrheit« nur, wenn sie in etwas vollständig Anderes überstellt wird. Die Aufhebung des Vorausgesetzten findet vor allem durch diese systematische Beschäftigung mit der Essenz statt. Die Ist-Frage entfremdet das, was ist, das, wovon sie ›eigentlich‹ behauptet zu handeln und macht es zu ›etwas Neuem, das es vorher nicht gab‹, dessen Existenz das ›Profane‹ nie vermutet hätte. Das, was das Eigentliche einer Sache ausmachen sollte, erscheint als etwas völlig Anderes als die Sache in ihrer tatsächlichen Präsenz.« Cacciari, Errante radice, 19. 70 Vgl. Ders., Franz Rosenzweig, 192. 69
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Die Aufdeckung des Vorausgesetzten und des Möglichen
2.2 Die Aufdeckung des Vorausgesetzten und des Möglichen: Rosenzweig und Schelling Mit der Krise des mitteleuropäischen Denkens wurde das Ende eines Überlegenheits- und Selbstgenügsamkeitsanspruchs der idealistischen Vernunft erklärt. Darauf reagiert Cacciari. In Anlehnung an den späten Wittgenstein zeigt er, wie ein neues Bewusstsein der Antinomität der Wirklichkeit als Bedingung ihrer Denkbarkeit eine Präsenz voraussetzt, die über den linguistischen Horizont der ratio hinausgeht. Bei der eingehenderen Beschäftigung mit diesem Begriff greift er, wie bereits gezeigt, den Beitrag Rosenzweigs zu diesem Thema auf und macht dabei einen interessanten Vergleich mit Schelling, auf den sich auch Rosenzweig schon bezogen hatte. 71 Der Vergleich dieser beiden Denker wird, so soll hier nun gezeigt werden, die Entwicklung der Überlegungen Cacciaris entscheidend beeinflussen bezüglich des Sich-zeigens des Vorausgesetzten und seiner genaueren Beschreibung der Kategorie des »Möglichen«, die systematisch von zentraler Bedeutung ist – und dafür bildet das Werk Dell’Inizio hier den Beleg. In seiner kritischen Untersuchung werden vor allem drei deutliche Berührungspunkte zwischen den genannten Autoren entdeckt: Die Idealismus-Kritik anhand eines bestimmten »philosophischen Empirismus«, die Feststellung einer unverrückbaren Antinomie zwischen Objekt und Subjekt, und die Weise, Offenbarung als nicht-autonome Wirklichkeit zu deuten. In erster Linie wird der Idealismus von beiden durch ein Denken des Vorausgesetzten kritisiert: »[…] das auf einen dem ›Willen zur Macht‹ der unbedingten Subjektivität inhärenten Nihilismus reagiert«. 72 Zweitens nimmt Schelling wie auch Rosenzweig als Voraussetzung jeder metaphysischen Untersuchung eine strukturelle Antinomie an zwischen Subjekt und Objekt. Man muss »auch dem nicht erkennenden Teil der Welt ein Sein zusprechen« 73 – schreibt er in der Darstellung des philosophischen Empirismus, dessen Grundproblem die Form des Wissens ungeachtet der Antinomie ist. 74 Drittens liegt Sowohl in dem Rosenzweig gewidmeten Aufsatz in Icone della Legge als auch in zwei anderen Schriften von 1986 (Cacciari, Sul presupposto. Schelling e Rosenzweig) und von 1991 (Franz Rosenzweig) setzt sich Cacciari kritisch mit der Rezeption der Philosophie Schellings durch Rosenzweig auseinander. 72 Ders., Icone della Legge, 22. 73 Schelling, Darstellung des philosophischen Empirismus, SW, 1/10, 235. 74 Die Lösung Schellings wird sein, die »transzendenten Bedingungen des möglichen 71
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der entscheidende Punkt sowohl für Schelling als auch für Rosenzweig in »dem allgemeinen Ausdruck der Offenbarung, die nicht in dem Maße eines absoluten und unbedingten Anfangs zu verstehen ist […]. Schon die Vorstellung von Offenbarung impliziert einen Akt, ›in dem ein Übergang stattfindet und daher eine vorangegangene Situation voraussetzt‹. Eine Vorstellung von Offenbarung impliziert eine des Vorausgesetzten.« 75 So offensichtlich es ist, dass die Art, in der Schelling die alttestamentarische Offenbarung interpretiert, eine gänzlich andere als die von Rosenzweig ist, so offensichtlich ist auch, dass Rosenzweig einige Motive Schellings geradezu forciert und sie in Richtung auf seine spezifisch jüdisch inspirierte Perspektive aufgreift und ummünzt. Gleichwohl gibt es ein verbindendes Element zwischen beiden. Dieses ergibt sich aus dem Verständnis von Offenbarung als einer nicht autonomen Wirklichkeit, da sie doch wesentlich von anderem abhängt – von einem Vorausgesetzten, dessen historische Manifestation sie ist. 76 Damit wird deutlich, inwiefern dieses Bild der Offenbarung in klarem Gegensatz zu jeder Form eines positiven Diskurses steht, der vorgibt, a priori die eigenen Vorgaben zu erheben, sei er religiöser, moralischer, rechtlicher (als Unterordnung unter das Gesetz 77), theologischer oder philosophischer Natur. 78
Zusammenbringens seiner Dimensionen [zu beschreiben] ohne alles in reine Subjektivität oder andersherum in reinen Empirismus oder bloße Kenntnis zu verwandeln.« Cacciari, Icone della Legge, 22 f. 75 Ebd., 23. 76 Für Schelling muss jede Offenbarung schon einen ursprünglichen, grundlegenden Inhalt des Bewusstseins besitzen, den dieses nicht überwinden kann, da es nur bei diesem und in diesem das Bewusstsein der Wahrheit produzieren kann. Auch der Gottesbegriff existiert für Schelling nur, wenn dieser »als Beziehung und lauter Beziehung« gedacht wird. Schelling, Darstellung des philosophischen Empirismus, SW, 1/10, 260. 77 Das Thema des Gesetzes trait d’union zwischen den ersten drei Teilen von Icone della Legge (Errante radice ist Rosenzweig gewidmet, La porta aperta Kafka; La bocca di Mosè, Freud, Schönberg) in dem Kapitel, das hier interessiert, wird in einem interessanten Vergleich von Der Stern der Erlösung und Der Nomos der Erde von Carl Schmitt behandelt. Wenn laut der Vermutung Schmitts der Nomos von einer Urpossessio der Erde stammt (Landnahme), dann kann es kein Gesetz für das jüdische Dasein geben, des immer im Exil lebenden Volkes. Icone della Legge, 47–55. 78 »So wie die idealistische Gnoseologie die Autonomie des erkennenden Subjekts setzt, indem sie das antinomische Spiel mit der nicht-erkennenden Entität unterdrückt, so setzt eine dogmatische Theologie, die in dem gleichen Kontext wie der Idealismus entsteht, eine abstrakte Autonomie der Offenbarung des wahren Gottes.« ebd., 23.
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Neben diesen drei Berührungspunkten zwischen Rosenzweig und Schelling muss doch noch auf die klaren Unterschiede beider Standpunkte verwiesen werden. Wie schon gesagt, die Konzeptualisierung des Vorausgesetzten ist bei Rosenzweig eine Beziehung von GottMensch-Welt und die Offenbarung ist die Manifestation dieser Beziehung. Dennoch bleibt das Vorausgesetzte auch in seiner geschichtlichen Offenbarung ein nicht thematisierbarer Hintergrund. 79 Es ist, als ob Rosenzweig versuchte, die gegenseitige Transzendenz zwischen den drei »Wesenheiten« und der unverrückbaren Spannung zwischen diesen und dem Vorausgesetzten festhalten zu wollen, er es sich also zur Aufgabe machte, das »Mysterium« der Offenbarung zu bewahren. Diese dem ersten Anschein nach theoretisch fortschrittliche Wahl bei den Überlegungen zum Vorausgesetzten ist Cacciari zufolge um den Preis zahlreicher Aporien erkauft. Anders als Schelling, der versucht, das Vorausgesetzte nicht als etwas Gegebenes, sondern als reines Können, als nicht-differenziertes Mögliches im Sinne der höchsten neuplatonisch-abendländischen Spekulation zu sehen, identifiziert Rosenzweig das Vorausgesetzte sofort mit der Beziehung und setzt diese mit ihrer Erscheinung gleich. Für ihn scheint es die Beziehung zwischen Gott und Mensch und Welt nur auf phänomenologischer Ebene zu geben. Er geht weder genauer auf die Formen der gegenseitigen Verwicklung der drei Instanzen noch auf deren Art der Beziehung untereinander oder der entsprechenden reziproken Transzendenz ein. In diesem Sinne ist der Anfang für Rosenzweig – so schreibt Cacciari – »nichts anderes als die Schöpfung. Seine Position bekommt also einen echten dialektisch-hegelianischen Charakter und auf theoretischer Ebene verliert er auch jenen Einfluss der mystischen jüdischen Tradition, die trotzdem vielleicht das ›Salz‹ des Werkes ausmachen«. 80 Cacciari kommt nicht umhin zu zeigen, dass Rosenzweigs Überlegungen in Bezug auf Schellings theoretisches Bewusstsein sehr unscharf Lücken aufweisen. Das eigentliche Problem bleibt am Ende das Wie des Vorausgesetzten zu denken, also die Art der Beziehung zwischen den Dreien: »Entweder kann diese ›a priori‹ verstanden werden oder sie ist Zufall unter den Zufällen der Welt, also die Gesamtheit der Zufälle. Wenn ich also deren Verhältnis als Beziehung verstehe (sagen wir als Dreifachheit), dann können die Drei nicht nur eine Erzählung, sondern müssen auch einen Begriff 79 80
Siehe Anm. 63. Cacciari, Franz Rosenzweig, 192.
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beinhalten.« 81 Bei dieser Kritik an Rosenzweig stellt Cacciari selbst eine Frage, auf die er später genauer in Dell’inizio eingehen wird: Auf welche Art und Weise soll ein Vorausgesetztes gedacht werden, das sich aus den notwendigen und gesetzhaften Zusammenhängen gelöst hat, das sich der Notwendigkeit der Existenzbestimmung entzieht, die also über eine dialektische Verkettung des hegelschen Werdens hinausgeht und sich dem Machtwillen der idealistischen Subjektivität entgegenstellt? Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, findet ein Übergang zu einer radikalen Problematisierung der Kategorie des »Möglichen« im Sinne einer eingehenden systematischen Überlegung zum Vorausgesetzten und weiteren Annäherung an die Frage nach dem Anfang statt. Das reine Mögliche, auf das Cacciari abzielt, muss also unabhängig von jeder Bestimmung des Seins, jeder vorgegebenen Absicht, jeder notwendigen Offenbarung verstanden werden. Es geht also darum, die Entsprechung zwischen dem Möglichen (δυνατόν / dynatòn) und der wirklichen Macht (δύναμις / dýnamis) aufzuheben und damit den als unbedingt angenommenen Zusammenhang zwischen Potenz und Akt, in dem sich die gesamte westliche Philosophie von Aristoteles bis Hegel bewegt hatte. 82 Dies zu sehen und zu unterlaufen ist für Cacciari die dringende Aufgabe heute. Rosenzweig und Schelling hatten zwar die Intention, ein Mögliches zu denken, das kein Sein braucht, bleiben aber am Ende in dem selben dialektischen Netz gefangen, in dem nur das Wirkliche möglich ist. Indem Schelling das Mögliche als Synonym für Potenz (möglich-Wirkliches) annimmt, versteht er die Geschichte als kontinuierliche Erschöpfung der Möglichkeiten. Rosenzweig hingegen versteht die Schöpfung als kontinuierliches Reich-werden der Welt, als eschatologischen Übergang von der Potenz zum Akt, wobei das Mögliche in der Wirklichkeit des Reiches vorbegriffen wird. 83 Die theoretische Herausforderung besteht für Cacciari nun darin, die Lücken, die Rosenzweig und Schelling offen gelassen haben, zu füllen und zu versuchen, ein Bild des reinen Möglichen als modale Kategorie zu gewinnen. Es wird also hier darum gehen, die grundlegenden Schritte nachzuvollziehen, mit denen diese Frage in der Geschichte des Denkens angegangen wurde und bis zu jenem Punkt der höchsten Denkbarkeit im Mittelpunkt der westlichen Philosophie, 81 82 83
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Ebd., 193. Vgl. Bertoletti, Sul pensiero di Massimo Cacciari, 96 f. Cacciari, Sul presupposto. Schelling e Rosenzweig, 60–63.
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dem Anfang, vorzustoßen, wobei das rein Mögliche nicht nur vor seinem Übergang zum Aktus beobachtet werden kann, sondern nur bis dahin, wo dieses als das Andere des Ursprungs (origo) gedacht wird, frei von jedem notwendigen Zwang in der Weise der Offenbarung oder Intention. Das Unbedingte des Anfangs oder den Anfang als Unbedingtes des Denkens zu konzipieren, ist die Grundfrage seiner Untersuchung von 1990, Dell’Inizio.
2.3 Schwelle: Die Differenz jenseits des Sichtbaren Bevor wir uns dem systematischen Diskurs in Dell’Inizio zuwenden, empfiehlt es sich, auf die Überlegungen Cacciaris zur Ästhetik einzugehen. Ein »Engel« hütet die Schwelle zwischen den Dimensionen der gleichen Urfrage, nämlich des Sich-gebens eines Vorausgesetzten, das sich dem logischen Diskurs entzieht. Es ist auf die Schrift L’angelo necessario von 1986 zurückzugreifen. 84 Diese enthält ähnliche Überlegungen wie der zweite Teil von Icone della Legge, 85 in dem Cacciari auf das theologisch-philosophische Problem der Ikone als dem Ort eingeht, an dem sich das Undarstellbare unabhängig von jeder IstFrage, jeder Wesensbestimmung zu denken gibt. 86 Die ikonographische Darstellung offenbart nämlich eine dementsprechende antinomische Struktur: Die Ikone ist ein Mittelbegriff – eine Vermittlung – zwischen zwei, auch im Moment ihrer ästhetischen Berührung äußerst weit voneinander Entfernten: für das Undarstellbare und das Bild. Cacciari erkennt in Übereinstimmung mit den Überlegungen von Pavel Florenskij in der Tradition der byzantinischen Ikonologie von Gregorio Palmas und Nicolas Cabasilas 87 den christlichen Ursprung des wahrheitlichen Anspruchs der Ikone an. Die letzte Maßgabe jeder Ikonentheologie kann nur in dem Geheimnis des Sohnes als einzigartiger vom Vater geschaffener Ikone bestehen. In demselben Erscheinungsjahr dieser Schrift in italienischer Ausgabe erschien im Ritter-Verlag eine Übersetzung einiger Beiträge des italienischen Philosophen: Cacciari, Zeit ohne Kronos, Klagenfurt 1986. Hier wird vor allem auf die Seiten 109–140 verwiesen, in denen Cacciari das Thema des Engels mit besonderem Bezug auf Musil und Benjamin behandelt. Im darauf folgenden Jahr erscheint die deutsche Übersetzung von L’angelo necessario: Der notwendige Engel, Ritter Verlag, Klagenfurt 1987. 85 Ders., Icone della Legge, 173–298. 86 Vgl. ebd., 173. 87 Florenskij, Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit, 1930. 84
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Im Gegensatz zum alttestamentarischen Bilderverbot rechtfertigt die Inkarnation die Möglichkeit, Gott darzustellen, auch wenn der je größere Unterschied zwischen den verschiedenen figürlichen Kommentaren und der reinen göttlichen Wirklichkeit zu wahren ist. So wie der Sohn vollkommenes εἰκὼν (eikòn) des unsichtbaren Gottes ist (Kol 1,15), ohne einfach als dessen direktes Abbild bestimmt 88 worden zu sein, zeigt die Ikone das Unsichtbare, ohne es in die Form einer solchen Zeichnung einfangen zu können. In diesem Sinne ist das Unsichtbare wie das Licht, in dem sich die Sichtbarkeit der Ikone zu zeigen anschickt. Der Vater zeigt sich selbst im Sohn, das Unaussprechbare zeigt sich im Raum der Ikone. Die bleibende Differenz zwischen Vater und Sohn und die unverrückbare Spannung zwischen Unaussprechbarem und Aussprechbarem erscheinen als ›Königstor‹, durch das sich der Übergang zur Wahrheit vollzieht. »Sie ist die Wahrheit, weil sie auch die eigene Verneinung beinhaltet […], ihren Fall, ihre Inkarnation, ihr Kreuz […]. Es gibt keine absolute Wahrheit als solche, als geschlossenes Ganzes, tautologisch nicht widersprüchlich, sondern das Werk der Wahrheit, ist jenes, das Fragmente sammelt, Widersprüche vereint, die eigene Verneinung akzeptiert-antizipiert.« 89 Festzuhalten ist, dass Cacciari die Antinomien der abstrakten Kunst Malevičs, der von Mondrian gespürten Wortohnmacht, der Suche nach dem Spirituellen bei Kandinskij oder bei den Engelfiguren von Klee auf die gleiche wahrheitliche Dialektik zurückführt. 90 Die Überlegungen zur gerade nicht-verbalen Überschreitung in künstlerischen Darstellungen, die im zweiten Teil von Icone della Das Paradox im Evangelium: »Wer den Sohn sieht, sieht den Vater« (Joh 12, 44–45) kommentiert Cacciari so: »Wer mich sieht (wer mir zuhört, mich in sich »aufnimmt«, mich »liest«) sieht den Vater (in mir liegt also die endgültige Bedeutung), aber niemend sieht jemals den Vater« Cacciari, La parabola spezzata, 109. Die gegenseitige Verwiesenheit zwischen Darstellung und Dargestelltem, die die Vorstellung der Ikone bestimmt, wäre im Einklang mit dem chalcedonischen Dogma und der literarischen Form der »Parabel«, die von Jesus für seine Ankündigung verwendet wurde, zu lesen. 89 Cacciari, Icone della Legge, 194 ff. 90 Cacciari hat sich mehrmals dem philosophisch-theologischen Problem der Darstellung zugewandt, nicht nur in Dell’Inizio und Della cosa ultima, sondern auch in zwei anregenden Aufsätzen: Tre icone, 2007, in dem er die Dreifaltigkeit von Andrej Rubljow, die Auferstehung (Sansepolcro) von Piero della Francesca und die Arnolfini-Hochzeit von Jan van Eyck kommentiert hat, während er in Doppio ritratto. San Francesco in Dante e Giotto, 2011, einen außerordentlichen dialektischen Vergleich zwischen der Interpretation von Franz von Assisi zu den Fresken Giottos und dem Kommentar zur Figur des Heiligen in der Commedia von Dante anstellt. 88
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Legge dargelegt wurden, sind nun auf die im ersten Teil gemachten Feststellungen zum Begriff des »Mystischen« zu beziehen und antizipieren damit die Untersuchungen, die in L’angelo necessario folgen werden. Diese letzte Schrift gleicht einem kleinen Traktat der Angelologie. Der Autor durchstreift die neuplatonischen Schriften zur Angelologie, von jüdisch-christlichen und iranischen Quellen bis hin zu Benjamin, Rosenzweig, Rilke und Klee, um die metaphysische und hermeneutische Prägnanz der Engelfigur zeigen zu können. Die Dialektik in der Angelologie ist die gleiche, die auch die Wahrheit der Ikone dirigiert: »Der Engel bezeugt das Mysterium als Mysterium. Er vermittelt das Unsichtbare als Unsichtbares, er ›setzt-über‹, er ›überträgt/übersetzt‹, aber nichts für unsere Sinne. Er verkörpert die Gegenwart des Geheimnisses, aber nur vor den Augen der reinen Theorie«. 91 Die Zwischenfigur des Engels zeigt Cacciari zufolge, dass ein vom Sinnlichen unterschiedenes Sehen möglich ist. Nach neuplatonischer Tradition, die für Cacciari die Grundlage aller mystischen Angelologie bildet, erzieht der Engel zu einer Theorie als ἕνωσις (ènosis), also der Überwindung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt. 92 Der Engel ist der Herr des Zwischenraums zwischen Kennen und θεωρέιν (theorein), zwischen mundus imaginalis und sublunarischer Welt, Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Zeit und Ewigkeit. Dieses von den Engeln belebte Dazwischen ist die Quelle der Hermeneutik und der Gestaltungsraum der menschlichen Einbildungskraft. Man könnte also sagen, dass die Deutungskraft des Menschen sowie seine künstlerische Fähigkeit für Cacciari an einem Ort der Abwesenheit der Schau leben, einem Raum des Fehlens der Namen und deshalb auf dem Weg der fortwährenden, aber nie gänzlich vergeblichen Suche, das Unaussprechbare auszudrücken. Damit wird die ganze Notwendigkeit der Figur des Engels deutlich. Die Vermittlung durch die Engelsbotschafter ist also grundlegend, weil sich die »Veritas der Welt nicht nackt zeigen kann, nicht unverhüllt – wie Gabriel zu Mohammed sagt, sie hüllt sich in siebzigtausend Schleier aus Licht und Dunkel. Wenn sie uns unvermittelt unverhüllt begegnete, (und das heißt nicht mehr in der Form einer bloßen Revelation), würden wir an ihrem Anblick sterben.« 93 Bei genauerem Hinschauen fällt auf, dass es Cacciari nicht darum geht, den angelo91 92 93
Cacciari, Der notwendige Engel, 10 (vgl. L’angelo necessario, 15 f.). Ders., Der notwendige Engel, 11. Ebd., 12.
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logischen Diskurs um eine esoterische oder exstatische Dimension erweitern zu können, sondern um die Bedeutung der mit ihnen ins Spiel kommenden metaphysischen Instanzen zu zeigen. Der Engel und die Ikone werden als hermeneutische »Mittlerorte« aufgefasst, als antinomische Räume, in denen das »Von-sich-aus-Gegebenseins der Wahrheit selbst« zur Vorstellung kommt. 94 Der ästhetische Diskurs bestätigt somit, so ist hier festzustellen, ein entscheidendes theoretisches Problem und hebt es zugleich ganz besonders hervor. Es ist dasjenige, das im Siebten Brief von Platon beschrieben wird, demzufolge das Fünfte Element sich gibt, sich zur Erscheinung bringt (δῆλον), also zur Aufweisung kommt, obgleich es sich jeder festschreibenden, ontologisch bestimmten Definition entzieht. 95 Die metaphysisch angelegte Diskussion dieses Problemgehalts, so soll hier gezeigt werden, bildet den systematischen Gegenstand und damit das Leitmotiv der Trilogie von Cacciari.
Ebd., 79. Hier wird der berühmte philosophische Exkurs herangezogen: Platon, Siebter Brief, 341b–345a. Vgl. Ebd., 78–81.
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Kapitel III Die protologische Differenz des Anfangs
3.1 Die Kantische Eingrenzung des Anfangsproblems Das wichtigste theoretische Werk von Cacciari, Dell’Inizio, kommt wie eine historisch-metaphysische Rekonstruktion der Idee des Anfangs daher, die sich radikal von einer Grundlagenidee, wie der der origo (Ursprung) absetzt. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt: Im ersten geht es insgesamt um eine systematische Kritik an der Vorstellung vom Anfang; im zweiten werden anhand der vorangegangenen Klärungen die Begriffe »Zeit« und »machen« überprüft; und der dritte, mit dem Titel »Das Zeitalter des Sohnes«, behandelt wiederum das Anfangsthema, jetzt aus theologischer und eschatologischer Perspektive entwickelt. 96 Für jeden Abschnitt wählt der Autor eine andere stilistische Form: den Dialog discipuli ad discipulum, den systematischen Traktat und die Form parerga und paralegomena. Wie Cacciari selbst dazu in seinen Vorbemerkungen schreibt, »wiederholen sich die gleichen Themen im gesamten Buch immer wieder mit kleinsten Variationen«. 97 Gegenstand der Diskussion im ersten Kapitel ist die Einleitung der Kritik der reinen Vernunft von 1781, die von Kant selbst in der zweiten Ausgabe von 1787 überarbeitet wurde. Cacciari zielt darauf ab, die Widersprüche der Kantischen Überlegung herauszuarbeiten, da sie einen logischen Anfang zur Bestimmung bringen will: einen Ausgangspunkt des Wissens. Im ersten Satz der Ausgabe von 1781 heißt es: »Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt.« 98 In diesem Sinne scheint für Kant der Bock, Zeitenfülle, 108 ff., 128 ff., 153 ff., 169 ff., 246 ff. Cacciari, Dell’Inizio, 1990, 14. Unsere Analyse bezieht sich vor allem auf den ersten Teil des Werks, in dem sich der Autor auf seine Kritik zur Konzeption des Anfangs bei Kant konzentriert. 98 Es wird hier durchgehend aus den Originalausgaben von 1781 und 1787 der Kritik der reinen Vernunft (KrV) zitiert: Bd. III und IV der Werkausgabe, W. Weischedel (Hg.), Frankfurt a. M. 1974. 96 97
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Intellekt – »indem … er bearbeitet« – die Erfahrung, die Sinneseindrücke zu produzieren, und daher kann Erfahrung nicht der Anfang sein. In der zweiten Ausgabe der Kritik hingegen kehrt sich die Perspektive um. Der erste Satz lautet: »Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.« Für Kant gibt es keinen Zweifel mehr, dass die Erfahrung der Ausgangspunkt der Erkenntnis ist, bzw. dass das Erkennen innerhalb des Horizonts der Sinneswahrnehmungen seinen Anfang (er-fahren), aber auch seine Grenzen 99 hat. Dies aber macht – so stellt es sich Cacciari dar – die Kantische Vernunft mehr zu einem Land der Wahr-nehmung als der Wahrheit. 100 Während die Einführung von 1781 also vermuten lässt, dass ein Anfang notwendig ist und dieser mit der empirischen produktiven Einbildungskraft übereinstimmt, behauptet die Einführung von 1787, »dass es keinen Anfang gibt und dass wir uns immer vom Anfang weg befinden, wenn wir anfangen, weil jeder Anfang schon ein Ergebnis ist«. 101 Diese theoretische Wahl von Seiten Kants hat nun Auswirkungen auf die Definition des Übersinnlichen. Wenn nämlich die Erkenntnisbemühung der reinen Vernunft nur im Bereich der Sinneswahrnehmung liegt, dann ist alles, was darüber hinaus geht, für die reine Vernunft nicht fassbar und folglich »ist das Unbedingte nicht [als] übersinnlich [zu verstehen], sondern [als] un-sinnlich, eine Negation der Sinne, eine Abwesenheit der Sinne«. 102 Offensichtlich geht es hier nicht um die absolute Negation des Unbedingten, sondern um dessen Negation im Bereich des diskursiven Erkennens. 103 Ausgehend von der Diskrepanz dieser zwei Einführungen, stellt Cacciari einen interessanten Deutungsparallelismus zwischen ihnen und einem der umstrittensten Kapitel der Kritik her, in dem Kant über die Unterscheidung von Phänomen und Ding an sich, das sich Cacciari, Dell’Inizio, 43. Ebd., 46. 101 Ebd., 21. 102 Ebd., 44. Die Entscheidung Kants, die Erörterung über den Anfang für illegitim zu halten, ist für Cacciari von großer Bedeutung im Hinblick auf die Beschreibung des daraus folgenden Denkens. Der Autor widmet nämlich einige Seiten Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung, in dem dieser die Kantische Kritik von 1781 als Bestätigung sieht, dass die äußere Welt von Zeit und Raum nur eine Vorstellung des erkennenden Subjekts sei: Dell’Inizio, 22. Vgl. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Werke, Bd. X, 534. 103 Dass Dinge außerhalb der Einbildungskraft existieren, lässt Kant zu, aber nur »auf Glauben«: KrV, 1787, XL. 99
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Die Kantische Eingrenzung des Anfangsproblems
den Sinnen entzieht, reflektiert. 104 Bei der Entwicklung dieses Gedankengangs erkennt er die Notwendigkeit der Vernunft, über den Horizont der Sinneserfahrung und über die Regeln des bestimmenden Urteils hinaus gehen zu müssen (beim Vollzug des Verstandes) – oder anders gesagt, die Anwendung der Kategorien im Rückgriff auf deren transzendentales, nicht sinnliches Objekt legitimieren zu müssen. Die Vernunft entdeckt also, dass sie von der gleichen Notwendigkeit, die Gesamtheit der Bedingungen denken zu müssen, gefangen ist und erkennt in sich selbst, dass sie von der Analyse des Unbedingten zur Metaphysik des Unbedingten überzugehen hat. Das transzendentale Objekt, das die Einbildungskraft anzieht, wird von Kant ein ›unbekanntes Etwas‹ 105 genannt. Er präzisiert, dass es sich nicht um eine bloße »Täuschung« oder psychologische Einbildung handeln kann. Wenn es so wäre, müsste man die Fähigkeit zu urteilen selbst als für gescheitert erklären. Dieses ›unbekannte Etwas‹ kann auch nicht in der gleichen Weise wie ein Begriff betrachtet werden, denn dann gälten für es die gleichen Grenzen wie für die Vernunft. Cacciari zufolge ist das Denken Kants an dieser Stelle wieder vom Problem des Anfangs getrieben oder, um es mit anderen Worten zu sagen, erleidet bzw. erfährt hier die Vernunft als »Vermögen der Prinzipien« 106 die unumgehbare Hinterfragung ihres eigenen Prinzips. »Die Vernunft« – kommentiert er – »muss sich über die Sphäre der Erscheinungen hinausbegeben, weil sie darin nicht den eigenen Ursprung wiederfindet. Sein problematisches Hineinreichen in die außerhalb des Sinns bestehende Leere (KrV, 1787, 310) bedeutet das Problem des Anfangs in der besonderen Weise, mit der sich dieses unvermeidbare Problem in den Grenzen der Kritik zeigt.« 107 Diese unvermeidbare Spannung der Vernunft, die den festen Boden der Sinneswahrnehmung verlässt, also von einem analytischen Feld zu einem noumenalen Horizont übergeht, wird im zweiten Buch der Kritik mit der berühmten Metapher der Insel inmitten eines weiten und stürmischen Meeres dargestellt. Jenes Bild spiegelt sowohl die Kantische Definition von Vernunft als auch die des Noumenon gut wider sowie die Dialektik ihrer Beziehung zueinander. Auf der einen Seite verlangt die Vernunft, dass ihr Wissensbereich in einem genau 104 105 106 107
KrV, 294 f. KrV, 314. KrV, 265. Cacciari, Dell’Inizio, 47.
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abgesteckten Rahmen liegt und festgelegten Regeln folgt, auf der anderen lässt sie sich nicht vollständig auf den Umfang der Insel begrenzen. Sie wird von den Grenzen angezogen. Das Nachdenken über die Grenzen als solche bringt sie dazu, sich Gedanken über das zu machen, was außerhalb des festen Bodens ist – dies deshalb, weil der Ozean, auch wenn er ein unergründlicher Abgrund ist (also kein obiectum), zur Definition der Insel selbst gehört. Den Ozean ausblenden zu wollen, bedeutete, die Möglichkeit für die Insel auszuschließen, sie als solche zu definieren, oder, ohne Metapher gesagt, das transzendentale Objekt verneinen zu wollen, hieße zugleich, den Kategorien selbst ihre Gültigkeit abzusprechen. 108 Ganz neu ist an dieser Stelle die Parallele, die Cacciari zwischen der Kantischen Dialektik von Insel und Ozean und den im Nebel des Unbekannten liegenden Landschaften Caspar David Friedrichs (1774– 1840) zieht. In den Bildern von Friedrich scheint die gleiche Kantische Problematik umgesetzt zu sein, nämlich der Konflikt zwischen der subjektiven Notwendigkeit, auf dem Festland der messbaren Kenntnis 109 bleiben zu wollen, und gleichzeitig der Unmöglichkeit, sich auf jenes Gebiet begrenzen zu können, obwohl die Vernunft von der großen Leere angezogen wird und sie dem Sog des Unendlichen allzu oft nachgibt. Das Bild Kreidefelsen auf Rügen (1818) verkörpert Cacciaris Meinung nach besonders den letzten Teil des Weges der Kantischen Vernunft am Rande dessen, was »besitzbar« ist. Die Vernunft erreicht den letzten begehbaren Strandzipfel, wo sich die Felsen dem Nichts, der unendlichen Weite des Meeres, öffnen. Am verlockenden Rand des unbekannten Abgrunds dringt ein tiefer Schwindel in die Brust: »Stärker als jeder andere spätere Philosoph (und Schelling verstand das) führt uns Kant an diese Schwelle, weil er sie mehr als alles andere
108 Cacciari kommt auf das Kantische Bild der Insel im Verhältnis zum Meer zurück in dem Buch Labirinto filosofico, 294 f. Diesbezüglich bemerkt Emanuele Severino: »Dass die Vernunft aus Kantischer Sicht eine Insel ist, hat der Kritizismus von der realistischen Tradition geerbt, in der sofort und willkürlich angenommen wird, dass darüber hinausgehende Dinge existieren, unabhängig davon, wie sie dem Subjekt erscheinen. Darin besteht die Kritik des Idealismus an der Kritik Kants, der heute kaum angemessen Rechnung getragen wird. Wenn nämlich die Vernunft eine Insel ist (angenommen dies ist so), dann verweist die Insel natürlich auf den Ozean und ›erfährt‹ diesen auf gewisse Weise; wenn sie in ihrer Endlichkeit etwas Geschlossenes ist (etwas Definiertes), braucht es natürlich das, was über die Endlichkeit der Vernunft hinausgeht und was diese definiert.« Severino, Dialogo con Cacciari, 12. 109 Cacciari, Dell’Inizio, 49 ff.
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Die Kantische Eingrenzung des Anfangsproblems
vermeiden und bekämpfen möchte.« 110 Für Cacciari ist der Schwindel im Angesicht des Unbekannten der Grund, aus dem Kant die Unüberwindbarkeit des sinnlichen Horizonts unterstreicht. Um sich davor zu verteidigen, richtet er das Gericht der Vernunft ein, einen »Polizeistaat«, 111 der über das Verbot eines Grenzübertritts wacht. Am Ende des ersten Kapitels von Dell’Inizio interpretiert Cacciari an einer Stelle, die es hervorzuheben lohnt, Kants Entscheidung als radikalen Gegensatz zum Platonismus – ein Gegensatz, der bei genauerer Betrachtung aus dem Innern einer gewissen platonischen Form Gestalt annimmt und sich entwickelt. Entgegen der aristotelischen Tradition greift Kant in einem gewissen Sinne Platons Begriff der μάθησις (màthesis) auf, entwickelt ihn aber in aprioristischer Lesart, sodass er von jedem tatsächlichen Kenntnisgewinn gelöst wird. Kant lässt also einen jenseits des Festlandes der diskursiven Vernunft existierenden Horizont zu; auch wenn dieses »transzendentale Objekt« von der Problemstellung her vorstellbar ist, ist es doch unzeigbar, besitzt keinerlei Intuition oder Beweis seiner Wahrheit. Kant zeigt eine Art Apophatismus, der anders ist als der des Platonismus: »Er entscheidet, dass das Unvorhersehbare und Unaussprechbare ausschließlich das Nichtvorhandensein des Vorhersehbaren und Aussprechbaren bedeute; anders als in der platonischen Tradition, in der das Unaussprechbare die Grundlage jeder Diánoia, die immer wirkende ἀρχή (archè) jedes Logos ist.« 112 Diese Beobachtung ist interessant, weil sie auf den gesamten hermeneutischen Horizont und die eingeschlagene Forschungsrichtung von Cacciari im Verlaufe des Buches verweist. Angesichts der Kantischen Entscheidung, das Anfangsproblem sozusagen aufzuheben, entschließt sich Cacciari für das Gegenteil und kehrt zur Ursprungsfrage zurück, wie sie in der ersten Hypothese des platonischen Parmenides dargelegt wird. Mit diesem Ergebnis geht er zum zweiten Teil des ersten Buches mit dem eloquenten Titel Crux philosophorum über, als ob er damit sagen wollte, dass die »Krux« der gesamten westlichen Philosophie und damit auch der von Kant sowie dem postkantischen Idealismus die unwiderrufliche Auseinandersetzung mit der Vorstellung vom »Anfang« gewesen sei.
Ebd., 51. Ebd., 52. Neben dem Bild des Gerichts (gesetzgebende und richterliche Gewalt) vergleicht Kant selbst die Grenzen setzende Funktion der Kritik mit der Polizei (der Polizeigewalt): KrV, 13 f. 112 Ebd., 57. 110 111
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3.2 Die Hegelsche Aufhebung des Anfangs in das Anfangende Der Dialog, der den zweiten Abschnitt des ersten Bandes von Dell’Inizio eröffnet, dreht sich um die Exegese der ersten Hypothese des platonischen Parmenides, dem Bezugspunkt der gesamten neuplatonischen Tradition von Plotin 113 über Iamblichos, Syrianos, Proklos und Damaskios. Für Cacciari ist die Entwicklung der Deutungen entscheidend, um die spekulativen Ergebnisse zu verstehen, die das Denken über das Problem des Anfangs im postkantischen Idealismus hervorgebracht hat. Es muss vorausgeschickt werden, dass zwischen der spekulativen Exegese der ersten Hypothese des Parmenides (»wenn das Erste wirklich das Erste [ist], was würde daraus folgen für das Eine an sich?« 114), so wie sie von verschiedenen neuplatonischen Strömungen erarbeitet wurde, und der Deutung von Cacciari kein Deutungskontinuum besteht. Einzig der Diskussionsgegenstand ist der gleiche bzw. die Frage nach der Beziehung zwischen der absoluten Transzendenz des Ersten als Anfang (ἀρχή ἀνυπόθετος / archè anypòthetos, Politeia 511, b) und seinem freien Voraussetzung-Sein für jene mögliche Bewegung in Richtung auf das Sein. Bekanntermaßen definiert Platon das Erste im Parmenides als eine Instanz, die losgelöst von jeder Beziehung zum Sein ist: »Das Erste ist in keinster Weise Teil des Seins (ousía).« 115 Das Erste als jenseits jeder οὐσία (ousía), also auch des νοῦς (Noùs), ist folglich nicht prädizierbar. Es ist nicht festgelegt, hat keine »Position« und keinen gedanklichen Inhalt (διάνοια / diànoia). Schon Plotin greift die aristotelische Vorstellung vom Ersten als νοῦς νοηθών (Noùs – Noetòn) 116 an und reagiert damit ante litteram auf ein mögliches idealistisches Ergebnis der ersten Hypothese des Parmenides. In den Kommentaren von Proklos und Damaskios zum Parmenides entdeckt Cacciari den Höhepunkt der neuplatonischen spekulativen Überlegungen zur Aporie der ersten Hypothese in Platons Parmenides. 117 Wo Proklus, so bemerkt Cacciari als erstes, dem Einen die Eigenschaft der ἀρχή (archè) oder αἰτία (aitìa) zuschreibt, wolle er keinesfalls einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Einem
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Vgl. Plotin, Enneaden, V, 1, 8. Vgl. Platon, Parmenides, 137c, 4 ff.; 142c 2. Platon, Parmenides, 141 und 8. Plotin, Enneaden, V, 1. Vgl. Cacciari, Dell’Inizio, 79–82.
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Die Hegelsche Aufhebung des Anfangs in das Anfangende
und dem Sein im Sinne der zweiten Hypothese des platonischen Parmenides behaupten. Es handele sich vielmehr um analogische Annäherungen, mit denen er auf die Notwendigkeit verweise, das Erste Prinzip als Quelle aller Seienden zu denken, ohne eine solche Herkunft nach dem Modell von Potenz und Akt zu bestimmen. Um nur ein Beispiel zur Bestätigung dieser Sicht anzuführen, verweist Cacciari auf einen Passus in Theologia Platonica II,7, 118 in dem Proklus die platonisch gefärbte Analogie der Sonne bemüht, um die ursächliche Macht des Einen zu illustrieren. Die radikal negative Dialektik und die Verwendung eines analogisch-metaphorischen Stils im Kommentar des Proklos zur ersten Hypothese im Parmenides laden dazu ein, in dessen Überlegungen die Vorstellung einer direkten Abstammung vom Ersten auszuschließen. Das Erste bleibt »nichts von alledem«, das von ihm als fons bzw. als ambitus omnium ausgeht. In diesem Sinne berühren wir hier den Höhepunkt der Aporie in der ersten Hypothese: Gerade weil die absolute Transzendenz des Ersten postuliert wird, kann man dessen perfekte In-differenz gegenüber der Alternative von TranszendenzImmanenz nicht abstreiten. Mit anderen Worten, es ist bei einem streng analogen Diskurs nicht möglich, eine kausal-abstrahlende Form der Macht des Ersten auszuschließen, ohne Gefahr zu laufen, in gewisser Weise den Bereich seiner unerreichbaren Absolutheit einzuschränken. Damaskios hebt als letztes die Zweideutigkeit hervor, dem Ersten die Eigenschaft der Archè zuzuschreiben. In De principiis 119 wird unterstrichen, dass dem Einen nicht nur eine Freiheit vom Sein, sondern auch vom Ursache-Sein zukomme, andernfalls es als bedürftig dem gegenüber zu denken wäre, das aus ihm hervorgeht und es so notwendigerweise an seine Wirkungen gebunden bliebe. Dies würde bedeuten, dass man den Sinn der ersten Hypothese des platonischen Parmenides verriete, infolge der nach welcher das Eine den νοῦς (Noùs) transzendiere, also nicht dar- und vorstellbares ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías) 120 sei. Diese Anmerkung von Damaskios ist besonders relevant, da sie unmissverständlich das zweite grund-
Vgl. Proklos, Theologia platonica, II, 7, 249–260. Damascius, De principiis, I, 39 ff. 120 Ich verwende hier in Bezug auf das Erste diejenige Zuschreibung, die Platon in der Politeia (509b) dem Ἀγαθὸν (Agathòn) zumisst, ähnlich Proklos in Theologia platonica II, 7 und Cacciari, Labirinto filosofico, 120 f. 118 119
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legende exegetische Paradigma hinterfragt, mit dem die Neuplatoniker die erste Hypothese interpretiert haben. 121 Weil der menschlichen Natur die Erfassung des Ersten-Ersten nicht zugänglich ist, hat ein Teil der Neuplatoniker es vorgezogen, das Erste der ersten Hypothese zu hypostasieren und es mit der zweiten Hypothese des Parmenides zu assimilieren, die das Erste-das-ist 122 denkt und daraufhin als αἰτία (aitìa) definiert. Cacciari behauptet, dass sich das zweite Interpretationsparadigma im postkantischen Idealismus durchgesetzt und so de facto die in der ersten Hypothese ausgedrückte Aporie »gewaltsam« für die westliche Tradition gelöscht habe, die von jenem Zeitpunkt an nicht mehr fähig gewesen war, das Erste als »Nicht-Grund, Nicht-Anfangendes zu betrachten und dass daher weder das Wechselspiel von Ursache und Wirkung transzendiert, noch den Begriffen immanent ist.« 123 Um dies zu bestätigen, zeigt Cacciari in seiner Interpretation von Fichte, wie das platonische Unsagbare in die Position des Ich-denke übersetzt wurde, nämlich als eine Position des Absoluten, die vom Ich produziert wurde und, wie oben schon beobachtet, im Gegensatz zur Distanznahme Plotins von der aristotelischen Definition des Primum als νοῦς νοηθών (Noùs -Noetòn) steht. 124 Die radikalste Auflösung der Aporie des Parmenides findet sich in der hegelschen Spekulation. In der Wissenschaft der Logik geht Hegel bewusst, aber indirekt von der ersten zur zweiten Hypothese des Parmenides über. Während nämlich in der ersten Hypothese der Anfang als absolut unbestimmte Instanz gedacht wird, die völlig vom Sein losgelöst ist, stellt der Anfang für Hegel das wahre Subjekt jedes logischen Vorangehens dar (es ist das Logische), das Anfangende. 125 121 Hier wird auf das VII. Buch des Kommentars zu Platons Parmenides von Proklos verwiesen, in dem sogar vier Modelle der Exegese des Parmenides 142a 6–8, und somit indirekt zur ersten Hypothese, vorgestellt werden. Zum Thema siehe: Napoli, Proclo vs. Aristotele sull’assioma della contraddizione, 248–265. Siehe vor allem: Anm. 6, 261. Der betreffende Absatz liegt nur in der lateinischen Übersetzung von Willem van Moerbeke vor. Vgl. Proklos, Commentaire sur le Parménide de Platon, vol. 2, 69, 514, 61–521. 122 Dass die grundlegende Unterscheidung für den Platonismus die zwischen Unum und Esse ist, hat unmissverständlich Werner Beierwaltes gezeigt: Identität und Differenz, 1980; Platonismus und Idealismus, 1972; Proklos, 1979. 123 Cacciari, Dell’Inizio, 88. 124 An dieser Stelle verweise ich auf die Seiten, in denen sich Cacciari Fichte widmet: Dell’Inizio, 89–101. 125 Cacciari schreibt: »Der ständige Wechsel zwischen den zwei Begriffen [Anfang
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Um dies zu untermauern, lenkt Cacciari die Aufmerksamkeit auf die hegelsche Behauptung, dass der Anfang in sich den Trieb trage, »›sich weiterzuführen‹ und diesem Prozess folgend zum Absoluten ›nur in seiner Vollendung‹ wird.« 126 Diese Ausprägung der hegelschen Überlegungen gründet sich also auf die Voraussetzung, der Anfang sei letztlich »vom Negativen beeinflusst« 127 und vom Mangelhaften gezeichnet; von daher der Trieb des Anfangs, sich einzulösen, was den eigentlichen Zweck seiner Offenbarung bzw. des intrinsischen Kommunikations- und Manifestierungsimpulses des Absoluten darstellt. Der Umstand, dass Hegel dem Anfang die Eigenschaft »Nichts« zuweist (d. h. der Anfang an sich noch nicht bestimmt ist), stellt nun keine Gegeninstanz zur schon vorgenommenen Deutungsverschiebung von der ersten zur zweiten Hypothese des Parmenides dar. Es ist also richtig, dass nichts im Anfang bestimmt ist, aber es stimmt auch, dass dieser Anfang an sich danach strebt, bestimmt zu werden. 128 Die hegelsche Auflösung des Anfangsproblems als erfüllte Offenbarung wird in der Folge wichtige Auswirkungen nicht nur auf die westliche Metaphysik, sondern auch auf die darauffolgende systematische Theologie haben. Bei dem Versuch, dieser metaphysischen Entleerung der ersten Hypothese des Parmenides und damit der Vorstellung von einem reinen Anfang etwas entgegenzusetzen, greift Cacciari die Überlegungen Schellings auf, der als Erster die radikale Verwerfung der ursprünglichen In-differenz des Anfangs in Hegels Diskurs erkannt hat, wie die Münchner Vorlesungen: Zur Geschichte der neueren Philosophie (1836–1837) zeigen. 129 Im Gegensatz zu Hegel schlägt Schelling vor, den Anfang als »absolute Indifferenz« zu denken und »im Anfang selbst die ›Freiheit‹ vom Sein, von der blinden Notwendigkeit zu ek-sistieren; den Anund das Anfangende], als ob es sich um Synonyme handle, ist von großer Bedeutung. Wo Hegel den Anfang denkt, stellt er sich in Wirklichkeit nur das Anfangende vor.« ebd., 107. 126 Hegel, Wissenschaft der Logik, HW, VI, 555 f. 127 Cacciari, Dell’Inizio, 109. 128 So hebt Cacciari hervor: »Indem wir sein = nichts annehmen, sind wir keinen Schritt über das Erste-Erste hinausgekommen. Um das tun zu können, hören wir ›plötzlich‹ auf, Sein und Nichts im Sinne der vollen In-differenz zu verstehen, sondern sehen sie als auch absolut verschieden. Wir entscheiden uns also indirekt dazu, die erste Hypothese des Parmenides im Sinne der zweiten zu sehen: Das Sein ist nichts, d. h. auch wenn das Sein sich absolut vom Nichts unterscheidet, ist es gleichsam von ihm ungetrennt und untrennbar.« ebd., 112. 129 SW 1/10, 1–200. Der Anfang als Freiheit
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fang positiv loszulösen und in dieser Unstimmigkeit die Indifferenz von Sein und Nichts zu ›retten‹, das Nichts nicht zu ›verlassen‹«. 130 Die entscheidende Frage wird also sein, dem Denken des Seins vor jeder Grundlage und vor jeder Unterscheidung zwischen Grundlage und Ek-sistenz einen Wert zurückzugeben bzw. das Wesen des Grundes als Ungrund 131 zu denken. Mit großer systematischer Schärfe 132 zeichnet der Autor die verschiedenen Etappen der Bearbeitung dieser Fragestellung bei Schelling nach und bezieht sich besonders auf die Werke Philosophische Untersuchungen, 133 Stuttgarter Privatvorlesungen, 134 Erlanger Vorlesung 135 sowie Andere Deduktion der Principien der Positiven Philosophie. 136 Um Cacciaris Kritik an Schelling wiedergeben zu können, scheint es angebracht, einige allgemeine Züge der späten Philosophie Schellings zu erläutern, d. h. dessen Unterscheidung der negativen Philosophie von der positiven Philosophie und deren Auswirkungen auf das Denken vom Anfang. Aus kritisch-negativer Perspektive oder im Bereich der autonomen Selbstreflexion wird die Vernunft für Schelling von der Verzweiflung eingeholt, so dass sie sich vornimmt, eine Grundlage zu denken. Alles scheint ihr dem Nichts ausgesetzt, nichts garantiert ihr ein Sein. Entgegen dieser Traurigkeit des Denkens, besitzt die Vernunft aber die Fähigkeit, sich als unendliche Möglichkeit des Erkennens zu denken. Und dennoch bemerkt das Selbstbewusstsein, wenn es dabei ist, sich als unendliche Möglichkeit zu denken, dass es diese Möglichkeit nicht radikal denken kann (weder in der Dimension des Seins noch in der des Erkennens), es sei denn als eine aktuierte Möglichkeit. Das ist die notwendige Verbindung zwischen »Potenz« und »Aktus«, die ausgehend von Aristoteles die Geschichte der Philosophie bis zur Moderne durchzieht. Die Vernunft entdeckt also, dass sie unfähig ist, die reine Möglichkeit außerhalb des Bezugs auf ihre Aktualität zu denken. Die reine Möglichkeit bleibt nur in Bezug auf den Aktus vorstellbar, in dem auch das Potentielle als solches verschwindet. Bei dem Versuch, diesen gedanklichen Knoten lösen und eine reine Möglichkeit denken zu wollen, die nicht 130 131 132 133 134 135 136
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Ebd., 116. Hier bezieht sich Cacciari auf: SW 1/10, 101. SW 1/7, 407. SW 1/7, 115–133. SW 1/7, 331–416. SW 1/7, 417–484. SW 1/9, 207–252. SW 2/4, 337–536.
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darauf gerichtet ist, in einen Aktus überzugehen, greift Schelling Platons Parmenides auf, und dabei insbesondere die Beziehung zwischen der ersten und der zweiten Hypothese des Dialogs, in der er die Dialektik zwischen Potenz und Aktus im Kontext der Beziehung zwischen Unum und Esse wieder auftreten sieht. Es scheint so, als ob das Unum-Unum wie auch die Möglichkeit in Beziehung zum Aktus nicht vorstellbar sei, ohne es in Beziehung zu etwas Anderem zu setzen, nämlich zum Sein. Die menschliche Vernunft ist unfähig, das Unum als etwas vollständig von irgendeiner Form der Beziehung zum Sein Getrenntes zu denken. Um diese Aporie des Denkens lösen und sich der Definition einer so radikalen Möglichkeit nähern zu können, die in sich selbst reine Aktualisierung und folglich von jeder Notwendigkeit einer logischen Bewegung zum Sein losgelöst wäre, entwickelt Schelling eine Theorie der Potenzen, in denen das Unum in differenzierten Beziehungen zum Sein gedacht wird: Als das Seynkönnende, als das rein Seyende und als Indifferenz von Potenz und Akt. 137 Nur unter den Umständen der dritten Potenz erreicht für Schelling die Vernunft endlich die reine, absolut nicht prädizierbare Möglichkeit, das Un-vor-denkliche. Das Unum als Indifferenz von Potenz und Aktus wäre also prius und deshalb absolut frei auch dazu, sich nicht mit dem Sein in eine Beziehung zu setzen; selbst wenn es das täte, wäre die eigene Möglichkeit zu anderen Formen der Aktualität nicht erschöpft, so dass keine ihrer Formen die Aktuierung anderer, sogar selbstwidersprüchlicher Möglichkeiten ausschlösse. Mit anderen Worten, es kann der Anfang weder unbedingt als Grund des Daseins gedacht noch unbedingt genötigt werden, nicht dieser Grund zu sein. Es gibt weder die Notwendigkeit, die Schöpfung ins Sein, noch nicht ins Sein zu setzen. Es handelt sich um eine Vorstellung des Anfangs, die frei von jeder Bestimmung ist, sein zu wollen sowie nicht sein zu wollen. 138 137 Zu diesem Thema wird auf die Vorlesungen X–XIV der Philosophie der Offenbarung verwiesen (SW 2/3, 198–309). 138 Der Ausdruck stammt nachweislich von Eckhart wie auch von Cacciari, der diesen Begriff auf den Seiten 124–128 von Dell’Inizio erwähnt. In der Predigt Beati pauperes sowie in Vom edlen Menschen, schlägt Eckhart die absolute Armut als totale Indifferenz gegenüber jeder Bestimmtheit vor, frei von der dura cupido, dem Impuls zum Existieren. Der Mensch muss die Treppen dieser Askese hinaufsteigen, um sich von jeder Bestimmung zu befreien (und folglich von jeder Differenz), um am Ende so leer zu sein, »dass in ihm kein Ort ist, wo Gott wirken kann« Meister Eckhart, Die deut-
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Dieser Gipfel der Spekulation bei Schelling wird von Cacciari als festzuhaltende Einsicht ausnahmslos geteilt, so dass sich auf den ersten Seiten von Dell’Inizio zu diesem Thema die Stimme des Autors mit der von Schelling zu vermischen und so zu verstärken scheint. 139 Cacciari schreibt Schelling sogar das Verdienst zu, wieder ein Denken des Anfangs geschaffen zu haben, das »die stärkste Evidenz der eigenen Unwiderrufbarkeit zu erreichen scheint.« 140 Dennoch ist seiner Meinung nach der kontroverse Punkt des Diskurses von Schelling die Mehrdeutigkeit der Bestimmung des Terminus: absolute Unterscheidung, um die Differenz (und das Trennen) zwischen dem Anfang und dem Realen zu beschreiben 141 bzw. das »Nicht-sein-können des Anfangs« mit der Behauptung der Konsequenz, dass nur ein Sprung (Ur-sprung als größte Form der Unterscheidung) den Anfang zu dem machen kann, durch den sich das Sein gibt (Vor-sein). 142 Es bleibt noch zu erklären, wie dieser Ursprung vorstellbar ist, wenn anschen Werke, Bd. 2, 502–504; 502. Das »… sich von Gott befreien« erhebt den edlen Menschen in eine so große Freiheit, dass er sogar Gott selbst überlegen ist. Cacciari schreibt: »Die Edelkeit des Menschen in Bezug auf Gott kann nur darin bestehen, dass Gott sich nunmehr unumkehrbar als Gott-in-der-Schöpfung verwirklicht hat, als Trinitas und daher Geschichte. […] Gott unterliegt der Notwendigkeit seiner Verwirklichung; seine Freiheit ist nicht so absolut wie die des edlen Menschen. Er ist immer vom Anfang entschieden; der edle Mensch hingegen kann sich in eine solche Leere verwandeln, eine solche Öffnung (das Heilige oder das Chaos von Hölderlin sind gleichermaßen von dieser Mystik sowie der griechischen Tragik geprägt), so dass er eins mit dem Anfang wird.« Cacciari, Dell’Inizio, 126. 139 Vielleicht hat aus diesem Grund ein beträchtlicher Teil der Kritiker von Cacciari eine direkte Übernahme von Schellings Denken festgestellt: Vgl. Vattimo, Filosofia e teologia, 1/1993. Als Antwort auf jenen Kritikpunkt bemerkt Cacciari: »Die ›positive Philosophie‹ Schellings wird vor allem dort kritisiert, wo man deren grundlegende komplementäre Natur zur hegelschen ›Ableitung‹ in ›Das Zeitalter des Sohnes‹ zeigen kann; ihr wird der Rücken gekehrt, wo das Nicht-Sein Gottes, die Ent-scheidung, die das innergöttliche Leben voraussetzt, nicht die ›Tatsache‹ des Todes Gottes, sondern die extremste Wirklichkeit bedeutet, die notwendigerweise in der Allmöglichkeit des Anfangs steckt, dass das Mögliche nicht sei, d. h. dass das Mögliche des gleichen innergöttlichen Lebens unmöglich sei.« Cacciari, Risposte, 1993, 145–154; 147. 140 Ders., Dell’Inizio, 149. 141 Das ›Reale‹ wird nämlich von Schelling als ›Gegenbild‹ des Absoluten oder als Absolutes-nicht-Absolutes definiert (SW 1/6, 31). 142 »Der Ursprung der Sinnenwelt ist nur ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar.« SW 1/6, 38. Auf diese Weise wird eine Brücke zur positiven Philosophie Schellings geschlagen, zu einem Denken des Logos, der losgelöst vom Ungrund zum communicativum wird. Auf diesen letzten Übergang in der Philosophie Schellings wird ausdrücklich im nächsten Absatz eingegangen, der sich der Trinitätsdoktrin widmet: Vgl. Cacciari, Dell’Inizio, 213 f.
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genommen wird, dass der Sprung wie auch die Unterscheidung Formen sind, die zwei miteinander in Bezug stehende Begriffe verbinden können. Massimo Donà hat in Bezug auf diesen Teil der Kritik Cacciaris an Schelling scharfsinnig festgestellt: »Die Trennung, so absolut sie auch sei, kann nie völlig von ihrem eigenen, sich beziehenden Akt losgelöst werden, sondern (wenn es überhaupt geht) nur die Verschiedenen ›als Verschiedene‹ verbinden. Deswegen hat es keinen Sinn, die Form der absoluten Unterscheidung zu suchen, eine Form, die jede abstrakte Trennung zu verhindern wüsste. Das kann nicht gegeben werden, vor allem, weil keine Trennung einfach trennend auftreten kann und gerade deswegen auch nicht absolut ist (das betrifft vor allem Schelling) […]. Es scheint, dass Cacciari uns genau von dieser abstrakten Herrschaft der trennenden Form ›befreien‹ will.« 143 Schelling dachte das hypothetische Nicht-sein-können des Anfangs im Unterschied zu Hegel, der ihn als unbedingt sein-müssend konzipierte. Cacciari verschärft und überwindet die Position Schellings in Richtung auf einen Anfang, der sich keineswegs aktuieren muss. 144 Mit anderen Worten, Cacciari möchte den Anfang nicht als Ungrund denken (in dem immer noch indirekt eine Bestimmung im Sinne eines actus purus steckt), sondern als Urmöglichkeit, die »in sich ›ohne Kampf‹ und ›ohne Tun‹ jede mögliche Bestimmung und Gegenposition beinhaltet, jede mögliche Welt […]. Die absolute Möglichkeit des Anfangs bedeutet, dass sein Sein nur möglich ist. Im Anfang denken wir das Mögliche an sich, das nicht am Sein teilhat, das Mögliche, das ›frei‹ vom Schema der Potenz des Seins ist, das es auf ein Antezedens des Seins reduzierte (oder auf einen ›für das Leben‹ notwendigen Willen). Aber das Mögliche, das in sich und für sich bleibt, stimmt mit dem reinen Aktus überein«. 145 Wenn Schelling sich also wendet gegen die »Unmöglichkeit, die Verschiedenen als solche im Anfang selbst zu prädizieren«, 146 möchte Cacciari hingegen im Anfang selbst den Widerspruch zwischen Einem und Vielen denken, so wie im ursprünglichen Sinne der ersten Hypothese des Parmenides: »Die Indifferenz, von der ich in Bezug auf den Anfang spreche« bemerkt Cacciari »trägt die Gegensätze als Gegensätze, 143 144 145 146
Donà, L’aporia del fondamento, 86. Vgl. ebd., 85. Cacciari, Dell’Inizio, 140 f. Ebd., 118.
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ohne sie in sich zu versöhnen. Der Anfang ist genauso wenig bestimmt wie er unbestimmt ist. Dass er exereménos (Proklos) ist, bedeutet in keiner Weise, auch coordinatum multitudini (Cusanus) zu sein. […] Oder mit den Worten von Cusanus ausgedrückt: Das absolut Andere kann nur vom Anderen selbst als Anderes gedacht werden, also als Non-aliud. Als Nicht-Anderes setzt sich das Andere nicht gegen das Nichts ab, es wird in ihm nichts fehlen und ist so in allem, in jeder Sache. Als Nicht Anderes vom Anderen wird simul jedoch erneut wieder das ganz Andere sein (nicht-anders vom ›Andersein‹). Der Anfang kann nicht als etwas von der Entität abstrakt Getrenntes gedacht werden, gerade weil es davon das absolut Andere ist.« 147 Es bleibt also nur vorzuschlagen, das Prius neu zu denken, indem die Kategorie des »All-möglichen« einen stark erläuternden Wert bekommt, eine Mit-möglichkeit, die dennoch so radikal ist, dass sie in gleichem Maße un-möglich ist. 148 In seinem Rückblick auf die Geschichte der Überlegungen zum Unum geht Cacciaris Denken also auf die Definition eines ἄπειρον (Àpeiron) als Hintergrund jeden Anfangs zurück, als nicht-Seiendheit oder Gleichgültigkeit von Sein und Nicht-Sein, als Negation jeder Bestimmtheit wie Un-bestimmtheit. Im Prius selbst steckt also der dialektische Widerspruch, in seinem Wesen gleich-gültig – im Sinne von gleich-geltend – Anfang und Anfangendes zu sein, anders als die origo, die behaftet ist mit dem Zwang, anfangen zu müssen, und zugleich als Non aliud, nicht abstrakt von der Entität (Sein) getrennt. Der Vorschlag Cacciaris unterscheidet sich in diesem Sinne ebenso von einer direkten Wiederaufnahme eines abstrakten Unums neuplatonischer Herkunft, das in seiner Absolutheit geschlossen ist, wie von einem unbestimmten Prius Schellingscher Prägung. Wir befinden uns jenseits eines Unum, das sich im Anfang gebenden Prozess (Hegel) verwirklicht und erfüllt oder sich in der Auslegung der christlichen Offenbarung einlöst (Schelling), und gleichzeitig auch entfernt von der Behauptung, das Unum transzendiere den Prozess – wie fälschlicherweise von Vattimo 149 angenommen worden ist. Dieses Zurückgreifen auf eine ἀρχή (archè), der dem Zwang anCacciari, Risposte, 146. Es ist darauf zu achten und für die weitere Argumentation in Erinnerung zu halten, dass die Verwendung des Begriffs der ›Allmöglichkeit‹ im Sinne von Leibniz verstanden von Cacciari jedoch als von jedem notwendigen Übergang zum Sein losgelöst gemeint wird. Zur Kritik an dieser Verbindung hier: Zweiter Teil, Kap. I., 2. 149 Vgl. Vattimo, Discussione con Cacciari, 1993, 144. 147 148
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Das Anfangsproblem in der Dreifaltigkeitstheologie
zufangen vorangeht, ist, wie man gut sehen kann, eine Alternative zum Vorschlag Heideggers, die Ontologie als Quintessenz der europäischen Metaphysik zu verstehen, wie zu einem Offenbarungspositivismus hegelscher Prägung, der in der Offenbarung die Aporie des Anfangs auflöst. Ausgehend von diesem kritischen Impuls nimmt sich Cacciari vor, auch die theologische Trinität zu überdenken, indem er das Bild des Deus Trinitas als Alternative zu dem des Deus-Esse radikal neu konzipiert.
3.3 Das Anfangsproblem in der Dreifaltigkeitstheologie In dem Dialog, der den dritten Teil des ersten Bandes unter dem Titel Deus-Trinitas einführt, geht es um die christliche Figur des Anfangs bzw. die trinitarische Wesensgleichheit (»ἐν ἀρχῇ ἦν ό λόγος« / en archè en ho Logos, Joh. 1,1), so wie sie von den Kappadokischen Vätern über Augustin und mit Johannes Scotus in das Mittelalter Eingang fand. Cacciari zufolge liegt die Schwachstelle dieser Lehre, die in der folgenden theologischen Tradition in toto rezipiert wurde, in der Art und Weise, die ursprüngliche Unterscheidung von Vater und Verbum verstehen zu wollen. Auf der Grundlage einer guten Kenntnis der oben genannten Autoren sowie der Debatte um das Nicäno-Konstantinopolitanum schreibt er dieser Tradition das Verdienst zu, im Gegensatz zu den gnostischen Deutungen die Paradoxie der treffenden Unterscheidung in der absoluten Einheit markiert zu haben, die das innertrinitarische Geheimnis kennzeichnet. Dennoch war laut Cacciari die klassische Theologie nicht in der Lage, an diesem Paradox festzuhalten, indem sie de facto die im ὁμούσιον (homoúsion) bewahrte Bedeutung verraten hat. Die erklärende Figur, auf die sich diese theologische Tradition bezog, um die Bedeutung der wesensgleichen Beziehung zwischen den ersten zwei Hypostasen der Trinität zu klären, war nämlich die des Verbum, bzw. die Beziehung Gedanke-Wort (Verbum in corde und vox in sermone – nach der augustinischen Wendung), die bezeichnend für die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist. Die Frage, die Cacciari aufwirft, betrifft den Sinn, der von der Verwendung einer solchen Figur vermittelt wird, um den ursprünglichen Unterschied zwischen den ersten zwei göttlichen Personen auszudrücken. Einem solchen Bild gelingt es nicht, gänzlich die vom homoúsion gemeinte Gleichheit in der Unterscheidung wiederzugeben, insofern der Sohn im Grunde vom Vater unterschieden ist, und es nicht erst wird – Der Anfang als Freiheit
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wie es hingegen das Bild ›Gedanke-Wort‹ vermuten lässt: »Das Wesen des Wortes – so der Autor – kann nicht gleich mit dem Wesen des Gedankens sein. Und wenn wir ›über‹ ihre Differenz hinaus denken wollen, dann bleibt uns nichts übrig, als den Gedanken im Wort aufgehen oder das Wort im Gedanken schweigen zu lassen. Wir können nicht ›koinonía‹ und ›diákrisis‹ zusammen denken.« 150 Um die Relevanz einer solchen Feststellung anfechten zu können, reicht es nicht aus, mit Augustinus auf die nicht akzidentielle Definition der innertrinitarischen Beziehungen zurückzugreifen: Relativum non est accidens (De Trinitate, V, 5,6), um den Zusammenhang zwischen Denken-Wort zu erläutern. Auf diese Art kehrt das Problem hingegen nur um so deutlicher wieder. Die Tatsache, dass jede Person nur in Bezug auf die andere gesagt werden kann, stützt sich nämlich auf die Voraussetzung der Annahme des Sich-Sagens, dass sie füreinander reziprok relativ sind. 151 Für jene theologische Tradition, die im Prolog des Johannesevangeliums ihren Ursprung hat, manifestiert sich das Wesen der Trinität ausschließlich im Verbum. Anders gesagt, vollzieht sich also das Wesen der Trinität in ihrem Gesagt-werden (entsprechend der Bedeutung des Verbum). Die zwischen Vater und Verbum bestehende Beziehung, durch die alles geschaffen wird, 152 ist eine notwendige Beziehung, eine relatio non adventitia zwischen ›Potenz des Sohnes‹ (der Vater) und ›wahrer Aktus des Vaters‹ (der Sohn). 153 Daraus folgt, dass »der Anfang nicht Anfang ist, sondern die Potenz, die den Anfang in Gang setzt, d. h. das Anfangende«. 154 Das hat zwei entscheidende Konsequenzen. Erstens offenbart und erschöpft der Sohn als Verbum, durch den der Vater sich ganz sagt, völlig die gemeinsame Essenz des innergöttlichen Lebens. Nach seiner eigenen essenziellen Entwicklung ist der Sohn in Patre zum Schaffen »bestimmt«. Zweitens macht die eigene theologische Figur des Verbum Gott absolut offenbar. 155 Aus dieser Perspektive erscheinen die Schöpfung, die Inkarnation, die Erlösung bis hin Cacciari, Dell’Inizio, 174. Vgl. ebd., 177. 152 Vgl. Augustinus, In. Joh. Ev., 19,13. 153 Der Autor bezieht sich hier auf: Johannes Scotus Eriugena, Commentarius in Sanctum Evangelium secundum Iohannem, PL 122, 302 d. 154 Vgl. Cacciari, Dell’Inizio, 178–180; 179. 155 Cacciari verwendet Hegels Worte: Dell’Inizio, 181. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Position Cacciaris finden sich im zweiten Teil (Kap. III) und im dritten Teil (Kap. II–III). 150 151
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zur eschatologischen Vollendung daher als angekündigtes Ergebnis desselben dialektischen Zusammenhangs, der, wie Hegel erkannte, das Schicksal der christlichen Theologie ist. 156 Hier schlägt Cacciari seine eigene Lösung vor. Indem sich Cacciari weiterhin auf den Prolog des Johannesevangeliums bezieht, der die biblische Bezugsquelle der trinitarischen Gedanken der Kirchenväter darstellt, betont er ein oft unbemerktes Element. Im Prolog von Johannes sind nämlich weder der Sohn noch der Vater der Beginn, sondern sie sind »ἐν ἀρχῇ« (en archè): »Die gegenseitige Nähe von Logos und Vater ist, besteht im Anfang. Kein folgender Ausdruck kann diesen ersten entfernen; die klarste Behauptung zur Untrennbarkeit der Verschiedenen (»ich im Vater und der Vater in mir«) bestätigt, dass ich nicht mit Scotus Eriugena ›in principio erat Verbum, ac si aperte dicere: in patre subsistit filius‹ sagen kann. Vater und Sohn – und das Problem ihrer Unterscheidung – wesen im Anfang; der Anfang gehört zu beiden.« 157 Während die christliche Theologie das ὁμούσιον (homoúsion) in der gemeinsamen Natur (οὐσία) 158 verankert sieht, was zur Notwendigkeit führte, den Anfang als Beziehung und unvermeidbare Offenbarung zu denken, siedelt Cacciari das ὁμούσιον (homoúsion) in der ἀρχῇ (archè) an – in dieser überwesentlichen Sphäre, in der der Anfang der koinonìa und die Unterscheidung zwischen den drei göttlichen Personen, deren vollkommenen In-differenz, garantiert ist. Eine solche Exegese des trinitarischen homoúsion ermöglicht die Gleichzeitigkeit von Untrennbarkeit und innergöttlicher Unterscheidung und rettet folglich 156 Obwohl dies vielfach geleugnet wird, steht außer Zweifel, dass die Theologie, was die eigene Erarbeitung des theologischen Inhalts anbetrifft, nicht wenige Elemente von der Dialektik Hegels übernommen hat. Zu diesem Punkt behauptet Elmar Salmann: »Die Geschichte der systematischen Theologie kann nicht ohne ihn [Hegel] gedacht werden […] Ob Barth, Jüngel oder Pannenberg, Balthasar oder Rahner, Küng oder Moltmann, sie alle haben, eingestanden oder insgeheim, bereit- oder widerwillig, bei ihm Entscheidendes über die Grammatik und die Grunddynamik des Christentums gelernt. Das Zusammen von Kreuz und Trinität, der Sinn nachchristlicher Geschichte, das Zueinander von ökonomischer und innerer Trinität, die Notwendigkeit einer Kairologie und Theologie des Todes Gottes, all das wäre ohne Hegel nicht denkbar.« Salmann, Der geteilte Logos, 292. Zu diesem Thema vgl. Rumpf et al., Hegel e la théologie contemporaine, 1977. Cacciari erkennt einen doppelten Hegelianismus in der posthegelianischen Theologie in ethisch-eschatologischer und theoretischer Richtung: Vgl. bes. Dell’Inizio, 188 ff. 157 Ebd., 180. Das Zitat stammt aus: Johannes Scotus Eriugena, Homilia in Prologum Sancti Evangelii secundum Jhoannem, PL 122, 286b. 158 Cacciari, Dell’Inizio, 181.
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Gott vor seiner dialektisch notwendigen Offenbarung, zu der ihn die gesamte theologische Tradition zwingt, indem sie von der Beziehungsfigur der Liebe Gebrauch macht. Am Endpunkt des Weges, der von Kant über Hegel bis zur Überwindung Schellings geführt hat, siedelt Cacciari im Hintergund der In-differenz des Anfangs den ambitus der Trinität an. Dieser wird so die Mit-möglichkeit garantiert und nicht mehr die Notwendigkeit ihrer Offenbarung. Es wird deutlich, wie die Fragen Cacciaris die Grenzen der orthodoxen Theologie überschreiten, nach der der Anfang die Beziehung der ἀγάπη (Agàpe) zwischen Vater und Sohn ist – eine Beziehung, die dazu führt, dass die zweite trinitarische Person in der Schöpfung und Erlösung hervortritt. 159 Aber es ist auch klar, dass Cacciari sich nicht zur Aufgabe gemacht hat, die theologische Doktrin zu wiederholen, indem er eine Art von ›christlicher Philosophie‹ entwickelt – ein seiner Meinung nach völlig unsinniges Unterfangen 160 – vielmehr nimmt er die christliche Offenbarung als weiteren Ausdruck des Schicksals der Anfangsproblematik in der westlichen Philosophiegeschichte auf.
3.4 Ein dritter trinitarischer Weg jenseits von Hegel und Schelling Erst die Betrachtungen der Kappadokier und dann die von Augustin, die tradiert über Johannes Scotus zur Koine des mittelalterlichen Trinitätsdenkens werden, werden bei Hegel zur letzten Konsequenz getrieben, insofern er die Offenbarung als intrinsischen Teil des göttlichen Wesens ansieht. Cacciari führt seine Untersuchung noch weiter, indem er das trinitarische und christologische Problem der hegelschen und schellingschen Sichtweise einer Prüfung unterzieht. 159 Hier wird vor allem auf die Kritik an Dell’Inizio von Seiten der katholischen Theologen Bruno Forte und Piero Coda verwiesen: Forte, Dell’Inizio: dialogo con Cacciari, 1991, 83–92; Coda, Intorno all’»Inizio«, 1990, 51–67. Vgl. dazu meine Antwort im dritten Teil: Kap. II–III. 160 »Eine philosophische Untersuchung, die eine theologische Situation wiederholt, hätte gar keinen Sinn. An so einer Beziehung gäbe es weder Interesse noch Schwierigkeit. Als ›christliche Philosophie‹ hätte die Philosophie wirklich keinen Sinn – als Philosophie, die auch die christliche Offenbarung verstehen möchte, jedoch schon, eine, die sie als eigenes Problem annimmt […] Meine Exegese der Offenbarung […] soll zum Revelatum das ›prädizieren‹, was die Theologie nicht könnte.« Cacciari, Risposte, 147 f.
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Wie man im Folgenden sehen wird, gelingt es Hegel nicht, dem Sohn völlige Freiheit zuzugestehen; damit aber schafft er das Anfangsproblem mit seiner Offenbarungsdialektik de facto ab. Schelling hingegen überhöht die Freiheit des Sohnes und seine Unterscheidung zum Vater, indem er der trinitarischen Vision jede Form der Notwendigkeit abspricht; damit aber ist er nicht in der Lage, das skándalon der Untrennbarkeit der Verschiedenen in principio und den Kreuzestod Gottes selbst zu denken. Mit der kritischen Überwindung beider Positionen bringt Cacciari einen dritten Lösungsweg ins Spiel, der die absolute Freiheit des Sohnes und gleichzeitig das Kreuz als wirklichen Tod Gottes wahren kann. Damit kann er sich radikal dem Problem des Anfangs stellen, ohne die kenotische Bewegung als notwendig (Hegel) oder beiläufig (Schelling) denken zu müssen. Seine Überlegungen beginnen mit der hegelschen Behauptung aus den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in denen Gott als jemand definiert wird, der sich im und als Gegensatz zu sich selbst verwirklicht, also in dieser radikal negativen Unterscheidung/Entfremdung die Identität mit sich selbst bewahrt. 161 In diesem Sinne treibt Hegel den Begriff der augustinischen relatio non adventitia zu seiner weitreichendsten Folgerung, indem er diese Beziehung aus kenotischer Perspektive erläutert, so dass sich die Inkarnation und der Tod als notwendige Ereignisse der Verwirklichung Gottes in seiner Bewegung der urteilenden Selbstunterscheidung ergeben. Wenn also die Trennung und Entzweiung 162 von Gott ad intra nicht akzidentiell ist, sondern zum göttlichen Wesen gehört, dann stellt der kenotische Ausgang von Gott ad extra, dessen Offenbarsein, die notwendige Bestimmtheit seiner Natur dar. In der dialektischen Bewegung der Entfremdung von Gott in sich und zugleich im anderen seiner selbst verwirklicht er sich also als Gott und bewirkt die Versöhnung der Welt in sich durch jene unermesslich schmerzvolle Trennung. Eine solche Auslegung der Versöhnung hat zwei bedeutende Folgen. Erstens zwingt sie dazu, die Episode am Kreuz nicht als Ergebnis eines Prozesses gegen einen Unschuldigen, sondern als Strafe für einen Schuldigen zu sehen, der für die Verwirklichung jener notwen-
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, HW XVII, 187. Cacciari, Dell’Inizio, 242. Cacciari setzt die kenotische Logik bei Hegel als Integral selbstverständlich voraus, ohne auf die in der Forschung umstrittene Frage nach dem Verhältnis der Immanenzlogik Gottes und ihrer kenotischen Offenbarkeit zu klären. Dazu vgl. Dritter Teil, Kap. I, § 1.3. 161 162
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digen innertrinitarischen Voraussetzung büßen muss. 163 Zweitens verschwindet ›jeder Rest eines Geheimnisses‹ um das Drama der Erlösung, das so plausibel wird und so auch von vornherein sozusagen vorhersehbar ist. 164 Für Hegel verzweifelt das Bewusstsein daher auch nicht angesichts des grausamen Todes des Sohnes, da es vorher weiß, dass der Tod in das Wesen der göttlichen Natur eingeschrieben ist. »Wenn das Kreuz aus dieser Perspektive betrachtet wird, dann ist es nur für den abstrakten Geist ein Skandal, nicht aber für eine rationaldialektische Betrachtung, die es hingegen als eigene ›Unternehmung‹ annehmen kann«, 165 und es dadurch hegelianisch überwindet. Die christologische Interpretation Hegels hat so bedeutenden Einfluss auf die Definition der tatsächlichen Freiheit des Sohnes, die tragischerweise unter der Ananke eines Anfangs zu verschwinden scheint, der in Wirklichkeit ein Anfangen in der Form der kénosis ist. So schreibt Cacciari: »Der Sohn ist in dem Maße frei, in dem er diesen Anfang aus seiner Verschlossenheit befreit und ihn ganz offenbart. Die Freiheit des Sohnes stimmt mit der ›Befreiung‹ des Anfangs überein – aber niemals scheint seine Freiheit ohne einen solchen Anfang vorstellbar.« 166 Als ob die Trennung von Vater und Sohn letztlich eine solche sei, die nie aus der Logik der Offenbarung heraustreten könne, also nicht im entferntesten eine Form der Freiheit von Seiten des Sohnes gegenüber derselben Offenbarung impliziere. Das ist der unlösbare Knoten der hegelschen Christologie, welche Schelling veranlasst einen Anfang zu denken, der sich nicht im Prozess der Offenbarung aufzulösen braucht und der die Möglichkeit sowohl zur Offenbarung wie auch zur Nicht-Offenbarung offen lässt. Im Gegensatz zu Hegel, der die göttliche Natur a priori in staurologischer Lesart denkt, die genau deswegen vom Bewusstsein erkannt und schließlich überwunden wird, erlaubt Schelling in seiner positiven Philosophie angesichts des historischen Dramas nur a posteriori ein Verstehen des Revelatum als Erzählung einer der unendlichen Möglichkeiten, die nach Cacciari ja aus der reinen Indifferenz Der Tenor einer solchen Überlegung erinnert in mehreren Punkten an die theologia crucis und die Staurologie Luthers, die von Hegel in eine Denkmethode übersetzt wurden, um den gesamten Weltengang zu lesen. 164 Nietzsche hat nämlich im Hegels Diktum: ›Gott ist ein Geist‹ den größten Sprung zum Unglauben gesehen, in: Also sprach Zarathustra, KSA, 4, 390; Vgl. Dell’Inizio, Anm. 1, 183 f. 165 Cacciari, Dell’Inizio, 193. 166 Ebd., 198. 163
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des Anfangs erfolgen. Entscheidend ist hier die metaphysische Unterscheidung, die Schelling zwischen dem Anfang und Gott, also zwischen Anfang und Anfangendem macht. Vor dem Hintergrund der historischen Offenbarung zeichnet sich für Schelling der Abgrund des Anfangs als Potenz des Seins wie auch des Nicht-Seins ab, des Schaffens wie auch des Nicht-Schaffens, des Sich-Offenbarens oder Nicht-Offenbarens. Der Anfang ist also für ihn eine noch ursprünglichere Instanz als Gott selbst, die absolut unterschieden ist und sowohl dem Sein des Vaters als auch dem Verbum vorangeht. Derjenige, der die Schöpfung zu setzen beschließt – dies aber keineswegs tun muss 167 – ist also Gott. In diesem Akt entscheidet er sich für das Vater-Sein, die Gestalt der Umsetzung des Reine-Potenz-Sein Gottes. Der Vater ist das von seinem Grund, vom Anfang, gänzlich getrennte Anfangende. Im Beschluss, die Schöpfung zu verwirklichen, macht der Vater als reine Potenz einen absoluten Unterschied der Beziehung in sich selbst und verwirklicht die immanente »Pluralität« des göttlichen Lebens. Der Vater als Vater zeugt den Sohn, der seinerseits, wenn er wirklich als real (und nicht nur logisch) unterschieden gedacht werden soll, auch ›außerhalb des Vaters‹ angesiedelt werden muss. 168 Die Figur des Sohnes ist also die eines Vermittlers des Vaters,
So schreibt Schelling in der Philosophie der Offenbarung: »Wäre die All-Einigkeit Gottes eine bloß zufällige, die etwa nur auf der Latenz jenes von Natur nicht Seienden beruhte, so daß sie mit dieser Latenz verschwände und nicht mehr bestünde, so wäre er nicht frei, das nicht Seiende zum Sein zu erheben. Weil aber seine All-Einheit eine geistige, und demnach durch nichts aufzuhebende ist, und in der materiellen Nichteinheit ebensowohl besteht als in der materiellen Einheit, so ist er frei, jenes Kontrarium der Einheit zu setzen und nicht zu setzen. – Der Gott, in dessen Gewalt es steht, auch das außergöttliche Sein zu setzen oder nicht zu setzen, der Gott, in cujus potestate omnia sunt (nämlich omnia quae praeter ipsum existere possunt), dieser Gott ist also der ganze Gott, nicht bloß eine Gestalt Gottes, sondern Gott als absolute Persönlichkeit. Diese absolute Persönlichkeit nun, bei der alles steht, die allein etwas anfangen kann (ich bediene mich gern solcher populären Ausdrücke; man sagt von einem Menschen, der sich in seinen Unternehmungen wie immer gebunden fühlt, er kann nichts anfangen, zum Beweis, daß die absolute Freiheit eigentlich darin besteht, etwas anfangen zu können) diese absolute Persönlichkeit also, von der alles ausgeht, die die alles anfangen könnende ist, diese können wir eben, weil sie die alles anhebende, der eigentliche Urheber ist, auch philosophisch den Vater nennen. Aber sie ist nicht nur in diesem allgemeinen Sinn der Vater, sie ist der Vater noch in besonderem Sinn. Denn indem sie das an-sich-Seiende ihres Wesens herauswendet, schließt sie eben damit das rein Seiende ihres Wesens (die zweite Gestalt) von dem aus, was ihr das Subjekt war und dieses reine Sein ihr vermittelte.« SW 2/3, 310 f. 168 Ebd., 319. 167
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Metaxy zwischen ihm und dem Geschaffenen, »der Erstgeborene jeder Schöpfung« (Kol 1,15). Wenn es für die Sichtweise Hegels und Schellings einen theologischen Vorgänger gibt, dann könnte man sagen, dass ersterer einige augustinische Motive aufgreift, Schelling hingegen sich auch an Themen von Origenes 169 orientiert: »Der größte Unterschied liegt nicht im Innern des trinitarischen relativum zwischen Vater und Sohn, sondern zwischen Gott und Vater. Gott überwindet die eigene immanente Spannung am Anfang mit der Entscheidung, Vater zu sein – und um wahrhaft Vater zu sein, setzt er einen Nachkömmling außerhalb seiner selbst, der wirklich Sohn sein wird und das Leben in sich aufnimmt, indem er Person wird […] Erstgeborener des außergöttlichen Lebens […], der Herr der Schöpfung (des außergöttlichen Seins) kann es nur am Ende werden, en eschátoi.« 170 Es ist also klar, dass Schelling auf diese Weise das Prinzip der trinitarischen κοινωνία (koinonìa) verletzt und sich hingegen einigen gnostischen Positionen annähert, weil ὁμούσιος (homoúsios) für ihn nicht streng als »gemeinsames Wesen des ›gesamten‹ Gottes und des Sohnes« gedacht werden kann. »Der Vermittler kann sich niemals als ὁμούσιος (homoúsios) mit dem verstehen, was er vermittelt, übermittelt, ankündigt.« 171 Die anti-hegelsche Absicht, auf radikale Weise die Trennung zwischen Vater und Sohn zu markieren, verleiht den Betrachtungen Schellings nicht wenige doketische Aspekte. Der Sohn wird als derjenige gedacht, der sich radikal gegen seine μορφὴ θεοῦ (morphè theoù) entscheidet, seinen ursprünglichen Zustand behält, um als Vermittler und Erstgeborener des außergöttlichen Seins den Vater mit der gesamten Welt zu versöhnen. 172 Die Überhöhung der Freiheit des Sohnes, dem die Möglichkeit freigehalten werden muss, sich eine vom Vater unabhängige Freiheit herauszunehmen, 173 führt zu einer Vgl. dazu Limone, Inizio e Trinità, 2013. Cacciari, Dell’Inizio, 201 f. 171 Ebd., 202. 172 Einer der entscheidenden Punkte, um die Christologie Schellings zu verstehen, ist die XXV. Lektion der Offenbarungsphilosophie, wo, der Autor den Hymnus in Phil. 2,5 ff. einer gnostischen Auslegung unterzieht: SW 2/3, 30–50. 173 »Die Versuchung zeigt aber, daß Christus, auch nachdem er schon Mensch geworden, in der Möglichkeit war, eine vom Vater unabhängige Herrlichkeit an sich zu reißen, noch viel mehr also in der Möglichkeit, in jener Herrlichkeit, in jener μορφῆ θεοῦ, die er schon vor der Menschenwerdung erlangt hatte, zu beharren.« SW 2/4, 50. 169 170
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echten Auflösung der ursprünglichen ὁμοουσία (homousía), die nun in eine teleologische und eschatologische Perspektive projiziert wird: Als zukünftiges Ergebnis des gesamten Erlösungsweges. Dieser doketische Einschlag der Christologie Schellings entspricht in Wirklichkeit einem Bedürfnis, die Christologie von jeder Form der Nötigung zu befreien, sodass die κένωσις (kénosis) als »ein einfacher Übergang, der den göttlichen Bereich keineswegs berührt« 174 verstanden wird. Ganz anders im Vergleich zu Hegel ist der Ton, mit dem Schelling das christologische Drama und die historische Entfaltung der absoluten Freiheit des Sohnes beschreibt, die den Versuchungen des Teufels ausgesetzt, im Garten Gethsemane und während der Passion auf die Probe gestellt wird. Weil er von dem Vater getrennt ist, hätte Christus ihn jeden Moment wegen seines Verzichts, instar Dei zu sein, verleugnen können. Er hat es aber aus freiem Willen nicht getan. Dass er seinen Willen frei in Richtung des väterlichen Willens lenken kann, ist das Ereignis, das den Sohn dem Vater wesensgleich ›macht‹, so dass der Vater nur am Ende dieses Weges sich selbst in der vom Sohn verwirklichten Freiheit reflektieren kann. Diese Verschiebung der ursprünglichen homousía in eine eschatologische Perspektive stellt die Voraussetzung der gesamten Christologie Schellings dar; sie ist gleichzeitig dessen kritischer Punkt. Wenn homoúsios sich nicht als ursprünglich herausstellt, sondern als Ergebnis der Entfaltung der Freiheit des Sohnes, wie soll es dann möglich sein, die Wesensgleichheit nicht akzidentiell zu verstehen? Im Gegensatz zu Hegel, der die Trennung (κένωσις) als intrinsisches Kriterium der göttlichen Natur-Freiheit annahm und so den Skandal des Kreuzes beseitigte, hebt Schelling die Trennung zwischen Vater und Sohn hervor, um die absolute Freiheit Christi hervortreten zu lassen, an der die Erlösung »hängt«; aber es gelingt ihm nicht, die ursprüngliche Untrennbarkeit der zwei en archè beizubehalten. Die Alternative zu diesen beiden Auslegungen ist laut Cacciari auch im Johannesevangelium erkennbar, das beide Einseitigkeiten zugleich gelten lässt 175 und schließlich als Alternative in zwei Formen des »Tragischen« auftritt: Das Tragische Hegels, der die Entfaltung der Erlösung als notwendigen Schritt von dem, was am Anfang war, sieht (Offenbarung); das Tragische Schellings, der die Entscheidung des Sohnes überhöht und Cacciari, Dell’Inizio, 203. Der Autor selbst beweist diese These, indem er im Detail einige Passagen des Johannesevangeliums analysiert. Vgl. Dell’Inizio, 209–216. 174 175
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damit die Erlösung akzidentiell macht. An diesem antinomischen Scheideweg zwischen Hegel und Schelling gewinnt Cacciaris hermeneutischer Vorschlag sein Profil. Für ihn handelt es sich darum, die Vorstellung vom Anfang und damit die Beziehung zwischen diesem Anfang und Gott, von der sich eine neue Definition von homoúsios ableitet, radikal zu überdenken. Im Gegensatz zu Hegel kann der Deus Trinitas nach Cacciari nicht der Anfang sein. Wenn das so wäre, ›löste‹ sich das gesamte Geheimnis von Anfang-Trinität in einer Person ›auf‹, dem Sohn, der die Essenz des Ganzen ›verkörperte‹ und offenbarte. Cacciari denkt, dass man die Unterscheidung von Anfang und Deus Trinitas ernst nehmen muss: »Weder der Vater noch der Sohn sind archè, sondern in ihr; sie können sich voneinander unterscheiden, weil sie unterschiedlich sind, sie sind vom Anfang Getrennte. (Es ist klar, dass diese Auffassung fast von der gesamten traditionellen Exegese abweicht). Der Deus-Trinitas ist absolut, weil er vom Anfang ab-solviert ist; und deswegen frei. Diese ›Seite‹ – die den Ursprung der Beziehung markiert, des nicht akzidentiellen relativum, zwischen dem Gott und dem Logos – ist für das gesamte innergöttliche Leben konstituierend und offenbart sich bis zur Inkarnation und dem ›verfluchten‹ Tod (als extremstem Gegenpol des Ursprungs) des Sohnes. Dabei trennt sich der Sohn nicht vom ursprünglichen Ganzen – da dieses Ganze in Wirklichkeit frei ist und schon in sich selbst voll unterschieden […]. Wenn sich der Sohn als vollkommen frei und unterschiedlich ausdrückt, dann ist damit sein Leben Symbol des gemeinsamen innergöttlichen Wesens.« 176 Der Anfang ist also nach Cacciari die Voraussetzung der Freiheit Gottes, die ohne solche Voraussetzung zur reinen Notwendigkeit würde. Folglich ist der homoúsios weder als gemeinsames Wesen zwischen den zwei göttlichen Personen (Hegel) noch als Ergebnis des historischen Schicksals des Sohnes (Schelling) zu sehen, sondern vor allem als gemeinsame Herkunft aus der reinen Indifferenz des Anfangs. 177 Nur vor diesem Hintergrund, dem so verstandenen Anfang, ist die Trennung von Vater Ebd., 217 f. Diesbezüglich bemerkt Ilario Bertoletti: »Die Wesensgleichheit, die für die Väter das Siegel (›die gleiche Substanz‹) der Beziehung zwischen den Personen der Trinität war, … [ist für Cacciari nicht] der Ausdruck des ewigen Bestehens des trinitarischen Gottes, sondern seines Seins als einer Figur des Anfangs.« Bertoletti, Massimo Cacciari, 2008, 51. In der Anm. 23 fährt Bertoletti fort: »Ein Theologe könnte feststellen, wie das Bestehen Cacciaris auf der In-differenz des homoúsios in Bezug auf die Personen der Trinität, eine modalistische und sabellianische Prägung erfährt.« 176 177
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und Sohn sowie der ab-solvierte Charakter der göttlichen Freiheit und damit die eigene Ek-sistenz, seine essenzielle ›Sterblichkeit‹ denkbar. 178 Das Nicht-Anfang-Sein des Deus Trinitas führt dazu, dass der Vater vollständig an der Inkarnation des Sohnes teil hat (so dass der ›gesamte‹ Gott sich in ihr offenbart) sowie am Kreuz des Sohnes (so dass der ›gesamte‹ Gott an diesem stirbt). Der ›Tod Gottes‹ wird in diesem Sinne weder in dialektisch augustinisch-hegelscher Weise noch in doketisch-schellingscher Weise als Tod nur des Sohnes gedacht. Wenn sich mit Schelling die Erlösung durch die Freiheit des Sohnes realisiert, dann kann, gegen ihn gesagt, diese Freiheit nicht als absolviert und einsam gedacht werden. In der Freiheit des Sohnes entfaltet sich das Leben des gesamten Gottes, der in seinem eigenen Wesen durch und durch getrennt-entschieden vom Anfang ist: »Die Entscheidung des Sohnes ist vollkommenes εἰκών (eikòn) dieses intrinsisch entschiedenen Seins, des ganzen innergöttlichen Lebens. In diesem Drama, das niemals die Möglichkeit des Nicht ausschließen kann, entscheidet sich der Sohn für eine Möglichkeit, damit Leben und Auferstehung sein kann. Aber im selben Augenblick, in dem er zu dieser Möglichkeit Ja sagt, gibt er auch der anderen ein Zeichen, untranszendierbar und unausweichlich, dass das gesamte innergöttliche Leben in der ek seines Existierens wieder aufgehen möge, in dem Anfang, der es Nicht ist, in seinem eigenen Nicht – damit sich das Mögliche seines radikal sterblichen Seins realisiert. In der Kénosis des Sohnes steht tatsächlich der ›gesamte‹ Gott und die Freiheit des Sohnes – der sich in seiner Freiheit für das Leben entscheidet – das gesamte Leben Gottes auf dem Spiel.« 179 Mit Cacciaris Exegese der Offenbarung verbindet sich demnach eine vertiefte Erörterung des Begriffs der Freiheit, genauer gesagt, der Freiheit des Anfangs, wie sie sich zwischen Vater und Sohn ereignet. Diese Freiheit des Anfangs ist als die Voraussetzung jeder Freiheit zu sehen. Sie ist der ambitus omnium, der Hintergrund, vor dem alle Mit-möglichen als solche gebildet und in sich zugleich stets möglich und unmöglich sind, in-different. Das führt dazu, dass der An-
178 »Der ›gesamte‹ Gott stirbt im Sohn – der ›gesamte‹ Gott ist sterblich und diese Sterblichkeit wohnt ihm inne, weil er ex-(s)istiert, von etwas herkommt, und dies ist für ihn und jede seiner Personen unvordenklich und ungreifbar. Seine Sterblichkeit stimmt mit seinem Nicht-Anfang-sein überein.« Cacciari, Dell’Inizio, 218. 179 Ebd., 219.
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fang, über alles Sein und jede Denkbarkeit hinaus, frei von jeder Bestimmtheit wie auch von jeder abstrakten Negation ist. Nun vollzieht sich die Freiheit des Vaters in der Freiheit des Anfangs (principium); er entscheidet sich frei für die Zeugung des Sohnes, er muss dies aber nicht tun. In dem ›Augenblick‹, in dem er diesen Akt vollzieht, zeigt er zugleich die Möglichkeit des Gegenteils auf. Auch in Bezug auf die Schöpfung ist der Vater ja das Anfangende, aber deswegen nicht principium desselben, was ihn zum ›Vater sein‹ zwingen würde und daher zum Schöpfersein. In jedem seiner Beschlüsse setzt er sich das, von und für was er sich entscheidet, voraus, also den Anfang. Die Freiheit des Sohnes ist zugleich ein Zeichen der väterlichen Freiheit und der gegenseitigen Herkunft aus der Indifferenz des Anfangs. Wie der Vater der Möglichkeit ausgesetzt war, ewig dem Anfang zugewandt zu bleiben, also weder den Sohn hervorzubringen noch die Welt zu schaffen, so ist der Sohn allererst der Möglichkeit ausgesetzt, sich in eine andere Richtung als der Inkarnation bestimmen und auch nach der Inkarnation dem väterlichen Willen den Rücken kehren zu können. Zusammengefasst: So wie sich der Vater von Anfang an für den Sohn und das Geschaffene entschieden hat (aber immer anders entscheiden konnte), so trägt der Sohn selbst die Spur dieser Entscheidung und wendet sich zusammen mit dem Vater frei zur Inkarnation für das Leben des Menschen. Mit der Rückkehr zu einem reinen Anfang als Hintergrund und Horizont des trinitarischen Denkens versucht Cacciari eine Antwort auf die Aporien zu geben, zu denen der hegelianische und Schellingsche Diskurs geführt hat. In diesem Sinne wird es nicht nur möglich, die Freiheit vom Prozess zu denken, sondern auch die Freiheit vom Offenbarungsprozess selbst zu denken und schließlich, in dem Buch Della cosa ultima, die Freiheit jenes Subjekts zu gewährleisten, das die Wahrheit der christlichen Offenbarung anerkennt. Die Kenose ist also weder wie bei Hegel eine dem gesamten Gott innenwohnende Notwendigkeit noch, und somit gegen Schelling, ein akzidentielles Ereignis, das nur eine der drei trinitarischen Personen miteinbezieht. Der Skandal ist also nicht, dass Gott stirbt, sondern dass der gesamte Gott sterblich ist, d. h. dass sein Wesen untrennbar mit dem NichtAnfang-Sein verbunden ist, also dem Ek-sistieren des Anfangs. Entscheidend für das Verständnis dieser Überlegungen ist der Partikel ›ek‹ des Verbes ek-sistere, der die Voraussetzung, wo Gott herkommt, anzeigt, ohne den am Ende die gemeinsame Freiheit Gottes selbst und damit die Einbeziehung des Vaters in das Kreuzesgeschehen nicht 88
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denkbar wäre. Die Vorstellung des Anfangs bestimmt also am Ende die Konzeptualisierung der trinitarischen Betrachtung, die sich sonst zwischen den Polen Hegel oder Schelling bewegen müsste. Für Cacciari könnte also nur ein solches Bild der göttlichen Freiheit der Freiheit des Menschen gerecht werden und damit zum Archetyp der Freiheit des menschlichen ek-sistere selbst werden. Jenseits der Orthodoxie einer solchen theologischen Leistung 180 bieten die trinitarischen Betrachtungen Cacciaris nicht nur einen Deutungsbeitrag in philosophisch-religiösem Sinn, indem ein Bild eines christlichen Geheimnisses wiederhergestellt wird, das philosophisch eben doch über die Synthesen des Idealismus hinausgedacht werden muss, sondern enthüllen darüber hinaus auf metaphysischer Ebene auch das Ausmaß der Begriffsgeschichte des Anfangs. In diese Richtung, so konnte bisher gezeigt werden, bewegt sich die Abhandlung Dell’Inizio, um dann zur Interpretation eines zweiten großen theologischen Begriffs gewendet zu werden, zur creatio ex nihilo.
3.5 Das Anfangsproblem in der Schöpfungstheologie Der erste Teil des Buches Dell’Inizio, dessen Hauptargumentationsstruktur hier nachvollzogen wurde, nimmt aus theologischer Sicht eine kritische Hinterfragung der Differenz zwischen Unum und Esse sowie zwischen Anfang und Deus Trinitas vor. Sie gelangt dabei bis zur Rehabilitierung der Freiheit der Inkarnation des Sohnes und der göttlichen Kenose gegenüber vorherigen, über eine lange Zeit eingespielten Denk- bzw. Interpretationsrichtungen. Die vorherige, indem sie den Anfang an das Konzept des origo knüpfte, bzw. Deus an Deus Esse, entwickelten eine Dialektik der Versöhung, die alle Dissonanzen als ›Augenblicke‹ der Offenbarung eines gegebenen und vorherseh180 Es ist deutlich, dass die von Cacciari ausgearbeitete trinitarische und christologische Argumentation, die das Verstehen des kerygma auf die Antinomien des Anfangs zurückführt, die dogmatischen Vorausetzungen der katholischen Theologie nicht annimmt (noch annehmen will) bspw. in Bezug auf das homoúsios oder auf die Einzigartigkeit und Universalität der Erlösung. In der italienischen Forschung gab es dennoch immer Theologen wie Piero Coda und Bruno Forte, die trotz ihrer grundsätzlichen Distanz zu den Annahmen Cacciaris dessen spezifische Beiträge zu schätzen wussten, wie zum Beispiel das Urteil Cacciaris über die interpretatorisch-Hegelianisierende Neigung eines großen Teils der Offenbarungstheologie: Vgl. Cacciari, Primo monologo filosofico. Colloquim salutis, 1996, 143–149.
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baren Ganzen verstehen wollten. Diese versöhnliche Form des Denkens spielt aber – laut Cacciari – die ›Tragödie‹ der christologischen Entscheidung wie auch der glaubenden Entscheidung zu einer ›göttlichen Komödie‹ 181 herunter. Die Konzeptualisierung des Anfangs, von dem gezeigt worden war, dass er nicht auf einen Begriff reduziert werden kann, bildet auch im zweiten Buch den entscheidenden systematischen Hintergrund. Dieser Text ist den Formen der Zeit und des Handelns gewidmet und vereint sich im dritten Buch symbolisch mit der Dimension des Letzten, des Eschaton. Weil selbstverständlich nicht alle der vielen verschiedenen Denkwege, die Cacciari im zweiten und dritten Teil seiner sechshundertseitigen Untersuchung entfaltet hat, wiedergegeben und gewürdigt werden können, soll hier nur der metaphysisch-theologische Diskurs in den Blick kommen, in dem Freiheit und Notwendigkeit der Schöpfung thematisch werden, deren systematische Entwicklung auch im darauffolgenden Werk Della cosa ultima weiter ausgearbeitet wird. Besonders interessant dürfte hier die Fragestellung zur Beziehung von der In-differenz des Anfangs, Gott und Schöpfungsakt sein – also die Frage, wie der Akt zur Bildung des Existierenden theoretisch gedacht werden soll. Im Verlauf des Dialogs dort, der den neuen Abschnitt mit dem Titel Die Weltalter einleitet und erörtert, widerspricht Cacciari ausdrücklich, immer seinen Thesen zur Kritik des missverstandenen Konzepts des Anfangs getreu, der Identifizierung von ἀρχῇ (archè) und ποίησις (pòiesis), jener Rückführung des Schöpfungsdiskurses auf einen Gott im Sinne einer αἰτία (aitìa), der so notwendigerweise mit seiner Wirkung verbunden gedacht wird. Für ihn sind weder das emanationistische Schema neuplatonischer und plotinischer Prägung, das mittels des Noùs die Identifikation von Anfang und Demiurg vermeidet, noch der von Ibn Sina versuchte Kompromiss mit dem Aristotelismus noch der islamische Neuplatonismus von Ibn’ Arabi in der Lage, einen Anfang zu denken, der nicht an sich theophanische Potenz wäre und auf teophanische Weise bestimmt werden müsste. 182 Vgl. ebd., 148 f. Cacciari, Dell’Inizio, 456–459. Indem er dieses Thema weiter in Della cosa ultima bearbeitet, führt Cacciari, nachdem er an die philonianische Vaterschaft der »fatalen Idee« weg (sic) der creatio ex nihilo« (343–344) erinnert hat, eine interessante Analyse durch zu den Positionen von Maimonides für die islamische Tradition und eine von Thomas für die christliche. In der Summa theologiae, I, q. 45, a. 1, setzt sich 181 182
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In der Wiederaufnahme des neuplatonischen Konzepts der Selbstentfaltung des Einen von Scotus Eriugena und seiner Art, sich mit der Frage des Nihil auseinanderzusetzen, sieht Cacciari einen nützlichen Anhaltspunkt für einen anderen Lösungsweg. Mit der kritischen Wiederaufnahme der Lehre Eriugenas in Bezug auf das Problem der Dreieinigkeit in sich selbst und zum nihil nimmt sich Cacciari vor, ein Paradigma zu finden, in dem Gott nicht durch den Logos der Schöpfung ab aeterno bestimmt ist. In der von Eriugena erdachten innertrinitarischen Dialektik ist der Sohn identisch mit der Selbstsetzung des Vaters, es ist seine Weisheit selbst. Kraft dieser über-wesentlichen Einheit zwischen Vater und Sohn kann der Sohn nichts anderes als vom Vater sein bzw. kann er nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt als Demiurg gesetzt werden, sondern muss in gleicher Weise als ewig gedacht werden. Alles, was geschaffen wird, wird im Vater, aber durch das Wort gebildet: »nihil extra ipsum est factum, quia ipse ambit intra se omnia, comprehendens omnia …«. 183 Von dieser über-wesentlichen Zeugung des Verbums leiten sich die archetypischen, in Gott vorhandenen Ideen »sine ullo temporali principio« ab und von diesen geht alles aus »in genera et species« (Div. nat 683 b). Gott ist also nicht der Akteur, der Raum und Zeit produziert, sondern der Schöpfer der Ideen und Gründe, so dass es nun möglich wird, eine ihm eigene Freiheit des Schaffens zu denken.
Thomas mit dem Problem der creatio ex nihilo auseinander und stellt fest, dass das ›Nichts‹ kein Stoff ist, aus dem Gott schöpfen könnte (»Nihil non potest esse materia entis, nec aliquo modo causa eius«). Der Rückgriff auf das nihil, um einen materiellen Grund anzugeben, wird von Thomas nur als eine Argumentationsstrategie angesehen, um den Diskurs »secundum modum intelligendi« zu ordnen. Die Schöpfung hingegen ist für ihn uno actu mit seinem Grund (»simul fieri et factum est«). Auf diese Weise versucht Thomas, das Problem zu umgehen, d. h. zulassen zu müssen, dass die Doktrin der creatio ex nihilo implizit annehme, dass das Nicht-Sein, das Nichts, als Seiend gedacht werde und folglich eine Art der Mutation Gottes infolge der Schöpfung annehmen müsste. Zu diesem Argument bemerkt Cacciari kritisch, dass mit »dem Grund auch schon die Wirkung gesetzt sei«, was auch bedeute, dass die Welt wie auch Gott ab aeterno existieren müssten. Dessen ist sich Thomas durchaus bewusst. Um den Umstand der Schöpfung in der Zeit zu rechtfertigen, greift er auf die Autorität des sola fide bzw. auf den Primat des göttlichen Willens zurück. Thomas – wie auch Maimonides – gibt nicht vor, beweisen zu wollen, dass die Welt einen Anfang gehabt habe, er glaubt es vielmehr, weil es eine offenbarte Wahrheit ist (dazu vgl. auch meine Interpretation im dritten Teil, Kap. II.2). 183 Johannes Scotus Eriugena, Hom. In Ioh. Prol., PL 122, 286b f.; vgl. Cacciari, Dell’Inizio, 465 f. Der Anfang als Freiheit
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Mit seiner Interpretation von Eriugena möchte Cacciari Gott nicht die Fähigkeit absprechen, etwas erschaffen zu können, aber er möchte diesen Akt auf eine der Möglichkeiten zurückführen, die in dessen eigenem Grund liegen. Wenn es so ist, wie Eriugena sagt, dass Gott als ›plus est quam ousía‹ (Div. nat 464 a) zu verstehen ist und er auf seinem Grund nicht das eigene quid (»quia non est quid«) kennt, dann heißt das, dass Gott bei der Schöpfung auf nichts Anderes als auf sich zurückgreift und er ex se schöpft, und dabei auch, dass Gott ex nihilo schöpft. Nach Cacciaris Lesart von Div. nat., 683b gleicht »de nihilo facit omnia« der Aussage »de sua superessentialitate producit essentias«. In diesem Sinne wird das Nihil nicht mehr als vorzeitliche Materie oder als abstraktes Gegenteil der Entität gedacht, sondern als eigene Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens des Seins, als Hintergrund der göttlichen eremìa und der Einsamkeit Gottes selbst. 184 Creare ex nihilo wird also nicht mehr als eine Schöpfung verstanden, die vom Nichts ausgeht, als ob dieses Nichts eine Art vorexistenzielles materielles Prinzip sei, wie diese Bedeutung von Parmenides, Aristoteles und der griechischen Philosophie im allgemeinen benutzt wurde. 185 Das Nihil muss nach Meinung Cacciaris vor allem als ›Raum‹ gedacht werden, in dem Gott sich selbst verdichtet, als ambitus und eremìa des göttlichen ex se, als Bedingung der Möglichkeit, durch die sich Gott kennt und sich selbst frei wählt, das Verbum zeugt und zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Seins in der Welt setzt. 186 Laut Cacciari ist Nihil daher nicht direkt mit Deus gleichzusetzen. Es ist eher der Abgrund der In-Differenz, in der Gott ist und dem Er sich im Akt der Schöpfung zuwendet, Wolke und eremìa, in der Er ewig lebt, die Garantie seiner Freiheit. Es ist das Nicht-Sein des Anfangs, regio umbrae für Gott selbst. Zum Vergleich von Eriugena und Schelling könnte man also sagen, dass Cacciari sich durch Eriugena einigen Thesen von Schelling annähert und diese gleichzeitig auf kreative Art neu denkt. An entscheidender Stelle klärt sich seine Sichtweise, insofern er sich nun dezidiert der kabbalistischen Idee des Tzimtzum zuwendet, die bereits Schelling in den Stuttgarter Vorlesungen aufgegriffen hatte. 187 Für Schelling zieht sich das UrEbd., 478. Sorabji, Time, Creation and the Continuum, 1983, 232 ff. Eine Untersuchung zur Entwicklung der Doktrin der creatio ex nihilo: May, Schöpfung aus dem Nichts, 1978. May erkennt in Teophilus und Irenäus die Begründer jener Doktrin (vgl. 177 ff.). 186 Vgl. Cacciari, Della cosa ultima, 2004, 343–350; 347 f. 187 Vgl. Habermas, Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – Ge184 185
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wesen in sein ursprüngliches Wesen zurück, um in seinem eigenen Nihil, »in völliger Indifferenz« für alle Zeiten zu ruhen. Cacciari schreibt: »Der Poietés, der Vater, ignoriert quid est, da sein Selbst non est quid; er ist unaufhörlich vom Punkt seines eigenen Nichtwissens angezogen. Indem er bis zum eigenen Selbst vorstößt, sich zu diesem zusammenzieht, wird seine Stelle zum Ort, bildet er die Öffnung für die Erscheinung der Entität. Indem er sich zum Nihil seiner absoluten eremìa zusammenzieht, schafft er den ›Archetyp‹ selbst, die allgemeine Möglichkeitsbedingung des Seins. Von daher sagt man, dass er ex nihilo schöpft. Ohne diese aionische Bewegung gäbe es nur ein göttliches Wesen, einen innergöttlichen Dialog zwischen den Wesen, aber keine Welt.« 188 An diesem Punkt der Überlegungen hebt Cacciari den negativen Charakter der Bewegung des Zusammenziehens von Gott auf – ein Zusammenziehen, das eigentlich die positive Bewegung seines Sich-Wollens (und Sich-kennenWollens) ist. Dadurch entsteht der Eindruck – wie auch an dem im Folgenden zitierten Passus zu sehen ist – dass Gott nichts Anderes entscheidet als dieses Sich-Wollen, das qua Auswirkung und Folge sich als Möglichkeitsbedingung für das Erscheinen des Seins erweist. Dabei geht Cacciari nicht ausführlich auf eine direkte Schöpfungsabsicht Gottes ein; vielleicht deshalb, weil das vorschnell als eine erneute Auflage des Ursache-Wirkungs-Prinzips gedeutet werden könnte. So schreibt er: »[…] gerade indem sich Gott in das unsagbare Licht zurückzieht, sich zum Anfang zusammenzieht, spiegelt er seine eigene Ungreifbarkeit: Er kann sich nicht sehen. Dieses Licht ist seine Finsternis. In dem Moment, in dem er sich so ›spiegelt‹, schafft er das Bild selbst der Kreatur, sein Bild. Das Sich-als-Finsternis-Wissen von Seiten Gottes (d. h. aus dem Grund des eigenen Nicht-Wissens schöpfend) ist der Mensch. Deswegen kann Gott nicht sein eigenes NichtWissen auslöschen, sich nicht mit der In-differenz des Anfangs identifizieren: So wird der Mensch (ek-sistiert der Mensch) auf dem Höhepunkt des göttlichen ›Zusammenziehens‹.« 189
schichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraktion Gottes, 1971, 172–227; Schulze, Zimzum – Gott und Weltursprung, 296–323. 188 Cacciari, Dell’Inizio, 480. 189 Ebd., 517. Der Anfang als Freiheit
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3.5.1 Kritische Bemerkungen Von dem hier entfalteten Blickwinkel aus könnten zwei Fragen an Cacciari gerichtet werden: Wenn die Schöpfung von Gott in dem Akt selbst gesetzt wird, mit dem er sich selbst will, wiederholt er dann nicht vielleicht auf andere Art dasselbe Ursache-Wirkungs-Prinzip, allerdings mit dem Unterschied, dass er die Schöpfungs-Wirkung mit dem Wissen, das Gott von sich haben will, zusammenfallen lässt? Zweitens: Wie rettet man die Behauptung der Mit-Ewigkeit von Gott und Welt vor der vorschnellen Zuschreibung eines göttlichen Charakters ebendieser Welt (Pantheismus)? Das Werk Dell’Inizio scheint keine ausreichende Antwort auf diese beiden Fragen zu geben, mit denen er sich näher erst im dritten Teil der darauffolgenden Schrift Della cosa ultima auseinandersetzt. Indem Cacciari erneut die These von Scotus Eriugena erörtert, derzufolge der Akt des Spiegelns und Sich-Wollens von Gott mit dem Entstehen der Welt als zusammenfallend gedacht wird, erklärt er vielleicht einleuchtender, inwiefern man von einem positiven Willen Gottes zur Schöpfung sprechen kann. Denn durch den Akt der Selbstspiegelung führt Gott die ursprüngliche ›Selbstverdoppelung‹ durch. In dem Willen-der-sich-will ist Gott also ›Zwei‹ und gründet, ohne auf eine Hyle zurückzugreifen, die Möglichkeit zur Schöpfung. Bis hierher scheint Cacciari nichts Anderes zu tun, als die Lehre von Augustin und Thomas zu wiederholen, derzufolge in Principio zugleich in Filio bedeutet. Um dieses theologische Schema nicht wiederholen zu müssen, das von ihm selbst mehrfach kritisiert wurde, muss er notwendigerweise eine außerhalb Gottes befindliche Instanz ausmachen, die die Bedingung seines Willens ist. Er muss sich also mit dem Woher des Willen Gottes, sich selbst zu wollen, beschäftigen. Wenn nämlich der Wille sich selbst gebildet hätte, dann trüge er die eigene Ursache in sich selbst, müsste also notwendigerweise Schöpfer seiner selbst sein und die Welt uno actu setzen – und so, mit anderen Worten, das UrsacheWirkungs-Prinzip, wenn auch ungewollt, wiederholen. Mit der von Cacciari entwickelten Lösungsstrategie, die auf die erste hier gestellte Frage zu antworten vermag, wird diejenige Argumentationsform aufgenommen, die schon in Bezug auf das Verhältnis von homoúsion und ousía verwendet worden war. So wie homoúsion nicht die gemeinsame Natur ist (ousía), sondern die gemeinsame Herkunft, so wird das Problem der Bestimmung des göttlichen Wil-
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lens nun auf den Anfang als Voraussetzung der Freiheit Gottes zurückgeführt. Der Anfang ist nicht Grund, sondern Ungrund, der ambitus jeder Potenz und jedes Gegenteils. Es (und nicht Er) ist das Nicht-Sein der unendlichen Freiheit, die als Möglichkeitsbedingung der koinonìa und der Unterscheidung der drei göttlichen Hypostasen auch die Bedingung des ewig möglichen Sich-Wollens Gottes ist 190 und daher Freiheitsbedingung (und nicht notwendiger Grund) der Schöpfung selbst bedeutet. Hinter dem innergöttlichen Leben ist also ein »Gott vor Gott«, ein Horizont absoluter Freiheit, der frei von jeder Bestimmung bedeutet und gleichzeitig Potenz zu jeder Bestimmung ist – und der Gott davor bewahrt, gezwungenermaßen Ursache der Schöpfung zu sein. 191 »Der Anfang ist nicht Nihil absolutum, sondern Allmöglichkeit, Possest, ewige Gegenwart aller möglichen Unendlichen.« 192 Gerade weil die Tria inseparabilia die absolute Frei190 Das, was für Scotus Eriugena das ›innere‹ Nicht-Sein-Gottes ist (Hom. In Ioh. Prol. 290c; 293a.), wird hier zum Nicht-Sein des Anfangs. 191 Unter Berücksichtigung dieses so entfalteten Hintergrundes, also jenem »vor Gott«, muss Cacciari zufolge die Frage nach dem Unde Malum verstanden werden. Er schlägt vor, damit die bisherigen Antworten der christlichen Theologie hinsichtlich der grundlegenden Frage der Theodizee zu überwinden. Insgesamt handelt es sich um ›großartige Mythen‹, die eine endgültige Niederlage des Bösen in Christus garantieren, auch wenn sich der Mensch ständig mit der Leere, dem Nichts, dem Tod auseinandersetzen muss. Die christliche Dogmatik spricht von einer ›Machterscheinung des Bösen‹, das Gott als Teil eines größeren Bildes zulässt. Wie soll man einen Gott, der sich des ›Bösen‹ bedient, preisen? Eine solche Antwort spitzt die Frage nach der Theodizee lediglich zu und zeichnet ein dunkles Bild von Gott, das dem Gewicht der menschlichen Existenz nicht gerecht wird. Cacciari ist hingegen der Meinung, dass das Böse als ewige, mit dem Anfang gesetzte Möglichkeit verstanden werden müsse, dass das Sein auch nicht sein könne und sich Gott also auch nicht für die Option zum Leben entscheiden könne. Gott selbst erlebt also eine ewige Agonie und einen Kampf (ἀγών / agòn) mit dem Bösen, er ist freie Stellungnahme für das Sein und gegen das Nicht-Sein. Das Böse muss also auf ewig besiegt werden, damit die Schöpfung ist und im Sein bleibt. Wenn das nicht so wäre, dann könnte Gott nach der Schöpfung und der Erlösung niemals wirklich frei bleiben. Nicht einmal das Kreuz des Sohnes, das sicher das stärkste Eindringen des Lebens in den Tod darstellt, löst für immer das Drama des Bösen in Gott (gegenüber dem Anfang) und in der Zeit: Nicht für Gott, weil er seinerseits immer die Möglichkeit offen lassen muss, dass an einem bestimmten Punkt das Nicht-sein-Lassen überwiegt; nicht für den Menschen, weil in dem Moment, in dem er die eigene Freiheit als einen selbstreferenziellen Besitz versteht, ihr den Charakter der Gabe abspricht und die mit einer solchen Anerkennung verbundene ›Verantwortung‹. Der agòn gegenüber dem Bösen, sich immer wieder neu für das Leben zu entscheiden, verbindet daher das Leben Gottes mit dem des Menschen. Siehe zu diesem Thema: Cacciari, Della cosa ultima, 351–371. 192 Ders., Dell’Inizio, 349.
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heit erleiden, die die Bedingung für deren eigene Bildung ist, kann Deus Trinitas nicht der Anfang sein. 193 Was die zweite Frage betrifft, bei der es um die Gleichewigkeit von Gott und Welt geht und um die möglicherweise pantheistische Färbung eines solchen Arguments, erweisen sich Cacciaris Ausführungen in Übereinstimmung mit dem bisher Gesagten. Der Grad der Differenz in der Beziehung zwischen Anfang und Deus Trinitas, der für den ersten den Hintergrund bildet, für den zweiten aber die Voraussetzung ist, tritt erneut mutatis mutandis im Verhältnis zwischen Gott und der Welt auf. Es stimmt, dass im gleichen Akt, in dem Gott sich-selbst-will, sich die Welt gibt, aber ebendies verneint nicht, dass die Welt von Gott gewollt sei, also auf den Akt des Willens Gottes bezogen sei. Es bleibt eine unlösbare Asymmetrie zwischen Gott und Welt bestehen, so dass die Welt weder aus der gleichen Substanz wie Gott noch ihm gleich sein kann (und daher ›göttlich‹). Aus Cacciaris Perspektive betrachtet, scheint es dennoch nicht so zu sein, dass man die Vorstellung einer Gleichewigkeit der Welt pantheistischer Prägung fürchten müsste. 194 Wovon sich die jüdisch-christliche Tradition hingegen fernhalten müsse, so Cacciari, ist die Behauptung der Notwendigkeit der Welt. Eine solche Doktrin käme erneut einer Logik zu gute, in der sich vom Ursprung über die Inkarnation und Erlösung bis hin zur eschatologischen Vollendung alles in einer Kette dialektischer Etappen hegelianisierender Assonanzen zusammenzöge, bei der es keinen Raum für die Freiheit Gottes wie auch für den Menschen gäbe.
3.6 Das Anfangsproblem in der Erlösungstheologie Der Blick auf Cacciaris Denken hat sozusagen die Themen der klassischen Traktate der Dogmatik bzw. das De Deo uno et Trino und das De Deo creante ganz besonders hervortreten lassen; weniger jedoch, so fällt auf, finden sich in Dell’Inizio Spuren zum Thema De Gratia oder De praedestinatione, geschweige denn zu De anima. 195 Festzuhalten bleibt, dass ein Denken des ὁμούσιος (homoúsios) nicht als ›gemeinBei der Beschreibung der Beziehung zwischen Anfang und Deus Trinitas spricht Cacciari von der »Nostalgie« Gottes gegenüber der Freiheit. Ebd. 194 Ebd., 347. 195 Vgl. dazu: Forte, Dell’Inizio: dialogo con Cacciari, 87 ff. 193
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same Essenz‹ zwischen den Personen zu denken ist, sondern als ›gemeinsame Herkunft‹ aus der In-Differenz des Anfangs. Dieser Ausgangspunkt erlaubt es, die Einheit sowie die Unterscheidung zwischen den drei Personen radikaler zu konzeptualisieren, so dass die Erlösung weder absolut (Hegel) noch zufällig (Schelling) gedacht werden muss. Die grundlegende Differenz, die jetzt zum Symbol des innergöttlichen Wesens geworden ist, führt dazu, dass Gott als Ganzes – als Nicht-Anfang-Sein – sich frei ›sterblich‹ machen, Welt gebend sein kann bzw. absolut vom Anfang getrennt ist. Dieser Charakter als ein Hin zu einer möglichen ›Sterblichkeit‹ wurde auch Gottes Abgrund des Nicht-Wissens genannt, dem die tiefe Ignoranz des Menschen, imago Dei, korrespondiert und dabei niemals sich selbst durchsichtig, für sich selbst völlig klar sein wird. Der göttlichen Spannung des Zusammenziehens zur eigenen ἐρημία (eremìa) entspricht logischerweise die Möglichkeit der annihilatio des Sohnes und auch das immer größere Risiko der annihilatio des Menschen. Mit dieser neuartigen Verknüpfung von Übergängen konnte Cacciari, so wurde gezeigt, einerseits die Vorstellung des Anfangs – jenseits jeden Ursprungs – klären und gleichzeitig den christlich theologischen Kern vom Modell hegelianisierender Prägung befreien; andererseits aber, das ist nun genauer zu betrachten, verleiht diese Vorstellung dem gesamten Rätsel der göttlich-menschlichen Freiheit einen definitiv tragischen Stand. Unter den vielen Bildern der antiken Mythologie und der langen Geschichte der Religionen stellt die Verlassenheit des Sohnes am Kreuz das beeindruckendste Zeichen der tragischen Freiheitsfigur Gottes dar. Denn anders als in der üblicherweise vertretenen Christologie wird von Cacciari gerade der Gestalt Jesu die bedeutsamste aller Rollen in der Vielfalt göttlicher Erscheinungen der vorchristlichen Geschichte und Mythologie zugeschrieben. 196 Für ihn liegt der Grund für diese Einzigartigkeit Christi in der Art des ihm eigenen Bewusstseins, das am Kreuz zum Ausdruck kommt, wie auch seiner Freiheit. Sie wird also von ihm als eine Freiheit verstanden, die sich endlich von den notwendigen Zusammenhängen der Auffassungsweisen klassischer Theologie gelöst habe; und zwar als eine solche, mit der 196 Cacciari schreibt: »Ein Prophet ist sich dessen gewiss, was er behauptet; er scheint Sich seines Selbst gewiss. Ein erschütterndes Maß an Gewissheit, dass ich nie zuvor erlebt habe. Er sagt nicht: Ich verkünde euch die Wahrheit, sondern: Ich bin die Wahrheit.« Ebd., 532.
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hinsichtlich ihres Vollzugs »die reine Möglichkeit ihres Gegenteils offen blieb«, 197 mit der also hätte abgelehnt werden können, nur auf den Vater hin zu handeln und sich als einzigen Herrn anzusehen. In diesem Sinne spricht Cacciari dem Sohn die Fähigkeit zu, »all-möglich« zu sein, sich frei in verschiedene und nie vorhersehbare Richtungen zu orientieren. So erklingen seine Passion und sein Schrei am Kreuz »Elì, Elì lema sabactani« (Mt 27,46) von neuer tragischer Potenz. Aufgrund dieses absoluten Bildes christologischer Freiheit, ein unter den Religionen und der antiken Mythologie einzigartiges Bild, bestimmt Cacciari die Gegenwart als Zeitalter des Sohnes 198 – eine Zeit, die sich bis zum Letzten, bis zur Apokalypse ausdehnt. Der Höhepunkt dieses Zeitalters wird durch die radikale Verlassenheit in der Passion und in extremis am Kreuz verdeutlicht: In jedem Augenblick hatte der Sohn vor sich die Möglichkeit offen, den Vater zu verlassen und damit die Entscheidung für das Leben aufzugeben, wissend, dass gerade auch er verlassen werde. Das ist die Gestalt der göttlichen Freiheit als Mit-möglichkeit der Gegensätze, die auch dem Menschen ein neues Maß verleiht, nämlich »nicht zu glauben – und damit nicht an das Leben zu glauben – und die Möglichkeit zu glauben, nicht trotz, sondern innerhalb und für jenes Verlassen, wie es der Sohn lebt«. 199 Mit anderen Worten: Es ist so, als ob in der Figur der Erlösung selbst eine ursprüngliche Aporie enthalten sei, das Mitverwickelt-sein von Möglichem und Unmöglichem, von Anerkennung und Verkennung, eines möglichen Glaubens und gleichzeitig des radikalsten Nihilismus. 200 Hier hätte man nun eine Phänomenologie erwartet, die die Formen der Teilhabe der geschaffenen Freiheit und ihrer eigenen Widersprüche an der Mitmöglichkeit des Anfangs 201 genauer ausführt. Trotz der vom Autor selbst ausgesprochenen Einladung, den zweiten und dritten Teil von Dell’Inizio als
Ebd., 643. »Età del Figlio« ist der vom Autor gewählte Titel für den gesamten dritten Teil des Buches, in dem er eine Phänomenologie der Freiheit Christi entwickelt, »sich zusammen mit dem Vater einem neuen Anfang zuzuwenden statt die Entität auf den Vater zurückzuführen.« Ebd., 483. 199 Ebd., 645. 200 Ebd., 617 f. 201 Das sieht auch Bruno Forte so, der das Fehlen der De predestinatione, bzw. einer spezifischen Diskussion der Möglichkeitsbedingungen des freien Seins und der Sünde in Cacciaris Abhandlung beobachtet: Forte, Dell’Inizio: dialogo con Cacciari, 1991, 89–91. 197 198
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Phänomenologie des tragischen Handelns 202 zu lesen, scheint der Philosoph auf diesen Seiten vielmehr nur die Prolegomena zu einer Phänomenologie im Blick gehabt zu haben. Denn er führt sie an dieser Stelle nicht weiter aus, sondern eher in Della cosa ultima sowie im weiteren Verlauf seiner ethisch-politischen Schriften, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird. Das Nicht-Sein des Anfangs, das sich vor dem Hintergrund des innergöttlichen Lebens als Bedingung der Freiheit des Vaters zur Schöpfung abhebt, stellt auch den Horizont der Möglichkeiten der wirklichen Freiheit des Sohnes dar, sich für das Leben zu entscheiden, und ist schließlich das Kriterium der gleichen Freiheit des Menschen. Dies ist als Ergebnis festzuhalten. So schreibt der Autor: »Uns unbedarften, kleinen Erben wurde ein Zeitalter gegeben, um uns zu ›entscheiden‹. Die Apokalypse der Kinder wird ihre zur Mit-möglichkeit fähige Offenbarung sein. Das bedeutet das ›capax divini‹. Es ist die pure Zukunft dieses Zeitalters – auf das der Sohn selbst wartet, weil es sein Pleroma betrifft.« 203 Deswegen gibt es selbst zwischen der Offenbarung des Sohnes (Erlösung) und der eschatologischen Vollendung keine notwendige Beziehung, keine garantierte glückliche Vollendung. Cacciari denkt das Eschaton als »Apokalypse aller Mitmöglichen« 204 und lässt damit die Möglichkeit offen, dass der Mensch die Offenbarung ablehnt, sich in die entgegengesetzte Richtung zur Dimension der im Sohn doch gerade manifestierten Freiheitsmöglichkeit bestimmt. Am Ende des Weges besteht also keine Notwendigkeit, dass der Mensch zu Gott zurückkehrt, dass die Freiheit der Kinder die Freiheit des Sohnes nachahmt. So wie kein notwendiger Exitus den Ursprung der Schöpfung darstellt, so hat die Inkarnation ihre Wurzeln in keinem notwendigen Adventus und bezeugt kein garantierter Reditus deren Vollendung. Die ganze Eschatologie Cacciaris ist in einer usque ad finem offenen Frage zusammengefasst, die Christus einmal wie in einem Selbstgespräch sich stellte: Cum venerit Filius hominis, putas inveniet fidem in terra? (Lk 18,8).
202 Cacciari, Risposte, 150. Zur praktischen, in Dell’Inizio implizit enthaltenen Philosophie vor allem im dritten Teil der zweiten Sektion des Buches (Le forme del fare); vgl. Volpi, »Fare« senza radici, 1991, 235–243. 203 Cacciari, Dell’Inizio, 682. 204 Ebd., 679.
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3.6.1 Kritische Bemerkungen und Wiederaufnahme des Problems der göttlichen Natur Die Argumentation von Dell’inizio soll die Gültigkeit, den reinen Anfang als »indifferentes Allmögliches«, als nicht auf einen Begriff zu reduzierende Instanz denken, die die Möglichkeit einer Philosophie wie auch einer Theologie antreibt, die darauf verzichtet, einen a priori vorher festgelegten Diskurs zu führen und nach den Formen der dialektischen Versöhnung vorzugehen. Wollte man das itinerarium mentis des Autors knapp zusammenfassen, könnte man sagen, dass es sein Ziel gewesen sei, den Begriff des Anfangs vom Zwang des Anfangen-müssens befreien wollte, folglich das christliche Geheimnis von der Notwendigkeit der Schöpfung, der Erlösung selbst und der eschatologischen restitutio. 205 Um diese Intention zu verwirklichen, begibt sich der Autor eigenständig auf einen systematischen philosophisch-theologischen Denkweg durch die westliche Philosophie: Von Platon zum Neuplatonismus, von den Kappadokischen Vätern zu Augustinus und Johannes Scotus Eriugena, von Kant zu Hegel und Schelling, um nur einige Autoren zu nennen, die in der Argumentation eine Rolle spielen. Es ist also nicht verwunderlich, dass die metaphysisch-theologische Argumentation eines erklärten Agnostikers so viel Bewunderung und Kritik vieler Philosophen und Theologen in Italien hervorgerufen hat, wobei die Zeitschrift »Filosofia e teologia« die wichtigsten Beiträge und Rezensionen italienischer Philosophen und Theologen zu der Schrift einschließlich der jeweiligen Antwort Cacciaris in einer Ausgabe gesammelt 206 hat. Ein Teil der Kritik, die von Sergio Givone und Claudio Ciancio vertreten wird, konzentriert sich auf das Verhältnis von Freiheit und Anfang. Ciancio verstärkt in der Art von Pareyson eine Umkehrung der Position des späten Schellings und denkt »die Freiheit im Anfang anstatt sie als freies Spiel von ›Existenz‹ und ›Wesen‹ zu deduzieren«. 207 Givones Kritik richtet sich auf die Zweideutigkeit eines Ausdrucks von Cacciari: »Im Anfang selbst die Freiheit denken«. 208 Laut Givone kann das sowohl bedeuten, dass die Freiheit im Anfang wie 205 Es wird auf die letzten Wortwechsel im Dialog De Redditu am Ende der Schrift verwiesen: Vgl. ebd., 678–684. 206 Bei der Vorstellung von Cacciaris Thesen wurden seine Erklärungen miteinbezogen: Dibattito. Questioni a Cacciari. In: Filosofia e Teologia, 1 (1993), 141–154 207 Ebd., 142. 208 Givone, Fra necessità e libertà, 1991, 232 ff.
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ein Synonym desselben ist (Freiheit als Anfang) oder dass der Anfang jene »Dimension [ist], die der Freiheit selbst vorangeht.« 209 Da Cacciari auf jene zweite Interpretation anspielt, fragt sich Givone, ob der eschatologisch-systematische Abschluss bei Cacciari, nach dem im Eschaton alle Mitmöglichen enthalten seien und sogar das Scheitern der Erlösung selbst (als eines der Mit-möglichen), nicht gleichzeitig bedeute, dass »im Anfang alles für immer gerettet sei«, 210 was den tragischen Charakter der Entscheidung aufhebe. Jede Realisierung der Freiheit wäre in der In-differenz des Anfangs als eines der Mitmöglichen wieder-enthalten. Cacciari schätzt die Beobachtungen Ciancios und antwortet auf die kritischen Vorbehalte Givones, indem er betont, dass, obwohl in seiner eschatologischen Sicht eine Versöhnung zwischen dem Ersten und dem Letzten stattfände, eine glückliches Ende keineswegs garantiert sei, »da nichts garantiert, dass die Kinder dem außergewöhnlichen Maß an Freiheit, das der Sohn in der Geschichte verkörpert hat, entsprechen […] Nicht also die als willkürlich angesehene Entscheidung ist tragisch – diese Situation ist im Gegenteil die Verneinung der Tragödie – sondern die in und vor den ›vielen Formen des Göttlichen‹ wirkende Entscheidung. Und es ist immer eine schuldige Entscheidung, weil sie immer vor deren SichWidersprechen, verantwortlich ist«. 211 Im Gegensatz zu Givone scheint es von unserem Standpunkt aus legitim zu sagen, dass der aus der eschatologischen Abhandlung Dell’Inizio gewonnene Eindruck sehr viel tragischer ist, als es scheint. Wie bereits festgestellt, gibt Cacciari bei seinem Vorhaben, das Mitmögliche als Hintergrund desselben Eschatons hervortreten zu lassen, der Beschreibung des positiven Charakters des göttlichen Willens zur Schöpfung und des menschlichen, sich für das Leben zu entscheiden, wenig Raum. Nur in Della cosa ultima (2004) führt er seine Überlegungen hierzu zu Ende. In der Schrift von 1990 wird der ›positive Charakter‹ der Entscheidung ausdrücklich nur aus christologischer Sicht behandelt, nämlich in Bezug auf die Freiheit des Sohnes, die sich zum tragischen Inbegriff/Inbild der menschlichen Freiheit und folglich der Gegenwart, dem »Zeitalter des Sohnes«, erhebt. Eine weitere Erläuterung der christologischen Freiheit als positive Dimension des menschlichen Mit-möglichen wäre im letzten Teil des escha209 210 211
Ders., Questioni a Cacciari, 142. Cacciari, Risposte, in: ebd., 143. Ebd., 150.
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tologischen Diskurses wünschenswert gewesen, um ein Missverstehen der menschlichen Freiheit nur im Sinne des reinen Zufalls, als nicht theologisch orientiertes und letztendlich zufälliges Mitmögliches zu vermeiden. Auch Gianni Vattimo hat sich zur Unklarheit eines Kriteriums bei Cacciari, das die menschliche Entscheidung lenkt, geäußert. 212 Vattimo kritisiert offen die Gründe, aus denen sich Cacciari für Schelling anstelle von Hegel entschieden habe. Seiner Meinung nach sei diese Entscheidung nur dem Umstand geschuldet, dass »man sich von Hegels selbst widersprüchlicher Idee des absoluten Anfangs löst, indem der Anfang als ein den Prozess nicht transzendierender NichtAnfang gedacht wird, als reales, grundloses, logisch nicht erforderliches Ereignis. Ausgehend von dieser Stelle vollzieht Cacciari wie Schelling einen Übergang, der für seinen Inhalt nicht logisch argumentiert werden kann, zu einer Philosophie, die eine Auslegung der christlichen Offenbarung ist […] Ein im Abstrakten der Begriffe und deren logischer Denkbarkeit oder Nicht-Denkbarkeit begonnener Diskurs mündet in einer tautologischen Betrachtung eines göttlichen Dramas, das sich über unseren Köpfen abspielt; und es ist hier darauf aufmerksam zu machen, dass in einer so dichten Spekulation über das Geheimnis der Trinität der Heilige Geist seltsamerweise nicht vorkommt. Vielleicht weil es eine zu ›tröstliche‹ und zu ›abschließende‹ Figur ist, entgegen der Perspektive eines Prozesses, der keine Vollendung finden kann, weil er niemals die Transzendenz des Anfangs erschöpft […] Es lässt sich also fragen: Hat es wirklich Sinn, einen so kühnen philosophischen Weg zu bahnen, nur um das logische Bedürfnis zu befriedigen, den Anfang ohne Widerspruch denken zu können? Ist der positive schellingianisch-cacciarische Diskurs denn wirklich logischer?« 213 Cacciari nutzt die Antwort auf Vattimos Urteil, dessen polemischen Charakter er erkennt, um seine Position noch genauer zu erklären. In primis bemerkt er: »Ich wüsste die Kritik Vattimos als nicht anders als Verblendung zu beurteilen, wenn er meint, ich dächte den Anfang als den Prozess transzendierend
212 »Der Sinn, Schelling gegen Hegel auszuspielen, liegt darin, eine allgemeine Theorie des Seins als offene Alternative vorzuschlagen, die nicht tröstet, sondern zur Entscheidung aufruft. Die Umstände dieser Entscheidung bleiben aber im Dunkeln; und die wenigen historisch konkreten Anwendungen in Cacciaris Buch sind alles andere als revolutionär.« Vattimo, ebd., 144. 213 Ebd.
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(sic)«. 214 So wie der Anfang von Cacciari gedacht wird, die große Aporie der ersten Hypothese des Parmenides durchlaufend, ist er nicht einfach nur eine absolute Andersartigkeit, nicht das abstrakte und transzendierende Eine; mit Cusanus könnte man sagen, dass für Cacciari »das absolut Andere eher als Nicht-Anderes denn als Anderes vom Anderen selbst gedacht werden kann, also als Non-aliud […] Der Anfang kann nicht als getrennt vom Sein gedacht werden, gerade weil es dessen absolut Anderes ist«. 215 Auf den vorangehenden Seiten, die der Argumentation in Dell’Inizio gewidmet waren, konnte man sehen, wie jener Urgrund gerade als Hintergrund der In-differenz und Allmöglichkeit den Horizont bildete für die gleichzeitige Existenz der Widersprüche als Widersprüche, ohne ipso facto eine Rolle der Versöhnung spielen zu müssen. Das Nicht-Sein des reinen Anfangs transzendiert den Bildungsprozess der Entität sowie die Ausübung der göttlichen und menschlichen Freiheit nicht, es ist vielmehr deren Voraussetzung. In Bezug auf Vattimos Urteil zum Rückgriff auf die positive Philosophie Schellings in Dell’Inizio erläutert Cacciari seine Distanz zu Schelling. Der Sinn der Entscheidung von Gott, nicht der Anfang zu sein, bedeutet für Cacciari nicht nur den ›Tod‹ Gottes – wie Schelling meint – vielmehr »die extreme, zwingendermaßen in der Allmöglichkeit des Anfangs enthaltene Möglichkeit, dass das Mögliche nicht ist und dass das Mögliche desselben innergöttlichen Lebens unmöglich ist.« 216 Das ist das Ergebnis von Cacciaris Betrachtungen, die sich nicht nur von Schelling unterscheiden, sondern auch sehr deutlich die Grenze zu jeder christlichen Perspektive markieren. Was das Fehlen einer klaren Bezugnahme zur Figur des Heiligen Geistes in der trinitarischen Abhandlung in Dell’Inizio betrifft – eine Bemerkung, die nicht nur Vattimo an Cacciari richtet 217 – verweist Cacciari auf die Stellen, in denen er genauer von der Liebe als relatio non adventitia spricht, um dann anschließend noch näher auf den Sinn seiner Pneumatologie einzugehen. Aus seiner Perspektive ist der Heilige Geist kein apriorisches Prinzip der koinonia zwischen Vater und Sohn, sondern eher als Instanz gedacht, die die absolute Un-
Ebd., Anm. 1, 146. Ebd., 146. 216 Ebd., 147. 217 Vgl. Baget Bozzo, Il Secolo XIX, 24 gennaio 1991; Coda, Intorno all’»Inizio«, 51– 67; 65. 214 215
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terscheidung von Vater und Sohn garantiert. Es handelt sich also um eine Unterscheidung, die nicht mit einer dialektischen Mediation der ersten beiden trinitarischen Personen gelöst wird. Für Cacciari ist der Geist also »erschütterndes Zeugnis der extremen Möglichkeit, welche ›das Mögliche an der Wurzel selbst verneint‹ (Vitiello), so dass auch das Nicht-Leben im göttlichen Herzen siegen kann. Der Geist offenbart sich im Moment der völligen Verlassenheit, die nicht real wäre (und damit nicht Tragödie wäre), wenn sie nicht auch die Möglichkeit des Verlassens wäre. In jenem Moment findet der Sohn wirklich etwas auf: ein Verlassen sowie wirklich die Fähigkeit [den Vater] Verlassen zu können – in ebenjenem Moment folgt er, sagt ja zum Abwesenden, zu jenem, der sich in der Abwesenheit befindet. Für den Geist gibt es keine Liebe, außer für das, was er verlässt – denn nur in diesem Fall ist die Liebe des Sohnes wirklich unbegründet, also eine solche. Und vielleicht gibt es für den Geist keine Liebe für den Vater, außer für den, von dem er verlassen wurde – weil sie hier auch wieder völlig unbegründet ›aufbricht‹.« 218 Es ist leicht zu sehen, dass eine solche Exegese der christlichen Offenbarung eine unmissverständliche Kritik von Vertretern der italienischen Theologie hervorgerufen hat, vor allem von Bruno Forte und Piero Coda in zwei ausführlichen Rezensionen von Dell’Inizio. Sowohl Forte als auch Coda haben durchaus die »spekulative Vitalität« der Philosophie Cacciaris anerkannt und schätzen die »ernste Gewissenhaftigkeit« hinsichtlich seines Versuchs sehr, in seinem Diskurs Philosophie und Theologie als zwei »Seelen« des europäischen Denkens zu verbinden. 219 Aus der Sicht katholischer Theologen wollten und konnten sie auch nicht über die Diskrepanz zwischen den Thesen eines Philosophen und der orthodoxen, langjährig eingeübten und geprüften Betrachtung des trinitarischen und christologischen Dogmas einfach hinweggehen. Der entscheidende Punkt in Bezug auf diese Diskrepanz, aus der sich eine Reihe von Folgen ergibt, ist die Art, das Incipit bei Johannes zu verstehen. Das »ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος / en archè en ho Logos« gleicht im christlichen Sinne der Aussage, der Anfang ist Beziehung und zwar eine Beziehung der Agape zwischen Vater und Sohn, was den Anfang zu einem ewig Anfangenden macht. 220 In diesem Versprechen und positiven Charakter grün218 219 220
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Cacciari, Risposte, 151. Coda, Intorno all’»Inizio«, 51; Forte, Dell’Inizio: dialogo con Cacciari, 84. Vgl. Forte, ebd., 88.
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det der Theologe seine Betrachtungen zu einem Gott, in dem, wie es im 1. Johannesbrief heißt, gar keine Finsternis ist (1 Joh 1,5). Aus diesem Grunde überschreitet ein Diskurs zum Unterschied zwischen Anfang und Ursprung, zur eremìa und göttlichen Einsamkeit oder sogar zur Finsternis und zum Nichts-in-Gott sozusagen die Grenzen des etablierten theologischen Diskurses. Das gilt auch für den christologischen Diskurs von Cacciari, demzufolge der Sohn, weil ihm die In-differenz des Anfangs zu eigen zu werden vermag, er sich frei zum reditus wie auch zum Nicht-reditus bestimmen kann. In diesem Sinne bemerkt Piero Coda: »Der Ort der christologischen Freiheit liegt in der Trinität, im trinitarischen Raum«. 221 Die Freiheit des Sohnes ist daher zum reditus hin orientiert und nicht genötigt, weil er »ein Wahrheitskriterium hat, auf dessen Grundlage er sich bestimmt.« 222 Der Theologe Bruno Forte hat offenbar die anti-hegelianische Absicht Cacciaris verstanden, nämlich den notwendigen Kreis der Offenbarung und damit die Rückkehr eines gesicherten reditus zum Identischen durchbrechen zu wollen. Und dennoch fragt er sich: »Um welchen Preis wurde der Kreis der ›ewigen Rückkehr‹ durchbrochen? Um den Preis, dass kein Glauben möglich ist und es daher – im stark biblischen Sinne – keine rettende Wahrheit gibt. Damit verwandelt sich von einer Religion der Hoffnung, die sich auf die zu Ostern voll offenbarte promissio inquieta gründet, in eine Religion der In-differenz.« 223 Für Cacciari ist diese Kritik von theologischer Seite nicht neu, so dass er selber bereits viele Argumente in den Mund seiner Figur »B« (Theologe) legt, die sich mit dem Philosophen (»A«) in den Dialogen des Abschnitts Deus Trinitas auseinandersetzt. 224 Cacciari möchte sich auch nicht die Kleider des Theologen oder christlichen Philosophen anziehen, deren »erfahrendes Denken« vom Revelatum ausgeht. Er hat hingegen die Absicht, den Einfluss einer bestimmten Deutung des Anfangs auf die christlich theologische Spekulation ermessen und dabei die implizit damit verbundenen Folgen für das Bild von Gott und dem menschlichen Schicksal explizit machen zu wollen. Für Cacciari gehen die kritischen Beobachtungen von Coda und Forte, 221 222 223 224
Coda, Intorno all’»Inizio«, 62. Ebd., 61. Forte, Dell’Inizio: dialogo con Cacciari, 90. Vgl. Cacciari, Dell’Inizio, 167–183.
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die innerhalb des Horizonts ihres dogmatisch eingegrenzten Denkbereichs verständlich sind, an seiner an die Theologie gerichteten philosophischen Frage vorbei. Wenn der Anfang nämlich als relatio non adventitia persönlicher Liebe verstanden wird, dann enthält ein solches Bild notwendigerweise das Versprechen seiner Offenbarung und Erlösung. Die endgültige Vollendung ist damit nicht nur versprochen, sondern schon in der Person Christi vorweggenommen. 225 Der entscheidende Punkt, in dem es um die grundlegende Differenz zwischen zeitgenössischer Theologie und der metaphysischen Spekulation von Cacciari geht, liegt, meiner Meinung nach, im Verständnis von göttlichem Wesen. Während sich der trinitarische Diskurs von Coda und Forte, sogar generell der der gesamten zeitgenössischen Theologie um den Begriff der Person (ὐπόστασις / Hypòstasis) dreht, handelt es sich bei der von Cacciari vorgeschlagenen Diskussion um eine Idee vom unpersönlichen Anfang, so dass der Begriff Hypòstasis in seiner Abhandlung einen marginalen Stellenwert einnimmt. Wie Elmar Salmann 226 scharfsinnig gesehen hat, ist die Beschäftigung mit der göttlichen Natur, die in der scholastischen Theologie eine entscheidende Rolle innehatte, in der aktuellen theologischen Debatte in den Hintergrund gerückt und hat zu einer »Personalisierung« der Trinität geführt. Zu oft und entgegen einer erklärten Unterscheidung wurde der Begriff der Hypostase dem der ›Person‹ im anthropologischen Sinne gleichgesetzt. Im jüngsten italienischen Diskurs zur Trinität ist die zwischen der göttlichen Natur und dem Vater bestehende ›Differenz‹ in Vergessenheit geraten. Die Freiheit des Vaters wird zu schnell mit dem Deus dicens identifiziert 227 und die göttliche Natur (die nicht personalistisch verstanden werden kann, sie ist keine ›vierte‹ Person) vor allem als unausdrückbare Stille in Gott, als Thema eines negativ-apophatischen Diskurses verstanden. Obwohl sich Cacciari in gewissem Sinne auf den klassi225 In einem Sammelband mit dem Titel Trinità per atei (1996) antwortet Cacciari auf Forte: »Wenn die Versöhnung immer existierte, wenn das Ende unausweichlich ist, dann ist diese Ablehnung niemals Tragödie, sondern Komödie (in der Art Dantes, versteht sich!). Wenn das Ende vorweggenommen werden kann, dann ist der Bruch seit jeher ein Augenblick des Innern, und die einzig schlüssige Definition des Deus Trinitas bleibt die von Hegel […]. Die große Frage: cum venerit Filius hominis, putas inveniet fidem in terra? (Lk 18,8), an der meine gesamte Eschatologie hängt, scheint in dem Werke von Forte zu fehlen.« Trinità per atei, 148 f. 226 Salmann, La natura scordata, 2000, 306–323. 227 Vgl. Forte, Trinità e storia, 1985; Ders., Trinità per atei, 15–67.
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schen Diskurs über die göttliche Natur bezieht, denkt er den göttlichen Hintergrund aus der Sicht einer absoluten In-differenz, die Voraussetzung jeder Differenz wäre, für jede Entscheidung des Vaters. Und dennoch bestimmt in seinem Diskurs de facto die Kluft zwischen Anfang und Vater kenotisch die gesamte Bewegung des göttlichen Lebens. Mit der Entscheidung des Vaters, sich ›woanders‹ als dem Anfang zuzuwenden (ek-sistere) bzw. zum Sohn hin, also zur Welt, tritt das ganze göttliche Geheimnis in das tragische Licht der Sterblichkeit. Cacciari scheint eine Vorliebe dafür zu haben, den ganzen metaphysisch-trinitarischen Diskurs in eine forcierte Dialektik zu überführen, die Bedingungen zur Entstehung von Aporien schaffen, die er danach logisch ausführt. Er betont in diesem Sinne den Sprung im Ur-sprung, den beständig offenen und polivalenten Charakter der göttlichen und menschlichen Freiheit, das tragische Ergebnis der gesamten Erlösungsbotschaft bis hin zum Eschaton. Ein Mittelweg zwischen dem extremen ›Subjektivismus‹ der italienischen Trinitätslehre und dem aporetischen ›A-personalismus‹ Cacciaris wurde von Salmann vorgeschlagen. Nach seiner These kann die göttliche Natur, die von der scholastischen Tradition und Thomas immer durch den lateinischen Ablativ ausgedrückt wurde, absolut nicht in personalistischen Kategorien einer »gegenseitigen Selbstkommunikation« zwischen den Personen beschrieben werden. 228 Die trinitarischen Personen kommunizieren sich selbst nicht, da jede von ihnen letztendlich nicht mitteilbar ist. Sie kommunizieren aber ihre gemeinsame Natur, daher lieben sich der Vater und der Sohn »essentia sua«. 229 Der Vater zeugt den Sohn ja »non voluntate (nec necessitate), sed natura«. 230 228 Die kritische Bezugnahme auf Gisbert Greshake ist deutlich, Der dreieine Gott, 1997, 150–168; 179 ff. Unter Bezugnahme auf die trinitarische Argumentation Salmanns in Neuzeit und Offenbarung kritisierte Greshake den Eindruck, der göttlichen Natur eine falsche Autonomie zusprechen zu wollen (Greshake, Der dreieine Gott, 184 ff.), was von Salmann selbst jedoch in seinen Ausführungen, auf die ich mich hier beziehe, durch eine Erklärung der Kategorien des trinitarischen »Inter-esse« besser dargelegt wird. Vgl. Salmann, La natura scordata, bes. Anm. 14, 145. 229 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, q. 14, 2; 1, q. 14, 3c ad 1; I, q. 14, 5– 6; I, q. 14,11 in Bezug auf: I, q. 24, 1; I, q. 34, 3; I, q. 36, 1; I, q. 37, 2. 230 Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, 41, 2; vgl. DS 71. Siehe auch: DS 526: »Quia nec ulla in Deo necessitas capit, nec voluntas sapientiam prevenit« und unter Bezugnahme auf die Natur im Sinne der weiblich-zeugenden Dimension in Gott, wird gesagt: »De Patris utero, id est, de substantia eius idem Filius genitus vel natus.« DS 526. Dies ist ein Zitat von Thomas, Summa contra gentiles, IV, 11. Eine systematische
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Salmann schreibt der Natur wieder ihre Eigenschaft als medium zwischen den drei göttlichen Instanzen zu (ihr quo und in quo – um es scholastisch zu sagen). In diesem Sinn wird die Natur von Salmann als »Bewusstsein Gottes, Gott zu sein« 231 definiert, an dem die trinitarischen Personen voll teilhaben und welches das Einheitsprinzip zwischen Vater und Sohn und dem Heiligen Geist bildet, der uns von einem einzigen Gott sprechen lässt. Die göttliche Natur ist Ablativ, also nicht Nominativ oder Akkusativ, da sie in-existent ist. Sie existiert also nicht in sich, sondern in-existiert in den drei trinitarischen persönlichen Perspektiven. Um mit Salmann auf Cacciari zu antworten, könnte man auch statt von Indifferenz der Natur von »Kor-reflexivität« 232 oder »Inter-esse« der Natur sprechen, vorausgesetzt, dieser letzte Ausdruck werde nicht ontologisch verstanden, sondern metaphysisch, als ›totizipiertes‹ (und nicht partizipiertes) Bewusstsein Gott zu sein, als positive Kraft der dimensionalen Unterscheidung und Einheit, in der uno actu die Möglichkeit der selben Schöpfung gegeben ist. Diese spekulative Perspektive Elmar Salmanns könnte so in der Theologie einen ganz neuen Denkweg aufzeigen, der noch beschritten werden muss, um die trinitarische κοινωνία (koinonìa) in ihrer Transzendenz anzuerkennen und so die voreiligen, personalistisch verkürzten Ansätze wie auch die Vorstellung einer falschen Autonomie und Gleichgültigkeit der göttlichen Natur zu vermeiden.
Interpretation dieses Abschnitts findet sich bei Salmann, Neuzeit und Offenbarung, 355–388. 231 Salmann, La natura scordata, 319–323. 232 Dieser Begriff wurde von Salmann erarbeitet: Neuzeit und Offenbarung, 269–315 und vor allem 305 ff. Die hier behandelten trinitarischen Grundgesetze entdeckt er als der Logik Anselms innewohnendes Kriterium des Monologion (29–33) und des unum argumentum wieder, in: Salmann, Korreflexive Vernunft und theonome Weisheit bei Anselm, 1990, 143–228. In dem Konzept stößt man auch auf Anlehnungen an Instanzen Kants, Hegels und Rahners (Ders., Der geteilte Logos, 135 ff., 171 ff., 296 ff., 306 ff., 396 ff.). Die Korreflexivität wird hier als Wechselwirkung gedacht. Sie steht für das (auch asymmetrische) Aufeinandertreffen zweier Subjekte, die jeweils gleichzeitig auf sich, den anderen und die Welt reflektieren und wissen, dass auch der andere auf sich, den anderen und die Welt reflektiert.
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Zusammenfassung und Übergang: Zur diaporetischen Methode
3.7 Zusammenfassung und Übergang: Zur diaporetischen Methode Die Argumentation in Dell’Inizio ist von einer Vorliebe für das aporetische Element im Denkprozess, der Suche nach Antinomien, die ihrerseits von den Betrachtungen über das Unbedingte bestimmt sind, gekennzeichnet. Ausgehend von der Untersuchung der ersten Hypothese in Platons Parmenides bzw. dem Problem einer Philosophie des Ersten, bevor dieses mit dem »Eins-das-es-ist« in Verbindung gebracht wird, stellt Cacciari einen präzisen Vergleich mit einigen der bedeutendsten Deutungen dieses Problems an. So will er der hypostatischen Deutung des Primum entgegenwirken und dem Denken des Ersten, das absolut frei von jeder Bestimmung ist, zu sein und nicht zu sein, von der Notwendigkeit und Kontingenz, Potenz und Akt, zu Geltung verhelfen. Die Vernunft verstrickt sich unwiderruflich in unlösbare Antinomien, wenn sie versucht, das absolut nicht vom Denken Gesetzte zu erwägen, und zwar das Allmögliche, das, was gegen die Prinzipien verstößt, mit denen, ausgehend von den modalen Syllogismen von Aristoteles, die traditionelle Problematik der Modalitäten angegangen wurde. Die einzige Methode, der Aporie des Anfangs zu begegnen, ist laut Cacciari die ›diaporetische‹. Mit diesem Namen beschreibt er sein Philosophieren, wobei er sehr wahrscheinlich auf folgenden Passus der aristotelischen Metaphysik Bezug nimmt: »Wer gut vorgehen möchte (εὐπορῆσαι / euporèsai), tut gut daran, sehr genau die Aporien zu durchlaufen (διαπορῆσαι καλῶς / diaporêsai kalôs), denn der nächste gute Weg (εὐπορία / euporía) ist nichts anderes als die Auflösung der Aporien, die vorher aufgetan wurden, und man kann den Knoten nicht lösen, ohne ihn zu erkennen.« 233 Aristoteles, Metaphysik B, 1, 995a 28–30. Übersetzung von mir, unter Verbesserung der Version von H. Boniz (1966): »Denn für die richtige Einsicht ist gründlicher Zweifel (aporeîn) förderlich, indem die später sich ergebende Einsicht (euporía) die Lösung der früheren Zweifel (aporía) ist, und die man nicht lösen kann, wenn man den Knoten nicht kennt.« Mit diesen Worten beschreibt Nicolai Hartmann das ›Problemdenken‹ bei Aristoteles: »Jene Untersuchung beginnt mit der reinen Aufrollung der Aporien als solcher, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Lösbarkeit. Diese Aporetik, die in seinen Schriften die Hälfte des Raumes einnimmt, enthält ein gedankliches Material, das weit über die Grenzen seines sogenannten Systems hinaus grundlegend geblieben ist, dennoch aber von den Späteren keineswegs erschöpft sein dürfte. Sie hat ihren systematischen Wert ganz unabhängig davon, wieweit ein auf solchen Kategorien wie Form und Materie, Dynamis und Energie errichtetes Systembild tragfähig 233
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Der Begriff διαπορεῖν (diaporeìn), der also von Aristoteles stammt, wird mehrmals von Cacciari verwendet, um die Art seines Vorgehens zu beschreiben und dennoch wird er nicht präzise expliziert. Um den impliziten Status der Diaporetik Cacciaris zu erhellen, ist es hilfreich, einen Vergleich mit der hegelianischen Logik vorzunehmen, von der sich Cacciari selbst in seiner Abhandlung distanziert. In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass auch Hegel der Erkenntnis und Entwicklung der Antinomien der Vernunft eine bedeutende Rolle beimisst. Berühmt ist in diesem Zusammenhang die Anmerkung Hegels: »Ein geflickter Strumpf [ist] besser als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewusstsein.« 234 Der Riss im Bewusstsein ist für Hegel das medium der spekulativen Arbeit. Die Anstrengung um diesen Begriff besteht für ihn darin, das Nicht-Identische, Negative und Widersprüchliche fest ins Auge fassen zu können. Auch wenn die dialektischen Gegensätze einen Punkt der Synthese erreichen, ist diese die Grundlage wieder neuer Gegensätze. Ebenso erfordert der hegelianische Begriff der Erinnerung 235 die Kunst, vor der dialektischen Polarität des Denkens zu verweilen. Nur durch diese spekulative Anstrengung kann das Selbstbewusstsein die Absolutheit des begrifflichen Verständnisses erlangen und das Sich-Realisieren des Wesens selbst erkennen. Genau an diesem Punkt tritt der Unterschied zwischen der Logik Hegels und der Diaporetik Cacciaris hervor. Die Spannung zwischen den Antinomien tendiert bei Hegel in die Richtung einer finalen Versöhnung. Folglich kann man sagen, dass der Anfang hegelianisch nicht die Verneinung des Widerspruchsprinzips auferlegt, sondern dessen Vollendung. 236 Cacciaris Diaporetik hingegen begnügt sich mit keinem Ergebnis. Sie ist eine ständige Bewegung des Denkens, die der Antinomie par excellence entsprechen möchte, jenem Anfang, der auch die letzte Sache ist, jener Indifferenz, die ständig differiert. Ein solches Vorgehen erfordert wesensgemäß das Verbleiben »in der sokratischen Kunst des Zögerns« 237 – um ein Konzept zu verwenden, das Cacciari für die Beschreibung sein mochte. Das System ist nach jahrhundertelanger Herrschaft endgültig gefallen. Die Aporetik ist heute noch lebendig« Hartmann, Systematische Selbstdarstellung, 4. 234 Hegel, Aphorismen aus Hegels Wastebook (1803–1806), HW II, 558. 235 Cacciari, Dell’Inizio, 153; für eine systematische Untersuchung des Begriffs der ›Erinnerung‹ im Gesamtwerk Hegels. Dazu vgl. Rossi Leidi, Hegels Begriff der Erinnerung. Subjektivität, Logik, Geschichte, 2009. 236 Berti, Contraddizione e dialettica, 177–222. 237 Cacciari, Dell’Inizio, 153.
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Zusammenfassung und Übergang: Zur diaporetischen Methode
der ihm eigenen Vorstellung von Philosophie benutzt. Zu diesem Ansatz scheint ein Passus aus der Schrift Systematische Selbstdarstellung von Nicolai Hartmann, 238 einem Cacciari bekannten Autor, aufschlussreich: »Der lange Atem der Forschung, das Aushalten in der Ungewissheit, das geduldige Zuwarten ist die eigentliche dianoetische Tugend des Philosophen. Nicht jeder kann sie aufbringen. Denn in der Regel bedeutet sie den Verzicht auf das Sehen des Resultats, also auf die Früchte der eigenen Bemühung. Der Philosoph muss arbeiten im Vertrauen auf den geschichtlichen Fortgang, d. h. auf die Erkenntnis, die als Frucht anderen zufallen wird […] Die Grundbedingung systematischen Denkens ist die Reinheit des philosophischen Ethos.« 239 Um nun die Philosophie von Cacciari in ihren Grundbegriffen als eine diaporetische bestimmen zu können, ist es erforderlich, die Übereinstimmung dieser so charakterisierten philosophischen Methode mit der Sache selbst zu explizieren. Erstens muss eine Methode, die ihre eigene Sache, die eigene Bedingung, das eigene Vorausgesetzte, das, was sich letztendlich jeder kategorischen Bestimmung entzieht, zu denken versucht, diaporetisch sein. Jene Instanz ist unausdrückbar und dennoch kommt sie in jedem Element des Erkennens zum Ausdruck – laut der platonischen Lehre im Rahmen des Fünften, die im Siebten Brief enthalten ist und auf die Cacciari am Ende der Schrift Della cosa ultima eingeht. Der Begriff des Allmöglichen, dessen, was gleichgültig ist, zu sein und nicht zu sein, gegenüber Potenz oder Aktus, Notwendigkeit oder Kontingenz, ist diaporetisch. Die Entwicklung eines Denkens, das nur so einem Primum entspricht, kann keine epistemische Form des Erkennens sein, die aufgrund der eigenen Beschaffenheit dazu tendiert, ihr Objekt in ein Netz aus Propositionen einzubinden. Kein Logos kann das erfassen, was sich nur in einem δισσός λόγος (dissòs logos) gibt. Laut dem Siebten Brief Platons wird das Evidente ganz plötzlich wie ein Funke nur durch die Kunst des philosophischen Dialogs offenbar. So kommen wir zum zweiten Punkt bzw. dem Verhältnis zwischen διαπορεῖν (diaporeìn) und dem Argumentationsstil des Textes. Cacciari führt die Behandlung der Problematiken, welche die 238 Cacciari hat die Ästhetik von Nicolai Hartmann ins Italienische übersetzt und das Buch mit detaillierten Anmerkungen ausgestattet: Hartmann, L’estetica, Padova 1969. 239 Hartmann, Systematische Selbstdarstellung. In: Kleinere Schriften, Bd. I, 5 f.
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drei Sektionen des Bandes strukturieren, mit dem Gespräch zwischen drei miteinander uneinigen Partnern ein. Aus dieser Konstellation entwickelt sich nach und nach eine systematische Behandlung, die den zuvor betrachteten Dialektiken Rechnung trägt. Mit dem Dialog versucht er, die Stilform dem sich bewegenden Gang der Sache selbst anzugleichen, die eben Gegenstand des Diskurses ist. Drittens erweist sich das diaporeìn als der einzige Weg, heute noch eine Metaphysik nach den vollzogenen Umbrüchen durch das negative Denken weiterführen zu können. Wie Cacciari in seiner Schrift Krisis gezeigt hat, kann das spekulative Denken der Gegenwart nicht von einer Konfrontation mit der Krise des idealistisch-dialektischen Vernunftparadigmas absehen, die von Schopenhauer, Nietzsche und Wittgenstein diagnostiziert wurde. Die Aporien auszuführen, ohne sie aufzulösen, wird also der einzige Weg sein, um die Betrachtungen zu den Möglichkeitsbedingungen des Denkens und des Daseins weiterzuführen, ohne die Instanz der ›Wiener‹ Philosophie und das Bewusstsein zu verraten, dass jede Garantie einer Grundlage verloren ist. Angesichts der drei soeben verdeutlichten Übereinstimmungen ist es evident, dass es eine der Diaporetik innewohnende Voraussetzung ist, sich nicht zu einer epistemologischen Formalität zu erheben. Mit anderen Worten: Es gibt keinen anderen Logos oder keine Methode, das platonische Fünfte zu beschreiben, wenn nicht mittels des dia-logos und des dissòs logos, der sicher realisiert, aber nicht systematisiert werden kann, ohne der Sache selbst zu widersprechen, die er bezeichnet. Es gehört zur Grundforderung, eine solche Philosophie und ihr methodisches Umsetzen nicht beenden zu können. Und vielleicht endet Cacciaris Untersuchung zum Anfang auch deswegen nicht auf der letzten Seite dieses Bandes, wie die folgende systematische Arbeit mit dem Titel Della cosa ultima beweist.
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Kapitel IV Die eschatologische Differenz der Freiheit
4.1 Von der Sache selbst Im Jahr 2004 veröffentlicht Cacciari Della cosa ultima (Von der Sache selbst), das mehr als sechshundert Seiten umfasst und den in Dell’Inizio angefangenen Diskurs logisch erweitert. Die Absicht des Autors ist es, auf die Kritik am vorhergehenden Werk einzugehen, aber vor allem erneut die Anfangsproblematik zu diskutieren und zwar diesmal aus der Sicht des erkennenden Subjekts. Die grundlegende Neuerung der Schrift ist, anders ausgedrückt, das Aufgreifen des Traktats De anima beziehungsweise die Diskussion über das Subjekt, bei der sich die protologische Frage des Anfangs stellt und dessen Wesen und eschatologisches Schicksal nun diskutiert wird, auch wenn der Titel etwas verheißt, was kaum eingelöst wird. Es geht nach wie vor um den Anfang und nur gegen Ende des Buches um eine letzte Perspektive. 240 Eine zweite wichtige Neuerung ist die weitere Vertiefung der Definition des Anfangs, die vorher als ursprüngliche In-differenz, als un-endliches Àpeiron (ἄπειρον) definiert wurde. Die Schrift ist in drei große Teile untergliedert und wie folgt betitelt: Trialogus de possest; De anima und Toccare il Dio. Der erste Teil widmet sich einer weiter ausdifferenzierten Bestimmung des Anfangs als ἄπειρον περιέχον (àpeiron perièchon) und ist in der literarischen Form eines »trialogus« 241 zwischen Autor, Skeptiker und 240 Cacciari gibt selbst in der Einführung der Schrift zu, dass: »[In Dell’Inizio] in keiner Weise der ›Zugang‹ zum Anfang erklärt wurde […] Wer stellt die Frage nach dem Anfang? Wer ›übersetzt‹ sie in die Begriffe des Anfangs? Im letzten Buch war dieser direkt das ›Erste‹. Man muss sich jedoch um den Geist in seinem konkreten Mit-Aufgewühltsein in Bezug auf das Anfangsproblem ›bemühen‹, um auf ihn am Ende als einen von dieser Bewegung erfüllten zurückkommen zu können.« Della cosa ultima, 25. 241 Der Titel des ersten Teils der Schrift Trialogus de possest spielt auf die berühmte Schrift von 1460 von Nikolaus von Kues an, so als ob er latu sensu die Idee wieder
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Theologe angelegt, die »acht Tage lang« miteinander diskutieren. Der zweite große Teil der Schrift mit dem Titel De anima entwirft eine Art transzendente Psychologie, eine Erörterung der cogitata des Geistes, mit deren Hilfe man die menschliche Freiheit des Sagens festzuhalten sucht – eine Tatsache, die letztendlich nicht bewiesen werden kann. Der Diskurs, den die drei Personen des Trialogus angefangen haben, geht nun in Briefform weiter. Der Philosoph und Autor aller Briefe bezieht sich auf andere Nachrichten von seinen zwei Gesprächspartnern, die er beantwortet und dabei die darin enthaltenen Thesen diskutiert. Der dritte und letzte Teil von Della cosa ultima wird ebenfalls in Briefform geführt und spiegelt den »protologischen« Weg der ersten zwei Teile der Schrift wider, aber diesmal aus eschatologischer Sicht. In diesem letzten Teil mit dem Titel »Toccare il Dio« (Gott berühren) werden einige theologische Fragestellungen erneut erörtert und vertieft, die schon im vorherigen Kapitel teilweise vorweggenommen werden mussten. Aufgrund der spiralförmig angeordneten Vorgehensweise in dieser Schrift, in der die gleichen Themen wie in Dell’Inizio mehrmals wiederkehren, aber aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet werden, ist es hier nicht sinnvoll, die einzelnen Punkte penibel zu wiederholen. Der von mir gewählte Ansatz verbindet die drei Teile der Schrift thematisch, d. h. die Diskussion des Anfangs als unendliches ἄπειρον (àpeiron), dessen Spezifizierung als All-mögliches, das per Definition das Un-mögliche miteinschließen muss, mit der Analogie, die zwischen jener Vorstellung vom Anfang und der Freiheit der Einzigartigkeit besteht, jenes Geistes also, der sich von jeglichem vorgefestigten Inhalt frei gemacht hat und so der Mit-Möglichkeit des Anfangs entspricht. In diesem Sinne bezeugt die gesamte Argumentation, die Möglichkeit einer Philosophie als einen Befreiungsprozess, als einen Weg, den der Geist zurücklegen kann und muss, um auf die Sache selbst in ihrer unaussprechlichen Einzigartigkeit zurückzugreifen und so nämlich die letztgültige Sache als ewige Voraussetzung jedes Möglichen zu denken, die nicht auf die kategoriale Prädikation des Intellekts zu reduzieren ist.
aufgreifen möchte, dass die letzte Sache des Denkens (für Cusanus: Gott) nicht die Gesamtheit der gegebenen und darstellbaren Wesen sei, sondern die Identität der Möglichkeiten, die im Gegensatz zu Cusanus, auch das Unmögliche einschließen muss.
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Das ἄπειρον als ewiges Un-Mögliches
4.2 Das ἄπειρον als ewiges Un-Mögliches Als Heidegger in der Schriftensammlung Zur Sache des Denkens 242 den metaphysischen Appell einforderte, »zur Sache selbst« zurückkehren zu müssen bzw. das Ereignis zu denken, also das, was im Ergebnis der Präsenz letztendlich ungedacht bleibt (A-letheia), schlägt er eine kritische Überwindung sowohl von Hegel als auch von Husserl vor, die beide seiner Meinung nach unfähig seien, den Sachen selbst ihr Proprium, ihr Wesen, zu lassen. Für Hegel ist die Sache der Philosophie als Metaphysik die absolute Subjektivität, wobei deren Anwesenheit in der Gestalt liegt, so dass die spekulative Dialektik die Bewegung ist, mit der die Sache zu sich selbst kommt, zu der ihr zugehörigen Präsenz. Auch Husserl bestätigt in seinem Aufsatz: Die Philosophie als strenge Wissenschaft 243 die selbstbewusste Subjektivität als die Sache der philosophischen Forschung. Trotz deutlicher Unterschiede zwischen seiner transzendental-phänomenologischen Methode und der absoluten Dialektik von Hegel bedeutet Husserls Imperativ: »zu den Sachen selbst« schließlich eine Rückführung der Sache in den Zustand, in dem diese sich ursprünglich in der ihr eigenen Präsenz gibt. Die Kritik Heideggers, von der aus die Untersuchung der Seinsfrage entwickelt wird, besteht darin, dass bei beiden Philosophen die transzendentale Subjektivität als Sache der Philosophie und folglich der entsprechenden Phänomenologie vorausgesetzt wird. Die gleiche Problematik wird von Cacciari im Incipit seiner Schrift aufgegriffen, indem er sich, ausgehend von einer Kritik an den »phänomenologischen Reduktionen« Husserls – ein Autor, der im vorherigen Werk völlig fehlt – erneut mit dem Problem des Anfangs (was eben die letzte Sache sei) auseinandersetzt. In der Sprache Husserls sieht die ἐποχή (epochè) eine Absage an jede Vorstellung von Fundament vor, abgesehen vom Beginn im Sinne des transzendentalen Ego, jener intentionalen und initialen apodiktisch sicheren Struktur, die die Kenntnis der Phänomene nicht begründet, sondern erschließt. Was Husserl nach Cacciaris Meinung nicht bemerkt, ist die »phänomenologische Reduktion« seiner eigenen Sprache, so dass das, von dem die Phänomenologie befreien möchte, und zwar das Idol einer absoluten Autonomie, 244 242 243 244
Heidegger, Zur Sache des Denkens, Gesamtausgabe, Bd. 14. Husserl, Die Philosophie als strenge Wissenschaft. In: Logos 1 (1910), 289–341. Vgl. Cacciari, Della cosa ultima, 13–27.
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de facto zur bleibenden Voraussetzung des eigenen Vorgehens wird. Für Cacciari hingegen kann keines der cogitata und nicht einmal das Ich selbst das Endziel der Reduktion, und damit des Anfangs, sein. 245 Nach Cacciaris Meinung muss auch das Ego einem Prozess der phänomenologischen Reduktion unterzogen werden bis zu dem Punkt, in dem es mit seinen eigenen Überzeugungen in-der-Kriseist und sich selbst als Offenbarung des Möglichen begreift. 246 Die Kritik an Husserl bietet Cacciari die Möglichkeit, seinen Diskurs, diesmal vom Standpunkt der Subjektivität aus, wieder aufzunehmen und die beiden großen Stränge der Schrift zu erklären: die Untersuchung der ἀρχή (archè), dem Thema des ersten Teils, und die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen jener Idee von arché und dem transzendental-phänomenologischen Subjekt, das niemals die Rolle des Anfangs übernehmen noch dessen Bedeutung in sich aufnehmen kann. Es bietet sich für die Überlegungen hier an, auf die vertiefte Betrachtung des Begriffs des Anfangs einzugehen, und zwar im Ausgang vom V. Buch der Metaphysik von Aristoteles, in dem er den Begriff archè 247 in vielfacher Weise unterscheidet und schließlich bestimmt. Im nächsten Abschnitt wird dann Cacciaris Ausführung zur existenziellen Analytik untersucht. Laut Aristoteles liegt die Gemeinsamkeit aller Bedeutungen von archè darin, immer der Anfangspunkt (τὸ πρῶτον / tò pròton) zu sein, von dem aus eine Sache generiert und erkannt wird. 248 Diesbezüglich unterscheidet der Stagirit zwei Arten des Anfang-seins der archè: Ein inneres Anfangen, das ewig in sich selbst ruht und bei sich alles, was es generiert (ἐνυπάρχοντος / enupàrkontos), behält; und ein Anfang im Sinne eines Generierenden, aber nicht Immanenten bzw. also ein einfacher Anfang von etwas aus einem anderen (μὴ ἐνυπάρχοντος / me enupàrkontos), so dass das andere, das anfängt, sich dann autonom und außerhalb dessen, was es erzeugt hat, entwickelt, so wie »ein Sohn vom Vater und der Mutter kommt und die Schlägerei von der Beleidigung«. 249 In dieser zweiten Art erscheint die arché als externes Prinzip immer als etwas Bestimmtes oder zu Bestimmendes und ist daher schließlich 245 An dieser Stelle ist zu fragen, ob der Rückgriff auf den frühen Husserl ausreicht. Eine andere Sicht dazu ist die Rekonstruktion von Jürgen Habermass zu Husserl. Vgl. Zucca, Komunikatives Handeln, 2015, 323–410. 246 Ebd., 24. 247 Aristoteles, Metaphysik, Δ 1013 a, 1–16. 248 Aristoteles, Metaphysik, Δ 1013a, 15 ff. 249 Aristoteles, Metaphysik, Δ 1013a, 8–10.
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Synonym von Ursache (aitìa) oder mit anderen Worten von dem, was Anfang gibt. 250 Von diesem Gesichtspunkt aus, so Cacciari, könnte man sagen, dass die Archè die gleiche Funktion hat wie jene, die Aristoteles dem Begriff der φύσις (physis) zuschreibt: Diese wird nämlich als materieller Anfang jeder Generierung und jeder Bewegung definiert. 251 Der absolute Ursprung, vorausgesetzt es gäbe ihn, muss hingegen eine ganz einzigartige Beschaffenheit haben: Er muss sich unausweichlich der Verkettung der Ursachen und folglich der Notwendigkeit, mit seiner Wirkung in Beziehung zu stehen, entziehen. Auf diese Weise setzt sich Aristoteles mit dem Problem im Buch Lambda der Metaphysik auseinander, wenn er jene Archè denkt, deren ousía reine ἐνέργεια (enérgeia) ist. Der unbewegte Beweger bewegt nämlich jede Wirkung, ohne seinerseits bewegt zu werden und ohne »sie zu berühren«, da er, wenn er sie berühren würde, einer Ursache gleichkommen würde. Cacciari lenkt die Aufmerksamkeit auf die von Aristoteles an diesem Punkt zwischen der Triebkraft des unbewegten Bewegers und der qua τὸ Ἀγαθὸν (tò Agathòn) hergestellten Analogie. Der Stagirit behauptet nämlich, dass sich der erste Beweger so bewege wie das, was man begehrt und denkt, das Schönedas-ist. 252 Diese Bezugnahme von Aristoteles auf das Schöne, um analogisch auf die ursprüngliche ἐνέργεια (enérgeia) zu verweisen, soll eine Definition des unbewegten Bewegers nach einem UrsacheWirkung-Prinzip abwehren. Das Prinzip bewegt und zieht an, indem es einfach an sich selbst und kein cogitatum denkt, das auf andere Art eine Unvollkommenheit offenbaren würde, eine Art Mangel, der behoben werden möchte. Das Endziel des Anfangs liegt also nicht außerhalb von diesem, sondern stimmt mit der Bewegung des eigenen Sich-Denkens und Sich-Wollens überein, dessen Name τὸ Ἀγαθὸν (tò Agathòn) ist. 253 Cacciari möchte zwar Aristoteles nicht ›platonisieren‹, indem er einfach den ersten Beweger auf die Vorstellung vom Guten reduziert. Er möchte aber unterstreichen, wie unpassend die aristotelischen Bestimmungen zum Begriff der ἀρχή (archè) 254 sind, um das Wesen des 250 251 252 253 254
Aristoteles, Metaphysik, Δ 1013a, 17–19. Aristoteles, Metaphysik, Δ 1014 b, 17–20. Aristoteles, Metaphysik, Λ 1072 a, 26–29. Aristoteles, Metaphysik, Α 983 a, 32. Aristoteles, Metaphysik, Δ 1013 a, 1–16.
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ersten Anfangs klären und gleichzeitig die Idee vom Guten als dem höchstmöglichen Punkt angeben zu können, so dass das aristotelische πρώτη οὐσία (pròte ousìa) 255 einsichtig zu werden vermag. Er bemerkt ferner, dass Aristoteles im V. Buch der Metaphysik auf etwas anspielt, dass »das Denken ›erleidet‹ ohne es zu ›lösen‹. Sollen wir dieses Drama zum Schweigen bringen? Das Denken möchte zeigen; unser Diskurs tendiert immer dazu, rein apophatisch zu sein. Aber die archè scheint eine Stimme zu haben, der man sich nur schwer verschließen kann und die noch schwerer ›zu wiederholen‹ ist«. 256 Die Vorstellung, das Gute als ἀρχή αἰτία (archè-aitía) zur Geltung zu bringen, bedeutet hingegen »[…] das aristotelische próte ousía als radikale Erklärung der Aporie, die das Drama der Vorstellung des Guten begründet, in der ganzen Geschichte des Platonismus hervorzuheben. Das Gute muss als effektives archè-aitía gelten, sonst trennt es sich von den Seienden und kann nicht einmal ousía genannt werden, noch gar sein«. 257 Cacciari führt diesen Gedanken in seinem Dialog weiter, indem er den von Anaximander geprägten Begriff: unendliches Àpeiron die älteste, von Aristoteles »vergessene« Bezeichnung aufdeckt, um den ersten Anfang der Bewegung bestimmen zu können. Bekanntermaßen setzt sich Aristoteles im III. Buch der Metaphysik zwar mit den Problemen der »Physiologen« auseinander, also denjenigen, welche die Archè als unendliches Àpeiron (ἄπειρον) verstehen, aber nur um deren Interpretation abzulehnen. Laut Aristoteles hätten die Physiologen das Àpeiron als Instanz ohne Prinzip denken sollen (ohne ein πέρας / péras), denn sonst ergäbe sich ein Widerspruch. 258 Jenes Àpeiron wurde ihm zu Folge als unerzeugt und unveränderbar definiert, obwohl es alle Dinge umfassen (περιέχει / periéchei) und bestimmen (κυβερνᾶν / kybernàn) kann. 259 Anders als die das ἄπειρον καθ’αὐτό (Ápeiron kath’autó) 260 denkenden Pythagoreer und Platon realisiert sich das Àpeiron für die Physiologen nach der Art des Zufälligen, 261 so dass die archè der physis dem physisch generativen Prinzip angehört, quasi als GesamtAristoteles, Kategorien, 2b, 20. Cacciari, Della cosa ultima, 40. 257 Ebd., 38 f. 258 Aristoteles, Physik, III, 203 b, 2–22. 259 Aristoteles, Physik, III, 203 b, 11. 260 Aristoteles, Physik, I, 1053 a, 5. 261 Es wird als Zufälliges verstanden, auch wenn man behauptet, dass es Erstes ist, vgl. Aristoteles, Metaphysik, Ι, 1053 b, 9–16. 255 256
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heit aller materiellen Elemente. Indem Aristoteles alle Physiologen in diese Definition von àpeiron miteinschließt, zeigt er, dass die These eines in der Materie wirkenden Unendlichen unzulänglich ist. Der Stagirit – weit davon entfernt, die Vorstellung von einem Unendlichen abzuschaffen – findet es in jedem Fall widersprüchlich, den unendlichen Anfang als etwas Materielles zu denken. 262 Zu behaupten, dass die Archè das Àpeiron ist, hieße für den Stagarit zu sagen, dass sie nur in Potenz ist als das Un-endliche im Sinne von undefinierbar sei – so nach Aristoteles 263 und der altgriechischen Philosophie allgemein 264 – und das würde seiner Vorstellung von der in sich vollendeten, vollständig de-finierten und nicht unendlichen Ursache des Bewegungsgrundes widersprechen. 265 Cacciari argumentiert folgendermaßen. Unter der Voraussetzung, dass das Unendliche als Physis gedacht werden soll, muss man von dieser φύσις (physis) eine ursprünglichere als die aristotelische Definition für das generative materielle Prinzip dieser Welt suchen. Das Unendliche kann also weder ein Element noch eine Kombination von Elementen sein (in diesem Fall wäre es definierbar) und es kann auch nicht nach dem Maß der αἰτία (aitìa) gewertet werden (denn sonst wäre das Unendliche wieder vom Ursache-Wirkung-Prozess dominiert und definiert). Wie kann man also diese Problemlage so auflösen, dass die Besonderheit des Unendlichen wie auch das Konzept der φύσις (physis) erhalten bleiben? 262 Indem er dieses aristotelische Prinzip erneut für gültig erklärt, kritisiert er die These von Giovanni Semeraro (L’infinito: un equivoco millenario, 2005), nach der àpeiron in der altgriechischen Philosophie in »physischem« Sinne verstanden wird, als Unendlichkeit der letzten Elemente der Materie, als ein unendlich in der Potenz der generierenden Materie Seiendes. 263 Aristoteles, Metaphysik, Γ, 207 a, 25. 264 In der altgriechischen Philosophie hat das Unendliche vor allem eine negative Konnotation: Es stellt das Undefinierbare, das Umrisslose, nicht Erkennbare, das, was noch nicht vollendet ist, dar. 265 Hier kann man in Bezug auf den aristotelischen Begriff des »Unendlichen« einen Mangel an Tiefgang von Seiten Cacciaris feststellen. Diese Lücke ist vielleicht eine verpasste Gelegenheit für ihn als Philosoph. Nach Enrico Berti kann man bei Aristoteles einen positiven Gebrauch des Unendlichen gerade im 5. Kapitel der Metaphysik feststellen, da »… er beim Sprechen über den unbewegten Beweger, also jenem, von dem die gesamte Realität abhängt, behauptet, dass dieses Prinzip eine unendliche Potenz haben muss, da es, um das Universum unendlich lang anzutreiben, notwendigerweise eine unendliche Potenz haben muss. Aber das ist, glaube ich, die einzige Anspielung auf eine positive Bedeutung des Unendlichen in der altgriechischen Philosophie.« Berti, Domandare tutto è tutto domandare, 2007, 69 f.
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In Anaximanders Vorstellung vom Àpeiron soll die Lösung liegen. Denn nach Anaximander »[…] lässt das àpeiron ›direkt‹ unendliche Himmel und Welten erstehen, es ›generiert‹ nicht einfach nur, das, was uns erscheint. Die Physis, die das Àpeiron ist, generiert unzählige Welten. Sie ist keine Ursache von jenem, was einfach endlich ist, sondern von allem, was sein kann. Das Àpeiron ist der Bereich aller Möglichen, absolut un-definiert und un-definierbar«. 266 Hat man schon Dell’Inizio zur Kenntnis genommen, so weiß man, dass Cacciari hier im Àpeiron de facto eine andere Bezeichnung erkennt, in der seine Vorstellung vom Anfang als Allmöglichkeit zum Ausdruck kommt, so dass jener Anfang nun als unbegrenztes generatives Prinzip aller unendlich Möglichen erkannt werden kann. Und genau jener Definition, die sich der Identifikation mit Archè-Aitìa – der Voraussetzung der Ontotheologie vom Deus-Esse – widersetzt, sind die verbleibenden Tage des Trialogus gewidmet, in dem es um einen einmaligen kritischen Vergleich der Begriffe absoluta actualitas und absoluta possibilitas des Cusanus’, infinitas finita von Giordano Bruno und infinita possibilità bei Giacomo Leopardi geht. Diese drei ursprünglichen Definitionen des Unendlichen sind laut Cacciari noch immer von der Vorstellung der Archè-Aitìa geprägt. Mit anderen Worten, sie gehen von einer untrennbaren Beziehung zwischen dem Unendlichen und dem Bereich des Möglichen aus, der sich existentifizieren muss. Das bedeutet soviel wie: Wenn man ihnen folgt, dann entkommt man, entgegen allem Anschein, der Herrschaft der Ontotheologie nicht. In De possest behauptet Cusanus, dass im ewigen und unendlichen Anfang alle Dinge potentia, actus et utriusque nexus 267 perfekt übereinstimmen. Die Unterscheidung von Potenz und Aktus macht für Cusanus nur innerhalb des Horizonts der endlichen und geschaffenen Realitäten Sinn. Weil Gott in allem wirkt, was möglich ist (complicatio omnium), findet gerade durch ihn die explicatio aller Dinge statt. So wird jedes Mögliche auf den ewigen actus Gottes, Cacciari, Della cosa ultima, 51 ff. »Nam quomodo prodisset in actum nisi per actualitatem? Posse enim fieri si se ipsum ad actum produceret, esset actu antequam actu esset. Possibilitas ergo absoluta, de qua loquimur, per quam ea quae actu sunt actu esse possunt, non praecedit actualitatem neque etiam sequitur. Quomodo enim actualitas esse posset possibilitate non existente? Coeterna ergo sunt absoluta potentia et actus et utriusque nexus. Neque plura sunt aeterna, sed sic sunt aeterna quod ipsa aeternitas. Videnturne vobis haec sic aut aliter se habere?« Cusanus, Trialogus de possest, Nr. 6. In: Opera omnia, XI, 6 ff. 266 267
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letztendlich auf die göttliche Allmacht zurückgeführt, die ihrerseits verstanden wird als eine, die »von ihrer Produktion zur Existenz bestimmt ist«. 268 Für Giordano Bruno fällt die Unendlichkeit des Anfangs letztendlich mit der Unendlichkeit seiner endlichen Wirkung zusammen. Die Unendlichkeit der Welt zu leugnen, würde bedeuten, die Unendlichkeit Gottes zu verneinen. Ähnlich wie Cusanus behauptet auch der Nolaner, dass in Gott, dem absolut Ganzen, Potenz und Aktus zusammenfallen, während in der Welt alles »ausgefaltet und verstreut« sei. Gott ist also nicht Aktus, sondern reine actuositas, existentifizierende Kraft, die in sich alles vereinen kann, was ist und was sein kann. In diesem Sinne ist die endliche Unendlichkeit zwar in sich selbst eine von jeder Bestimmung freie Potenz, aber nicht frei von der Notwendigkeit, sich selbst zu bestimmen. 269 Zum Schluss führt Cacciari Leopardis Intuition der unendlichen Möglichkeit an, die seiner Meinung nach dem eigenen Gedanken am nächsten kommt. Die göttliche Allmacht selbst, über die Leopardi im Zibaldone schreibt, wird nämlich als Kraft »unendlicher Offenbarungen des Möglichen« 270 verstanden. Dennoch muss gesagt werden, dass diese Intuition Leopardis, obwohl sie auf eine gewisse Idee der Allmöglichkeit anzuspielen scheint, keineswegs den Endpunkt seiner Überlegungen darstellt. Denn es ist leicht – wie der skeptische Gesprächspartner des Trialogs meint – die Auslegung der Allmacht bei Leopardi im leibnizschen Sinne zu verstehen. Sie wäre demnach die unendliche Ursache unendlicher Wirkungen, die existentifizierende Macht unendlicher Welten und möglicher Zeiten, von etwas, das auch diesmal letztendlich debet esse. Cusanus’ Begriff des complicatio omnium und die infinitas infinita des Nolanus sowie in gewisser Weise die Auslegung der unendlichen Möglichkeit bei Leopardi drücken aus unterschiedlicher Perspektive immer die gleiche Idee einer existenziell konnotierten »Unendlichkeit der Möglichen« aus. Der Akzent einer solchen Definition liegt auf den »Möglichen«, deren Unendlichkeit unterstrichen wird, dies ist eine Art qualifizierender Begriff, der das Unendliche sozusagen zu einem Adjektiv oder einem Adverb macht und das Mögliche zu einer offenbarenden Allmacht wandelt. In diesem Sinne verweisen die drei Konzepte immer positiv auf eine jederzeit mög268 269 270
Cacciari, Della cosa ultima, 78. Vgl. ebd., 77 ff. Ebd., 83.
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liche Offenbarung und stellen auf spekulativer Ebene daher eine Art Neuauflage der zweiten Hypothese des platonischen Parmenides dar bzw. eines Prius als dem, was sich in sich nur als Eines-das-ist ausdrücken kann. In dieser Definition gibt es keinen Platz für das Unmögliche bzw. für die Möglichkeit, dass sich die Offenbarung nicht gibt – was Cacciari hingegen durch die Kategorie mögliches Unendliches offenhält. Für Cacciari geht es darum zu versuchen, spekulativ die Intuition der »unendlichen Möglichkeit« bei Leopardi als Entfaltung eines frei in jede Richtung seienden möglichen Unendlichen zu denken, und nicht als Ausdruck einer Unendlichkeit der Möglichkeiten. Das Denken der Differenz zwischen Unum und Esse, das in Dell’Inizio dazu führte, den Anfang als In-Differenz und All-Mitmöglichkeit zu sehen, kehrt nun als Denken der Differenz zwischen unendlicher Arché und Esse wieder, so dass man die Arché, dem möglichen Unendlichen, radikal die unendliche Möglichkeit und auch die Un-möglichkeit zuschreiben kann, jenem immermöglichen Eintreffen des Gegenteils. Auf diese Weise versucht Cacciari – in Anlehnung an Anaximander – endlich den Begriff des Möglichen aus dem Bereich des Notwendigen zu lösen. Das mögliche Unendliche muss nicht sein, so wie es nicht unbedingt nicht sein muss: »Im Unendlichen ist es seit jeher möglich, dass es die Offenbarung nicht gibt oder gar die radikale Unmöglichkeit jeder möglichen Offenbarung«. 271 Das Denken der Differenz zwischen unendlicher Archè und Esse findet in einer Radikalisierung der Kategorie des Möglichen en archè statt, der Mitimplikation der eigenen Unmöglichkeit, aber so, dass diese Mitimplikation als unaufhörliches Unterscheiden in sich von sich die Unendlichkeit der Möglichen keineswegs reduziert. Der Anfang ist also vor Gott (als dem Anfangenden), 272 jene unendliche Allmöglichkeit, wo das Mögliche im Unmöglichen ist. Wenn dem Anfang die Unmöglichkeit verwehrt wäre, dann wäre er wieder dazu »bestimmt«, notwendigerweise zu sein und sich zu offenbaren. Die Unmöglichkeit leugnet das mögliche Unendliche nicht, sondern stellt den Beweis seiner Unendlichkeit dar, also dessen reine Offenheit für jeden einzigartigen Fall, mithin also auch für das eigene Ebd., 86. In den letzten zwei Tagen des Trialogus wird die unterschiedliche Art und Weise der Theologie und der Philosophie, den Anfang zu denken, thematisiert: Die Theologie geht vom Revelatum aus, für den der Anfang nur in nomine Patris sein kann; die Philosophie kann hingegen auch diese theologische Annahme als Hypothese diskutieren, die überwunden werden kann. Vgl. ebd., 90–108.
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Nicht-Sein-Können. Schließlich muss der Anfang auch als Àpeiron »in-different gegenüber der Indifferenz von Sein und Wesen« gedacht werden: »Wenn das àpeiron nicht darauf hinweisen würde, dass die In-differenz von Sein und Wesen mit dem Fundament ihrer eigenen Beziehung übereinstimme. Aber von diesem letzten Fundament erscheint der Anfang wie ein Weniger werden, ein Sich-Wegnehmen. Der Sinn des àpeiron als einfacher Indifferenz erscheint als ein Mögliches des Anfangs. Das Reine Mögliche ist der Anfang.« 273 Der von Cacciari beschriebene Status des Anfangs zeigt die Idee vom Anfang als die Höchste aller Aporien. Es ist also nachvollziehbar, wie Ilario Bertoletti 274 feststellt, dass jene Vorstellung des Anfangs das Prinzip des Widerspruchs verletzt. Es wird aber auch deutlich, dass sich die Henologie Cacciaris ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías) ansiedelt, in einem Bereich vor der Logik, in dem es keinen Sinn macht, auf das Gesetz des Widerspruchs Bezug zu nehmen, das die Ontologie des Seins regelt, jenes als Substanz oder Kategorie prädizierbares Konzept. 275 Schließlich ist gerade das, was den Prinzipien der aristotelischen Logik sowie den dianoetischen Überlegungen aporetisch erscheint, Untersuchungsobjekt der ›Diaporie‹ – eine zu akzentuierende Diaporie, wie es ihm, Cacciari, sich systematisch-praktisch darstellt. Nachdem die Anfangsidee als unendliche Mitmöglichkeit definiert wurde, schlägt der Autor im zweiten Teil seiner Untersuchung ein theoretisches und praktisches itinerarium vor, mit dem der Anfang zur Idee kommt und sich als Problem der Einzigartigkeit zeigt.
4.3 Die existenzielle Analytik der Freiheit Die neun Briefe des zweiten Teils mit dem Titel De anima greifen die in Dell’Inizio noch gänzlich abwesende Problematik des Subjekts auf. Die entscheidende These des Autors ist, dass es eine analogische Entsprechung zwischen dem Status der lebendigen Einzigartigkeit und der Allmöglichkeit des Anfangs gibt. Dies soll nun im Rückgriff auf die qua Diaporetik gefestigte Konzeptualisierung und Einbettung von Freiheit gezeigt werden. So wie der Anfang erscheint auch die Freiheit des Menschen ge273 274 275
Ebd., 75. Bertoletti, Massimo Cacciari, 71. Aristoteles, Metaphysik, Γ, 3, 1005 b, 11 ff.
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nerell dem offenen Feld der unendlichen Möglichkeiten ausgesetzt, die, sind sie einmal anerkannt, zu strukturellen Unmöglichkeiten führen. In dem Moment, in dem das Subjekt eine Antwort auf die Frage zum Ursprung der eigenen Freiheit finden möchte, muss es bereit sein, sich von jeder endlichen Bestimmung frei zu machen; es muss, ausgehend vom Infragestellen der eigenen Vorurteile und der radikalen Hinterfragung der eigenen Erfahrung, den Weg zum Anfang gegenläufig zurücklegen. Dieses itinerarium mentis wird nicht linear durchlaufen werden können, sondern eher gekennzeichnet sein von großen Paradoxien, strukturellen Aporien, die, falls sie durchlaufen werden, schließlich dazu führen, »Gott zu berühren«, d. h. einen Zugang zum Geheimnis der Einzigartigkeit des Wesens zu haben und den analogischen Widerhall zwischen der eigenen Freiheit und jener der Letzten Sache mitzuahnen (contuitus). Von hier her erklärt sich der besondere Argumentationsverlauf des Autors in den neun Briefen, in denen anhand einer sorgfältigen Untersuchung die wichtigsten Dreh- und Angelpunkte eines solchen Weges in der konkreten Erfahrung der Zeit dargestellt werden, also als existenzielle Analytik der Freiheit, und zwar: die unmögliche Notwendigkeit, sich selbst zu kennen, wie das antike Orakel von Delphi mahnt 276 (1. Brief); sich schon in sich fremd zu erkennen, des Andersseins bedürftig, um sich kennenzulernen, bei gleichzeitiger Bedrohung durch den Fremden, der das andere ist (2. Brief); die Angst gegenüber dieser Nähe und die Verzweiflung, weil man das Gute, das man möchte, unmöglich zu erreichen scheint (3. Brief); die Feststellung, dass man offen gegenüber der Unendlichkeit des Möglichen ist, es kein Ergebnis gibt und wenn man sich einmal selbst zu einer Entscheidung bestimmt hat, man der ›Schuld‹ allen anderen gegenüber nicht entgeht (5. Brief); die Ernüchterung, anerkennen zu müssen, dass das Problem, die Ausübung der eigenen Freiheit zu garantieren, keine politische Realisierung finden kann, die letztendlich eine Praxis der technischen und wirtschaftlichen Leitung ist und daher keinerlei Befreiungsverheißung durchsetzen kann (5. Brief); der Geist, der unweigerlich vom Ἔρως (Eros) angetrieben wird, jener μανία (manía), die sein gesamtes praktisches Handeln antreibt (6. Brief); die Auseinandersetzung mit der andauernden Spannung zwischen begrenzt und unbegrenzt (7. Brief); letzlich die essenzielle Frage nach dem eigenen »Nicht-Ort«, nach dem Wesen der eigenen Freiheit (8. Brief). 276
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Aristoteles, Metaphysik, Γ, 5, 1009 a, 27.
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Das entscheidende Problem für Cacciari ist jenes, das dem Wesen der menschlichen Freiheit anhaftet – ein Problem, das die Philosophie durch die Annahme der Freiheit selbst als transzendent, als Voraussetzung des Handelns konzeptuell bestimmt hat. Die Theologie ihrerseits hat es nun gelöst, indem die Freiheit als Korollar einer größeren Voraussetzung bzw. einer grundlegenden Wahrheit gerechtfertigt wurde, die dem Menschen die Freiheit angeblich schenke. Der Autor schließt sich in dieser solcherart gestellten Problemlage nicht so sehr einer Leugnung des vorausgesetzten Charakters dieser Freiheit an, sondern vollzieht vielmehr eine radikale Untersuchung ihres Sichselbst-vorausgesetzt-Seins, ohne sich mit einer Lösung des Geheimnisses der Freiheit und ihres Widerhalls durch eine einfache Deduktion zufrieden zu geben, so also ob sie einer ›bloßen Tatsache‹ gleichkäme. Denn in der Geschichte der westlichen Philosophie gab es durchaus viele verschiedene Denkweisen, mit denen die Freiheit bejaht wurde, indem man sie voraussetzte. Die häufigste Lösung wurde in der Durchführung der Dialektik zwischen Willen und Freiheit gesucht. So hat Thomas von Aquin in diesem Sinn ein unüberwundenes Paradigma für die Entwicklung des Problems in der Theologie zu bieten. Der Aquinate setzt eine natürliche teleologische Anlage des Menschen gegenüber Gott voraus, des appetitus der Kreatur gegenüber dem, was als gratuitus (gratia superaddita) erscheint, so dass dieses Verlangen, die unausweichliche Spannung zum Glück (beatitudo) selbst, die menschliche Freiheit offenbart als eine Fähigkeit, das Glück zu wollen. 277 Cacciari kommentiert knapp: »Die Freiheit wird so von der Notwendigkeit, Glück zu wollen, abgeleitet!« 278 Dieses Muster der Beziehung zwischen Wollen und Freiheit kehrt, wenn auch mit klaren Unterschieden in der Argumentation, im Laufe der Überlegungen zu diesem Thema immer wieder. Nicht einmal Kant ist weit davon entfernt, da er die Freiheit als Fähigkeit erklärt, nach Imperativen zu handeln, und so nichts anderes tut, als sie in der Entfaltung des Willens vorauszusetzen, um so auch dem moralischen Gesetz gehorchen zu können. Die Freiheit ist kantianisch eine notwendige transzendente Bedingung, damit sich eine Handlung als moralische definieren lässt. 279 277 Thomas von Aquin, Summa theologiae, I–II, q. 5, Art I: »Utrum homo possit consequi beatitudinem«. 278 Cacciari, Della cosa ultima, 273. 279 Vgl. KrV, 488 f.
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Dieses Interpretationsparadigma der Freiheit in Bezug zum Willen wurde im 19. Jahrhundert scharf von Schopenhauer und Nietzsche kritisiert. Die Fragen dieser zwei Autoren sind die gleichen, die Cacciaris Überlegungen inspirieren. Das Problem betrifft also die Frage, ob es legitim ist, das Freisein aus dem Willen abzuleiten. Diese formale Strategie scheint in Schopenhauers und Nietzsches Augen eine einfache, aber nicht unschuldige dialektische Erfindung zu sein, die aus der Freiheit nichts anderes als einen Inbegriff der Notwendigkeit macht. Was die empirische Erfahrung betrifft, gibt sich die Bestimmung des Wollens nicht in einem abstrakten Frei-sein-Wollen, sondern immer in einem Etwas-Wollen. Die Freiheit wendet sich also immer an ein Objekt, das die Entscheidung bestimmt. Das anzuerkennen bedeutet, gleichzeitig zuzugeben, dass der Wille notwendigerweise von einem Grund bestimmt bedingt ist. Nach Schopenhauers Lehre geht es darum, von der Handlung des Wollens zum Sein selbst, das sich in dieser Fähigkeit ausdrückt, überzugehen. Nicht der Wille ist also unbedingt, sondern das Wesen, das sich unergründlich ausdrückt. Schopenhauer erkennt mithin, dass die Freiheit dadurch zum »Synonym des puren Anfangs« 280 werden würde, um es mit den Worten Cacciaris zu sagen, der hier eine Brücke zu Schelling schlagen zu wollen scheint. Trotzdem kann Schopenhauer keine Freiheit als reinen Anfang annehmen, »weil er als guter Kantianer das esse als wirklichen Grund des Handelns sehen muss – er muss tatsächlich zeigen, dass velle sequitur esse. Und deswegen kann er die Freiheit nicht Anfang, sondern muss sie weiterhin Willen nennen«. 281 Der einzige Ausweg, um diese Aporie zu lösen, ist für Schopenhauer ein negativer; denn nur im Nicht-wollen kann der Mensch den Ausdruck seines Frei-Seins offenbaren, seines Handeln-Könnens gegen die »Welt als Wille«. Diese Problemstellung von Schopenhauer wurde auch von Nietzsche aufgegriffen, der die Problematik aber anders ausführt. Er ist gleichermaßen von jeglicher deterministischer Position wie von einer leeren Verherrlichung der Idee von Freiheit entfernt, was ihn nun aber dazu bringt, die Frage durch den Rückgriff auf die griechische Vorstellung vom Schicksal zu radikalisieren: »Du selber, armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira.« 282 Der Mensch, der erkennt, dass er sein eigenes Schicksal ist, nimmt den Willen 280 281 282
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Cacciari, Della cosa ultima, 282. Ebd., 283. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, Aphor. 61, 580.
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nicht als externe Instanz auf, sondern als proprium seines δαίμονες (dàimones), seines Charakters. Er verfolgt keine angenommene Unbedingtheit der Freiheit, sondern realisiert sein Freisein im Sich-Einstimmen auf sein Sein, im Gehorsam dem amor fati gegenüber. Dies ist eine neu entfaltete, auch und gerade die Theologie anspornende Denkfigur. Cacciaris Analyse hinsichtlich der Position Nietzsches, der seinerseits die Problematik nicht ohne Widersprüche und Zweifel in seinen Schriften angeht, mündet in der Feststellung einer entscheidenden Figur, nämlich der des Kindes, 283 das die höchste Bezeichnung der Freiheit für Nietzsche bzw. des Menschen ist, der sich vom Fehler ›befreit‹ hat zu denken, er sei frei. Im Bild des spielenden Kindes stimmen das Handeln und das Sein überein, aber ohne die Absicht, ohne den Anspruch, mit seinem Tanz dem eigenen Schicksal zu folgen. Es spielt und sein Spiel ist ein Offenbaren der »Gesamtheit der möglichen Gelegenheit und Zwecke« und sein Lachen ist »Bild des ersten Offenbarens, des Sich-öffnens, Bedingung jedes Möglichen«. 284 Das verlässlichste Bild, das auf das Geheimnis der Freiheit verweist, ist das des Beginns, auf das der Tanz des Kindes hinweist und das Zarathustra selbst als ›Neubeginnen‹ ankündigt – also ein Bild von dem Schaffen, das sich von jedem Wert und jeder Notwendigkeit emanzipiert und das seinen Sinn allein in seinem freien Anfangen gefunden hat. 285 Der Tanz des Kindes ist damit also das Symbol des freien Denkens, das sowohl auf jede abstrakte Positivität wie auch auf die Bestimmung jeglichen Fundaments verzichtet und sein Spiel in der reinen Offenheit des eksistere ausführt. Genau in dieser Offenheit offenbart sich die Freiheit selbst als Potenz des Möglichen. Damit kommt das von Nietzsche aufgegriffene Bild der Vorstellung von Cacciari am nächsten. Dies wird in den theoretischen Ausführungen zur Aporie der Freiheit in der kritischen Auseinandersetzung mit den Vorstellungen von Kierkegaard und Heidegger am Ende des 8. Briefes noch deutlicher. Für beide, wenn auch in unterschiedlicher und teils antinomischer Art, »schenkt die Freiheit notwendigerweise […] und bei keinem von beiden wird die Freiheit im Licht der Allmöglichkeit
Vgl. Ders., Also sprach Zarathustra, KSA 6/1, 29–31. Cacciari, Della cosa ultima, 293. 285 »Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen« KSA 6/1, 31. 283 284
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des Anfangs gedacht«. 286 Wenn es eine Schlussfolgerung am Ende dieser Überlegungen geben soll, dann kann sie nur in der Art einer Öffnung gedacht werden, einer bleibenden aporetischen Schwebe zwischen der Unmöglichkeit, Freiheit sowohl Wissen als auch Voraussetzen zu können. Der Geist hat endlich den Wendepunkt seines Weges erreicht und entdeckt sich als von jeder Annahme entblößt, die Freiheit zu besitzen, als sich geradezu von ihr besessen definieren zu können. In diesem Sinne »entscheidet sich das Dasein in der un-endlichen Offenheit der Freiheit, kann es aber nur tun, indem es sich jedes Mal einer bindenden Perspektive anbietet, eine Möglichkeit wählt und deswegen gezwungenermaßen gegen die anderen nicht ausgewählten ›sündigt‹. Nur in dieser ›Schuld‹ ek-sistiert die Freiheit; nur indem sie sich in den endlichen Entscheidungen des Seins auslegt, wird ihre Un-Endlichkeit gezeichnet […]. Das Dasein steht in-der-Schuld der Freiheit als ihrer ewigen Vergangenheit und muss mit ihr übereinstimmen, indem sie jetzt frei ist und sie als ihre Gegenwart vollzieht und sie jetzt als ihre ewige Zukunft antizipiert. Kann es für diesen Zusammenhang eine Symbolfigur geben? Können wir diese Idee ausdrücken? Und was kann ich beim Schenken von Ereignissen denken? Aber in welcher Form des Schenkens?« 287 Einer Antwort auf diese Frage ist der letzte Brief gewidmet, der 8. des De anima von Cacciari. Die menschliche Angst, zwingend gebunden zu sein, eine Perspektive zu wählen und damit einen bedeutenden Vorrang der Freiheit vor der eigenen Entscheidung anzuerkennen, decken zum Schluss das Wesen und die Aufgabe der menschlichen Freiheit als Gabe und Ver-gebung auf. Was Cacciari sucht, ist eine Definition von Gabe als ursprünglichem Symbol des Wesens der Freiheit. Dabei ist er sich der vielfältigen Analysen zum Wesen der Gabe, durchgeführt von der Philosophie im letzten Jahrhundert, durchaus bewusst. 288 Denn dieser 286 Kierkegaard geht von einer religiösen Voraussetzung aus (und hier beobachtet Cacciari, dass die göttliche Entscheidung für die Freiheit des Menschen ihrerseits streng genommen »eine an-maßende Freiheit« voraussetzen muss, Della cosa ultima, 299); Heidegger, weder einer religiösen noch personalistischen Vorstellung folgend, sagt, dass die Freiheit »ihr Wesen vom ursprünglicheren Wesen der Wahrheit erhält«, da sie die ursprüngliche Bedingung des Erscheinens des Wesens ist, so in: Vom Wesen der Wahrheit, 83. 287 Cacciari, Della cosa ultima, 306 f. 288 Die Studien, auf die Cacciari besonders Bezug nimmt, sind: Benveniste, 1969; Mauss, 1925; Hénaff, 2002; Godbout, 1996; Derrida 1994; Rabaté – M. Wetzel (Hgg.), 1992.
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Begriff wurde in allen ›phänomenologisch vorgehenden Dialektiken‹ untersucht und ihr ambivalenter, mit dem Ablauf des Gebens zusammenhängender Charakter aufgezeigt: Die Dankeserwartung von Seiten des Gebers, das debitum, das die Gabe beim Empfänger hervorruft und damit die in der Beziehung zwischen den zwei Subjekten implizierte, subtile und unausgesprochene Kette der Belohnung. Dank eines Vergleichs mit der christlichen Theologie nimmt Cacciari sich seinerseits vor, einem Bild der Gabe als aufrichtiger Dankbarkeit, als Analogie zur Freiheit des Anfangs, gerecht werden zu wollen. Er lehnt die theologische Definition der Gabe als absolutes beneficium ab – ein Bild, das vom Geber eine gewisse Anmaßung bezüglich der eigenen Unbelohnbarkeit annimmt. Angemessener ist aus seiner Sicht das theologische Register der Χάρις (Chàris), der gratia, »[…] als ursprüngliches Eindringen leuchtender Lebenskräfte, eine Idee von Regeneration. Ein Sprung ins Offene, weder zu bremsen noch zu halten – auch ›bebend‹, das sich aber ohne Grund verbreitet und ohne etwas zu verlangen«. 289 In der Logik des Glaubens ist die Fähigkeit zu geben dem Menschen gegeben, er ist jedoch keineswegs ihr Besitzer. Der Sohn drückt dies in der Fähigkeit, die er sich selbst zuerkennt, aus, frei sein eigenes Leben »hin-zugeben« (Joh 10,15). Diese theologische Vorstellung wird von Cacciari aufgegriffen und von seinem eigenen Blickpunkt aus entwickelt, so dass die Gabe des Sohnes als ein radikales Sich-dem-anderen-ohne-Absicht-Hingeben zu verstehen ist, ohne jeglichen Rettungswillen. 290 Daraus wird geschlossen: »Die Zwecklosigkeit stimmt also mit der Freiheit überein, die die Gesamtheit des Wesens in der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten existieren lässt.« 291 Eine solche Schlussfolgerung bedeutet dennoch nicht, dass die Gabe, um zweckfrei zu sein, zwingend den Bezug auf den Empfänger ausschließen muss. Die vollkommene Grundlosigkeit weist hingegen auch auf die Möglichkeit ihres Empfängers, als eine mögliche Öffnung der Freiheit. Laut Cacciari eignet sich aus diesem Grund das Existenzielle der Gabe als Symbol für den Geist selbst, das, indem es sich selbst gibt, ek-sistiert, und so also analogisch zur Freiheit des Anfangs gelesen werden zu können und auch zu müssen: »Vor dem Hintergrund der Freiheit ist der Akt des Gebens eine Freiheitsbewegung nur, wenn es ihr gelingt, die Figur des anderen zu ›be289 290 291
Cacciari, Della cosa ultima, 313. Ebd., 319. Ebd., 319 ff.
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freien‹ und sie im ganzen Spiel ihrer Möglichen, in allen Formen ihres Gegen-Daseins erscheinen lässt. In diesem Sinne ek-sistiert keine Freiheit außer im Befreien – aber man kann nicht befreien, ohne sein zu lassen, sich zu entleeren, um Raum zu geben und sich von jeder Absicht der Vergütung, jeder Tauschlogik zu befreien.« 292 Die letzte Etappe des hier so weit rekonstruierten Denkweges schließt an die Resultate von Dell’Inizio an, die Explikation der eschatologisch offenen Möglichkeit, dass der Mensch dem un-möglichen Maß der Selbstgabe von Seiten des Sohnes entspreche. Die göttliche Freiheit ist nur in diesem Sinne ›allmächtig‹, also fähig, das Scheitern des eigenen Entwurfs anzunehmen, sich einen vollständigen Rückzug vorzustellen, eine Folge des »unendlichen Allmöglichen, das völliges Sein-lassen ist, auch die Möglichkeit nicht zu sein«. 293 Der Gewinn gegenüber der vorherigen Schrift, ein Ergebnis der Kritik Cacciaris am »naturalistischen« Freiheitsbild als direktem Wollen, liegt in der Möglichkeit, die Existenz des Geistes selbst als »Freiheit a Deo in allen Bedeutungen des Wortes« zu verstehen. 294 Sobald der Kreis der zwingenden Gegenseitigkeit, die der Ökonomie der Gabe eignet, durchbrochen ist, kann sich der Geist frei von Gott, für Gott oder ohne Gott denken und frei von sich selbst in der un-möglichen Bewegung sich selbst verschenken.
4.4 Das Fünfte Platons und die Analogie zwischen der Einzigartigkeit und dem Anfang Auf den ersten Blick lässt der Titel des dritten und letzten Teils der Untersuchung, Toccare il Dio, einen Hintergrund religiöser Assonanzen vermuten. Der Ausdruck ist jedoch hier gerade nicht in diesem Sinne zu verstehen. Es ist vonnöten, den spekulativen Sinn zu klären, auf den die Kennzeichnung »mystisch« verweist, mit der sich der Autor eingehend auseinandersetzt. In der platonischen und neuplatonischen Philosophie wird die Sprache des Mystischen als progressives Offenbarmachen aller Formen rationaler Darstellung verstanden. »Mystisch« ist der Weg des Geistes, jene Bewegung zur Befreiung von jeglicher Vor-gabe, Annahme, während das Schweigen (μύω / 292 293 294
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Ebd., 321 f. Ebd., 323. Ebd., 327.
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Das Fünfte Platons
mýo) des Mystischen (μυστικός) nur auf dem Höhepunkt einer intellektuellen Vision eintritt. 295 Mit anderen Worten, man schweigt nur, nachdem man gesehen hat, bzw. aufgrund der Überschreitung des Geoffenbarten. Die radikale Untersuchung, auf die sich das ›neuplatonisch‹ konzeptualisierte Mystische bezieht, hat im Laufe seiner Rezeption im Denken des Abendlandes nach Meinung des Autors erhebliche Veränderungen erfahren. Auch wenn sich die europäische Tradition die im Neuplatonismus implizierte Kritik am ontotheologischen Paradigma zu eigen gemacht hat, hat sie letztendlich jene Instanz entweder mit der christlichen Offenbarung oder mit der synthetisch-versöhnenden philosophischen Dialektik des Idealismus verbunden. 296 ›Mystisch‹ ist für Cacciari hingegen der Initiationsweg, den der Geist zum »quiddam maius« zurücklegt und, mit Bezug auf die Worte Anselms, 297 nicht nur zum Unbekannten, sondern zu dem das Denken Überschreitenden; es ist die deutlichste Bestimmung, die gleichzeitig jedes mögliche definitum oder definiendum überschreitet. Der Denkweg ist mystisch, wenn er sich von dem, was ihn nicht los lässt, angezogen fühlt, wie es auch Anselm widerfährt (»in ipso cogitationum conflictu«). 298 Die Vernunft muss sich vom Nichts gefesselt erkennen, 295 Hier wird auf den V. Brief mit dem Titel Del Mistico (Della cosa ultima, 417–434) verwiesen, in dem der Autor den Ursprung dieses Wortes nachzeichnet und in Anlehnung an Giovanni Semeraro dessen philosophischen Gebrauch im Theaitetos von Platon analysiert und zwar dort, wo es zum ersten Mal auftaucht. Dabei führt er die Diskussion über die Dialektiken der αἰσθήσεις τῶν θεῶν (áisthesis tôn Theôn, Phaidon, 111 b, 8) anhand von ἔκστασις (ékstasis), ομωίοσις (hómoiosis), ἕνώσις (ènosis) und ἀφή (haphé) weiter. Für weitere Überlegungen zum spekulativen Mystischen: Cacciari, Prefazione zu Marco Vannini, Mistica e Filosofia, 9–17. 296 Als Beispiel für die erste Richtung macht Cacciari auf die Überlegungen Meister Eckharts aufmerksam. Auf der einen Seite denkt er den Weg des Geistes als Befreiung von Gott im Sinne der Ordnung des Seins, auf der anderen aber bittet er Gott, von Seinem Sein selbst befreit werden zu können (siehe: Della cosa ultima, 422 f.). Die andere europäische Richtung der Aufarbeitung des »Mystischen«, also die des idealistischen Denkens von Hegel bis Giovanni Gentile, nimmt in sich jedes Mysterium auf, indem es aus dem religiösen Moment selbst eine Stufe der Selbstoffenbarung des Geistes macht. Die Definition des »Mystischen« bei Cacciari ist genauso weit von einer Sakralisierung des religiös gemeinten Unantastbaren entfernt wie von einer Aufnahme in ein im idealistischen Sinne transzendent Absolutes. 297 Vgl. ebd., 437–441. 298 Anselm von Canterbury, Proslogion, Proemium. Zu dieser Dynamik des Denkens verweise ich auf meine Baiträge: Il peso liberante del Mistero, 54–71; 75–98; 407–462; Opus et vita in fieri. Il cammino iniziatico del pensare, 2012, 43–57; Blaise Pascal. Il paradosso al cuore della ragione, 2012, 131–150.
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das weder mit dem Wesen noch mit dem Nicht-Wesen übereinstimmt, von jenem »reinen Sein-Können jedes Seienden, das als solches in einem sein Nicht-Sein Können ist«. 299 Von dieser Auslegung vom Begriff des »Mystischen« aus, könnte der gesamte spekulative Weg Cacciaris als Versuch, ›Gott zu berühren‹ verstanden werden, also dem Unausdrückbaren des Anfangs nahe zu kommen, jenem maius quam cogitari possit. Indem der Autor die Themen des ersten und zweiten Teils der Schrift systematisch zusammenführt, kreist er den systematischen Kern seiner Überlegungen immer mehr ein und thematisiert so die analogische Beziehung, wie bereits vorausgeschickt, die das Unausdrückbare des Anfangs mit dem Denken der Einzigartigkeit verknüpft. ›Gott berühren‹ ist in erster Linie, wie schon in den Enneaden Plotins, Ausdruck der rationalen Annäherungsbewegung zur unberührbaren Einzigartigkeit des Wesens und fordert zweitens dazu auf, die Einzigartigkeit selbst als Chiffre für den Anfang aufzufassen, als analoges Zeichen dessen, was in sich nicht vollständig ausdrückbar oder auf etwas anderes als es selbst reduzierbar ist. Bei der Aufstellung dieses Kerngedankens führt Cacciari den berühmten Abschnitt des Siebten Briefs von Platon (341 b – 345 a) an, 300 in dem er die Vier Elemente des Wissens aufzählt und die Unberührbarkeit des Fünften beschreibt, ein Màthema, das keineswegs so wie die anderen kommunizierbar sei (341 c). Wie man weiß, wird diese Lehre von der Erzählung eingeleitet, in der Dionysos gegen das Verbot Platons verstößt, über die ersten Prinzipien der Physis zu schreiben. Platon zeigt sich dem Schüler gegenüber empört, der versucht hat, das zu tun, was er selbst, wenn es möglich gewesen wäre, durchaus als schönste Sache betrachte, die er in seinem Leben hätte tun können, wenn es denn ginge. 301 Platon hingegen ist klar, dass das Wesen (τήν φύσιν / tèn physin) dieser ›Sache‹ keinesfalls ῥητὸν (rhetòn) sein kann, also auf formale Weise kommunizierbar, da die Erkenntnis den zwingenden Verbindungen und Beziehungen zwischen
Cacciari, Della cosa ultima, 440. Von diesem Text, der die Existenz der »ungeschriebenen Lehren« behauptet, ging eine neue Interpretation Platons aus. Hier wird auf eine sorgfältige Untersuchung Giovanni Reales verwiesen, Per una nuova interpretazione di Platone, 94–104; 105– 121. 301 »Wenn mir überhaupt die Veröffentlichung meiner Gedanken ein Anliegen wäre, dann hätte ich selbst wohl keine schönere Lebensaufgabe gehabt als die, sie der Menschheit als Heilslehre zu schenken«. Platon, Siebter Brief, 341 d. 299 300
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Das Fünfte Platons
Propositionen folgt (341 d 7–8). Platon verwirft also nicht die von Dionysos getroffene Wahl zu schreiben als solche, sondern die Annahme, das μάθημα (màthema) in einem Gedanken (λόγος / logos) festmachen und damit die Kenntnis der φύσις (physis) erschöpfen zu können. Dem Wesen dieser Sache kann man nur mündlich entsprechen. So sagt Platon: »Das geschieht besonders dann, wenn man in vertrauter Gemeinschaft häufig und intensiv um diese Inhalte gerungen hat. Das ist dann wie ein aus einem Feuerfunken entzündetes Licht, das sich danach selbst weiter ausbreitet« (341 c-d). Als ob Cacciari zeigen wolle, die Lehre Platons verstanden zu haben, was sich auch in der fortwährenden Verwendung des Dialog- und Briefstils im Verlaufe seiner Arbeiten zeigt, merkt er an: »Ein Diskurs soll zeigen, dass es unmöglich ist, ›das‹ zu kommunizieren, was die schönste zu kommunizierende Sache überhaupt sein sollte.« 302 Im weiteren Verlauf des Briefes beschreibt Platon die vier Elemente, mit denen das Kennen der Sache selbst möglich ist (την φύσιν / tèn physin): Der Name (ὄνομα / ónoma); die Definition (λόγος / logos), das Bild (εἴδώλων / eídolon) und schließlich die begriffliche Erkenntnis (ἐπιστήμη epistéme). Er präzisiert dann, dass man zwar ohne die vier Elemente das Fünfte nicht erkennen kann, aber sie reichten an sich nicht aus, den Besitz der Essenz des Wesens in seiner Unverborgenheit zu garantieren. Die Epistéme selbst ist als dasjenige Verfahren, das mit Beziehungen zwischen Urteilen über Ähnlichkeit/ Unähnlichkeit voranschreitet, ungeeignet, die Einzigartigkeit zu erfassen. Und deswegen kann über das Fünfte weder geschrieben noch gesprochen werden, ohne einen Fehler zu machen. Das Fünfte ist also das, was der Name, die Definition, das Bild und die begriffliche Erkenntnis auszudrücken versuchten, aber dies alles übersteigt: es ist ein μάθημα (màthema). Das, was also die Kenntnis am meisten interessiert, das, was man sieht und über was man spricht, entzieht sich der Einordnung in einen Wissenszusammenhang am meisten. Das, was zwingend mit jeder Bestimmung gedacht werden muss, unterscheidet sich von jeder Bestimmung. Was am Anfang eines jeden Gedankens steht, ist zugleich in sich selbst unbestimmbar und hat ein nicht diskursives Wesen. Cacciaris Interpretation dieses Fünften ist die Sache des Denkens selbst, der perspektivische Verständnisfokus des Anfangs wie auch der Einzigartigkeit des Wesens, jener haecceitas
302
Cacciari, Della cosa ultima, 442.
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– um eine treffende Formulierung von Duns Scotus 303 zu verwenden – die sich dem Geist als das Erste aufzwingt. In diesem Sinne bleibt das, was in jedem Denken gedacht wird, wie die Vier beweisen, unbestimmbar und hat einen nicht diskursiven Charakter, ist Noumenon, das sich gibt und zeigt. 304 Durch diesen Bezug zur platonischen Gnoseologie kommt Cacciari schließlich auf die überraschende Analogie zwischen der Einzigartigkeit und dem Anfang: »Dieses Einzige, das nie als solches gesagt werden kann, erscheint so eng analogisch zum Ersten, Einen zu sein, um es auf neuplatonische Art zu sagen, von der Bestimmung der Essenz verschieden und trotzdem zwingend in der Bestimmung gedacht.« 305 Das Unausdrückbare wird zur Chiffre des unendlichen Anfangs sowie der Einzigartigkeit in seiner unendlichen Eigenschaft, auf keines der vier Elemente des Wissens reduzierbar zu sein. Für Cacciari ist das die »mystische« Dimension, die die Philosophie, wenn sie auf das Paradigma der Epistéme verzichtet – also auf die Annahme, das proprium der Sache durch Propositionen zu definieren – erreichen kann: die Öffnung für den Gedanken einer möglichen Offenbarung jenseits jeden Beweises. Indem die Philosophie sich dieser Herausforderung stellt, bemerkt sie, dass das proprium der Einzigartigkeit so wenig positum ist, Produkt der Vier, wie es Nichts ist. Es ist hingegen das, was am deutlichsten bei jeder Sache ist, anders als das Nichts, und es lässt sich doch nicht durch das diskursive Denken besitzen. Angesichts dieses Abgrunds, der sich auch noch offenbart, drängt sich eine Stille als Ergebnis einer Vision auf – und damit ist hier wieder auf die zu Beginn dieses Argumentationszuges dargelegte Definition des Mystischen zurückzugreifen. Das Erscheinen der Einzigartigkeit, die vom unaussprechlichen Ursprung und daher von einer intrinsischen Unausdrückbarkeit gezeichnet ist, legitimiert auf der einen Seite ein analoges Gespräch über den Zusammenhang zwischen realissimum und seinem ewigen 303 Der Begriff haecceitas erscheint im zweiten Kommentar der Sentenzen von Duns Scotus, bekannt unter dem Namen Reportata parisiensia, II, d. 12, q.5, Nr. 1, 8, 13, 14. 304 Das in Della cosa ultima entwickelte Thema des »Mystischen« muss im Zusammenhang mit den Überlegungen zum Mystikbegriff von Wittgenstein gesehen werden, wie er zuvor in der Krisisschrift und in Dallo Steinhoff analysiert worden war. Problemstellung und Problemlösung liefen darauf hinaus, sich mit der Ausdrucksweise des Seins durch Propositionen messen zu wollen und schließlich zur Einsicht zu führen, die Grenzen der Sprache und die Überschreitung des Vorausgesetzten zugeben zu müssen. 305 Cacciari, Della cosa ultima, 446.
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Zusammenfassung und Übergang: Zur analogischen Rede
Hintergrund und drängt auf der anderen den Gedanken der Unsterblichkeit dessen, was zum Anfang analogisch ist, als letzten Schritt des διαπορεῖν (diaporeìn) auf. Der letzte Teil von Della cosa ultima öffnet sich einem Denken des ἔσχατον (Eschaton), 306 in dem die Einzigartigkeit sub specie aeternitatis bewahrt wird und endlich »in ihrer an und für sich und perfekten Unterscheidung« 307 erscheint.
4.5 Zusammenfassung und Übergang: Zur analogischen Rede In der Ausführung der einzelnen Themen der drei Teile von Della cosa ultima bleibt die philosophische Methode der Argumentation wie schon zuvor in dem Werk Dell’Inizio eine ›diaporetische‹. Wenn man auf methodologischer Ebene eine Neuerung benennen wollte, dann wäre das der »ana-logische« Charakter, den Cacciari den Denkformen zuweist, die er mit dem Denken des Anfangs, der Einzigartigkeit und der Beziehung zwischen diesen zwei Dimensionen in Übereinstimmung zu bringen versucht. Die Diaporetik scheint also in der Analogie eine entsprechende linguistische Strategie zu finden. Nun geht es darum, die Gründe eines solchen Rückgriffs auf die Analogie herauszufinden und deren tatsächlichen Status in der argumentativen Verwendung vom Autor festzustellen. Eine Erläuterung des Sinns des ana-logos muss von der Einsicht ausgehen, dass die ἐπιστήμη (epistéme) unpassend ist, der Erkenntnis des Fünften zu entsprechen. Anders als die von der Epistéme durchgeführten Analysen, die ihr Objekt durch propositionale Urteile der Ähnlichkeit/Unähnlichkeit einzuordnen versuchen und auf logisch-dialektische Verfahren zurückgeführt werden können, stellt die Analogie eine Kenntnisbrücke zwischen zwei Begriffen her, die von den normalen logischen Beziehungen bei wachsender Distanz zwischen den zwei Polen absieht. Cacciari selbst gibt dazu eine kurze Definition: »Eine Analogie besteht, wenn sie zwischen den Dimensionen, die sie in Beziehung setzt, eine Verwandtschaft herstellt, die tiefgründiger erscheint, je
306 Im dem der Vorstellung des Paradieses gewidmeten, letzten Brief der hier rekonstruierten Schrift, beschreibt Cacciari die »políteuma en ouranoîs« als eine Gemeinschaft perfekt Unterschiedlicher, in der das Gesicht eines jeden in der besonderen Unterscheidung und in einem Bund universeller Einigkeit mit dem anderen von sich hervortritt. Vgl. ebd., 478–496. 307 Ebd., 448.
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größer die Differenz ist, die sie offenbart.« 308 In diesem Sinne bewahrt die Beziehung, die der analogische Diskurs zwischen den Begriffen einer Aussage herstellt, in seinem eigenen Status die größtmögliche Distanz zwischen den Polen der Korrelation selbst, behauptet also die »Unmöglichkeit des Ineinsfalls der Verschiedenen im Moment ihrer Berührung.« 309 Unter diesem Aspekt scheint der Grundton von Cacciaris Philosophie von einer analogischen Spannung durchzogen zu sein. 310 Auf stilistischer Ebene kehrt der Gegensatz zwischen der epistemischen und der analogischen Perspektive ständig in der Verflechtung der drei Stimmen des Dialogs wieder: Während die Gesprächspartner C und D, der Skeptiker und der Theologe, jeder auf seine Weise versuchen, einen reinen Logos-Diskurs zu entwickeln, provoziert der Autor (A) immer wieder damit, den Weg der Analogie einzuschlagen. In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dass auch die Positionen des Theologen und des Skeptikers als notwendiger Gegensatz bei der Entwicklung der Diaporetik zu einem Teil des analogischen Weges werden. Im letzten Teil von Della cosa ultima diskutieren die drei Gesprächspartner, bevor sie sich verabschieden, den Status des Symbols und der Analogie. Das gibt dem Autor die Gelegenheit, den Sinn der Verwendung des analogischen Mittels zu erklären. Was den ersten Begriff anbetrifft, so wird dieser der Kritik unterzogen. In seiner theologischen Verwendung, also als »sinnliche Erscheinung des Übersinnlichen« 311 gemeint, ist das Symbol auf Seiten der Vernunft Träger der Annahme, univoke Bilder der Wirklichkeit zu liefern und offenbart sich daher als unfähig, die Unterschiedlichen, die sie verbindet, getrennt zu halten. Mit anderen Worten: es gelingt ihm nicht – und dies galt ja, wie gezeigt wurde, auch für die analogia entis der tho-
Ebd., 461. Ebd., 500. 310 Wie Enzo Melandri beobachtet, hat die gesamte westliche Philosophie von den Vorsokratikern bis zum Neupositivismus in der Vielfalt ihrer Ausrichtungen die mit der Analogie verbundene Dynamik benutzt, d. h. das Prinzip der möglichen Korrelation zwischen voneinander entfernten Realitäten, auch wenn sie die Analogie kritisiert oder abgelehnt hat. Diese These wird von ihm auf den mehr als tausend Seiten einer Untersuchung entwickelt und dokumentiert: Melandri, La linea e il circolo, 1968. Die Untersuchung Melandris wird vom Autor in dem Teil »Fonti e tracce« am Ende des Buches erwähnt, vgl. Cacciari, Della cosa ultima, 553. 311 Ebd., 499. 308 309
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Zusammenfassung und Übergang: Zur analogischen Rede
mistischen Tradition 312 – dem unausprechlichen Prius der ersten Hypothese des Parmenides gerecht zu werden, sondern nur dem Einendas-ist der zweiten Hypothese. Aus dem selben Grund ist, laut Cacciari, die analogia entis nichts anderes als eine Unterstellung, die dem Denken, Gott und der Kreatur eine analogische Bedeutung beimisst, auch wenn die Art, wie beide im Sein stehen, dimensional anders ist. Der alleinige Sinn der Analogie, den anzunehmen für Cacciari nützlich und legitim ist, ist »[…] entweder mystisch oder er wird zwingend auf die Klinge der Kritik an der ontotheologischen Ausrichtung treffen«. 313 In diesem Verzicht der prädikativen Annahmen der Epistéme (die eine Proportion zwischen den beiden Begriffen herstellen möchte), sowie des ontologischen Denkweges (der eine perfekte »Symbolizität« verspricht) muss der von Cacciari veranschlagte Sinn der Analogie erkannt werden. »In der Analogie« – schreibt der Autor – »zeigt sich die Teilnahme zwischen ontologisch unterschiedlichen Wirklichkeiten, bei der von nur einer wirklich etwas prädiziert wird, während die andere sich in ihrem unerschöpflichen Auf-sie-Warten auszudrücken scheint. Das Leben der analogischen Form, des analogischen Denkens liegt am Ende darin: Im genauen Beschreiben der Dynamik einer Realität zu ihrem letzten »Ort«, wo sie in Beziehung mit dem Anderen von sich tritt und an ihre Grenze stößt. Die Analogie erschöpft sich nicht in toten, strengen Definitionen, sondern will verbinden, Sympathie zwischen unterschiedlichen Realitäten ausdrücken, die so bleiben und sogar noch deutlicher hervortreten, wo sie sich berühren«. 314 Die in dieser Definition des Anderen ausgedrückte Einheit ist eine ohne Mischung und gleichzeitig eine Unterscheidung ohne Ab-Trennung, als ob auf der Ebene der analogen Argumentation der Rhythmus der formalen Unterscheidungen der Ebd., 501. Auch wenn der Autor dezidiert den Engpass der Ontotheologie überwinden will, die unfähig ist, der besonderen relatio zwischen den zwei ontologisch verschiedenen Realitäten, Anfang und Subjekt, Rechnung zu tragen, muss doch auch bemerkt werden, dass es in der Tradition der klassischen Theologie das Bewusstsein einer immer größeren Distanz zwischen Gott und der Kreatur trotz der Annahme der analogia entis gab. Ich beziehe mich vor allem auf die Definition des 4. Laterankonzils (1215). Es könnte hilfreich sein, diesen Punkt zu nennen und zu diskutieren, weil er der Absicht Cacciaris und seinem Appell für eine mystisch-spekulative Deutung der Analogie sehr nahe kommt: »Inter Creatorem et creaturam non potest similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimiltudo.« DS, 806. Zu diesem Thema siehe auch: Cacciari, Il destino dell’analogia, 1999, 350–353. 314 Ders., Della cosa ultima, 502. 312 313
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trinitarischen Beziehungen nachgeahmt würden. Die Analogie zwischen dem Ersten und der Einzigartigkeit ist für Cacciari also die volle Anerkennung ihrer Unterschiedlichkeit und gleichzeitig ihrer »Sympathie«: »Das Erste ist gar nicht das absolut Abstrakte, das von jeder Bestimmung absolut Andere. Das Erste ist dieses Eigene jeden Wesens und jeder Form und seinem Erscheinen immanent; es versteckt sich in seinem Erscheinen, da alles, was erscheint, in Beziehung zum anderen erscheint […]. Mein Weg führt durch die verschiedenen Formen der Einheit ohne Mischung von irgendeiner Figur bis zu dem Punkt, an dem die Einheit die eigene unleugbare einzigartige Unmittelbarkeit offenbart.« 315 Es wird hier verständlich, wie schwer sich Cacciaris Definition des analogischen Mittels in eine der beiden klassischen Unterscheidungen der Analogie – die Analogie der Zuweisung oder der Proportionalität, die in Della cosa ultima nur am Rande diskutiert werden, einordnen lässt. Der von Cacciari entworfene analogische Dialog ist weit von dem der analogia attributionis entfernt, die als kleinster gemeinsamer Nenner einen univoken Begriff annimmt. Wenn er die Einzigartigkeit des análogon Sein-des-Anfangs erklärt, möchte er keines der Attribute der Einzigartigkeit auf das Erste ausweiten, auch nicht umgekehrt. Gleichzeitig ist der Diskurs Cacciaris weit von einem erneuten Aufgreifen der analogia proportionalitatis entfernt, bei der zwei Wesen (z. B. Gott und die Kreatur im Verhältnis zum Sein) so zueinander stehen wie zu einem Dritten. Die Verwandschaftsbeziehung zwischen dem Anfang und der Einzigartigkeit wird nicht in ontologischer Perspektive gedacht. Trotzdem muss gesagt werden, dass in Cacciaris Überlegungen die Absicht besteht, das Un-Verhältnis zu messen, das auch bei jener Prädikation angenommen wird, die der Analogie Proportionalität zuschreibt. In Della cosa ultima erfüllt sich die Analogie in der Möglichkeit, eine Ähnlichkeit der Beziehung zwischen maximal unterschiedlichen Begriffen zu prädizieren, gerade dann, wenn sich die immer größere Differenz zwischen den zwei Begriffen der Beziehung auftut, beziehungsweise im Moment des un-mittelbaren und un-möglichen Sichgebens ihres »Kontakts«. 316 Die Analogie im Sinne Cacciaris ist eine Ebd., 503 f. Hier muss der Beitrag zur Kritik der Idee der Epistéme von Giorgio Colli genannt werden, der auch von Cacciari im Buch zitiert wird (vgl. 449–454). Die von Colli vorgeschlagene Interpretation geht von seiner italienischen Textausgabe der Peri hermeneias von Aristoteles aus, deren Titel auf Italienisch mit Dell’espressione [Vom Audruck] übersetzt wird und sich so von der lateinischen Tradition, die Peri herme315 316
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Zusammenfassung und Übergang: Zur analogischen Rede
besondere Form der Prädikation, die der logischen Unmöglichkeit, die Sache zu sagen, widersteht. Sie kann das, weil sie fähig ist, den »mystischen« Status des Erkennens zu respektieren, also die Ähnlichkeit neias mit De interpretatione übersetzte, distanziert. Die theoretischen Beweggründe dieser terminologischen Entscheidung werden in seiner wichtigsten systematischen Schrift Filosofia dell’espressione (1969) erklärt, der Cacciari einen kurzen aber entscheidenden Vergleich in Della cosa ultima (449–454) widmet. Colli hat die Absicht, den Begriff »Ausdruck« von der semantischen Färbung zu befreien, die ihm der moderne Subjektivismus zugeschrieben hat, um ihm die ursprüngliche griechische Bedeutung zurückgeben zu können. Für die Philosophie von Descartes, für Kant und den Idealismus, für die Ästhetik der Spätromantik bis hin zu Schopenhauer ist der Ausdruck die Weise, mit der das Subjekt sein eigenes Inneres ausdrückt. In diesen philosophischen Traditionen liegt der perspektivische Fokus der Vorstellung auf dem Subjekt, das alle »Objekte« bei der Entstehung seiner Hermeneutik der Welt bedingt. Seit der Moderne meinte die Philosophie, dem Subjekt eine bedingende Funktion in Bezug auf das Objekt zuschreiben zu können. Im gnoseologisch griechischen Denken wurde das Problem der Erkenntnis hingegen keinswegs aus der Perspektive des Subjekts angegangen, sondern eher aus der des Objekts (Filosofia dell’espressione, 8). Die Diskussion des Subjekts wurde so in den Bereich der Psychologie verlagert (La ragione errabonda, 257). Ausgehend von diesem offensichtlichen Fakt versucht Colli, der objektivistischen Perspektive wieder Bedeutung zu verleihen, die in klarem Gegensatz zum Subjektivismus, dem Perspektivismus und dem Existenzialismus seiner Zeit stehen. Die Analyse einer Vorstellung ist die der Beziehung zwischen einem »Subjekt« und einem »Objekt«. Aus einer bestimmten Perspektive (dem Subjekt) hat man zur Erkenntnis eines bestimmten Phänomens Zugang. Dennoch, so beobachtet Colli, verwandelt sich die Perspektive, der Beobachtungspunkt, beim Versuch, die Perspektive zu definieren, in ein Objekt und die archè der Perspektive verschiebt sich noch mehr. Davon muss man ableiten, dass hinter jeder Vorstellung immer etwas ist, was zuvor kommt: »Die cogitatio schafft den cogito, nicht der cogitans; es gibt eine cogitatio ohne cogito, aber nicht andersherum.« (La ragione errabonda, 281). Es ist nicht möglich, jene gnoseologische Struktur zu übergehen, ohne sich zu täuschen. Die perspektivische Illusion der modernen Philosophie, die dem Subjekt in Bezug auf das Objekt eine bedingende Funktion zugewiesen hat, wurde von einem der Intentionalität inhärenten Element verursacht: Der Erinnerung. Diese hat nämlich die Funktion, die mittelbaren und unmittelbaren Vorstellungen zu vereinen, die ihrerseits von den Gefühlen verursacht werden, wie ein Einbrechen und Bleiben von etwas in die Erkenntnis, das nicht Erkenntnis ist (La ragione errabonda, 281). Im unmittelbaren Eindruck unterscheidet sich das Subjekt von der Vorstellung nicht; in der mittelbaren unterscheidet es sich von dieser, indem es mit dem Eindruck etwas von sich Getrenntes macht, also wieder ein Objekt (La ragione errabonda, 126). Durch die Identifikation von Erstellung und Erinnerung möchte Colli den vorausgesetzten Charakter zeigen, der dem Verlauf des Vorstellens entspricht. Als ob man sagen wollte, dass jede Vorstellung ein Subjekt impliziert, aber nicht von diesem geschaffen wird. Vorstellen ist für Colli immer ein Erinnern. Der Verlauf der Vorstellung bestätigt nämlich die Existenz eines Zusammenhangs (»Kontakt«) mit einem notwendigen Hintergrund der Unmittelbarkeit, der in sich selbst weder Vorstellung noch vorstellbar ist und der der Der Anfang als Freiheit
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IV · Die eschatologische Differenz der Freiheit
der Beziehung zwischen Unausdrückbarkeit des Anfangs und jener der Einzigartigkeit. Die Methode der Philosophie wird analogisch, sofern der bestehende Diskurs unter dem Zwiespalt der logischen Unmöglichkeit leidet, das proprium der Sache sagen zu wollen, und der Unmöglichkeit, komplett darauf zu verzichten; dies geschieht in der gesamten Schrift Cacciaris. In jedem der drei Teile, bei jeder Denkwende, wohnt man dem immer neuen Entstehen einer unerlässlichen Spannung bei, die Sache in ihrer unerschöpflichen Einzigartigkeit zu berühren und gleichzeitig, einem ängstlichen Voranschreiten der Unmöglichkeit eines solchen Gedankengangs. Und dies – wie Cacciari schon in Dell’Inizio gezeigt hat – beschränkt den philosophischen Diskurs nicht, sondern belebt ihn in Richtung auf die unendlichen Möglichkeiten des Wieder-Sagens. 317 Eine solche analogische Bewegung der umfassenden Wiederaufnahme der platonischen Lehre zum Fünften steht in einem grundlegenden Gegensatz zur logozentrischen Annahme des epistemischen Diskurses. vorstellenden Vermittlung vom Erkennen vorangeht. Im »Kontakt« gibt sich das, was dargestellt werden wird. »Und dennoch,« präzisiert Colli, »kommt diesem Horizont der Unmittelbarkeit »nicht das Attribut der Realität zu, da ihm gar kein Attribut zukommt: Die Prädikate gehören zur Vorstellung« (Filosofia dell’espressione, 12). Dieses »unmittelbar« ist für Colli also nicht vorstellbar, von ihm kann es sich keine Prädikation geben, sonst wird es in ein »Mittelbares« verwandelt. Die Vorstellung möchte also das Unmittelbare ausdrücken. Aber sobald es dieses zu prädizieren versucht, verwandelt sich das Unmittelbare in ein »Objekt« der Mitteilung. Dieser Gedanke des »Kontakts«, der jedem Ausdruck und jeder diskursiven Vorstellung vorausgeht, die an der Stelle von deren Abwesenheit entsteht, scheint mir ein theoretischer Beitrag zu sein, der vollkommen im Einklang mit den Überlegungen zur Plausibilität des von Cacciari vorgeschlagenen analogischen Diskurses steht. 317 Vgl. Cacciari, Della cosa ultima, 477. Diese gnoseologische Perspektive fügt sich kohärent mit den vorangegangenen Überlegungen zur bildnerischen Darstellung und der Theologie der Ikone zusammen. Der gleiche Begriff »Ikone« kehrt mehrmals in Della cosa ultima wieder, um die Analogie zwischen der Einzigartigkeit und dem Anfang auszudrücken. Cacciari selbst widmet diesem Thema einige Seiten im letzten Teil der Schrift (473–477), als ob er in den Überlegungen zur Letzten Sache auch das, was er Jahre zuvor in Angelo necessario (1986) ausgedrückt hat, zusammenführen wolle. Der Ikonograph überreicht dem Beobachter eine Zeichnung mit Figuren, sichtbar und berührbar, die trotzdem ein Widerschein des Unausdrückbaren sind. Im Gegensatz zu dem, was in der Porträtzeichnung oder in Landschaftsbildern passiert, die die Realität mithilfe der Perspektive nachzuahmen versuchen, hat die Ikone als Ziel nicht die Darstellung eines obiectum. Jede Figur, die sich vor dem goldenen Hintergrund abhebt, erscheint als einfaches Strahlen des ewigen und unsichtbaren Lichtes. Die religiöse Ikonographie sowie auch die Philosophie Cacciaris versuchen in ihrem analogischen Vorgehen die Ausdrucksmittel hinauszuzögern, bis sie die Sache sub specie aeternitatis ausdrücken.
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Kapitel V Die dem Seienden selbst immanente Differenz
5.1 Das philosophische Labyrinth Den dritten und abschließenden Flügel des systematischen Tryptichons stellt Cacciari 2014 mit der Schrift Labirinto filosofico vor. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Della cosa ultima wendet er sich noch einmal der These der Unmöglichkeit zu, das Seiende auf eine bestimmbare οὐσία (ousía) reduzieren zu können, aber diesmal hergeleitet aus der Grundlage des aristotelischen Diskurses. Der Leser wird sich über den Titel dieser Schrift vielleicht wundern, hat er doch nach Della cosa ultima einen anderen Ausgang erwarten können. Hier aber soll zu Aristoteles und dem rätselhaften Anfang der Philosophie auf eine beinahe kafkaeske Weise zurückgekehrt werden. Die Art der Prädizierung des Seienden war entscheidend für die gesamte westliche Philosophie. Wie Aristoteles selbst am Anfang der Metaphysik schreibt, beginnt die Philosophie mit dem Staunen (θαῦμα – θαυμάζειν / thàuma – thaumázein) über das τὸ ὂν (tò ón); 318 die Frage, »Was ist das Seiende?«, liegt also der spekulativen Forschung zugrunde oder, um das Bild des Titels zu nutzen, ist wie das gemeinsame Labyrinth des gesamten westlichen Denkens aufzufassen. Für Cacciari muss die Struktur dieses Labyrinths nicht zwingend als ein qualvoller Weg zu einem Zentrum gesehen werden, sondern im Gegenteil als ein Weg, der vom Zentrum – vom tò ón nämlich – ausgeht und sich in verschiedene Denkwege verzweigt. Das bedeutet: Man erreicht das Seiende nicht am Ende des Weges, sondern das Seiende ist der gemeinsame Ausgangspunkt der verschiedenen westlichen Philosophien, die alle einen bestimmten methodos (μετὰ οδός / metà-hodòs) ausprobiert haben, um den Ausgang aus dem Labyrinth finden zu können. 319 Das Zentrum ist also das gemeinsame Element, aber die Ausgänge ins Freie hin zu jenem quid, das erneut undefinier318 319
Aristoteles, Metaphysik, A, 2, 982, b 12–17. Vgl. Cacciari, Labirinto filosofico, 14 f.
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bar bleibt, sind viele – wie etwa in Kafkas Novelle »Vor dem Gesetz«. Abgesehen von der Bedeutung dieser Metapher ist die interpretative Voraussetzung, von der die neue Schrift Cacciaris ausgeht, weiterhin – so soll hier evident gemacht werden – die platonische Lehre im Rahmen des Fünften und daher das Problem Bestimmung-Sagbarkeit als proprium der Sache entfaltet. So wird es erneut als aporoúmenon des Denkens tout court bestätigt, als das, was immer und wiederholt in einem unerschöpflichen Annäherungsversuch an das letztlich Unerreichbare durchlaufen werden muss. Erstaunlich ist die Beharrlichkeit, mit der Cacciari eine klare kritische Positionierung gegenüber all jenen gnoseologischen Modellen einnimmt, die vorgeben, die Ausdrucksmöglichkeiten des Sagbaren in genau bestimmbaren Erkennungsparadigmen vollständig erfassen zu können. Jene Kritik betrifft erstens die erklärte Selbstständigkeit der technisch-wissenschaftlichen Rationalität, die vorgibt, die Kenntnis des Seienden mit seinen empirischen Bestimmungen ausfüllen zu können; und zweitens widerspricht der Diskurs Cacciaris auch der Annahme der scholastischen und heideggerschen Ontologie, in der die Bestimmung des tò ón innerhalb der ontologischen Differenz zwischen Seiendem und Sein angesiedelt werden, wobei dabei aber die ursprüngliche im Seienden immanente Differenz vergessen werde. 320 Das geschieht sowohl in den aktuellen Tendenzen der Philosophie der Dekonstruktion, die die methaphysische Frage über grundsätzliche Überlegungen zu dem Seienden auflösen, 321 als auch in der in Italien entstandenen Diskussion über den »neuen Realismus«. 322 Ebd., 13. Ebd., 15–19; 21; 327–331. 322 Ebd., 318–327. Der ›neue Realismus‹ von Maurizio Ferraris präsentiert sich als neues philosophisches Paradigma, das die »Postmoderne« abgelöst hat und eine erste ästhetische Definition als Ontologie der Wahrnehmung (Estetica razionale, 1997) und kürzlich auch als systematische Definition erhalten hat (Manifesto del nuovo realismo, 2012; Realismo positivo, 2013). Seiner Meinung nach ist der »neue Realismus« das, was sich uns nach den Erfahrungen des medialen Populismus’, der kulturellen und zivilen Krise nach dem 11. September 2001 und der wirtschaftlichen Krise aufdrängt. Jene Ereignisse haben demnach zwei Dogmen der Postmoderne widersprochen: Der Vorstellung Nietzsches, nach der es keine Tatsachen gibt, sondern nur Interpretationen von Fakten und die Realität daher als ein gesellschaftliches Konstrukt zu betrachten ist; und zweitens die Vorstellung, Wahrheit und Objektivität seien zwei künstliche und dazu noch sinnlose Begriffe. Der neue Realismus ist jene Philosophie, die versucht, von Fall zu Fall zu unterscheiden, was als »kulturell« und was als »natürlich« angesehen werden kann. Es handelt sich also nicht um eine neue Theorie des Realen, sondern um eine Untersuchungsmethode im Geflecht konventioneller, objek320 321
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Im Gegensatz zu diesen neuen hermeneutischen Perspektiven will also der Autor zeigen, dass und inwiefern das gesamte westliche ontologische Denken letztlich von einer Aporie gekennzeichnet ist: von der nicht reduziblen Differenz zwischen dem reinen Erscheinen des Seienden und den begrifflichen Bestimmungen, mit denen der Logos dieses zu definieren versucht, wobei dieser Hiatus so niemals überwunden werden kann, nämlich das immer größere metaphysische Herausragen des ens in quantum ens gegenüber den Formen seiner Prädikation. Bei dem Versuch, diesen Problemkern als unmögliche Pflicht des westlichen Denkens zu erweisen, teilt der Autor den Band in verschiedene Etappen ein, die einen systematischen Vergleich von Autoren und Epochen der Philosophiegeschichte erlauben: Angefangen bei Platon und Aristoteles über den Neoplatonismus zum italienischen Humanismus, zu Descartes, Kant, Hegel, Schopenauer, Nietzsche, Wittgenstein und Husserl. Die beiden Kernthemen, um die sich die gesamte Abhandlung dreht, sind die der Prädizierbarkeit des Seienden und die damit verbundene Problemfrage, welcher Sinn der Vorstellung des Ersten zuzuschreiben ist; von daher verdient die ursprüngliche Interpretation dieser Problematiken im Rahmen der aristotelischen Philosophie, die sich als Alternative zu der platonischen versteht, besondere Aufmerksamkeit.
5.2 Das Seiende als aporoúmenon Was für Aristoteles die Metaphysik von den anderen Wissenschaften unterscheidet, seien es die theoretischen (Physik und Mathematik), praktischen (Ethik und Politik) oder poetischen (Kunst und Technik) Wissenschaften, ist die Frage nach der Art des Seins überhaupt, noch bevor über bestimmte Formen der Realisierung nachgedacht werden kann. Diese Frage, die es nach Aristoteles nicht in den Ursprüngen der griechischen Philosophie gab (πρώτη φιλοσοφία – próte philosophía), stellt also die Grundproblematik der ersten und metaphysischen Wissenschaft dar, ein Begriff, der, wie wir wissen, nicht von Aristoteles, sondern von einem seiner Lektoren in späterer Zeit getiver und natürlicher Elemente. Nicht Wenige haben sich in Italien und im Ausland den Thesen Ferraris angeschlossen. Für Deutschland ist auf den Beitrag von Markus Gabriel zu verweisen, der in die Richtung einer neorealistischen Ontologie führt: Warum es die Welt nicht gibt, 2013. Der Anfang als Freiheit
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prägt wurde. Die Metaphysik ist also die oberste Wissenschaft, weil ihr Gegenstand, das allgemeine Wesen des Seins, bei jeder Untersuchung, die etwas über das Seiende prädizieren möchte, vorausgesetzt werden muss. Überraschenderweise werden im Organon und in der Physik die zwei Grundbedeutungen des Seienden (τὸ τί ἦν εἶναι / tò tí en einai und οὐσία / ousía) 323 nicht diskutiert, obwohl diese die Bedingung der Möglichkeit derselben Wissenschaften darstellen. 324 Das ist umso erstaunlicher, als im Organon die ontologische Verwurzelung der Prädikationsmuster angenommen und in der Physik auf die Kategorien als »Klasse der existierenden Dinge« bezogen wird. Deswegen wendet sich Cacciari mit der Absicht, auf diese Problematik des Wesens und der Prädizierbarkeit des Seienden einzugehen, dem Text der aristotelischen Metaphysik zu, vor allem dem IV. Buch, in dem der Status jener Wissenschaft geklärt wird, die anders als die Einzelwissenschaften den Gründen und Prinzipien vor dem Sein als solchen nachgeht. Bekanntlich beginnt Aristoteles seine Überlegung mit der These einer in sich problematischen Beziehung zwischen dem Seienden und der Vielzahl an Bedeutungen, in der sich seine Befragung ausspricht: »Das Sein kann auf unterschiedliche Art gesagt werden (πολλαχῶς / pollachôs), aber es ist immer auf eine bestimmte Realität bezogen (μία φύσις / mía physis).« 325 Cacciaris Gedanken drehen sich zentral um die Frage, welcher Sinn dem aristotelischen Begriff der φύσις zukommen soll. In der soeben zitierten Definition steckt für Aristoteles das gemeinsame Element der verschiedenen Arten, das Sein zu prädizieren, in dem gemeinsamen Wesen (φύσις), das eine Konvergenz zwischen den Begriffen des Seins und dem Ersten gleichzeitig voraussetzt und aufstellt. 326 Diese μία φύσις soll dennoch nicht platonisch als eine höhere Klasse verstanden werden, der verschiedene Bedeutungen des Seins zugeordnet werden können. Mit Bezug auf das V. Buch der Metaphysik, in der Aristoteles die unterschiedlichen Weisen (πολλαχῶς), das Sein zu prädizieren, spezifiziert, 327 stellt Cacciari fest, dass Aristoteles, Metaphysik, Α, 8, 988 a 34 f. Vgl. Cacciari, Labirinto filosofico, 21 f. 325 Aristoteles, Metaphysik, Γ, 2, 1002 a, 32 f. 326 Ein vom Seienden getrenntes Erstes ist nicht vorstellbar. Die aristotelische Henologie betrachtet das Erste nur als der bestimmten Einheit jedes Seienden immanent, in klarem Gegensatz zu jener Platons.« Cacciari, Labirinto filosofico, 24. Cacciari nimmt hier Bezug auf Berti, L’essere e l’uno in Metaph. B., 365–379. 327 Nach der aristotelischen Lehre hat das Sein vier Aspekte oder Bedeutungen: Dieses 323 324
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Aristoteles die Definition des Seienden gar nicht auf die vier Bedeutungen des Seins beschränkt. Die Weise der Prädikation nach jeder einzelnen Kategorie bezieht sich vielmehr immer auf einen perspektivischen Fokus, die οὐσία (ousía), die im VII. Buch als »τὸ τί ἐστι καὶ τόδε τι / tò ti estì kaì tòde ti« 328 genannt wird. Wie sollen also diese beiden Grundbedeutungen des Seienden, die Cacciari bewusst in der griechischen Formulierung stehen lässt, verstanden werden? »Τὸ τί ἐστι καὶ τόδε τι« mit »essentia« oder Ähnlichem 329 zu übersetzen, wie es der lateinische Aristotelismus gemacht hat, würde für den Autor das Risiko bedeuten, die Tragweite der aristotelischen Definition von »τί ἐστι« (tí estí) zu verlieren, die es deutlich vom »τὸ τί ἦν εἶναι« (tò tí en einai) unterscheidet. Mit der Absicht näher zu bestimmen, was das Seiende sei, scheint Aristoteles hier bewusst den Fokus auf das estí bzw. auf die Art der Erscheinung des Seienden vor jeder Bestimmung zu legen. Mit anderen Worten: Wenn sich Aristoteles des Ausdrucks »tò tì estì kaì tòde ti« bedient, um die ousía zu deuten (σημαίνειν / semaínein), dann steht ousía schlicht für die Tatsache, für etwas, das ist, und dies vor seiner Teilnahme an den Formen der Prädikation. 330 Der Grund der ousía ist also keine Grundlage. 331 Deswegen reduziert Aristoteles das Seiende nicht auf dessen Prädikation durch Kategorien, sondern betrachtet es stattdessen als ἁπλῶς (haplòs), fasst es in seinem simpliciter Sich-geben vor jeder Bestimmung. Und genau das ruft in Anbetracht der Einleitung der Metaphysik das θαυμάζειν (thaumázein) hervor, aus dem das philosophein entsteht. Also in der Anerkennung dieses metaphysischen Moments, der das τὸ τί ἐστι (tò tí estí) von jeglicher Einordnung in eine Kategorie absondert, steckt für Cacciari kann akzidentiell; an sich bzw. nach den Kategorien (Wesen, Qualität, Quantität, Beziehung, handeln, erleiden, wo und wann) sein; nach dem Seienden im Denken als richtig oder falsch und nach der Potenz und dem Akt prädiziert werden. Aristoteles, Metaphysik, Δ, 7, 1017 a 7 – 1017 b 26. 328 Aristoteles, Metaphysik, Ζ, 1, 1028 a 11 f. 329 Man vergleiche nur den ersten Artikel von De ente et essentia des jungen Thomas von Aquin, in dem die Beobachtung Cacciaris bestätigt wird. Die essentia nennt der Aquiner nämlich: ›quidditas‹, ›quod quid era esse‹, ›forma‹, ›natura‹. 330 So bemerkt Cacciari: »[…] ousía bedeutet nichts anderes als das Dasein des Seienden. Ousía ist sogar die erste Art, in der wir das Seiende sagen. Und genauer noch: Von den Arten, das Sein zu sagen (lègein), ist jene, die tò tí estí sagt, die Erste und das tò tí estí bedeutet die ousía.« Labirinto filosofico, 14. 331 Eine solche Bezeichnung des Seienden als ewiges aporoúmenon tritt natürlich mit der scholastischen Übersetzung von ousía mit substantia in Widerspruch: Ebd., 28 f. Der Anfang als Freiheit
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das metaphysische Grundproblem. Deshalb macht er auch in dem aristotelischen Text Elemente aus, die in die Richtung einer Auffassung des Seienden als ἀπορούμενον 332 (aporoúmenon) gehen, als Sich-geben eines unauslöschlichen Hervorragens des Seienden vor den Arten seiner Prädikation oder – um Cacciaris eigene Worte zu verwenden – des Sich-gebens einer ontologischen Differenz, »[…] die eine dem Seienden immanente Differenz ist eine, die die GegenwartAktualität des ón in sich trägt«. 333 Die ousía drückt das Seiende aus, aber vor jeder anderen Bedeutung und Zuschreibung. 334 Die einfache Tatsache des Seienden tò ón bleibt. Diese geht jeder Form der Prädikation voraus als direkter Ausdruck ihrer individuellen Einheit. 335 Eine letzte Bestätigung dieser Deutungshypothese wird vom Autor im VII. Buch der Metaphysik ausgemacht, in der Aristoteles, nachdem er der ousía den ersten Sinn der »tò tì esti kaì tòde ti« zuschreibt, erklärt, dass auch diese ousía, auf analoge Weise zum tò ón, auf viele verschiedene Weisen (πολλαχῶς / pollachôs) 336 gesagt werden kann: Sie kann als Essenz, Universelles, Genus und Substratum gesagt werden. Als Substratum können sich auf verschiedene Weise die Materie, die Form und das Compositum aus Materie und Form betrachten. Cacciari beobachtet, wie der Stagirite auch bei diesem Übergang eine klare Hierarchie zwischen den verschiedenen PrädikaAristoteles, Metaphysik, Z, 1, 1028b 2–4. Cacciari, Labirinto filosofico, 13. 334 »Wenn es die ersten Substanzen nicht gäbe, dann wäre die Existenz der anderen unmöglich«. Kategorien, 2b 5–6. Der Vorrang der ersten ousía, des dieses-hier führt dazu, dass die Kategorien, die Formen und die Genera ousíai genannt werden können, aber eben »zweite« ousíai. Ohne die »erste« ousía blieben sie leere semantische Hülsen. Man könnte also die ousía als »Grund« der Prädizierbarkeit nennen, sofern diese als innerer Grund des Seienden selbst verstanden wird, also dem Aufbau des Seienden immanent. So erklärt Aristoteles genauer: »Es scheint unmöglich, dass ousía das ist, was im Universellen prädiziert (tôn logoménon) wird. Genauer ist ousía jedes Seienden das, was nur ihm eigen ist.« Aristoteles, Metaphysik, Z, 13, 1038b 8–10. Was nämlich universell ist, kann nicht, da es gleichzeitig mehreren Dingen zugeschrieben werden kann, das tóde ti, das dieses-hier bezeichnen, sondern nur die Qualität (toiónde). Aristoteles, Metaphysik, Z, 13, 1038b 35 – 1039a 2; »Die ousía gehört zu nichts anderem als zu sich selbst und zu dem Subjekt, dem sie gehört und dessen ousía sie ist«. Aristoteles, Metaphysik, Z, 13, 1040b 23 ff. 335 Vgl. Cacciari, Labirinto filosofico, 33. Auch wenn die Kategorien, die Genera und die Arten der ersten ousía entsprechen, ist das, was sie ausdrücken, nicht das Direkte, sondern das Seiende als Genanntes (legómenon), als Prädiziertes nach den Verbindungsformen von Genera und Arten. 336 Aristoteles, Metaphysik, Z, 1, 1028b, 31–32. 332 333
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tionsformen der ousía herstellt: Die Essenz (im Sinne von τὸ τί ἦν εἶναι), hat nämlich gegenüber dem Universellen, Genus und Substratum Vorrang. Indem er die Aufmerksamkeit auf den Ausdruck ›tò tí en einai‹ lenkt, der in seiner lateinischen Formulierung »quod quid erat esse« heißt, legt Cacciari den Akzent auf die von Aristoteles verwendete Zeitform, nämlich das Präteritum; in diesem Sinne sagt das ›tò tí en einai‹ über das Seiende, was es vor jeder Prädikation, vor jeder Zugehörigkeit zu Genus oder Art oder einer der Klassen der existierenden Dingen war. Wenn das ›tò tí en einai‹ für Aristoteles die beste Formel ist, um die ousía auszudrücken, dann besteht der geeignetste Weg darin, sich der Kenntnis des Seienden anzunähern, jedoch nicht in der Verwendung von Urteilsbeziehungen: Weil die Episteme mit Urteilen qua Ähnlichkeit/Unähnlichkeit operiert, kann sie nicht zur Kenntnis des Wesens des Seienden vordringen. Im Einklang mit der Definition, was das Erste 337 ist, rettet das Präteritum ›τὸ τί ἦν εἶναι‹ das, was sich im Prozess, die ousía zu bedeuten, letztlich jeder kategorialen Bestimmung entzieht: »Das ›tò tí en einai‹ ist die offensichtliche Spur, die der Anordnung des Diskurses immanent ist. Es ist die Spur einer Definition, die über jeden Begriff hinausgeht, eines immer unerreichbaren Horizonts, der dennoch all das, was man unbestimmt von Mal zu Mal vom Seienden sehen und prädizieren kann, in sich vereint.« 338 Eine solche Deutung der aristotelischen Schrift könnte eine bestimmte platonisierende Absicht Cacciaris vermuten lassen. Aber das ist nicht der Fall. Der Autor hütet sich davor, das τὸ τί ἦν εἶναι (tò tí en einai) mit einer universellen Form in Verbindung zu bringen. Das ›tò tí ên einai‹ ist nicht eine Art von höherem Genus im platonischen Sinn, an dem das τὸ τί ἐστι καὶ τόδε τι (tò tì esti kaì tòde ti) teilnimmt; es ist nicht das universalissimum, sondern im Gegenteil: »das realissimum der nie zu begreifenden Gegenwart des Seienden«. 339 Mit anderen Worten, das quod quid erat esse sagt etwas über das Seiende, aber etwas, das in sich unprädizierbar bleibt und etwas Vorhergehendes in Bezug auf die Form der Prädikation behält. Die Verwendung des Verbs »sein« im Präteritum drückt das aus, was für den logos unmöglich ist zu prädizieren, jenes proprium, das einzig und allein einem
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Aristoteles, Metaphysik, Z, 4, 1030a, 11. Cacciari, Labirinto filosofico, 37. Ebd., 39.
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bestimmten Seienden angehört und vor dem »ist« im Sinne der Verbindung zweier Begriffe zu einer Beziehung kommt. Am Ende des VII. Buchs behauptet Aristoteles, dass die Selbstbefragung zu dem Warum einer Sache, zu dem Grund, warum eine Sache sie selbst ist, letztendlich bedeutet, ihre Ursache zu suchen (17, 1041a 27), und erklärt, dass der Grund des sinnlich-zusammengesetzten Seienden weder ein Element sein kann noch eine Verbindung von Elementen. 340 Ihr Grund muss unum sein, so wie jeder Teil dieses Einen einzeln analysiert werden kann (17, 1041b 19–28). Folglich wird der Grund des sinnlichen Seienden in der ousía (weil es nicht materielles Element, sondern Prinzip ist) gefunden und jene οὐσία – sagt Aristoteles – scheint mit der gleichen φύσις (17, 1041 b 30–31) übereinzustimmen, im Einklang mit der allgemeinen Definiton der μία φύσις (mìa physis) im IV. Buch. 341 Der Begriff φύσις (physis), von dem die Definition des Seins ausging, kehrt also wieder zurück. Die Physis wird nicht im materiellen Sinne verstanden, sondern erhält hier die Stellung des Anfangs und deswegen, so Cacciari, von Anfang als ἀρχή. 342 Die Physis ist das gemeinsame Prinzip des Seienden, welches dem τὸ τί ἐστι (tò tí esti) sein εἶδος (eîdos) gibt und das proprium des Seienden rettet. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Physis als Individuationsprinzip des Synholons funktioniert: Auch wenn diese Physis kein Element ist, das in sich eine ontologische Vollständigkeit besitzt, besteht ihre Funktion darin, jedes Seiende gemäß seiner individuellen Gegenwart zu informieren. Diese ist somit die transzendentale Einheit der Kategorien, auch wenn sie nichts von ὑπερούσιον (hyper340 Den Grund zu suchen, bedeutet die die Materie bestimmende Form (εἶδος) zu suchen, eine Form, die sich nicht getrennt oder abstrakt geben kann, sondern immer der Materie immanent ist, als das, was die Materie bezeichnet (Aristoteles, Metaphysik, Z, 17, 1041b 8 f.). Vgl. ebd., 39–41. 341 »Das Sein sagt sich in vielen Arten (πολλαχῶς), aber immer in Bezug auf eine bestimmte Realität (μία φύσις)«. Aristoteles, Metaphysik, Γ, 1, 1002a 32 ff. 342 Cacciari hat die Absicht, den ursprünglichen Sinn der heraklitischen Prägung von Physis wieder herzustellen im Gegensatz zur scholastischen Übersetzung der Physis mit natura (mit der darauf folgenden Unterscheidung zwischen natura naturata und natura naturans) sowie zur späteren Annahme des Konzepts der Natur in deterministisch-mechanistischer Lesart der Moderne. Einzig Giordano Bruno ist sich nach Meinung Cacciaris des Vergessens bewusst gewesen, in das die Physis zu fallen schien und hat deren ursprüngliche Bedeutung bewahrt als »Spur einer unendlichen Energie, die, obwohl sie jedem Seienden innewohnt, super omnia bleibt und niemals etwas bestimmt.« Cacciari, Labirinto filosofico, 170 f.; Vgl. bes. 169–177.
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oùsion) hat. 343 In diesem Sinne wird klar, dass Cacciari nicht den »Vatermord« von Aristoteles an Platon leugnen will. Das Sein gibt sich aristotelisch als ein Prädizierbares, das in sich eine Vielzahl von Bedeutungen vereint, aber behält auch ein perspektivisches Zentrum, eine oberste Bedeutung, von der man nicht sagen kann, sie habe einen realen und noch weniger einen rein logisch formalen Wert. Der geeignetste Ausdruck, um einen perspektivischen Fokus auszudrücken, wird von der Formulierung im Präteritum gegeben: τὸ τί ἦν εἶναι (tò tí en einai). Das Seiende kann also nicht nur auf die einfache aktuelle Gegenwart reduziert werden, estí, auf das, was nur zu den Formen der Prädikation gehört; kein λεγόμενον (legómenon), kein benanntes Seiendes kann das reale Seiende ausfüllen: »Das Seiende war das, was sich in dieser Gegenwart aufdeckt, der Grund, der diese Sache in ihrer Einzigartigkeit gemacht hat, das, was diese in ihrer eigenen Form generiert hat. Und auf diesen Ursprung können wir nur im Präteritum Bezug nehmen […]. Kein Seiendes hat einen Grund. Deswegen ist es nur im Präteritum angebbar.« 344 Dem zufolge wird der Erkenntnisprozess der Episteme, die die Elemente des tò ón (Partizip I.) prädiziert, nicht geleugnet. Und dennoch muss man gleichzeitig anerkennen, dass die Prädikation der Episteme immer durch etwas anderes als das, was das Seiende in sich selbst ist, erfolgt – wie es in einer der Conclusiones von Giovanni Pico della Mirandola heißt, die Cacciari zitiert: »qui attingit rem in deffinitione, attingit rem in alteritate.« 345 Laut Cacciari ist sich Aristoteles mit diesem Text durchaus der Aporetik bewusst, in die jeder Versuch, das Seiende in praecisione suae unionis erreichen zu wollen, gerät; er ist sich bewusst, dass die Voraussetzung für die Möglichkeit des κατηγορεῖν (kategoreìn), das sich der Aktualität des Seienden zuwendet, im Präteritum des quod quid erat esse bleibt; diese Tatsache bedeutet, dass das quod quid erat esse für die Episteme ungreifbar bleibt. 346 Aber nach Cacciaris MeiEbd., 41. Ebd., 42. 345 Ebd., 43. 346 »Das tò ón, die Gegenwart des Seienden, das in ousía mitschwingt, ist-nicht ohne ›tò tí en einai‹ denkbar, nicht ohne die Herkunft der Physis, die der letzte Grund seiner Form ist. Der Logos wendet ihm sich immer im Präteritum zu, er muss die Formen, durch die er sich an diese Archè wendet, immer im Präteritum beugen. Es handelt sich aber um die Form, mit der sie die gleiche haecceitas des Seienden zeichnet! Mit dem Präteritum wird jedoch nichts Abstraktes oder Vages angedeutet; es ist hier nicht 343 344
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nung ist es kein Zufall, dass Aristoteles immer das Verb σημαίνειν (semaínein) verwendet, um die Erkenntnisbewegung zu beschreiben, die die ousía erreichen möchte. Diese stilistische Entscheidung drückt das Bewusstsein für die der Prädikationsfähigkeit des kategoreîn innewohnenden Grenze aus, die in dem höchsten Moment der Annäherung des Seienden an sich selbst gänzlich offenbar wird. 347 Der Grund für diese unüberschreitbare Grenze ist die dem Seienden immanente Differenz, die zwischen dem Partizip I τὸ ὂν (tò ón) und seinem Präteritum bleibt τὸ τί ἦν εἶναι (tò tí en einai): Was jetzt und hier vom tò ón erscheint, entspricht dem, was es »war« und sich so auch im gegenwärtigen Dasein verbirgt. Das Präteritum deutet auf diese unbesprechbare Herkunft, auf die jeder Form der Prädikation vorangehende ἀρχή (archè), jene Physis (φύσις), die sich in jedem gegenwärtigen Sich-geben des tò ón offenbart. Zu vergessen, dass hinter jeder ousía das Präteritum des Verbs »Sein« steckt, bedeutet, der epistomologischen Illusion zu verfallen, der Logos könne in sich die irreduzible Einzigartigkeit des Seienden subsumieren und andersherum, das Seiende könne auf das λεγόμενον (legómenon) reduziert werden, 348 während der Logos des kategoreîn trotz der präzisen Ausübung, Prädikationsbeziehungen aufzubauen, ein andauernder Annäherungsversuch gegenüber dem Seienden in sich bleibt und die Selbstheit des Seienden unter einem bestimmten Gesichtspunkt auch immer unprädizierbar ist. An dieser Stelle erreicht m. E. Cacciari den Gipfel der spekulativen Vertiefung in Labirinto filosofico. Die entscheidende ontologische Differenz muss nicht zwischen ens und esse gedacht werden bzw. zwischen dem Seienden, tò ón, und dem Verb »sein«, 349 sondern als dem Seienden selbst immanente Differenz. möglich, das Präsens zu verwenden, um von der reinen Gegenwart das zu sagen, was durch alle Netze fällt, die symploké des logos.« Ebd., 43 f. 347 Mit einem Exkurs zu den Aporien des Ersten-Ersten des platonischen Parmenides, denen sich Cacciari schon in Dell’Inizio widmete, hebt der Autor eine gewisse Übereinstimmung auf spekulativer Ebene hervor zwischen der Unprädizierbarkeit des Unum-Unum der ersten Hypothese des Parmenides mit dem Verb im Präteritum der von Aristoteles benutzen Formulierung ›tò tí en einai‹, ebd., 99–106. 348 Ebd., 45–47. 349 Eine solche Ontologie des Seienden steht in klarem Gegensatz zu den Interpretationen, die die arabischen und lateinischen Kommentare des Mittelalters der aristotelischen Metaphysik zuschreiben. Diese halten nämlich den ersten und allgemeinsten der Begriffe für das ens. Die quidditas oder essentia wendet sich also direkt an das quod quid est, an das Präsens des Verbs ›sein‹ und spezifiziert dabei dessen Grad der Teilnahme am Esse. Das Esse hat nichts Allgemeines und das esse commune bleibt
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Das Seiende als aporoúmenon
Hier erkennt Cacciari eine überraschende spekulative Ähnlichkeit zwischen der platonischen Lehre zum Fünften mit den Überlegungen von Aristoteles zur ousía, wobei dennoch eine große Divergenz zwischen den beiden metaphysischen Ansätzen bestehen bleibt. Das gemeinsame Element in den Überlegungen der beiden Philosophen ist die notwendige Unterscheidung zwischen dem Seienden in sich (καθ’αὑτὰ / kath’hautà) und dem Seienden πρὸς τί (prós tì) 350, die bei Aristoteles in der Unterscheidung zwischen ousía, der das Primat zukommt, und den Kategorienklassen zum Ausdruck kommt, während sie sich bei Platon in der Unterscheidung zwischen den Ideen als Seienden, die sich in sich und für sich definieren, und den sich nur in Bezug auf etwas anderes definierbaren Seienden zeigt. Diejenige Differenz hingegen, die Aristoteles von seinem Lehrer unterscheidet, besteht in der Unmöglichkeit, das Seiende prós tì auf nur ein Genus zu reduzieren; für ihn gibt es viele Arten, das Sein zu prädizieren. Cacciari wagt sich hier an ein Problem, das alles in allem bei Aristoteles selbst ungelöst geblieben ist oder eher durch ein Herunterspielen seiner Bedeutung gelöst wurde: Die Untersuchung der höchsten Einheit der ousía kann nicht gelöst werden, wenn – wie bei Aristoteles – das Unum nur als eine Art von vielen angenommen wird, in der sich das Seiende prädiziert. 351 Diese Leugnung der Transeine intellektuelle Abstraktion, die nicht vorgibt, die actualitas der res zu erklären. Aus thomistischer Sicht werden Essenz und Existenz ontologisch in re unterschieden; nur in Gott konvergieren sie (Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, 21, 3). Daraus folgt, dass nur in Gott, als Ipsum Esse, der Grund des Seienden gesucht werden kann und nicht im ›tò tí en einai‹. Die ontologische Differenz ist nicht, wie Cacciari zeigen möchte, dem Seienden immanent, sondern Differenz zwischen Esse ipsum und ens. Das ens wird daher als etwas Nebensächliches bzw. etwas nicht Absolutes verstanden und wird legómenon, und das, was den Horizont des Prädizierbaren übersteigt, wird zum reinen Gebiet der Theologie. Und gerade im Unterschied zu diesem Abdriften des Metaphysischen zum theologischen Diskurs hin nimmt sich Cacciari vor, die Angemessenheit des Unprädizierbaren (»mystisch«) für den rein philosophischen Diskurs zu zeigen. Zu diesem Thema siehe bes. Cacciari, Labirinto filosofico, 52–57. 350 Aristoteles, De anima, II, 6. 351 Interessant sind die Seiten, die der Autor dem Zusammenhang zwischen Denken und Sprache widmet (Labirinto filosofico, 66–75) und vor allem dem Vergleich mit den Positionen des Philologen und Linguisten Èmile Benviste (Catégories de pensée et catégoires de langue, 1966, 63–73). Der von Benviste geführte Diskurs über die linguistischen Strukturen, die der konzeptuellen Grammatik des Aristoteles vorangehen und sie bestimmen, wird von Cacciari nicht als eine dekonstruktive Kritik der VerDer Anfang als Freiheit
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zendenz des Ersten bei Aristoteles hat zum »ontologischen« Paradigma als Kriterium der westlichen Metaphysik geführt, wie die Wirkungsgeschichte des aristotelischen Denkens erst in der arabischen und dann in der lateinisch westlichen Welt bezeugt, wobei es durch die Neuinterpretation von Thomas bis in die moderne Ontologie gelangte. Es wird also zur Absicht Cacciaris, das henologische Paradigma wieder plausibel zu machen, jenes, das durch Spinoza und den Idealismus vor allem in monistisch-pantheistischer Lesart identifiziert wurde und an Aufmerksamkeit verloren hat. 352 Es geht also darum, über das Problem des Unum in Bezug zum metaphysischen Status des Seienden nachzudenken und im Rahmen der Studien zum Inhalt der »ungeschriebenen Lehren« Platons diese ursprüngliche Beziehung als eine, die letztlich mit der Idee des Guten als ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías) verbunden ist, zu verstehen und weiter zu verfolgen.
5.3 Das Gute-Erste als Inhalt der »ungeschriebenen Lehren« Das zweite Moment der spekulativen Argumentation in Cacciaris Labirinto filosofico bezieht sich auf die Entsprechung zwischen dem unausdrückbaren Fünften des Siebten Briefes und dem Ἀγαθὸν (Agathòn) der Politeia. Angesichts der in Dell’Inizio und Della cosa ultima entworfenen Henologie überrascht es nicht, wie er die Bedingungen einer möglichen Identifikation zwischen den Lehren des Guten und dem Unum in Betracht zu ziehen versucht. Bevor jedoch näher auf seine diesbezügliche These eingegangen wird, ist es angebracht, hier kurz den Stand der Untersuchungen zum Inhalt der »ungeschriebenen Lehren« 353 in Erinnerung zu rufen. bindung zwischen kategoreîn und tò ón gesehen, sondern eher als eine linguistische Kartierung der Feinheiten der Episteme in ihrer Untersuchung über die Erkenntnis des Seienden. Die Tatsache, dass die Sprache das Denken darstellt, auch wenn die Vorstellung nie mit dem Vorgestellten übereinstimmen kann, ist für Cacciari ein weiteres Indiz für die dem Dasein immanente Differenz, eine Differenz, die das Sagen offenlegt. 352 Vgl. Reale, L’henologia nella Repubblica di Platone, 113–153; hier: 114–120. An dieser Stelle wird auf die Studien von W. Beierwaltes verwiesen: Denken des Einen, 1985. 353 Die Interpretation von H. Cherniss (The Riddle of the Early Academy, 1945; Aristotele’s Critisism of Plato and the Academy, 1944), dass die ungeschriebenen Lehren nur ein von den Anhängern Platons im akademischen Kontext erdachtes Kunstgebilde
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Das Gute-Erste als Inhalt der »ungeschriebenen Lehren«
Bei denen, die die »ungeschriebenen Lehren« Platons als historisch und hermeneutisch gerechtfertigt ansehen, müssen mindestens zwei Positionen unterschieden werden: Die einen beziehen sich auf dieses Paradigma, um damit nur die Schriften nach der Politeia interpretieren zu können, also die der letzten Jahre, die anderen nehmen es als ein grundsätzliches, hermeneutisches Kriterium für das gesamte platonische Werk. Dieser zweite Interpretationsansatz wurde mit den Studien von Hans Krämer 354 begonnen und von der Tübinger Schule sowie von Giovanni Reale auf der Grundlage von Zeugnissen der von seinen Schülern überlieferten indirekten Traditionen 355 und Selbstzeugnissen Platons entwickelt, die durch Textvergleich mit dem Korpus seiner Schriften aufgespürt werden konnten. 356 Beide Wissenschaftler gehen von der Annahme aus, dass die Politeia, die übrigens die platonische Philosophie und daher die Idee seien, wurde seit dem Ende der 1960er Jahre de facto entkräftet (Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 1998). Wie Giovanni Reale gezeigt hat, kann die Existenz der »ungeschriebenen Lehren« anhand historischer Dokumente gezeigt werden (Reale, Per una nuova interpretazione di Platone, Milano 1989; deutsche Übersetzung: Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der großen Dialoge im Lichte der »ungeschriebenen Lehren«, Paderborn 1993). Diese neuen Befunde erschließen offensichtlich ein neues Interpretationsparadigma der platonischen Philosophie, das jenes ersetzt, welches seit Schleiermacher besteht, demzufolge jeder platonische Dialog als eine in sich begründete Einheit gesehen und als solche interpretiert werden muss (so die Einleitung von Schleiermacher zu seiner Übersetzung der platonischen Schriften: Platons Werke, Berlin 1804–1827. Die Einleitung wurde erneut gedruckt in: Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platon Verständnis, hg. von K. Gaiser, Hildesheim 1969, 1–32. Für eine Analyse dieses Paradigmas sowie dessen Voraussetzungen und Einflüsse wird verwiesen auf Reale, Per una nuova interpretazione di Platone, 26 ff.). Die Schriften, die uns Platon hinterlassen hat, enthalten nicht seine gesamte Philosophie und daher wird die mündliche Überlieferung zur Grundlage eines neuen Interpretationsansatzes, um seine Lehren angemessen verstehen zu können (Vgl. Reale, Einleitung. In: Krämer, Dialettica e definizione del bene in Platone, Milano 1989, 9–15). 354 Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, 1959: Er zeigt die Relevanz der »ungeschriebenen Lehren« für das Verständnis der Dialoge wie Gorgias und Menon (57–83); siehe auch: Der Ursprung der Geistmetaphysik, 1964; Platonismus und hellenistische Philosophie, 1971 (it. Ü.: Platone e i fondamenti della Metafisica. Saggio sulla teoria dei principi e sulle dottrine non scritte di Platone, Übersetzung und Einleitung von G. Reale, Milano 1989). 355 Um nur ein Beispiel zu nennen, Aristoteles selbst bezeugt das Bekenntnis Platons als »agrapha dogmata«: Aristoteles, Pysik, IV 2, 209 b, 11–17. Zu diesem Thema wird auf die nun schon zum Klassiker gewordene Untersuchung verwiesen: Findlay, Plato. The Written and Unwritten Doctrines, 1974. 356 Vgl. Reale (Hg.), Verso una nuova immagine di Platone, 1994. Der Anfang als Freiheit
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des Ἀγαθὸν (Buch VI. und VII.) am ausführlichsten und bündigsten darlegt, umfassender verstanden werden kann, wenn die »ungeschriebenen Lehren« mit einbezogen werden, deren Hauptthema sich um die Idee vom Guten dreht. 357 Weil der Beitrag Cacciaris zu diesem Thema besonders die Definition vom Wesen des Guten behandelt und damit dessen Beziehung zum Ersten zu einer eingehenden, eindringlichen Explikation bringt, ist es nützlich, als Ergänzung wie auch im Kontrast dazu die spezifischen Beiträge von Krämer und Reale heranzuziehen, um Cacciaris Auffassung umso besser konturieren zu können. Indem Krämer von den »ungeschriebenen Lehren« als hermeneutischem Kriterium ausgeht, wird der Begriff ›αφελών‹ (dessen Verb im Infinitiv ἀφαιρεῖν ist und »entziehen, abstrahieren, teilen« bedeutet) aus dem letzten Abschnitt des Buch V. der Politeia (534 B3 – D2) zum Schlüssel für die Erläuterung der Methode, mit der Platon den Weg zum Verstehen des Wesens des Agathòn weist. 358 In diesem Sinne steht αφαιρειν für die dialektische Methode Platons. Diese zeichnet sich durch die Übereinstimmung zweier dialektischer Formen aus, die sich allerdings bei den Denkern der Akademie (wie Speusippos und Xenokrates) gegenseitig ausschlossen: Das verallgemeinernde Vorgehen, das vom Speziellen ausgeht und über das Allgemeine und Universelle schließlich zum höchsten Universellen gelangt; und das zerteilende Vorgehen der mathematisch-zergliedernden Methode, bei der das Element in immer kleinere Formen geteilt wird, bis die Grundelemente und -strukturen erreicht sind. Folglich meint Krämer, dass die Grundprinzipien Platons die Konvergenz zwischen dem Universellsten und Elementarsten darstellen, so dass die allgemeinsten Ideen auch die Formen und spezifischen Einheiten umfassen. 359 Nachdem 357 Es ist vielleicht nützlich, sich den Titel ins Gedächtnis zu rufen, mit dem man innerhalb der Akademie von den mündlichen Lehren Platons sprach: Περί τὸ ἀγαθὸν (Über das Gute). Vgl. Aristoxenos von Tarent, Elementa harmonica 2, 30–31. Vgl. Dörrie-Baltes, Der Platonismus in der Antike, Bd. 1, 74–76; 278–282. 358 Krämer, Über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon, 1966, 35–70; später in: Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Beiträge zum Verständnis der Platonischen Prinzipienphilosophie, hg. von J. Wippern, Darmstadt 1972, 394–448 (it. Ü: Dialettica e definizione del bene in Platone, Milano 1989). 359 Dazu kommentiert Reale: »Die ›Trennung‹ oder ›Abstraktion‹ des Ersten von den allgemeinsten Ideen, wie zum Beispiel die der Ähnlichkeit, Gleichheit und Identität, die schon spezifische Formen der ›Einheit‹ sind, kommt der ›Abstraktion‹ des höchsten Genus von den höheren Spezifikationen gleich und ist damit die wahrhaft ultimativ verallgemeinernde Abstraktion. Aber zur gleichen Zeit ist sie Abstraktion oder zer-
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also das Problem der platonischen Methode der Abstraktion definiert worden ist, die Krämer auch Bewegung der ›elementarisierenden Trennung‹ 360 nennt, analysiert er das, was diese dialektische Bewegung in Beziehung auf die Idee des Guten bedeutet, also das platonische Bild der Sonne als Explikativ für das Gute-Erste. 361 Im Verlauf des Dialogs erfährt man zuerst eine Verallgemeinerung der Idee des Agathòn, mit der die Überlegenheit des Guten gegenüber der Wahrheit, dem Sein und der Wissenschaft behauptet wird. 362 Zweitens wird z. B. in dem Abschnitt, in dem der Sinn des Höhlengleichnisses 363 selbst veranschaulicht wird, das Agathòn als elementarisiende Ursache in axiologischem, gnoseologischem und ontologischem Sinne angegeben: Das Gute ist der Grund der Werte, weil die Einheit das Gleichgewicht und die Harmonie bezeichnet; es ist der Grund der Erkenntnis und Wahrheit, weil der Intellekt das Verschiedene vereint und es so intelligibel macht. Es ist der Grund des Wesens, weil das Gute wie das Erste ein vereinendes Prinzip der Vielfältigkeit ist und es ontologisch bestimmt. 364 Ein Verdienst der Untersuchung Krämers, die vor allem im Hinblick auf Cacciaris Interpretation von Bedeutung ist, betrifft zuerst die Erläuterung der dialektischen Vorgehensweise von Platon als einer Bewegung der »elementarisierenden Trennung« und sodann die Bestätigung einer plausiblen Identifizierung der Lehre des Guten mit der Henologie. Was den zweiten Punkt angeht, so muss auch der Beitrag Giovanni Reales genannt werden, insbesondere seine Exegese einiger Annahmen der Politeia, teilende Trennung, denn das höchste Erste als ›höchstes Genus‹ steht mit der Art, mit dem es sich als ›Element‹ bzw. als ›Teil‹ integraler Bestandteil verbindet, in Beziehung.« Reale, Einleitung. In: Krämer, Dialettica e definizione del bene in Platone, 25. 360 Krämer, Über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon, 51. 361 Hier wird auf das Bild von Platon in der Politeia Bezug genommen, wenn es dort heißt: »Das Gute in der intelligiblen Welt im Vergleich zum Intelligiblen ist so wie die Sonne im Sichtbaren im Vergleich zum Sehen und zum Sichtbaren«. Platon, Politeia, VI 508 c1–2. 362 Platon, Politeia, VI, 509 b 8. 363 Platon, Politeia, VII, 516 b–d. 364 Dieser letzte Aspekt, der sich auf die ontologische Ebene bezieht, setzt die platonische Vorstellung des Realen als bipolare Struktur voraus. Das antithetische Prinzip des Ersten/Guten ist die »Dyade« des Großen-und-Kleinen, das Prinzip der Vielfältigkeit. Der Abschnitt der Metaphysik, in der sich Aristoteles auf die Lehren bezieht, ist erhellend: »Platon weist den Grund des Guten außerdem dem ersten seiner Elemente zu (= das Erste) und der des Schlechten dem anderen (die Dyade)«. Aristoteles, Metaphysik, A, 6, 988a, 14 ff. Dazu siehe Reale, Per una nuova interpretazione, 321 ff. Der Anfang als Freiheit
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die zur Bestätigung der für Platon existierenden Übereinstimmung zwischen dem Guten und Ersten dienen. 365 Reale geht von der Hypothese aus, dass Platon entlang seiner Dialoge ›Wegweiser‹ aufgestellt habe, so dass der um die ›ungeschriebenen Lehren‹ Wissende es leicht vermeiden kann, in diese oder jene Argumentationsfalle zu tappen. Diese Wegweiser hätten also die Funktion, auf die Kernidee der mündlichen Lehren Platons in der Akademie zu verweisen bzw. auf die Idee des Guten-Ersten und so, wenn sie als erwiesen gälte, die Relevanz des schon von Krämer vorgeschlagenen henologischen Paradigmas zeigten. Um diese Deutungshypothese zu untermauern, lenkt Reale die Aufmerksamkeit auf drei in der Politeia vorhandene Annahmen: auf das platonische Bild der perfekten Polis, auf die in Bezug auf die Tugend des Wissens entworfene Anthropologie, auf die Anerkennung Platons der Mathematik und schließlich zeigt er neben diesen drei Elementen, indem er die Verwendung des Begriffs »Apoll« in den platonischen Dialogen untersucht, dass jenes Stilmittel als ein emblematischer Verweis auf die Idee des Ersten gelesen werden und so plausibel gemacht werden kann. Was den Bezug auf die perfekte Polis betrifft, so erklärt Platon im IV. Buch der Politeia, dass die beste Stadt, jene mit Weisheit geführte, nur eine sein kann; sie zeichnet sich vor den vielen Städten aus, in denen Spaltung und Konflikt vorherrschen. 366 Wie es im V. Buch heißt, ist in diesem Sinne das, was die Stadt vereint, das höchste Gut, und das, was sie spaltet, das größte Unglück. 367 Diese Beschreibung der perfekten Stadt und daher der axiologisch politischen Ordnung verweisen also auf eine Übereinstimmung der Idee des Ersten mit dem Guten. Ebendieses Kriterium der Übereinstimmung zwischen Erstem-Gutem wird von Reale in dem Abschnitt ausfindig gemacht, in dem Platon sagt, dass die Perfektion des Menschen in der Harmonisierung seiner Fähigkeiten liege, um so »einer von vielen« 368 werden zu können. Die Vielfältigkeit zu vereinen, die in einem selbst lebt, macht den wissenden Menschen aus und ist daher der Kern der henologisch ausgerichteten Anthropologie Platons. Was schließlich die Anerkennung der Mathematik durch Platon
Hier wird sich besonderes auf die Untersuchung von Reale bezogen: L’henologia nella Repubblica di Platone, 113–153. 366 Platon, Politeia, IV., 422 e 3 – 423 b 3. 367 Platon, Politeia, V., 462 a 2 – b 3. 368 Vgl. Platon, Politeia, IV., 443 c 9 – 444 a 7. 365
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betrifft, so merkt Reale an, dass dort im VII. Buch dieses Urteil mit der Begründung gerechtfertigt werde, dass jene Wissenschaft, auch auf formaler Ebene, dazu auffordere, die Frage nach dem Ersten in sich zu stellen. Jenes mathematisch »Erste« kommt zwar nach dem metaphysischen Unum, stellt aber dennoch eine Ableitung des höchsten Maßes dar und verleiht der sich damit befassenden Disziplin einen hohen Wert. Neben diesen drei theoretischen Ausdifferenzierungen des henologischen Paradigmas als Kriterium der Politea untersucht Reale die Häufigkeit der Verwendung des Begriffs »Apoll« im gesamten Werk Platons und überprüft die Hypothese, in wie fern und in wie weit jenes Stilmittel als impliziter Verweis auf die mündliche Lehre des Ersten-Guten verwendet worden ist. Der Begriff »Apoll« taucht nämlich in neun Dialogen Platons 369 auf und deutet im Kontext der jeweils behandelten Themen immer auf die Idee der Einfachheit, der Einheit und verweist schließlich an jeder Stelle auf die Lehre des Einen (ἀ-πολλῶν / a-pollòn). 370 Der Bezug auf den Gott Apoll nimmt vor allem in der Politea eine emblematische Rolle ein. Die Verwendung des Begriffs ohne jede Präposition und im Vokativ stellt in der Tat ein hapax legomenon für das gesamte platonische Werk dar. Am Ende des ersten Abschnitts zur Einführung der Fragestellung des Gu369 Die von Reale analysierten Werke sind eigentlich zehn, er bezieht sich auch auf Axiochos, der normalerweise nicht als authentischer Dialog angesehen wird. Die Dialoge, in denen der Begriff ›Apollo‹ auftaucht, sind: Protagoras, 343 a 8 – b 3; Euthydemos, 302 c 7 – d 4; Symposion, 190 e 2 – 191 a 5; 197 a 6 – b 3; Kratylos, 404 b 5 – 406 a 3; Phaidon, 58 a 10 – c 5; 60 c 8 – d 2; Politeia, II, 383 a 9 b 1; III, 391 a 3–7; III, 394 a 1–7; III, 399 e 1–3; III, 408 b 7 – c 4; IV, 427 b 1 – c 4; VI, 509 c 1–2; Phaidros, IV, 253 b 3 – c 2; IV, 265 b 2–5; Nomoi, I, 624, a 3–5; I, 632 d 1–7; II, 653 c 7 – D 5; II, 654 a 6–7; II, 662 c 5–6; II, 665 a 3 – b 2; 672 c 8 – d 3; III, 685 e 6 – 686 a 5; VI, 766 b 1–5; VII, 796 e 4–8; VIII, 833 b 5 – c 1; XI, 936 e 8 – 937 a 1; XII, 945 e 4 – 946 a 3; XII, 946 b 5 – c2; 946 c 7 – d 2; 947 a 4 – 6; 950 e 2 – 951 a 2; Briefe, XIII, 361 a 1–7; Axiochos, 368, a 1–3. 370 In den Enneaden berichtet Plotin also viel früher als Proklos von der Existenz einer auf die Pythagoräer zurückgehende Tradition, in der Apollo als Symbol des Einen verwendet wurde. Plotin, Enneaden, V, 5, 6: »Dieser Name des ›Einen‹ bedeutet wahrscheinlich Aufhebung in Bezug auf das Vielfältige. Deswegen nannten es die Pythagoräer symbolisch Apollon, negativ zu vielen.« Reale beobachtet, dass »Plotin auf eine pythagoräische Tradition Bezug nimmt, bei der nicht klar ist, ob sie auf den antiken Pythagorismus oder den späteren zurückgeht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Platon selbst, wenn nicht Initiator dieser philosophischen Interpretation Apollos, dann wenigstens derjenige ist, der ihr eine präzise Kohärenz und theoretische Konsistenz verliehen hat.« Reale, L’henologia nella Repubblica di Platone, 150.
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ten, in dem diese als größtes μάθημα (màthema) bezeichnet wird, mit dem sich ein Philosoph Bedeutung verschaffen kann, ruft Platon aus: »bei Zeus!« (VI., 505 b 4). Der entscheidende Abschnitt des VI. Buches, in dem behauptet wird, das Agathòn sei das, was έπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías) ist, schließt hingegen mit folgender Aussage des Glaukos: »Auf sehr komische Art: Sagte er »Apoll, welch göttliche Überlegenheit!« (VI., 509 b 6 – c 2). Dieser Einschub »auf sehr komische Art« ist Reales zufolge eine Anspielung, quasi ein Augenzwinkern für jene, die Platons mündliche Lehren kennen. Der Bezug zu ›Apollo‹ wäre also ein Verweis auf das Hauptthema der »ungeschriebenen Lehren« bzw. auf die Übereinstimmung zwischen der Lehre vom Guten als dem, was das Sein transzendiert, und dem Ersten (das, was eben das A-pollon ist). Und so bemerkt Sokrates/Platon auch: »›Es ist deine Schuld‹, antwortete ich, ›weil du mich zwingst, meine Meinung zu diesem Punkt zu sagen‹« (VI., 509 c 3–4), und widerspricht damit aber seiner Aussage zu Beginn des Dialogs, in dem er ausdrücklich erklärt hatte, seine Meinung zu diesem Punkt nicht preisgeben zu wollen. So kommt also der Deutungshypothese von Krämer und Reale und ihren Schulen das Verdienst zu, dem hermeneutischen Paradigma der »ungeschriebenen Lehren« wieder Gewicht verliehen zu haben und die Plausibilität des henologischen Paradigmas und der schon bei Platon existierenden Übereinstimmung zwischen der Lehre des Guten und dem Ersten lange vor den Ergebnissen des Neuplatonismus erneut bestätigen zu können. Auf der einen Seite kann der theoretische Beitrag von Cacciari, auf den nun einzugehen ist, nicht ohne die Berücksichtigung des Einflusses dieser Untersuchungen betrachtet werden, auf der anderen Seite aber wird offensichtlich, dass Cacciari dieses Thema vorwiegend spekulativ vertiefend aufgreift, auch und gerade da, wo er anscheinend nur eine Exegese des platonischen Textes durchführt.
5.4 Das Ἀγαθόν als transzendentale Möglichkeit der οὐσία Die Erinnerung an die Untersuchungen von Krämer und Reale zur Übereinstimmung von der Lehre des Guten mit der Henologie dienten, so konnte gezeigt werden, nicht nur dazu, einen angemessenen Hintergrund für die Auslegung Cacciaris gewinnen zu können, sondern auch, und das ist nun zu akzentuieren, um das Neuartige des Zusammenhangs verständlich zu machen, den er zwischen dem Fünf158
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ten des Siebten Briefes von Platon und dem Ἀγαθὸν (Agathòn) der Politeia herzustellen in der Lage ist. Es ist noch einmal daran zu erinnern, dass Cacciaris Deutung des metaphysischen Textes von Aristoteles mit dem Problem abschloss, die letzte Einheit der οὐσία (ousía) und damit die metaphysische Beziehung zum Einen durch Überwinden der aristotelischen Position, in der das Erste eine der verschiedenen Weisen ist, das Seiende zu prädizieren, auf neue Weise denken zu können. In diesem Sinne scheint der Diskurs von Aristoteles über den Status des Seienden in einer Art von Schweigen zu enden, das Cacciari nun als »Apophatismus« 371 bezeichnet, wobei eben darin die eigentliche Fragestellung der Metaphysik bestehen sollte, jene, die von Platon selbst, wenn auch in den Formen des Dialogos und des Mythos, 372 als ein eigentliches μάθημα (màthema), also als eine Lehre betrachtet wird. Cacciari wendet sich wiederum dem philosophischen Excursus im Siebten Brief von Platon zu, auf den er schon in Della cosa ultima eingegangen war. Im Vergleich zu der vorangegangenen Abhandlung kann man zwei neue Gedanken ausmachen: Der Erste erbringt eine weitere Erläuterung zur Bezeichnung des Fünften als Physis. 373 Platons Kritik an Dionysios betrifft also, wie schon dargelegt wurde, die Anmaßung des Schülers, in einem Diskurs die Unsagbarkeit der ousía einfangen zu wollen, während diese jedoch integrales Aporoúmenon des Seienden bleiben muss. 374 Die zweite und größere Neuerung besteht im Erkennen einer Wiederaufnahme des zentralen Màthema des Siebten Briefes in der Politeia; gemeint ist hier der bedeutende Abschnitt, in dem versucht wird, das Agathòn zu definieren. Mit anderen Worten, es kehrt die Cacciari, Labirinto filosofico, 107. Vgl. Platon, Siebter Brief, 344 d 3. 373 Diese Interpretation stützt sich unter anderem auf die Tatsache, dass die klare Beschuldigung von Dionysios dessen schriftliche Aussage »perì Physeon ákron kaì próton« betrifft (344 d 4–5). Vgl. Labirinto filosofico, 106–115; vor allem 109. 374 Eine Erwähnung verdient auch der Exkurs des Autors zum Mythos als Voraussetzung des Sprach-Logos auf der einen Seite, wie Vico und Goethe ihn verstehen, und auf der anderen Seite im ›Denken nach Bildern‹ von Giordano Bruno sowie generell des genius italicum. Diese beiden Denkrichtungen, die in der späteren Philosophie nur von Ernst Cassirer und teilweise von Ernesto Grassi und Eugen Garin rezipiert wurden, drücken das Bewusstsein aus, dass das Seiende nicht auf die Formen des kategorein des platonischen màthema zu reduzieren ist: Labirinto filosofico, 124– 135. Cacciari verweist außerdem darauf, dass Kant und Schopenhauer sich der erkennenden Bedeutung der Traumkraft gewidmet haben, die Cacciari als weiteren Beweis für seine Deutungshypothese heranzieht: Ebd., 135–140. 371 372
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gleiche ἀσθένεια (asthéneia, Schwäche) des Logos, die Platon im Siebten Brief in noetischen Kreisen bezüglich des Fünften ausgemacht hatte, hier im höchsten zu bestimmenden Moment wieder bei dem Versuch, das Prinzip erfassen zu wollen, welches der »praktischen Vernunft« 375 zugrunde liegt. In der Politeia behauptet Platon dezidiert, dass die Herrschaft über die Stadt den Philosophen zukommen sollte, nicht nur weil jene die Wahrheit lieben und die größten Tugenden (δικαιοσύνε / dikaiosyne, σωφροσύνε / sophrosyne, ἀνδρεια / andreía) 376 besitzen, sondern vor allem, weil sie, anders als die zwischen den vielen und vielschichtigen Wirklichkeiten umherirrenden anderen Menschen, 377 die Fähigkeit haben, aus jenen unverrückbaren und ewigen Tatsachen, den ousíai, schöpfen zu können. Die Philosophen kennen also jenes μέγιστον μάθημα (mègiston màthema, jene größte Einsicht), auf das Sokrates/Platon mehrmals mündlich 378 zurückgekommen ist und das der höchsten Idee des Agathòn entspricht. Insofern also im Siebten Brief behauptet wird, dass eine Definition der ousía-Physis durch die Episteme unmöglich sei und die Möglichkeit geschaffen wird, auf jene Instanz qua Dialog und der damit veranschlagten Lebensgemeinschaft hinzuweisen, so bedient sich Sokrates bei der Definition dessen, was ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías) 379 und in Bezug auf Würde und Macht der Wahrheit, Wissenschaft und dem Sein selbst überlegen ist, einer Reihe von Analogien, um das zu beschreiben, das dem Guten ähnelt. 380 Unter diesen Ähnlichkeiten bildet die Sonne das höchste Bild, um das Agathòn anzuzeigen, das alle Dinge sichtbar und die Menschen sehend macht: »So wie sich das Gute in der intelligiblen Welt gegenüber den Intelligiblen verhält, so verhält sich die Sonne im Sichtbaren zum Sehen und Sichtbaren.« 381 Ausgehend von dem – qua Bild/Symbol – vermittelten Sinn, entwickelt Cacciari schließlich seine Interpretation dessen, was das Wesen des Guten sei und in welcher Beziehung es zum Status des Seienden steht; damit aber überwindet er die Position von Aristoteles. Gemäß der Verwendung bei Sokrates/Platon muss die Sonne als Zei375 376 377 378 379 380 381
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Vgl. ebd., 116. Platon, Politeia, VI., 485 c-e; 486 a-c. Platon, Politeia, VI, 484 B. Platon, Politeia, VI., 504 e 3–4; 505 a 2. Platon, Politeia, VI 509 b 8. Platon, Politeia, VI 506 e – 507 d. Platon, Politeia, VI 508 c1–2.
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chen ›dessen‹ verstanden werden, was den Horizont sowohl der sinnlichen als auch der noetischen Erfahrung übersteigt. So schreibt Cacciari: »Es ist das Erstgeborene dieses Überschreitenden, dieses Gegenübers jeder Bestimmung ›zu vielen‹, das dennoch in jedem Seienden Sich-zeigt. Die Sonne macht Licht, aber sie ist nicht das Licht. Die Sonne ist auch nicht die einzige Quelle des Sehens; wenn die Augen blind wären, könnte die Sonne noch so strahlen und man könnte doch nicht sehen. Zum Sehen braucht man das Licht der Sonne und jenes, was im Auge des Sehenden selbst strahlt, das Ideen oder Prinzipien betrachtende Auge des Körpers und Auge des Geistes, denn sonst bliebe tà physiká dem Menschen verborgen […]. Es muss Licht geben, das Agathòn, welches nur durch en tôi noetôi greifbar ist (508 c1), um die Möglichkeit zu ermöglichen, dass Sonne und Auge, Sehendes und Gesehenes, einander entsprechen.« 382 Mit dem Bild des Lichts also, das in sich keine ausreichende Bestimmung des Agathòn darstellt, kommt jedoch die Idee jener Instanz am besten zum Ausdruck, die die Entsprechung zwischen Sehendem und Gesehenem und Sehensprozess ermöglicht. So wie der Grundbegriff der ousía die transzendentale Einheit der vier Stufen der platonischen Erkenntnis (Bezeichnung, Definition, Bild und Epistem) bildet und dies für Cacciari auch die Einheit der aristotelischen Kategorien ausmacht, so erweist sich das Agathòn als ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías), als die transzendentale Möglichkeit 383 des Sich-selbst-Gebens der ousía (des Lebens) sowie zugleich auch der je freizulegenden Übereinstimmung zwischen jener und den verschiedenen Prädikationsverhältnissen (der Erkenntnis). Vor dem Hintergrund dieser Argumentation, die das Agathòn als transzendentale Möglichkeit des Sich-selbst-Gebens der ousía offenlegen konnte, erhalten die zentralen Thesen der Philosophie Cacciaris, die er in seinen zwei vorangegangenen systematischen Werken entfaltet hatte, eine scharfe Kontur: die analoge Übereinstimmung auch bei bleibender Differenz zwischen der Unsagbarkeit der Einzigartigkeit und jener des Anfangs bildet einen integralen Bestandteil des platonischen màthemas. Das Zusammenfallen von Henologie und Doktrin des Guten gilt für Cacciari dann, wenn das Agathòn als vereinendes Prinzip im transzendentalen Sinn sowohl auf ontologischer als auch auf gnoseologischer wie auch auf axiologischer Ebene 382 383
Cacciari, Labirinto filosofico, 119. Ebd., 120 f.
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verstanden wird. In diese Richtung scheint Cacciaris Wiederaufgreifen sowie die Neuinterpretation der von Krämer durchgeführten Exegese zum neu verstandenen Agathòn als systematisch elementarisiertem und im Vollzug immer wieder zu elmentarisierenden Grund in axiologischer, gnoseologischer und ontologischer Hinsicht zu führen. Seiner Meinung nach ist das Gute/Erste in ontologischem Sinne die transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Individuationsprozesses des Seienden und damit der Übereinstimmung zwischen dem sinnlich erscheinenden Seienden und dessen ousía. In diesem Sinne ist das Gute, auch wenn es der ousía überlegen ist, auf gewisse Weise mit der Gegenwart der Seienden verbunden. In gnoseologischem Sinn ist es folglich möglich, Henologie und Lehre des Guten in dem Maße zu identifizieren, wie man das Gute als Prinzip der Übereinstimmung zwischen Intellekt und Sache versteht, oder, um bei dem Bild von Sokrates in der Politeia zu bleiben, wie das Licht, das die Bedingung der Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen Sehendem und Gesehenem darstellt, so dass eine kohärente Prädikation der erscheinenden Einzigartigkeit möglich ist, obwohl die ousía letztlich ἀπορούμενον (aporoúmenon) 384 bleibt: »Wahrheit«, schreibt Cacciari, »ist die Offenbarung des Seienden und Erkenntnis sein Vermögen, es zu prädizieren wie es ist; aber noch schöner (im Sinne des kalón) wird das Gute sein, das sie ermöglicht und verbindet.« 385 Im axiologischen Sinne ist das Agathòn schließlich gutes-Gut, indem es alle möglichen Verbindungen zum Akt bringt 386 bzw. den Übergang von der Potenz zum Aktus erlaubt. Auch in diesem Sinne kann man sagen, dass das Agathòn, das zwar in sich selbst unprädizierbar bleibt, in der Selbstgebung der bona von den als Güter verstandenen ousíai mit präsent ist. Im systematischen Kontext der gesamten Triologie von Cacciari besteht also, so die Interpretation hier, das erste theoretische Verdienst des Labirinto filosofico in der transzendentalen Identifizierung zwischen der Lehre des Guten und der Henologie und daher zwischen Agathòn und dem Status des Seienden, so dass die grundlegende ontologische Differenz als der Realität des Seienden selbst immanent gedacht wird bzw. die Differenz in der Identität des Seienden-das-ist liegt. Die grundlegende ontologische Differenz ist die Differenz zwi384 385 386
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Vgl. ebd., 173 f. Ebd., 124. Ebd., 121.
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schen ousía-Einheit und Existenz-Vielfalt der prädizierbaren Elemente des Seienden. Zwischen diesen beiden Dimensionen bleibt eine nicht zu reduzierende Verwerfung, ein Überschuss in der Immanenz, welche die höchste Aporie des gnoseologischen Diskurses darstellt: Kein Logos kann jemals diesen metaphysischen Unterschied aufheben, kein Kategorein wird es jemals schaffen, ohne Rest das übereinstimmen zu lassen, was es vom Seienden prädiziert mit dem, was es in sich selbst ist. Das zweite Verdienst des Buches ist, so die weitere Interpretaion hier, die ausdifferenzierte Überlegung zur positiven Wende der Möglichkeit als einem Element, das mit zu der All-Möglichkeit des Anfangs gehört, aber dieses Mal gewonnen wird ohne jeden Rückgriff auf die Trinitätslehre. Wenn also in Dell’Inizio und Della cosa ultima die positive Instanz des freien und nie nötigen Übergangs zu einem existentifizierten Möglichen in der trinitarischen Figur des Vaters ausgemacht wurde, übernimmt diese Funktion nun das zur systematischen Bestimmung gebrachte Agathòn-Unum. In Labirinto filosofico wird nicht das Problem des Allmöglichen diskutiert, das im Verlauf des Aufbaus der Gesamtargumentation des Werkes vom Autor bereits als gelöst angesehen wurde, sondern nunmehr das Problem des Seienden und somit seiner positiven metaphysischen Voraussetzung: der Möglichkeit. 387 So schreibt Cacciari: »[…] Die Art der Möglichkeit weist nicht auf die Idee hin, dass das, was ist, nicht sein kann, sondern auf die Macht, die es zu dem macht, was es ist. Diese Macht ist die der Möglichkeit.« 388 Mit anderen Worten, es bleibt also der Anfang in sich selbst ursprüngliche In-Differenz, unendliches Àpeiron, in dem in actu die Gesamtheit der Möglichen konvergiert, also die reine enérgeia jedes Un-Möglichen. Dies geschieht noch unter dem Vorbehalt des Verzichts, auf einen Begriff von archè-aitía zurückgreifen zu wollen, um das Tun des obersten Prinzips zu erklären. Das platonische Agathòn-Unum bleibt nach Cacciari trotz allem das geeignetste Bild, um die positive Beziehung zwischen diesem Anfang und dem, was de facto ist, ausdrücken zu können, oder besser, um einen plausiblen Grund für die Tatsache zu finden, dass alles, was eins ist, vor der Ab-Trennung bewahrt wird.
387 Um zu untermauern, dass es sich hier nicht um die Allmöglichkeit handelt, sondern um die Möglichkeit, die es zu dem macht, was es ist, sollte erwähnt werden, dass der Begriff ›Allmögliches‹ nur zwei Mal im Labirinto filosofico vorkommt, und zwar auf den Seiten 51; 171. 388 Ebd., 303.
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Die Funktion des Guten/Ersten ist jene einer ursprünglichen dynamis, die Bedingung der Möglichkeit für das Seiende, existieren zu können. Die ursprüngliche Möglichkeit ist ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías), ist transzendentale Voraussetzung des Seienden und nicht nur einfach eine Art, mit dem das Seiende prädiziert wird. Gut/Erstes ist in sich selbst ewige Einheit aus Potenz und Aktus (»Gut ist Erstes als letztes Prinzip aller möglichen Verbindungen, und gutes-Gut, indem sie diese zum Akt bringt« 389), ist die erste Einheit aller Bestimmungen dessen, was existiert. Gerade weil die aktuierten Möglichen ihre actuositas von der ursprünglichen Möglichkeit herleiten, sind sie mit ihnen transzendental verbunden, weisen sie als Erscheinende auf ihre ewige ursprüngliche Herkunft und in diesem Sinne auf ihr Ewig-Sein hin. Dem Seienden einen ewigen Charakter zuzuschreiben, darf nicht als Explikation einer intrinsischen Notwendigkeit verstanden werden, als Ergebnis eines debet esse sozusagen. 390 Die theoretische Voraussetzung des Diskurses bleibt jene, die Cacciari in den zwei vorangegangenen Flügeln des systematischen Tryptichons behandelte. Die Grundfrage des Labirinto filosofico betrifft den Status des Seienden und die irreduzible Differenz zwischen dem, was es in sich ist und der Art seiner Prädizierung – aber es behandelt eben nicht die Prädizierbarkeit jedes hypothetisch möglichen Seienden. Der Himmel der nicht existentifizierten Möglichen bleibt immer größer als der Horizont der aktuierten Möglichen, aber er geht de facto über den Gegenstand dieser Diskussion hinaus. Jedoch bleibt, so ist zu monieren, ebendiese existenzielle Frage – als Frage nach dem Woher der aktuierten Möglichkeiten – das ungelöste Problem des metaphysischen Vorschlags von Cacciari. Summa summarum: Die Tatsache, dass der Diskussionsgegenstand in Labirinto filosofico »[…] die Macht, die das, was ist, sein macht« 391 ist, ändert nichts daran, dass diese Macht ihre Voraussetzung im Anfang als gleichgültiger All-Mitmöglichkeit hat. Schlussfolglich: Voraus-
Ebd., 121. Hierin liegt meiner Meinung nach der entscheidende Punkt, an dem sich die Positionen von Cacciari und Emanuele Severino unterscheiden und folglich der Grund, warum Severino den Ewigkeitsstatus des Seienden in den Überlegungen des Labirinto filosofico anzweifelt: Severino, Dialogo con Cacciari, 20 f. Dazu vgl. Mauceri, La hybris originaria. Cacciari e Severino, 2017. 391 Cacciari, Labirinto filosofico, 303. 389 390
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gesetzt, man nimmt die Trilogie Cacciaris als Ausführung einer kohärenten Metaphysik ernst, so steht dann diese Identifikation zwischen Agathòn und dem Einen in Labirinto filosofico nicht im Widerspruch zu der These, nach der es notwendig ist, die Möglichkeit offen zu lassen, dass alles ins Un-mögliche des Anfangs fällt? Wie kann man demnach diese Macht, die das, was ist, sein macht (und die es dem Intellekt gestattet, dies stets zu wissen) mit dem Guten identifizieren, wenn sie nicht einmal die Dauerhaftigkeit im Sein garantiert, was wiederum der Logik der Gleichgültigkeit widersprechen würde und damit der radikalen Kompossibilität eben jenes Anfangs? Letztendlich fehlt bei Cacciari eine Vertiefung der Frage nach der Verbindung zwischen Anfang und Anfangendem, zwischen dem Indifferent-All-Mitmöglichen und der positiven Potenz der Möglichkeit, die das, was ist, sein macht. Die an sich wertvolle ontologische Betrachtung über die Differenz zwischen dem Seienden und der Art und Weise seiner Prädikation bleibt letztlich schwebend über dem Abgrund eines Anfangs, der zu jeder Zeit das Sein nichten könnte – diese Schwebe zeigt sich so eindringlich, so kann man sagen, als ob die heideggersche Frage bezüglich des wesentlichen existenziellen Unterschiedes zwischen Sein und Seiendem die offene Wunde der Diaporetik Cacciaris bliebe.
5.5 Zusammenfassung und Übergang: Der mutmaßende Charakter des Erkennens Die metaphysische Frage par excellence des westlichen Denkens besteht für Cacciari in der Differenz zwischen dem, was das Seiende in sich ist und den Arten seiner Prädikation. Wie bereits dargelegt, muss sich schon Aristoteles mit diesem Problem auseinandersetzen, obwohl er die Problematik auf das ontologische Paradigma zurückführt und offensichtlich damit maßgeblich die zukünftige Entwicklung der westlichen Ontologie beeinflusst hat. Das Bewusstsein der dem Status des Seienden immanenten Differenz war dennoch für den platonischen Humanismus von Nikolaus Cusanus, Giovanni Pico della Mirandola und Giordano Bruno als Alternative zur Tradition des lateinischen Aristotelismus immer noch die entscheidende Frage, die aber im Laufe der Zeit zunehmend zweitrangig wurde. Dies zeigen einerseits Descartes’ Deutung der Philosophie als ›Wissenschaft‹, die eine Übereinstimmung, die more geometrico, zwischen Ordnung der Der Anfang als Freiheit
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Ideen und der Dinge herstellt, 392 und andererseits der deutsche Idealismus, 393 vor allem der von Hegel, der die Entsprechung von wirklich-vernünftig 394 behauptet. Für Cacciari geht auch der umgekehrte Versuch in die Irre, insofern dem Problem, die Differenz als dem Seienden immanent zu denken, ausgewichen wird durch die Behauptung eines rein Unsagbaren von Seiten einer gewissen mystischen Theologie. 395 Um der Richtung, die das platonische màthema eingeschlagen hat, entgegenzutreten, findet sich im zweiten Teil des Labirinto filosofico ein interessanter Rückgriff auf den kantischen Diskurs zur ›Differenz‹ als Unteilbarkeit von Phänomen und Noumenon. Die Analyse einiger entscheidender Abschnitte des kantischen Werks, das eine lange Beschäftigung mit dem Königsberger Philosophen verrät, geht darauf aus, die These der Unteilbarkeit zwischen den Begriffen Noumenon und Phänomen sowohl auf ontologischer als auch auf gnoseologischer Ebene zu stützen. 396 Darauf zielt auch Cacciari mit seinen Bezugnahmen auf die Überlegungen von Wittgenstein und Ebd., 191–199. Die Grundfrage des Idealismus ist, wie Heidegger in seiner in Freiburg 1929 gehaltenen Vorlesung zu diesem Thema feststellte, die Aufhebung des Noumenon-Begriffs als dogmatische Voraussetzung, um die Identität von Denken und Freiheit zu garantieren: ebd., 305 f. Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart. In: Ders., Gesamtausgabe, II, Bd. 28. 394 Hier wird auf die berühmte Phrase von Hegel in der Vorrede seiner Philosophie des Rechts (1821) angespielt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Werke, VII, 24); siehe auch seine vertiefenden Gedanken in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. In: Werke, VIII, § 95, 113 ff. Cacciari interpretiert den Begriff Hegels des ›real-rationalen‹ als Entsprechung zwischen Essenz des Seienden und Energie der Vernunft: Cacciari, Labirinto filosofico, 282–287. 395 Ebd., 273. 396 Ebd., 296–305. Ohne vorzugeben, die so große Differenz zwischen den kantischen Begriffen Phänomen und Noumenon aufheben zu wollen, legt Cacciari den Akzent auf deren weitergehende entscheidende gegenseitige Abhängigkeit. Ohne das Noumenon wäre das Phänomen nur auf eine Tatsache reduzierbar: »Was ist das Seiende? Phänomen und Noumenon; nicht einfach nur Phänomen; wenn ich das behaupten würde, dann müsste ich dogmatisch daraus schließen: Alles, was existiert, existiert nur in Raum und Zeit. Aber in Raum und Zeit existiert das, was mir erscheint, und ich darf nicht von dem, was mir erscheint, Universalien der möglichen Erscheinung ableiten und auch nicht, dass alle Dinge eine Beziehung untereinander und mit dem Subjekt haben müssen, für das und mit welchem sie die Welt bilden […]. Noumenon bedeutet also das gedachte Objekt und das Denken, das unmöglich zu bestimmen ist, aber das wir bei jeder Prädikation, bei jeder Übereinstimmung von Kategorien und sinnlicher Intuition erleben.« Ebd., 296 f. 392 393
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Zusammenfassung und Übergang: Der mutmaßende Charakter des Erkennens
Husserl ab, die auf das unter den Bedingungen der Krise des idealistischen Systems verschärfte Problem der intrinsischen Differenz der Sache selbst zurückkommen. Mit einem Verhalten, das Cacciari als »ethisch« bezeichnet, 397 verteidigt Wittgenstein in seinem Tractatus das Sich-Geben des Unsagbaren (»das Geheimnisvolle«) in der Vorstellung des Sagbaren. Husserl bestätigt seinerseits die Existenz einer unüberwindlichen Differenz zwischen Denken und Ausdruck des Denkens. Aus seiner Perspektive wird das Objekt nämlich als ›Träger von Prädikaten‹ definiert, als das, was in jedem Erscheinen und in jeder Form der Prädikation mit sich identisch bleibt. Alle Prädikate gehören zu ihm, können aber dennoch nicht ganz die Bedeutung ausfüllen, weil das Objekt schließlich immer von seinen Prädikaten verschieden bleibt. 398 Dieses Objekt wird, weil es vor-bestimmt und in jedem Erscheinen identisch ist, von Husserl auch »reines X« genannt. Laut Cacciari ist dieses »X« der Weg, auf dem jene noumenische Dimension der platonischen Physis, der letzten Einheit des erscheinenden Seienden, wieder in die Überlegungen Husserls Eingang findet. 399 Ohne diese unüberwindliche Voraussetzung, diese dem Seienden intrinsische Differenz, wäre weder ein phänomenales Erscheinen noch irgendeine Form der Prädikation möglich. Im Labirinto filosofico macht der Autor über viele Seiten hinweg die unterschiedlichsten Begriffe aus, mit denen die Philosophie versucht hat, auf die Instanz der letzten Einheit des Seienden hinzuweisen: Physis, ousía, Sache an sich, Noumenon, reines X. Jedes Mal hat sich herausgestellt, dass dieses Zentrum nicht nur das Ziel bildet, wohin der Weg führen soll, sondern vielmehr zugleich den Ausgangspunkt bildet für die besondere Konzeptualisierung der unterschiedlichen philosophischen Richtungen. Was aber all diese Ansätze verbindet, die in der Philosophiegeschichte erdacht wurden, so Cacciari, ist der Versuch, die dem Seienden immanente Differenz als Ort seiner Wahrheit auszudrücken. Jene Wahrheit ist die Bedeutung, die immer fehlt und die sich dennoch in jedem Ausdruck des Logos als diejenige Energie offenbart, die viele Arten des Sagens eröffnet und damit verschiedene InterpreVgl. ebd., 246–253. Vor allem: 249. Husserl, Ideen I, § 131; vgl. Cacciari, Labirinto filosofico, 314 ff. 399 »Es ist offensichtlich, dass ein solches Eidos für Husserl jenes des reinen Möglichen selbst ist. In der Vorstellung der vorbestimmten Gegebenheit im Vergleich zu jeder Vorbestimmung sehen wir den ›Punkt‹ oder das X, in dem die unendlichen Möglichkeiten der Sache selbst ihren Ursprung haben, die Polyvalenz der Perspektiven, auf Grund derer es Sinn macht, zu sagen: es ist.« Ebd., 316. 397 398
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tationen wirksam macht. 400 Wenn also die immanente Differenz die ratio essendi des Seienden ist, welche Form der Erkenntnis kann dann einer solchen immer größeren Überschreitung gerecht werden? Diese müsste in einer Denkform gesucht werden, die mehr als jede andere in der Lage wäre, durch dauernde Annäherungen voranzuschreiten – ebendiese macht nun Cacciari in der Idee der mutmaßlichen Erkenntnis bei Cusanus aus. In diesem Sinne schreibt er: »Die heterótes des Unum, welche das Anderssein in Bezug auf das Anderssein selbst ist, kann sich nur verborgen-verbergend in alteritate coniecturali offenbaren, nämlich durch Mutmaßungen, die in Bezug auf das Unum je andere sind.« 401 Diese über sich selbst belehrte Unwissenheit ist das Bewusstsein davon, in einer unüberwindbaren Differenz, einem dimensionalen Unterschied zwischen dem menschlichen Intellekt und dem ewigen Kreis des Anfangs und des Universums verbleiben zu müssen. Keine Erkenntnis kann behaupten, ihr Objekt ganz zu erfassen, also eine endgültige Definition zu erreichen. So bleibt also nur übrig, durch ständige Annäherungen voranzugehen: Man nähert sich der zu erforschenden Realität an in dem Maße, wie aus dem bleibenden Unterschied zwischen Hypothese und Realität immer und immer wieder neu die Differenz zwischen den verschiedenen ›Bildern‹ und dem Übermaß ihrer Wahrheit hervortritt. Das proprium des Seienden bleibt also unsagbar, aber erhellt sich in alteritate coniecturali. Dieser spiralartige Prozess präziser Hypothesen und notwendiger Widerlegungen ist ein Weg der Bedeutungsannäherung, der niemals vorgibt, sie zu erfassen: »Der letzte Schritt – schreibt Cacciari – wird auch eine Vermutung sein und nur die Grundlage für weitere schaffen; er lässt ihnen Möglichkeit zu sein, bietet dem anderen Platz. Weit davon entfernt, sich in sich zu schließen, geht jeder Schritt von der Einsicht aus, ›überwunden‹ zu werden, gerade weil er sich bewusst ist, Vermutung zu sein und nicht nur mit den vorangegangenen und den folgenden, sondern auch mit denen der Zukunft im Dialog zu stehen.« 402 In einem neueren Aufsatz widmet sich Emanuele Severino den Ausführungen Cacciaris im Buch Labirinto filosofico und drückt seine Verwunderung über diesen Rückgriff auf die Vermutung aus. Er nimmt an, dass sich Cacciari in seiner Argumentation de facto auf die 400 401 402
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Ebd., 326 f. Ebd., 171. Ebd., 332; vgl. 331–336.
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»Nicht-Vermutung« stützt oder besser, dass sich seine Überlegungen um das Problem der »unwiderleglichen Wahrheit«, um den »Sinn der Unumkehrbarkeit« 403 drehe. So will er also zeigen, wie auch bei seinem Kollegen sein ureigenes Grundproblem auftritt, jenes, das er »ursprüngliche Wahrheitsstruktur« 404 nennt. Als Grundlage, das Kriterium der Wahrheit festzulegen, bezieht sich Severino auf den Satz von Parmenides, nach welchem das Sein ist und es nicht Nicht-Sein kann. Für ihn leitet sich daraus ab, dass das Seiende als Gegenteil des Nicht-Seins ewig ist. Die Ewigkeit ist daher nicht nur ein Attribut Gottes. Auf der Ewigkeit des Seienden bzw. auf die Ablehnung jeder ratio essendi, die das Sein des Seienden rechtfertigt, gründet sich einerseits Severinos Kritik an der Entwicklung der westlichen Philosophie seit Platon (die vom Sein fälschlicherweise das Werden prädiziert hat und damit das Nicht-Sein) und andererseits seine Dialektik des Offenbaren, die Tatsache also, dass sich »das endliche Erscheinen der Seienden dem Unendlichen im Endlichen zeigt […]; wenn man diesem Bild den Rücken kehrt (vor allem dieser Gründung) bleibt die Existenz dieses Weges und dieses Raumes eine leugbare »Vermutung« (Dogma, Postulat, Bestrebung, Glauben), eine willkürliche Voraussetzung«. 405 Der Punkt, bei dem es um die Differenz zwischen den Perspektiven von Severino und Cacciari geht und daher auch um die einer mutmaßlichen Erkenntnis zugemessenen Bedeutung, ist das Problem der Gründung des Seienden und seinem als »ewiges« Sein zuzuschreibenden Sinn. Anders als Severino, der seine Philosophie auf den Primat des Seins, des Notwendigen und schließlich auf die Leugnung des Kontingenten gründet, muss die Erscheinung des Seienden für Cacciari nicht als Notwendigkeit, sondern eher in Bezug auf die Möglichkeit gedacht werden. Für ihn muss also die ratio essendi des Seienden gedacht werden. Diese ratio essendi wird aber trotzdem nicht auf die ontologische Differenz zwischen Seiendem und Sein zurückgeführt, sondern auf die transzendentale Beziehung zwischen ursprünglicher Möglichkeit und den umgesetzten Möglichen. Das Sein ist, mit anderen Worten, die Aktuierung der Möglichkeit des Erscheinens des Seins: »Keineswegs aber ist die Form der Offenbarung des Seienden zuvor bestimmbar; wir nennen das, was erscheint, ewig, 403 404 405
Severino, Dialogo con Cacciari, 18; 16–21. Vgl. Ders., La struttura originaria, 1958; Ders., Destino della necessità, 1980. Ders., Dialogo con Cacciari, 19.
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aber wir wissen nichts über die Ewigen, die erscheinen können. Wir können das Ewige des Seienden, das vom Ewigen des unendlichen Mitmöglichen erscheint, von dem jedes Ewig-Seiende herkommt, nicht isolieren.« 406 Folglich ist Severinos Urteil, dass sich der Diskurs von Cacciari auf einer »Nicht-Vermutbarkeit« gründet, richtig, aber nur, wenn man diese Behauptung nicht als Bestätigung einer notwendigen Allgegenwart des Seins und einer Leugnung des Werdens interpretiert, sondern als die Ablehnung jedes leeren Relativismus, bei dem es keine Fakten geben kann, sondern nur Interpretationen von Fakten. 407 Weder das Bewusstsein, das sich mit dem Begriff des Seienden beschäftigt, noch das erscheinende Seiende werden von Cacciari nach dem Maß der Vermutung angenommen. Vielmehr setzt die mutmaßliche Erkenntnis in der Sicht von Cacciari eine Realität voraus, die die Möglichkeit, dass sie in irgendeiner Weise ausgedrückt werden kann, gleichzeitig sucht und positiv bestätigt. Die Vermutung ist also nicht ohne Voraussetzung, ist nicht willkürlich. Sie bricht aus dem Urgrund des Möglichen hervor, das sich als initiiertes Seiendes offenbart. Angesichts der Voraussetzungen, von denen Severino ausgeht, ist es evident, dass ihm eine Bezugnahme Cacciaris auf die Instanz des Möglichen als widersprüchlich erscheint und nichts anderes sein kann als eine erneute Bestätigung der »ursprünglichen Wahrheitsstruktur«, 408 der Unumstößlichkeit des èlenchos. In der Tat scheint Cacciari die Ewigkeit des Seienden nicht zu leugnen, andererseits aber macht er mit der Behauptung des Möglichen als Voraussetzung Cacciari, Labirinto filosofico, 51. Trotz der unterschiedlichen Meinung vom Sinn des Eschaton weist Cacciari auf eine mögliche Konvergenz hin zwischen dem, was er über die Ewigkeit des Seienden als über die Sprache hinausgehend zu unterstreichen versucht, mit einigen Thesen von Severino in Oltre il linguaggio (1992) und Oltrepassare (2007), 46–52. Siehe auch: Labirinto filosofico, 170 f. 407 Interessant sind die Seiten, die der Autor der Deutung der Sentenz Nietzsches – »Es gibt keine Tatsachen nur Interpretationen« – widmet und die Cacciari mit der Grundbehauptung des sogenannten wissenschaftlichen Realismus identifiziert: vgl. ebd., 319–321. Es wäre interessant, den Vergleich weiterzuentwickeln und den Unterschied zwischen diesem von Cacciari als Erbe der Thesen Nietzsches identifizierten, wissenschaftlichen Realismus und dem wissenschaftlichen Positivismus, von dem Nietzsche seine Thesen aus entwickelt hat, zu klären: »Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomen stehen bleibt, ›es gibt nur Tatsachen‹, würde ich sagen: Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 315. 408 Vgl. Ders., La struttura originaria, 1958; Ders., Destino della necessità, 1980. 406
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nichts anderes als auf widersprüchliche Weise zu behaupten, dass das Seiende ein Ewiges sei (bzw. das, was per Definition unmöglich nicht sein kann), das aber dennoch an einem bestimmten Punkt vom Möglichen ins Sein gerufen wird. Das eigentliche Problem Cacciaris ist hingegen die Überlegung, das Seiende vom Paradigma der Notwendigkeit freizumachen, wie sie in der Form einer selbstbegründeten Notwendigkeit bei Severino vorliegt. Cacciari denkt dessen Ewigkeit in analoger Beziehung zum Agathòn-Unum, das seinerseits das Anfänglich-Allmögliche der ersten Hypothese des platonischen Parmenides im Hintergrund hat, bzw. jene Instanz, die dem Ersten-das-ist vorangeht und in metaphysischem Sinn den Ausgangspunkt des gesamten Diskurses von Severino antizipiert und somit den èlenchos selbst. Seit der Krisisschrift hat Cacciari erklärt, wie unpassend und immer weniger plausibel die dialektische Methode des Idealismus als Zugangsweg zur Realität ist. Dieser Feststellung getreu hat er im Laufe seiner Schriften die sog. diaporetische Methode entwickelt: Ein Denken, das zwischen den Aporien gräbt und sich dabei asymptotisch an das annähert, was aus dem Auseinandertreiben von Gegensätzen entsteht, ohne sie je zu lösen. Wenn also der Idee vom Anfang als Allmöglichem (das in sich das Unmögliche selbst aufnimmt) tatsächlich der Diaporetik entspricht, dann entspricht der positiven Potenz des Möglichen (die das Sein lässt, was ist) eine Form der Erkenntnis, die alteritate coniecturali voranschreitet. Wenn man die Mutmaßung im Licht des Gesamtentwurfs des Labirinto filosofico sieht, kann sie als Form eines nicht dialektischen Denkens (im idealistischen Sinne) der Differenz gedacht werden. 409 Die mutmaßliche Erkenntnis erreicht auf ihrem Weg entlang von Hypothesen und Widerlegungen aber keinen Schlusspunkt und beansprucht nie, sich selbst in Übereinstimmung mit der gesuchten Realität zu setzen. Die Mutmaßung ist jene 409 Fabio Vender teilt diese Hypothese in seiner Rezension des Labirinto filosofico (in Filosofia italiana: www.filosofia-italiana.net) nicht, weil für ihn das Transzendieren der Dialektik selbst dialektisch ist. Angesichts des gesamten Denkweges von Cacciari ist es, denke ich, möglich zu behaupten, dass der spekulative Gebrauch der Dialektik hier nicht in Frage steht, weil es sich bei Cacciari nicht um die idealistische Dialektik der Versöhnung handelt, sondern um das Offenhalten der Aporetik des Möglichen. Die Diaporetik, der Gebrauch eines analogen Diskurses und die Behauptung eines mutmaßlichen Charakters der Erkenntnis, sind in diesem Sinne Ausdruck eines Denkens der Differenz, das in der Dialektik lebt, aber in einer solchen, die über dem Prinzip des Nicht-Gegensatzes steht, weil ihr Begriff ad quem über das Sein hinausgeht.
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Form der Erkenntnis, die sich auf asymptotische Weise, in immer neuen und nie hinreichenden Anläufen dem metaphysischen Spalt nähert, jener ursprünglichen Differenz zwischen dem Sein in sich und den Arten seiner Prädikation. Und auf diese Weise stimmen Form und Inhalt überein: Das in der mutmaßlichen Form ausgedrückte Denken der Differenz entspricht der immanenten-Transzendenz des Seienden und seines eigenen Anfangs. Eine solche Argumentationsweise folgt einem spiralförmigen Gang, der die unendlichen mutmaßlichen Möglichkeiten immer neu miteinander verbindet und widerlegt, so dass am Ende eine solche unendliche Hermeneutik dem Status jenes Seienden entspricht, dessen letztes Seiende unsagbar bleibt. Wie der Autor selbst am Anfang des Aufsatzes bemerkt, ist das unausdrückliche proprium der Sache die Energie, die den Denkweg anstößt und die gleichzeitig das Ziel darstellt, zu dem der Weg führt. Man hat das Offene im Rücken und beim Herauskommen aus dem Labyrinth geht man erneut ins Offene hinein. Eine solche Vorstellung von Philosophie bewegt sich auf einem Grat: Sie gibt weder vor, das realissimum der Sache endgültig zu besitzen – ein an sich unmögliches Postulat – noch versagt sie es sich völlig, über die ontologische Dimension des Seienden nachzudenken, wie es eine bestimmte postmoderne und dekonstruktive Hermeneutik tut. 410 Diese Philosophie hat das platonische màthema als ein eigenes Kriterium veranschlagt, angesichts dessen sie nicht apophatisch auf die Erkenntnis verzichtet, aber in dem Bewusstsein, dass jedes Urteil, sei es noch so bedeutend, letztlich der Sache selbst fern bleibt. Genau besehen ist das Wiederaufgreifen dieser ethischen Seite des Philosophierens als Ergebnis des diaporetischen Weges von Cacciari eigentlich ein Verhalten, das ihn seit den ersten Schriften der Trilogie bei seinem Annäherungsversuch an das begleitet, wovon man nicht sprechen kann, das aber dennoch die schönste zu sagende Sache ist.
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Cacciari, Labirinto filosofico, 327–331.
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Kapitel VI Die der Europa-Idee innewohnende Differenz
Cacciaris Interesse für die politische Philosophie und die Betrachtung des europäischen Schicksals ist nicht verwunderlich, wenn man sein auch in Deutschland bekannt gewordenes politisches Wirken als Abgeordneter des EU-Parlaments und als Bürgermeister von Venedig bedenkt, vor allem weil Europa historischer Schauplatz der grundlegenden Aporien ist, mit denen er sich in seinen systematischen Schriften auseinandersetzt. Bei genauerem Hinsehen bildet die aporetische Betrachtung der Frage nach dem Einen das hermeneutische Kriterium seiner Gedanken zur Vorstellung von der politischen Einheit und Gemeinschaft Europas: Man kann nämlich eine enge Verbindung zwischen den vom Autor in seinem systematischen Triptychon dargestellten metaphysischen (und damit metapolitischen) Voraussetzungen und seiner im engeren Sinne philosophisch-politischen Recherche erkennen. Seine Feststellung zum Fehlen der Grundlagen und eines gemeinsamen νόμος / Nomos (so in Icone della Legge), die Auffassung des Anfangs als Raum des Allmöglichen (in Dell’Inizio), die tragische Erweiterung jener Definition als Un-möglichkeit (in Della cosa ultima) und die Betrachtung der ursprünglichen Antinomie als Kennzeichen des Seienden, dessen Wahrheit vollkommen unzugänglich bleibt (in Labirinto filosofico), bestimmen auch den Logos der politischen Interaktion Cacciaris und seine Vorstellung von Europa. Der Autor nimmt nämlich die platonische στάσις (stásis) bzw. die unversöhnbare und bestimmende Widersprüchlichkeit der πόλις (polis) als Form und ursprüngliches Kriterium des andauernden griechischen wie gesamteuropäischen Politik-Experiments auf. Es ist evident, dass der implizit in Anspruch genommene Antagonist einer solchen Lösung wieder einmal Hegel ist: Die Stásis entspricht der Diaporetik auf der Ebene des ethisch-politischen Handelns, jenem radikalen Misstrauen gegenüber einer versöhnenden
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VI · Die der Europa-Idee innewohnende Differenz
Form der hegelschen Dialektik, 411 die jeden Konflikt in einer Synthese zu integrieren intendiert. Die politischen Betrachtungen Cacciaris, auch wenn sie sich Themen zuwenden, die früher bereits von Autoren wie Schmitt, Tocqueville, Husserl, Heidegger, Gadamer etc. bearbeitet worden sind, stellen somit keinen einfachen Interpretationskommentar zur Forschung jener Autoren dar, zumal die Diaporetik, indem sie jeden Diskurs hinsichtlich von Grundlagen untergräbt, die Vorstellung von Darstellung und Ordnung selbst durcheinander brächte, die für jedes philosophisch-politische Denken und damit für viele Betrachtungen der Europa-Idee zentral wären. Wenn vielmehr der Gegensatz im Einen gedacht werden soll, wenn der Geist der Ort der schlimmsten Krise ist, wenn die ontologische Differenz im Wesen des Seienden liegt, dann werden auch Polis, Heimat und die Vorstellung von Demokratie zu Trägern eines unversöhnbaren inneren Gegensatzes, einer radikalen Un-Möglichkeit, erweisen sich also als unfähig, die Einheit und das Gute eindeutig darzustellen sowie einen Nomos und ein universelles demokratisches Ethos zu definieren. Jeder Versuch, die Spannungen zwischen den inneren Gegensätzen der Polis und Europas aufzulösen, gar im Namen einer vorausgesetzten reductio ad Unum, ist für Cacciari Ausdruck höchster Gewalt, deren Ideologie zu meiden ist. In dieser Situation einer radikalen Krise, die, wie uns Cacciari ins Gedächtnis ruft, in der Vorstellung von Europa seit seiner Entstehung verankert ist, muss sich das Ethos der Polis jenseits der Politik in der paradoxen Form des Unpolitischen geben. Es ist das Schicksal der europäischen Politik, die eigene Tragik anerkennen zu müssen, dass eine Synthese der perfekten Gegensätze ebenso wie die Schaffung eines idealen gemeinsamen Orts, an dem die Unterschiede endlich in eine Einheit zusammengeführt würden, unmöglich ist. Für Cacciari ist die einzig denkbare Eintracht eine »abwesende Heimat«, ein Raum, der den Konflikt als sein dauerhaftes und bestimmendes Element impliziert, in einer nach Übereinstimmung strebenden Spannung der Gegensätze, der gerade deswegen politisch stets irreal bleibt und immer wieder neu gesucht werden muss. Das ist gleichsam der rote Faden, der die politisch-philosophischen Schriften des Autors miteinander verbindet, angefangen von Geofilosofia dell’Europa (1994: dt. Ausgabe: Geo-Philosophie Europas, 1995), das zusammen mit L’Arcipelago (1997; dt. Ausgabe: Der Archipel Europa, 1998) ein Diptychon 411
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Vgl. Cacciari, Dialettica e critica del politico. Saggio su Hegel, 1978.
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zur Vorstellung des europäischen Schicksals darstellt, 412 bis hin zu seinem Il potere che frena (2013), in dem er diese Betrachtung zur Apokalyptik hin erweitert und sich mit einer der rätselhaftesten Figuren der politischen Theologie, dem Katéchon, auseinandersetzt.
6.1 Aufgang Europas. Genealogie des europäischen Geistes Ein Mythos eröffnet auf emblematische Weise die Betrachtungen zur Vorstellung von Europa in Geofilosofia dell’Europa (1994); hierbei geht es um einen erzählten Traum von der Königin Atossa, der in dem von Aischylos verfassten Werk Die Perser niedergeschrieben wurde – ein Werk, das anlässlich der persischen Kriege verfasst wurde (492–478 a.Chr.). 413 Die Königin träumt von zwei »leiblichen Schwestern aus demselben Stamm«, beide »von eindrucksvoller Gestalt und unvergleichlicher Schönheit«. Sie heißen Asien und Eleutheria (Europa), die in so großem Gegensatz zueinander stehen, dass ihr Sohn, König Xerxes, sie nicht zähmen kann. So beschließt der Großkönig, die beiden Frauen wie Pferde vor einen Karren zu spannen. Während Asia Xerxes’ Aufforderung willig folgt, zeigt sich Eleutheria unzähmbar und keineswegs gewillt, sich anderen unterzuordnen. Cacciari interpretiert diese enigmatische Szene bei Aischylos als ein Emblem für den Konflikt (στάσις) in einer echten Blutsverwandschaft. Zwischen den beiden Schwestern Asia und Europa herrscht kein πόλεμος (pólemos) – ein Begriff, der den Krieg im Ausland gegen die Barbaren bezeichnet – sondern es besteht ein großer Gegensatz in ihrem Wesen und Verhalten auch und gerade bei noch so großer Nähe (Stásis bezeichnete nämlich den Krieg in Ellada, d. h. einen Bürgerkrieg). 414 Der Vollständigkeit halber soll neben diesen zwei Schriften auch Europa o la Filosofía genannt werden, das nur auf Spanisch erschienen ist (Madrid 2007) und den »Premio Internacional de l’Esayo« gewonnen hat. 413 Der erste Aufsatz, den Cacciari der Vorstellung von Europa widmet, hat in der italienischen Ausgabe den Titel Geofilosofia dell’Europa (1994). In der deutschen Übersetzung heißt er Gewalt und Harmonie. Geo-Philosophie Europas; der Bezug zur Tragödie von Aischylos findet sich auf den Seiten 14 ff. 414 Für eine historische Rekonstruktion der semantischen Unterscheidung zwischen pólemos und stásis wird verwiesen auf: Hansen, Stasis as an essential Aspect of the Polis, 2004, 124 ff. In seiner Auslegung des platonischen Textes schlägt Cacciari eine innere Bedeutungsdifferenzierung des Begriffs Stásis vor: Dieser stehe nicht nur für den Bürgerkrieg, sondern auch für die unlösbare Spannung unter den Blutsbrüdern (den Hellenen), die die Energie und den mèros des politischen Lebens darstellt. 412
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Jenseits aller Metaphern möchte Aischylos nach Meinung Cacciaris hier den Unterschied zwischen Asia, die sich freiwillig dem absoluten Herrscher unterordnet, und Ellada, die einen unzähmbaren Drang nach Autonomie hat, unterstreichen. Eleutheria ist also das Zeichen der griechischen Freiheit, die niemals akzeptieren wird, ihre Freiheit in die Hände eines absoluten Tyrannen zu legen, die höchstens zustimmt, sich des δεσπότης νόμος (despótes nomos) 415 bzw. dem Gesetz der Polis unterzuordnen. Einzig der Nomos ist in der Lage, die Unterschiede zusammenzuhalten und den Konflikt immer wieder aufs Neue unter Kontrolle zu bringen. Seit ihren Anfängen besitzt der Logos der Polis also einen grundlegend polemischen Charakter (πολεμικός / polemikós): Er neigt dazu, die Verbindung zwischen den Vielen zu sichern, gerade weil der Gegensatz zwischen den Einzelnen unüberwindbar ist. So sind also die Vielen, aus denen die Polis besteht, frei, gerade weil sie in ihr eine gemeinsame Herkunft erkennen, die aber gleichzeitig der Ort ist, an dem sich die absoluten Unterschiede widersprechen und einander entgegentreten: »Keine Harmonie wird jemals abstrakte Aufhebung des Unterschieds sein, und kein Unterschied läßt sich als abstrakte Negation der Harmonie behaupten.« 416 Diese den griechischen Geist bestimmende Aporie, die eine dauerhafte Krise zwischen absoluten Korrelaten aufgrund der ihnen eigenen Differenz darstellt, ist zwar eine Einheit, aber eine Einheit mit einander anziehenden wie abstoßenden Gegensätzen, die letztlich den Angelpunkt der Entstehung und schrittweisen Auflösung des europäischen Denkens bedeutet. Um die Relevanz der eigenen These sowie die daraus folgende Entwicklung mit dem Verlust des Nomos, mit der im Westen schrittweise das Bewusstsein der Stásis als unlösbares Bestimmungselement der πολιτεία (politeía) verschwand, zu zeigen, spannt Cacciari in seinem Buch einen Bogen zwischen den Epochen, an deren Endpunkten sich Platon und Carl Schmitt gegenüberstehen.
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Herodot, VII, 104. Cacciari, Gewalt und Harmonie, 22.
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6.1.1 Die unüberwindbare grundlegende Differenz der griechischen Polis: Rückkehr zu Platon Entgegen der Interpretationstendenz, die von Aristoteles bis Hannah Arend reicht, mit der Platon aus philosophischer Sicht als Verfechter einer idealen Vorstellung von Polis angesehen wurde, verteidigt hingegen die dazu parallele Auslegung des Politikos und der Gesetze bei Cacciari ein größtenteils »realistisches« Bild der Auffassung von Platon. 417 Er zeigt, dass sich Platon überhaupt nicht auf die Polis bezieht (die an keiner Stelle genannt wird), wenn er die Situation der idealen Harmonie beschreibt, in der die Welt von Gott und den Menschen wie von »heiligen Hirten« geleitet würden (Politikos, 271 d – 272 b) und somit den πόλεμος (pólemos) und die στάσις (stásis, Politikos, 271 e) noch gar nicht kannten, sondern schlechthin in Frieden (εἰρήνη eiréne) und Pietas (αἰδώς / aidós), nach richtigen Gesetzen (εὐνομία / eunomía) und Gerechtigkeit und ohne Neid (ἀφθονία δίκης / aphtonía díkes) lebten. Platon bezeichnet dieses harmonische Zusammenleben als οἴκησις (oíkesis), »heilige Herde« (Gesetze, IV, 713 b 2). Das Problem der Entstehung der Politeía kommt hingegen für Platon gerade damit auf, dass diese ideale Zeit der oíkesis aufgegeben worden war. Platonisch gesprochen bedeutet das, dass es keine durchgreifende Harmonie geben kann, insofern es eine Polis gibt und es folglich auch keine Politeía geben kann, wenn ein solcher Zustand universeller Harmonie geschichtlich verwirklicht wäre. Da sich die Polis in einem dauerhaften Spannungszustand befindet, so braucht es Hirten, die selbst nur »Krieger« sein können (Politeia, II 373 e – 375 c), Experten der τέχνη (téchne) des Krieges (VII, 521 d 5). Aber nicht einmal hinsichtlich dieser auszufüllenden Rollenanforderungen drückt Platon ein ideales Urteil aus. Die Krieger selbst nämlich werden als Männer von zwiespältigem Verlangen beschrieben, die wie alle anderen Bürger lernen müssen, die Ambivalenz des eigenen Geistes zu kontrollieren. Wäre ihnen die Herrschaft überlassen, wür417 Die Feststellungen Cacciaris zur Einheit der platonischen Polis weisen eine direkte Kontinuität mit seiner Interpretation der ersten Hypothese des platonischen Parmenides auf. Wie man sehen konnte, wird das Unum-Unum im transzendenten Sinn für Cacciari als dem Vielen gleichermaßen korrelierend konzipiert, also nicht als kompakte Einheit. Das ist als das hermeneutische Kriterium zu nehmen, das nun auch bei der Auslegung der politischen Schriften Platons den Ton angibt, aus denen man das gleiche Ergebnis für die Vorstellung von der Polis ableitet: Die unlöschbare Stásis.
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de sich die Stásis, die für die Politik bestimmend ist, in gewaltsame ὔβρις (hybris) verwandeln und diese die staatliche Einheit vollkommen auflösen. Auch wenn die Polis aus einem Zustand der permanenten Spannung (Stásis) hervorgeht, sind weder Gewalt, Klassenkampf (wie Marx denkt), noch τέχνη πολιτική (téchne politiké) in der Lage, Frieden oder irgendeine dauerhafte Ordnung zu stiften. Und gerade beim Problemfall des ›Staates‹ ersinnt Platon die Figur eines Philosophenkönigs, um die Selbstzerstörung der Stadt abzuwenden. Ihm eignet die Fähigkeit, die κακοί (kakoí; Gesetze, I, 627 e – 630 c) zu besiegen, aber nicht mit einer auf Ausrottung zielenden Gewalt, sondern ausgestattet mit einer Dialektik, die versucht, die Bürger zu überzeugen und auf den Weg der Tugend zu bringen (Gesetze, I, 627 e – 628 a). Man kann also eine Stadt nicht mit der Methode der Politik oder der Kunst des Krieges beherrschen, wobei dies Ausdrücke der δόξα (doxa) sind, d. h., sie sind mit einem hypothetischen Wissen ausgestattet basierend auf der Grundlage von Meinungen. Nur die rein philosophische Gewinnung dessen, was über die Meinung (διάνοια / dianoia) hinausgeht – und ebendies ist die Kenntnis des »heiligen« Nomos – wird den Menschen in die Lage versetzen, alle Bürger vom Agathòn zu überzeugen, dem nicht hypothetischen Anfang par excellence. Die Schlussfolgerung, die sich aus einer solchen Auslegung der platonischen Figur des Philosophenkönigs ergibt, aber sich zu der von ihr vermittelten Botschaft eigenartig gespannt, geradezu provozierend verhält (und die Feststellungen Cacciaris von den oft sehr ähnlichen Betrachtungen etwa von Gadamer unterscheidet 418), ist, dass der Frieden der Polis unmöglich mit den Methoden der Politik durchzusetzen ist. Dieser Friede kann nur entstehen, wenn über das Politische hinausgegangen wird – und dies drückt sich in der Figur des Philosophen aus, der die Anfänge des Logos polemikós kennt und weiß, dass die Harmonie in ihrem Inneren unlösbare Konflikte 419 birgt. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, 1978. Die diaporetische Spannung zwischen der »heiligen« Dimension des Friedens und der Unmöglichkeit der menschlichen Politik besteht zwischen der zwingenden Notwendigkeit des Krieges und der Unmöglichkeit, diese durch irgendeine menschliche Übereinkunft nach Maßgabe des Aristoteles (metaxy) überwinden zu können; diese so verstandene Spannung soll auch ein besonderes Merkmal des Denkens von Simone Weil sein, der Cacciari in zentralen Teilen seines Aufsatzes besondere Aufmerksamkeit schenkt und sich dabei auf die zwei von ihr parallel geschriebenen Werke Venezia sauvée und L’Iliade ou la poéme de la force bezieht. Trotz der schwankenden Ver418 419
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Eine solche Auslegung der politischen Doktrin von Platon erlaubt es Cacciari, das Urteil zu entkräften, die von Philosophen beherrschte Republik sei Ausgeburt einer nicht realisierbaren Utopie. Dagegen wird die von Platon gemeinte Republik als eine richtige ἀτοπία (atopía, wörtlich: »Außerhalb des Gewöhnlichen«) angesehen verbunden mit dem (philosophischen und antiideologischen) Bewusstsein, dass weder die Konventionen des Rechts noch politische Strategien oder ein abstraktes Demokratie-Ideal ohne Abstriche das Gute verkörpern könnten. Jede dieser Hinsichten kann auf gewisse Weise an der Dynamik des Guten in dem Ausmaß teilhaben, in dem sie als grundlegend verschieden vom Guten erkannt wird. Letztendlich stellt nur der »heilige« Nomos, zu dem nur derjenige Zugang hat, der alle irrigen Meinungen überwinden kann, die Möglichkeit des Friedens (ἐλευθερία / eleutheria) dar, also der harmonischen Beherrschung der Unterschiede (δεσπότης νόμος / despótes nomos). Diese vornehmlich theoretische Annahme stellt auch ein kritisches Kriterium zur Deutung der jüngsten politischen Entwicklungen dar, auf die Cacciari in einer direkten Auseinandersetzung mit den Hauptpunkten des berühmten Nomos der Erde von Carl Schmitt und vor allem mit der Diagnose zum Verlust des Nomos aufgrund der Spaltung von Ordnung und Ortung ab dem 19. Jahrhundert eingeht.
6.1.2 Die Entwurzelung des Nomos nach Carl Schmitt Das Werk Der Nomos der Erde (1950) kann ohne Zweifel als Summa der Rechts- und Politikphilosophie von Carl Schmitt gelten. Entgegen der positivistischen Tendenz, durch die der Begriff des Nomos im 19. Jahrhundert geprägt wurde (bei der ›νόμος‹ mit »Gesetz« übersetzt bzw. mit jeder Art normativer Regulierung verknüpft wurde), pocht Schmitt auf eine Wiederbelebung des ursprünglichen Begriffsinns. Die griechische Etymologie des Begriffs Nomos (νόμος), der von flechtung im Denken Weils zwischen eher gnostischen und christlichen Ideen nimmt Cacciari an, dass auch für sie letztendlich die Lösung der zwingenden Stásis vor allem antipolitisch ist: Im Einklang mit der Idee der decreatio und der göttlichen konosis kann das Böse nur durch die Selbstaufgabe und Liebe zum eigenen Tod besiegt werden. Die Gewalt kann also nur durch die Gewaltanwendung gegenüber sich selbst überwunden werden. Vgl. Cacciari, Gewalt und Harmonie, 85–93. Der Anfang als Freiheit
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griech. νέμειν (nèmein) stammt, vereint drei Bedeutungen: Nehmen/ aufteilen/weiden, 420 die eng miteinander verbunden sind, weil sie eine nicht lösbare Verbindung zwischen Ortung und Ordnung ausdrücken. Aus historischer Sicht erhält der Begriff nach und nach die Bedeutung Gesetz, weil die Hirten ihre Weiden markierten und deren Fläche anerkennen lassen mussten; die Begriffe Gesetz und Ort sind also ursprünglich ganz eng miteinander verbunden. Im Laufe des 19./ 20. Jahrhunderts gerät im Übergang der alten vorstaatlichen Ordnungen zu den Nationalstaaten dieser ursprüngliche Zusammenhang in die Krise. Dazu tragen vor allem die ersten beiden »Welt«-kriege bei, die eine Entwurzelung des Krieges vom Territorium bewirken und ihn zum »totalen Krieg« machen. Zudem liegt es an der Neudefinition der nationalen Grenzen im neuen ius gentium der Nachkriegszeit bzw. im internationalen Recht, das das jus über das Recht der Einzelstaaten stellt und unter ihnen Kompromisse auszuhandeln versucht, was aber schnell von der sog. allgemeinen Mobilmachung 421 untergraben wurde. Die verschiedenen Stationen auf dem Weg der Bedeutungsverschiebung des Begriffs Nomos, die von dem Juristen beschrieben werden und auf deren detaillierte Analyse hier nur knapp verwiesen werden kann, 422 lassen bei der Deutung von Cacciari eine ursprünglichere theoretische Begründung zu; sie finden einen stärker historisch ausgearbeiteten und sicher auch problematischeren Bedeutungsgehalt als bei Schmitt. Cacciari schätzt durchaus die Bemühung Schmitts, den ursprünglichen Sinn der Vorstellung von Nomos wiederzubeleben, und teilt auch sein historisches Urteil hinsichtlich einer schrittweisen Entwurzelung. Dieses Auseinanderdriften von Ordnung und Ortung ist jedoch von dem Philosophen über die historisch-politischen Gründe hinaus zu verstehen; es ist vor allem in der Auflösung der grundlegenden Beziehung zwischen dem Gesetz der Polis und dem göttVgl Schmitt, Der Nomos der Erde, 36–48. In Einklang mit der vordergründigen Bedeutung von nèmein (nehmen) entwickelt Schmitt in dem Werk Land und Meer (1942) die Begriffe Landnahme und Seenahme. Vgl. Schmitt, Land und Meer, 41 ff. 421 »Die Freiheit von Handel, Finanz und Wirtschaft, die aus jedem Ort und jeder Zeit eine ›globale Zeit‹ macht, befindet sich in unaufhebbarem Konflikt mit dem Positivismus des an den Staat gebundenen Rechtes. Ohne positiv verwurzelten Nomos hat jedes öffentliche Recht nur ein gespenstisches Dasein.« Cacciari, Gewalt und Harmonie, 107. 422 Schmitt, Der Nomos der Erde, 210. Dieser Ausdruck, der von Schmitt aufgegriffen wurde, stammt von E. Jünger, Die totale Mobilmachung, 1931. 420
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lichen Nomos 423 zu betrachten. Denn im Einklang mit seiner Auslegung der politischen Schriften von Platon behauptet Cacciari, dass die Entwurzelung des Nomos vorrangig am Verlust seiner »heiligen Wurzel« liege. Wie uns Platon lehrt, erfährt das menschliche Gesetz erst durch Gott seine Gültigkeit, der auch die Verwurzelung des Gesetzes im Raum der Polis (νόμος πόλεως / nómos póleos) garantiere. Somit wird das menschliche Gesetz als ein Abbild des göttlichen Nomos gedeutet: »Die vielen nómoi des Menschen würden für sich genommen keine Ordnung – und keine ›Ortung‹ – garantieren, leiteten sie sich nicht vom göttlichen Nomos ab […] Nur die Überzeugung, dass es Götter gibt, kann uns davon überzeugen, dass die Gesetze eine unwandelbare Wurzel haben.« 424 Nach Cacciari gerät diese ursprünglich göttliche Herkunft der Beziehung zwischen Gesetzesgeltung und Polis, die für Platon eindeutig und schon in der griechischen Tragödie bekannt war (die den ἀγών / agòn zwischen den νόμοι / nómoi und den göttlichen τιμαὶ / timaí inszeniert), nun mit der Sophistik des 5. Jahrhunderts und dem Stoizismus, dem Epikureismus und Skeptizismus in die Krise geriet und im römischen Recht sowie in der Annahme seines inkludierenden Universalismus im Christentum aufgelöst wird. Die innere politische Logik dieser zwei entscheidenden Ereignisse wurde laut Cacciari von Schmitt nicht angemessen analysiert. 423 An diesem Punkt muss eine Präzisierung erfolgen: In seiner historischen Rekonstruktion des jus publicum erkennt Carl Schmitt ganz richtig, dass die europäische Staatsform Epochen durchlaufen hat, in denen sie vorrangig theologisch-spirituelle Bezugspunkte hatte. Man denke an Schmitts Beobachtungen zum Recht im Mittelalter in Nomos der Erde, wo die von Gott erwählten Monarchien es sich zur Aufgabe machten, den Frieden und die Einheit des Himmelreichs (Nomos der Erde, 25–36) zu historisieren, sowie an seine berühmte These, dass der Politiker aus einer schrittweisen ›Säkularisierung‹ des Religiösen entsteht. (Dies ist ein zentrales Kriterium für die folgenden Veröffentlichungen: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1934; Ders., Politische Theologie. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie, II, 1970). Man denke auch an seine theologisch geprägten Betrachtungen im modernen Aufbau des Leviathan-Staates, wie ihn Hobbes beschreibt, auf den noch eingegangen wird (Ders., Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, 1938). Abgesehen vom hermeneutischen Disput zwischen »Säkularisierung« und »Theologisierung« unterscheidet sich in diesem Punkt die Analyse Schmitts von der Cacciaris dadurch, dass der Jurist nicht anerkennen mochte, dass der Prozess der »Laikalisierung« des Nomos bzw. der Verlust seines theologischen Hintergrunds schon ein Element des römischen Rechts und vor allem des frühen Christentums war. 424 Cacciari, Gewalt und Harmonie, 108 f.
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Anders als die griechische Polis, die vor allem eine Gemeinschaft von Personen ist, die alle dem gleichen γένος (génos) angehören, im Inneren kämpferisch sind und die Bereitschaft zeigen, Krieg gegen die äußeren Feinde zu führen, vereint die römische Civitas bei ihrer Entstehung Menschen verschiedener Herkunft, Sprachen, Religionen und Sitten. Seit ihrem Gründungsmythos verspricht die römische Zivilisation eine Öffnung jenseits von originären Bindungen an Religion und Herkunft. Dieser einschließende Charakter wäre für die griechische Polis undenkbar gewesen und drückt sich praktisch in einem Recht aus, dessen Geltungsbereich die Ökumene darstellt (jus supra nationes). Die römischen Bürger (cives) verbindet also nicht die Herkunft, sondern ein gemeinsames Ziel. 425 Diese große römische Idee wird vom Christentum übernommen, welches darin eine Bestätigung für die Relativität der irdischen Stadt gegenüber der caelestis civitas 426 findet sowie ein Argument für seinen Anspruch umfassender Universalität. 427 Ohne die universale Öffnung und die Entsakralisierung des Gesetzes seitens des jus romanum und des Christentums könnte es das heutige Europa so nicht geben. Und trotzdem war dieses Binom, diese besondere Stärke der lateinisch-christlichen Kultur, gleichzeitig ihr größter Schwachpunkt: Es ist unmöglich, sich einen
425 In einem interessanten Vortrag zu den Unterschieden zwischen der griechischen Polis und der civitas romana erinnert Cacciari daran, dass der erste Gott, dem in Rom ein Tempel gebaut wurde, Asylum war. Cacciari, La città, Rimini 2004, 10. In diesem Zusammenhang sei auf Cacciaris Untersuchungen hingewiesen, in denen eine Synopse zwischen Architektur und Weltanschauung zu thematisieren versucht wird: Großstadt. Baukunst. Nihilismus, 1995; Wohnen, Denken, die Frage nach dem Ort, 2002. 426 »Die Hybris der Evangelisierung wurde nie mit klassischerer ›römischer‹ Härte ausgedrückt: ›Während also dieser himmlische Staat auf Erden als Fremdling weilt, beruft er Bürger aus allen Völkern und sammelt seine Pilgerschar aus allen Sprachen, unbekümmert um den Unterschied in Sitten, Gesetzen und Einrichtungen, wodurch der irdische Friede zusammengebracht oder aufrechterhalten wird‹ (De civitate Dei, XIX, 12–17)« Cacciari, Gewalt und Harmonie, 114. Es ist nicht so, dass die Christen nicht die Notwendigkeit anerkennen würden, dem menschlichen Gesetz zu folgen, aber es ist eigentlich sinnlos (anophelés), um in die himmlische Civitas zu gelangen (Hebr, 7,18; Phil, 3,20; 1 Petr, 2,11). Die Kaiser-Gott-Dialektik von Mt 22,21 wird zwischen Paulus und Augustinus in eine von nomos-hamartía übersetzt, die das Gesetz nicht nur der Verwurzelung im Göttlichen, sondern auch seines Erlösungsanspruchs beraubt. 427 Cacciaris Analyse in diesem Aufsatz müsste mit seinen Gedanken zum Judentum in Icone della Legge verglichen werden (zu Rosenzweig: 13–55). Wenn es richtig ist, dass für die Juden das Gesetz an keinem physischen Ort, sondern im Wort zu finden ist, behaupten sie anders als das Christentum die göttliche Herleitung des Nomos.
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universell gültigen Nomos vorzustellen, ohne darin die Spur einer Ordnung und einer göttlichen Gerechtigkeit zu erkennen. Der deutlichste Ausdruck dieser Unmöglichkeit und die sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen ist der von Hobbes beschriebene Leviathan-Staat, der juristisch-institutionelle Staat, der deus artificialis des Friedens, 428 in dem schon Schmitt eine entscheidende Etappe in der Geschichte des modernen westlichen Staates sah. In dem Moment, in dem der Staat jede Anbindung an eine göttliche und universelle Dimension verliert, verwandelt er sich in eine Machina machinarum, in einen allmächtigen Gott, der durch seine Unpersönlichkeit einen perfekt funktionierenden Mechanismus von Prozessen und Verfahren zeitigt. In diesem Sinne wird das Schwinden der universellen Voraussetzungen des Nomos von Anfang an paradoxerweise von einem rätselhaften Bestehen auf dem positiven Gesetz selbst begleitet. Schon Schmitt sieht den mythischen Leviathan als säkularen Ausdruck eines sterblichen und allmächtigen Gottes, der durch einen Pakt dazu geschaffen wurde, den Frieden und die Sicherheit der Bürger inmitten der blutigen Religionskonflikte der frühen Neuzeit zu garantieren. Bei genauerem Hinsehen stützt sich für Schmitt wie auch für Cacciari der von Hobbes skizzierte Staatsaufbau auf eine metapolitische Einheit, die eine Legitimierungsvoraussetzung für die Mission des Herrschers war. Das Handeln des Herrschers konnte also die Eintracht von Religion und Politik garantieren und somit nicht völlig in den künstlichen Positivismus der Maschinerie aus Recht und Verwaltung abgleiten, gerade weil dieser auf einen religiösen Horizont zurückgreifen konnte, der ihm und seinen Bürgern gemeinsam war (nach der Norm des cuius regio eius religio). Auch wenn der moderne Staat, wie er von Hobbes beschrieben wurde, eigentlich die göttliche Herleitung des Rechts ausschließt, konnte er sich immerhin auf ein gemeinsames Ethos berufen, das allerdings aus einem Pakt zwischen Anhängern der gleichen religiösen Konfession resultierte. So war die politische Einheit in gewissem Sinne immer noch von einer vertraglichen Konvergenz zwischen innerer und äußerer Sphäre legitimiert. Mit der Entstehung des europäischen Nihilismus ist diese ideale Vorstellung des modernen Staates endgültig ad absurdum geführt. Denn: Wie kann ein Staat, der sich als laizistisch und agnostisch versteht, der aus einer klaren Unterscheidung zwischen individuellem 428
Vgl. Ders., Gewalt und Harmonie, 117–130.
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Bewusstsein und Gesetz hervorgegangen ist und der seine Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsfunktion in Form einer äußerlichen Macht ausübt, in dem das Gesetz seiner universalen und theologischen Bedeutung beraubt wurde und es nicht einmal eine vertragliche Übereinkunft über eine gemeinsame Religion oder ein geteiltes Ethos gibt, auf die tief liegenden Gründe von Konflikten eingehen, die in der Religion, also in der persönlichsten Sphäre des Einzelnen verortet sind? Trotz aller Versuche der europäischen Staaten, die Elemente einer utopisch-idealen Einheit zu erhalten – etwa jene, die sich aus gemeinsamen Werten wie Demokratie, Toleranz, Parteien, Liberalismus oder der Wirtschaftsgemeinschaft ableiten – wird der Nomos im Innern von einer absoluten Unhaltbarkeit ausgezehrt. In der Zeit des äußersten Relativismus, in der die Grundlagen verloren gehen, führt der hegemoniale Versuch der Staaten, sich zu legitimieren, zwingend zu einer neuen »Tyrannei der Werte«, die jener Freiheit, die überall von den modernen europäischen Demokratien wie ein Banner vor sich hergetragen wird, gänzlich widerspricht. Schmitt hat für diese Situation, die er schon lang vorausgeahnt hat, als er die Entstehung einer globalen Gesellschaft infolge der Spaltung von Ordnung und Ortung prognostizierte, keine Lösung – wie könnte er auch? Cacciari überträgt die Analyse Schmitts in die gegenwärtige Lage und wagt eine Prognose für die Zukunft. Es kündige sich demnach der endgültige Untergang Europas an, dem eine doppelte Bedeutung zukomme: Auf der einen Seite sei damit die Implosion des geopolitischen Status quo gemeint, der unter dem sich selbst auferlegten Druck zusammenbreche, auf selbstreferenzielle Weise den Wert der Ordnung legitimieren und dabei die Ortung restlos globalisieren zu wollen. Zugleich stelle der Untergang aber auch das Wesen und den potenziellen Impuls des europäischen Schicksals bloß, wie schon das Wort Okzident selbst nahelege. Cacciari ist der Meinung, dass sich Europa für seinen eigenen Untergang entscheiden und/oder sich von seinen illusorischen und tyrannischen Werten 429 verabschieden muss – und damit von dem Anspruch, die Unterschiede in einer angeblich kompakten Einheit harmonisieren zu können. Der Untergang Europas bedeutet also für Cacciari, dass sich dieser Kontinent der authentischen »Grund-Intuition« zuwenden muss, aus der er entstanden ist. Es müsse die platonische Lehre (des Siebten Briefs, des Parmenides und auch der politischen Schriften) erneut 429
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Zu diesem Punkt zitiert er Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 1967, 37–62.
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zum Herzensanliegen werden, der zufolge keine Intelligenz jemals das Eine erfassen und die Polis keine eindeutige Einheit 430 herstellen könne. Vielmehr solle sie in der Stasís ausharren, dem dauerhaften Versuch, dem »Untrennbar-nie-Vereinten« eine Form zu geben. »Gelänge es Europa, sich in diesem Sinn an seine Verschiedenheit, daran, daß es Teil ist, zu erinnern, so könnte es vielleicht aus seinen μεταβολαὶ (metabolaí), aus seinen Metamorphosen, eine Vorstellung von Frieden gewinnen, die nichts zu tun hat mit jeder Illusion von Versöhnung oder Synthese und ebenso wenig mit jeder assimilierenden Anmaßung oder okkasionalistischen Willkür. Der ›Ort‹ des Cum ist ἄτοπος (átopos): Ein Nicht-Ort, der genauso ungreifbar und absurd ist wie der blitzhafte Augenblick, der im Mittelpunkt der Erörterung von Platons Parmenides steht«. 431
6.2 Untergang Europas. Das Schicksal des europäischen Geistes 6.2.1 Die Krise der europäischen Einheit und das Archipel als »neuer Anfang« Der desolate Zustand, in dem sich die liberalen Demokratien Europas befinden, ist für jeden offensichtlich. Das Wesen dieser Krise kann kaum eindeutig definiert werden. Sie betrifft verschiedene Bereiche, die sich nicht eingrenzen lassen und unvermeidlich ineinander übergehen: Politik, Wirtschaft, Finanzen, Technik, Umwelt – Bereiche und Problemfelder, die zweifelsohne diverse Auswirkungen auf sozialer, ethischer und anthropologischer Ebene haben. Die Komplexität dieser einzelnen Bereiche wird durch jene doppelte Perspektive noch verstärkt, mit der die Problematik betrachtet werden muss und die den Zusammenhalt der Union gefährdet: Es kreuzen sich die nationale Sicht der einzelnen Länder auf die EU mit ihren innenpolitischen Rücksichtnahmen und das Pathos und die Rhetorik der transnationalen Option. So steht nicht nur die wirtschaftliche Integration der einzelnen Länder noch lange nicht vor ihrem Abschluss, wie der Brexit gezeigt hat, sondern es scheint nicht einmal einen Minimalkonsens unter den Ländern der Eurozone bei der Umsetzung gemeinsamer 430 »Die abwesende Heimat« lautet die emblematische Überschrift des Autors für den letzten Teil seines Aufsatzes: Gewalt und Harmonie, 131–172). 431 Ebd., 25.
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Maßnahmen zu geben, wie aktuell sich bei der Aufnahme und Aufteilung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten zeigt. Damit wird die Unfähigkeit der Mitgliedstaaten evident, sich als pluralistisches und solidarisches Subjekt zu definieren, also zugleich die nationalen Interessen wie die Stabilität des gesamten Gemeinschaftssystems als Ziel zu verfolgen. Es ist also kein Zufall, dass die Kritik am demokratischen System in Europa in den letzten Jahren spürbar zugenommen hat. Das betrifft nicht nur die politische Debatte im engeren Sinne, sondern trifft mehr und mehr auf Veröffentlichungen zu, die sich mit dem Themenkomplex »Demokratie« oder »Europa« befassen: Trotz der unterschiedlichen Disziplinen stimmen die Publikationen in der Tendenz darin überein, dass das aktuelle transnationale System in seiner Widersprüchlichkeit auffalle und eine Neuausrichtung brauche, wenn es nicht sogar ganz abzuschaffen sei. Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen ist eine zentrale Frage hervorgetreten, die sich mit der Definition der Voraussetzungen für die Demokratie beschäftigt, also mit der Tatsache, dass die liberale Demokratie von einer stark idealistischen, an sich nicht erreichbaren Komponente lebt, also von einer angeborenen Kluft zwischen Absicht und konkreter Realität, wie sie Böckenförde dem liberalen Staat 432 schon in den 1960er Jahren attestierte; auch Cacciari legt in diesem Zusammenhang in Gewalt und Harmonie die Aporie bloß, wenn man die moderne Ordnung auf der Basis einer Wertetyrannei ohne tieferes Fundament legitimieren wolle. Die westliche Demokratie verspreche am Ende etwas, das sie selbst nicht wirklich halten könne: Umfassende Freiheit und soziale Gerechtigkeit, ein Versprechen, dass sich der seltsamen Begegnung von Liberalismus und Sozialismus und damit dem Pathos von 1968 verdanke. Zu diesem Europa der falschen Versprechungen, das für alle westlichen Demokratien – allen voran der amerikanischen – gelte, komme noch der Anspruch hinzu, eine ideale Wirtschaftsgemeinschaft schaffen zu können mit dem Ziel, die wirtschaftspolitischen Unterschiede der einzelnen Mitglieder des alten Kontinents sozusagen auf »einen Nenner« bringen zu können oder bringen zu wollen. Wie man unter diesen schwierigen Umständen weiterhin von europäischer Einheit sprechen könne, bildet das Leitthema in einem Buch 432 Das Böckenförde-Diktum ist berühmt: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 60.
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mit dem bezeichnenden Titel: Der Archipel Europa (1997), welches eine direkte Weiterführung von Geofilosofia dell’Europa (dt. Ausgabe Gewalt und Harmonie) darstellt. Der Autor hätte nur schwerlich ein passenderes Bild als das des Archipels finden können, um die mögliche Form einer Einheit der verschiedenen europäischen »Inseln« darzustellen. Die Metapher »Archipel« regt die Idee von einer Gemeinschaft ohne Einheit an, als einer Organisationsform, die keine Synthese zulässt, jedoch aber die Möglichkeit, Kommunikationsbrücken zwischen den Inselstädten zu bauen. Das umgebende Meer ist gleichsam ein gemeinsames Moment, das sowohl unterscheidet als auch verbindet. Da jede Insel als vollkommen individuelles Wesen wie ein Mikrokosmos neben die anderen tritt, schließt das Bild des Archipels schon von vornherein jeden Anspruch aus, einen Vorrang oder eine Hierarchie unter den einzelnen Territorien herstellen zu können. Cacciari zufolge ist es sogar möglich, dass jene Inseln des Europa-Archipels Gefahr laufen, sich selbst entweder als hierarchisch geordneten Raum zu verstehen, in dem eine Insel eigenmächtig die Rolle des Zentrums übernimmt, oder sich in unwirtliche Zellen zu verwandeln, die unfähig sind, das Andere, den Fremden aufzunehmen. 433 Aber gerade die Überwindung dieses doppelten Risikos, die unversehrte Fahrt vorbei an Skylla und Charybdis, stellt eine dringende Herausforderung dar, die ungeheure Verantwortung, vor der Europa steht. In der hier dargelegten Sicht liegt der philosophische Beitrag des Buches Der Archipel Europa zur Lösung dieser Problematik vor allem verankert in seiner anthropologisch-politischen Natur. Die ›Reise‹, die der Autor nebenbei zu den europäischen Inseln unternimmt, führt ihn von Aeneas zu Odysseus und Dante, von Max Weber zu Tocqueville und spielt sich vor allem im Innern ab, ganz nach dem von ihm zitierten Spruch des Tempels von Delphi: γνῶθι σαυτόν, μηδὲν ἄγαν (gnóthi sautón, medèn ágan: Erkenne dich selbst, aber nicht zu sehr). 434 Wenn diese Deutung zutreffend ist, dann könnte das zweite politikphilosophische Werk betrachtet werden als eine Überarbeitung der Überlegungen zur Figur des PhilosophenKönigs bei Platon, die bereits in Gewalt und Harmonie dargestellt worden waren. Wie gezeigt werden konnte, soll an der Spitze der Po433 Die Betrachtungen Cacciaris zur Dialektik von hostis und hospes erlangen angesichts der aktuellen Situation Europas besondere Brisanz. Vgl. Der Archipel Europa, 1998, 30–32. 434 Ebd., 27.
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lis der Philosoph stehen, nicht weil er die absolute Wahrheit kennt, sondern gerade weil er weiß, dass das Agathòn über jede Bestimmung des Wesens hinausgeht. Die Unerreichbarkeit des Guten, welches die transzendentale Bedingung von allem ist (Labirinto filosofico), bahnt eine Art antiideologisches und mutmaßendes Wissen an, das immer offen dafür bleibt, im dia-logos polemikos die potenzielle Pluralität der Audrucksformen der Wahrheit aufzunehmen. Dieser Kern der platonischen Lehre wird von Cacciari als entscheidendes Ziel beim Aufbau eines neuen europäischen Politikbewusstseins, eines Bildes des europäischen Menschen aufgezeigt: Für die Neubetrachtung der Gemeinschaftsidee sei es nämlich notwendig, zunächst von der Betrachtung des Individuums auszugehen. Die Krise Europas als ein überindividuell abstraktes Strukturproblem zu betrachten, sei genauso partiell wie die Aporien der Demokratie einfach als eine politische Frage einzuschätzen, der man mit einigen Korrekturen beikommen könne. In diesem Sinne muss der Prozess zur Neudefinition Europas zuallererst das Bewusstsein der einzelnen Individuen miteinbeziehen, bevor er die nationalen Regierungen angeht. Nur ein neuer Mensch, der bereit ist, die illusorischen Utopien des homo democraticus hinter sich zu lassen, nur ein Untergehender Mensch mit dem (philosophischen) Bewusstsein von der Unerreichbarkeit des Guten, der Wahrheit, der Einheit, wird fähig sein, die gefährliche Idee eines Europas als »totaler Individualität« 435 aufzugeben und »das Einander-Ge-horchen zwischen völlig Verschiedenen, Untrennbar-nie-Verbundenen« zu garantieren. 436 Das ist der Sinn, die Aufgabe und der Vollzug des europäischen Untergangs, dessen Inbild und Verfechter nur der Untergehende Mensch (Zarathustra’s Vorrede) sein kann.
6.2.2 Der »Untergehende Mensch« als Überwindung des homo democraticus Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschrieb Alexis de Tocqueville die Auswirkungen der liberalen Demokratie Amerikas auf das Bewusstsein des einzelnen Menschen. Entscheidend ist jenes Moment, mit dem der Autor den von Tocqueville vorausgesagten ho-
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mo democraticus als Produkt und Vollendung der Entwurzelung des in Geofilosofia dell’Europa beschriebenen Nomos neu interpretiert. Die Auflösung der bestimmenden Beziehung zwischen Ordnung und Ortung und vor allem die Reduzierung des Gesetzes auf eine technische Frage des Ausgleichs individueller Interessen haben, so die These, einen Individualismus hervorgebracht, der unfähig ist, einen geordneten Gemeinschaftsraum und damit zugleich eine Gemeinschaft zu schaffen, die ihre wechselseitigen Distanzen respektiert. Mit äußerstem Realismus porträtiert der Autor die aus diesem Blickwinkel sich zeigenden verschiedenen Widersprüche, die das Individuum des demokratischen Regimes kennzeichnen und die Idee der Gemeinschaft selbst unmöglich machen: Der homo democraticus hat einen unstillbaren Durst nach Autonomie und Freiheit, der im Gegensatz zu seinem genauso großen Verlangen nach Schutz und Absicherung von Seiten des Staates steht. Dieser aber verfolgt hartnäckig wiederum seine individuellen Interessen und vertraut sich dogmatisch seiner »unsichtbaren Hand« an, die für eine stabile Wirtschaft sorgen soll; er ist vor allem ein Individualist, der als einzige Autorität den totalitären Willen der Mehrheit vorschiebt. Die politischen Vertreter kommen nicht als Träger einer authentischen auctoritas zum Zuge (die einen »ontologischen« Bezug zu einer objektiven ordo-potestas implizierte), sondern sie sind einfach die Produkte einer Wahl-Konvention. Nach dem Bruch zwischen Ordnung und Ortung ist also für die Wahrung der Distanz, für Anerkennung und Schutz der Verschiedenen kein Raum mehr, der allein schon die Nähe sowie die Aufnahme des Fremden ermöglichte. Dass ein solches Individuum unwiderruflich die Gemeinschaftsidee selbst beschädigt, ist offensichtlich. Die aus einer solchen Ordnung entstehende Gesellschaft erscheint dann als eine Vermassung des Individuums, als das Zusammenleben einer konventionellen Einheit von Individuen, die alle für unbedingt gleich gehalten werden. Für Cacciari muss die Selbsttäuschung der liberal-demokratischen Ideologie, die die Polis unmöglich macht, in der Auffassung des Individuums selbst gesucht werden. Um aus dieser Notlage herauszufinden, hält er es für nötig, ein anderes individuelles Bewusstsein wiederzugewinnen, bei dem das Ich als »innerer Archipel« verstanden wird. 437 Mit dem Untergang einer Vorstellung vom Staat als organischer Gemeinschaft geht ein Untergang der Vorstellung eines 437
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Ich-allein einher, das äußerst egozentrisch ist, 438 sofern es annimmt, sich eindeutig und vollkommen zu erkennen, gleichzeitig Subjekt und Objekt des Erkennens zu sein. 439 Für Cacciari ist die »transzendentale Bedingung« der Gemeinschaft 440 sowie eines jeden authentischen Dialogs die Anerkennung der eigenen Vielfalt; es müsse daher die Freund-Feind-Dialektik (hostis und hospes) zuerst als entscheidendes Element für Subjektivität angenommen werden. 441 Schon Schmitt hatte die »Freund-Feind«-Dichotomie als eine entscheidende Kategorie des Politischen 442 und Tocqueville die intensive, nicht ro438 »›Kenne dich selbst‹ – doch wie soll man sich kennen, wenn auch der Weiseste und fähigste Mensch doppelt ist? Sich zu kennen, würde die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt, von Denkendem und Gedachtem (die Erfüllung des Traums von Narziss) in sich selbst voraussetzen. Aber das ist für den Menschen zu viel; es wäre auch für die ›geschaffenen Götter‹ zu viel. Nur im Einen, das über jede Bestimmung hinausgeht, ist diese Übereinstimmung denkbar. Aber in Delphi steht auch ›nicht zu viel‹ geschrieben. Dem Menschen bleibt also nicht nur das versagt, wozu ihn der ›kategorische Imperativ‹ verpflichtet, sondern er soll es auch nicht anstreben wollen, denn schon darin offenbarte sich unmissverständlich seine Hybris. Diese gegensätzlichen Tendenzen, dieses Agòn, ist das Selbst des Menschen; ihm noch eigentümlicher ist ihr dramatisches Ausagieren, ihr Drân.« Ders., L’invenzione dell’individuo, 1996, 121–127; 125. 439 Diese Annahme, deren Ursprungsidee von Cacciari 1996 in dem Artikel »L’invenzione dell’Individuo« (Micromega. Almanacco di filosofia) vorgestellt und dann 1997 in der Der Archipel Europa weiterentwickelt wurde, erfährt in Labirinto filosofico (2014) ihre systematische Ausführung. 440 Interessant ist hier, dass auf einen Ausdruck von Giovanni Gentile, einem der wichtigsten italienischen Philosophen in der Zeit des Faschismus, zurückgegriffen wird: Genesi e struttura della società. In: Opere, Bd. IX, Florenz 1987. 441 »Dass der Mensch Viele ist, dass der Mensch zahllose Doppel in sich birgt: Vater– Sohn, Sohn–Gatte, Mutter–Gattin, Tochter–Schwester, Bruder–Sohn und so fort bis zu jenem, das in gewisser Weise alle umfaßt: Freund–Feind. ›Wider-Sprüche‹, die nicht in friedlicher und vorhersehbarer chronologischer Reihenfolge nacheinander auftreten, sondern zugleich ertönen, auf einer Bühne, als personae des Dramas. Unser socius par excellence, wir selber, ist alter, ist ein anderer, der uns überrascht oder verführt oder gefangennimmt oder verletzt – mit dem wir aber auf jeden Fall unwiderruflich zusammen-wohnen.« Cacciari, Der Archipel Europa, 29. 442 Immer wieder taucht der Satz von Schmitt auf: »Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt«: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, hg. von Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, 217, vgl. auch 215. Für Schmitt, einen starken Gegner des liberalen Denkens, ist die Freund-Feind-Dialektik nicht im Sinne einer wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen Rivalen zu verstehen, noch will er so etwas wie eine psychologische Charakterisierung andeuten. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1927, 1–33. Diese Dialektik drückt vor allem eine große Verschiedenheit sozialer Gruppen aus, und dadurch die Unmöglichkeit, Streitigkeiten zwischen Gruppen durch politische Strategien von unten beilegen zu können. Deswegen kann Schmitt
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mantische Freundschaft als Form der Zugehörigkeit gesehen und diesbezüglich wie von einem ihr gemäßen Gerechtigkeitssinn gesprochen, der von der Anerkennung des gemeinsamen Interesses lebe und wirksames Heilmittel für den demokratischen Individualisierungsprozess sei. In diese Linie stellt Cacciari seinerseits die hostishospes-Dialektik als grundlegendes Kriterium für das ethisch-anthropologische Verständnis der Gesellschaft und damit als einzigen Weg dar zur Neuausrichtung einer gastfreien Gemeinschaft zwischen völlig verschiedenen Menschen. Bei genauerem Hinsehen spiegelt sich diese paradoxale Denkfigur auch in der stilistischen Herangehensweise von Cacciari, da er in den offenen Schlussfolgerungen seiner Schrift Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen untereinander verschiedenen Figuren herstellt. Mit sicherer Hand setzt er die Figur des Übermenschen bei Nietzsche mit dem »edlen Menschen« Eckharts und jenem Gott, der sich in der Gestalt des Fremden im Evangelium offenbart (Mt. 25,35), in Beziehung. Jedes dieser Symbole nähere sich einer »Sternenfreundschaft«, stelle eine in der europäischen Kultur enthaltene Spur von etwas dar, das nicht gänzlich antizipiert werden kann, aber doch das Un-mögliche einer kommenden Gemeinschaft anzudeuten scheint. Derjenige Denker, der nach Tocqueville »[…] die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch« 443 erkannte und die mit einer solchen Figur verbundenen Gefahren voraussah, war nach Cacciaris Meinung Nietzsche. Nichts widerspreche dem wirklichen Geist seiner Texte mehr, als die Gestalt des Übermenschen als Inkarnation eines positiven und allmächtigen Willens-zur-Macht interpretieren zu wollen. Auf Zarathustra’s Vorrede zurückkommend, interpretiert Cacciari dagegen diese Figur als endgültige und unsagbare Erfüllung jener, »[…] welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende«. Es ist der Mensch der absoluten Abgeschiedenheit; dieser lässt im Sinne Eckharts alle Selbstbilder fallen, erkennt sich seinem Inneren gegenüber als fremd und im Willen des Nicht-Wollens und im Warten auf die Ankunft des die Tatsache ableiten, dass der Kampf (also die reale Möglichkeit des Krieges) ein unabdingbares Element für die Entstehung des Staates selbst ist. Wenn die FreundFeind-Dialektik nicht ignoriert werden kann, scheint Schmitt sagen zu wollen, dann muss die Entscheidung, dem Feind in einem gewaltsamen Kampf gegenüberzutreten, Teil der grundlegenden Ordnung des Staates sein. Für eine Vertiefung dieser Problematik ist zu verweisen auf Palaver, Die mythischen Quellen des Politischen, 1998. 443 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 8, 242. Der Anfang als Freiheit
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Anderen den höchsten Ausdruck des Willens-zur-Macht – und darin womöglich Christus nicht fern. Diese drei Gestalten könnten, so der Gedanke, als Inkarnationen der Indifferenz des Anfangs die Form antizipieren, die der »neue« Mensch haben müsste. Zugleich mit dem Verweis auf die systematische Darlegung, mit der die Rolle Christi in der Philosophie Cacciaris kritisch diskutiert 444 wird, ist es erforderlich, den »prophetischen« Ton hervorzuheben, den Cacciaris Diskurs hier annimmt. Der »Stille« jedoch, mit der Nomos der Erde von Schmitt 445 abschloss, wird hier dagegen die Ankündigung – der Adveniens, wie ihn der Autor nennt – gegenübergestellt und vorausahnend formuliert, was für das Schicksal Europas nötig, aber nur schwer als Ergebnis menschlichen Tuns vorstellbar wäre. 446 An dieser Stelle bemerkt Cacciari, dass er diese zu analysierenden Konstellationen vertiefen muss, indem er sich im Ausgang von der hostis-hospes-Dialektik mit einem eschatologisch-apokalyptischen Symbol auseinandersetzt, das die »politische Theologie« am meisten verhext hat: Dem Κατέχον (Katèchon). 6.2.3 Der Κατέχον oder das Un-Mögliche als unbegrenzte Dauer Mit seiner Schrift Il potere che frena (2013) steigt Cacciari direkt in diejenige Debatte ein, der in den letzten Jahren in Italien wieder verstärkt Interesse entgegengebracht worden ist; dabei geht es um das Verhältnis von Theologie und Politik. 447 Die beiden grundlegenden Vor allem Zweiter Teil, Kap. II., 2.2.3. Das ist zumindest die Interpretationshypothese Cacciaris: »[…] Und Der Nomos der Erde kommt vielleicht ebensowenig zu einem Ergebnis; er schließt in einem Schweigen (das heute auch den Juristen auferlegt ist, so wie früher den Theologen), dem einzigen ›Ort‹, an dem es möglich ist, unser selbst und unserer göttlichen Herkunft zu gedenken.« Cacciari, Gewalt und Harmonie, 126. 446 »Zwar scheint die Vorstellung des Übermenschen eine absolute Singularität zu bezeichnen: Sein entheiligender Blick auf den Götzendienst des Homo democraticus will weder póleis noch civitates noch res publicae noch Gemeinschaft erbauen. Die Vorstellung des Übermenschen erscheint als praktisch-politisch ›unzugänglich‹. Dennoch ›arbeitet‹ in ihr ein Gedanke – jener, der bereits im Verhältnis von hostis und hospes, im ›Skandal‹ der philía mit dem Entfernten, dem Fremden, sogar gerade mit dem Feind aufleuchtete, und in der Erkenntnis, daß dieses Verhältnis und dieser ›Skandal‹ unser eigener Charakter-Dämon der Seele ist.« Cacciari, Der Archipel Europa, 153. 447 Man denke an alle Schriften von Giorgio Agamben, aber vor allem an: Herrschaft und Herrlichkeit, 2010. Während die Schrift Il potere che frena veröffentlicht wurde, 444 445
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Positionen zur Beziehung zwischen Gesellschaft und Religion können pointiert als »Säkularisierung« der religiösen Begriffe (C. Schmitt und M. Weber) 448 oder aber in einer »Theologisierung« der politischen Begriffe von Seiten des Religiösen – wie erst kürzlich J. Assmann behauptete – aufgefasst werden. 449 Cacciari verweigert sich beiden Interpretationsperspektiven, da sie ihn zwängen, sich angesichts eines falsch verstandenen Antagonismus zu positionieren. Für ihn gibt es vielmehr eine notwendige Wechselwirkung zwischen der Sphäre des Religiösen und des Politischen, wie es vor ihm auch schon für W. Benjamin 450 galt. Das enigmatische Emblem, in dem sich diese gegenseitige unentwirrbare Wechselwirkung zwischen religiösem und politischem Element, zwischen Kirche und Imperium verdichtet, ist die Figur des Katéchon, der im Zweiten Brief an die Thessalonicher auftaucht und dem Carl Schmitt, Walter Benjamin und Erik Peterson ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben. 451 Der Katéchon, von dem der Autor des Briefes spricht, wird als Aufhalter beschrieben, der den Angriff des Antichristen verzögern soll. Paulus kündigt an, dass eine Zeit kommen wird, in der diese Figur vollkommen verschwinden muss, wenn der Antichrist erscheint, damit sich endlich die letzte Schlacht und der Sieg des Herrn ereignen können. Anhand umfas-
befand sich das Buch von Roberto Esposito, das sich ebenfalls mit der Frage des Katéchon beschäftigt, schon in der Drucklegung. Esposito, La macchina della teologia politica, 2013, 83–89. 448 Schmitt, Politische Theologie, I–II; Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1934. Siehe auch: Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 1967, 75–94. 449 Jan Assmann argumentiert gegen Schmitt, dass alle prägnanten Begriffe der Theologie politische Begriffe sind, die theologisiert wurden: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, 2000, 29. Es muss auch angemerkt werden, dass Assmann hinter der Diskussion über den Vorrang von Politik und Theologie einen gegenseitigen Einfluss von religiöser und politischer Sphäre erkennt: ebd. 15–31. Zu diesem Themenkomplex vgl.: Kantorowicz, Kingship under the Impact of Scientific Jurisprudence, 1961, 101. 450 Benjamin, Kapitalismus als Religion, 1921, 100–103. An einer entscheidenden Stelle seiner Schrift schreibt Cacciari: »Die Bedingung meines gesamten Diskurses ist folgende: nicht versuchen zu erklären, wie einige theologische Ideen säkularisiert werden, sondern inwieweit sie schon die »Säkularisierung« implizieren. Das betrifft vor allem die apokalyptisch-eschatologischen Ideen, die seit ihrem Ursprung klar politisch sind.« Cacciari, Il potere che frena, 5 f. 451 Für einen Überblick zur Debatte zwischen beiden Autoren wird verwiesen auf Meuter, Der Katéchon, 1994; Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom Katéchon, 1996; Motschenbacher, Katéchon oder Großinquisitor?, 2000. Der Anfang als Freiheit
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sender Kenntnisse – nicht nur der Bibelexegese, sondern auch der patristischen Kommentare zum berühmten Passus von 2 Thess. 2, 1–12 – hebt Cacciari die große geschichtliche, politische und theologischeschatologische Bedeutung der Ambivalenz hervor, die den Ausdrücken τὸ Κατέχον (to Katéchon, männlich Singular) und ὁ Κατέχων (ho Katéchon, Neutrum singular) eignet. 452 Diese Schwankung ermöglicht eine doppelte Lesart der Katechontik: Sie kann als anonymes und metaphysisches Prinzip oder als dessen mögliche Historisierung in einem bestimmten Moment erscheinen. Auf dieses Problem, was oder wer geschichtlich den/das Katéchon verkörpert, konzentriert sich der Autor. Wenn Paulus behauptet, dass jene historische Macht des Aufhaltens zu weichen habe, damit sich in der letzten Entscheidung am Tag des Herrn das Reich der Anomia offenbaren kann, so muss sich jener Katéchon im Geist des Nomos begreifen. Es könnte sich hier um den Nomos Israels handeln, der sich gegen jeden Herrscherwillen stellt, das je eigene Götterbild im Innern des Tempels aufzurichten, oder allgemein um jede politische Macht, deren Rechts- und Verwaltungsfunktion fähig wären, die anarchische Hegemonie des Feindes in Schach zu halten. So haben nämlich seit den Anfängen nicht wenige Kirchenväter im Katéchon eine Form der Reichs-Herrschaft gesehen, 452 Paulus, der traditionellerweise als Autor des Briefes gilt, warnt die Thessalonicher: »Lasst euch durch niemand und auf keine Weise täuschen! Denn zuerst muss der Abfall (apostasia) von Gott kommen und der Mensch der Gesetzwidrigkeit (homo iniquitatis) erscheinen, der Sohn des Verderbens (apoleia, filius perditionis), der Widersacher (ho antikeìmenos, qui adversatus), der sich über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, so sehr erhebt, dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt (in templo, eis ton naon) und sich als Gott ausgibt. Erinnert ihr euch nicht, dass ich euch dies schon gesagt habe, als ich bei euch war? Ihr wisst auch, was ihn jetzt noch zurückhält (to katéchon), damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muss erst der beseitigt werden (de medio fiat, ek mesou genetai), der sie bis jetzt noch zurückhält (ho katéchon). Dann wird der gesetzwidrige Mensch (Iniquus, Anomos) allen sichtbar werden. Jesus, der Herr, wird ihn durch den Hauch seines Mundes töten und durch seine Ankunft und Erscheinung (parusia) vernichten. Der Gesetzwidrige (Anomos) aber wird, wenn er kommt, die Kraft des Satans haben. Er wird mit großer Macht auftreten und trügerische Zeichen und Wunder tun. Er wird alle, die verloren gehen, betrügen und zur Ungerechtigkeit verführen; sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten. Darum lässt Gott sie der Macht des Irrtums verfallen, sodass sie der Lüge glauben; denn alle müssen gerichtet werden, die nicht der Wahrheit geglaubt, sondern die Ungerechtigkeit geliebt haben.« (2 Thess. 2, 1–12).
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wie etwa Hyppolit 453 oder später Hieronymus oder Cassiodor. 454 Cacciari erkennt zwar an, dass zu bestimmten Zeiten, wie etwa der von Caligula, die Identifizierung der herrschenden Macht mit dem Katéchon überzeugende Gründe hatte, dass aber jene Interpretation den Sachverhalt zu sehr simplifiziere, wenn es um die dem politischen Imperium innewohnende Ambivalenz gehe, der man nur schwer die metaphysisch-eschatologische Bedeutung beimessen könne, wie sie der 2. Thessalonicherbrief beschreibt. 455 Die Katéchontik kann also nicht einfach mit der imperialen Macht gleichgesetzt werden. Ihr muss hingegen eine viel komplexere Bedeutung zugeschrieben werden, die nicht leicht aufzuschlüsseln ist. Auch diejenigen, die den Katéchon schlichtweg mit der Kirche gleichsetzen, ignorieren ihrerseits die wechselseitigen Verschränkungen von sacerdotium und imperium. Die Kirche hat sicher auf umfassende Weise Teil am Katéchon, aber nicht ausschließlich. Nach Cacciaris These ist also der Katéchon überhaupt nicht auf eine eindeutige Weise zu verstehen, sondern »der Katéchon erscheint immer […] als eine Gesamtheit von personae«. 456 So ist diese Kraft weder mit der politischen Macht noch jener der Kirche gleichzusetzen, sondern jede der beiden Sphären unterliegt einem Prozess fortschreitender Überlagerungen, in dem jeweils der Aufhalter und die verzögernde Wirkung der Parusie Christi auf paradoxe Weise konvergieren. Im Gedankengang Cacciaris erhält der Begriff »Katéchon« noch eine weitere Bedeutung, die viel ambivalenter als das einfache »Bremsen« und »Aufhalten« ist. Mithilfe des Synonyms »contenere«, das im Italienischen eine doppelte Bedeutung trägt, nämlich »bremsen«, aber auch »umfassen«, »in sich tragen«, behauptet der Autor, dass der Katéchon sowohl das Böse, das »von außen« kommt, aufhalte als auch selbst jene Kräfte in sich Hyppolitus, Commentarius in Danielem, IV, XXI–XXII; XLIX–L; LIII–LIV; LVI; Ders., Demonstratio de Christo et Antichristo, V–VI; XV; LXIII–LXIV. 454 Hieronymus, Epistulae, CXXI (Ad Algasiam); Cassiodorus, In epistulam secundam ad Thessalonicenses. 455 »Wenn nämlich ein authentischer Katéchon nur als ein innerer Aspekt des Imperiums vorstellbar wäre, dann würde daraus notwendigerweise folgen, dass er der spirituellen Autorität Konkurrenz machen würde. Wenn man sich das Imperium als Feind des Gegners vorstellt, dann würde keine Exegese der Apoklypse-Tradition von Daniel bis Johannes gelten können.« Cacciari, Il potere che frena, 63. 456 Ebd., 65. Cacciaris Deutung des Katéchon ist viel komplexer und diaporetischer als die von W. Benjamin – für den der Katéchon bekannterweise die Kraft war, die sich dem revolutionären Kairos entgegenstellte – und auch als die Auffassung von Schmitt, der das Katéchon als etwas ganz nach außen Gewandtes deutete. 453
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zu fassen suche, die sich gegen die Parusie des Sohnes auflehnten. Wenn also der Feind das Ziel hat, der endgültigen Ankunft des Herrn entgegenzuwirken und wenn die Kirche wie auch der politische Nomos das Reich der Anomia aufhalten, dann verzögern sie paradoxerweise im selben Moment auch die Parusie Christi und nehmen am Werk des Gegners teil. Anders formuliert: Indem sie das Fortschreiten des Ἀντικείμενος (Antikeìmenos) verzögern, verzögern sie auch den endgültigen Triumph des Guten. Mehr noch, die Kirche wie auch das Imperium leben genau von dieser Aufschiebung oder Verzögerung, 457 und das beste Beispiel für dieses Bewusstsein stelle der Großinquisitor aus der gleichnamigen Legende bei Dostojevskij dar, dem Cacciari ein Kapitel in seiner Schrift widmet. 458 Dessen Gestalt wird von Cacciari als Mensch mit den meisten »antichristlichen« Zügen gedeutet. Damit will der Philosoph nicht sagen, dass die berühmte Rede des Inquisitors mit einem Bekenntnis zum Atheismus oder mit einer Leugnung der Göttlichkeit Christi gleichzusetzen sei. Sie enthält vielmehr eine klare theologische Perspektive, indem sie behauptet, dass die menschliche Freiheit von einer ursprünglichen vulnus gezeichnet sei und sie niemals ohne die Hilfe einer externen Macht fähig wäre, den Geist der Anomie aufzuhalten. Der Inquisitor zeigt, dass er sich bewusst ist, dass sich keine menschliche oder politische Ordnung ohne irgendeine Form von spiritueller Energie halten könne. Er verkörpert letztendlich mit vollem Bewusstsein den Katéchon, der weiß, dass mit der Verzögerung des Gerichts auch das Kommen Christi aufgehalten wird. An einer Stelle, die für die folgenden Betrachtungen wichtig ist, 457 Schon Erik Peterson, dem Cacciari nicht genug Beachtung schenkt, schreibt im 2. Kapitel seiner Abhandlung Die Kirche: »Kirche gibt es nun unter der Voraussetzung, daß das Kommen Christi nicht unmittelbar bevorsteht.« Peterson, Die Kirche, München 1929, 411–429, hier 412 f. Zur eschatologischen Problematik im Denken Petersons wird verwiesen auf Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit, 2001. Zur Debatte zwischen Peterson und Schmitt siehe Motschenbacher, Katéchon oder Großinquisitor?, 220–236; Nichtweiß, Apokalyptische Verfassungslehren, 1994, 37–64; Nicoletti, Erik Peterson und Carl Schmitt, 2004, 557–580. Der französische Jesuit Michel de Certau hat sich mehrmals mit dem Aspekt der Abwesenheit Christi als Möglichkeit für die Entstehung der Kirche beschäftigt: de Certeau, L’Étranger ou l’union dans la différence, 1969; Ders., L’articulation du »dire« et du »faire«, 1970, 25–44; Ders., L’Absent de l’histoire, 1973; Ders., Le Christianisme éclaté, 1974. Hier ist vor allem die erste deutschsprachige Monographie über Michel de Certeau zu nennen: D. Bogner, Gebrochene Gegenwart, 2002. 458 Vgl. Cacciari, Il potere che frena, 102–116.
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Untergang Europas. Das Schicksal des europäischen Geistes
schreibt Cacciari: »Der Inquisitor ist kein legatus des Antikeìmenos – ›Er kommt zu uns‹. Er gehört zu jenem Zeitalter, dessen Maßgabe die über-menschliche Freiheit ist, die sich im Sohn ausgedrückt hat. Dem Inquisitor hat sie sich nur als Unmögliches geoffenbart; denn sobald man sie als das beste Mögliche denke, verwandle sich das menschliche Handeln in ein Delirium und führe ins Unglück. Die Geduld muss sich in eine Kunst des Überlebens und Überdauerns verwandeln, die Macht der Institution, die aufhält und umfassend ist, in eine ›totale Institution‹ als bloßem Selbstzweck.« 459 An diesem Punkt tritt meiner Meinung nach die theoretische und damit interpretatorische Grundlage der gesamten Schrift von Cacciari zu Tage, die in der Figur des Inquisitors eine vollkommene Symbolisierung gefunden hat. Der Inquisitor als Personifikation des Katéchon weiß, dass die Rückkehr des Sohnes in der Zeit unmöglich ist. Das ist deshalb so, weil der Tag des großen Ur-theils bzw. der Moment der klaren Trennung und radikalen Unterscheidung von Licht und Dunkel, von Gutem und Bösem historisch unmöglich ist. 460 Andererseits spricht die eschatologischapokalyptische Sicht von einem »Ende der Zeiten« und bestätigt damit die absolute Unmöglichkeit, dass die vollkommene Trennung in der Zeit geschehe. 461 Die Zeit muss enden, damit die Parusie eintritt: »Keine Zeit kann also dieses Ereignis aufnehmen. Denn gerade dessen mögliches Stattfinden würde die Katastrophe der gleichen Zeit bedeuten und damit gäbe es keine Zeit mehr, die das Ereignis aufnehmen könnte.« 462 Aus dieser logischen Unmöglichkeit leiten sich meiner Meinung nach drei Konsequenzen ab: Jedes definitive Urteil über Gut und Böse ist in hoc saeculo absolut utopisch. Die Bewohner der Geschichte werden niemals mit Sicherheit wissen, was das Gute und Böse als solches sind, sondern sie werden immer wieder aufs Neue mit einer konfusen Mischung von Gut und Böse konfrontiert sein, mit Getreide und UnEbd., 105 f. Jene logische hier entworfene Unmöglichkeit wäre nicht denkbar, ohne Cacciaris Feststellungen in Dell’Inizio zu berücksichtigen, aufgrund derer es in der Zeit der Macht keine Möglichkeit gibt, eine absolute Trennung zu denken, die nicht doch eine Form der Beziehung sei. Für diese Wahrheit hat der Autor auch in der trinitarischen relatio non adventitia eine Bestätigung gefunden, in der keine Unterscheidung gegeben ist, die eine deutliche Trennung zwischen den drei Hypostasen impliziert. 461 Ebd., 115. 462 So drückt sich Massimo Donà zu den Überlegungen Cacciaris aus: L’impossibile che deve, 2015, 96–112; 103. 459 460
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kraut, wie es Christus selbst als unvermeidbar anerkennt (Mt 13, 24– 30). Wenn also die absolute Differenz/Trennung die größte logische Unmöglichkeit darstellt, dann wird das aktuelle Jahrhundert ein Reich der Vermittlung und des dauerhaften Kompromisses sein – und der Katéchon dessen Inbild. 463 Jene vermittelnde Kraft wird ihrerseits nicht eindeutig, sondern selbst gemischt und ambivalent sein: Eine, die das Böse aufhält und es antizipiert, die auf den Herrn der Zeit wartet, ihn aber auch missachtet. Wenn das wahr ist, dann wird das Katéchon für immer vermitteln; denn solange es eine Zeit geben wird, solange muss ein Kompromiss zwischen Gut und Böse, ein gegenseitiger Einfluss von Kirche und Imperium angenommen werden. Drittens folgt diese Form des Katéchon keinem dialektischen Rhythmus, sie kann also nicht nach einer Synthese, nach Fortschritt streben. Sie ist überwiegend diaporetisch und tendiert dazu, die politische potestas und die spirituelle auctoritas zusammenzuhalten. Aus diesem Grund entspräche ein solches Symbol auch der Realität des Archipels Europa, der hostis-hospes-Dialektik, wie sie Cacciari beschreibt. 464 Und dennoch hält er sich zurück, jene Konsequenzen zu ziehen, die ja mit seinem Diskurs in Einklang stünden. Auf den letzten Seiten von Il potere che frena tritt hingegen die skeptische Haltung des Autors hervor. Hier konstatiert er, dass es in einer Epoche, in der der Nomos unwiederbringlich verloren und ein unschuldiger Agnostizismus weit verbreitet ist, sehr schwer sei, auf eine Blüte des Katéchontischen zu hoffen, das naturgemäß nur im Bewusstsein einer Kraft leben könne, die über ein immanentes Funktionieren hinausgehe. 465 Diese Skepsis verstärkt sich zwanzig Jahre nach Gewalt und Harmonie und zwei Amtszeiten als Bürgermeister von Venedig noch weiter zu dem besonderen Szenarium, das er als Schicksal Europas betrachtet: es trägt beinah apokalyptische Züge. Es sieht also so aus, als sei von der doppelten Bedeutung des vorher analysierten europäischen Untergangs nur noch die negative übriggeblieben. Auch wendet er sich wieder der Beschreibung aller vorher ausgeführten Dialektiken bezüglich der Entheiligung und Entortung des Nomos zu. Aber dieses Mal überwiegt dabei nicht die Hoffnung auf einen
463 An dieser Stelle äußert Cacciari unmissverständlich: »Bisher wurde der Katéchon vor allem in der Form der Mediation gesehen.« Cacciari, Il potere che frena, 69. 464 Spuren dieser auf den Katéchon angewendeten Logik finden sich zum Beispiel in Gewalt und Harmonie, 115–117. 465 Vgl. Ders., Il potere che frena, 117–126; 119.
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neuen Menschen, sondern es werden die zersetzenden Kräfte bzw. die Gedanken zur Anomie bestätigt, die sich unweigerlich der Entstehung eines neuen echten Katéchons entgegenstellen. Es gibt nichts mehr, was Hoffnung stiftet; vielleicht ist man dort angekommen, wo das statthat, was der zweite Brief der Thessalonicher als apokalyptische Zeit des Anomos (2,8) ankündigt, die der Parusie Christi unmittelbar vorausgehe. Für unseren Autor geht es dennoch nicht um ein ungeheuerlich bedrohlich anmutendes Urteil. Vielmehr nimmt er die ständige Aufschiebung der Parusie, das gleichzeitig Nötige und Unmögliche zum Anlass, den europäischen Untergang, wenn nicht schon als Kollaps, so doch als einen unendlich lang sich hinziehenden Niedergang zu begreifen.
6.3 Zusammenfassung und Übergang. Zur unpolitischen Rede Schon Ende der 1970er Jahre machte Massimo Cacciari die Kategorie des »Unpolitischen« in Italien bekannt und damit existiert durch die Jahrzehnte ein kohärenter Bogen von den an Nietzsche erinnernden Thesen in Pensiero negativo e razionalizzazione (1977) über Dialettica e critica del politico. Saggio su Hegel (1978) 466 hin zu seinen 466 Diese zwei Aufsätze befassen sich mit der in jenen Jahren sehr aktuellen Frage – der Frage nach der Autonomie des Politischen. In dem ersten Werk wird die Dialektik Hegelscher Prägung die onto-theologische Metaphysik für beendet erklärt und der Wille zur Macht bei Nietzsche als einzig legitime Form der Rationalisierung vorgeschlagen. Gerade weil die »Krise« nicht mehr als eine Phase gelten kann, wie das noch bei den Neuklassikern der Fall war, sondern als ein Merkmal des Werdens für niemals vollständig lösbar gilt, wird die Fähigkeit, vor Widersprüchen stehen bleiben zu können und damit die Notwendigkeit, Konflikte anerkennen zu müssen, »rational« – damit zugleich aber auch die daraus resultierende Bejahung der Macht. So gesehen findet Cacciari in Marx die politische Form, den Willen zur Macht umzusetzen, und zwar insofern als der Marxismus als »[…] Technik verstanden wird, die Aporien und wirtschaftlich-sozialen Widersprüche zu verstehen.« Pensiero negativo e razionalizzazione, 10. Im Jahr nach der Veröffentlichung von Pensiero negativo e razionalizzazione gibt Cacciari Dialettica e critica del politico in den Druck. Seine Überlegungen zur Krisis weiterführend, dekonstruiert er diesmal die Rechtsphilosophie hegelscher Prägung. Er deckt die Aporien eines Staates auf, der als Synthese und Überwindung der Konflikte sowie als Entstehungsgrundlage für die Freiheit des Subjekts auftritt, und entlarvt so jene Form der von einer dialektisch-versöhnenden Rationalität durchdrungenen Herrschaft, die historisch zum modernen Bourgeoisie-Staat geführt hat. Vor dem Hintergrund seiner Aussagen in den zwei vorhergehenden Werken zeigt Cacciari hingegen, wie der Konflikt in jeder Staatsform existiert und folglich die »Kri-
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jüngsten Schriften zur ihm eigenen Vorstellung von Europa (1994; 1997) und schließlich zum Katéchon (2013); es muss freilich darauf hingewiesen werden, dass ein Aufruf dazu, die politische Methode als überwiegend unpolitisch anzuerkennen, keineswegs das »Ende der Politik«, ein unpolitisches Verhalten (wie z. B. in den Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann) 467 oder schlimmer noch, eine zur Berufung gemachte Antipolitik bedeutet, wie sie beispielsweise in Italien von Silvio Berlusconi vertreten wurde, 468 der sich anmaßte, von »außen« auf die Politik zu schauen. Die Kategorie des Unpolitischen entsteht hingegen aus der Feststellung, dass sich auf Seiten der politischen Klasse jede Möglichkeit aufgelöst hat, auctoritas und potestas zusammenzuhalten, also einen in sich universell gültigen Wertekanon darzustellen, wie das Gute, die Gerechtigkeit, die Werte, die Demokratie usw., mit einem Wort: den Nomos. 469 Es ist nicht so, dass tik am Politischen« dessen unausweichlicher Ausdruck ist. Die einzige Form der Synthese kann an diesem Punkt nur die Konzeptualisierung der Herrschaft bei Nietzsche sein. Die Synthese wird jetzt allerdings nicht mehr als »Wert«, als Suche nach Rechtfertigung im Universellen verstanden, sondern als »Machtwille«, der aus dem »Politischen« eine kreative Tätigkeit und dabei eine rein funktionale Verwaltung der Krise möglich macht. All dies wird sehr gut durch Nietzsches Kategorie des »Unpolitischen« ausgedrückt, die Cacciari als »Kritik des Politischen« beschreibt: »Wenn sich kein Subjekt und keine Wahrheit in einem Staat ausdrücken können, dann führt das nicht zur Utopie des Einzelnen, sondern zum Problem der großen Politik. Der Sprung, auf den dieses Problem verweist, kann so ausgedrückt werden: Neben der nüchternen Analyse der Dekadenz dieses Staates kann es nur Organisationsformen geben, die sich auf die Zeiten des Subjekts gründen, und auf keine Grundlage, keine Substanz mehr. Aber gerade weil das Politische als Ausdrucksform nicht mehr fähig ist, im Staat die Wahrheit des Subjekts zu produzieren, ist dieser Staat veränderbar – dieses Politische ist eine ständige Revolution seiner Formen. Die Notwendigkeit, die man liebt, ist die Unruhe der Formen des Politischen. Diese befreien sich von der Logik der Aufhebung. Aber genau in dieser Logik trat zum ersten Mal ihr Problem auf.« Dialettica e critica del politico, 74. Zum Thema wird verwiesen auf Mandarini, Beyond Nihilism: Notes towards a Critique of Left-heideggerianism in Italian Philosophy of the 1970s., 2009, 55–79. 467 Vgl. Cacciari, Nietzsche and the Unpolitical, 2009, 92–103. Das Buch sammelt in englischer Sprache Schriften Cacciaris zur Kategorie des »Unpolitischen«. 468 Für eine Vertiefung zur Kategorie der »Antipolitik« in Italien wird verwiesen auf: Cantanaro, L’antipolitica: viaggio nell’Italia del disincanto, 2000. 469 Faszinierend sind die »unpolitischen Gedanken« von Cacciari zum großen Drama der Macht, dargestellt in Shakespeares König Lear. Der Philosoph zeigt die unumkehrbaren Konsequenzen der Abdankung des Königs bzw. des Bruchs der Verbindung zwischen auctoritas und potestas: »Die tödliche Sünde Lears, des unpolitischen Lears, war folgende: Er denkt, als Verrückter, dass die auctoritas für sich gelten könne, dass sie mit seiner eigenen Person eins sei und er sie verkörpere. Für ihn ist es ›natürlich‹,
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diese Werte an sich für vollkommen unmöglich gehalten würden. Vielmehr wird von ihnen gesagt, sie gingen über die Politik hinaus, sie seien de facto politisch nicht aussprechbar. Ein durch und durch realistischer Blick auf die τέχνη πολιτική (téchne politiké), ein mentaler Vorbehalt gegenüber jedem Versprechen einer sozialen und idealen Erfüllung von verdichteter, kompakter Einheit ist also genau die Haltung des Unpolitischen. Der große Wert der Überlegungen Cacciaris steckt in dem Nachweis, dass so ein Verhalten weder ausschließlich das Ergebnis des westlichen Nihilismus noch das Produkt einer Auflösung aller großen Ideologien des 19. Jahrhunderts ist, sondern bestimmender Teil der griechischen Vorstellung von der Polis. Seine Deutung der platonischen Texte hatte gezeigt, dass die Kontrolle der Stásis in der Republik an sich eine Aufgabe war, die über die Politik hinausging und daher dem Philosophen-Hirten anvertraut wurde, der zu einer Überzeugung jenseits aller technisch-bürokratischen Verwaltung fähig war. Dieser unpolitische »Realismus«, der in der Geschichte des Denkens immer wieder auftaucht – etwa bei Autoren wie F. Nietzsche, S. Weil, H. Arendt oder M. Foucault – stellt die Aufgabe und künftige Verantwortung Europas dar. In diesem unpolitischen Schicksal der Politik wird auch der Sinn der Rede vom Untergang des Okzidents klarer. Für Cacciari bedeutet Untergang, alle erzwungenen Vorstellungen, durch die sich die europäische Kultur vom griechischen Geist entfernt hat, abzulegen, nicht mehr der Versuchung der Nachbildung totalitärer Ideologien nachzugeben und damit der Anmaßung zu entsagen, eine verdichtete, kompakte Einheit zwischen den europäischen Inseln herstellen und die Vielheit ins Eine fügen zu wollen. So wie zu Beginn der Geo-Philosophie Europas das mythische Bild vom Traum der Königin Atossa steht, so entsteht also am Ende des Buches ein weiteres ideales Bild. Es handelt sich um den von Ramon Llull in Das Buch vom Heiden und den drei Weisen beschriebenen Dialog, in dem ein Jude, ein Christ und ein Muslim versuchen, einen Heiden (einen agnostischen Philosophen) jeweils von der Wahrheit ihres Glaubens zu überzeu-
dass der Körper des Königs weiterhin als heilig gilt, auch nachdem er seine Macht abgelegt hat und keine legitime Gewalt mehr ausüben kann. Lear fehlt die Voraussetzung des Politikers: Das nüchterne Wissen um die tatsächliche Realität. Dieses Wissen bestätigt, dass die Heiligkeit des königlichen Körpers für immer untergegangen ist.« Cacciari, Re Lear, 2015, 26 f. Der Anfang als Freiheit
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gen. Nachdem jeder den Reichtum des eigenen Monotheismus dargelegt hat, ist es am Heiden, sein Urteil auszusprechen, welche der drei Religionen die wahrhaftigste sei. Soweit kommt es jedoch nicht, weil die Szene unterbrochen wird. Kein Vertreter der drei großen Religionen möchte nämlich wissen, wofür sich der Agnostiker am Ende entschieden hat: »Keiner der drei hat versucht, seine Lehre ›abzuschwächen‹, keiner hat sie in die Harmonie einfügen wollen, doch nun, am Ende, erscheint ihre Wahrheit als Mutmaßung, als Exoduswissen. Sie verabschieden sich freundlich voneinander; jeder bittet die anderen um Verzeihung, wenn er etwas gesagt haben sollte, das Missachtung für das Gesetz des anderen hätte erkennen lassen, und jeder verzeiht; doch sie beschließen auch, sich immer wieder zu treffen und weiter zu diskutieren, mit aller Kraft der Vernunft, ohne Trägheit, Indifferenz oder leere Toleranz«. 470 In den einleitenden Worten zum Schluss dieser Diskussion wird »die letzte Utopie« 471 des Schicksals Europas verdichtet: Die Idee von einer Gemeinschaft von Nie-vereinten-Untrennbaren, in der das Bewusstsein der Stärke wie gleichzeitig des mutmaßlichen Charakters der eigenen Aussagen gilt, mit der der Dialog immer wieder aufs Neue die Aporien überschreitet, weil sich in ihm und jenseits seiner immerzu jenes Unerreichbare offenbart, das immer wieder aufs Neue gesucht werden muss. Das ist für Cacciari jenes Jenseits der Politik, das seit Platon das Wesen der europäischen Intelligenz ausmacht, jene westliche aeterna inquisitio, die den eigenen Untergang in sich austrägt.
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Zweiter Teil Anfang, Freiheit und Vollzug im Konzept der Diaporetik. Kritischer Einblick in die Grundbegriffe
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Nach der Rekonstruktion der das Gesamtwerk durchlaufenden philosophischen Perspektive von Massimo Cacciari kann im abschließenden Teil der Überlegungen dazu übergegangen werden, die grundlegenden Argumente systematisch zu diskutieren. Insofern diese bisher im Kontext der Werkentwicklung in den Blick gekommen und zunächst am Leitfaden eines inneren Zusammenhangs deutlich gemacht worden sind, können sie jetzt als Problemstellungen von besonderer Relevanz herausgegriffen und noch näher betrachtet werden. Dabei erhalten umstrittene Punkte dieses spekulativen Vorschlags – weiterhin dem Gesamtzusammenhang angemessen zugeordnet – dennoch schärfere und auch neue Konturen. Diese kritischsystematische Auseinandersetzung wird in drei Momente gegliedert: Der erste Diskussionsbereich betrifft die logische Form, nämlich die diaporetische Methode (Kap. I). Es ist zu prüfen, auf welcher Idee von Dialektik – und daher der Philosophie – der argumentative Anspruch und die hermeneutische Anstrengung Cacciaris basieren. Es soll hierbei die von ihm veranschlagte Beschaffenheit der Vernunft aus philosophiegeschichtlicher wie auch logisch-argumentativer Sicht insofern genauer untersucht werden, als jede weitergehende Diskussion hinsichtlich der Tragweite seiner metaphysischen Aussagen weder die Methode seines Philosophierens noch die angeeigneten Traditionen vernachlässigen darf, auf die er sich explizit wie auch implizit bezieht. Dieser zweite ebenfalls ausgesprochen theoretische Moment konzentriert sich somit auf die Analyse der epistemologischen Seite, d. h. auf den Inhalt der Diaporetik (Kap. II). Damit beginnt eine kritische Auseinandersetzung mit der metaphysischen, ontologischen, theologischen, axiologischen und anthropologischen Stellung hinsichtlich einer ersten Einschätzung des Werts der Aussagen, die Cacciaris Diaporetik erlauben, insofern sie sich – so die Einschätzung hier – auf eine problematische Definition des Anfangs als indifferente All-Mitmöglichkeit gründen. Aufgrund der Einwände, die gegen die Grundthese Cacciaris erhoben werden, kann man dann die Diagnose und die Herausforderung für die christliche Theologie genauer analysieren (Kap. III). Diese Einwände – obwohl sie Argumente von großer Bedeutung bezüglich der Geschichte der Schöpfungslehre aufweisen – erfordern wiederum einen Blick auf den genaueren historisch-philosophischen Hintergrund und führen so zu einer philosophischen (Dritter Teil, Kap. I) wie auch theologischen (Dritter Teil, Kap. II–III) Neuinterpretation. Denn die Kritik an der von Cacciari vorgeschlagenen Lösung des metaphysischen Anfangsproblems hat schwerwieDer Anfang als Freiheit
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gende Konsequenzen für den Blick auf die anthropologische Ebene: Theoretisch gesehen kann die christliche Lehre von einer creatio ex nihilo als Akt absoluter Freiheit oder Spontaneität Gottes nicht ausgeschlossen werden; im Gegenteil, diese Hypothese stellt sogar die angemessenste Idee für die zu konzeptualisierende Vernunft dar, die sich mit ihrem eigenen Abgrund beschäftigen will.
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Kapitel I Logischer Aspekt: Die Form der Diaporetik
Unter den Bedingungen der verlorenen Plausibilität des idealistischen Paradigmas der Vernunft, dessen Krise endgültig von den Werken Schopenhauers und Nietzsches bescheinigt wurde, nimmt Cacciari die Herausforderung an, die Ausübung der philosophischen Dialektik erneut zu denken, und zwar als »Diaporetik«. Diese Form der dialektischen Argumentation nimmt sich nicht vor, etwa im Gegensatz zu derjenigen von Hegel, die Widersprüche in einer höheren Vernunftsynthese aufzulösen. Sie will die Macht der Antinomien nicht schwächen, sondern die Pole des Antinomischen bis zum Äußersten treiben, bis sie selbst kritisch jede Möglichkeit der Versöhnung unterlaufen. Es wäre leicht, diese Umdeutung der dialektischen Methode als eine Reprise der kritischen Instanzen des negativen Denkens zu deuten, also als Behauptung der Unmöglichkeit, sich auf eine objektive Struktur der Welt und eine Philosophie im Sinne einer allumfassenden Wissensform zu beziehen. Das ist allerdings nicht die Absicht Cacciaris. Er verweigert explizit, sich dem epochalen Pathos der Überwindung der Metaphysik anzuschließen, sowohl in Richtung eines dekonstruktiven Denkens, dem letzten Niederschlag des Nihilismus, als auch in Richtung eines philosophischen Positivismus, der das Problem der Erkenntnis auf das enge Feld der logischen Analyse der Sprache begrenzt. Die Diaporetik bleibt also in der Intention des Autors ein methodischer Zugang zur Wahrheit: Es ist die ratio cognoscendi, die ihrem unfassbaren Objekt, dem Anfang als dem Hintergrund, vor dem sich das Leben des trinitarischen Gottes abzeichnet, entspricht. Sie ist auch ein Kriterium zum Verständnis der historischen Realität, des immer offenen Spiels der menschlichen Freiheit und deren Verwirklichung in der gemeinschaftlichen Form der politischen Realität. Es bleibt also die Frage nach dem tatsächlichen Status einer solchen Denkform. Bekanntlich hat Cacciari seine Art, Philosophie zu praktizieren, nie thematisiert. In der Gesamtwürdigung der behandelten drei Hauptwerke wurde hier bereits versucht, das diaDer Anfang als Freiheit
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poretische Vorgehen systematisch darzulegen, indem insbesondere auf die Formen der vom Autor in actu exercito verwendeten Argumente sowie auch auf die kurzen Angaben zur Methode zurückgegriffen wurde und sie dabei expliziert werden konnten, auf die er manchmal im Verlaufe seiner ausgesuchten Thematiken anspielt, wie z. B. die Bezüge auf eine analoge oder vermutende Verwendung der Sprache. Es geht nun also darum, die Denkform der Diaporetik in ihrer Reichweite verständlich zu machen und noch genauer zu fragen, wie sie sich zum Problemfeld der Frage nach dem Widerspruch und auch, wie sie sich zur Aneignung der großen philosophischen Tradition verhält.
1.1 Widerspruch und Diaporetik Was die nähere Betrachtung der Art der Beziehung zwischen der Diaporetik und dem Satz vom Widerspruch betrifft, so ist zunächst an die Urteile zu dieser Frage von Ilario Bertoletti und Emanuele Severino zu erinnern, auf die im Verlauf der Abhandlung schon eingegangen wurde. Am Ende seines Aufsatzes zur Philosophie von Cacciari konstatiert Bertoletti die Schwierigkeit, aus dessen Hauptwerken den genauen Status der Begriffe wie »Aporie«, »Widerspruch«, »Diaporetik« und »Analogie« erheben zu können, wie auch die tatsächliche Verknüpfung herzustellen zwischen den klassischen Modalkategorien wie Möglichkeit, Realität, Notwendigkeit und seiner antinomischen Definition des Anfangs. Deshalb sei Cacciari seiner Meinung nach nur schwerlich in der Lage, sein spezifisches Objekt, das Allmögliche, zu bestimmen, von dem er wolle, dass es sich der Normativität des Widerspruchprinzips entziehe. 472 Wenn also, so soll hier – über die genannten Autoren hinausgehend – hinzugefügt werden, die Diaporetik für Cacciari wirklich jenseits des principium omnium firmissimum liegen soll, wenn der analoge Diskurs nicht mit der klassischen Alternative zwischen Analogie der Proportionalität und der Attribution angemessen angegeben werden kann, wenn die Mutmaßung losgelöst von jeder ontologischen Verankerung in einer absoluten Wahrheit wie etwa bei Cusanus verstanden werden soll, was rettet dann dieses terminologische Rüstzeug (Diaporetik, Analogie, Vermutung) davor, nicht nur ein rhetorisches Kunstmittel zu sein? 472
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Vgl. Bertoletti, Massimo Cacciari, 85 f.
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Widerspruch und Diaporetik
In die gleiche Stoßrichtung der Kritik von Bertoletti geht auch das Urteil von Emanuele Severino. Dieser meint, dass Cacciari trotz seiner Bemühungen sich gezwungen sieht, dem Nicht-Widerspruchprinzip zu folgen. Er bemerkt also, dass die Unüberwindbarkeit des Seins bzw. das, was er als »ursprüngliche Struktur der Wahrheit« 473 definiert, Bestätigung findet. Und das geschehe gerade in dem Moment, in dem Cacciari sich einem »absoluten Skeptizismus« 474 verweigere und im Gegenteil die Nicht-Widersprüchlichkeit seines Diskurses behaupte, das heiße, dass die tragende Annahme seines gesamten Diskurses eine starke These sei, eine Nicht-Vermutung. In diesem Sinne fragt Severino: »Wenn die These, die die vermutende Struktur des Wissens behauptet, zu behaupten beabsichtigt, dass die Verneinung jener Struktur eine Selbstwidersprüchlichkeit sei, dann muss sie die eigene Unumstößlichkeit zeigen können.« 475 Nach dem Urteil seiner Kollegen verlässt Cacciari das Gesetz des ἔλεγχος (èlenchos) nicht, auch wenn er es im Denken des Anfangs überwinden will. Beide Autoren erkennen also in der Diaporetik einen von Cacciari nicht-reflektierten Gebrauch des Satzes vom Widerspruch. Und das geschehe schließlich auf doppelte Weise: In der allgemeinen Form der theoretischen Argumentation und im zentralen Inhalt der Diaporetik, dem Denken des Anfangs. Deutlicher gesagt, erkennen Bertoletti wie auch Severino in Bezug auf die Form der Diaporetik, dass die Argumentation Cacciaris eigentlich das Nicht-Widerspruchprinzip verwendet, das die verschiedenen im Verlauf der Trilogie geführten Argumentationen stützt und regelt; was den Inhalt betrifft, nehmen sie an, dass die Vorstellung des Anfangs als IndifferentAllmögliches sich gänzlich dem Satz vom Widerspruch verdanke, auch wenn Cacciari de facto dessen Überwindung behaupte. Hier muss präzisiert werden. Auf der einen Seite ist zwar anzunehmen, dass sowohl Bertoletti als auch Severino recht haben, die spezifische Bestimmung des Anfangs bei Cacciari zu kritisieren, und das – so die Sicht hier, unter Paragraph 2.1 gezeigt werden wird – vor allem wegen des Anspruchs, den die Diaporetik selbst erhebt und der daraus folgenden metaphysischen und logischen Probleme (Paragraph 2.2); zugleich aber sind – so ein weiteres Ergebnis hier – die von ihnen 473 In Bezug auf Severinos These zur ›Struktur der Wahrheit‹, vgl. Severino, La struttura originaria, 1958. 474 Cacciari, Labirinto filosofico, 331 f. 475 Severino, Dialogo con Cacciari, 14; vgl. 9–22.
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vorgetragenen Urteile in Bezug auf das Verhältnis von Widerspruch und Diaporetik unvollständig. Es ist nun insbesondere auf die Feststellung von Bertoletti einzugehen, insofern er die fehlende Thematisierung der Modalkategorien bemerkt, und zudem noch auf diejenige von Severino, insofern er Cacciari dazu herausfordert, die Unumstößlichkeit seiner Argumentation zu zeigen. Beide Kritiken basieren bei genauerem Hinschauen jeweils auf der Vorstellung des èlenchos von einer dezidiert parmenideischen und aristotelischen Prägung und daher auf einer ganz anderen als jener der Diaporetik, wie sie Cacciari beansprucht. Meine These hingegen lautet, die ich im weiteren Verlauf als zu überprüfende Hypothese der Argumentation unterlegen will, folgendermaßen: die logische Struktur der Diaporetik und ihre Art, die Widersprüche zu markieren, ist bei Cacciari auf eine Form der »dialektischen Argumentation« sokratisch-platonischer Prägung zurückzuführen. Zwar verweigert man sich mit der Inanspruchnahme des èlenchos im Sinne von Sokrates und Platon nicht, sich der internen Logik von jenem, was Aristoteles in der Folge als βεβαιότατη ἀρχή (bebaiotàte arché, principium firmissimum) bezeichnen wird, zu bedienen. Dennoch sind der Stil der Argumentation, die Definition und die Rolle, die sie der Dialektik zuweisen, in Bezug auf das vom Stagiriten in der Folge formulierte Urteil vollkommen anders. Wie wäre es sonst möglich, sich eine Philosophie und so ein rationales Vorgehen vorzustellen, die dieses Prinzip nicht beachtet, bzw. vorgibt, die Erkenntnis durch eine radikale Inkohärenz der Argumentation zu erreichen, so dass jede Aussage und ihr Gegenteil gleichzeitig und in selbiger Hinsicht als wahr erklärt würden? Auf der anderen Seite scheint mir nicht, dass Cacciari jemals erklärt hat, das Nicht-Widerspruchprinzip in der Form seiner systematischen Argumentation nicht verwenden zu wollen (was hingegen problematischer wird, insofern er den Inhalt der Vorstellung vom Anfang definiert). Es ist also vor allem nötig, wie ich im Folgenden zeigen werde, die Kritik von Bertoletti und Severino an der logischen Beziehung zwischen Widerspruch und Diaporetik in einen Kontext zu setzen; in zweiter Linie muss dann der epistemologische Aspekt der Diaporetik, bzw. der zentrale Inhalt, den sie verteidigen möchte, diskutiert werden.
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Der platonische Hintergrund der diaporetischen Argumentation
1.2 Der platonische Hintergrund der diaporetischen Argumentation Es ist offensichtlich, dass der philosophische Begriff der »Dialektik«, wie viele andere auch, jeweils eine besondere semantische Färbung zeigt, die sich aus der Geschichte, die jene zugrundegelegte Idee im Verlauf der westlichen Philosophie erfahren hat, ergibt. Wie Enrico Berti in einem wegweisenden Aufsatz zu diesem Thema gezeigt hat, ist die im Westen vorherrschende Vorstellung von »Dialektik« vor allem der zuerst von Aristoteles eingeführten Unterscheidung zwischen »Dialektik« und »Apodiktik« 476 geschuldet. Die »Dialektik« wurde so mit dem formal-rationalen »Akt des unter Beweisstellens« (πειραστικὴ) bestimmter Behauptungen gleichgestellt, ohne deswegen ipso facto tatsächlich »erkennend« (γνωριστικὴ) zu sein, während die Apodiktik, also die Lehre vom Beweis, als richtige Wissenschaft verstanden wurde. Berti zeigt weiter, dass dieser Gegensatz während des gesamten Mittelalters als gültig angesehen wurde (mit dem das zweite Fach/Artes des Triviums die Dialektik der Rhetorik entgegensetzt) und diese Unterscheidung in die Moderne hinein bis zu Kant reicht, der die illusorischen Gedanken als »dialektisch« bezeichnete, die zu verschiedenen Schlüssen führen. Neben dieser ersten Auffassung des Begriffs »Dialektik« in aristotelischer Prägung kann man laut Berti auch eine zweite ausmachen, die sich vor allem vom 19. Jahrhundert an auf die platonische Interpretation des Begriffs bezieht. 477 Nach dieser zweiten Auffassung ist die Dialektik Berti, Contraddizione e dialettica, 5–10. Die Rezeption des platonischen Dialektik-Begriffs als eine dem Epistem/der Apodiktik überlegene Erkenntnisform par excellence muss weit zurückdatiert werden. Schon im Mittelalter gibt es Beispiele eines solchen Vernunftparadigmas vor allem im Umfeld der platonischen, neuplatonischen und arabischen Tradition, aber auch in den aristotelischen Diskussionen zum intellectus agens (Aristoteles, De anima, III, 5, 430a 17–23) und auf den neuen, zuerst von Boethius und Johannes Scotus Eriugena, dann von Anselm von Canterbury, dem Albertinismus und später vom Lullismus entwickelten Wegen, für die der Erkenntnisgrad des intellectus (noùs) höher als jener der ratio (διάνοια / diànoia) ist. Demnach wäre es ein dankbares Forschungsfeld, den Einfluss des platonischen Dialektikbegriffs auf einen großen Teil der Philosophie der Renaissance zu untersuchen. Eine Folge des im 15./16. Jahrhundert in die metaphysischen Abhandlungen eindringenden Platonismus ist die Neudefinition des Vernunftbegriffs und der formalen Annahme einer dreigeteilten Gnoseologie: sensus (oder Erkenntnis des Körpers), ratio (oder diànoia), intellectus (oder νοῦς / noùs). Für die Diskussion zum Absoluten als ultimativer Quelle der Erkenntnis im Mittelalter und zu Gott als »Ersterkanntem« mit Blick auf den Beitrag von Heinrich von Gent 476 477
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Der platonische Hintergrund der diaporetischen Argumentation
nämlich nicht nur ein formales Vorgehen in der Argumentation im Sinne von Aristoteles, sondern sie wird als Prozess der Realität selbst verstanden; das ist der Fall bei Marx und Hegel und vielen anderen, die sich auf die ein oder andere Weise auf sie berufen, wie z. B. die Vertreter der älteren »Frankfurter Schule«. Das Neue an Bertis These ist, dass, auch wenn in der jüngsten Begriffsgeschichte von Dialektik die aristotelische Interpretation des Begriffs als Dominante auftritt, der Beitrag Platons zum Problemfeld philosophischer Dialektik und deren Prägungen nicht anzuzweifeln ist, und dies sogar im Denken bei denen, die der Dialektik jeglichen Erkenntniswert absprechen. Platon ist der Erste, der den Status der dialektischen Argumentation durch einen kritischen Vergleich mit denen darstellte, die sie vor ihm praktizierten: Die Eleaten, von den Sophisten bis Sokrates. In Bezug auf die Eleaten hat er das Verständnis der Viel-Einheit des Seins bzw. des unauflösbaren Binoms zwischen dem Einen und den Vielen ins Spiel gebracht, und damit einen Grundzusammenhang der Vernunft, der es ihm erlaubte, die NichtWidersprüchlichkeit der Vielheit und des Werdens zu erkennen. Die sophistische Argumentation unterzog er einer Kritik mithilfe der Logik des Widerspruchprinzips; dank der Auffassung der Dialektik als Strategie zur Unterscheidung von wahr und falsch zeigt er die Inkohärenz des Denkens der Sophisten. Was schließlich die dialektische sophia des Sokrates betrifft – die wir bekanntermaßen vor allem dank platonischer Quellen rekonstruieren können – stimmt es, dass Platon einerseits den sokratischen Dialogstil übernimmt bzw. seine Fähigkeit, die Angemessenheit der Antworten zu den jeweils gestellten Fragen immer neu mit unerwarteten Fragen und Widerlegungen
(† 1293) und Richard Conington († 1330) ist zu verweisen auf Wouter, Absolute Beginners, 2007; für die gleiche Diskussion in der Aufklärung siehe: Beierwaltes, Neuplatonisches Denken als Substanz der Renaissance, 1978, 1–18; Vasoli, Il »ritorno« quattrocentesco della ›sapientia‹ platonica, 1995, 227–240; Giglioni – Corrias (Hgg.), Brill’s Companion to Medieval and Early Modern Platonism, 2007; Hankins, Plato in the Italian Renaissance, 1990. Interessante Beiträge kamen außerdem von Thomas Leinkauf zum neuplatonischen Hintergrund der Begriffe mens und intellectus bei Marsilio Ficino, Francesco Patrizi und Nikolaus von Kues, sowie zu den neuplatonischen Auswirkungen und der Wandlung des Begriffs »Geist« in der frühen Moderne: Leinkauf, Mens und intellectus. Überlegungen zum Status des menschlichen Geistes in der Philosophie des Marsilio Ficino, 2014, 157–188; Ders., Mens und intellectus. Platon in der Renaissance, 2014, 227–242; Ders., Nicolaus Cusanus, 2006, 29– 118; Ders., Zum Begriff des ›Geistes‹ in der Frühen Neuzeit, 2014, 309–329.
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Der platonische Hintergrund der diaporetischen Argumentation
(ἔλεγχοι) zu diskutieren (δύναμις του διαλέγεσθαι); 478 andererseits führt er etwas grundlegend Neues ein. Dieses besteht laut Berti in der von ihm als Erstem erkannten Regel, dass die »Wissenschaft der Gegensätze dieselbe ist«: Die Unwahrheit einer These stimmt mit dem Beweis der ihr gegensätzlichen These überein, wenn diese ihr tatsächlich als Widerspruch entgegengesetzt ist. 479 Daraus folgt aus logischer Sicht, dass auch die platonische Dialektik in der Lage ist, die Notwendigkeit und damit – ob es Severino gefällt oder nicht – die Unumstößlichkeit eines Gedankens zu erheben. So erhält die sokratische Dialektik gerade mit Platon eine echte »Methode« (ἡ διαλεκτική μέθοδος, ἡ μέθοδος τῶν λόγων) 480, – natürlich nicht im cartesianischen Sinne, sondern im griechischen Sinne der Auffassung eines Weges (οδός), der den Verlauf der Diskussion bestimmt – zugleich aber werden damit die unabdingbaren Grundlagen der aristotelischen Epistemologie geschaffen. Aristoteles selbst hat dem platonischen Vermächtnis viel zu verdanken, auch wenn er den Erkenntniswert der Dialektik leugnet. Der Unterschied zu seinem Lehrer ist, dass Aristoteles die Prinzipien auf formale Weise dargelegt hat, auf denen die platonische Widerlegung aufbaute (der Satz vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten), und sie als Regeln seiner Apodiktik angenommen hat. 481 Vom historisch-interpretativen Beitrag Bertis und vor allem seiner allgemeinen Neubewertung Platons als erstem Theoretiker der Dialektik her kann man – so die Interpretationsthese hier – auch die Diaporetik Cacciaris erschließen. Ist diese haltbar, so ist gerade im ἔλεγχος (èlenchos), verstanden im Sinne von Platon, die gnoseologische Wurzel des argumentativen Vorgehens von Cacciari zu suchen ist. Die in seiner Trilogie durchgeführte dialektische Argumentation erfordert, wie auch bei Platon, eine ständige Diskussion, eine immer neue Bestreitung der Thesen, die sich den vorhergehenden immer wieder entgegenstellen. Diese Form der Widerlegung ist nicht ohne logische Evidenz, wobei sie aber nur in actu exercito erfasst werden Vgl. Berti, Contraddizione e dialettica, 67–77. Ebd., 297–303. 480 Platon, Politeia, VII, 533 C; Der Sophistes, 227 A. 481 Enrico Berti hat gezeigt, wie Aristoteles auf zweierlei Weise den Satz vom Widerspruch verwendet, und zwar sowohl in der Apodiktik als auch in der Dialektik: In der Apodiktik dient er »als unumstößliche Regel, aber nicht als tatsächlich in den Beweisen angenommene Voraussetzung«; in der Dialektik wird dieser »als Bedingung oder Mittel der Bestreitung« verwendet. Berti, Contraddizione e dialettica, 10. 478 479
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kann, also im Innern des Argumentationsprozesses. Und gerade in diesem Sinn muss meiner Meinung nach die platonische Verwendung des Dialogs als literarisch-philosophisches Genre verstanden werden, das auch von Cacciari benutzt wird. Denn seine Diaporetik nimmt sich vor, die verschiedenen Positionen immer wieder auf die Probe zu stellen; es ist ein motus continuus zwischen den Antinomien, basierend auf der Voraussetzung, dass sich die Wahrheit des Wesens und des Seins nur im Innern eines stets offenen Verwirklichungsprozesses gibt, der gleichsam mit Sprüngen vermutender Annäherung vorankommt, ein »dia-logischer« und »an-alogischer« bzw. nicht logisch formalisierbarer Prozess, der auf keine propositionale Logik zurückgeführt werden kann. Und hier liegt, so lässt sich weiterführend sagen, das Faszinierende des von Cacciari eingeschlagenen Weges, nämlich der des δισσός λόγος (dissòs logos), und darin besteht der radikale Unterschied zu den gnoseologisch veranschlagten Voraussetzungen der Apodiktik bei Bertoletti und Severino. Es besteht kein Zweifel, dass Cacciari den äußerst unkonventionellen Charakter der Auffassung von Prädikation ausnutzt und doch in seinen Überlegungen weiterhin der ursprünglichen Struktur der Noesis und der widerlegenden Kraft der logischen Gesetze folgt, wie von Bertoletti und Severino ohnehin gewollt. Letztendlich ist so ein argumentativ-dialektisches Vorgehen nicht unzulässig, wenn auch unvereinbar mit der von den genannten Kritikern vorgebrachten Vorstellung von ἔλεγχος (èlenchos) und seiner Unumstößlichkeit. Kann man angesichts dieser Ergebnisse die Diaporetik von Cacciari dennoch als widersprüchlich und unpraktikabel bezeichnen? Es ist deutlich geworden, inwiefern in der vorgetragenen Kritik an der Diaporetik von Cacciari zwei verschiedene philosophische Traditionen und Standpunkte aufeinandergetroffen sind. Severinos Metaphysik ist ganz dem Eleatismus verhaftet, mit dem letztlich dazu tendiert wird, die Realität als Selbigkeit in eine unveränderbare Struktur verfügen zu wollen. Indem man sich mit der Diaporetik hingegen auf die besten Annahmen der platonischen Tradition stützt, weigert man sich, die Realität in eine einzige Formel bannen zu wollen, die betreffenden Elemente umfassend bestimmen zu können und sie auf ein logisches Prinzip zu reduzieren – denn damit verschlösse man sich dem Dialog. Es ist also – so die Folgerung – die Diaporetik insofern »Methode« zu nennen, als sie in Übereinstimmung mit Cacciari am Unterschied zu derjenigen Bedeutung festhält, die der Begriff bei einigen Vertretern 214
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der modernen Philosophie angenommen hat, also derjenigen Bedeutung, mit der Methode nicht mehr als »Weg« oder »Suche« verstanden wird, wie es doch mit den Anfängen der griechischen Philosophie gedacht war, sondern formaler Diskurs, der vom Inhalt des Wissens, von der Bewegung des im Diskurs in Frage stehenden »Objekts« getrennt ist. Folglich wird deutlich, dass es immer möglich, aber nicht ganz zulässig ist, die in der Diaporetik vollzogene Ausführung des Widerspruchs auf der Grundlage von den von Parmenides geprägten metaphysischen Annahmen und dem Misstrauen allem gegenüber, was Bewegung, Werden, Heterogenese, radikale Öffnung ist, so zu beurteilen, wie es bei Severino der Fall ist oder auf der Grundlage des apodiktischen Paradigmas des Aristoteles, wie es bei Bertoletti geschieht. Es scheint also notwendig, Cacciari das Verdienst zuzuerkennen, auf den Status der Philosophie als Dialektik-Diaporetik aufmerksam gemacht und so eine fruchtbare Alternative etwa zur Ontotheologie vorgeschlagen zu haben. Zu der auf diese Weise verstandenen Wertschätzung für eine solche Denkform, die unentdeckte Horizonte der metaphysischen Untersuchung und hermeneutischen Forschung jenseits von Postmoderne und Dekonstruktivismus hätte eröffnen können, gesellt sich nun – so der hier neu beschrittene Interpretationsweg – eine Analyse der grundlegenden systematischen Fragestellung; es geht nun noch einmal dezidiert um den zentralen Inhalt der Diaporetik bzw. auf die von Cacciari erarbeitete Vorstellung vom Anfang. Wenn nämlich die so weit ausgeführte Rekonstruktion der Diaporetik als Aufgreifen der dialektischen Argumentation platonischer Prägung eine richtige Feststellung ist, wenn also die Diaporetik niemals absolute Ergebnisse liefern kann und auch nicht will, da sie immer wieder neu diskutiert werden können und auch müssen, dann ist jedoch davon auszugehen, dass Cacciari sich nunmehr auf epistemologischer Ebene in einen unvermeidbaren Widerspruch verwickelt. Und das geschieht – das ist nun zu zeigen – auf dem Höhepunkt seines Denkens, an dem er die metaphysische Instanz zu thematisieren sucht, auf der seine gesamte Spekulation bzw. seine ratio cognoscendi gründet. Denn so gesehen verstößt Cacciari gegen seine eigene Methode, in dem Moment, in dem er sich entscheidet, dem Anfang einen Namen zu geben; und dies, obwohl er vorgibt, mit seiner Definition vom Anfang auf die sublimste Weise jene Urantinomie verteidigen und aufdecken zu wollen. Angenommen, er versteht die Definition des Der Anfang als Freiheit
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»indifferenten All-Möglichen« als die bestmögliche Form der Vermutung, die vom Anfang prädiziert werden kann als eine Art »absoluter Vermutung«, dann wäre weiterhin der Sinn dieser Absolutheit im Hinblick auf jede andere Definition des »Unum-Unum« zu klären, und damit geriete ipso facto der Status der Vermutung als Vermutung in eine Krise. Die absolute Vermutung, die das quid des Unum-Unum sagt, ist letztlich nichts anderes als eine Proposition, die vorgibt, die Grundlage jeder un-möglichen Offenbarung zu sagen. Trotz ihrer formalen Feinheit ist diese Definition als Satz nicht ab-solut. Was Cacciari mit der Formel »indifferentes All-Mögliches« ausdrückt, kann das Unum-Unum nicht in seiner Absolutheit sein, sondern einfach die Proposition, die uno actu Eins und Viele, Gleichheit und Differenz, das Mögliche und Unmögliche setzt. Anders gesagt, drückt sie ein Übermaß an Bejahung und gleichzeitig an Verneinung aus. Sie ist fast wie eine neue Definition des Einen-Vielen, des Einendas-ist, nur dieses Mal gegen jede Notwendigkeit und daher in alle Richtungen einer möglichen und unmöglichen Realisierung gerichtet. Das Unum-Unum als indifferentes All-Mögliches zu definieren, bedeutet – so stellt es sich jetzt dar – die Spirale der Diaporetik zu einem Kreis zu schließen; es bedeutet, die Dialektik zu benutzen, wenn auch dezidiert im platonischen Sinne, um das auszudrücken, was Platon nie vollbracht hätte. Das aber heißt, jener Instanz, die über jede Logik hinausgeht, durch die Verbindung modaler (auch widersprüchlicher) Kategorien einen Namen zu geben. Wenn der Kern der Diaporetik in dem ständigen Rückverweis auf etwas anderem als ihr selbst besteht, im permanenten Verweis auf das, was ihr entgeht, im Hervorheben der Verweisstruktur der Vernunft, dann darf sie den Inhalt des unaussprechlichen Unum nicht füllen und es daher nicht einmal als »indifferentes All-Mögliches« definieren. An diesem Punkt verrät Cacciari seine eigene Diaporetik und überlässt sich der Entwicklung einer ihm gegensätzlichen Perspektive – und folglich der nun zulässigen Kritik von Bertoletti und Severino zum inhaltlichen Kern seiner Philosophie.
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Kapitel II Epistemologischer Aspekt: Der Inhalt der Diaporetik
2.1 Von der unmöglichen Notwendigkeit, das Eine zu definieren Cacciari wollte ein zentrales Problem der westlichen Philosophie, das im platonischen Parmenides seine erste radikale Formulierung fand, die Frage nach dem Einen ὑπερούσιον (hyperoùsion), wieder in den Mittelpunkt der aktuellen philosophischen Debatte rücken. Wenn man die grundlegenden Etappen der Interpretationsgeschichte dieses Dialogs verfolgt, dann diagnostiziert Cacciari mit Recht eine spekulative Verschiebung der ersten Hypothese, die das Unum-Unum betont, hin zur zweiten Hypothese, die das Eins-das-ist akzentuiert. Er wollte also den Fokus der Problematik wieder auf ein Auf-fangen, ein Wahr-nehmen des Unum vor jeder Form der Beziehung mit dem Sein, der Vielfalt, dem Indifferenten und damit auch der Logik lenken. Hier aber steckt der Kern des Problems. Denn mit dem in Gang setzen des Vorhabens, den Status des Unum-Unum untersuchen zu wollen, hat er diesen schon gleichsam verbalisiert, ihn in einen Gedanken gefasst. Das bedeutet nicht, dass er sich dieser unverrückbaren Aporie nicht bewusst wäre. Im Gegenteil, er zeigt sie in ihrer ganzen Radikalität. Auch gibt er sich gerade nicht damit zufrieden, eine Lösung neuplatonischer oder gnostischer Art anzunehmen, für die das ursprüngliche Eine schon in sich selbst ein abstrakt getrenntes Absolutum ist. 482 Denn der Rückgriff auf die Kategorie der »Absolut482 Indem Cacciari von Cusanus die Idee des Non aliud aufnimmt, aber diese anders als er auf den Anfang und somit nicht auf Gott anwendet, präzisiert er, dass »das absolut Andere nur als Anderes vom Anderen selbst, also als Non-aliud gedacht werden kann […]. Der Anfang kann nicht als etwas vom Wesen abstrakt Getrenntes gedacht werden, weil es davon das absolut Andere ist.« Cacciari, Risposte, 143. In Bezug auf das Possest von Cusanus muss festgehalten werden, dass Cacciari jenes cusanische Prinzip für absolut ungeeignet hält, die Idee des Anfangs auszdrücken. Das Possest ist zwar als unendliche Potenz jedes gegenwärtigen Seins gutzuheißen, aber impliziert damit nicht die Möglichkeit seines eigenen Nicht-Seins, der Nicht-
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heit« impliziert zunächst einmal, so kann man feststellen, eine Form der Beziehung: Ab-solutum bedeutet nämlich von etwas anderem gelöst zu sein, eben deshalb wird die zweite Instanz, von der man das Eine gelöst sieht, zugleich implizit mit angenommen. Zweitens sieht man, so sehr es auch stimmt, dass dem Unum nichts vorausgeht, ist es aber doch auch wahr, dass es nicht als exklusiv verstanden werden kann, weil es in diesem zweiten Fall erneut etwas in Bezug auf das, zu dem es sich exklusiv verhält, voraussetzen müsste. Drittens schließlich zeigt sich, die gnostische Wiederholung der ursprünglichen Einheit wäre eine naive Antwort angesichts der philosophischen Überlegungen des 19. und 20. Jahrhunderts – eine Antwort, die letztlich nicht fähig ist, der Phänomenalität als Vielfalt, Endlichkeit, Differenz, Freiheit und Geschichte gerecht werden zu können. Der besondere theoretische Antrieb Cacciaris besteht – dies alles wissend – darin, über jenes Rechenschaft abzulegen, auf das die erste Hypothese im platonischen Parmenides anspielt, und dabei ist auf jeden Fall zu vermeiden, das Eine, sei es auch im aristotelischen Sinne des Ersten als Noùs-Noetòn, zu hypostasieren, wie schon Plotin kritisierte. 483 Dennoch zeigt das theoretische Vorhaben von Cacciari in seiner ganzen Absicht die Notwendigkeit, sich nicht einer unausweichlichen Überschreitung entziehen zu können. Denn wenn man schon am Sagen dessen scheitert, was man zu sagen hat, dann gilt solches erst recht für das, was von sich aus nicht einmal aussprechbar 484 sein können soll, da es jenseits des Seins und damit jenseits der modalen Logik und des Satzes vom Widerspruch läge. Genauer gesagt: Wenn es auch auf formaler Ebene, wie zuvor bemerkt, noch möglich wäre, das argumentative Vorgehen der Diaporetik im logischen Sinne zu legitimieren – als Notwendigkeit der Philosophie, den Widerspruch so zu sagen, dass das Denken selbst vollkommen im Prozess des Widersprechens involviert bliebe – dann kann man, was den epistemologischen Aspekt der Diaporetik anbetrifft, die Tatsache von etlichen, weniger theoretischen als vielmehr begrifflichen Verwirklichung: »Bei Cusanus schließt das Nicht-Sein das Sein aus, welches aber das ewige Sein voraussetzt und jenes Sein leugnet, das erst nach dem Nicht-Sein beginnt. Das Possest ist reine Potenz-zu-sein, dem das Nicht-Sein einfach folgt und deswegen nicht als Indifferenz der Gegensätze verstanden werden kann – das, was den Anfang von jedem effektiven Ursprung unterscheidet.« Cacciari, Dell’Inizio, 142 f. 483 Vgl. ebd., 89–101. 484 Platon, Parmenides, 137 b – 142 a.
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Mehrdeutigkeiten nicht verkennen, die alle ihren Ursprung in der Definition des Einen als indifferentes All-Mögliches haben. Trotz der Absicht des Autors, über den reinen Anfang zu sprechen, also über das, was die Voraussetzung jenseits jeder Logik sein soll, bleibt diese Bezeichnung vollkommen im logischen Kontext, wie schon Bertoletti und Severino bemerkten. Das Nicht-Widerspruchprinzip, das bekanntermaßen zum ersten Mal als ontologisches im Satz des Parmenides formuliert wird, heißt: »Es ist nötig, dass das Sein ist, denn nur das Sein ist und das nicht-Sein ist nicht.« 485. Dieses Prinzip erhält im IV. Buch der aristotelischen Metaphysik eine weitere semantische Prägung: »Es ist unmöglich, dass die gleiche Sache gleichzeitig und im gleichen Zusammenhang derselben Sache angehört und nicht angehört.« 486 In der aristotelischen Formulierung des Satzes wird die Unmöglichkeit festgelegt, dasselbe Wesen gleichzeitig zu bejahen und zu verneinen. Anders ausgedrückt, es wird die Notwendigkeit konstatiert, die zeitliche Kohärenz desselben Wesens zu denken. Nur zu verschiedenen Zeiten kann die gleiche Sache das gleiche Prädikat haben oder nicht haben, nie gleichzeitig. Es ist offensichtlich, dass sich jenes Prinzip auf die ratio entis bezieht und damit ihren exklusiven Wert im Horizont des Seins ausübt, dessen, was in den Bereich der Prädikation zurückfällt. 487 Das Eine ὑπερούσιον (hyperoùsion) aber steht über dem Sein und entzieht sich damit dem Zugriff eines solchen logischen Kriteriums. Für Cacciari kann das Eine folglich unterschiedslos die Voraus485 Vgl. Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 1951, 28, B 8, 9–9; 28, B, 6, 1. Jenseits aller diesem Satz gegebenen Deutungen ist das Verbot einsichtig, das NichtSein als ursprünglich anzusehen. 486 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, B, 2, 996b 30; Γ, 3, 1005b; K, 5, 1061b 5 ff. 487 Vor Aristoteles erklärt schon Platon die Unmöglichkeit, das Eine-das-ist gleichzeitig zu bejahen und zu verneinen. Im letzten Teil des Parmenides, als er die Lösung des Übergangs zwischen dem Einen und den Vielen darlegt, greift Platon auf das Bild eines »Augenblicks« zurück (oder eines »Plötzlichen«: το ἐξαίϕνης), der in seinen Augen von seltsamer Natur ist (άτοπον), weil er die Bedingung der Veränderung in der Zeit ist, ohne selbst in die chronologische Folge eingebunden zu sein. Diese metaphysische Instanz rettet das Eine vor dem Widerspruch, weil sie erklärt, dass es keine Zeit gibt, in der das Eine gleichzeitig gegensätzliche Dinge oder nicht eines von beiden sein kann. In diesem Sinne geht das Eine im Augenblick von einem in viele über, weil es in sich weder eines noch viele ist. In diesem Sinn wird nach der dialektischen Entkräftung aller gegenteiligen Hypothesen am Ende des Dialogs die gegenseitige Implikation von Einem und Vielem und folglich die bipolare Struktur der Ideen und der gesamten Realität aufgezeigt. Siehe: Berti, Conseguenze delle ipotesi del Parmenide, 1992, 66 ff.
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setzung von Allem und seines Gegenteils sein; es muss eher so etwas wie ein »indifferentes All-Mitmögliches« sein. Aber in dem Augenblick, in dem wir das Eine-Eine so definieren, bedienen wir uns da nicht des Nicht-Widerspruchprinzips, und dies, um zu bejahen, dass alle Widersprüche in der ἀρχή »mitmöglich« sind? So bleibt Cacciaris Diskurs über das Unaussprechbare am Ende immer nur ein Diskurs: Es ist ein Ausdrücken des Unausdrückbaren, bis eine Grenz-Definition erreicht wird, die trotzdem immer eine Definition bleibt. Bei genauerem Hinschauen sollte uns der philosophische Exkurs im Siebten Brief von Platon, der Cacciari so wichtig ist, genau vor dieser Hybris warnen. Die ἐπιστήμη (Epistéme) ist als Vorgehen, das Urteile über Ähnlichkeit und Unähnlichkeit abgibt, die notwendigerweise an die Kopula des Verbes Sein gebunden sind, ungeeignet, den höchsten Gedanken zu erfassen. Deswegen ist es angesichts der Aussagen Platons weder legitim noch möglich, über das Fünfte zu schreiben, ohne in einen Irrtum zu fallen. In der Hoffnung, dem Anfang die maximale Ausdehnung seiner Möglichkeiten und seiner Freiheit zu garantieren (die zugleich das Un-mögliche enthält), entscheidet Cacciari, den Anfang auf diskursive Art als Indifferentes Allmögliches zu bestimmen und fällt dabei in eine Grammatik der Urteile von Ähnlichkeit-Unähnlichkeit der epistemischen Sprache. Die einfache Analyse dieser Bezeichnung verrät also deren innewohnende Problematik. Kann sich das Bewusstsein des Indifferenten jemals ohne eine Form des Differenten geben? Und kann das Bewusstsein des All-Möglichen jemals ohne die Unterscheidung von Einem und Vielem, von Ganzem und Teil und ohne die modalen Kategorien Möglichkeit, Realität, Notwendigkeit existieren? Dem in der ersten Hypothese des platonischen Parmenides angeführten Einen kann man keine Qualität, weder eine positive noch eine negative, zuweisen, weil jegliche Zuweisung irgendeiner Qualität sich immer durch die Kopula des Verbes Sein (das Eine ist …) verwirklicht und man so notwendigerweise in die zweite Hypothese des oben genannten Dialogs zurückfällt (»Εἰ ἕν ἔστιν«). 488 »Εἰ ἕν ἕν« (142 e) – wenn Eins Eins – schließt also jede Form der Beziehung mit der Bewegung, der Ruhe, dem Anderen und dem Glei488 Bei einem großen Teil der neoplatonischen Interpretationen der ersten Hypothese wird in ihr der Ausdruck einer negativen Theologie gesehen. Die erste Hypothese von Platon hat Plotin entscheidend beeinflusst; darauf verweist Gadamer in: Der platonische Parmenides und seine Nachwirkung, 1983, 39–51.
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chen aus. Wenn also folglich jede Form der Gleichheit mit sich auf das Gleiche und auf der Kopula des Verbs ›Sein‹ basiert, dann ist dem Ein-Einen jede Form der Beziehung zu sich selbst verwehrt und darin liegt auch die radikale Verneinung der Möglichkeit, das Eine zu sagen. Aus diesem Grund erklärt Parmenides im gleichnamigen platonischen Dialog ausdrücklich die Unmöglichkeit, einen Namen geben, einen Diskurs führen oder über das Ein-Eine forschen zu können. 489 Man braucht sich also nicht zu wundern, dass die erste Hypothese und die darauf folgende Diskussion dieses Dialogs in seiner gesamten Interpretationsgeschichte von vielen als eine Art dialektischer Scherz, »als Ansammlung unklarer Sophismen«, 490 »logische Spitzfindigkeiten« 491 oder »als ausgeklügeltes jeu d’esprit«, 492 das man nicht zu ernst nehmen sollte, betrachtet wurde. Es ist festzuhalten, dass man die Aporie des Ein-Einen nicht so schnell abtun kann, denn gerade sie ist doch die zentrale Aporie der westlichen Philosophiegeschichte. Erstens ist der Parmenidesdialog, wie viele Gelehrte gezeigt haben, alles andere als ein Scherz. Er ist vielmehr ein »ernster« Dialog mit einem präzisen Lehrinhalt (die gegenseitige Bedingtheit des Einen und des Vielen), der mit einer »apagogischen« Methode konstruiert ist bzw. mit der dialektischen Behandlung von acht Hypothesen, von denen vier entkräftet und vier durch die Entkräftung der entgegengesetzten Hypothesen bewiesen werden. 493 Zweitens zeigt die Hypothese des »εἰ ἕν ἕν« zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie das Problem der Denkbarkeit des Unsagbaren und die Anerkennung der radikalen Grenze der dialektischen Befragung an dem Punkt, an dem das Problem des der Archè innewohnenden Paradoxes, das sonst notwendigerweise mit dem Rückgriff auf Begriffe des Seins gelöst wurde, damit auf einen notwendigen Übergang von der Potenz zum Aktus zurückgeführt werden müsste. Wenn man demnach die Aporie des »εἰ ἕν ἕν«, die die Grundlage des gesamten Diskurses zum Einen Platon, Parmenides, 142 a. Tiedemann, Dialogorum Platonis argumenta exposita et illustrata, 1786, 343. 491 Wilamowitz-Möllendorf, Platon. Sein Leben und seine Werke, 1919 (Neuauflage 1959–62, Bd. II., 227). Die letzten Zitate sind der Einleitung entnommen von H. G. Zekl zur Neuausgabe des Parmenides in der Reihe Philosophische Bibliothek, 1972, XI. 492 Taylor, Plato. The Man and his Work, 1949. 493 Neben H. Krämer und G. Reale muss auch S. Scolnicov erwähnt werden: Scolnicov, Il Parmenide di Platone: prolegomeni ad una re-interpretazione, 1984, 11–36. Enrico Berti hat diesen Dialog als »ernst« bezeichnet und dessen darunter liegende logische Struktur gezeigt: Berti, Conseguenze delle ipotesi del Parmenide, 84–92. 489 490
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in Bezug auf die Vielen bildet, im Zusammenhang von Gleichheit und Differenz auflöste, verlöre die metaphysische Tragweite und dialektische Unausschöpfbarkeit der philosophischen Untersuchung an Weite. Anders als alle anderen Wissensformen setzt die Philosophie das Objekt, von dem sie ausgeht, nicht voraus, sondern sie besteht vielmehr in der Kunst, sich immer neu zum eigenen Beginnen zu befragen. Die Absicht Cacciaris, das Eine von jeder Form der Bestimmung und Nötigung fernzuhalten, verdient – so sollte der Duktus der kritischen Argumentation hier zeigen – hohe Anerkennung. Dennoch führt sein hierfür ausgearbeiteter Diskurs dem Vorsatz einer Vermeidungsstrategie zum Trotz in ebendie Problemlage, die er zu überwinden trachtet: verbal zu thematisieren, was man nicht besprechen kann. Das geschieht jedoch grundsätzlich, und zwar mit der Definition des Anfangs als »indifferentes All-Mögliches«. Denn damit sieht man, so ist festzuhalten, den Gewinn und die Grenze, die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit nicht nur der Philosophie tout court, sondern insbesondere der Diaporetik von Cacciari.
2.2 Das All-Mögliche und das positiv Ermöglichende Im Licht der bisherigen Ausführungen konnte man sehen, wie Cacciari langsam die Grundfrage seiner Philosophie formuliert. Angesichts des Plausibilitätsverlustes des konzeptuellen Rahmens des dialektischen Idealismus und dabei seines Anspruchs, die Antinomien des Realen in einer übergeordneten Synthese versöhnen zu können, spürt er den Weg zu einem anderen möglichen Schicksal der Metaphysik auf, der sich nach dem Ende des dialektischen Idealismus und der von Heidegger versuchten ontologischen Erneuerung wie auch in Anlehnung an das differenztheoretische Denken von Derrida auf neue Weise eröffnet. Cacciari teilt die Diagnose Heideggers nicht, die westliche Metaphysik habe den Unterschied zwischen Sein und Wesen vergessen und infolgedessen habe die Technik über die Philosophie dominiert. Anders als Heidegger, für den nur eine Erneuerung des seinsphilosophischen Denkens den Westen von einer technischinstrumentellen Hegemonie zu befreien vermag, denkt Cacciari, ähnlich wie der späte Wittgenstein, ähnlich aber auch wie Derrida mit seinem Grundbegriff der Differance, über die Instanz des Vorausgesetzten (»das Mystische«) nach – gleichsam als Überschuss des Un222
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Das All-Mögliche und das positiv Ermöglichende
ausdrückbaren über jedes Sagen hinaus. In der Perspektive von Cacciari offenbart sich die ursprüngliche Differenz, die ständig sowohl auf ontologischer wie auch auf gnoseologischer Ebene differiert, aber sich dennoch weiterhin in der Ordnung des Seins und des Denkens gebe, eine Form von »Nihilismus«, gleich ursprünglich mit dem Wesen des Anfangs. Die Vertiefung dieser »vorausgesetzten Präsenz«, 494 die er auch in der Wahrheit der ikonographischen Darstellung sieht, führt ihn dazu, sich mit dem anti-hegelschen Denken des Vorausgesetzten auseinanderzusetzen, wie es sich bei Rosenzweig in Anlehnung an Schelling findet. In diesem Zusammenhang ist die direkte Auseinandersetzung von Cacciari mit der positiven Philosophie von Schelling bestimmend, vor allem mit dem Begriff der Mit-Möglichkeit als Alternative zum logischen Binom ›Potenz-Aktus‹, das die gesamte Philosophiegeschichte von Aristoteles bis Hegel beherrscht. Einer der entscheidenden Punkte bezüglich der Divergenz zwischen Schelling und Cacciari betrifft die Art, wie die logische Beziehung zwischen der Idee von der Allmöglichkeit und der dritten Potenz, der Indifferenz von Potenz und Akt, zu verstehen sei. Mit Schellings positiver Philosophie gelingt es letztlich nicht, die Gegensätze als solche in sich so zu bewahren, dass sie sich wirklich als unversöhnbar und unüberwindbar erweisen. Wie bereits zu den Gedanken von Dell’Inizio und Della cosa dargelegt wurde, hat Cacciari den Charakter der Indifferenz in der Definition der Mitmöglichkeit so weit radikalisiert, dass mit dieser alle Gegensätze als solche miteingeschlossen gedacht werden konnten, und zwar uno actu das Mögliche wie auch das Un-mögliche. Folglich bedeutet die Bejahung des Un-möglichen als Chiffre und Kriterium der Indifferenz des Anfangs einerseits, den Fächer der Realisierungen der All-Möglichkeit in seiner Breite zu radikalisieren, und andererseits die Überlegungen zur Mit-Möglichkeit schellingscher Prägung an der Basis – und damit am Übergang von der negativen zur positiven Philosophie – anzugreifen, da das Unmögliche auf radikale Weise auch das extreme ›Nein‹ zu jeder Realisierung beinhaltet, sogar den Fall, dass das innergöttliche Leben (als Nicht-Anfang) unmöglich sei, dass Gott nicht nur die Wesen nicht vor dem Nichts rettet, sondern er selbst von der Nostalgie zu seinem NichtOrt, dem Anfang, mitgerissen werde. 495 Wie kann man – so ist zu 494 495
Cacciari, Ancora sul Mistico, 138. Jemand, der in Italien neben Cacciari die überzeugendsten Vorbehalte gegenüber
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fragen – dieses Denken der Widerrufbarkeit von allem, und damit auch der immer möglichen Implosion von Gott und auch vom Menschen, dann Existenz überhaupt noch rechtfertigen? Diese Frage muss aber beantwortet werden, denn es ist die Evidenz der Einsicht zu berücksichtigen, dass die Welt und der Mensch tatsächlich da sind und (bis zum Beweis des Gegenteils) weiterhin positiv im Sein bleiben werden. Aus den Argumentationen im Verlaufe der drei großen systematischen Abhandlungen ist es möglich, mit Cacciari eine doppelte Antwort auf diese relevante Frage zu geben, die jedoch – so das Ergebnis hier – problematisch bleibt. In den ersten zwei Teilen der Trilogie bezieht sich der Autor auf die trinitarische Figur des Vaters, um die positive Instanz zu beschreiben, die ohne Notwendigkeit der Schöpfung vorsteht. Danach wird in dem Werk Labirinto filosofico diese Funktion de facto der Idee des Guten-Einen zugeschrieben, der positiven Potenz, die das Seiende macht, was ist. Die Frage, die in den zwei folgenden Paragraphen behandelt wird, betrifft die tatsächliche Bedeutung dieser beiden Lösungen für das Problem des Zusammenhangs zwischen dem Anfang und dem Anfangenden bzw. dem indifferenten Mitmöglichen und der Möglichkeit, die der Konstituierung des Existierenden positiv voraus-
der schellingschen Definition von »Mitmöglichkeit« vorgebracht hat, ist Vincenzo Vitiello: »Was bedeutet die göttliche Mitmöglichkeit? Dass Gott zusammen – man horche, zusammen – bejahen und verneinen, schaffen und nicht schaffen und – warum auch nicht? – entschaffen kann. Zum Entschaffen kann er nicht nicht schaffen oder zum Bejahen nicht verneinen. Seine Möglichkeit schließt alle Möglichkeiten mit ein – immer, nicht einmal ja, einmal nein. Die göttliche Möglichkeit ist immer Mitmöglichkeit. Daraus folgt, dass die Freiheit Gottes nur eine weitere Notwendigkeit ist. Die Notwendigkeit, alles und das Gegenteil von allem zu sein.« Vitiello, Topologia del Moderno, 1992, 165. In diesem Sinne eignen sich besonders gut einige Passagen aus Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, um Cacciaris Gottesgedanken zu beschreiben: »[…] schrieb Ulrich den noch verdächtigeren Satz, dass wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche, denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebenso gut anders sein […] Das Mögliche umfasst nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes […] Es war in ihm eine eigentümliche Lust, das Wort Gott auszusprechen. Er hatte etwa sagen wollen: Gott meint die Welt keinesfalls wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muss, und natürlich immer unzureichend. Wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir selbst müssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt […] Man hat für solche hochfliegenden Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt.« Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1968, 16, 19, 357 f.
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Das All-Mögliche und das positiv Ermöglichende
geht. Was den ersten Vorschlag anbetrifft, bei dem der Vater als »Anfangendes« 496 ausgemacht wurde, übernimmt Cacciari von Johannes Scotus Eriugena vor allem die Idee der – in De divisione naturae erläuterten – ignorantia divina, um so die Probleme der christlichen und auch hegelschen Auslegung von Gott als absolutem Anfang vermeiden zu können. Es geht jetzt also darum, die Korrektheit der eriugenischen Interpretation Cacciaris zu überprüfen und zu sehen, ob eine solche Auslegung tatsächlich die Gründe der Schöpfung rechtfertigen kann oder doch eher eine Bestätigung für die Unvollständigkeit dieser Problemlösung liefert (Vgl. § 2.2.1). Mit der zweiten kritischen Anmerkung wird geprüft, ob die im Labirinto filosofico vorgeschlagene Lösung, die eine Übereinstimmung von Ἕν (Unum) und Ἀγαθὸν (Bonum) annimmt, um die Kohärenz der ontologischen und gnoseologischen Ordnung zu sichern, nicht vielmehr eine Strategie darstellt, mit der das Problem des Anfangs als indifferentes Mitmögliches (vgl. § 2.2.2.) umgangen wird.
2.2.1 Die Interpretation von Eriugena bei Cacciari: Die ignorantia Dei und die kritische Frage nach dem Verhältnis von Anfang und Anfangendem Das Hauptwerk von Eriugena, De divisione naturae, bietet unter Rückgriff auf neuplatonische Instanzen und vor allem durch die Auseinandersetzung mit der lateinischen Übersetzung und dem Kommentar des Corpus Dionysiacum sowie mit den Schriften des Origenes und Augustinus eine vollkommen neue protologische Sicht, weil sein Fokus auf einem Begriff der Natur als der Gesamtheit der existierenden und der nicht existierenden Realitäten liegt. 497 Damit wird verständlich, warum sich Cacciari bei der erneuten Auseinandersetzung mit der Schöpfungsfrage Eriugena zuwendet. Indem dieser die »Teilung« der platonischen Dialektik (von der die Vorstellung einer Teilung-Differenzierung der Natur stammt) übernahm und zudem noch aktualisierte, hatte er versucht, das Verhältnis zwischen absolu-
496 Das Anfangende wird hier nicht im hegelschen Sinne angewendet, da der Vater für Cacciari keinen Trieb verspürt, Anfang-zu-geben, aufgrund der Tatsache, dass die Voraussetzung seiner Freiheit das indifferente Mitmögliche bleibt, der Anfang. 497 Für diese Art der Unterteilung der Natur geht Eriugena von Augustinus aus: Augustinus, De civitate Dei, V, 9.
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ter Einheit und dem Vielfachen neu auszurichten und ging damit über die schon von Platon und dem Neuplatonismus bis hin zu Augustinus angebotenen Lösungen hinaus. Eriugenas Absicht war, den Naturbegriff so zu fassen, dass die theoretische Kongruenz zwischen dem protologischen Diskurs in der Genesis, der trinitarischen Spekulation und dem henologischen Paradigma neuplatonischer Prägung sich bewahrheiten kann. Entgegen einer Interpretation, die lange Zeit das pantheistische Element der eriugenischen Metaphysik hervorhob, was vor allem seiner Auslegung im Sinne von aristotelischen und thomistischen Kategorien geschuldet war, 498 haben neuere Untersuchungen diese Interpretation verworfen und die besondere Dialektik des eriugenischen Vorgehens hervorgehoben und konnten damit den ihm unterstellten Pantheismus leicht widerlegen. Die Argumentation von Eriugena zeichnet sich durch eine neue Art der Dialektik aus, fast eine Art Peristaltik zwischen zwei Ansätzen, zwei Aussagen, die gleichzeitig etwas von Gott bejahen und verneinen, um deren immer größere Transzendenz und Unerreichbarkeit wahren zu können. Jenseits jeder pantheistischen Intention meint Eriugena, dass die Schöpfung von Gott keine Form der Mitewigkeit zwischen Gott und geschaffener Welt annehme und dass sie damit die absolute Transzendenz Gottes als plusquam totum omnium gar nicht in Frage stelle. Um diesen theoretischen Knoten spekulativ zu rechtfertigen, greift Eriugena, so wie Augustinus sich vorher auch schon auf die rationes seminales bezogen hatte, auf das Konzept der causae primordiales zurück, aus denen der Vater, in dem ihm mitewigen Verb, die Schöpfungsmaterie schöpft, ohne auf irgendetwas außerhalb Bezug nehmen zu müssen. 499 Die causae primordiales, die der zweiten der von ihm identifizierten vier species der Natur entsprechen (natura creante creata), stellen den ersten ›ewigen Moment‹ der Schöp498 Schon Anfang des 19. Jahrhunderts erklärte der Historiker der mittelalterlichen Philosophie Maurice de Wulf (1867–1947) zum Stand der zeitgenössischen Forschung, dass sich zwei verschiedene Interpretationen der De divisione naturae gegenüberstehen, die jeweils ganz bestimmte Stellen des eriugenischen Werks bevorzugen: die eine legt den Schwerpunkt auf die Einheit des Ganzen und das AufgenommenSein (assumptio) von allem in Gott; die andere hingegen betont die Unterscheidung zwischen Gott und der Schöpfung den zwei unterschiedlichen Wesensgraden entsprechend, die sie besitzen. Vgl. de Wulf, Histoire de la Philosophie Médiévale, 1900, 223– 231. 499 Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, III, 630 A–634 B.
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fung dar, durch den sich die Teilnahme zwischen Gott und dem geschaffenen Sein verwirklicht (»de sua superessentialitate producit essentias«). Der Rückgriff auf diese erlaubt es Eriugena, zugleich die Ewigkeit dessen, was der Schöpfung der Welt voranging (das sonst als akzidentell gedacht werden müsste) und die Nicht-Ewigkeit der Welt selbst, bzw. der von diesen Ursachen ausgehenden Auswirkungen zu denken, 500 – oder in anderen Worten: die göttliche Ursache, die in die Schöpfung einfließt, zu denken, ohne damit eine Beeinträchtigung ihrer Transzendenz zu implizieren. Folglich erlaubt ein solches Kriterium, die ontologische Differenz zwischen Gott und dem Menschen zu wahren. Auch wenn der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde (Gen 1,26), bleibt zwischen ihnen eine größere Differenz bestehen: Gott ist natura creante non creata, der Mensch ist natura creata non creante. In diesem Sinne kann das geschaffene Sein nie seinen Schöpfer direkt betrachten, sondern nur mittels der Theophanie, der darstellenden Formen der Vermittlung. 501 Wie aus alledem hervorgeht, weist Eriugena, den Spuren des Neuplatonismus und der Patristik folgend, Gott die gleiche Einheit von Transzendenz und Immanenz wie jener Denkfigur des Einen zu: Das universale Prinzip bewegt sich von sich aus zum Vielfachen, aber bleibt gleichzeitig als es selbst in sich selbst. Es kann von keiner Kategorie erfasst werden; es bleibt absolute Unaussprechlichkeit, so dass Eriugena wiederholt versichert, dass Gott selbst um seine Existenz weiß, aber seine Essenz nicht erkennt. Wie schon gezeigt wurde, nutzt Cacciari diesen Hintergrund des göttlichen Nichtwissens, um zu sagen, dass bei Eriugena Spuren eines Denkens von Gott als Nicht-Anfang zu finden seien – eines Gottes, der sich vom Hintergrund eines Nihil abhebt, da diesmal ein echter Anfang als Möglichkeitsbedingung desselben Gottes verstanden wird. An dieses göttliche Dunkel, meint Cacciari, wende sich Gott im ewigen Akt des sich selbst Erkennen-Wollens, um den Sohn zu zeugen und die Welt zu schaffen. Gott sei immer von diesem Hintergrund der eremìa des Nicht-Erkennens, von diesem Anfang angezogen. Es ist klar, dass Cacciari hier nichts anderes macht, als die eriugenische Überlegung zu weiten, und zwar zum Vorteil für die von ihm verteidigte These. Bei genauerem Hinschauen bedeutet die Aussage: »Gott schafft ex nihilo«, dass
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De divisione naturae, III, 643 C–650 B. De divisione naturae, I, 446 A–453 B.
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Gott von sich aus schafft (durch das Verbum), ohne jegliche Voraussetzung. Und genau das ist es, was Cacciari trotz der nötigen Unterscheidungen letztendlich nicht akzeptiert; denn so müsste Gott »Vater« sein und wäre folglich ab aeterno dazu bestimmt, Schöpfer zu sein. In der Kritik von Cacciari erweist sich die von Eriugena vorgenommene Unterscheidung zwischen Gott als »schaffendes und nicht erschaffenes Wesen« und den causae primordiales als »schaffendes und erschaffenes Wesen« und damit zwischen einer ewigen Schöpfung durch die causae primordiales als Bedingung der Möglichkeit der Schöpfung, und einer zeitlichen Schöpfung (»schaffendes und nicht erschaffenes Wesen«) als unzureichend. Wenn Gott für Eriugena an nichts anderes gebunden ist als daran, sich selbst positiv zu wollen und folglich einen Sohn zu zeugen sowie Grundlagen für die Konstitution der Schöpfung zu schaffen, 502 so bedeutete das nichts anderes für Cacciari, als erneut das Ursache-Folge-Prinzip heranzuziehen und den Übergang zwischen dem Selbstwollen von Gott und seinem Schöpfungswillen wiederum auf notwendige Weise zur Bestimmung zu bringen. Für ihn geht es hier also darum, über den göttlichen Willen hinauszugehen, dorthin, wo dieser seine Bedingung der Möglichkeit hat (eine Idee, die Eriugena nie unterschreiben würde). 503 Eine getreuere Auslegung des Textes De divisione naturae, wie jene von Werner Beierwaltes, erlaubt jedoch in den Blick zu bringen, dass und inwiefern die Absicht Eriugenas eine völlig andere ist, als 502 »Si autem nil aliud est effectus, nisi causa facta, sequitur, Deum causam in effectibus suis fieri« De divisione naturae 687 C.; vgl. Cacciari, Dell’Inizio, 478–481. 503 So schreibt Cacciari: »Jede Beziehung, ja Vorstellung von der innergöttlichen Beziehung steht mit der Freiheit, die sie sein lässt ›in Beziehung‹, so wie sie diese in einem nicht sein lassen darf (während Gott nur sich selbst wollen darf). Gott, der sich selbst wollen muss, hat in seinem Eigenen, im Abgrund seines Eigenen alle Wesen (in diesem Sinne eignet ihm eine ›Superwesenheit‹), aber die Möglichkeit, sich zu wollen, liegt nicht ›in seiner Hand‹ – ist hypér – Geschenk des Possest des Anfangs. Und Geschenk des Possest ist im einem auch ›non debet esse‹ jedes Wollens und jedes Wesens. Im Herz der innergöttlichen relatio muss die ›Sehnsucht‹ nach der Freiheit, die sie möglich macht, beben […] Die relatio würde notwendigerweise ins nicht Nicht-Sein-Können stürzen, wenn sie nicht eine Beziehung mit ›dem‹ hätte, das sie un-möglich macht, mit der Freiheit von jeder Bestimmung, die auch Potenz für jede Bestimmung ist.« Cacciari, Della cosa ultima, 349. Hier wird deutlich, inwiefern im Rückgriff auf eine weitere Voraussetzung (das reine Mögliche) von Cacciari die Absicht von Eriugena überstiegen wird, wobei dieser doch nichts anderes wollte, als den Hintergrund der Unsagbarkeit des göttlichen Wesens zu retten.
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diejenige, die Cacciari behauptet. 504 Es ist auch klar, dass die Interpretation von Beierwaltes, der schon bei Eriugena eine vor-hegelsche Entwicklung der »absoluten Dialektik« ausmacht, nach der Gott selbst derjenige ist, der sich selbst – ausgehend von der inneren Verneinung des absoluten Nichts – schafft. Damit wird zwar einerseits die tatsächliche Rolle des Nihil in der eriugenischen Sicht präzisiert, andererseits aber geschieht, was den Rückgriff von Cacciari auf Eriugena betrifft, nichts anderes, als dass seine kritische Haltung angesichts einer unbedingt schöpferischen Bestimmung Gottes Bestätigung findet. Es stellt sich also für eine kritische Lesart hier die Aufgabe, zu versuchen, eine kohärente Interpretation des eriugenischen Diskurses nachzuzeichnen, darauf aufbauend eine andere Auslegung der ignorantia Dei vorzuschlagen, die sowohl dem von Beierwaltes erfassten eriugenischen Idealismus ante litteram wie auch den post-schellingschen kritischen Anmerkungen Cacciaris Rechnung trägt und anhand des neu erarbeiteten Ergebnisses in die Lage kommt, dessen grundbegriffliche Positionierung zu überwinden. Denn wenn Eriugena die Idee der creatio ex nihilo interpretiert, dann versteht er das ex nihilo weder als abstrakt leeres Nichts (omnino nihil), noch als privatives Nichts (nihil privativum). Nihil bildet eher den anderen Namen Gottes, bzw. die Verneinung von jeglicher Seins- oder Substanzzuweisung in Gott, wobei nur das wirklich zu ihm gehört, was von ihm geschaffen wurde. In diesem Sinne muss auch die Übereinstimmung von dem Erschaffen ex se und dem Er504 Das Anliegen von Werner Beierwaltes bestand darin, zu zeigen, wie die Dialektiken zwischen Identität und relativer Indifferenz der neuplatonischen Überlegung zum Unum eine bestimmende und unverzichtbare Rolle sowohl für die christliche Theologie als auch für den deutschen Idealismus angenommen haben. Vgl. Beierwaltes, Denken des Einen, 1985; Platonismus und Idealismus, 1972. Im Rahmen dieses Interpretationshorizonts weist er Johannes Scotus Eriugena eine herausragende Rolle bei der Erarbeitung eines trinitarischen Denkens zu, das die Selbstentfaltung von Gott als »absolute Dialektik« zu konzipieren fähig ist. Wie er vor allem in seiner Monographie über Eriugena (Eriugena, 1994), aber auch in anderen Schriften gezeigt hat, spielt die Dialektik in der eriugenischen Überlegung nicht nur eine instrumentale (oder methodologische) Rolle, sondern besitzt selbst einen ontologischen Status, so dass Eriugena, weit vor Hegel, das Sich-selbst-Schaffen Gottes ausgehend von der inneren SelbstVerneinung des absoluten Nichts denken konnte: »… als absolute Dialektik Gottes selbst vollzieht sie sich im Hinblick auf sein Sich-selbst-Schaffen und auf sein Schaffen von Welt als in Sich-selbst-Denken, Sich-selbst-Aussprechen und Sich-selbstWollen, als absolute Reflexion also, als das absolute WORT und als absolutes Wollen.« Beierwaltes, Einheit und Identität als Weg des Denkens, 1990, 3–23; 17; vgl. auch: Ders., Platonismus und Idealismus, 170–178.
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schaffen ex nihilo verstanden werden, bei der das Nihil der Name par excellence für Gott selbst (»divinae superessentialitatis excellentia«) ist und nicht eine von ihm differente hintergründige Instanz, wie Cacciari behauptet. Am Ende ist es so, als ob die Bemühung von Platon, die Unaussprechbarkeit des Unum-Unum oder des Fünften Elements zu retten, und jene von Cacciari, die Unsagbarkeit des Anfangs zu behaupten, von Eriugena auf die göttliche Essenz, auf Gott selbst angewendet wurde: »Deus itaque nescit se quid est, quia non est quid«. 505 Eriugena will nichts anderes, als den Hintergrund der Unsagbarkeit der göttlichen Essenz retten, gerade weil Gott, anders als alles von ihm Erschaffene, kein quid hat. Angesichts solcher Prämissen ist klar, dass das Nicht-Wissen Gottes nicht als reine Ignoranz, als Unwissen verstanden werden kann, so als ob man Gott das Selbstbewusstsein, 506 das Denken seiner selbst, absprechen müsste. Die ignorantia Dei bedeutet eher, dass Gott sich seiner selbst nicht als kategoriales Etwas (quid) bewusst sein kann – was aber nicht heißt, dass er sich selbst nicht erkennen-wollen kann. Wie könnte man sonst behaupten, wie Cacciari selbst zu Bedenken gibt, dass für Eriugena Gott sich selbst will, ohne den ›Inhalt‹ seines Wollens kennen zu können? Wenn diese Interpretationsthese zutreffend ist, dann ist das göttliche Nichtwissen als Name seiner höchsten Weisheit anzusehen, weil es den Mehrwert eines überkategorialen und überprädikativen Sich-Wissens in Gott ausdrückt. Mit anderen Worten: Was in Gott Überstieg ist, was also das Selbstbewusstsein des Sich-Wissens und Sich-Wollens ist, das wird in der spekulativen Erzählung von Eriugena als ignorantia Dei im subjektiven und objektiven Sinne jenes Genitivs erfasst. Die ignorantia Dei bejaht die Unmöglichkeit, das Wesen Gottes zu definieren – und das gilt nach Eriugena sogar für Gott selbst, aber – aus der hier entfalteten kritischen Perspektive gesehen – steht sie mehr für unsere Unfähigkeit, das Wesen erschöpfend definieren zu können. Die ignorantia Dei zeigt die Grenze unseres definierenden Denkens, das unvermeidlicherweise das Wesen immer als etwas Bestimmtes umschreibt. Wenn wir hypothetisch diese Ebene der Überlegung überwinden, einer unmöglichen Pflicht des Denkens folgend, um so die Realität von Gott in sich und für sich beinah erreichbar – zumindest De divisione naturae, II, 28. Vgl. dazu Beierwaltes, Absolutes Selbstbewusstsein. Divina ignorantia summa ac vera est sapientia. In: Ders., Eriugena, 1994, 180–203.
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für uns nahbar – zu machen, dann müssten wir uns gewissermaßen sogar enthalten, in Gott überhaupt eine Form der Ignoranz gegenüber sich selbst zu behaupten. Demnach wäre es nützlich – so der auszuführende Gedanke hier – die Definition Gottes als »schaffendes und nicht erschafftes Wesen« (natura creante et non creata) nicht als Anmaßung zu betrachten, mit dessen Wesen an einem bestimmten Grad von »Natur« festzumachen gesucht wird, sondern als Versuch, seine Überlegenheit gegenüber unserer Natur zu bestimmen. Wenn dies zugestanden werden muss, wird nachvollziehbar, inwiefern Cacciari mit seiner besonderen Interpretation der ignorantia divina deren tieferen Sinn ungewollter Weise verrät. Obwohl unter den Bedingungen seiner Entfaltung einer metaphysischen Perspektive erwartbar, scheint Cacciaris Auslegung, was die Exegese des eriugenischen Textes anbetrifft, doch unvollständig. Es trifft zu, dass es bei Cacciari Passagen gibt, in denen er behauptet, inwiefern das AnfangUn-Mögliche, die Möglichkeit selbst der decreatio, in Wirklichkeit eine Grenz-Vorstellung sei, nötig, um die Freiheit Gottes und der Schöpfung in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit erfassbar machen zu können; dass diese, wie Sergio Givone feststellt, »[…] nicht das wahre Leben nimmt, sondern ihm als etwas ihm Koexistenzielles beigeordnet ist, und das wahre Leben löscht das Nichts nicht aus, sondern konstituiert sich in seiner Wahrheit, indem es dies bejaht und versteht«. 507 Es bliebe dennoch der Zusammenhang zwischen dem »Leben« und »Nicht-Leben« zu klären und vor allem, wie man mit Cacciaris Diskurs überhaupt rechtfertigen kann, dass die Welt, in der wir leben, wenn auch nicht die Beste aller möglichen, doch immerhin als eine kohärente Realisierung eines Mitmöglichen existiert. Es ist die Frage wiederholt aufzugreifen: wie rechtfertigt Cacciari die Existenz, die Tatsache, dass die Welt und der Mensch de facto sind und (bis zum Beweis des Gegenteils) weiterhin positiv im Sein bleiben werden? 508 Vincenzo Vitiello erfasst dieses Problem treffend, indem Givone, Fra necessità e libertà, 234. Es geht also darum, herauszufinden, was für Cacciari das Prinzip vom zureichenden Grund bedeutet, das von Leibniz mit einer thematisierten formalen (und nicht inhaltlichen) Definition formuliert wurde: »Unsere Schlüsse gründen sich auf zwei große Prinzipien: Das erste ist das Prinzip des Widerspruchs […]. Das zweite ist das Prinzip des zureichenden Grundes, in Kraft dessen wir der Ansicht sind, dass keine Tatsache wirklich oder existierend und auch keine Aussage wahr sein könne, ohne dass es einen zureichenden Grund dafür gäbe, dass jene so und nicht anders seien.« Leibniz, Monadologie, § 31 f. 507 508
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er die These Cacciaris vom Un-möglichen als Chiffre für den Anfang ernst nimmt und sie im Gegenlicht betrachtet: »Wir könnten morgen niemals gewesen sein.« 509 Um welchen Preis, so fragt man sich, wird die Freiheit des schöpferischen Aktes und somit die Nicht-Notwendigkeit der Schöpfung gerettet? Offensichtlich um den einer weiterhin problematisch bleibenden Problemfassung: es ist vor dem Hintergrund der Welt und Gottes selbst der Horizont eines indifferenten Mit-möglichen immer offen zu halten, insofern sich dies als die positive Bedingungsmöglichkeit von allem erweist, die zugleich jedoch unausweichlich das permanente Risiko seiner Un-möglichkeit darstellt. Nährt diese Argumentation nicht die Vorstellung, als ob die Unausdrückbarkeit des Einen jenseits allen Wesens am besten dadurch gewahrt werden könne, indem man sie zur Voraussetzung jeder möglichen Willkür macht? Soll dies die beste Art sein, der Freiheit Gottes selbst gerecht werden zu können, die also darin bestünde, die Welt dem ständigen Risiko eines göttlichen Todestriebes bleibend auszusetzen? 2.2.2 Die Interpretation des Agathòn ἐπέκεινα τῆς οὐσίας bei Cacciari und die Aporien seiner Diaporetik Der dritte Flügel des systematischen Triptychons kann als Cacciaris Ontologie gelten. Es scheint, dass in dem Werk Labirinto filosofico die metaphysische Diskussion zum Vorausgesetzten, also zum Anfang, als vorgegeben angenommen worden sei und sich die Abhandlung nun auf die Differenz im Hinblick auf den Status des Wesens konzentriere. Im Zentrum der Schrift steht nicht mehr das indifferente Mitmögliche, sondern nur der positive Aspekt der Möglichkeit, die das, was ist, zu dem macht, was es ist und damit das, was von Cacciari als das Eine-Gute bezeichnet wird. Mit der Annahme der Vorstellung vom Guten als Inhalt der »ungeschriebenen Lehren« Platons bezieht sich Cacciari auf die in Tübingen angestoßene, historisch-hermeneutische Interpretation des platonischen Werks, die von Hans Krämer und Konrad Gaiser ins Leben gerufen und in Italien von Giovanni Reale und der Schule von Mailand, die sich auf ihn bezieht, fortgeführt wurde. Dabei basiert dieser neue Interpretations509 Die meisten Schwierigkeiten der Metaphysik von Cacciari betreffen das Problem der Zeit: vgl. Vitiello: L’im-possibile, 1991, 45–55; 55.
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vorschlag in erster Linie auf die wenigen Stellen im platonischen Werk, in denen ausdrücklich behauptet wird, genaue Vorstellungen bezüglich der Essenz des Guten 510 zu haben – dies trotz der Erklärung, das Wesen des Guten gerade nicht thematisieren zu wollen, aus Angst lächerlich zu wirken. 511 In zweiter Linie fußt dieser Interpretationsgedanke auf einigen historischen Daten der indirekten Traditionen, die belegen und somit bestätigen können, dass Platon eine Übereinstimmung vom Guten und dem Ersten 512 vertrete. Wie zuvor bereits einsichtig gemacht wurde, zeigen Krämer und Reale, inwiefern die Übereinstimmung von Einem und Gutem plausibel als höchste axiologische, gnoseologische und ontologische Maßgabe der platonischen Lehren 513 angesehen werden kann. Cacciari greift seinerseits diese hermeneutische und zugleich textexegetisch explizierte Interpretationsthese auf und schlägt dann – ausgehend von einer vergleichenden Analyse zwischen Stellen aus der Politeia 514 und einigen anderen aus dem Siebten Brief von Platon – vor, den Status des Eine-Agathòn 515 in transzendentaler Lesart zu interpretieren. Platon, Politeia, 506 D 8 – E 3; 509 C 3. Platon, Politeia 506 D 7. 512 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, N 4, 1091b 13–15. Aristoteles selbst bezeugt zum Beispiel, dass Platon in einer öffentlichen Lesungsreihe erklärt habe, »es gibt ein Gutes« bzw. »ein Eines«: Aristoxenos, Elementa harmonica, II, 39 f. Gaiser, Testimonia Platonica, 1963, 7. 513 Es ist auf die hier dargelegte Analyse der zwei wichtigsten Stellen der Politeia (VI, 507 A 7 – 509 C 2; VI, 507 A 7 – 509 C 2) zu verweisen, mithilfe derer, so konnte belegt werden, auf die Doktrin des Guten angespielt wurde: vgl. Erster Teil, Kap. V. 5.3. Man muss dennoch anmerken, dass Platon an diesen beiden Stellen zwar analogisch das Gute-Eine als höchste »Maßgabe« von allem angibt, aber dennoch keine Erklärung anbietet, warum die Dinge so zu verstehen seien. Das war genau die Schwierigkeit, an der sich die traditionelle Interpretation des platonischen Werks abgearbeitet hat, die, um dieses Problem zu umgehen, die Existenz einer anderen verloren gegangenen Schrift Platons angenommen hat, in der er die Grundlagen seiner Doktrin thematisiert hätte. Für eine Vertiefung der Problematik ist zu verweisen auf Reale, Per una nuova interpretazione di Platone, 315–361. 514 Platon, Politeia, VI, 509 B 9. 515 Die Lesart Cacciaris des metaphysischen Textes von Aristoteles kommt nicht ohne innovative Aspekte aus. Entgegen der Verneinung der Transzendenz des Ersten bei Aristoteles unterliegt sein Diskurs nämlich dem gleichen Problem der tatsächlichen Sagbarkeit der letzten Einheit der ousía. Schon an einer Stelle in Della cosa ultima hatte der Autor seine Absicht, der Idee des Guten die Rolle der archè-aitía zuzuweisen, im Kern angelegt, indem er sagt, es sei »[…] die aristotelische próte ousía als radikale Erklärung der Aporie im Drama der Vorstellung vom Guten entlang der Geschichte des Platonismus geltend zu machen. Das Gute muss als tatsächliche ar510 511
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Es ist noch einmal zu wiederholen: So wie das Fünfte (φύσις / οὐσία) die transzendentale Einheit der vier Elemente darstellt (Name, Definition, Bild und Episteme), so zeigt das Agathòn als ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousías) die transzendentale Möglichkeit 516 des Sich-Selbst-Gebens der ousía auf ontologischer Ebene sowie die Übereinstimmung zwischen der ousía und den verschiedenen Prädikationsbeziehungen auf gnoseologischer Ebene. Es scheint also, als ob Cacciari damit diejenige »Instanz« gefunden habe, die das Sein und das Wissen vor dem Zerfall, vor der Implosion, zu retten imstande sei – ein Gedanke, zu dem uns die Vorstellung des Anfangs als einem indifferent Mitmöglichen verleiten könnte. Die Frage, die an diesem Punkt offenbleibt, betrifft die Art, wie das Eine-Gute als ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tês ousíai) genauer zu verstehen ist. Was bedeutet es also, dass das Eine-Gute über dem Sein steht? Und welche Beziehung besteht hier, wenn überhaupt, zwischen jener Annahme und dem Eins-Einen der ersten Hypothese des platonischen Parmenides, die ebenfalls eine Instanz epékeina tês ousíai ankündigt? Nach der Auslegung von Reale, die mit den Prämissen, von denen er ausgeht, durchaus kohärent ist, ist das Sein platonisch vor allem mit der Welt der Ideen zu identifizieren bzw. mit der Vielfalt der idealen, vom Eins-Guten generierten Wesen, ausgehend von der unbestimmten Dyade von Groß-und-Klein (jener, von der die ungeschriebenen Lehren sprechen). 517 Die Funktion des Ersten-Guten besteht dann darin, dem antithetischen dyadischen Prinzip Maß und Grenze zu verleihen und das Sein so als geordnete Mischung von Einheit und Vielfalt zu begründen. Folglich kann jenes chè-aitía gelten, andernfalls trennt es sich von den Wesen und es kann nicht mal mehr ousía genannt werden, also gar nicht mehr sein.« Cacciari, Della cosa ultima, 38 f. 516 Ders., Labirinto filosofico, 120 ff. 517 Wie Konrad Gaiser gezeigt hat, versuchte Platon auch eine mathematische Theorie vom Ursprung der Welt anzubieten. Der erste Ursprung ist die Einheit, von der sich alle Zahlen durch Multiplikation formiert haben (Philebos, 14, C). In dieser Theorie sind die Nummern, die den Ideen entsprechen, vom Kriterium des »mehr« oder »weniger« begrenzt, welches sie präzise von allen anderen Nummern abgrenzt. Die genaue Definition einer Zahl (die weder »mehr« noch »weniger« bezüglich dessen, was ist, ist) kommt platonisch von einem undefinierten Hintergrund des »mehr« und »weniger« bzw. von einer »unbestimmte Zweiheit«. Jene ἀόριστος δυὰς (aóristos dyás) nimmt also die gleiche Rolle der formlosen Materie in Bezug auf den Demiurgen im Timaios ein. Die ursprüngliche Einheit entspräche der Vorstellung des Guten, von der in der Politeia (508a) gesprochen wird. Vgl. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 1963.
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Eine nicht einfach eine ousía sein, sondern muss sich über dem Sein befinden. Es ist offensichtlich, dass die höchste Quelle des Seins, welche die ursprüngliche Dyade vereint und unterscheidet, dem Sein nur vorangehen kann und das, was die metaphysische Voraussetzung darstellt, sich grundlegend vom Bedingten unterscheiden muss. Neben der essentiellen Unterscheidung zwischen Einem-Gutem und dem dyadischen Prinzip des Großen-und-Kleinen drängt Reale dazu hervorzuheben, wie entscheidend der Zusammenhang zwischen diesen beiden metaphysischen Instanzen sei. Zöge man die von der Dyade eingenommene Rolle nicht in Betracht, dann riskiere man, die platonische Henologie in die Strukturen des Pantheismus und Immanentismus zu überführen. Man sähe sich also dazu gezwungen, das EineGute als notwendig wirksame Kausalität bzw. als eine schöpferische Kausalität aufzufassen – und dies entgegen jeder historischen Einsicht, die offenkundig macht, dass jenes Denken erst in christlicher Epoche aufkam. Es ist daher entscheidend, den Status und die Rolle der Dyade zu klären, nicht nur um die platonische Art der Bearbeitung besser verstehen zu können, sondern auch, um auf den Unterschied zu Cacciaris Diskurs aufmerksam werden zu können. Denn die Art des Unterschieds ist in der Figur der Dyade entschieden anders als im Konzept vom Einen-das-ist. Im System des Einen-das-ist besteht der Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit und ist daher eine Form des Widerspruchs, während in der unbestimmten Zweiheit des Großen-und-Kleinen eher eine Gegensätzlichkeit 518 besteht. Das EineGute müsste demnach auf das dyadische Prinzip wirken, welches in sich unbestimmte und ungeordnete Vielheit der Gegensätze (und nicht Widersprüche) ist und von jenem begrenzt und vereint wird. Ist das zutreffend, dann scheint das Eine-Gute zweifellos für Platon die Rolle des Anfangs zu spielen. Können wir das Gleiche für Cacciari behaupten? Oder müssen wir nicht eher das Eine-Gute als Anfangendes definieren? Cacciari definiert das Eine-Gute als vereinendes Prinzip in transzendentalem Sinne sowohl auf ontologischer wie auch auf gnoseologischer und axiologischer Ebene. Es ist das Gute, das, was alles zu dem macht, was es ist, mithin das, was das in der Potenz Stehende zum Aktus bringt und zudem das, was – zugleich eine ko518 Vgl. Krämer, Über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon, 1966, 35–70. Dort wird die Meinung vertreten, dass sich die platonische Dialektik der Unterscheidung der Gegensätze (Dihairesis, Synopse) auf genau diese Beziehung gründe.
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härente Prädikation des Wesens ermöglichend – gleichzeitig dessen Unsagbarkeit rettet. Dieser Explikation zufolge scheint man ausschließen zu müssen, dass dieses Agathòn ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tes ousìas) mit der eleatischen Einheit der ersten Hypothese übereinstimmen könnte und dass Cacciari genau dies als indifferent Mitmögliches deute. Vom Eins-Einen ist keinerlei Form des Wissens möglich, die sich wegen ihrer Natur auf das Eine-das-ist richtet. In gleicher Weise stoßen wir auf weitere Schwierigkeiten, wenn wir das Eine der zweiten Hypothese im platonischen Parmenides mit dem Guten identifizieren müssen. Denn das Eine-Gute als Eines-das-ist zu nennen, bedeutet, den Diskurs in den von Cacciari vorgeblich überwundenen Horizont der Ontotheologie einzubinden, in dem die grundlegende Differenz zwischen Sein und Wesen festgehalten wird. Das aber bedeutete dann, als ob man das Eine-Agathòn als Eines-das-sein-wird interpretierte, als etwas, das als Ermöglichendes in Bezug auf das Sein steht. Es scheint eher so, dass das Eine-Agathòn eine Rolle spielt, die die Figur von Gott-Vater in Dell’Inizio angenommen hatte. So schreibt Cacciari: »Die Art der Möglichkeit gibt nicht der Idee Raum, dass das, was ist auch nicht sein kann, sondern bezeichnet die Macht, die das, was ist, sein macht. Diese Macht ist die der Möglichkeit.« 519 Mit dieser Behauptung wird kategorisch ausgeschlossen, dass die veranschlagte Möglichkeit bedeuten könne, dass das, was ist, auch nicht sein könnte. Es wird also eine positive Instanz bejaht, die die Unbestimmtheit des mitmöglichen Anfangs überwindet und die Bedingung der Möglichkeit zur Erhaltung des Seins und des Erkennens darstellt. Es ist jedoch fraglich, ob auch dem Gewicht dieser Behauptung im Werk Labirinto filosofico eine ebenso starke theoretische Rechtfertigung folgt. Anders ausgedrückt: Was führt dazu, dass der positive Aspekt der Möglichkeit die unendlich anderen negativen Aspekte des mit-möglichen Anfangs in dieser Hinsicht doch überwiegt? Wodurch ist das kategorische Verbot legitimiert, zu denken, dass das, was ist, nicht sein kann? Wenn das stimmen sollte, muss man dann nicht behaupten, dass die positive Möglichkeit eine in irgendeiner Weise höhere Potenz hat als jene der Indifferenz des Anfangs? Die Behauptung Cacciaris erweist sich nur dann als plausibel, wenn die Idee des mit-möglichen Indifferenten die gleiche Rolle einnimmt wie das Prinzip der unbestimmten Dyade in der platonischen Sichtweise. Bei beiden Konzep519
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Cacciari, Labirinto filosofico, 303.
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ten, die dem Horizont des Seins vorangehen, geht es um metaphysisch gegensätzliche und widersprüchliche Elemente. Dennoch bleibt diese Analogie zwischen den beiden Konzeptualisierungen problematisch. Erstens, weil das indifferente Mitmögliche von Cacciari als Bedingungsmöglichkeit des Eine-Guten definiert wird, das seinerseits die Bedingungsmöglichkeit von allem ist, was ist. Und zweitens, weil Cacciari, wenn er die hier vorgelegte Hypothese annähme, akzeptieren müsste, dass das Eine-Gute in Wirklichkeit Anfang ist und damit den Ergebnissen des Neuplatonismus und der christlichen Theologie Recht gäbe. Die Intention von Cacciari ist aber, das Erscheinen der Wesen als direkte Offenbarung der Einen-Möglichkeit zu rechtfertigen, jenes metaphysischen Aspektes, der positiv eines der ewig im Anfang gleichzeitig vorhandenen Mitmöglichen realisiert. Man fragt sich, ob man so nicht auf anderem Wege wieder in das gleiche schellingianische Muster verfällt, d. h. in die erste Bestimmung, mit der laut Schelling das Denken das Eine erfasst, das Seynkönnende. Das aber ist zweifelsohne nicht die Absicht Cacciaris, zumal er sich in seinen ersten beiden Hauptwerken darum bemüht, die Idee des Anfangs als reine Möglichkeit zu verteidigen, nicht als Indifferenz von Potenz und Aktus (also nicht im Sinne der Lehre von Schelling, die Cacciari in diesem Zusammenhang explizit kritisiert), sondern als Möglichkeit, die jeder Form der Beziehung zum zukünftigen Sein vorangeht, eine Möglichkeit, die nun im Werk Labirinto filosofico, was ihren positiven Aspekt angeht, als transzendentale Voraussetzung von allem, was ist, bezeichnet wird. So gesehen resultiert die Interpretation von Cacciari letztlich, und zwar als eine äußerst reflektierte Variante, aus der Auseinandersetzung mit dem traditionellen gradualistischen Modell des Neuplatonismus – dies insofern, als der Anfang (Unum-Unum) als Bedingungsmöglichkeit des Einen-Guten angesehen wird, wobei dieses seinerseits wiederum die Bedingungsmöglichkeit des Einen-das-ist bildet und sich so als das Ergebnis kohärenter Prädikationsbeziehungen zwischen ousía und Kategorien darstellt. Auch wenn die dimensionale Differenz zwischen diesen metaphysischen Ebenen ungemein groß ist, so bleibt unter ihnen doch eine ebenso große negativ-apophatische Analogik: So wie der Anfang unzugänglich bleibt, obwohl er die Bedingungsmöglichkeit des Einen-Guten ist, so bleibt dieses für das Sein-das-ist unerreichbar. Obwohl die ousía die Voraussetzung der fünf Elemente des Wissens ist, ist sie letztendlich für die propositionale Logik nicht greifbar. Ungeachtet der unbestreitbaren Der Anfang als Freiheit
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Originalität des metaphysischen Denkens von Cacciari ist dessen in Anspruch genommener Kohärenzrahmen stark beeinträchtigt durch die in diesem Sinne mangelhafte – wenn auch scharfsinnig ausgeführte – Vertiefung wie auch Klärung des Übergangs vom EinsEinen als indifferent Allmöglichem zu dem Eins-Guten. Zwar unterstreicht der Autor in seinem Werk Labirinto filosofico die ›Macht‹ des Guten als einigendem Prinzip im transzendentalen Sinne, aber er unterlässt es, darüber nachzudenken, wie fragil diese Behauptung im Gesamtkontext seiner Diaporetik bleibt – und auf dem von ihm eingeschlagenen Weg auch bleiben muss. Ungelöst bleibt auch, so ist hier festzuhalten, das Problem der genauen explikativen Ausführung des Verhältnisses von Anfang und Anfangendem-Guten als jener positiven Instanz, die das Seindas-ist realisiert und sich der metaphysischen Zersetzung entgegenstellt. Damit aber kehrt dasselbe Problem zurück, das sich in Dell’Inizio um die Figur des Vaters als Anfangendem und näherhin um die Rede vom Todestrieb, die bleibende Tendenz zur Ver-Nichtung, drehte. Solange für Cacciari gilt, dass das indifferent All-Mitmögliche die offene Voraussetzung für alles Weitere ist, und er somit den Primat der positiven Möglichkeit (sei es Gott Vater oder das Eins-Gute) über jenes nicht anerkennt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Möglichkeit offen zu lassen, dass alles einer totalen Ent-schaffung, Vernichtung (decreatio), ausgesetzt ist und bleibt und dass selbst das Agathòn ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (epékeina tes ousìas) vom Unmöglichen des Anfangs mitgerissen wird und damit aufhört, seine Macht auszuüben. Andernfalls jedoch wäre er gezwungen, den Primat des Eins-Möglichen über den Anfang zuzugeben – eine Überlegenheit, die die ewige Konsistenz der Dinge im Sein garantierte und somit dem Sog der Verunmöglichung entzöge. Damit müsste er in die Behauptung einwilligen, dass das Gute das genuine Sein und den wahren Anfang (archè) darstelle – eine Sichtweise, wie sie der christlichen Rezeption des Platonismus vertraut ist.
2.2.3 Die »indifferente All-Mitmöglichkeit« als formale Unbedingtheit der menschlichen Freiheit und deren Aporien Der formal unbedingte Charakter der endlichen Freiheit steht im Mittelpunkt der existentiellen Analytik, die Cacciari im zweiten Teil von Della cosa ultima ausführt. Obwohl Vernunft als eine derartige 238
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Unbedingtheit nicht aufgewiesen werden kann – da sie durch die konkreten Verwirklichungen materieller Freiheit ständig bedrängt ist – bleibt sie eine unvermeidbare Voraussetzung des philosophischen Denkens. Die Antinomien, die die konkrete Ausübung von Selbstreflexion und Entscheidungsfreiheit des Menschen charakterisieren, widerlegen – nach Ansicht von Cacciari – überhaupt nicht die formale Existenz des Unbedingten; im Gegenteil, sie beweisen ex negativo seine Existenz inmitten der Tätigkeit des Subjekts. Auf den ersten Blick scheint ein solches Urteil jene Freiheitsdialektik wiederaufzunehmen, die von Paulus (Röm 7,19) über Thomas von Aquin und Immanuel Kant bis hin zu Søren Kierkegaard und Maurice Blondel führt. Einem genaueren Blick zeigt sich hingegen, dass sich Cacciari gerade gegen dieses Interpretationsmodell wendet. Er lehnt alle diejenigen philosophischen Lösungen ab, die das Faktum der Freiheit durch eine Untersuchung der antinomischen Selbstbewegung des Willens abzuleiten (und es von da her auf einen positiven Gehalt zu reduzieren) versuchten, der dabei auf ein gegebenes Wahres oder Gutes zurückweist. Gemeint sind vor allem Thomas von Aquin, der ein Denkmodell nahelegt, wonach die Freiheit sich durch das Verlangen nach Seligkeit (beatitudo) erweist, und auch Kant, der die Freiheit als transzendentale Möglichkeitsbedingung voraussetzen muss, um die moralische Pflicht zu legitimieren. Im Gegensatz zu diesen Lösungen – die laut Cacciari in Schopenhauers noluntas die Spitze ihrer kritischen Bestätigung ex negativo gefunden hätten – kommt Cacciari auf Nietzsches Schlüsselkategorie des Willens-zur-Macht zurück. Von ihrer formell unbedingten Seite her sollte man Freiheit als eine Energie des steten Neubeginns denken, welche wesenhaft keinen äußeren Grund, keinen heteronomen Gehalt oder Wert kennt, außer demjenigen ihrer eigenen Spontaneität bzw. des bloß Möglichen. Im Prinzip kann nichts die Bewegung formaler Freiheit verhindern: Sie ist nämlich das Vermögen, sich zum Ganzen im Allgemeinen ohne Einschränkung verhalten zu können. Um diese Auffassung der formalen Unbedingtheit der Freiheit darzustellen, nimmt Cacciari Nietzsches Gestalt des Kindes wieder auf, die als eine Ikone des All-Mitmöglichen des Anfangs verstanden wird. Im unschuldigen, freien, absichtslosen Tanz des Knaben ergebe sich der Sinn einer Freiheit als einem radikalen Sich-Öffnen in alle Richtungen des Möglichen (und daher auch des Unmöglichen). Allerdings kann man von der materiell bedingten Freiheit des Menschen
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nur wissen, dass sie nur insofern existieren kann, als sie jeweils eine besondere Option wählt und dabei gegen die anderen sündigt. 520 Anders ausgedrückt: der Wille-zur-Macht ist unabwendbar auf Kontingenz angewiesen. Er strebt danach, seinen unbedingten (und ihn motivierenden) Formalgehalt zu verwirklichen, nämlich das All-Mitmögliche; aber eben dies vermag er nicht zu vollziehen. Denn die endliche Freiheit entdeckt sich immer ›schuldig‹ gegen das Unbedingte sowie auch gegen die vielen anderen Optionen, die sie hätte wählen können. Es erhebt sich hier die radikale Verzweiflung endlicher Freiheit, ihre latente Hoffnungslosigkeit ohne Aussicht auf Erlösung. Indem er eine mögliche Strategie aufzuzeigen versucht, um dieser metaphysischen Unmöglichkeit standhalten zu können, legt Cacciari auf ganz eigene Weise die theologische Idee der Gnade aus, die in der Freiheit des Sohnes inkarniert ist. Denn die Übertragung von der unbedingten Freiheit des Kindes im Sinne von Nietzsche auf bedingt eingelöste Freiheit wäre erst von der Figur Christi her denkbar. Der Sohn stelle nämlich die Spitze der Menschheitsgeschichte dar, indem seine materiell bedingte Freiheit das Erfordernis einer formell unbedingten Freiheit repräsentieren könne, derjenigen des Kindes bei Nietzsche. Christus sei daher die Ikone der unbedingten Freiheit, des schlechthinnigen ›Gebers‹, also das indifferente All-Mitmögliche, das die Ganzheit der Seienden in der Unendlichkeit alles Möglichen sein lässt. Cacciari betont in seiner christologischen Lektüre auf auffallende Weise den radikalen Gleichmut des Sohnes gegenüber dem Ergebnis seines Opfers: Dies sei ein Zeichen seiner elementaren Selbstvergessenheit und der großen Freiheit, die er den Adressaten seiner Verkündigung gelassen und zugetraut habe. Die Freiheit Christi stellt also eine Gabe und Großmut aus, die die Möglichkeit eines Widerstandes des Menschen immer schon einräumt. In diesem Sinne wäre er zwar der Befreier, aber »ohne jeglichen Willen-zur-Erlösung«. 521 Von einem metaphysischen Standpunkt aus scheint der Autor die Idee einer Unbedingtheit der Freiheit in Anlehnung an Kant und Nietzsche wiederbeleben zu wollen – und dies nach der Krise des on-
Ders., Della cosa ultima, 306 f. Vgl. ebd., 319. Die gleichen Überlegungen tauchen – wie zu sehen war – gegen Ende der Schrift Gewalt und Harmonie (163–172) auf, wobei die Gestalt des untergehenden Menschen (oder des ›neuen Menschen‹ Europas) bei Nietzsche neben die Bilder des Adlers bei Eckhart und des kenotischen Handelns Christi tritt. 520 521
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tologischen Paradigmas und der versöhnenden Dialektik idealistischer Herkunft. Sicherlich ist es verdienstlich, eine dezidiert von der Moderne abgewiesene, und somit kaum erforschte Fragestellung aufzugreifen. Und dennoch stößt – so die eingenommene Perspektive hier – Cacciaris existentielle Analytik der Freiheit auf dieselbe Schwierigkeit, die sein metaphysisches Denkgebäude von Anfang an kennzeichnet und nach den Darlegungen in Dell’Inizio unlösbar bleiben muss. Es ist, als ob in seiner Analytik der menschlichen Freiheit das metaphysische Pathos des Unum-Unum jenseits aller Beziehung ein Echo fände. In aller Kürze gesagt: Die Aporie ist durch die Unmöglichkeit entstanden, die Ideen einer sowohl formell als auch materiell unbedingten Freiheit zu vereinen. Laut Cacciari scheint es nämlich, dass jeder Entschluss, der sich vom bloß Möglichen (sei es des Anfangs oder des Willens-zur-Macht) zu einem konkreten Gehalt entscheidet, dazu bestimmt sei, das Unbedingte zu verraten und die Freiheit unmittelbar in Schuld und Verzweiflung fallen zu lassen. Es gibt also keinen Gehalt, der eine transzendentale Größe darstellen, der formalen Freiheit eine entsprechende Verwirklichungsform erlauben oder einen konkreten Akt setzen könnte. Nimmt man also Nietzsches Willen-zur-Macht als Symbol der formell unbedingten Freiheit an, wird man auf einen in sich guten Gehalt der Freiheit verzichten, jeglichen vorbestimmten Wert oder Grund aufgeben und alles dem freien Spiel des Möglichen jenseits von Gut und Böse überlassen. Nimmt man umgekehrt einen entsprechenden Gehalt der Freiheit an, wird man alsbald zu einem Prinzip gelangen, mit der Folge, dass der Anfang kein indifferentes All-Mitmögliches mehr wäre und das Ich nicht mehr der einzige Schöpfer seiner Realisierung sein dürfte. Um einen unbegrenzten Raum möglicher Freiheitsakte zu garantieren, wird man ein doppeldeutiges Bild von dieser Freiheit entwerfen müssen, die rasch als ›schuldig‹ erscheint, als ob sie durch ihre materielle Verwirklichung zur Widerlegung ihrer eigenen formalen Spannung bestimmt sei. Kann man also weder einen angemessenen Inhalt der Freiheit festlegen noch die Erfüllung eines solchen Inhalts erhoffen, wie kann der Mensch (und folglich Cacciaris Auffassung vom Anfang) 522 der 522 Indem er den Anfang als indifferente All-Mitmöglichkeit definiert, lässt Cacciari in der Schwebe, ob und wie dieser Anfang dem unbedingten Streben der Freiheit nach Vollendung entgegenkommen könnte. Denn nichts kann den Anfang zwingen, dem Unbedingtheitsbedürfnis endlicher Freiheit zu genügen, obwohl es tief in ihr angelegt
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Gefahr entrinnen, sich als ›ins Dasein geworfen‹ zu begreifen oder (so mit Hegel) einer ›schlechten Unendlichkeit‹ zu verfallen? Läuft dann nicht eine solche Auffassung der Freiheit als unbedingtes Sich-Öffnen (der gegenüber jeder konkrete Gehalt ein Verrat wäre) Gefahr, sich als eine leere Formalität zu erweisen? 523 Nach Ansicht von Cacciari liegt gerade hier der Grund dafür, dass die Freiheit ein tragisches Schicksal kennt: Der Mensch spürt ein formales Streben nach dem Unbedingten; er weiß aber, dass es keine inhaltliche Erfüllung gibt, welche seiner inneren Bestrebung wirklich entspräche. Es stellen sich hier auch anthropologisch etliche Fragen. Da die unbedingte Freiheit lediglich auf bedingte Weise verwirklicht werden kann und jede Erfüllung solcher Freiheit (sei es in der Freiheit des Anderen, der Politik oder im Recht) zu einer Enttäuschung führt, wäre der Mensch dann zur Hoffnungslosigkeit bestimmt? Sollte man also denken, dass das Unbedingte eine Strafe oder etwas Absurdes für die Freiheit des Menschen sei, statt eine Verheißung? Wäre es wirklich so, zu welcher Form moralischer Verbindlichkeit führte dann eine solche Interpretation? Und wie ist es mit einer solchen Perspektive überhaupt möglich, die Evidenz autonomer moralischer Pflicht zu begründen? Wie ist es dann möglich, nicht nur sich selbst zu entsprechen, sondern auch den anderen Trägern einer unbedingten Forderung? Da heute der Begriff Nomos als problematisch angesehen wird und der Zusammenhang ist. Es gibt deshalb auch keine Garantie, dass diese unhintergehbare Urspannung sinnvoll ist. Darin besteht das Herz der metaphysischen Skepsis im Denken von Cacciari. Deshalb ist, so das Ergebnis der Überlegungen hier, die Identifikation widersprüchlich, die er in Labirinto filosofico zwischen dem Anfang, also dem Unum-Unum der ersten Hypothese des Parmenides, und dem Guten (aus dem Siebter Brief des Platon) vollzieht. Vgl. bes. Zweiter Teil, Kap. I, 2.2.2. 523 Besonders treffend sind die kritischen Ausführungen von Hermann Krings, der den immanenten Widerspruch einer derartigen philosophischen Position betont: »Fragwürdiger ist der Ausdruck: ›Der Wille gibt sich selbst einen Inhalt‹. Denn wird er derart verstanden, dass der Inhalt aus der bloßen Form des Willens stamme, so liegt ein Widerspruch vor, weil dieser Inhalt streng genommen ein inhaltsloser Inhalt wäre. Die bloße Form des Willens wäre zwar nominell als Inhalt deklariert, doch die Selbstbestimmung wäre zu einem leeren Formalismus entwertet. Der Ausdruck kann aber auch nicht bedeuten, dass der Wille je eine neue, noch nie dagewesene Inhaltlichkeit originär erfinden müßte; wie jede Originalitätssucht wäre auch diese transzendentale Verpflichtung zur Originalität durch ein starkes Moment von Fremdbestimmtheit gekennzeichnet, da der Blick ständig auf das Dagewesene gerichtet sein müßte, um des entscheidenden Merkmals des Noch-nicht-Dagewesenen sicher sein zu können. Der Ausdruck ›der Wille gibt sich selbst einen Inhalt‹ hat objektiv verstanden keinen Sinn.« Krings, System und Freiheit, 172.
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zwischen auctoritas und potestas sich unausweichlich auflöst – wie Cacciari in seinen politischen Schriften treffend diagnostiziert hat – bleibt uns deshalb keine weitere Möglichkeit, als Nietzsches Gedanken vom untergehenden Menschen zu folgen? Ist dieser ethische (oder asketische) Aufruf zum Verzicht auf jede starke Identität und auf jeden Wahrheitsanspruch nicht gar zu schwach, um die Willkür bzw. die Gefahr des politischen Dezisionismus zu bannen, der sich in die ›schlechte Unendlichkeit‹ verlöre oder als bloß heteronomes Gesetz auffasste? Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Prüfstein für sein metaphysisches Vorhaben letztlich die anthropologische Dimension ist, nämlich die Antwort auf Kants Frage: Was darf ich hoffen? Hier zeigen sich alle Konsequenzen aus der Art und Weise, wie das Unbedingte der Freiheit und ihre Erfüllung erfasst wurden. Diesbezüglich scheint Cacciaris argumentativer und theologischer Bezug auf die Gestalt Christi nicht geeignet zu sein, die inhaltlichen Schwierigkeiten seiner Analytik der Freiheit in Angriff zu nehmen (und zu lösen). Denn Cacciari bestimmt die christologischen Haltungen der ›Gabe‹ und ›Vergebung‹ als Existentialien einer materiell unbedingten Freiheit, die in einer analogischen Beziehung zu einer wesentlichen ›Eigenschaft‹ des All-Mitmöglichen stehe, nämlich der Indifferenz. Diese Argumentation scheint aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst zeigt sich die Bezeichnung der ›Indifferenz‹ als wesentlich zweideutig. Einerseits zielt sie darauf ab, die Form des Anfangs jenseits aller Bestimmung auszudrücken, andererseits aber fügt sie auch etwas Inhaltliches hinzu: Der Anfang sei indifferent in seinem Sich-Hingeben. Damit wird dem Anfang immer noch die Eigenschaft eines ›Gebers‹ zugesprochen. Vorausgesetzt, dass Cacciari eine solche Analogie als transzendental begreift, lässt die Zuschreibung dieser Eigenschaft zum Unum-Unum seinen Diskurs unvermeidlich in die oben erwähnten Aporien zurückfallen, in die unrechtmäßige Zuschreibung eines positiven Inhalts im Blick auf das Jenseitige allen Inhalts (oder – mit Cacciari ausgedrückt – zu dem, was Anfang, aber nicht Anfangender ist). Genau besehen, spiegelt sich diese Zweideutigkeit auch in der Dialektik menschlicher Freiheit. Die ›Indifferenz‹ scheint dabei sowohl die Form als auch den angemessenen Inhalt der Freiheit ausdrücken zu können. Auf formaler Ebene entspricht die Freiheit – Wille-zur-Macht genannt – einer unbedingten Eröffnung zum indifferenten All-Mitmöglichen; auf materieller Ebene gewinnt sie die höchste Form ihrer Verwirklichung in den Haltungen der Der Anfang als Freiheit
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›Gabe‹ und ›Vergebung‹. Daraus entsteht die Frage, ob nicht gerade Gabe und Vergebung Gegen-stände und damit Träger eines positiven, keinesfalls gleichgültigen Inhalts seien. Denn weder die Gabe noch die Vergebung können ohne Beziehung zu einem Gegen-über durchgeführt werden. Davon wird später noch die Rede sein. Zweitens entleert Cacciari das Erlösungsereignis jeder theologischen Relevanz. Christus, als eine der unendlich-möglichen Äußerungen des Anfangs aufgefasst, befreie den Menschen in keiner Weise von seiner Schuldigkeit. Der Sohn spielt eher die Rolle des »Freigeistes« bei Nietzsche: Er stellt das höchstmögliche Maß stoischer Freiheit dar, das der Mensch verkörpern kann. Aus dem Verhalten Christi schlägt Cacciari eine Art minima moralia vor, wie die Haltungen des Gebens und Vergebens, die beim Leben unter den Bedingungen einer nicht zu beseitigenden metaphysischen Schuldigkeit von Nutzen seien. Die Schicksale der Freiheit des Sohnes wie der Menschen bleiben in diesem Sinne äußerst tragisch, ohne jegliche Möglichkeit einer Erlösung. Im Lichte solcher Erwägungen ist klar, wie weitgehend Cacciaris Analytik der unbedingten Freiheit von seiner Bezeichnung des Anfangs als differenzloser Einheit betroffen ist. Die formale Freiheit des Anfangs (und analog des Einzelnen), die »im Singular« gedacht wird, scheint alles zu vermögen. Die materielle Freiheit des Anfangs (welche nach Cacciari derjenigen des Anfangenden-Gottes entspreche), ebenso wie die Freiheit des Subjekts sind hingegen stets der metaphysischen Schuldigkeit ausgesetzt, der gegenüber die einzig mögliche Haltung die der Stoiker bleibt (die einer all-mitmöglichen Indifferenz). Und dennoch belegt die neuzeitliche Transzendentalreflexion über das Subjekt seit Kant bis zur Neubewertung der wesentlich relationalen Struktur der Freiheit (E. Levinas, H. Krings), dass die Freiheit lediglich ›im Plural‹ existiert, obwohl oder gerade weil sie das Eigentliche des Einzelnen darstellt. Es fehlen in Cacciaris Werk nicht Textstücke, in denen er die metaphysische Relevanz der Begegnung zweier Subjekte betont, und dies in der Erfahrung des Selbstbewusstseins wie des politischen Lebens (so im Archipel Europa). 524 Nur, dass er das ursprüngliche ›InBeziehung-Sein‹ der Freiheit nie als argumentative Instanz gelten lässt, also die Tatsache, dass Freiheit ursprünglich durch die BegegVgl. Cacciari, Della cosa ultima, 210–254; Ders., Gewalt und Harmonie, 131–172; Ders., Der Archipel Europa, 150–160.
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nung mit einer anderen Freiheit vermittelt ist. Summa summarum: Was Cacciari von einer positiven Neubewertung des ursprünglichen In-Beziehung-Seins der einzelnen Freiheit abhält, ist seine Auffassung des Anfangs, sowie der Gedanke, dass die kontingente Begegnung von zwei Freiheiten (die formell unbedingt, aber materiell bedingt sind) von sich aus die konstitutive Antinomie der Freiheit als endlicher nicht lösen kann. In seiner Rede wird das Zusammenspiel von endlichen Freiheiten darum beschrieben, um die Unmöglichkeit einer unbedingten Freiheit auf materieller Ebene zu zeigen, und eben nicht um zu überprüfen, was das Postulat der Unbedingtheit bedeuten könnte. 525 Cacciari versichert also, das unverzichtbare Streben menschlicher Freiheit nach dem Unbedingten anzuerkennen, behauptet aber zugleich, dass seine Erfüllung undenkbar bleibe. Seine ganze Metaphysik dreht sich um diese Antinomie, ohne dass er sie lösen könnte (oder wollte). Diese Antinomie bleibt – meines Erachtens – die instantia crucis der Vernunft und der menschlichen Freiheit, das entscheidende Element, das eine andere Auffassung des Anfangs als vollkommene Freiheit und Erfüllung kontingenter Freiheit nicht nur möglich, sondern auch plausibel macht. All dies steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens an einen freien und schöpferischen Gott; eine Auffassung, die über alle von Cacciari erhobene Kritik der theologischen Lehre hinaus eine mögliche Antwort auf jene unvermeidbare Frage bietet, die den Kern seiner existentiellen Analytik der Freiheit darstellt.
Zur Neubewertung von Freiheit innerhalb des transzendentalphilosophischen Rahmens ist Hermann Krings zu erwähnen: Ausgehend von der Anerkennung eines absoluten Wertes des Anderen, der mich unbedingt angeht, verweist er auf die Frage nach dem Ursprung solcher Unbedingtheit und gelangt von da aus zu einer Rede von Gott, der als vollkommene Freiheit und als Anfang und Erfüllung der endlichen Freiheit gedacht ist – damit geht er weit über die kritische Diagnose Cacciaris hinaus, wonach die christliche Theologie unüberwindlich abhängig von der Ontotheologie und dem Apophatismus sei: Krings, Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken, 161–184. 525
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Kapitel III Theologischer Aspekt: Die theologischen Herausforderungen der Diaporetik
3.1 Cacciari zum Dilemma der theologischen Anfangslehre An der eindringlichen Auseinandersetzung mit dem Problem des Anfangs kann man sehen, wie viel Aufmerksamkeit Cacciari auch den Folgen noch widmet, die der Gedanke der Gleichsetzung von ›Anfang‹ und ›Ursprung‹ in der Rezeptionsgeschichte nach sich gezogen hat – angefangen bei den Kappadokischen Vätern bis hin zur gesamten Geschichte des theologischen Denkens. Das Problem, die Beziehung zwischen diesen beiden Konzepten zu denken, war schon seit der mittelplatonischen Tradition bekannt, die im Unterschied zum westlichen Neuplatonismus die wesentliche Unterscheidung zwischen dem unsagbaren Eins-Eins (Anfang) und dem Einen-das-ist (Ursprung) beibehielt. Um den starren platonischen Dualismus zwischen der Welt der Ideen und jener der Materie zu überwinden, stimmen die mittelplatonischen Systeme dahingehend überein, dem Einen ὑπερούσιον (hyperoùsion) ein alternatives Einheitsprinzip beizugesellen, das die Funktion hat, die Beziehung zwischen intelligibler Sphäre und der Welt in Einklang zu bringen. Der Name dieser Instanz ist νοῦς (Noùs). Er entspricht, wie sich in der Schrift Timaios findet, dem Demiurgen, der von Platon auch als göttliche Vernunft definiert wird. 526 Dem Noùs kommen also zwei grundlegende Funktionen zu: Die Erkenntnis als Vereinigung von Subjekt und Objekt, sowie die Kausalität als Vereinigung von Denken und Materie. Der Noùs erweist sich darin als ›gut‹, dass er jede Sache sie selbst sein lässt – analog zum transzendenten Gut-Einen, von dem er selbst ausgeht. Folglich ist der Noùs notwendig daran orientiert, sich zugleich zu reflektieren, zu verneinen und zu bestimmen, er ist die notwendige Vermittlungsinstanz zwischen der intelligiblen Sphäre und der materiellen Welt und zeigt gerade deswegen Merkmale, die analog zu den 526
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Platon, Timaios, 28 A – 29 A.
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Zuschreibungen zum Einen-das-ist der zweiten Hypothese des platonischen Parmenides sind. 527 Mit dem Rückgriff auf den Noùs versucht die mittelplatonische Tradition die Unsagbarkeit des UnumUnum aufrechtzuerhalten. Die christliche Theologie unterließ es, auch da, wo sie vom neuplatonischen Modell inspiriert wurde, das entscheidende Problem der Differenz von dem Einem-Einem und Einem-das-ist anzugehen und hat eine spekulativ schwierige Operation vollzogen: Sie hat die Willensmerkmale des νοῦς (Noùs) auf den Anfang angewendet bzw. auf das, was eigentlich das Eine über jedes νοηθών (noetòn) und jedes Wesen hinaus bleiben sollte. So »[…] scheint es, dass die christliche Theologie die volitiv-prohairetischen Eigenschaften des Demiurgs mit dem verwechseln muss, der ›nur‹ gut ist, mit der Güte des Einen«, 528 – dies geschieht mit der direkten Konsequenz, dass das »Unum immensum sofort mit dem existentialiter Unum identifiziert wird und mit dem Namen des Vaters bezeichnet wird.« 529 Das unausweichliche Ergebnis einer solchen Entscheidung war die onto-theologische Bestimmung des Anfangs in der Identität von Sein und Gott. Während der griechische Mittelplatonismus also noch zwischen Unum und Esse unterschied und kohärenterweise die Wirkung des Noùs auf das Sein als notwendig bestimmte, weist die christlich-lateinische Theologie dem Anfang-Gott die gleiche metaphysische Rolle des neuplatonischen Noùs zu, behauptet aber zugleich die absolute Freiheit des schöpferischen Akts. Mit anderen Worten: Obwohl der Anfang dieselben Kennzeichen des platonischen Noùs hat, indem er notwendigerweise das Gute überträgt, wird der Anfang in christlichen Begriffen schlechthin als frei gedacht, und die Schöpfung gilt als reines Handeln Gottes – ohne von irgendetwas konditioniert zu sein (creatio ex nihilo). Diese Entscheidung bringt offensichtlich ein Problem mit sich: Wie kann man den Gedanken der primären Kausa527 In den Fällen, in denen auch einige Vertreter des Neuplatonismus versuchten, die Kluft zwischen Unum-Unum und dem Verursacherbegriff zu schließen – wie beispielsweise Plotin, der von einer Dynamis des Einen spricht, das aus Überfluss überquillt und ausstrahlt (Enneaden, III, 8, 10) – antizipiert auch der Neuplatonismus denselben Widerspruch, in den sich die christliche Theologie verstrickt: »Wie ist es möglich, das Überquellen des Einen von seinem Quelle- oder Ursprung-Sein essentiell zu unterscheiden? Und ist es damit im eigentlichen Sinne noch Grund?« Cacciari, Primo monologo filosofico. Colloquim salutis, 1996, Anm. 6., 145. 528 Ebd. 529 Ebd., 144.
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lität – welche ewig ist und die Bewegung bei Gott völlig ausschließt – mit der Behauptung seiner ursprünglichen Freiheit zusammenhalten, und zwar einer Freiheit, welche sich irgendwann zur »Ek-sistenz« (d. h. Schöpfung und Erlösung) entscheidet? Um die Widersprüche zu vermeiden, die aus der Gleichsetzung des Begriffspaares AnfangUrsache und der absoluten Freiheit resultieren, haben die Theologen platonischer Herkunft zum Korrektiv der Kategorie der Unsagbarkeit gegriffen, zu dem einer das Geheimnis umgebenden Stille. Aus Cacciaris Perspektive kann dieser theoretische Kompromiss auf spekulativer Ebene dem Widerspruch nicht entrinnen, der die Einebnung des Unterschieds zwischen Anfang und Ursprung verursacht; anders gesagt, dieser Kompromiss kann die radikale Gestalt der anfänglichen Freiheit Gottes nicht wahren. Erstens verwickelt sich die zum Schutz der Anfangsfreiheit (als ihrem Wesen) aufgerufene Stille in einen Widerspruch zu der Bestimmung der äußeren Beziehungen, welche sie gerade als Erstursächlichkeit mit der Schöpfung unterhält. Denn die theoretische Chiffre erweist sich immer noch als diejenige einer Partizipationsmetaphysik. Schließlich bleibt laut Cacciari bei diesem Denkmodell die Beziehung zwischen Stille und Wort durchaus dialektisch. Zweitens, selbst wenn die christlichen Theologen – von neuplatonischer Inspiration angeregt – diese Unsagbarkeit mit dem Trinitätsgeheimnis identifizierten – und daher auf ihrem Unterschied zu den Neuplatonikern beharrten, die den Anfang als Einfachheit ohne Relationalität betrachteten – konnten sie sich nicht gänzlich von ihrer Bestimmung des Anfangs im Sinne eines Ek-sistierens ablösen, aufgrund der Annahme, das Bonum sei notwendig effusivum sui. Um diese Analyse zu stützen, kritisiert Cacciari einige Grundaussagen der Trinitäts- und Schöpfungstheologie. Dabei zielt er darauf ab zu zeigen, dass trotz des ständigen Rückgriffs von Augustinus auf das Unaussprechliche zum Schutz der Transzendenz Gottes 530 dessen 530 Ein Bewusstsein der Unbegreiflichkeit und absoluten Transzendenz Gottes bildet den festen Bestandteil der Überzeugungen von Augustinus. Ihm fehlt durchaus nicht das Bewusstsein für den eminent analogischen Charakter seines trinitarischen Diskurses. Um nur ein Beispiel zu bringen: In der Predigt zur Taufe am Jordan (Sermo LII) behauptet er (Augustinus): »Ich sage nicht, der Vater ist Gedächtnis, der Sohn Verstand, der Geist Wille« (§ 23). Das Ziel seiner ›psychologischen Trinitätslehre‹ ist nicht so sehr die eindeutige Bestimmung der trinitarischen Beziehungen, sondern eher ein folgerichtiger Beweis vom Innewohnen des Deus Trinitas beim Menschen (nach der Dreigliederung zwischen memoria-Gedächtnis, intellectus-Verstand und
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Cacciari zum Dilemma der theologischen Anfangslehre
›psychologische Trinitätslehre‹ paradoxerweise die Prämissen für einen Offenbarungspositivismus gesetzt hat, der dann bei Hegel seinen logischen Höhepunkt finden wird. Ziel der Kritik von Cacciari ist, die von Augustinus angenommene Analogie für die Beziehungen in Gott zu begründen: Diese seien nicht als ein akzidentielles quid zu denken, sondern als etwas Konstitutives für das göttliche Wesen selbst. Denn die Aussage – so Augustinus – dass die relatio non adventitia 531 zwischen den ersten göttlichen Personen analog zu der zwischen ›Gedanke‹ und ›Wort‹ sei, impliziert eine Vorstellung, die die Gleichheit in der Unterscheidung zwischen den trinitarischen Personen (und zwar die Tatsache, dass der Sohn nicht vom Vater unterschieden wird, sondern es ab aeterno ist) nicht erfassen kann; zugleich wird hier auf die väterliche potentia rekurriert, durch sein Verbum sich, den Sohn, die Schöpfung und Offenbarung auszusagen und zu aktuieren. Cacciari hält demnach das Verständnis des homoousion (ὁμούσιον) als Ausdruck des Verhältnisses von Gedanke und Wort für eine Bestätigung ante litteram der hegelschen Dialektik. Diese hermeneutische Entscheidung hat bei Augustinus logische Auswirkungen auf die systematische Organisation der Schöpfung der Welt: Der Wille, sich zur Schöpfung zu bestimmen, ist ganz im ewigen göttlichen Leben angelegt (durch die rationes seminales). D. h., dass der Anfang, so er den Namen Vater trägt, aus seiner eigenen essentiellen Dynamik schöpft, seinem communicativum-Sein, sich schon in der immanenten Trinität eine Art Offenbarungsgeschichte ankündigt. Die psychologische Trinitätslehre von Augustinus wird Schule machen. 532 Seine Entscheidung, die Trinität mittels der Analogie von Einheit-Vielfalt und Denken-Wort verstehen zu wollen, wird im nachfolgenden christlichen Denken aufgegriffen und beispielsweise von Anselm von Canterbury dazu benutzt, die trinitarische Ausformung von der Struktur des Selbstbewusstseins abzuleiten. Es ist dann Hegel, der die letzten Konsequenzen aus diesem theologischen Modell ziehen und dem offenbaren Gott alles Geheimnisvolle absprechen wird. Mit der augustinischen Doktrin ist es Cacciari zufolge Hegels
voluntas-Wille). Vgl. dazu: Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, 118–126; 213–265. 531 Keine Beziehung im Sinne eines akzidentiellen quid, sondern als konstitutiv für das göttliche Wesen: »relativum non est accidens«. Augustinus, De Trinitate, V, 5, 6. 532 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. I, 309. Der Anfang als Freiheit
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Auffassung vom trinitarischen Mysterium und die Vorstellung von Gott als wahrem Unendlichen, bzw. vom Absoluten, das sich als Subjekt selbst setzt, indem es sich gegen das Andere seiner selbst aufstellt, und so zur Denkfigur des triadisch angelegten Absoluten führt, das in sich selbst gleich bleibt. Folglich entspricht die christologische Offenbarung für Hegel der Notwendigkeit des göttlichen Seins, sich selbst im Anderen als dem Bei-sich-selbst-sein zu erkennen. Laut Cacciari ist die von der Spätphilosophie Schellings ausgeübte Kritik an Hegel aus strikt theologischer Sicht gesehen, schwierig anzunehmen. Um die Freiheit des Sohnes zu wahren, verzichtet Schelling in der Tat auf die Untrennbarkeit der Getrennten in principio und legt daher die Homoousie (ὁμουςία) des Sohnes nicht mehr als ursprünglich aus, sondern in der eschatologischen Perspektive eines endgültigen Ergebnisses der geschichtlichen Entscheidung Christi. Unter diesen Bedingungen – so Cacciari – befindet sich die zeitgenössische Theologie (mehr oder weniger bewusst) am Scheideweg zwischen Hegel und Heidegger. Entweder nehme sie weiterhin Hegels Dialektik an, derzufolge das Erscheinen dem Wesen Gottes grundlegend innewohne (und verweigert so die effektive Freiheit der schöpferischen Beziehung und der Erlösung bis zum Eschaton), oder sie folge der von Heidegger erdachten doppelten Entscheidung: Einerseits am ontotheologischen Paradigma festzuhalten, oder seinen Vorschlag aufzunehmen, sich der Ereignisdialektik zuzuwenden. 533 Im ersten Fall finde die Theologie ihre Aufhebung in einem absoluten Wissen; im zweiten Fall sei die Theologie nichts anderes als ein objektivierender Diskurs über das höchste Seiende oder ein schwieriger theologischer Kompromiss mit der heideggerschen Dialektik des Ereignisses; in beiden Fällen löse sich also die Theologie in die Philosophie auf. Beide Lösungen basieren jeweils auf einer typischen Voraussetzung theologischer Epistemologie, infolge derer die Theologie eine positive Wissenschaft sei, 534 wobei das positum dem Revelatum entEbd., 371. Cacciari bezieht sich auf: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, HW V, 105 ff. Heidegger: Phänomenologie und Theologie (1927). In: Gesamtausgabe, Bd. 9, 177–202. 534 Der mittelalterliche Aristotelismus hat dieser Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie große Aufmerksamkeit gewidmet. Der Ausgangspunkt vieler Diskussionen war das von Aristoteles im ersten Buch der Zweiten Analytik (I, 1, 71a12 a) angenommene Axiom, nach dem jede Wissenschaft die Kenntnisform vom Wesen ihres Objekts annimmt. Für eine Vertiefung der verschiedenen Lösungen ist zu ver533
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spricht. Hegel setzt dieses positum in den zur Erscheinung bestimmten Geist hinein. Heidegger schlägt hingegen vor, die Theologie solle sich von aller Positivität (und daher selbst vom Inhalt des Glaubens) und von allem repräsentativen Anspruch lösen und zum Abgrund der Ἀλὴθεια (Alétheia) zurückkehren. Festzuhalten ist, man stößt damit auf ein antichristliches Ergebnis, das jedoch paradoxerweise gerade im Rückgriff auf die Entwicklung der traditionellen Gotteslehre entsteht.
3.2 Schwelle: Stand der Diskussion und weiteres Vorgehen Nach Cacciaris Ansicht ist die Diaporetik eher eine Methode ständiger Herausforderung des Denkens als ein metaphysisches System. Er meint, dass nur ein Philosophieren im Sinne des διαπορεῖν dem höchsten Denken entsprechen kann, nämlich ›dem‹, was jenseits alles Begreiflichen liege und nicht ausgedrückt werden kann. Im Gegensatz zu den Lösungen des onto-theologischen Paradigmas sowie der vermittelnden Dialektik hegelscher Herkunft hat sich Cacciari für eine radikalere Fokussierung der kritisch-transzendentalen Reflexion im Sinne des Kantianismus entschieden und geht dabei bis hin zum Einklang derselben mit einigen Ergebnissen des Denkens von Nietzsche. Mit anderen Worten: Die Vernunft hört gewissermaßen nicht auf, sich selbst als ›Vermögen des Unbedingten‹ zu verstehen und eine ständige transzendentale Reduktion (wie bei Kant) zu durchlaufen, d. h. ein gegebenes Objekt begrifflich auf eine nichtgegebene Instanz zurückzuführen, ohne die das Objekt nicht einmal als möglich gedacht werden könnte. Und dennoch bleibt diese Art transzendentaler Reduktion wesentlich diaporetisch, da die Wahrheit und die Bedeutung des Anfangs das Un-mögliche bleibt (oder mit Cacciari: Das indifferente All-Mitmögliche). Mit Schelling kann man sagen, dass Cacciaris Diaporetik eine ›negative Philosophie‹ ist, die sich mit der (bewussten) Unmöglichkeit, ihren eigenen Grund festzulegen, nicht abfindet, sondern das Unmögliche als ihre eigene Voraussetzung denkt. Sie nimmt auf ihrem diaporetischen Weg sogar die Inhalte der ›positiven Philosophie‹ (und damit des Christentums) auf, als wären sie eine der unendlich möglichen Erscheinungsformen jenes indifferenten All-Mitmöglichen. weisen auf: Biffi (Hg.), Figure medievali della teologia, 2008; Niederbacher – Leibold (Hgg.), Theologie als Wissenschaft im Mittelalter, 2006. Der Anfang als Freiheit
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Obwohl eine derartige Diaporetik, wie gesehen, nicht geringe epistemologische Fragen offenlässt, kann man Cacciari einen wertvollen Beitrag zur Vernunftspekulation im Rahmen zeitgenössischer Philosophie zuschreiben. Zunächst einmal hat er die Evidenz des Unbedingten als instantia crucis der westlichen Philosophie überhaupt in den Mittelpunkt einer kritischen Debatte gestellt; er hat auch gezeigt, inwiefern die selbstständige Vernunft und die endliche Freiheit in ihrer eigenen Selbstreflexivität ein grundlegendes Vermögen des Unbedingten seien. Gegen die onto-theologische Umdeutung des Unbedingten in ein ens necessarium hat Cacciari allerdings schon von seinen Frühwerken an gezeigt, dass der höchste Grund als absolut spontan und unaussprechlich anzusehen sei: Die von der ikonographischen Darstellung oder von einem Kunstwerk ausstrahlende Wahrheit bleibt ein Nichtexistierendes; was die Philosophie am meisten betrifft und worum sie sich ständig bemüht, bleibt irgendwie unerreichbar; was das proprium des Seienden bestimmt, seine haecceitas, stimmt nicht mit den Bestimmungen überein, die die Sprache darüber aussagt; das Maß der Freiheit, die sich in der Gestalt Christi geoffenbart hat, ist Zeichen dafür, dass Gott die ontotheologische Grammatik durchaus überschreitet und daher die Theologie dazu führt, sich von dem Begriff Gottes als Erstursächlichkeit bzw. von einer naturhaft-notwendigen Bewegung definitiv zu befreien. In dieser Kette von heuristischen Kriterien der Spekulation Cacciaris enthüllt sich bei ihm das metaphysisch Wahre, seine phänomenologische Erschließungskraft, seine treffsichere Kritik. An dieser Stelle kann man um der systematischen Vertiefung willen mit Thomas Pröpper fragen, ob »dieser Akt, die Negation des Endlichen als solchem, nicht doch die genuine Leistung der freien Reflexion« 535 sein könnte. »Es wäre eben der Akt, in dem sie staunend durchaus, aber wohl auch mit Erschrecken der abgründigen Faktizität der freien Vernunft und alles Seienden inne wird und die Frage absoluter Begründung aufwirft, ohne sie jedoch beantworten zu können, weil die Sinnprämisse, die dabei im Spiel wäre, von ihr selbst nicht garantiert werden kann.« 536 Das Problematisieren der unerfüllten Sinnprämisse erweist sich als entscheidend: Es bleibt als Kritik stichhaltig, obwohl mit dieser Vernunftkonzeptualisierung verzweifelt versucht wird, das Unmögliche als ihren letzten ›Sinn‹ anzunehmen. 535 536
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Pröpper, Erstphilosophischer Begriff oder Aufweis letztgültigen Sinns?, 191. Ebd.
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Wie sich schon auf epistemologischer Ebene zeigte, fällt Cacciari erst dann in eine Reihe von Widersprüchen, wenn er bei allen durchgeführten Strategien zu gar keiner begrifflichen Bestimmung für den an und für sich unergründlichen Anfang kommen kann. Logisch gesprochen setzt sich die diskursive Behauptung des Anfangs als indifferentes All-Mitmögliches, das das Unmögliche als Kriterium einer unerschöpflichen Wahrheit ansieht, dem Unaussprechlichen vom Unum-Unum dialektisch entgegen; ontologisch gesprochen kann ein solcher Begriff des Anfangs den Übergang zur positiven Möglichkeit, die das Seiende zur Existenz befähigt, nicht adäquat rechtfertigen, und ebensowenig kann er die Fortdauer der Dinge im Sein (das Ἀγαθόν) gewährleisten. Theologisch gesehen wird hierbei eine Gottesidee favorisiert, die nicht mehr ipso facto das Anfangende sein muss; dies hat aber zur Folge, dass selbst das göttliche Leben womöglich einem Todestrieb unterliegen könnte, der es plötzlich zu einem »Nicht-Ort« (dem Anfang) machte und die ganze menschliche Realität mitreiße, als ob sie nie gewesen wäre. Dadurch ist die Freiheit Gottes gewährleistet, aber sie kann die Züge einer äußersten Willkür annehmen, so dass man fragen darf, ob die Freiheit des Menschen damit sichergestellt sei, da dieser plötzlich ja nicht mehr da sein könnte und seine freien Handlungen auf ewig unerfüllt bleiben oder nie gewesen sein könnten. Aus anthropologischer Sicht ist die so veranschlagte existentielle Analytik durchaus problematisch, wenn sie einerseits den unbedingten Charakter der Freiheit formell anerkennt, andererseits die Möglichkeit ihres wirklichen Vollzugs nicht sicherstellen kann, da alles von der Indifferenz des Prinzips abhängig ist. Und auch wenn Cacciari dazu neigt, die Notwendigkeit des Ἀγαθόν als transzendentales Prinzip (Labirinto filosofico) oder die ›Göttlichkeit‹ des Nomos (Νόμος) als Grund aller möglichen politischen Ordnung (Gewalt und Harmonie) anzusehen, wird er doch von der Meinung beherrscht, dass die Verwirklichung eines solchen Ideals für den Menschen höchst unwahrscheinlich sei. Bei Cacciari wandelt sich die postmoderne Resignation 537 vor der Bestimmungslosigkeit des Anfangs und des Ichs zu einer eingehenden diaporetischen Untersuchung, die trotz allem einen nicht durch537 Vgl. De Candia, Wandlungsprozesse des Christentums in Mitteleuropa, 2015, 120–128.
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greifend reflektierten Dogmatismus zeigt. Denn einmal zum metaphysischen Prinzip erhoben, macht der Skeptizismus jeden Wert gleichgültig, da (all-mit)möglich, und so wird er paradoxerweise zu einer neuen Form von tragisch-aporetischem Fatalismus – und dies wirkt sich auch auf der Ebene der Politik aus. So gesehen wird noch deutlicher, dass die Konzeptualisierung von Vernunft – schon bei Kant als Vermögen des Unbedingten angenommen – die Frage nach dem Sinn ihres Daseins und dessen Legitimierung nicht völlig beseitigen kann. Denn sie ist gerade als Vernunft – so die hier nun weiter zu entwickelnde Perspektive – durchaus in der Lage, selbstständig und scharfsinnig die Frage nach der Freiheit des Anfangs zu formulieren, aber de facto kann sie keine angemessene Antwort geben, solange sie sich nicht von der Weise einer illusorischen Selbstbegründung befreit – wenngleich auch dies unter dem Schein eines radikalen Verzichtes auf jeglichen Grund versucht wurde. Offensichtlich wird hier systematisch ein Punkt erreicht, der den radikalen Unterschied zwischen den Möglichkeiten der philosophischen Reflexion und jenen der christlichen Theologie sichtbar macht, die ihre Wahrheit durch die Selbstmitteilung Gottes oder das ihr begegnende Unbedingte erhält. Es ist freilich nicht Auffassung dieser Arbeit, diese Asymmetrie zwischen selbstständiger Reflexion und theologischer Offenbarung, wenngleich ihr weiter nachgegangen werden soll, sie bereits auch schon für grundsätzlich gelöst zu halten. 538 Es scheint hingegen für beide perspektivisch umrissenen Zugänge angemessen zu sein, ihr gegenseitiges Beieinandersein angesichts der Anfangsfrage genauer zu klären. Tatsächlich ist Vernunft nicht in der Lage, von sich aus das Faktum der menschlichen Freiheit zu beweisen, umso weniger das einer freien Kausalität; aber ebenso wahr ist, dass gerade die von Cacciari erwähnten Autoren (Kant und Schelling), die bei ihm als Vertreter eines ›progressiven Abdriftens‹ 539 von dem ehedem eingespielten Denken des Anfangs gelten, diese unmögliche Pflicht der Vernunftspekulation mutig auf sich genommen und als Landvermesser ein Areal abgesteckt haben, was und wie man über den Anfang zu denken vermag. Es geht also darum, die intellektuelle Erfahrung sol538 Zur Ünterstützung dieser Annahme ist zu verweisen auf die Beiträge von Klaus Müller: Über das rechte Verhältnis von Philosophie und Theologie, 1999, 75–93; Ders., Wieviel Vernunft braucht der Glaube? 1998, 77–100. 539 Vgl. Cacciari, Filosofia e teologia, 1995, 413.
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cher Autoren hinsichtlich des Abgrunds der Vernunft mit einer neuen Brille zu lesen und dabei auf einige von Cacciari kaum behandelte Aspekte zu achten. Meine These, die ich als zu prüfende Hypothese den weiteren Überlegungen zu Grunde legen möchte, ist, dass der Übergang zur biblischen und christlichen Offenbarung gerade durch Kant und die Vertreter des Idealismus allmählich Teil einer Selbstaufklärung der Vernunft geworden ist – und weniger einen Bruch mit der intellektuellen Erfahrung darstellt (Dritter Teil, Kap. 1). Hier wird eine kritische Stelle erreicht, an der ›negative‹ und ›positive Philosophie‹ einander treffen; der Weg der Vernunft zum Anfang und die Freiheit des Anfangs, der freien Vernunft entgegenzukommen, bereichern sich einander, wenngleich auch noch auf verschlungenen Pfaden. Dies impliziert, dass Philosophie und Theologie in ihrem eigenen Forschungsgebiet schlechthin unterschiedlich und selbstständig sind, jedoch nicht getrennt bleiben können, da jede für sich sogar Vorteil aus dem von der Schwester-Disziplin herkommenden Lichte ziehen kann und so ihr eigenes Vermögen ermisst wie auch ihre eigenen Grenzen erfährt. Die Philosophie ist – bei Kant und Schelling – darauf angewiesen, ihre Unfähigkeit anzuerkennen, die Wirklichkeit des Anfangs als freie Kausalität ergründen zu können. Trotzdem braucht sie dieses ursprüngliche Denken immer noch, solange sie die Haltung eines ›Postulierens‹ als unentbehrliche Bedingung für eine Überprüfung derselben Vernunft annimmt. Hier lernt die selbstständige Reflexion der Vernunft den Wert der christlichen Wahrheit schätzen. Die Theologie kann ihrerseits nicht wenig vom Ethos dieser Philosophie in Bezug auf die Freiheit des Anfangs lernen. Stößt die philosophische Spekulation auf die Unmöglichkeit einer Letztbegründung der menschlichen und göttlichen Freiheit durch die Episteme und muss sie darin das Andere der Vernunft anerkennen, so bringt sie damit doch das Problem ihres eigenen Grundes selbst ans Licht. Ebenso sollte sich die Theologie frei von der Scheinüberzeugung dünken, das Geheimnis der überkategorialen Freiheit Gottes begreifen zu dürfen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie auf eine stets zu vervollkommnende Hermeneutik des geoffenbarten Geheimnisses oder eine angemessene Untersuchung über das richtige (metaphysische oder hermeneutische) Paradigma verzichten müsse, um das proprium des Christentums ausdrücken zu können. Dies bedeutet vielmehr, darauf zu achten, dass die Wahrheit christlicher Theologie das Ereignis einer Freiheit ist, die dem Menschen entgegenkommt, die der Theologe Der Anfang als Freiheit
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aber durch keine Selbstbegründung der Vernunft beweisen kann. 540 Diesbezüglich schuldet sie Cacciari Dank, dass er die Grenzen der von den Theologen allzu gern benutzten ontologischen Kategorien aufgezeigt hat. So richtet sich Cacciaris Kritik an der Theologie vor allem gegen deren Versuch, die Daten der Heilsökonomie mit der griechischen, insbesondere der platonischen Philosophie in Einklang zu bringen. Cacciari meint, dass die aus dieser Konstellation erwachsenen Aporien, die im hegelschen System am deutlichsten hervorgetreten sind, bis heute nicht wirklich gelöst worden seien. Diese Diagnose ist sicher zutreffend, sofern er damit eine Interpretationstendenz ausgemacht hat, die für lange Zeit im metaphysisch-theologischen Systemdenken dominierte, insofern sie das Gott-Welt-Verhältnis in den Begriffen eines notwendigen ewigen Bezugs konzipierte. Solange man die Schöpfung in Übereinkunft mit dem Neuplatonismus (als von den rationes seminales oder ab aeterno im göttlichen Intellekt geschauten Wesensideen bedingt) oder mit dem Aristotelismus die Welt als Resultat einer naturhaft-notwendigen Bewegung denkt, ist es unmöglich, die Schöpfung ohne Widerspruch als Freiheitsgeschehen Gottes zu betrachten. Trotzdem scheint es tendenziös, dass Cacciari in seiner Diagnose einerseits die theologische Betrachtung des Anfangsproblems auf Augustinus begrenzt, andererseits eine direkte Brücke von Augustinus zu Hegel schlägt, als ob Hegels Dialektik die logische Konsequenz und die einzig kohärente Vollendung des christlichen Anfangdenkens darstelle. Damit hebt sich, nach Cacciari, die Theologie in Philosophie auf; diese Aufhebung entsteht paradoxerweise aus der Kühnheit von Hegel, letzte Konsequenzen aus der theologischen Lehre vom Anfang zu ziehen. 541
540 Als Bestätigung dafür gilt, was Edward Schillebeeckx schreibt: »Der Inhalt der sogenannten transzendentalen Vollkommenheiten deutet objektiv die Perspektive an, in der Gott zu finden ist: Wir vermuten Gott positiv am Ende, aber doch innerhalb der ›transcendentalia‹. Gott ist zwar über-kategorial. Aber nicht ›supertranszendental‹. Es geht hier um einen Bewusstseinsinhalt, der uns objektiv auf Gottes eigene Seinsweise hin orientiert. Unsere sogenannten ›Gottesbegriffe‹ umschreiben wirklich eine Begrifflichkeit, die aber auf das Mysterium hin geöffnet ist. Das Typische des noetischen Wertes unserer Gotteserkenntnis liegt also in einem projektiven Akt, in dem wir nach Gott greifen, ihn jedoch nicht be-greifen, wenn wir auch sehr wohl wissen, dass er genau in der Richtung liegt, in die wir greifen.« Schillebeeckx, Offenbarung und Theologie, 236 f. Vgl auch 260. 541 Cacciari, Filosofia e teologia, 385.
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An dieser Stelle soll eine Alternative zur Interpretation Cacciaris versucht werden – einerseits im Ausgang von der Feststellung, dass die historische Entwicklung des Kreationismus weit über die Lösungen von Augustinus und Thomas hinausgegangen ist, andererseits im Ausgang von der Feststellung, dass es simplifizierend ist zu meinen, nach dem Idealismus von Hegel sei die systematische Theologie ein bloßer Kommentar zu Hegel gewesen. Wie noch im philosophischen Teil der nun folgenden – über Cacciari hinausweisenden – Überlegungen zu zeigen ist, benötigt die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Hegel und der christlichen Theologie eine weitere Differenzierung, sowohl was die Beziehung von Hegel selbst zur Theologie als auch die der nach-hegelschen Theologie zu ihm angeht (Dritter Teil, 1.3). Im Blick auf die Entwicklung des Kreationismus scheint es notwendig zu sein, die Diagnose Cacciaris für einen eng begrenzten Zeitrahmen gelten zu lassen, der von der patristischen Theologie und vor allem von Augustinus bis hin zu Heinrich von Gent reicht (Dritter Teil, Kap. II). Der Wendepunkt im Verständnis des Kreationismus liegt jedoch bei Duns Scotus im 13. Jahrhundert. Indem er sich auf die Notwendigkeit eines theoretischen Kompromisses zwischen Partizipations- und Schöpfungslehre stützt, ist es ihm gelungen, eine mit der biblischen Offenbarung vereinbare Auffassung von Gott metaphysisch ins Recht zu setzen, und zwar von einem schlechthin freien Gott, der die Welt als kontingent und den Menschen frei für eine eigene Antwort sein lässt. Abgesehen von der unbestreitbaren Verschiedenheit von Epochen und Lehren, innerhalb derer sich der Beitrag von Scotus gegenüber den Philosophien von Kant und Schelling bezüglich des Abgrunds der Vernunft unterscheiden muss, ist jedoch überraschend, dass alle Drei letzten Endes auf dasselbe Ergebnis kommen. Denn eine positive Rechtfertigung von Entschlüssen, die eine Kausalität aus Freiheit ausgeführt hätte, ist ex post erst möglich, wobei solche Kausalität per definitionem jeden Vorgriff der Vernunft übersteigt und dennoch die einzig mögliche Denkweise des Anfangs für die Vernunft darstellt.
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Dritter Teil Anfang als Freiheit
Kapitel I Rückblick auf die neuzeitliche Angangsfrage als Gegenentwurf zur Diaporetik
Der Zeitraum von Kant bis Schelling ist laut Cacciari diejenige Epoche, in der sich die Philosophie mit der theoretischen Frage der ersten Hypothese aus Platons Parmenides (bewusst oder unbewusst) am meisten beschäftigt hat. Trotzdem hätten weder Kant noch Hegel noch Schelling die ganze metaphysische Tragweite von jedem EinesEines ἐπέκεινα τῆς οὐσίας wiedergeben können. Im Gegenteil, ihre Beiträge seien, so Cacciari weiter, die Aufhebung ebendieser von Platon aufgestellten ersten Hypothese, d. h. eine Aufhebung der Gewährleistung des absolut beziehungsfreien Anfangs (vom Sein, vom Vielfältigen, vom Werden), der daher schlechthin frei ist. Die Überwindung einer solchen theoretischen Schwierigkeit wäre laut Cacciari jedoch erst damit erreicht, wenn man jenes Prinzip jenseits aller Bestimmung als ›indifferentes All-Mitmögliches‹ bezeichne. Eine derartige Auffassung des Anfangs hebt die Gleichwertigkeit von Möglichem (δυνατόν) und wirklicher Tätigkeit (δύναμις) auf, die seit Aristoteles die gesamte Geschichte abendländischer Philosophie beherrscht hat; dieser Argumentationszug hat auch Cacciaris kritische Interpretation der Anfangsreflexion bei Kant, Hegel und Schelling stark beeinflusst. In Anbetracht der bisherigen Diskussion über die innere Fraglichkeit des gerade an diesen genannten Autoren festgemachten Grundgedanken von Cacciari, soll das weitere Ziel der Überlegungen hier sein, die Behandlung des Anfangsproblems in Bezug auf die Philosophiegeschichte in der Zeit von Kant bis Schelling genauer zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu interpretieren. Diachronisch gesehen stellen Kant, Jacobi, Hegel und Schelling die Grundetappen und die möglichen Antworten dar, die ein Vernunftkonzept erst geben kann, wenn man sich dabei mit dem Problem des Anfangens (oder mit dem sich auftuenden, der Vernunft eigenem Abgrund) auseinandergesetzt hat. Durch die Auflösung der dritten Antinomie der Vernunft beweist Kant, so der rote Faden der Argumentation hier, Der Anfang als Freiheit
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I · Rückblick auf die neuzeitliche Angangsfrage als Gegenentwurf zur Diaporetik
nicht die Idee einer unzugänglichen freien Kausalität. Doch aber legt er dar, dass diese Möglichkeit nicht auszuschließen sei und weitergehend noch, dass eine solche regulative Idee selbst geeignet sei für die Ausübung praktischer Vernunft (Kap. 1.1). Trotz seiner großen Zweifel an dem Noumenon Kants, quält sich Jacobi hingegen mit seiner Anfangsreflexion aufgrund der Feststellung einer unlösbaren Spannung zwischen blinder Notwendigkeit und intelligenter Freiheit. Dieser Zustand radikaler Unsicherheit bildet ohne Zweifel eine weitere mögliche Haltung, die man mit der Konzeptualisierung von Vernunft hinsichtlich der Anfangsfrage einnehmen kann (Kap. 1.2). Und es ist gerade das Bemerken dieser Unsicherheit des Denkens, so dass Hegel nun das Anfangsproblem mit einer versöhnenden Dialektik aufzulösen versuchen kann, indem er den Anfang ins ›Anfangende‹ dialektisch überträgt (Kap. 1.3). Im Streit mit seinem Vorgänger auf dem Lehrstuhl in Berlin setzt der späte Schelling erneut den Vorrang des Seins gegenüber der logischen, rekonstruktionsfähigen Vernunft in den Mittelpunkt und schreibt daher wieder der Freiheit Gottes – als dem alleinigen Grund der Schöpfung – Priorität zu. Durch Schellings späte Philosophie wird erst ermöglicht, den Abgrund der Vernunft als dieselbe göttliche Freiheit anerkennen zu können – dies aber war im Wesentlichen schon eine Idee der Selbstaufklärung der Vernunft (Kap. 1.4). Im erneuten interpretativen Rückgriff auf Kant, Jacobi, Hegel und Schelling bahnt sich mit dem Blick auf die unterschiedliche Einkreisung der Anfangsproblematik ein ganz anderes Ergebnis an, als dies bei Cacciari der Fall ist.
1.1 Kant: Abgrund der Vernunft als Spontaneität des Anfangen-Könnens Kant ist derjenige gewesen, der die Gefahr eines deterministischen Schiffbruchs am deutlichsten gezeigt hat, insofern er die Vernunftbestimmung hinsichtlich der kosmologischen Frage nach dem Anfang durch eine Kausalitätslogik zu beantworten versuchte. Denn seine Kritik an der durch die rationale Kosmologie vorgeschlagene Lösung – wovon noch die Rede sein wird – ist in den Rahmen seiner Haltung gegenüber dem Verhältnis von Metaphysik und Religion überhaupt zu stellen. Kants Vorhaben war es, eine Beziehung zwischen natürlicher Vernunftreligion und positiver Religion herzu262
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Kant: Abgrund der Vernunft als Spontaneität des Anfangen-Könnens
stellen, um einerseits die dogmatische Orthodoxie, andererseits die aufklärerische Abwertung jedes historisch-religiösen Elements zu vermeiden. Kants Absicht fand ihren programmatischen Ausdruck in den ›Grenzen‹ der Vernunft. Es sind nicht unüberwindbare Schranken, die den Umfang der Vernunft begrenzen, sondern eben Grenzen, innerhalb derer die Vernunft bleiben muss, wie Kant bedeutungsvoll in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783) schreibt. 542 Dies impliziert einerseits, dass das eigentliche Erkenntnisgebiet der Vernunft nicht die Totalität ist, sondern alles, was den Grenzen bzw. der sinnlichen Erfahrung unterliegt; andererseits aber könnte gerade das Beharren auf den Grenzen die Möglichkeit eröffnen, den Blick über empirische Erfahrungen hinaus zu heben. Anders ausgedrückt: Kants Kritizismus lässt die Möglichkeit einer Erweiterung des Denkens (nicht daher des Erkennens oder Beweisens) offen, die nicht mehr mittels der reinen Vernunft, sondern mittels der unbedingten, erfahrungsübersteigenden Totalität durchzuführen sei. Es ist hierbei nicht ohne Bedeutung, dass alles, was außerhalb der Grenzen liegt (d. h. der Noumenon-Begriff und die drei Ideen der Vernunft: Welt, Seele, Gott), überhaupt nicht ohne Beziehung zum Festland sinnlicher Erkenntnis ist. Das Sich-Öffnen des Denkens auch hinüber über die Schwelle stellt entscheidend ein regulatives Kriterium dar, um dieselbe Erkenntnis der Erscheinungswelt – und weiterhin das praktische Handeln des Menschen innerhalb dieses Rahmens – zu organisieren. Dieses entscheidende Thema der kantischen Philosophie, das eine notwendige Gegenseitigkeit zwischen reiner und praktischer Vernunft bestätigt, hat Cacciari als eine Art ›Apophatismus‹ der (reinen) Vernunft beurteilt, als wäre es eine Mahnung, »[…] es nicht zu wagen, den Anfang zu untersuchen«. 543 Obwohl der Verfasser von Dell’Inizio – wie bereits erwähnt – eine interessante Lektüre des Werkes von Kant in Bezug auf das Verhältnis von Vernunft und transAK, IV, 356; 125. Cacciari, Dell’Inizio, 22; 57. Bekanntlich hat die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Noumenon – bereits vor Cacciari – nicht wenige Verächter hervorgebracht, und zwar von Seiten der Philosophen wie auch der Theologen. Die Kritiker des Kantianismus hinsichtlich theologischer Fragen halten Kants Lösung der Gottesfrage für mangelhaft, weil mit ihr das Dasein Gottes hinsichtlich der reinen Vernunft für irrelevant, aber im Blick auf das praktische Handeln für bedeutsam gehalten wird. Sein Vorhaben, das Christentum ethisch-vernünftig zu interpretieren, scheint daher eine Reduktion des christlichen Ereignisses auf eine ›Aufgabe‹ der reinen Vernunft zu sein. 542 543
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zendentalem Objekt bietet, 544 scheint er aber das Wahre nicht zu schätzen, das doch gerade in der Komplementarität von reiner und praktischer Vernunft bezüglich des Anfangsproblems liegt. Cacciari interpretiert Kants Option, mit der er das Anfangsproblem durch den praktischen Gebrauch der Vernunft zu lösen versuchte, als eine Art Lossagung der Vernunft von einem wesentlich theoretischen (und eben nicht praktischen) Problem. Meines Erachtens misst Cacciaris Interpretation den oben genannten Grenzziehungen von Kant nicht die richtige Relevanz bei, und außerdem missachtet sie die Tatsache, dass ausgehend von der apriorischen Trennung zwischen reiner und praktischer Vernunft das Anfangsproblem (und mithin das der Freiheit) keine richtige Lösung haben kann. Man läuft unvermeidbar Gefahr, sich darüber zu täuschen und in dunklen Skeptizismus zu verfallen, wenn man die Anfangsfrage unabhängig von den Implikationen einer so verstandenen Freiheit und dem endlichen Sein zu beantworten versucht. Bereits in den Passagen der ersten Kritikschrift, in denen schon die Antinomie der reinen Vernunft hinsichtlich der kosmologischen Anfangsfrage abgehandelt wird (was Cacciari völlig übersieht), erweist es sich, dass Kant sich sehr wohl bewusst ist, dass eine Untersuchung der Anfangsfreiheit nicht auf eine bloße intellektuelle Leistung reduziert werden kann, sondern dass sie die Ausübung menschlicher Freiheit und somit praktischer Vernunft selbst betrifft. Übrigens hat Cacciaris Bemühung, das Anfangsproblem als bloß theoretisch zu betrachten und mithin das Anfangen als Möglichkeit des Ausgehens von einem der Vernunft innewohnenden praktischen Bedürfnis abzusprechen, zu vielen Problemen mit schwierigen Lösungen geführt – man denke nur an die unversöhnliche Beziehung zwischen formell unbedingter Freiheit und materiell bedingter Freiheit bei seiner existentiellen Analyse, 545 oder an die Aporien in der Beziehung zwischen dem Einen und dem Ἀγαθόν, wovon in den epistemologischen Überlegungen hier schon die Rede war. 546 Es ist also angebracht, Kants Beitrag zum Problem des kosmologischen Anfangs zu rehabilitieren, der annäherungsweise von der späten Philosophie Schellings wieder aufgegriffen und fortgesetzt wird.
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Für Cacciaris Kant-Interpretation vgl. Erster Teil, Kap. III, 3.1. Vgl. Zweiter Teil, Kap. II, 2.2.3. Vgl. Zweiter Teil, Kap. II, 2.2.2.
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Kant: Abgrund der Vernunft als Spontaneität des Anfangen-Könnens
In seinen Bemerkungen über die dritte Antinomie der reinen Vernunft stellt Kant entschieden fest, dass die ursprüngliche Ursächlichkeit – nicht der Kausalitätslogik gemäß, sondern im Sinne einer absoluten Spontaneität der Handlung – »der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie [ist], welche unüberwindliche Schwierigkeiten findet, dergleichen Art voll unbedingter Kausalität einzuräumen.« 547 Solange die Vernunft verlangt, die Weltentstehung nach Gesetzen der Natur abzuleiten, ist sie darauf angewiesen, in die Spirale eines regressus in infinitum zu geraten, der beim Aufsteigen von den Wirkungen zu den Ursachen einen zum Verursachen nicht bestimmten Anfang überhaupt nicht denken kann. Kant meint, der Fehler solch kosmologischer Lektüre liege in einer falschen Anwendung des empirischen Kausalitätsgesetztes in der Metaphysik. Dieses Interpretationsmodell des kosmologischen Anfangs ist daher mit einer nicht adäquaten Kenntnisnahme des wesentlichen Unterschieds zwischen Erscheinung und Noumenon eng verbunden. Die Antinomie entspringt daraus, »[…] dass man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im sukzessiven Regressus, sonst aber gar nicht existieren.« 548 Im Gegenteil, die Vorstellung einer Kausalität durch Freiheit als transzendentales »Vermögen […], eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen«, 549 bleibt immer noch der Vernunft unzugänglich, solange sie sich bemüht, diese Kausalität als ein Naturgesetz bzw. ein Erscheinungsdatum zu betrachten. Die Täuschung bleibt immerhin unvermeidlich, wenn mit dem Vernunftkonzept eine Kausalität durch Freiheit nicht in einem transzendentalen Sinne vorausgesetzt wird, die unabhängig von jeder Zeitbedingung gedacht ist und jeglicher empirischen Kausalität unterliegt. Eine Vernunft, die gewissermaßen auf dem letztbegehbaren Landstreifen (Grenze) stehenbleibt, erleidet die schwindelartige Anziehung des Anfangsdenkens und spürt von weitem, dass jeder Abgrund nichts als die göttliche Freiheit sein kann, d. h. der Gott des magnum argumentum: Das ens perfectissimum. Dass die Vernunft sich nicht auf das Erscheinungsgebiet beschränken kann, dass ihr nichts aus547 548 549
KrV, 430 ff. KrV, 470. KrV, 430 ff.
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reicht, solange sie jeder Instanz Rechenschaft geben kann, macht die letzte Möglichkeit für eine Behauptung des Anfangs aus – eine Behauptung aber, die keineswegs die Bestimmung seiner Existenz verlangt. 550 Genau betrachtet: Der Abgrund, auf den die Vernunft stößt, bringt neues Licht in das Verständnis von den Antinomien in der Verwendung bei Kant. Summa summarum: Die eigentliche Antinomie besteht im Gegensatz zwischen einer unvermeidlichen Täuschung für die spekulative Vernunft ihrem Grund gegenüber – was Descartes einen ›bösen Dämon‹ nannte 551 – und der Unmöglichkeit, jeden Abgrund als Ur-Täuschung zu denken. 552 Genau in dieser Richtung versuchte nun Kant die dritte Antinomie aufzulösen. Zuerst einmal zeigt er, dass nur ein Missbrauch der dialektischen Gedankengänge (ignava ratio) zur Kennzeichnung der Kausalität als Determinismus führen 550 »Die unbedingte Notwendigkeit, die [sic] wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft. Selbst die Ewigkeit, so schauderhaft erhaben sie auch ein Haller schildern mag, macht lange nicht den schwindligen Eindruck auf das Gemüt: Denn sie misst nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: Dass ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste, schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die [sic] mindeste Hindernis verschwinden zu lassen« KrV, 543. Eben darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen Kants Gedankengängen und Anselms Argument, das einen Sprung von der logischen zur ontologischen Ebene verlangt. Im Gegensatz zu Anselm kann der Verstand bei Kant den Abgrund zwischen der von der Vernunft verlangten Vorstellung eines notwendigen Wesens (ein transzendentales Ideal) und der apriorischen Feststellung seiner Wirklichkeit / effektiven Realität nicht aufheben. Folglich kann man feststellen, dass das ens necessarium eben realissimum sei, aber lediglich in logischer, nicht in ontologischer Hinsicht. Es ist zu vernachlässigen, dass die Existenz bei Kant kein logisches Prädikat, sondern bloß die ›Position‹ eines Dings, mithin eine synthetische Annahme ist (KrV, 246 f.). Diesbezüglich schreibt Kant: »[…] wenn ich nun dieses oberste Wesen, welches respektiv auf die Welt schlechthin (unbedingt) notwendig war, als Ding für sich betrachte, diese Notwendigkeit keines Begriffs fähig ist, und also nur als formale Bedingung des Denkens, nicht aber als materiale und hypostatische Bedingung des Daseins, in meiner Vernunft anzutreffen gewesen sein müsse …« KrV, 498 f. Vgl dazu: Müller, Gottesbeweiskritik und praktischer Vernunftglaube, 129–161. 551 Vgl. dazu: De Candia, Der doppelte Auftakt des Gottesgedankens in der Moderne, 2018, 380–291. 552 Ich übernehme somit die Interpretation von Claudio Ciancio: Il paradosso della verità, 91–96: hier 94.
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Kant: Abgrund der Vernunft als Spontaneität des Anfangen-Könnens
kann. 553 Sodann erklärt er, dass die Vernunftantinomie nichts als eine Täuschung des Verstandesvermögens ausmacht. Zweitens entscheidet sich Kant dafür, die Antinomie durch eine Verschiebung von der bloßen spekulativen Vernunft hin zur praktischen Vernunft aufzulösen. Das moralische Gesetz – als schlechthin bestimmtes Faktum der reinen Vernunft – rechtfertigt die transzendentale Deduktion über seine notwendige Bedingung und Garantie für eine sinnvolle Erfüllung. 554 Nur durch die Annahme einer regulativen Idee Gottes – als freier und allmächtiger Schöpfer, aber auch heiliger und allwissender Gesetzgeber – kann man allerdings die Gültigkeit des Gesetzes und die endgültige Erfüllung des moralischen Handelns garantieren. 555 553 Im Anhang zur transzendentalen Dialektik heißt es: »Die Ideen der reinen Vernunft könne nimmermehr an sich selbst dialektisch sein, sondern ihr bloßer Missbrauch muß es allein machen, dass uns von ihnen ein trüglicher Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten.« KrV, 582 ff. 554 Vgl. KdU, § 49–56. Die Unmöglichkeit einer theoretisch-metaphysischen Begründung der Realität der drei Ideen (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) wird also ausgehend von der Gültigkeit aufgelöst, die solche Ideen für den praktischen Gebrauch der Vernunft haben (KpV, 132 f.; 142 f.). In der ersten Kritikschrift behauptet Kant interessanterweise, dass »die ganze Bestrebung der reinen Vernunft eigentlich auf die zwei großen Zwecke (Gott und Unsterblichkeit) gerichtet [sei].« 676 ff. 555 Wie Kant selber in der Allgemeinen Anmerkung zum ersten Abschnitt der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft dezidiert ausdrückt, obwohl das Wesen Gottes ›Etwas Geheimnisvolles‹ für den theoretischen Gebrauch der Vernunft bleibt, kann es doch wohl für den praktischen Gebrauch der Vernunft zur Erkenntnis kommen (RGV, 694 ff.). Es ist eben in diesem Sinne, dass Kant durch die Vernunft das Geheimnis Gottes als ›moralischer Weltenherr‹ (heiliger, wohlwollender, gerechter Schöpfer und Gesetzgeber) ›offenbart‹ ; überdies, da »das Christentum zuerst einmal vom schädlichen Anthropomorfismus die moralische Beziehung der Menschen zum höchsten Wesen gereinigt hat«, leitet er von daher auch die drei Geheimnisse der Berufung, Genugtuung und Erwählung ab. Diesbezüglich kommt Kant zur Frage zurück, die sich bei der dritten Antinomie stellte: »Es ist aber für unsere Vernunft schlechterdings unbegreiflich, wie Wesen zum freien Gebrauch ihrer Kräfte erschaffen sein sollen; weil wir, nach dem Prinzip der Kausalität, einem Wesen, das als hervorgebracht angenommen wird, keinen anderen innern Grund seiner Handlungen beilegen können, als denjenigen, welchen die hervorbringende Ursache in dasselbe gelegt hat, durch welchen (mithin durch eine äußere Ursache) dann auch jede Handlung desselben bestimmt, mithin dieses Wesen selbst nicht frei sein würde. Also läßt sich die göttliche, heilige, mithin bloß freie Wesen angehende Gesetzgebung mit dem Begriffe einer Schöpfung derselben durch unsere Vernunfteinsicht nicht vereinbaren, sondern man muß jene schon als existierende freie Wesen betrachten, welche nicht durch ihre Naturabhängigkeit, vermöge ihrer Schöpfung, sondern durch eine bloß moralische, nach Gesetzen der Freiheit mögliche Nötigung, d. i. eine Berufung zur
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Es wird also deutlich, wie groß Kants Verdienst ist, indem er eine subtile Ausbalancierung zwischen einer als endlich und unendlich sich begreifenden Vernunft ausführt. Ihr ›an-der-Grenze-Stehenbleiben‹ ermöglicht es, dass man mit dieser Konzeptualisierung sich dem Unbedingten zu öffnen vermag und gestattet damit, dessen Sinn in etwas Verständliches und anthropologisch Nützliches umsetzen zu können, ohne damit der Theologie ihre eigentliche Aufgabe entziehen zu wollen. Kants Beitrag zur Behandlung des Anfangsproblems hat letztlich einen zweifachen Wert: Einerseits hat er betont, inwiefern die Vernunft durch die Betrachtung der Anfangsfrage unvermeidlich in eine Täuschungsgefahr hineingerät (indem sie ›gleichsam unbesehen‹ 556 das Ding an sich als eine Erscheinung betrachtet); andererseits hat er gezeigt, auf welchen Widerspruch die Vernunft stößt, wenn sie den Abgrund selbst als eine Ur-Täuschung denkt. Den einzig möglichen Weg zwischen beiden Polen der unauflösbaren Antinomie bildet die Vertiefung des praktischen Stoffs der Anfangsfreiheit, ohne die das Einüben und die Erfüllung der endlichen Freiheit nicht möglich wäre. 557 In diesem Sinne ist jede mögliche Kritik am Denkgebäude von Kant derselben menschlichen Vernunft irgendwie innewohnend, indem sie Trägerin einer radikalen Unmöglichkeit ist, das Geheimnis des Anfangs von sich aus enthüllen zu können. Die späteren spekulativen Ausarbeitungen des Anfangsproblems bestätigen schicksalhaft ebendieses Ergebnis.
1.2 Jacobi: Der ungelöste Gegensatz zwischen blinder Notwendigkeit und intelligenter Freiheit Unter den unmittelbaren Verächtern der Philosophie von Kant, 558 von denen vor allem die Definition des Noumenons kritisiert wurde, spielte Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) eine wichtige Rolle. Bürgerschaft im göttlichen Staate bestimmt werden. So ist die Berufung zu diesem Zwecke moralisch ganz klar, für die Spekulation aber ist die Möglichkeit dieser Berufenen ein undurchdringliches Geheimnis.« RGV, 810. 556 KrV, 466 f. 557 Dieses Kriterium wird im letzten Teil der Untersuchung wieder aufgenommen, wenn als Ergebnis die theologischen Minimalbestimmungen angesichts des Anfangs als Freiheit genauer zu bezeichnen sind: Kap. III. 558 Hier sind zu erwähnen: Karl Leonhard Reinhold (1758–1823), Gottlob Ernst
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Jacobi: Blinde Notwendigkeit und intelligente Freiheit
Wie er selbst in seinem Versuch Über den transzendentalen Idealismus (1787) schreibt, liege Kants Widerspruch hauptsächlich darin, dass er das Ding an sich gleichzeitig für existierend, aber nicht erkennbar deklariert habe. Jacobi bemerkt, dass der Begriff des Noumenon einerseits für die Durchführung seines Kritizismus-Vorhabens wesentlich sei, andererseits aber einem solchen Vorhaben widerspreche. Ist der Kritizismus wahrhaftig, dann ist jedes Ding auf das Subjekt zurückzuführen und das Ding an sich abzuschaffen; wenn der Kritizismus hingegen falsch ist, dann muss man das Ding an sich annehmen und zu einem metaphysischen Realismus zurückkommen. Damit läutet Jacobi eine Diskussion ein, die theoretisch den Übergang von Kant zu Fichte (und alsdann zum Idealismus) ermöglichen wird. Fichte wird tatsächlich jede dem Ich (und dem Geiste) fremde Realität abschaffen, wobei er das Ich als erkennende, praktische Realität und schöpferische Freiheit in einem monistisch-dialektischen Sinne versteht – im Gegensatz zu jedem metaphysisch-erkenntnistheoretischen Dualismus. Genau genommen hat Jacobi eine entscheidende Rolle bei diesem Übergang zum Idealismus gespielt, und mithin hat er die Auflösung der Antinomien Kants durch eine Neubestimmung der Beziehungen zwischen Endlichem und Unendlichem innerhalb des Subjekts ermöglicht; aber trotz seines doch noch entschiedenen Abstands vom nachfolgenden Idealismus scheint er selbst im Laufe seines Denkweges das Problem der dritten Antinomie Kants nicht endgültig aufgelöst gekonnt zu haben. Denn es ist kein bloßer Zufall, dass er kaum zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung des berühmten Aufsatzes von 1787 einen Brief an Charles de Vanderbourg schreibt: »[…] toute ma philosophie repose sur le dualisme et l’antagonisme d’une nécessité aveugle et d’une liberté intelligente«. 559 Anscheinend muss Jacobi anerkennen, dass die Beziehung zwischen Absolutem und Bedingtem etwas an sich Widersprüchliches und Undenkbares bleibt – im Gegensatz zu dem, was die Vertreter des später sich entwickelnden Idealismus behaupten werden. Eine Spur davon findet sich im Vorwort zur dritten Ausgabe des Aufsatzes Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses
Schulze (1761–1833), Salomon Ben Joshua (1754–1800), Jakob Sigismund Beck (1761–1840). 559 Jacobi, Brief an C. Vanderbourg des 17. Juni 1804. In: Auserlesener Briefwechsel, II, 354 f. (d. Ü: »[…] meine ganze Philosophie ruht auf dem Dualismus und dem Gegensatz einer blinden Notwendigkeit und einer intelligenten Freiheit«.) Der Anfang als Freiheit
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Mendelssohn (1819): »Es giebt durchaus keinen bloß speculativen Weg zum Innewerden Gottes, die Speculation mag bloß hinzutreten und durch ihre eigne Beschaffenheit erhärten, daß sie für sich leer ist ohne jene Offenbarungen, und sie nur bestätigen, nicht sie begründen kann. Weil sie aus sich selbst nur zu einer geistlosen Notwendigkeit, einer Substanz, gelangt, so ist nur über sie vermittelst eines Sprunges, den ich Salto mortale genant habe, hinwegzukommen«. 560 Es ist allerdings überraschend, dass der Verfasser des Aufsatzes Über den transzendentalen Idealismus nur einige Jahre später zugeben wird, dass »die Voraussetzung des Unbedingten eine unbegreifliche Voraussetzung deswegen [ist], weil sie eine Beziehung alles Bedingten auf ein Unbedingtes zwar apodictisch behauptet, den wirklichen Zusammenhang zwischen beyden aber keinesweges offenbaret.« 561 Die unüberwindlichen Schwierigkeiten bei der Auflösung dieses Problems führen Jacobi dazu, die wesentliche Legitimität beider Gegensätze, die in der dritten Antinomie von Kant abgehandelt wird, anzunehmen und mithin den Spinozismus sowie auch den anti-spinozistischen Theismus als partiell und legitim zugleich zu betrachten: »[…] einen ungeheuren, finstern Abgrund vor mir sah […] – Licht ist in meinem Herzen, aber so wie ich es an den Verstand bringen will, erlischt es. Welche von beiden Klarheiten ist die wahre? Die des Verstandes, die zwar feste Gestalten, aber hinter ihnen nur einen bodenlosen Abgrund zeigt? Oder die des Herzens, welche zwar verheißend aufwärts leuchtet, aber bestimmtes Erkennen vermissen läßt?« 562 Und dennoch, wie bereits erwiesen, gerade indem Jacobi selbst zugibt, das Anfangsproblem auf dualistische Weise aufgreifen und (fern von Kants Kritizismus) jeweils Anerkennung und Kritik gegenüber den Alternativen geltend machen zu wollen, schafft er in gewisser Weise die Voraussetzungen für die Entwicklung des späteren Idealismus. Die von ihm entfaltete, dennoch unbeabsichtigte Antinomie wird im Idealismus – im weiteren Verlauf seiner auftretenden vielfältigen
Ders., Über die Lehre des Spinoza. Erweiterung und dritte Auflage (1819). In: Gesamtausgabe 1,1, XXXIX, 34 – XL, 4, 347–348. 561 Ders.,Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811). In: Gesamtausgabe 3, 405, 5–8, 106. 562 Ders., Jacobi an J. G. Hamann (Pempelfort, 16. 6. 1783). In: Werke, Bd. III, Gerhard Fleischer, Leipzig 1812–1817, 405 f. In der neuen kritischen Gesamtausgabe bleibt dies Zitat unvollständig: Werke, Bd. 1,3, Felix Meiner, Hamburg 1987, Nr. 908, 164 (vgl. Bd. 2,3, Nr. 908, 131 f.) 560
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Hegel: Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Notwendigkeit und Freiheit
Entwürfe – in die Synthese einer absoluten Vernunft völlig integriert. Schlägt Kant vor, die dritte Antinomie durch das Postulat einer freien, dem praktischen Bedürfnis der Vernunft entsprechenden Kausalität zu überwinden, werden sich die Idealisten hingegen darum bemühen, die innere Spannung der bei Kant formulierten Antinomien im Namen einer Vernunft zu radikalisieren, die all jene Widersprüche zu integrieren, zu überwinden und mithin auch zu beherrschen vermag. Hegel wird dann eine rationale Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem so weit fördern, dass er sich die Konzeptualisierung eines Anfangs erarbeiten muss, der aus dialektischer Notwendigkeit zum Anfangen getrieben ist – und ebendies zu durchleuchten hat Cacciari unternommen.
1.3 Hegel: Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Notwendigkeit und Freiheit Hegels spekulatives Vorhaben einer rationalen Vermittlung zwischen christlicher Vorstellung und philosophischem Begriff stellt zweifellos einen der größten und umstrittensten Beiträge der Philosophie dar, mit dem versucht wurde, die Beziehung zwischen dem Abgrund der Vernunft und dem geoffenbarten Geheimnis der Freiheit Gottes aufzulösen. Daraus erklärt sich, inwiefern eine kritische Auseinandersetzung mit Hegels Vorschlag unverzichtbar für die Theologie gewesen ist: Ein Zeichen dafür ist die Fülle kritischer Arbeiten zu sowie Entlehnungen von Hegels Werk in der Theologie seit dem 19. Jahrhundert. 563 Dies bedeutet aber nicht, dass das endgültige Schicksal christlicher Theologie Hegels dialektischer Offenbarungspositivismus sei – wie dies Cacciari schließt, indem er Hegels Auflösung des Anfangs zu
563 Man denke an Hegels Wiederaufnahme bei Anton Günther im XIX. Jahrhundert und an die kritische Auseinandersetzung dazu von Franz Anton Staudenmeier (1800– 1856) und der Tübinger-Schule (von Drey, Möhler). Zum Thema: Welte, Hegels theologischer Entwurf, 1975, 137–146; Henrici, Hegel et la théologie, 1968, 36–71; Küng, Menschwerdung Gottes, 1970; Kern, Fragen an Hegels Religionsphilosophie, 1985, 271–286; Sequeri, Hegel e la teologia, 1983, 273–275. Zur Aufnahme Hegels in der protestantischen Theologie: Kern, Eine Wirklinie Hegels in der deutschen Theologie, 1971, 1–28; Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 1977, 65–142; 129; Oeing-Hanhoff, Hegels Trinitätslehre, 1977, 378–407; Planty-Bonjour (Hg.), Hegel et la religion, 1982; Chapelle, Pour une christologie post-hégélienne, 1985, 404–421; Coda, Il negativo e la trinità, 1987.
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einem Anfangenden als den kohärenten Vollzug der ›relatio non adventitia‹ aus dem Trinitätsdenken von Augustinus herausliest. 564 Um die Beziehung zwischen Hegel und der Theologie hinsichtlich des Anfangsproblems besser klären zu können, ist es hilfreich, auf den diesbezüglichen Beitrag von Wolfhart Pannenberg zu verweisen. Denn er hat nicht nur in vieler Hinsicht Cacciaris Forderung vorweggenommen, das Verständnis der Geheimnisse von jeglicher Notwendigkeitslogik zu befreien, sondern auch eine der zutreffendsten kritischen Diagnosen über die Beziehung zwischen Hegel und der christlichen Theologie angeboten, obwohl die von ihm angezeigte theologisch-systematische Lösung zum Thema der göttlichen Freiheit immer noch von Hegels Erbe stark beeinflusst zu sein scheint. 565 Vgl. dazu Zweiter Teil, Kap. I., 3.1; 3.2; Dritter Teil, Kap. II. Man kann also zu recht Pannenbergs systematische Arbeit insgesamt als den Versuch verstehen, eine Antwort auf die Herausforderung finden zu wollen, den Begriff der Offenbarung Gottes selbst neu denken zu müssen; nicht mehr autoritativ (›Offenbarung als Wort‹, treu der Sola Scriptura) wie das Bultmann und Barth taten – die es unterließen, sich mit der aufklärerischen Kritik auseinanderzusetzen, die monierte, dass einer historischen Tatsache unmöglich ein absoluter Wert zugesprochen werden könne; nicht mehr im hegelschen Sinne, für den die Geschichte als solche die Offenbarung Gottes wäre; sondern im Sinne einer Offenbarung als Geschichte, als göttliche Selbsterklärung in einer dem Menschen verständlichen Form, die durch historische Evidenz zugänglich ist, die alle überprüfen und vor dem Hintergrund des Glaubens als Offenbarung Gottes anerkennen können. In diesem Sinne gibt es zwei Eckpunkte der systematischen Theologie Pannenbergs: Die Wiederaufnahme und Neuinterpretation des hegelschen Begriffs der wahren Unendlichkeit, die ein Denken der Gott-Unendlichkeit als Horizont des historisch-Endlichen erlaubt sowie die Unterordnung der Idee der ›Zentralität‹ der historischen Offenbarung (Cullmann) unter jene der ›Prolepse‹ des Geschehens in Jesus Christus. Hegels Idee von Gott als wahrer Unendlichkeit erlaubt es ihm, die Inkarnation als Selbstoffenbarung von Gott in seiner wahren Unendlichkeit zu denken. Jene Idee braucht allerdings eine radikale Neuinterpretation, damit es nicht darauf hinausläuft, das Endliche zu verabsolutieren oder Gott vom historischen Prozess abhängig zu machen. Es geht also nicht um eine Absage an die Metaphysik zugunsten des theologischen Diskurses, sondern um eine ernsthafte Annahme der Historizität und Endlichkeit jener entscheidenden Annahmen und Kriterien zur Plausibilisierung des metaphysischen Diskurses. Bei der Neuinterpretation der hegelschen Vorstellung von Gott als ein ›wahres Unendliches‹ kommt dem Begriff der Vorwegnahme oder Prolepse eine besondere Funktion zu. Dieser stellt für Pannenberg eine Alternative zum Gesetz des ›Vorgriffs‹ dar und bildet damit das Herzstück seiner systematischen Theologie. Hinsichtlich seines Vorschlags, die Prolepse als theologisches Kriterium anzunehmen, kann man mindestens drei grundlegende Positionen bei den Kritikern feststellen. Ein Teil der Kritiker wollte in seinem Antizipationsgedanken eine Neubelebung der hegelschen Voraussetzung sehen, also die Annahme eines übergeordneten Blickwinkels (›der Begriff‹ für Hegel, die ›Antizipa564 565
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Hegel: Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Notwendigkeit und Freiheit
Auf dem Stuttgarter Hegel-Kongress 1970 hält Pannenberg seinen berühmten Vortrag Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels. 566 Dort analysiert der Theologe die Interpretation, die das Dogma im hegelschen System annimmt und weist gleichzeitig in einer stimmigen dialektischen Umkehrung auf die Bedeutung hin, die der hegelsche Beitrag für das christlich-theologische Denken besitzt. Für Pannenberg ist Hegel die größte jemals von der Philosophie gestellte Herausforderung gegenüber der systematischen Theologie. Obwohl sie sich nicht mit dem hegelschen System identifizieren kann, wird sie laut Pannenberg von ihm dazu provoziert, die zentralen Wahrheiten des Christentums mit dem historischen Prozess in Beziehung setzen zu müssen. Indem er einige Betrachtungen vorwegnimmt, die er in der Schrift Philosophie und Theologie von 1996 wieder aufnimmt, 567 kritisiert er die Theologen, nicht angemessen verstanden zu haben, dass die Philosophie Hegels der letzte große Versuch war, jenem Prozess der Subjektivierung und Anthropologisierung entgegenzuwirken, der ausgehend von der Aufklärung im Westen die Vorstellung von der Wahrheit beeinflusste, sei es in philosophischer oder theologischer Hinsicht. Nach Pannenberg bestand die Absicht Hegels darin, den Betrug hinter der Bescheidenheit der Philosophien der Endlichkeit aufzudecken, die sich letztendlich in ihr tion‹, für Pannenberg), der unter sich die Ausbildungsformen der Beziehung zwischen Gott und Welt versammelt (Vgl. Knauer, Rezension von: W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie der Theologie, 1974, 602 f.; Greiner, Die Theologie Wolfhart Pannenbergs, 1988, 200 ff.; Koch, Der Gott der Geschichte, 1988, 103 f.). Andere Kritiker haben versucht, die Antizipation und die Behauptung eines hypothetischen Charakters der Erkenntnis zu diskreditieren, indem sie dieses Modell auf das gnoseologische Paradigma von Kant zurückführten. Diese Position, die von namhaften Theologen vertreten wird, definiert die Prolepse als eine Art Introjektion der eschatologischen Instanz seitens der menschlichen Erkenntnis a priori, auch wenn Pannenberg darauf besteht, dass eine solche Kenntnis absolut historisch bedingt sei (vgl. Hoffmann, Glaubensbegründung, 1988, 58–79; Jüngel, Nihil divinitatis, ubi non fides, 1989, 209–213; Wagner, Vernünftige Theologie und Theologie der Vernunft, 1978, 262– 284). Der dritte Teil der Kritiker, deren Wortführer vor allem Michael Schulz ist, greift die oben genannte Analyse auf und hebt deren ontologische Voraussetzungen hervor. Für Schulz setzt jede antizipatorische Behauptung, gerade weil sie vorgibt, eine wahre Aussage zu machen, eine unthematisch bleibende metaphysische Wahrheitstheorie voraus, einen ontologisch-transzendentalen Selbstbezug des erkennenden Subjekts (Schulz, Zur Hegelkritik Wolfhart Pannenbergs, 1986, 197–227; 220). 566 Pannenberg, Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels, 175– 202. 567 Ders., Theologie und Philosophie, 1996. Der Anfang als Freiheit
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Gegenteil verkehrt hatten, in eine Verabsolutierung des Endlichen. Was das Urteil der protestantischen Theologen zu Hegel noch fehlbarer machte, ist, dass sie sich unbewusst an die Umkehrung der Endlichkeitsphilosophien angepasst haben. Die Frömmigkeitstheologie der Zeit hat am Ende die Frage nach dem christlichen Gott in den innersten Bereich des Bewusstseins und der Moral verwiesen und dabei die Öffnung zum objektiven, offenbaren Geheimnis von Trinität, Inkarnation und Geschichte vernachlässigt. Mit anderen Worten bestand die Bemühung Hegels entgegen den Endlichkeitsphilosophien und dem Abdriften der protestantischen Theologie zur subjektiven Frömmigkeit darin, dialektisch Endlichkeit und Unendlichkeit zu verbinden, Gott und Geschichte, weit jenseits jeder Form einer Anthropologisierung von Religion und Philosophie. Mit der so entfalteten Perspektive lädt Pannenberg dazu ein, die zwei Grundannahmen des hegelschen Systems zu interpretieren, dessen Erbe sich die zeitgenössische Philosophie bewusst werden sollte: Die Vorstellung Gottes als wahrer Unendlichkeit anzunehmen und seine offenbarende Erschlossenheit zur/in der menschlichen Geschichte und Freiheit. Die hegelsche Konzeption von Gott als dem wahren Unendlichen stellt endlich die Überwindung jenes philosophischen Modells griechischen Ursprungs dar, das das Infinitum als Gegensatz und Verneinung des Endlichen ansah. Das wahrhaft Unendliche erlaubt dagegen, den »[…] Unterschied zum Endlichen als auch die Überwindung dieses Gegensatzes« 568 zugleich zu denken. Mit dieser spekulativen Erneuerung verbindet er seine trinitarische Vorstellung sowie die Annahme der Inkarnation als Selbstoffenbarung Gottes in ihrer wahren Unendlichkeit, wie sie die Theologen vieler Denkrichtungen von Barth bis Rahner je auf ihre Weise vollzogen haben. Wenn dies zutrifft, darf man nach Pannenberg Hegel 569 keinen »Pantheismus« oder die Negierung einer Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes 570 vorwerfen – ein polemisches Konstrukt, das vor allem von der hegelschen Linken kommt (L. Feuerbach und D. F. Ebd., 287. Denn Pannenberg erkennt an: »Obwohl Hegel diese Notwendigkeit selbst als Freiheit zu denken suchte, sah man in dieser Darstellung auf theologischer Seite doch mit Recht die Freiheit der göttlichen Schöpfung der Welt verletzt und auch die Freiheit des Menschen, nicht nur im Hinblick auf seine geschöpfliche Existenz überhaupt, ins Zwielicht gerückt.« ebd., 259. 570 Zum gesamten Thema siehe das einschlägige Werk von Falk Wager, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, 1971. 568 569
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Hegel: Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Notwendigkeit und Freiheit
Strauß) 571 und nur eine mangelnde Vertiefung in Hegels Werk zeigt – sondern eher den Ausschluss der »absoluten Zukunft der Freiheit« 572 bei der Konzeption des göttlichen Wesens. An dieser Bruchstelle tut sich die Distanz zwischen Pannenberg und Hegel auf und es wird die Notwendigkeit der Theologie deutlich, das hegelsche Paradigma zu überwinden. Hegels These der Selbsterklärung des Begriffs oder der absoluten Idee enthält auch die Idee von der göttlichen Freiheit selbst, die von Hegel als Ausdruck ihres vorher existierenden Wesens gedacht wird, als Identität des gleichen Begriffs mit der direkten Konsequenz, in Gott jegliche Öffnung zur Zukunft auszuschließen, jede Möglichkeit einer unvorhergesehenen (zufälligen) Verwirklichung des göttlichen Handelns, das seinerseits nur in der Ausübung der ursprünglichen Freiheit einen Seinsgrund hätte. Dies ist das entscheidende Moment, das es der christlichen Theologie verbietet, sich mit dem hegelschen System identifizieren zu können. Und doch, so bemerkt Pannenberg, haben gerade diejenigen, die in der Theologie korrekterweise diesen Punkt bei Hegel kritisieren, es nicht geschafft, diesen Widerspruch zu überwinden. Was Hegel eigentlich vorgeworfen wurde, ist, dass er die göttliche Freiheit als Ausdruck ihres Wesens noch ernster als die Theologen selbst genommen hat. 573 Es gibt also eine Aporie, die sowohl die traditionelle theologische Doktrin wie das hegelsche System gemeinsam haben. Es gelingt ihnen nicht wirklich, die göttliche Freiheit vor der Ausübung jener Freiheit zu denken. 574 Folglich bleibt auch die göttliche Freiheit als solche unterbestimmt. 575 571 Strauß, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, Bd. I, 1840, 521. 572 »Was in Hegels Begriff der Freiheit sowohl Gottes als auch des Menschens nicht zu seinem Recht kommt, das ist ihre Zufälligkeit im Sinn des aus der Zukunft Zufallenden, ihre Unableitbarkeit aus allem schon Vorhandenen, auch aus dem, was der Wollende selbst schon ist.« Pannenberg, Die Bedeutung des Christentums, 198 ff. 573 Ebd., 199. 574 »Solange nämlich die Freiheit Gottes als Vermögen eines göttlichen Wesens gedacht wird […] erscheint der Akt der Freiheit Gottes entweder als ein äußerlich zu seinem Wesen Hinzukommendes oder aber als Ausdruck dieses Wesens selbst, seiner Macht, und somit als Manifestation seiner Selbstidentität, also der in ihm liegenden Notwendigkeit.« Ebd. 575 »[…] was in Hegels Begriff der Freiheit sowohl Gottes als auch des Menschen nicht zu seinem Recht kommt, das ist ihre Zufälligkeit im Sinne des aus der Zukunft Zufallenden, ihre Unableitbarkeit aus allem schon Vorhandenen. Auch aus dem, was der Wollende selbst ist. Mit diesem Moment des Zufälligen hängt auch der Pluralismus der individuellen Realisierung der Freiheit, sowie das selbstständige Recht des
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Gegen dieses Abdriften in Hegels System und im Idealismus nimmt Schellings späte Philosophie Stellung. 576 Die (negative) Philosophie beansprucht nicht, jenseits der Gottesidee vordringen zu können: Diese ist eine absolute Idee, bleibt in gewisser Weise das Produkt eines dialektisch-rationalen Verfahrens und unterscheidet sich gründlich vom existierenden Gott, der als derjenige verstanden wird, der ganz frei etwas mit und in der Welt anzufangen vermag. Die Vernunft verstummt, wenn sie sich vornimmt, die reine Existenz (Dass) zu denken, abgesehen von jeglicher Notwendigkeit. Darin besteht Schellings ›Ekstase der Vernunft‹ : Es ist eine ganz ähnliche Erfahrung wie diejenige Kants gegenüber dem Abgrund der Vernunft, in der die Philosophie sich zur Anerkennung des Vorrangs vom Sein und dessen Transzendenz öffnet.
1.4 Schelling: Göttliche Freiheit als Selbstaufklärung der Vernunft Der Übergang des späten Schelling von der negativen zur positiven Philosophie bildet eine deutliche Infragestellung des hegelschen Anspruchs, Sein und Denken, Vorstellung und Begriff in einer spekulativen Synthese versöhnen zu können. Wie Schelling in den Erlanger Historischen gegenüber der logischen Form des Begriffs und die Unabgeschlossenheit alles vergangenen und gegenwärtigen Wesens, sowie seine Verwiesenheit auf eine noch offene Zukunft zusammen, die darum unerläßlicher Horizont für das Verständnis gegenwärtiger Wirklichkeit ist.« Ebd., 200. 576 »Nichts hat von jeher den angestrengtesten philosophischen Untersuchungen und alles begreifenden Systemen mehr widerstanden, als die Frage, wie sich die Freiheit des Geschöpfes, namentlich die Willensfreiheit des Menschen, mit jener unbeschränkten göttlichen Kausalität vereinigen lasse, die im Interesse jeder wahren Religion vorauszusetzen ist. Aber die Freiheit ist ebenso sehr im Interesse der wahrhaft sittlichen Gesinnung. Ja man dürfte wohl behaupten, dass die neuen künstlichen idealistischen Systeme nur erfunden worden seien, um dieser Schwierigkeit zu entgehen, und es ist leicht einzusehen, dass, nachdem sich durch Kant so entschieden das Gefühl aussprach, dass man vor aller religiösen Überzeugung die moralische Freiheit retten sollte, in Folge davon es sich leicht hatte voraussehen lassen, dass ein Philosoph auftreten werde, der sagte: Das Ich selbst ist der Schöpfer. Einer Kausalität in Gott, einer solchen hervorbringenden Ursache kann nur ein passiver Zustand entgegengesetzt werden. Was einmal ganz und gar hervorgebracht ist, was zum eigenen Sein nichts vermochte, ein solches scheint in seinen Bewegungen und Handlungen nur dem Zuge der hervorbringenden Ursache folgen zu können.« Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 214.
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Schelling: Göttliche Freiheit als Selbstaufklärung der Vernunft
Vorträgen (1821) behauptet, richtet sich der Anspruch der (negativen) Philosophie darauf, den Begriff (oder das Was) zu ergreifen, gerade weil sie, trotz all ihrer Bestrebungen, die Existenz (oder das Dass) von sich her weder erreichen noch spekulativ begründen kann. Schelling nennt dieses erreichte Grenz-Bewusstsein ›Ekstase der Vernunft‹. Es geht um eine ganz vernünftige Ekstase, die die von Kant gegenüber dem Abgrund der Vernunft geahnte intellektuelle Erfahrung aufnimmt. Die Vernunft, sagt Schelling, ist von der Evidenz des sich durchsetzenden bloß Existierenden überwältigt. Ohne dieses positum könnte die (negative) Vernunft überhaupt nichts vor-stellen. Sie kann nicht von sich aus die Voraussetzung und den ersten Grund erschließen, von der ihre diskursive Leistung ausgeht. Die ›Tatsache‹ hat daher einen Vorrang vor jedwedem Versuch von Seiten der negativen Philosophie, ihre eigene Letztbegründung gewährleisten zu können. Dies bedeutet aber, dass die Vernunft sich nun doch irgendwie negieren können muss, indem sie zugesteht, nicht schon ihr eigener Grund sein zu können. Und genau dieses, dass sie schon immer vom Sein angegangen ist, ermöglicht der Vernunft zugleich eine Selbst-Affirmation. Damit setzt sich die Vernunft selbst durch eine Negation, die ihrem Wesen und ihrer Rolle gemäß ist (durch eine »umgekehrte Idee« 577). In dieser Bewegung, die weder dialektisch noch idealistisch (im Sinne Cacciaris) 578 zu verstehen ist – so die These hier – und noch weniger Kants transzendentaler Deduktion gleichkommt, 579 legt Schelling Rechenschaft von dem Bedürfnis ab, die Unendlichkeit des Seins als absolute Freiheit und den Zusammenhang zwischen Denken und Sein als ersten Akt der Freiheit zu begreifen. 580 577 »Das bloß Seiende ist das Sein, in dem vielmehr alle Idee, d. h. alle Potenz, ausgeschlossen ist. Wir werden es also nur die umgekehrte Idee nennen können, die Idee, in welcher die Vernunft außer sich gesetzt ist. Die Vernunft kann das Seiende, in dem noch nichts von einem Begriff, von einem Was ist, nur als ein absolutes Außer-sich setzen (freilich nur, um es hintennach, aposteriori, wieder als ihren Inhalt zu gewinnen, und so zugleich selbst in sich zurückzukehren), die Vernunft ist daher in diesem Setzen außer sich gesetzt, absolut ekstatisch.« SW XIII, 162 f. 578 Wie im ersten Teil, Kap. 3 (3.2; 3.3: bes. die Anm. 137 f.) schon gesagt, beharrt Cacciari hingegen auf dem wesentlich komplementären Charakter von Schellings ›positiver Philosophie‹ und der deduktiven Logik, mit der Hegel die Geschichte theologisch auslegt. 579 Gegenüber dem kantischen »Sich-auf-der Grenze-Halten« wäre diese umgekehrte Idee eine illegitime »Grenzüberschreitung«. 580 Schellings Entscheidung in Erlangen, die Bezeichnung der ›intellektuellen Anschauung‹ durch ›Ekstase‹ zu ersetzen, ist schon viel diskutiert worden. Unter denje-
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Man sollte immer darauf beharren, dass diese Ekstase der Vernunft trotz ihrer Vernünftigkeit nicht verbindlich für die Theorie ist (was auch für Kants transzendentales Ideal gilt), und doch ist sie nicht auf etwas Irrationales (oder Apophatisches) zu reduzieren. Aus dieser Art Verneinung der Vernunft und dem Verzicht auf jedes absolutistische Bestreben nach Selbstbegründung ergibt sich – so der Gedanke hier – eine fruchtbare Übernahme der Freiheit als Form und Inhalt des spekulativen Denkens selbst – und dies als eine Antwort auf Cacciaris Kritik an der positiven Philosophie Schellings. Doch ein solches Denken darf über Gott nicht nur als ein Jenseits oder als äußerste Grenze der Vernunft sprechen, sondern müsste ihn vielmehr als seinen freien Grund erfassen. Nun ist aber zu klären, wieweit Gott ›Grund‹ der Wirklichkeit und der Vernunft genannt werden kann, ohne dass eine derartige Behauptung die Idee Gottes begrifflich fassen will oder das Nichtobjektivierbare als Gegenstand der intellektuellen Anschauung betrachtet. Stimmt es einerseits, dass Schellings Problem bezüglich des Abgrundes der Vernunft der Fragestellung Kants nicht fern ist, so ist umso mehr zu betonen, dass Kants transzendentales Ideal bei Schelling zu einer umgekehrten Idee wird, da es erst durch eine negative Beziehung erlangt wird und nicht durch eine Form intellektueller Anschauung, die nicht durch die Sinne vermittelt und daher irgendwie ex necessitate gesetzt wäre. 581 nigen, die dieser Wortverschiebung kein großes Gewicht beimessen, sind W. Schulz und M. Theunissen zu nennen. Folglich haben sie Schellings Beitrag im Rahmen des Idealismus entweder als seine Vollendung (Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, 1955) oder als seine Aufhebung (Theunissen, Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, 1976, 17) ausgelegt. Auch Beierwaltes ist für eine synonymische Interpretation beider Begriffe: Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 1973, 250. Hier dagegen wird die Interpretation von Guido Cusinato vorgezogen. Denn er schlägt vor, die These einer ›Vollendung‹ oder ›Aufhebung‹ durch die einer ›Selbstaufgegebenheit‹ des Idealismus zu ersetzen; überdies betont er den qualitativen Bedeutungsunterschied zwischen ›intellektueller Anschauung‹ und ›Ekstase‹ : Cusinato, Oltre l’intuizione intellettuale, 2000, 554–570. Für meine Bemerkungen zur Ekstase der Vernunft bei Schelling nehme ich auch Bezug auf die Beiträge von: Pareyson, Lo stupore della ragione in Schelling, 1979, 137–180 (nun in: Ontologia della libertà, 1995, 385–437); Ciancio, Reminiscenze dell’originario ed estasi della ragione in Schelling, 1986, 97–117; Ders., Il paradosso della verità, 108–112. Dazu vgl.: De Candia, Vom unmöglichen zum potenziellen Christentum. Luigi Pareyson und die Philosophie als Hermeneutik der religiösen Erfahrung. 581 In seinen Erlanger-Vorlesungen meint Schelling, der Übergang zum Unbedingten
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Der entscheidende Beitrag, die Ekstase der Vernunft gegenüber Gott als freiem Grund anders zu betrachten, wird von Schelling in den Berliner Vorlesungen geleistet. Er meint, dass eine Betrachtung der Idee Gottes über alles Begreifen hinaus notwendig sei, wenn man die Beziehung zwischen Möglichem und Wirklichem neu bedenken oder sie sogar auf Gott anwenden will. Denn solange die Vernunft den Gott-Anfang als nachrangig gegenüber einer bestimmenden Potenz, einer vorigen Möglichkeit oder einem vorgegebenen Wesen ansieht, wird Gott nochmals zu einem bloßen Begriff reduziert. Aber das eigentlich Seiende überschreitet die Idee. Was Kant als Anfang im Sinne einer ›absoluten Spontaneität der Handlung‹ bezeichnet, ist ohne eine vorangehende Potenz zu denken. Der Anfang ist deshalb eher ein Abgrund als ein Grund. Ein solcher Abgrund ist jedoch nicht als ein Hintergrund zu verstehen, woraus Gott hervorginge, als ginge es um eine bloße Bedingung der Möglichkeit Gottes (wie Cacciari meint). Im letzten Fall liefe man sonst wieder einmal Gefahr, den Abgrund als einen Grund sui generis zu betrachten. Im Gegenteil, der Abgrund kann als solcher lediglich ex post bestimmt sein, nachdem Gott sich entschieden hat, etwas anzufangen. In dem Bruch zwischen negativer und positiver Philosophie bzw. göttlicher Freiheit und Schöpfung entdeckt man, dass es nicht Gott ist, der seinen Grund im Abgrund hätte, sondern dass eben dieser ›Abgrund‹ (wenigstens als regulative Idee der Vernunft, quasi als Gedanken-Experiment) eigentlich ein Ausdruck der ursprünglichen Freiheit Gottes ist. Da die unendliche Potenz zum Sein erst durch eine in ihm liegende Möglichkeit zum rein Existierenden wird (eine Möglichkeit, die ihrer eigentlichen Freiheit selbst entspricht), darf nur eine positive Philosophie einen Zugang zum Wesen Gottes haben und zugleich das Wort ›Abgrund‹ als Ausdruck seiner grundlosen Freiheit bewahren. Es ist also nicht aufgrund einer prometheischen Bestrebung, aufsei bloß durch die Annahme eines Nichtwissens (SW IX, 233) als gelöst zu betrachten. »Es ist gerade aus diesem Grunde, dass der Begriff von Selbstgegebenheit in Erlangen immer noch die Bestrebung in sich trägt, Gott durch das Nichtwissen ergreifen zu wollen, während diese Möglichkeit in Berlin explizit ausgeschlossen wird. Der Irrtum in Erlangen war es, zu denken, dass diese Stufe statt einer Übergangsphase von der negativen zur positiven Philosophie die Auflösung des Problems bedeutete und es ermöglichte, Gott als Freiheit – wenn auch negativ – erreichen zu können, ohne sich bewusst zu werden, die bloße Vorgeschichte des Göttlichen wie bei Spinoza wieder vorgeschlagen zu haben: Der Gott als Notwendigkeit, der Gott im Begriff.« Cusinato, L’ontologia della persona nella prospettiva dell’ultimo Schelling, 2009, 231–242. Der Anfang als Freiheit
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grund derer der Mensch zu Gott gelangte, sondern es ist Gott selbst als ›Herr des Seyns‹, welcher ganz frei dem Erkenntnisbedürfnis des Menschen entgegenkommt. Er kommt gleichsam zur Vor-Stellung (»Dieu vient à l’idée« mit Lévinas zu sprechen), insofern er alle Potenzen übersteigt und erfüllt; aus diesem Grund stellt er die von jeglicher Verwirklichung freie Möglichkeit (über alle Notwendigkeit hinaus) dar. Gott ist keine Potenz, die dazu genötigt wäre, zum Aktus überzugehen, sondern er ist die Freiheit des reinen AnfangenKönnens. Denn im Unterschied zu Hegel ist die Realität des Absoluten nicht genötigt, sich durch eine dialektische Vermittlung mit dem Anderen-seiner-selbst sich als Selbst zu offenbaren und zu verwirklichen. Aber wenn sein Wille sich einmal dafür entscheidet, etwas mit sich und dem Anderen anzufangen, dann kann der Mensch a posteriori einen Zugang zu dessen Erkenntnis haben. Der Übergang von der negativen zur positiven Philosophie bedeutet mithin, dass Schelling die Analyse des Beitrags der Religion für legitim hält, vor allem hinsichtlich dessen, was das Christentum ›als die höchste Tatsache‹ 582 auffasst, wobei das Gott-Welt-Verhältnis nicht mehr nach einem emanatistischen oder pantheistischen Modell, das jedwede Art göttlicher und menschlicher Freiheit vernichtete, sondern durch den Schöpfungsgedanken als Ausdruck eines realen Freiheitsgeschehens gedacht ist. Abgesehen von vielen kritischen Bemerkungen zu Schellings Betrachtungen genuin theologischer (vor allem der trinitarischen) Themen, kommt seiner späten Philosophie das Verdienst zu, die christlich geprägte Reflexion davon befreit zu haben, »sich letztbegründend rechtfertigen (nicht: vernünftig Rechenschaft ablegen) zu müssen«; und ebenso, die Metaphysik befreit zu haben von der Täuschung, »die Wirklichkeit des Absoluten« »sicherstellen« 583 zu sollen. Die vernünftige Erkenntnis Gottes ergibt sich nicht aus der Dialektik einer selbstbezüglichen Vernunft, sondern im Ausgang von einer Offenbarung als jener Tatsache, »worüber nichts mehr Höheres ist«. 584 Da überdies der Einbruch dieses Anderen der Vernunft nicht strikt jenseits der Vernunft ist, sondern die Möglichkeit einer Selbstaufklärung der Vernunft selbst verwirklicht, bezeugt, so 582 583 584
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Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 432. Krüger, Absolut göttlich, 2007, 111; 104–113. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 78.
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Schelling: Göttliche Freiheit als Selbstaufklärung der Vernunft
die These hier, das Christentum auch seine orientierende Funktion für die philosophische Reflexion. Weder Kant noch Schelling können beanspruchen, die Existenz Gottes oder die Realität seiner vollkommenen Freiheit bewiesen zu haben. Und dennoch zeigt die Entwicklung von Kant zu Schelling, dass diese Möglichkeit nicht den Vernunftkonzeptualisierungen kontradiktorisch entgegensteht; im Gegenteil, der christliche Glaube appelliert an etwas, was die Vernunft selbst einfordert, sofern sie sich auf das Problem der anfänglichen Freiheit Gottes und des Menschen einlässt.
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Kapitel II Die anfängliche Freiheit Gottes als Ermöglichungsgrund der Welt: Rückblick auf die historisch-systematische Entwicklung der Schöpfungslehre Das theologische Schöpfungsverständnis hat eine vielhundertjährige Entstehungsgeschichte erfahren und kommt als ein reicher Interpretationshorizont in Frage, um von hier aus diejenigen Denkanstrengungen zu würdigen, die sich eindringlich um den Gedanken einer freien Kausalität bemühten – dies insbesondere von Autoren in dem eingegrenzten Zeitraum von Kant bis Schelling. Es ist aber unerlässlich, noch einmal die wichtigsten Etappen dieser Geschichte, bei den Wurzeln anfangend, zu durchlaufen, um auf neue Weise auf Duns Scotus und seine theologische Auflösung des Gott-Kontingenz-Verhältnisses aufmerksam werden zu können und damit zu vermeiden, dass die theologischen Aussagen zur Idee der Schöpfung oder ein freies und auf Kontingenz gerichtetes Eingreifen Gottes für die philosophische Vernunft wie eine unvernünftige dogmatische Formel klingen. Es ist zu erinnern, dass die Vorstellung einer creatio ex nihilo äußerst fremd für die griechisch-philosophische Tradition, die den eleatischen Gedanken des »ex nihilo nihil« für gültig hielt. Offensichtlich entsteht jedoch die Idee einer Schöpfung aus dem Nichts im Kontext der biblischen Offenbarung Israels. Wie die exegetische Forschung zeigt, gilt als hermeneutisches Kriterium für die Interpretation der Textstellen zur Schöpfung die Bundestheologie und damit die enge Beziehung in Gott selbst zwischen dem Befreier Israels und dem Schöpfer der Welt, zwischen Schöpfung und Regierung der Welt. 585 Jener Textstelle aus dem zweiten Buch der Makkabäer, welche sich auf die Schöpfung aus dem Nichts bezieht (»quia ex nihilo fecit illa Deus 585 Ein Bezugspunkt für die biblische Exegese sind die Untersuchungen von: von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, 1962, 156 ff.; Schmidt, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift, 1964, 166. Die wichtigsten Textstellen der Bibel zur Schöpfungsidee sind: Gen 1–2; 2 Makk 7:28; Jer 32, 17–22; Hiob 38, 4–11; Sir 43, 27–33; Weish 9, 1–9; 13, 1–9; Spr 8, 22–31; Ps 103. Für das Neue Testament: Kol 1, 1–15.
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et hominum genus« 2 Makk, 7,28) und die daher in der Vergangenheit eine große metaphysische Bedeutung gewann, kann aus exegetischer Sicht nun aber gar kein kosmologischer Anspruch zugeschrieben werden. 586 Es sind dann die Kirchenväter gewesen, die sich zuerst nach der metaphysischen Tragweite der Idee einer creatio ex nihilo gefragt haben. Sie waren von den kosmologischen Fragen bewegt, die im Kontext des Hellenismus vorherrschten. Die theologische Schrift, in der die These einer Schöpfung aus dem Nichts zuerst auftaucht, ist der Pastor Hermae (1,1) aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Und gerade in jener Zeit wird es durch das allmähliche Überdenken der biblischen Schöpfungsidee langsam immer dringlicher, die theoretischen Implikationen der Vorstellung Gottes als des einzigen, absoluten, notwendigkeitsfreien Schöpfers zu erhellen – dies geht aber mit einer Ablehnung der griechischen Vorstellung einer vorexistenten Materie einher. Trotz des Bewusstseins eines radikalen Unterschieds zwischen der jüdisch-christlichen Auffassung des Anfangs und dem Ewigkeitsdenken des Hellenismus hat die theologische Reflexion sich relativ spät von den theoretischen Voraussetzungen des Platonismus befreit. Noch bei Augustinus finden sich viele Spuren griechischen Denkens, schon mit dem Ziel, die Unveränderlichkeit Gottes mit der zeitlichen Schöpfung zu versöhnen; so behauptet er, dass in der von Gott geschaffenen Materie verborgene Keime bzw. Formen (rationes seminales) seien, welche als Urbilder die göttliche Schöpfung von Einzelwesen geleitet hätten (Kap. 2.1). Selbst Thomas, auf Aristoteles Modaltheorie zurückschauend, vermag nicht, die creatio ex nihilo als Ausdruck absoluter, unmittelbar aufs Kontingente hin handelnde Freiheit Gottes zu denken (Kap. 2.2). Nach dem Universalien-Streit im 13. Jahrhundert und dem schwankenden Kompromiss des Heinrich von Gent zwischen Partizipations- und Schöpfungsmodell (Kap. 2.3.1), ist es erst Duns Scotus, der durch eine Neubestimmung der Kontingenz (Kap. 2.3.2) eine kohärente, biblisch fundierte Theorie einer Schöpfung aus dem Nichts aufstellt, welche eine absolute, nicht vorherbestimmte, geschichtlich handelnde Freiheit Gottes dar-
Vgl. Schmuttermayr, Schöpfung aus dem Nichts in 2 Makk 7:28?, 1973, 203–228; Groß, Creatio ex nihilo, 1989, 149–157. Neuere Beiträge sind: Berger, Creatio non ex nihilo und die Theodizeefrage, 2001, 19–25; Lohmann, Die Bedeutung der dogmatischen Rede von der »creatio ex nihilo«, 2002, 196–225; Thaidigsmann, Schöpfung aus dem Nichts, 2005, 351–371.
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stellt (Kap. 2.3.2). Dieser Gedankengang ist vorweg zu entwickeln, um so einen Blickwinkel gewinnen zu können, der es erlaubt, das philosophisch-theologische Einkreisen der Anfangsthematik schon von seinen Wurzeln her schärfer in den Blick zu bekommen.
2.1 Augustinus zwischen Platonismus und Christentum: creatio ex nihilo und rationes seminales Die christliche Lehre der creatio ex nihilo nimmt im Laufe des 2. Jahrhunderts Form an und entfernt sich immer mehr von der im Timaios dargelegten platonischen Vorstellung des Demiurgen. Philon von Alexandria, Justin und Athenagoras sprechen noch von einer Formung der Schöpfung aus einer präexistierenden Materie, und zwar gemäß den Vorgaben von Platon. 587 Der erste, der die göttliche Schöpfung der Materie annahm und somit das Sich-Geben einer zweiten ewigen Instanz neben Gott verneinte, war Tatian, der Schüler von Justin. 588 Nach seinem Vorbild kreist die nachfolgende Theologie um den Ursprungsakt des Willens und der göttlichen Güte, die die Welt und den Menschen ins Sein setzt. 589 Obwohl innerhalb der patristischen Theologie immer deutlicher wird, dass die ingenita libertas (Origenes) und Güte Gottes als alleiniger Grund seiner Schöpfung im Vergleich zu jeder vorausgesetzten (inneren oder äußeren) Notwendigkeit zu betrachten sei, 590 bleibt immer noch eine gewisse Abhängigkeit der theologischen Sprache von der griechischen Denkweise übrig und führt zu einer äußerst Justin, Apologia, I, 10,2; Athenagoras, Suppl., 22, 2. Für die Rekonstruktion der Entstehung der Schöpfungslehre ist zu verweisen auf das Standardwerk von: May, Schöpfung aus dem Nichts, 1978, 6–26. Vgl. auch Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, 2011, 296–346, 316 f. 588 Tatian, Oratio ad graecos, 5, 3. 589 Teophilus von Antiochia, Ad Autolicum, I, 4; I, 8; II, 4; Irenäus von Lyon, Adversus haereses, II, 1,1; 10, 4. 590 Im Vorwort zum De principiis bestätigt Origenes den geschaffenen Charakter der Welt, im Gegensatz zu denjenigen, die die Ewigkeit der Materie behaupten. Zur Verteidigung der Freiheit Gottes durch Origenes in Auseinandersetzung mit den Determinismen der Philosophen, insbesondere der Stoiker und auch der Gnostiker, vor allem der Valentinianer: Vgl. Fürst, Von Origenes und Hieronymus zu Augustinus, 2011, 3–24; Hengstermann, Origenes und der Ursprung der Freiheitsmetaphysik, 2015; Schockenhoff, Theologie der Freiheit, 24–40. 587
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Augustinus zwischen Platonismus und Christentum
brüchigen Synthese im Rahmen der spezifisch christlichen Anschauung. 591 Der neuplatonisch-heidnische Wortschatz wird zum Großteil von den christlichen Neuplatonikern wieder aufgenommen und hat unausweichliche Folgen für den Gottesbegriff wie den Schöpfungsgedanken. 592 Da das Evangelium jeweils zu kontextualisieren ist, also in seiner jeweilig aufgefassten Bedeutsamkeit für die Kultur einer jeden Epoche erschlossen werden soll, zeigt sich, dass der immer dichter werdende Zusammenhang zwischen Hellenismus und Christentum gewiss notwendig und fruchtbar für die Entwicklung der theologischen Lehre war, dennoch ist dieser nicht ohne (manchmal sogar heftige) 593 Spannungen und Schwierigkeiten vonstatten gegangen. Die von Cacciari durchgeführte Analyse zu diesem Thema scheint unanfechtbar. Noch Augustinus versucht die christliche Schöpfungslehre durch einen neuartigen Vergleich mit der neuplatonischen Vorstellung der ›Partizipation‹ plausibel zu machen. Dieser theoretisch belastete Be591 Trotz der wichtigen hermeneutischen Arbeit der Vätertheologie, die im IV. Jahrhundert wesentlich zum Verständnis der creatio ex nihilo vor allem durch die Genesis-Kommentare beigetragen hat, wurden immer noch viele platonisierende Elemente mittransportiert und so weiterhin tradiert. Man denke z. B. an Basilius, der einerseits auf dem Unterschied zwischen christlicher und platonischer Auffassung bei der Auslegung der creatio ex nihilo beharrt (Homiliae in hexaemeron, IX, 1), andererseits aber hinsichtlich des Begriffs der Ἀρχή insbesondere betont, dass die durch die Schöpfung eingeführte zeitliche Abfolge ihren Grund außerhalb der Zeit habe (Homiliae in hexaemeron, I, 6). Dieselbe Thematik wird auch von seinem Bruder Gregor von Nyssa behandelt, der den Urgrund der zeitlichen Schöpfung in einem schöpferischen Akt Gottes außerhalb der Zeit sieht. Vgl. Rousselet, Grégoire de Nysse, avocat de… Moïse, 1973, 95–113; hier 105–109. 592 Unter den wichtigsten Forschungen über den historischen, begrifflichen und systematischen Übergang vom heidnischen zum christlichen Platonismus ist zu erwähnen: Gersch, From Iamblichus to Eriugena. An Investigation of the Prehistory and Evolution of the Pseudo-Dyonisian Tradition, 1978, 125–203. Für die Folgen derselben Problematik bei der Bestimmung der Gottesidee wird verwiesen auf: Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs, 316 f. 593 Gegen diejenigen, die einer Harmonisierung zwischen biblischer und griechischphilosophischer Tradition das Wort reden, hat der Theologe Klaus Müller anhand der Quellen gezeigt, wie schwierig das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft seit dem 2. Jahrhundert gewesen ist, sogar von Seiten der Anhänger des Neuplatonismus: Müller, Atene – Gerusalemme via Jena. Ragione e fede nella Modernità (it. übers. von Gianluca De Candia), 2015, 41–64. Im selben Jahrgang der Zeitschrift ist ein Beitrag von Massimo Cacciari erschienen: La radice del credere (9–20). Die Zeitschrift enthält insgesamt die Vorträge, die beide Autoren (u. a.) im Rahmen der XXI. Internationalen Hermeneutik-Tagung zum Thema ›Glaube/Vertrauen‹ in Urbino am 12.– 13. September 2014 gehalten haben.
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griff wird von ihm so ausgelegt, dass er die dualistische Tendenz platonischer Prägung ebenso meidet wie die monistische Tendenz plotinischen Ursprungs. Nach Augustinus kommt das Erzeugte weder von der Substanz des Erzeugenden (Plotin) noch von einer ewigen präexistierenden Materie (Platon); damit entspricht also die Schöpfung weder einer Emanation oder Erzeugung noch einer Herstellung. Denn nur der Sohn wird vom Vater gezeugt (de Deo); die Kreaturen sind vom Vater durch das Wort ex nihilo geschaffen. Auch wenn diese nicht de Deo sind, müssen sie doch a Deo gedacht werden. 594 Bei der Explikation der Art und Weise der Teilnahme der Kreaturen an Gott greift Augustinus auf das Konzept der Exemplar-Ursachen oder rationes seminales 595 zurück. Sie sind die Hauptformen im Geist des Schöpfers, durch die er alles Seiende geschaffen hat. 596 Mit der Textstelle der quaestio 46 (De ideis) in De diversis quaestionibus LXXXIII betrachtet Augustinus das Thema der rationes ausführlich. Laut dieser muss man, so lässt sich belegen, die Existenz solcher rationes seminales annehmen, wenn man folgenden Eckdaten gerecht werden will: Erstens hat Gott die Welt nicht nur in die Existenz gerufen, sondern er kennt sie auch mit Gewissheit und regiert sie vernunftgemäß; zweitens hat er die Welt nicht irrational geschaffen (Deus irrationabiliter omnia condisse); drittens hat er
594 In seiner Erwiderung auf den Manichäer Felix, der ihm den Vorwurf gemacht hatte, die Seele als ex Deo non est betrachtet zu haben, schlägt Augustinus eine Unterscheidung zwischen ›de Deo‹ und ›a Deo‹ vor: Contra Felice Manichaeum libri duo. An anderer Stelle schreibt Augustinus: »De nihilo enim a te, non de te facta sunt, non de aliqua non tua vel quae antea fuerit, sed de concreata, id est simul a te creata materia, quia eius informitatem sine ulla temporis interpositione formasti. Nam cum aliud sit caeli et terrae materies, aliud caeli et terrae species, materiem quidem de omnino nihilo, mundi autem speciem de informi materia, simul tamen utrumque fecisti, ut materiam forma nulla morae intercapedine sequeretur.« Augustinus, Confessiones, XIII, 33,48. 595 Der Ausdruck »rationes seminales« hat einen stoischen Ursprung. Er wird konventionell verwendet für die besondere Weise der Bestimmung des Exemplarismus bei Augustinus. In der Tat verwendet er die Keim-Baum-Metapher, um die Verhältnisse zwischen idealen Wesenheiten und der Entstehung der Welt auszulegen (De Genesi ad litteram, V, 23, 44–45; VI, X, 17 – nun: De Gen. ad litt.). Wie der Begriff rationes seminales selbst beschreibt, müssen jene Gründe als Saatkörner verstanden werden (lat. semen), in denen sich schon das gesamte Sein, das mit der Zeit entsteht, potenziell befindet: Augustinus, De Gen. ad litt., V, 23, 44–45; VI, 6, 17–12, 20; Ders., De Trinitate, III, 8, 13–9, 16; Ders., Quaestiones in Heptateuchum, II, 21. 596 Ders., De diversis quaestionibus octoginta tribus (nun: De div.), q. 46, 2.
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Augustinus zwischen Platonismus und Christentum
Wesen unterschiedlicher Natur (Mensch, Pferd, Pflanze) nach je verschiedenen Arten geschaffen (propriis sunt creata rationibus). Denn es wäre sinnlos anzunehmen, dass Wesen unterschiedlicher Natur eine und dieselbe exemplarische Form darstellen könnten. Die Spekulation von Augustinus zielt darauf ab, so lässt sich schließen, die Beziehung zwischen einer Vielzahl von Ideen und dem göttlichen Verstand zu betrachten, ohne dadurch die absolute Einfachheit Gottes zu beeinträchtigen noch eine ewige (und daher nicht von ihm geschaffene) Wirklichkeit neben Gott annehmen zu müssen. Die Aussage, mit der Augustinus diesem doppelten Anspruch zu genügen sucht, stammt aus dem Prolog des Johannesevangeliums, wobei der alles-erschaffende ewige Logos nicht nur bei/in Gott, sondern selbst Gott ist (Joh 1,1–3). In diesem Sinne ist der göttliche Verstand, welchem die ewigen und unveränderlichen formae principales innewohnen, das Verbum Die, 597 der Sohn als Gott selbst. Denn der Rekurs auf die differenzierte Einheit des trinitarischen Gottes erlaubt es Augustinus, die Ideenlehre aufrechtzuerhalten, auf der der geordnete und vernünftige Charakter der Schöpfung gründet, unbeschadet der absoluten Einfachheit Gottes; ferner die Hypothese zu vermeiden, wonach die rationes hypostatische Wirklichkeiten außerhalb des Wesens Gottes seien (extra se quidquam positum); 598 endlich den Unterschied zu wahren zwischen dem produktiven Handeln der Geschöpfe (die immer von einer schon gegebenen Voraussetzung ausgehen) und dem schöpferischen Akt Gottes, der allein von sich selbst (in Verbo Dei) ausgeht. Im V. Buch von De Genesi ad litteram kommt Augustinus auf das Thema zurück und erklärt die Lehre der rationes seminales durch einen dreigegliederten Gedankengang: In dem Wort wohnen die idealen, ewigen, unveränderlichen rationes der Dinge (V, XIII, 29-XVI, 34); in der prima conditio (›erste Begründung‹ der Materie) bestehen die Geschöpfe nicht in ihrer vollständigen Form, sondern potentialiter atque causaliter, d. h. als ursächliche Gründe (XVII, 35-XIX, 39); endlich beginnen diese Samenkörner, von einem Entschluss der Vorsehung belebt, sich in der Zeit zu entwickeln (administratio) (XX, 40
Ders., De Gen. ad litt., II, 6, 12; 5, 13, 29. Genau genommen stammt die Behauptung der Nicht-Äußerlichkeit der Intelligibilien dem göttlichen Verstand gegenüber von Plotin (Enneades, V, 5, 32) und Philo. Was Philo betrifft vgl. Kondoleon, Divine Exemplarism in Augustine, 1970, 81–195; 183–184. 597 598
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– XXII, 43). Von unten her gesehen zeigt diese dreistufige Entwicklung, dass in gewisser Weise die Geschöpfe vor ihrer Schöpfung selbst präexistieren: Das Wort enthält seit Ewigkeiten die Gründe (rationes) von allem, was in der Zeit geschaffen wird. Da hier die rationes der (ewigen und unfehlbaren) Sapientia Dei selbst entsprechen, kann den idealen Gründen nicht der Status der Möglichkeit zukommen. Es geht eher um exemplarische ›Wirklichkeiten‹, die virtuell nur das vom Wesen Gottes darstellen, was durch den Sohn den Geschöpfen mitteilbar wäre. So bleibt die Reflexion von Augustinus insgeheim abhängig von einem eternalistisch-partizipativen 599 Modell, dessen Einfluss auch dort spürbar ist, wo der Bischof von Hippo die bewegenden Motive für die Schöpfung diskutiert. Denn den Gedankengängen über die eigentlichen Bewegungsgründe der Schöpfung durch Gott eignet eine gewisse Zweideutigkeit: Es gibt Stellen, mit denen Augustinus die spezifische Rolle des göttlichen Willens (quia voluit) als alleiniger Ursache der Schöpfung betont, indem er das aus dem Neuplatonismus stammende Partizipationsmodell in Richtung eines Voluntarismus interpretiert; 600 es gibt aber auch viele Stellen, mit denen er behauptet, dass die Hauptmotivation der Schöpfung Gottes wesentlich die Güte des göttlichen Wesens (quia bonum) 601 selbst sei. Diese Schwebe zwischen Voluntarismus und innerem Determinismus, also zwischen der Behauptung eines grundlosen Aktes aus einem ursprünglichen Entschluss Gottes und der Vorstellung von einem eingeborenen Impuls des höchsten Guten zur Schöpfung überhaupt (bonum effusivum sui), hat zu einer lebhaften Diskussion unter den Forschern geführt. 602 Abgesehen von vielen möglichen Stellungnahmen sollte man zuallererst anerkennen, dass die Ambiguität der augustinischen Kosmologie aus dem Bedürfnis kommt, von der christlichen Vorstellung Augustinus, De div., q. 46, 2. Ders., De Genesi adversus Manichaeos, I, 2, 4; Ders., Contra Priscillanistas (et Origenistas) liber unus, III,3. 601 Ders., De Trinitate, XI, 5, 8; Epistula 166, V, 15 (an Hieronymus). Ein Werk, das beide Aspekte enthält, ist der Kommentar zum Psalm 134, 6 (En. Ps. 134). 602 Einige Autoren optieren für eine Harmonisierung beider Lesarten (Gilson, Introduction à l’ètude de Saint Augustin, 1949, 218–219; Robert-Henri Cousineau, Creation and Freedom: An Augustinian Problem: ›Quia voluit‹ and/or ›Quia bonus‹ ?, 1963, 253–271). Andere betonen hingegen ihre theoretische Unvereinbarkeit. Roland J. Teske z. B. erklärt, dass dieser Streit nur durch die Annahme »eines optimistischen Determinismus des göttlichen Willens« aufgelöst werden könne: Teske, The Motive for Creation according to Saint Augustin, 1987/88, 245–253, 253. 599 600
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Augustinus zwischen Platonismus und Christentum
eines persönlichen Schöpfers Rechenschaft ablegen zu wollen – und dies in einem stark vom Neuplatonismus geprägten Kontext. So ist die Annahme eines doppelten Registers (quia voluit / quia bonum) eher auf apologetische Gründe zurückzuführen als auf eine nachgiebige Haltung von Augustinus gegenüber neuplatonischen Strömungen. Denn er weist die größere Angemessenheit der christlichen Kosmologie aus im Unterschied zur neuplatonischen, dies jedoch unter Zuhilfenahme einiger neuplatonischer Kategorien. Deshalb wäre es ebenso irrig, jeden platonischen Einfluss auf Augustinus zu leugnen, noch, ihn vornehmlich von diesem her zu interpretieren. Steht aber fest, dass das Unum bei Plotin nicht als Subjekt eines Entschlusses zu denken ist, dann ist ebenso klar, dass Gott bei Augustinus kein sich unpersönlich verströmender »Prinzip-Grund« sein kann, von dem alles ohne Entschließung herkäme. Gaetano Lettieri hat mit gutem Recht betont, dass, wenn in neuplatonischer Hinsicht »jedes Ding wesentlich Beziehung ist«, so ist in augustinischer Sicht »jedes Ding Wille zur Beziehung«. 603 Augustinus bemerkt vielerorts, dass sich Gott weder aus Mangel noch aus Notwendigkeit zur Schaffung der Welt entschieden hat, sondern aus vollkommener Liebe. 604 Neben dieser historischen Beurteilung, die den Beitrag von Augustinus in seinem Kontext einzuschätzen und zu verteidigen scheint, sollte man auch anerkennen, dass in logisch-systematischer Hinsicht seine Schöpfungslehre immer noch Schwierigkeiten enthält. So sehr Augustinus auf der nicht-notwendigen Entwicklung der ewigen ›Samenkörner‹ beharrt, weil sie auf einem göttlichen Willensakt gründe, so ist doch der göttliche Wille selbst nichts anders als in ewigem Einklang mit seinem Verstand zu denken und daher mit allen ihm innewohnenden exemplarischen Formen. Folglich ist der Status der rationes seminales nicht mit dem des bloß Möglichen überhaupt zu vergleichen (von denen nur einige von Gott zur Existenz bestimmt würden), sondern mit den ewigen, der göttlichen Weisheit gemäßen Ideen, die, formal betrachtet, virtuell schon präexistierten. Anders ausgedrückt: Da die ewige Beziehung von Wille und Verstand, Vater und Wort wesentlich kommunikative Liebe ist, scheint dieselbe kommunikative Kraft Gottes nur in der Schöpfung die ihr gemäße Entsprechung finden zu können. Es ist, als ob in dieser Hinsicht Augus603 Lettieri, Il paradosso della creazione nel De civitate Dei, 1996, 215–240: 240, Anm. 56. 604 Augustinus, De Gen. ad litt., I, 5, 11; Ders., De octo Dulcitii quaestionibus, q. 8, 2.
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tinus das neuplatonische Prinzip des »bonum effusivum sui« im trinitarisch-personalen Sinne aktualisiert habe. 605 Bei genauerer Betrachtung wird klar, dass der ewige Einklang von Verstand und Willen in Gott eine enge Verbindung zwischen Rationalität und Wirklichkeit impliziert: Ausgehend von Augustinus wird diese Überzeugung das theologische Denken für wenigstens ein Jahrtausend leiten, letztlich bis zur Gegenprobe von Duns Scotus anhand seines Ordo-Begriffs. Dieser geschichtlich sich abzeichnende Interpretationszusammenhang ist komplex, muss hier aber doch wenigstens in seinen Hauptzügen aufmerksam verfolgt werden.
2.2 Aristotelismus, Platonismus und Christentum. Thomas von Aquin: die durch Kontingenz und VorsehungsDeterminismus vermittelte Schöpfung Der Neuplatonismus beeinflusste – angetrieben durch die Verbreitung der Schrift De divinis nominibus von Pseudo-Dionysius Areopagita, wie auch durch die Schrift Elementatio theologica von Proclus und auch durch das Buch Liber de causis – weiterhin die mittelalterliche Theologie, während diese doch zugleich schon die Kategorien des griechisch-arabischen Aristotelismus als Denkmodell angenommen hatte. 606 Als in der Mitte des 13. Jahrhunderts der theo605 Man kann wohl der Beurteilung von Thomas Pröpper zustimmen: »Die Interpretation der Anfangslosigkeit Gottes als Unveränderlichkeit (Thpl. Ant. Autol. II, 2) und zeitabgeschiedener Ewigkeit hat das Verständnis seiner Freiheit und Treue in seinem geschichtlichen Handeln ebenso nachhaltig behindert wie die Aufnahme der stoischen Vorsehungslehre, die zudem der menschlichen Freiheit widersprach. Auch wo man Gottes Liebe mit der platonischen Idee des Guten verband oder seine unbegreifliche Andersheit aus seiner metaphysischen Einfachheit erklärte, wurde seine ursprüngliche Freiheit verfehlt. Zentral ist die Vorstellung von Gott als Wille in der westlichen Theologie, doch treten hier die ontologischen Fragen zurück. So hat namentlich Augustinus seinen voluntaristisch modifizierten Neuplatonismus dem biblischen Denken geöffnet, aber durch seine spätere Verabsolutierung der wirksamen Gnade und seine partikularistische Prädestinationslehre den biblischen Erwählungsgedanken auch verdunkelt und seine Wirkungsgeschichte belastet.« Pröpper, Freiheit Gottes, 296 f. 606 Über die Einflüsse der negativen Theologie (vor allem des Pseudo-Dionysius Areopagitas), die Reflexion der mittelalterlichen Philosophie und die darauf bezogenen Fragen für ein widerspruchsfreies Verständnis der Offenbarung als endgültiger Selbstoffenbarung Gottes kann man verweisen auf: Striet, Offenbares Geheimnis, 2003.
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logische Gebrauch von Aristoteles nach anfänglichem kirchlichen Verbot rehabilitiert wurde, hatte die Theologie zuallererst das Problem in Angriff zu nehmen, die aristotelische Auffassung eines unveränderlichen Gottes, eines unbeweglichen Erstbewegers der Welt zu überwinden, da sie eine ewige, nicht in der Zeit geschaffene Welt implizierte. 607 Albertus Magnus, der den Aristotelismus und Neuplatonismus zu synthetisieren versuchte, ist sich bewusst geworden, dass die Konzeptualisierung der Freiheit Gottes von der mangelnden Erklärungskraft des Emanationsmodells ernstlich bedroht ist. Er versucht, diese spezifische Schwierigkeit zu lösen, indem er feststellt, dass der zeitliche Anfang der Welt als Schöpfung keine physische (widerspruchslos durch die Vernunft beweisbare) Lehre sei, sondern eine religiöse Annahme. 608 Sein Schüler Thomas von Aquin gesteht, die Abwegigkeit aristotelischer Lehre sei strikt vernünftig nicht beweisbar, allenfalls deren Nichtnotwendigkeit, so dass also die Annahme der creatio ex nihilo als Glaubenswahrheit wenigstens im Prinzip plausibel zu sein scheint. 609 Im II. Buch der Summa contra Gentiles betrachtet Thomas die transitiven Handlungen Gottes, d. h. die seiner Regierung ad extra, während er im I. Buch die immanenten Handlungen Gottes (Wissen, Wollen, Lieben) dargestellt hatte. Ziel des Werks ist bekanntlich zweierlei: Auf der einen Seite ist es ein Lehrbuch, das die notwendigen Glaubensaussagen darbietet; auf der anderen Seite ist es eine Widerlegung derjenigen Irrtümer über das Wesen der Geschöpfe, die die Vorstellung Gottes unweigerlich gefährden (II. Buch, Kap. 3). Diese methodologische Ausrichtung ermöglicht es Thomas, sein kritisches Interesse an der Naturwissenschaft zu legitimieren, soweit sie die Natur der Geschöpfe analysiert. Bedeutsam für den Zusammenhang hier ist seine Behandlung der Frage nach der Ewigkeit der Welt (II., 31–38). Er vertritt den Standpunkt, den er im bekannten Büchlein De aeternitate mundi noch ausführlicher vertreten wird: Im Prinzip ist die Hypothese einer Zur Tragweite der Fragestellung im 13. Jahrhundert vgl. Bianchi, L’errore di Aristotele, 1984; Ders., Il vescovo e i filosofi. La condanna parigina del 1277 e l’evoluzione dell’aristotelismo scolastico, 1990; Dales, Medieval Discussion of the Eternity of the World, 1990; Ders., The Eternity of the World in the Trought of Thomas Aquinas and His Contemporaries, 1990. 608 Albertus Magnus, Physica, VIII, tr. 1, c. 13 und 14. Dazu siehe: Baldner, Albertus Magnus on creation: why philosophy is inadequate, 2014, 63–79. 609 Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, q. 45, a. 1. 607
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Ewigkeit der Welt und mithin einer Ewigkeit der Geschöpfe vernunftgemäß legitim, aber nicht notwendig. Dies bedeutet erstens, dass es keine zwingenden Gründe dafür gibt, die Ewigkeit der Welt als unabweisbar darzustellen; zweitens, dass ein unbestreitbarer Beweis der entgegengesetzten Position (als der Nicht-Ewigkeit der Welt) ebenso unmöglich sei – wie das hingegen die franziskanischen Lehrer behaupteten, deren Thesen Thomas im Kap. 38 widerlegt. Daraus folgt, dass das theologische Argument, wonach die Schöpfung einen zeitlichen, dem Willensakt Gottes entsprechenden Anfang hat, schlechthin eine Glaubensaussage ist, deren Wahrheit von einem rationalen Blickwinkel aus nicht zwingender als die entgegengesetzte Position zu sein scheint. In Bezug auf den Standpunkt, den Thomas einnimmt, ist zweierlei zu berücksichtigen: Zuallererst – und dies ist von höchstem Interesse für das Verständnis von seiner Auffassung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie – besteht sein Bestreben nicht darin, die Zeitlichkeit der Schöpfung unbestreitbar zu beweisen, sondern eher Kompetenzstreitigkeiten zwischen den zwei Ordnungen des Wahren zu vermeiden, da sowohl die philosophische als auch die theologische Verfahrensweise jeweils von den ihnen genuin eigenen Grenzen getragen werden. 610 Wie derselbe Argumentationsaufbau in der Summa contra Gentiles beweist, besteht der Unterschied zwischen Theologie und Philosophie nicht so sehr in ihrem Objekt, son-
610 Diesbezüglich scheint sehr zutreffend, was Pasquale Porro schreibt (und worauf ich Bezug nehme): »[…] der Theologe Thomas ist kein Meister der irenischen Versöhnung zwischen Theologie und Philosophie […] die Leistung der Vernunft besteht (nach ihm) darin, Kompetenzstreitigkeiten zu vermeiden und apodiktische Ansprüche sowohl der Philosophie als auch der Theologie abzuweisen: Wir werden also eine doppelte Widerlegung haben, eine doppelte pars destruens, auf welche aber keine eigentliche pars construens folgt, sondern nur die Annahme einer Glaubenswahrheit, welche die Vernunft weder beweisen noch widerlegen kann.« Porro, Tommaso d’Aquino, 191. Für eine weitere Betrachtung des Themas siehe auch: 186–192; 439– 447. Über das II. Buch des Werkes Contra Gentiles: Kretzmann, The Metaphysics of Creation. Aquinas’ Natural Theology in Summa contra Gentiles II, 1999. Zum Verständnis der Schöpfungslehre des Thomas im Licht seines Trinitätsdenkens verweise ich auf die verdienstvolle Studie von Gilles Émery, La Trinité créatrice. 1995; Vgl auch Ders., Essentialisme et personnalisme dans le traité de Dieu chez saint Thomas d’Aquin. In: RevTh, 48 (1998), 5–38. Zur Debatte um den wissenschaftlichen Status der Theologie zwischen dem Ende des 13. und dem Anfang des 14. Jahrhunderts vgl. Porro, Dalla pagina alla scientia. In: Quaestio 11 (2011), 225–253; Ders., Tra l’oscurità della fede e il chiarore della visione, 2014, 195–256.
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dern eher in einem verschiedenen Zugang zu demselben Objekt: Geht die Philosophie von der Betrachtung der Geschöpfe aus, um dann zu ihrer Erstursache zu gelangen, beginnt die Theologie zuallererst bei Gott und der Offenbarung, um dann die Geschöpfe in ihrem Verhältnis zu Gott zu betrachten. Sodann fürchtet Thomas nicht, die möglichen Argumente für und gegen (pro und contra) die Schöpfung ab aeterno formell anerkennen zu können: Seine Interpretation, wonach die kreatürlichen Wesen an der wirkenden Ursache teilhaben, bleibt jedenfalls gültig, selbst wenn man bloß hypothetisch einräumte, dass einige Geschöpfe ewig seien, d. h. in ihrem Sein auf ewig von Gott abhängig (was Thomas z. B. in Bezug auf diejenigen Wesen behauptet, die von Gott als notwendig geschaffen worden sind, wie die Engel). Hätte Gott es gewollt, hätte er sogar die Welt von Ewigkeit her schaffen können – wie Avicenna gezeigt hat 611 – ohne dass der Unterschied zwischen Gott und Geschöpfen (und daher die necessitas ordinis) dadurch beeinträchtigt würde. In dieser Hinsicht bezieht sich das ›ex‹ der Formel ex nihilo auf ein absolut-vorzeitliches Nicht-Sein und eben nicht auf ein Nicht-Sein als Entfaltung einer zeitlichen Abfolge. Thomas kommt auf das Thema in De potentia zurück, wobei er von seiner Position Rechenschaft abzulegen versucht. Da das SichGeben des Seins aus dem Nichts heraus ausschließlich Gott zukommt (jegliche Nebenursache gibt nur dem eine Form, was Gott ins Sein gesetzt hat), ist die Schöpfung nicht als eine Veränderung zu verstehen, als ob sie die Präexistenz eines vorherigen Substrats implizierte. Ist dem so, dann könnte man vernunftgemäß annehmen, dass im Fall einer creatio ex nihilo die Zeit als Ausdruck einer Kontinuität zwischen Vorrang und Nachfolge keine Rolle spielt. 612 Es besteht kein Vgl. Avicenna, Metaphysik, IX, 1. Thomas von Aquin, De potentia, q. 3, art. 2 (Secundo quaeritur utrum creatio sit mutatio): »Quandoque vero non est aliquod subiectum commune neque actu neque potentia existens; sed est idem tempus continuum, in cuius prima parte est unum oppositum et in secunda aliud, ut cum dicimus hoc fieri ex hoc, id est post hoc, sicut ex mane fit meridies. Sed haec non proprie vocatur mutatio, sed per similitudinem, prout ipsum tempus imaginamur quasi subiectum eorum quae in tempore aguntur. In creatione autem non est aliquid commune aliquo praedictorum modorum. Neque enim est aliquod commune subiectum actu existens, neque potentia. Tempus etiam non est idem, si loquamur de creatione universi; nam ante mundum tempus non erat. Invenitur tamen aliquod commune subiectum esse secundum imaginationem tantum, prout scilicet imaginamur unum tempus commune dum mundus non erat, et postquam mundus in esse productus est. Sicut enim extra universum non est aliqua realis magnitudo, possumus tamen eam imaginari; ita et ante principium mundi non fuit 611 612
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Zweifel daran, dass die Reflexion von Thomas hinsichtlich der rationalen Kohärenz ganz und gar zutreffend ist. An seiner Argumentation bleibt jedoch sehr problematisch – dies zeigt sich später an seiner im Hintergrund stehenden Modaltheorie – eine unmittelbare Geschichtsmächtigkeit Gottes denken zu können, die jedoch für die christliche Theologie eine wesentliche Voraussetzung ist. Thomas neigt als Kind seiner Zeit dazu, jedwede Kontingenz bezüglich der Erstursache vorsichtig zu vermeiden und vielmehr Eigenschaften wie Notwendigkeit, Einfachheit, Ewigkeit, Weisheit Gottes und dabei kreatürliche Abhängigkeit von den Ursachen abheben zu wollen, wie seine theologische Lektüre des Vorsehungsbegriffs bestätigt. Hier ist erneut darauf hinzuweisen, dass mit der theologischen Anschauung von Thomas das Modell von einem triplex gradus causarum vertreten wird, das der dreifachen Sphäreneinteilung der aristotelischen Kosmologie entnommen wurde. Bei Thomas nehmen die Grade der Kontingenz ab, je höher man von den hinfälligen und veränderlichen Ursachen (der irdischen Welt) zu den mittleren, nichthinfälligen und veränderlichen (den Himmelskörpern) kommt, bis endlich zu Gott, der inkorruptiblen und unveränderlichen Ursache. Im Gegensatz zu den ersten zwei Stufen der Kausalität ist die primäre Ursache universal: Ihre eigentliche Wirkung ist das Sein, so dass jedes Ding in die Ordnung der Erstursache fällt. Thomas gibt dann zu, dass viele Dinge (wegen der gegenseitigen Verschränkung der nächstliegenden Ursachen oder der Schwäche der Natur) 613 zufällig geschehen können; er hütet sich jedoch vor der Annahme, dass dies ebenso akzidentiell in Hinsicht auf die Erstursache sei, da in Bezug auf die Kau-
aliquod tempus, quamvis sit possibile ipsum imaginari: et quantum ad hoc creatio secundum veritatem, proprie loquendo, non habet rationem mutationis, sed solum secundum imaginationem quamdam; non proprie, sed similitudinarie.« Bekanntlich wird diese These drei Jahre nach seinem Tod vom Pariser Bischof Etienne Tempier verurteilt (Art. 217, orig.-Verzeichnis): Quod creatio non debet dici mutatio ad esse. Error, si intelligitur de omni modo mutationis. Vgl. Hisette, Enquête sur le 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, 1977, Art. 187, 277–280. Zum Thema: Piché (Hg.), La condamnation parisienne de 1277, 144 f. 613 Dies geschieht, nach Thomas, aus drei verschiedenen Gründen: wegen der Mitwirkung mehrerer Ursachen; wegen der Schwäche des Wirkenden, welcher sein eigenes Ziel nicht erreicht, oder aus Mangel an geeigneter Anlage von Seiten der Materie. Für eine genauere und historisch-fundierte Analyse dieser Problematik bei Thomas und der möglichen Lösungen im Ausgang von Avicenna und Averroes vgl. Porro, Tommaso d’Aquino, 394–399.
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salität des ersten Prinzips (auf die Vorsehung) alles vorbestimmt sei. Denn Gott erschafft nicht nur das Seiende als solches, sondern – so Thomas – auch der Modus jenes Seienden ist nach seinem Willen vorbestimmt, so dass jede Wirkung entweder notwendig oder zufällig (gemäß der lex necessitatis vel contingentiae) sein kann; daraus folgt, dass für die göttliche Kausalität keine Wirkung gänzlich akzidentiell sein kann, sondern im Gegenteil, alles der Notwendigkeit einer Vorsehungsordnung überhaupt unterliegt: »si aliquid est a Deo provisum, hoc erit«. 614 Wenn es in der Welt etwas Zufälliges gibt, kommt es daher, dass Gott das Zufällige den sekundären Ursachen anvertraut hat. 615 Dies impliziert Thomas zufolge, dass die Kontingenz überhaupt nicht im absoluten Sinne zu verstehen sei, sondern allein im relativen Sinne (secundum quid). Um es anders auszudrücken: Gott schafft nicht direkt etwas Zufälliges, sondern lediglich indirekt, soweit er vorbestimmt (provisum) hat, dass die Kontingenz in dem Handeln der sekundären Ursachen ihren Ursprung hat. Obwohl Thomas den naturalistischen Nezessitarismus griechisch-arabischer Prägung ablehnt und sich bemüht, die Kontingenz der Wirkungen irgendwie zu retten, geht jedoch aus seiner Behandlung der creatio ex nihilo sowie aus dem Determinismus der Vorsehung letztendlich hervor, dass er von der peripatetischen Auffassung der Episteme (Gewissheit) noch stark beeinflusst ist. Die aristotelische Bestimmung von Gewissheit und Kontingenz führt offensichtlich zu einer Aporie: Entweder besitzt Gott eine gewisse Erkenntnis der künftigen Ereignisse (und daher sind diese nicht zufällig, sondern notwendig) oder die künftigen Ereignisse sind zufällig (und können daher wegen ihrer Veränderlichkeit nicht mit Gewissheit von Gott erkannt werden). 616 Deshalb bestreitet Thomas, dass Gott etwas Zufälliges direkt verursachen könne, und vermeidet jede Annahme, die die absolute Einfachheit Gottes und seine unbeirrbare, unveränderliche und notwendige Erkenntnis von notwendigen Sach-
Thomas von Aquin, In Metaph., VI, lect. 3, n. 1218. Bekanntlich vermag Thomas sodann, die Frage unde malum einfach zu beantworten, da das Böse in dem Mangel an sekundären Ursachen verwurzelt ist (Summa contra Gentiles, III, c. 71). 616 Der Hang dazu, die Unbestimmtheit des Universums völlig aufzuheben, ist so stark bei Thomas, dass davon sogar die Frage nach der Ursache der Vorsehung abhängt. Für eine verlässliche Darstellung der Problematik vgl. Porro, Tommaso d’Aquino, 459–464; Ders., Contingenza e impedibilità delle cause, 2013, 121–127. 614 615
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verhalten beeinträchtigen könnte. 617 Die von Aristoteles entlehnte Gleichsetzung von Unveränderlichkeit und Notwendigkeit – und mithin von Veränderlichkeit und Kontingenz – führt ihn zu einigen nicht leicht zu lösenden Verwicklungen. Es bestehen Schwierigkeiten im Hinblick auf das Verständnis der Zeitlichkeit der Schöpfung (als von Gott unmittelbar geschaffene Kontingenz gedacht), wie auch im Blick auf die Vereinbarkeit zwischen der gewissen Erkenntnis Gottes und der Behauptung einer reinen Kontingenz der Wirklichkeit, schließlich auch noch im Blick auf die Möglichkeit einer wahren Freiheit von Gott und den Geschöpfen. Offensichtlich lässt sich eine solche theologische Erkenntnistheorie mit dem biblischen Bild eines freien Gottes schwer vereinbaren, der nicht nur die Welt erschafft und sich mit dem Volk Israel verbindet, sondern in Christus sogar zeigen können soll, dass die Unberechenbarkeit des menschlichen Handelns selbst sein eigenes Leben verändern kann. 618 Ein derartiges Urteil über einen Theologen, dem im katholischen Raum jede Ehre zuteil wird, mag überraschen. 619 Man darf dabei aber nicht übersehen, dass Thomas ein Denker seiner Zeit ist, und daher der Horizont seines Denkens von der griechischarabischen Metaphysik stark geprägt wurde, so dass dem Argumen-
617 »Invenitur igitur uniuscuiusque effectus secundum quod est sub ordine providentiae necessitatem habere«: Thomas von Aquin, In Metaph., VI, lect. 3, n. 1220. 618 Diese Beurteilung wird bestätigt von: Striet, Offenbares Geheimnis, 5–83. »So wie Gott einerseits alle Geschehnisse von Ewigkeit her vorherweiß und auch vorherwissen kann, weil er – so beispielhaft im Denken des Thomas von Aquin – zum einen als die Primärursache von allem auch noch die sekundären Ursachen konditioniert und eine in einen ontologischen Kausalzusammenhang eingebunden gedachte Freiheit ihre Kausalität nur gemäß ihrem Gewirkt-sein ausüben kann, von daher aber auch von einer Geschichte, die diesen Namen deshalb verdient, weil sie durch freie Subjekte konstituiert wird, nur noch schwerlich die Rede sein kann.« Ders., Den Anfang denken, 2000, 8; 2–13. Zu demselben Thema: Ders., Monotheismus und Schöpfungsdifferenz, 2005, 132–153. 619 In chronologischer Reihenfolge ist zuerst auf die Enzyklika Aeterni Patris (4. August 1879) hinzuweisen, wo Leo XIII. gegen den Modernismus eine philosophia perennis stellt und sich vor allem für das Denken des Thomas von Aquin (›Fürst und Meister aller‹) stark macht. Einige Jahre später schrieb Pius X. durch die Enzyklika Pascendi (8. September 1907) verbindlich vor, was sein Vorgänger angeregt hatte, und bestätigte es durch das Motu proprio Doctoris Angelici (29. Juni 1914). Infolge des Streites zwischen Neuthomisten und Neusuarezianern in Bezug auf die Auffassung der Beziehung zwischen Seiendem und Wesen milderte Benedikt XV. den Primat des Thomas im theologischen Rahmen, und diese Entscheidung ist später durch die Enzyklika Fides et ratio (1998) bestätigt worden.
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tationszug zur Notwendigkeit mehr Gewicht zukommen musste als dem der Kontingenz. 620 Erst im Jahre 1277, als der Pariser Bischof Tempier und seine theologische Kommission die bekannte Verurteilung gegen jegliche Form von Nezessitarismus oder peripatetischen Determinismus aussprach, wurden die Prämissen für eine Umkehrung solcher Rangfolgen gelegt; auf dieser Basis – so stellt sich der Wandel der Problemstellung dar – wird Duns Scotus eine neue Bewertung der Kontingenz als Freiheit und der Notwendigkeit als Zwang möglich sein. Es mag sein, dass es nicht viele einschneidende Wendezeiten in der Philosophiegeschichte gibt, sondern lediglich einen langsamen Untergang von Ideen bis hin zur Entstehung von neuen hermeneutischen Paradigmen; der Beitrag von Duns Scotus zur Neubestimmung von Kontingenz – mithin zur Denkfigur einer Schöpfung aus Freiheit – wird nicht ohne Grund als ein epochemachender Wandel angesehen.
2.3 Der Bruch mit Aristoteles. Die Neubestimmung von Kontingenz durch Duns Scotus Um den Beitrag von Scotus zur Neubestimmung der Beziehungen zwischen Notwendigkeit, Kontingenz und Zeit richtig zu verstehen, muss man zuerst auf die von Aristoteles stammende Auffassung von Kontingenz hinweisen. Denn von seinem Kontingenzbegriff wurde fast problemlos bis 1277 ausgegangen: Danach, also nach der Verurteilung des aristotelischen Nezessitarismus durch Tempier, wurde eine Neubestimmung erforderlich, wie sie dann Duns Scotus versucht hat. In De Interpretatione 621 bezeichnet der Stagirite das Kontingente als den Gegensatz zum Notwendigen, als etwas, das auch nicht sein kann. Mithilfe der berühmten Metapher der Seeschlacht erklärt er, dass der Kontingenzbegriff einer gewissen Handlung (der Schlacht) so lange zugeschrieben werden kann, bis sie ausgeführt wird. Sobald die Handlung sich verwirklicht, darf man dem Ereignis nicht mehr das Merkmal der Kontingenz zuschreiben, vielmehr das der Notwendigkeit. Für Aristoteles ist also das Zufällige gleichbedeutend mit dem Möglichen und gilt nur im Rückblick auf Vergangenes. Porro, Tommaso d’Aquino, 186. Zur Frage nach der Existenz von formell notwendigen Geschöpfen im metaphysischen Gebäude des Thomas: ebd., 181–186. 621 Aristoteles, De Interpretatione, 12. 620
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Anders ausgedrückt: Sobald das Mögliche sich in einem Ereignis verwirklicht, braucht man nicht mehr von alternativen Möglichkeiten für dasselbe Ereignis zu sprechen, umso weniger von Kontingenz. Das Mögliche wandelt sich zu dem, was sich immer zu verwirklichen hat, geht also gleitend über zum Notwendigen. Wie Simo Hintikka gezeigt hat, hat Aristoteles die Verbindung zwischen Notwendigkeit und Zeit nicht theoretisch erklärt; dennoch kann seine Modaltheorie im zeitlichen Sinne formuliert werden: 622 Seines Erachtens gründet diese Modaltheorie auf der Aussage, dass »die aktuelle Welt höchst voll von allem, was sein kann [ist]«. 623 Dieses Prinzip wurde zum ersten Mal von Lovejoy als »Prinzip der Fülle« bezeichnet. 624 Aus diesem Prinzip folgen – nach der Interpretation von Hintikka – vier verschiedene Grundsätze, die extrem wichtig sind, um die Beziehungen zwischen den Wesenheiten (oder rationes seminales) und der freien, unmittelbaren Schöpfung der Kontingenz zu verstehen, wie auch die Aporie zwischen göttlicher Episteme und kreatürlicher Kontingenz: (1) Keine Möglichkeit bleibt nicht-aktualisiert in der unendlichen Entwicklung der Zeit; (2) Etwas, das niemals existiert, ist nicht möglich; (3) Etwas, das immer ist, existiert mit Notwendigkeit, und daher: Etwas, das ewig ist, existiert mit Notwendigkeit; (4) Kein ewiges Seiendes ist kontingent. 625 Die Folgerungen des 622 Sofern sich die Wahrheit einer Aussage immer in der Zeit ergibt, ist sie ›notwendig‹ ; ergibt sie sich einmal und einmal nicht, dann ist sie ›möglich‹ ; ergibt sie sich niemals, dann ist sie ›unmöglich‹. Um nur die wichtigsten Auszüge aus der Metaphysik von Aristoteles zu erwähnen, worauf Hintikka sich stützt: »[…] es gibt Seiende, die zugleich immer und notwendig existieren [ἀεὶ καὶ άνάγκες…, in dem Sinne, dass sie nicht anders sein können, als sie sind; es gibt aber auch Seiende, die weder notwendig noch immer existieren, sondern nur meistens [ὁς ἐπὶ τό πολύ]« (Metaphysik, E, 2, 1026b 27); »Wir sagen von jedem Seienden, dass es immer und notwendig existiert [ἀεὶ καὶ άνάγκες – dessen Notwendigkeit dieselbe der Beweisverfahren ist – oder dass es meistens existiert [ὁς ἐπὶ τό πολύ], oder auch, dass es weder meistens noch notwendig, sondern zufällig existiert« (Metaphysik, K, 8, 1064b 32). 623 Hintikka, Time & necessity, 1973, 94. 624 »[…] jegliche Deduktion, die auf die Voraussetzung gründet, dass keine echte Potenzialität des Seienden nicht-aktualisiert bleiben könne.« Lovejoy, The great chain of being, 1936, 57. Lovejoy behauptet, dass dieses Modell bei Aristoteles fehle und lediglich Platon zuzuschreiben wäre. Im Gegenteil hat Hintikka – anhand derselben Textstellen bei Aristoteles und in kritischer Auseinandersetzung mit Lovejoy – zutreffend gezeigt, dass das Prinzip der Fülle sich nicht bei Plato, sondern erst bei Aristoteles findet: Hintikka, Time & necessity, 99 f. 625 Ebd., 95–97 f.
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»Prinzips der Fülle« für das Verständnis des aristotelischen Gottesbegriffs, d. h. für das Verständnis der Unveränderlichkeit Gottes und der Ewigkeit der Welt, sind offensichtlich. Und noch deutlicher ist die radikale Unvereinbarkeit von dieser Auffassung der Beziehung zwischen Modus und Zeit und der biblisch-christlichen Auffassung von Gott. 626 Diesbezüglich hat Thomas von Aquin versucht, ein theologisches System innerhalb einer solchen Modaltheorie und Kontingenzauffassung aufzubauen. Und dennoch entstehen aus dem Versuch, die aristotelische Modaltheorie und die Aussagen christlicher Theologie irgendwie zu vereinbaren, m. E. zumindest vier Probleme. Erstens: Wenn aus dem »Prinzip der Fülle« folgt, dass ein möglicher Sachverhalt notwendig zur Wirklichkeit wird, dann kann offenbar die Welt nicht eigentlich ex nihilo gedacht werden; wenn man aber im Glauben eine creatio ex nihilo annimmt, muss man in jedem Fall irgendeinen Notwendigkeitsaspekt einführen (wie z. B. den Rekurs auf die Ewigkeit der Wesenheiten). Weiterhin: Da Gott selbst 626 Die scholastischen Theologen spürten sogleich, dass sie über die Grenzen der aristotelischen Lehre ihrer Zeit hinausgehen müssten: Erstens, weil diese Lehre die physische Welt betraf und nicht die der geistigen Substanzen; zweitens, weil sie die Beziehung zwischen Zeit und Ewigkeit übersah, welche aber wichtig für die christlichen Denker war. Aus diesem Grunde nahmen die Scholastiker meistens die neuplatonische Lehre an. Zu diesem Thema: Steel, The Neoplatonic Doctrine of Time and Eternity and its Influence on Medieval Philosophy, 3–31. Zur Position von Duns Scotus kann man auch vergleichen: Boulnois, Du temps cosmique à la durée ontologique? Duns Scot, le temps, l’aevum et l’éternité, 2001, 161–188. Es ist noch heute wichtiger denn je, die theologische Frage zu beantworten, wie die Begriffe von Zeit und Ewigkeit angesichts der Vorstellung eines biblischen Gottes am besten verstanden werden können: Rahner, Theologische Bemerkungen zum Zeitbegriff, 1970, 302– 322; Ders., Ewigkeit aus Zeit. Skeptizismus gegenüber dem ewigen Leben, 1980, 422– 432; Achtner – Kunz – Walter (Hgg.), Dimensionen der Zeit, 1998; Dalferth, Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, 1997; Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 1991; Evers, Raum – Materie – Zeit: Schöpfungstheologie im Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie, 2000; Jüngel, Die Ewigkeit des ewigen Lebens, 2003, 345–353; Pannenberg, Gott und die Natur, 2000, 11–29. Poser, Zeit und Ewigkeit. Zeitkonzepte als Orientierungswissen, 1993, 17–50; Schoberth, Leere Zeit – Erfüllte Zeit. Zum Zeitbezug im Reden von Gott, 1994, 124– 141; Welker, Gottes Ewigkeit, Gottes Zeitlichkeit und die Trinitätslehre, 1999, 179– 193; Schärtl, Gottes Ewigkeit und Allwissenheit, 2013, 321–339; Grössl, Schöpfung, Ewigkeit und Allwissenheit – eine Antwort auf Thomas Schärtl, 2014, 200–214; Ders., Ewige Kontingenzpläne – Gottes Handeln in der Welt eternalistisch gedacht, 2014, 405–422. Für eine Übersicht der vorherrschenden Positionen in der theologischen Debatte (insbesondere in deutscher Sprache) kann man verweisen auf: Kiauka, Die Problematik der ›Zeit‹ in der Theologie der Gegenwart, 2012, 253–267.
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niemals unmittelbar kontingent handeln könnte, muss man zu Vermittlungen greifen, um die Einfachheit Gottes zu gewährleisten (vgl. das triplex gradum causarum). Zweitens: Wenn angenommen wird, dass die Fleischwerdung von der Vernunft nicht zu deduzieren ist, muss sie hinsichtlich einer inneren Notwendigkeit (d. h. zum Vorteil des Sünders) ausgelegt werden. 627 Drittens: Das Sein der Geschöpfe (obwohl an sich nicht notwendig, sondern zufällig) muss einen gewissen Notwendigkeitsgrad besitzen, gerade weil es vom notwendigen Sein Gottes herkommt. 628
627 Die Motive für die Inkarnation sind – nach Thomas – mit der Ursünde Adams verbunden: »Peccato non existente, Incarnatio non fuisset« (Hätte es keine Sünde gegeben, hätte es auch kein Fleischwerdung gegeben), Summa Theologiae, III, q. 1, a. 3. Die göttliche Eigenschaft, die mit einer solchen theologischen Position privilegiert wird, ist also die Gerechtigkeit. Gott hat in Christus den höchsten Akt für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit ausgeübt, indem er den Preis zur Tilgung der menschlichen Schuld hat bezahlen müssen. Offensichtlich ist eine derartige Auffassung der Fleischwerdung eng mit einem notwendigen Zustand verbunden, der aber die absolute Freiheit und Ungeschuldetheit der Fleischwerdung, ihre Fülle und Unabhängigkeit von der Kontingenz verdunkeln könnte. Duns Scotus führt seinerseits etwas Neues in der Frage nach den Motiven der Inkarnation ein; nach ihm wäre Christus auch ohne den Sündenfall Mensch geworden, um die ganze Schöpfung zur Fülle und Vollendung zu führen (in ordinem ad gloriam): »Verbum divinum probabiliter loquendo fuisse incarnandum, licet Adam non peccasset, quia praedestinatio animae Christi ad gloriam non praesupponit nullum peccatum praescitum, sed potius praecedi praescentiam saltem absolutam omnium peccatorum, ac etiam bonorum operum«. In dieser Auffassung ist die Haupteigenschaft Gottes, die einer unendlichen Majestät und Güte. Durch seine ursprüngliche Freiheit hat er auf ewig und aus bloßer Gnade bestimmt, dass jedes Geschöpf an seinem unerschöpflichen Leben teilnehmen könne (non tantum praedestinavit Petrum ad gloriam, sive ordinavit ad gloriam). Die Menschwerdung ist nicht notwendig für die Kontingenz, und dennoch ist sie an sich höchst angemessen und entspricht der göttlichen wie der menschlichen Freiheit, abgesehen von der Sündengeschichte. Es ist wichtig zu betonen – wie es später noch deutlicher in Bezug auf die von Scotus eingeführte Definition der Kontingenz (und des logisch Möglichen) gezeigt werden wird – dass die Schöpfungslehre des Scotus den Zusammenhang zwischen rationes aeternae und göttlichem Verstand aufzuheben vermag. Denn wenn feststeht, dass die absolute Freiheit des schöpferischen Aktes und daher die Möglichkeit eines direkten Eingriffs Gottes in die Kontingenz gewährleistet sind, kann Scotus ohne jeglichen Widerspruch zeigen, wieweit Christus das Alpha und das Omega der Schöpfung zugleich darstellt, d. h. ihre notwendige Vollendung. Vgl. III Sent., d. 7, q. 3. Zum Thema: Pannenberg: Die Prädestinationslehre des Duns Scotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrentwicklung, 1954. 628 Avicenna, Metaphysik, II, 2, 3. Thomas bezeichnet seinerseits das Zufällige als das, was entweder sein oder nicht sein kann, nämlich als das Mögliche; er erkennt aber an,
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Viertens: Gott hat folglich eine ihm gewisse Kenntnis der zufälligen, künftigen Ereignisse, nur weil sie formell eine innere Notwendigkeit besitzen. Die aristotelische Episteme – wie schon angedeutet – ist eine notwendige Erkenntnis von notwendigen Ereignissen. Nähme man also an, dass die künftigen Ereignisse sich nicht notwendig zu verwirklichen bräuchten, dann sollte man auch zugeben, dass die göttliche Erkenntnis nicht gewiss ist – dies aber ist unmöglich. Solange die theologische Reflexion die aristotelische Modaltheorie angenommen hatte, ohne Einwände zu erheben, geriet sie in nicht geringe theoretische Schwierigkeiten, die sie meistens, im Stil der negativen Theologie, durch Rekurs auf die Unergründlichkeit Gottes aufzulösen versuchte. 629 Insofern Duns Scotus den Kontingenzbegriff umformulierte, kommt ihm das Verdienst zu, die Identifizierung von Unveränderlichkeit und Notwendigkeit (»Prinzip der Fülle«) und daher auch die Identifizierung von Kontingenz und Unvollkommenheit begründet zurückweisen zu können. Die Kontingenz ist nach Scotus nicht ein Merkmal der möglichen Seienden – wie es bei Aristoteles gedacht worden war, wobei alles, was ausgeführt wird, de facto auch notwendig ist – sondern vielmehr: sie ist die Eigentümlichkeit der Seienden erst dann, sobald sie in actu existieren. 630 In diesem Sinne definiert er das Zufällige oder Mögliche als alles, dessen Gegenteil sich aus dem gleichen Grund und zur selben Zeit hätte verwirklichen können. 631 Simo Knuuttila hat diese scotistische Reformulierung des Zufälligen als Simultaneität der Gegensätze, »synchronische Kontindass sich darin auch Notwendigkeitsaspekte finden können (Summa theologiae, I, q. 86, a. 3). 629 Magnus Striet hat den Einfluss der negativen Theologie auf das theologische Gebäude von Thomas aufgezeigt; er hat aber auch die theologischen Schwierigkeiten hervorgehoben, die aus einer solchen Option folgen: Offenbarens Geheimnis, 75–90 f. 630 Duns Scotus, Quaest. in Met., IX, q. 15, nn. 60–64, Bonaventure, IV, 694 f. 631 »[…] contingens [est] quodcumque non est necessarium nec sempiternum, sed cuius oppositum posset fieri quando istud fit.« Duns Scotus, Tract. de primo principio, c. 4 concl. 4 n. 56. Eine solche theoretische Option, wonach das Zufällige nicht bloß das Nicht-Notwendige ist, sondern eher das, dessen Gegenteil sogar im selben Zeitpunkt geschehen könnte, gründet auf folgender Aussage: Das logisch Mögliche ist alles, was dem Sein nicht widerspricht. »Possibile logicum est modus compositionis formatae ab intellectu cuius termini non includunt contradictionem, et ita possibilis est haec propositio: ›Deum esse‹, ›Deum posse produci‹ et ›Deum esse Deum‹ ; sed possibile reale est quod accipitur ab aliqua potentia in re sicut a potentia inhaerente alicui vel terminata ad illud sicut ad terminum.« Duns Scotus, Ordinatio, I, d. 2, p. 2, q. 1–4, n. 262; vgl. I, d.2, q. 7; I, d. 7, q. 1, 27 (nun: Ord.) Der Anfang als Freiheit
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genz« 632 genannt, gegen eine Auslegung der Reihe von Ereignissen in diachronischer oder kontrafaktischer Notwendigkeit, mit der das Mögliche als Entfaltung der Potenzialität-Aktualität angesehen wird bzw. als das, was sich notwendig zu verwirklichen hat. Dem aristotelischen Modell zufolge ist Möglichkeit die Entfaltung einer echten Potenzialität, welche von Natur aus zur Aktualisierung neigt und zur Notwendigkeit wird, während Scotus die Abhängigkeit der Kontingenz von der Notwendigkeit auflöst. Er behauptet, dass es in demselben Augenblick einen faktischen bzw. zufälligen Sachverhalt und dessen Gegenteil als logisch und real Mögliches zugleich geben kann. Offensichtlich folgen aus dieser Option ganz wichtige Konsequenzen für die Geschichte des abendländischen Denkens, die etwas Neues im radikalen Sinne darstellen. 633 Aus der theologischen Perspektive gesehen ermöglicht die Bestimmung der Kontingenz bei Scotus drei Annahmen. Zunächst berechtigt seine Kontingenzbestimmung die Vermutung, dass es nichtverwirklichte Möglichkeiten zu jedem Zeitpunkt (nicht nur in der Gegenwart und in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit) geben könne: Dabei zeigt sich, dass die Schöpfung aus dem Nichts eine vollendete Möglichkeit, d. h. ein freier Akt Gottes ist, in dem die entgegengesetzte Möglichkeit ante creationem (das logisch Mögliche) unverwirklicht geblieben ist. Sodann kann Scotus die Kompatibilität zwischen einer Gewissheit der Erkenntnis in Gott und der Kontingenz der Wirklichkeit behaupten, so dass er sowohl das freie Handeln des Menschen als auch die Voraussicht Gottes wahrt. Drittens meint er im Hinblick auf den menschlichen Willen, dass jede Entscheidung durchaus zufällig sei und der Mensch vor jedem Entschluss mit zwei entgegengesetzten Möglichkeiten konfrontiert werde, seine eigene Entscheidung falle unabhängig von jeglicher Notwendigkeit einer Naturordnung. 634 Denn Scotus zielt mit seinem Argumentationsgang darauf ab, die Kontingenz und mithin die Freiheit des Menschen und Gottes als denkbar zu gewährleisten, um die Schwierigkeiten zu vermeiden, die aus einem aristotelisch geprägten 632 Simo Knuuttila hat das Verdienst, als Erster diese von Scotus in die aristotelische Theorie der Modalitäten eingeführte Neuheit hervorgehoben zu haben: Knuuttila, Duns Scotus Criticism of the »Statistical« Interpretation of Modality, 1981, 441–450. 633 Für eine Vertiefung der Modaltheorie: Dumont, The Origin of Scotuss Theory of Syncronic Contingency, 1994–1995, 149–167; Normore, Duns Scotuss Modal Theory, 2002, 129–160. 634 Duns Scotus, Quaest. in Met., IX, q. 15, n. 65.
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Nezessitarismus folgen könnten; er scheint sich aber zugleich bewusst vor jedem Kontingentismus hüten zu wollen. Typisch für Scotus ist das Bestreben, göttliche und menschliche Freiheit, logische und wirkliche Möglichkeit, Kontingenz und diachronische Reihenfolge der Ereignisse, Unfehlbarkeit Gottes und freies Handeln des Menschen konzeptuell kompatibel machen zu wollen. – Es hat also seinen Grund, dass er die Bezeichnung Doctor subtilis erhalten hat. – Scotus Vorstellung einer synchronen Kontingenz, die ihrerseits von einer Neubestimmung des logisch Möglichen ausgeht, stellt die theoretische Vorbedingung für das Verständnis seiner Schöpfungslehre dar. Gerade im Lichte einer solchen Neubestimmung des Möglichen vermag Scotus, den Status der Wesenheiten (bei Augustinus die rationes seminales) 635 neu zu bestimmen, und folglich den göttlichen Verstand von den ewigen Wirklichkeitsmodellen zu befreien. Historisch betrachtet fügt sich die Position von Scotus in den Rahmen des lebhaften Disputs um die ontologische Deutung der Wesenheiten ein, der sich gegen Ende des 13. Jahrhunderts in zwei entgegengesetzte Richtungen entwickelt hat: in die von Heinrich von Gent und die von Aegidius Romanus. 636 Umso wichtiger ist es dabei, auf einige Voraussetzungen dieses Streits hinzuweisen, und vor allem auf die Position von Heinrich von Gent einzugehen, die zur Zielscheibe einer massiven Kritik von Scotus geworden war. So kann man die Rolle des neuplatonischen Eternalismus in den Auseinandersetzungen jener Zeit erfassen und mithin auch die spezifische Art und Weise der Problemfassung verstehen, mit der der Doctor subtilis das Schöpfungsereignis durch den radikalen Verzicht auf jeglichen Kompromiss zwischen Partizipations- und Schöpfungsmodell theologisch nachzuvollziehen vermochte.
Es ist Scotus selbst (Ord., I, d. 35, q. un. nn. 1, 38), der auf eine Bemerkung bei Augustin aus De diversis quaestionibus 83 (q. 46., n. 2) hinweist. 636 In dieser Untersuchung wird allein die Relevanz der philosophischen Lehre bei Scotus berücksichtigt: Zu deren besserem Verständnis wird hier auf Heinrich von Gent verwiesen, mit dem Scotus sich kritisch auseinandersetzte. Für eine Vertiefung des Themas und ein besseres Verständnis der Position Heinrichs: Porro, Prima rerum creatarum est esse: Henri de Gand, Gilles de Rome et la quatrième proposition du De causis, 2014, 55–82; Biffi (Hg.), Rinnovamento della ›Via Antiqua‹, 2009, 165–262. 635
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2.3.1 Die Zielscheibe von Scotus: Wesenheit und Schöpfung bei Heinrich von Gent Aus der Lehre von Heinrich von Gent, im Blick auf den ontologischen Status der Wesenheiten, werden im Folgenden nur die Aspekte erwähnt, die die spätere Problementwicklung bei Scotus zu verstehen helfen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Heinrich den nicht-widersprüchlichen Begriffen den Rang der Wesenheiten abspricht, da sie als solche unabhängig von ihrem Seins-Bezug sind. 637 Heinrich nennt diese reinen Vernunftbegriffe res a reor reris: Es sind jegliche Vernunftinhalte, die keine notwendige Entsprechung in der außervernünftigen Welt finden und von denen man nicht weiß, ob sie in actu existieren können. Die Bestimmung solcher Begriffe erfolgt bei Heinrich aus einem rein erkenntnistheoretischen Interesse: Er zielt auf die Behauptung ab, dass nicht jede vom menschlichen Verstand denkbare res tatsächlich einer aktualisierbaren Natur und mithin einer Wesenheit entspricht. Im Bereich der Wesenheiten – und zwar von all denjenigen Begriffe, die von der Möglichkeit zum Aktus übergehen können – behauptet Heinrich, dass sie als solche eine konstitutive Beziehung zum göttlichen Verstand haben müssen. Der göttliche Verstand, sofern er eins (unum) ist, ist sich selbst der prinzipielle Gegenstand; insofern er aber sich bzw. das göttliche Wesen selbst unter dem nebengeordneten Aspekt betrachtet, hinsichtlich dessen er (bzw. es) in den Geschöpfen je anders gespiegelt werden kann, verhält er sich zu sich als Vielfalt. Dies bedeutet, dass die Wesenheiten – d. h. alles, was die aktuelle Existenz empfangen kann – ausschließlich die Modi sind, in denen sich das göttliche Wesen in den Geschöpfen abbilden kann. Heinrich betrachtet die Wesenheiten in zweierlei Hinsicht, nämlich, ob es um ihren quidditativen Inhalt (1) oder den Grad und Rang ihres Seins (2) geht: (1) In formaler Hinsicht stellen die Wesenheiten einen quidditativen Inhalt (id quod est) dar, der ihnen zu Eigen ist, bevor sie das esse essentiae erhalten. Es ist ihre eigene Definition, die sie bestimmt. 638 Mit anderen Worten: die Wesenheiten weisen formell einen objektiven und objektiv möglichen Inhalt auf, der ihnen Heinrich von Gent, Summa, art. 21, q. 4; art. 24, q. 3. »Est autem id quod est essentia in unaquaque re communiter loquendo id quod ei convenit ratione naturae suae secundum se.« Heinrich von Gent, Quodl. X, q. 8, ed. Macken, 201, 85–87. 637 638
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innewohnt und ewig ist (d. h. nicht ex nihilo erschaffen). Dieses Ewigkeitselement stammt aus ihrer ewigen Nachbildung (partecipative) des göttlichen Wesens, in dem sie ihren Ursprung haben. Formal betrachtet ist also der Inhalt der Wesenheiten in all jenen Modi gegeben, in denen Gott von den Geschöpfen nachzubilden ist. Hier waltet keine Schöpfung, sondern bloß Partizipation. (2) Dasjenige was erschaffen wird und den eigentlichen Akt der Schöpfung aus dem Nichts ausmacht, ist hingegen das Sein des Wesens (esse essentiae) – gemäß Heinrichs Interpretation der IV. Proposition aus dem Liber de Causis (prima rerum creatarum est esse). 639 Mit anderen Worten: Das einzig und erste – allein vom göttlichen Verstand als Formursache erschaffene Ding – ist das Sein des Wesens (esse essentiae), während der quidditative Inhalt der Wesenheiten aus ewiger Nachahmung oder Partizipation stammt. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese von Heinrich eingeführte Unterscheidung einem Missverständnis unterliegen kann, wenn man nicht berücksichtigt, dass er Avicennas Lehre von der Indifferenz der Wesenheiten wiederaufnimmt. 640 Gegen den Realismus von Aegidius Romanus, der das Verhältnis zwischen Essenz und Existenz als analogisch gegenüber dem Verhältnis von Form und Materie denkt, lehnt Heinrich von Gent jede Art effektiver oder logischer Realität für die Wesenheiten ab. In Anlehnung an Avicenna hält Heinrich die Wesenheiten für Inhalte in mente Dei, denen jedoch weder eine wirkliche noch eine rein mentale Seinsweise zukomme (res a reor reris), sondern die eher einen Zwischenzustand bilden: die sogenannten intentiones. 641 Im 639 Vgl. Porro, Prima rerum creatarum est esse: Henri de Gand, Gilles de Rome et la quatrième proposition du De causis, 2014, 55–82; Calma, Réalisme et tradition philosophique chez Heymeric de Campo († 1460), 2017, 249–297; Malgieri, Citing the Book of Causes, IV: Henry of Ghent and His (?) Questions on the Metaphysics. 640 In der V. Abhandlung der Metaphysik entwickelt Avicenna die sogenannte Lehre von der Indifferenz der Wesenheiten. Die Essenz ist bekanntlich ein Begriff, der entweder als getrennte Form (wie z. B. in der platonischen Tradition), als einzelne, individuelle Form eines Dinges oder als allgemeiner Begriff konzipiert werden kann. Bei Avicenna betrifft die Essenz weder das Einzelne noch das Allgemeine, sondern ist einfach sie selbst. Dies führt Avicenna zu der Behauptung, dass Essenz und Existenz unterschiedliche Intentionen – und nicht Wirklichkeiten – sind: Es sind also zwei untrennbare Aspekte derselben Realität, welche aber getrennt gedacht werden können. Die Allgemeinheit, d. h. die Möglichkeit logischer Prädikation, ist nach Avicenna eine Intention, die nicht mit der quidditas zusammenfällt, sondern sich ihr beifügt. 641 »Die intentiones sind bei Heinrich all die Merkmale oder Grundsätze, welche einem und demselben Ding gehören und welche nicht wirklich, sondern nur vom Verstand getrennt sein können, so dass sie unterschiedliche Begriffe hervorrufen.«
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Gegensatz zu Aegidius zielt Heinrich mit seiner Argumentation darauf ab, die primäre Unterscheidung nicht zwischen Essenz und Existenz, sondern innerhalb des Wesens selbst anzusiedeln: Und zwar die Unterscheidung zwischen seinem Inhalt (id quod est) und dem Mittel (id quo est), wodurch es das Sein erhält. Noch erheblicher ist die Tatsache, dass Heinrich diese Unterscheidung mit dem Zweck einführt, dem göttlichen Willen eine freie und unmittelbare Schöpfung des Zufälligen zu ermöglichen: Dadurch distanziert er sich von dem kausalneuplatonischen Denkmodell. 642 Dennoch bleibt eine gewisse Zweideutigkeit in der Reflexion von Heinrich: Sie ist davon abhängig, dass die möglichen Wesenheiten an Zahl eher endlich als unendlich sind und deren Anzahl aus all dem besteht, was die Geschöpfe vom göttlichen Wesen nachbilden könnten (was das sekundäre Objekt des göttlichen Verstandes darstellt). Mit anderen Worten: Falls Gott sich ganz frei entschlösse, die Welt zu schaffen, könnte er lediglich aus einer Ordnung notwendiger und begrenzter Wesenheiten schöpfen. Der Wille Gottes verfügt so über eine endliche und geordnete Anzahl von Möglichkeiten, auf die sein Entschluss sich bezieht. Denn Gott entscheidet, einige Wesenheiten zu bestätigen und zu aktualisieren, die Heinrich eben res ratae, res a ratitudine nennt. Letztlich sollte man von einem doppelten Verhältnis zwischen Gott und den Wesenheiten sprechen: Indem sie ein esse essentiae besitzen, stehen sie in Beziehung zum göttlichen Verstand (als ihrer Formursache); indem sie aber ein esse existentiae empfangen, werden sie in Beziehung zum göttlichen Willen (als ihrer Wirkungsursache) gesehen. Es ist bemerkenswert, dass nach Heinrich das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen möglichen Wesenheiten (deren Anzahl aber endlich ist!) und dem göttlichen Willen durchaus zeitlich und zufällig ist, aber die vorherige Beziehung derselben Wesenheiten zum göttlichen Verstand unveränderlich bleibt. Da das göttliche WisPorro, La teologia a Parigi dopo Tommaso, 179. Martin Pickavé zufolge ist es ›außerordentlich schwierig‹ eine deutsche Übersetzung für intentio zu finden: »man könnte an Idee, intellektuelle Vorstellung, Gedanke, Eindruck etc. denken. Ich übersetze intentio im Folgenden mit Begriff oder gelegentlich mit Sinngehalt, da dies m. E. die neutralsten Übertragungen sind«: Pickavé: Heinrich von Gent über Metaphysik als erste Wissenschaft, 2007, 197, Anm. 51. Vgl. ausführlich dazu: De Libera: L’art de généralités. Théories de l’abstraction, 1999, 499–607; Perler (Hg.): Ancient and Medieval Theories of Intentionality, 2001. 642 Seit seinem ersten Quodlibet (1, q. 7–8, ed. Macken, 27–46) wird Heinrich mehrmals auf diesen Punkt zurückkommen.
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sen ewig ist, sind auch die Wesenheiten ipso facto unveränderlich und von Ewigkeit her geschaffen. 643 Daraus folgt: Dadurch dass das erste durch einen Akt des göttlichen Verstandes geschaffene Ding das esse essentiae ist, soll nach ihm der erste Schöpfungsakt unveränderlich wie der göttliche Verstand sein. Diesbezüglich scheint bei Heinrich noch eine Art Eternalismus übrig geblieben zu sein. Offensichtlich hängt seine Position immer noch von der neuplatonischen Vorstellung der Partizipation ab, obwohl er den Realismus des Aegidius sowie auch die Auffassung der Wesenheiten als getrennten Realitäten (wie es für die Ideen bei Platon galt) zu vermeiden versucht. Wenn also die Wesenheiten dem göttlichen Willen vorangehen, dann sind sie ewig und der göttliche Verstand wirkt auf notwendige Art und Weise auf eine irgendwie natürliche Ordnung ein. Duns Scotus entwickelt seine eigene Auffassung gerade im Gegensatz zu dieser eternalistischen Färbung bei Heinrich.
2.3.2 Mögliche und freie Schöpfung des Zufälligen nach Duns Scotus Die Behandlung der Schöpfungslehre bei Scotus lebt einerseits von dem Gegensatz zur Lösung der Kontingenzfrage (und zu dem Realismus der Wesenheiten) bei Thomas und andererseits von dem Streit mit Heinrichs Lehre vom esse essentiae. 644 Mit der Auffassung von Thomas kann nun aber, wie dargelegt, nicht der Gedanke gewährleistet werden, dass Gott unmittelbar (ohne jeglichen Rekurs auf sekundäre Ursachen) etwas Zufälliges schaffen kann. Wenn man aber nicht 643 »[…] dies bedeutet, dass das Weltgebäude aus einer hierarchisch geordneten Reihe von möglichen Wesenheiten besteht, die nicht einmal Gott verändern kann: Diese These hat unvermeidlich (aber auch riskant) zur Folge, dass die göttlichen Ideen (denen die möglichen Wesenheiten entsprechen) notwendigerweise endlich seien. Heinrich kann daher sowohl die radikale Zeitlichkeit der Schöpfung als auch (in abgeschwächter Form) den nezessitaristischen Eternalismus der peripatetischen Schule verteidigen.« Porro, La teologia a Parigi dopo Tommaso, 179. 644 Scotus gibt in der Frage Utrum Deus possit aliquid creare beide Positionen wieder, sowohl von Thomas von Aquin als auch von Heinrich von Gent: Reportata parisiensa, II, d. 1, n. 9, 534. Er geht von der kritischen Analyse beider Thesen aus, um zu behaupten, dass eine freie und unmittelbare Schöpfung Gottes (und daher nicht ab aeterno) der Vernunft gemäß möglich sei. Zu verweisen ist hier vor allem auf die Habilitationsthese von Wolfhart Pannenberg: Die Prädestinationslehre des Duns Scotus, 1954, bes. 69 f. und 111.
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zugibt, dass Gott unmittelbar etwas Zufälliges herstellen könne, dann ergeben sich eine Reihe Folgewirkungen im Zeichen der Notwendigkeit. 645 Heinrichs Vorschlag beschränkt die Anzahl der Wesenheiten (indem er Gott die Möglichkeit abspricht, auf einen absoluten Fächer von Möglichkeiten einzuwirken) und prädiziert zudem deren Ewigkeit und Unveränderlichkeit, da sie als partecipative aus dem göttlichen Wesen hervorgehen. Infolgedessen muss er zugestehen, dass das Ersterschaffene das esse essentiae sei, welches dennoch ewig ist, weil es ein Werk des göttlichen Verstandes, nicht seines Willens ist. Scotus übersieht nicht die Schwierigkeiten, die bei Heinrich ungelöst bleiben, und kritisiert vor allem die Tatsache, dass Heinrich den Wesenheiten eine gewisse ontologische Dichte (esse essentiae) zuerkennen muss, trotz seines Bemühens, sich von dem Essentialismus zu distanzieren, den Aegidius Romanus vertritt. Scotus meint zudem, dass die implizite Überordnung (bei Heinrich) von Partizipationsund Schöpfungsmodell bezüglich der Wesenheiten der creatio ex nihilo nicht ganz gerecht werde, da Heinrich doch etwas Ewiges (das esse essentiae) behalten müsse. 646 Hängt die Schaffung der Wesenheiten von einem Verstandesakt Gottes ab, mithilfe dessen er sich in allen möglichen von den Geschöpfen nachzubildenden Modi auslegt, dann muss die Beziehung zwischen Wesenheiten und göttlichem Verstand für ewig und notwendig gehalten werden und seinem Willen vorangehen. Wo es sich aber um einen ewigen, notwendigen Schöpfungsakt handelt, dort ist keine freie Kausalität möglich. Scotus zielt also darauf ab, den Wesenheiten jegliche Art ontologischen Bestandes zu entziehen, und somit die notwendige Beziehung zwischen dem 645 Eine der dichtesten Widerlegungen des Thomas findet sich im IV. Abschluß des Kapitels 4 aus dem Tractatus de primo principio: »[…] etwas ist zufällig verursacht; ebenso zufällig, und mithin willentlich, wirkt die Erstursache«. Da die Kontingenz nach Scotus eine der elementarsten Evidenzen der Welt (und eine transzendentale passio entis) ist, muss man zugestehen, dass die Erstursache auf unmittelbar-zufällige, aktiv-willentliche Weise verursacht, weil der Wille – nicht der Verstand – zufällig wirkt. Ginge sie aber notwendig von den sekundären Ursachen aus, wie Thomas meint, dann wäre alles auf notwendige Weise verursacht. 646 Scotus lehnt das esse essentiae, so wie Heinrich von Gent es versteht, ab, indem er behauptet: »[…] die Herstellung von Dingen gemäß diesem Sein der Essenz ist eine höchst wahrhaftige Schöpfung (sie fängt nämlich mit dem bloßen Nichts als Anfangsdatum an und endet mit einem wahren Seienden als Endziel), und diese Herstellung ist ihrer Meinung nach ewig: Mithin ist auch die Schöpfung ewig – das Gegenteil will (Heinrich) auch beweisen, aber es gelingt ihm nicht.« Duns Scotus, Ord., I, d. 36, q. un., n. 17, Vaticana, VI, 277.
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Verstand Gottes und den Wesenheiten zu überwinden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, lehnt Scotus jede Unterscheidung zwischen Wesenheiten und nicht-widersprüchlichen Begriffen ab – die Heinrich res a reor reris genannt hatte – und wandelt sozusagen die Wesenheiten in eidetische Strukturen um. Die Wesenheiten stellen für Scotus hingegen alle nicht-widersprüchlichen Begriffe dar oder alle logisch möglichen Seienden. Solche Gegenstände des göttlichen Denkens sind nicht dem Nichts gleichzustellen, sondern erweisen sich aus ontologischer Sicht als eine Seins-Stufe, die ihrer bloßen Denkbarkeit gemäß ist: »Ein Gegenstand, der vom göttlichen Verstand erkannt ist, ist nicht als Gegenstand in sich gesetzt, sondern eher eine Weise der Anwesenheit (praesentialiter) im Verstand«. 647 Wenn also irgendeine Form von Sein den Ideen (oder Wesenheiten) zuzuschreiben ist, muss sie einzig und allein dem Sein von etwas Denkbarem gemäß sein. 648 Anders ausgedrückt: Gegenstand des göttlichen Verstandes ist alles, was logisch möglich ist (oder, nach seiner Definition, alles, was keinen Widerspruch einschließt). 649 Es ist hierbei bemerkenswert, dass Scotus die Abkunft (productio) der Ideen vom göttlichen Verstand nicht leugnet. 650 Die Schaffung der Ideen ist durchaus ein Akt Gottes, der zunächst (in erster Instanz) ausschließlich sein eigenes Dasein erkennt, dann (in zweiter Instanz) all die Möglichen (possibilia) ex nihilo schafft und sie zu Gegenständen seiner Selbst-Einsicht werden lässt. 651 Aber da das Verhältnis des göttlichen Verstandes zu den Ideen dasselbe ist wie jenes zu allem bloßen, aber unwidersprüchlich Denkbaren (und nicht bloß zu den vernünftigen Urbildern der Dinge), ist dieses nicht notwendig, sondern frei. Dadurch gibt Scotus in innovativer Weise jenes Denkmodell auf, demzufolge die possibilia alle Modi sind, anhand derer das göttliche Wesen von den Geschöpfen nachgeahmt werden kann. Formal gesehen bestehen die Möglichen Duns Scotus, Ord., I, d. 8, p. 2, q. un., n. 274, Vaticana, IV, 308. Diesbezüglich spricht Scotus von einem abgeschwächten Sein (ens deminutum) oder esse secundum quid, womit er das eigentliche Sein eines formalen Inhalts meint: Ord., I, d. 36, q. un., n. 46, Vaticana, 289. 649 Vgl. Ord., I, d. 2, p. 2, q. 1–4, n. 262; I, d. 2, q. 7; I, d. 7, q. 1, 27. 650 Das intelligible Sein der Ideen ist daher von ihrem principiativen Erkanntsein von Gott selbst gegeben, und es ist nicht von diesem Zusammenhang mit dem göttlichen Verstand zu lösen: Anders gesagt, es ergibt sich lediglich in Bezug auf den göttlichen Verstand (esse secundum quid). Ord., I, d. 36, n. 28; n. 44–47. 651 Ord., I, d. 35, q. un., n. 32, Vaticana, VI, 258. 647 648
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(possibilia) als solche abgesehen vom göttlichen Verstand, der sie denkt. 652 Man könnte also von den Möglichen sprechen, als ob sie eidetisch-transzendentale Strukturen wären, abgesehen von einer wesentlichen Beziehung zum göttlichen Verstand und an und für sich unendlich. 653 Durch diese Neubestimmung des Möglichen vermag Scotus zu rechtfertigen, dass der göttliche Verstand über eine unendliche Anzahl von possibilia verfügt und folglich in höchster Freiheit entscheiden kann (creatio). Letztlich legt Gott aus reinem Willen fest, welche Welt unter den möglichen zur Existenz kommt. Der göttliche Verstand legt dem göttlichen Willen eine unendliche Reihe von denkbaren und unendlich möglichen Zusammenstellungen von Ideen vor (unbeschadet des Grundsatzes, wonach diese Zusammenstellung keinen Widerspruch mit sich bringt), so dass Gott über das Vermögen verfügt, jede logisch mögliche Welt zu strukturieren oder auch nicht. Der göttliche Verstand – der nach Scotus immer noch eine natürliche Potenz ist – kann seinerseits ebenso sicher alle Zusammenstellungen des logisch Möglichen voraussehen. Er stellt zweifellos eine Bedingung sine qua non für den eigenen Bewegungsgrund des Willens dar. Und dennoch, was der Verstand dem göttlichen Willen vorlegt (d. h. die Voraussicht der Ergebnisse für die unterschiedlichen Möglichen, welche zur effektiven Realität übergehen), ist nicht notwendig ein wesentlicher Grund für das Wirken des Willens. Letztlich ist die Erstursache der verwirklichten possibilia – oder der Schöpfung – einzig und allein der freie Wille Gottes, welcher ganz selbständig (d. h. ohne jeglichen zwingenden Einfluss des Verstandes) eine der unendlich möglichen Ordnungen auswählt und das Zufällige unmittelbar zur Existenz bringt. 654 Es geht hierbei um eine radikale Erneuerung der Grundbegriffe: Erstens im Hinblick auf die Beziehung zwischen Notwendigem und Zufälligem, weil das Zufällige nicht aus der Übereinstimmung mit einem notwendigen Wesen in mente Dei stammt; zweitens, im Hinblick auf das »Prinzip der Fülle«, demzufolge für einen gegebenen Ord., I., d. 43, q. un., n. 5, Vaticana, VI, 353. Folglich wendet Scotus den Begriff des logisch Möglichen auch auf die Bestimmung von Sein an: »Ding oder Seiendes ist alles, was aufzufassen ist und keinen Widerspruch impliziert«: Quodl., q. 3, n. 3. Wadding, XII, 67. 654 »Nullum est principium contingenter operandi nisi voluntas vel concomitans volutantem, quia quaelibet alia agit ex necessitate naturae, et ita non contingenter.« De primo principio, c. 4, concl. 4, n. 56. Nahezu gleichlautend in Ord. 1, d. 2, qu. un., n. 79–81, Vaticana, II, 176. 652 653
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Sachverhalt (S+), der zu einem gewissen Zeitpunkt (Z1) gilt, keine Möglichkeit des Gegenteils (S-) denkbar ist; drittens, im Hinblick auf das Ordnungsmodell, das seit Augustinus die theologische Reflexion über die Schöpfung beeinflusst hatte. Dieser dritte Aspekt ist näher zu betrachten. Laut Scotus stammt die Ordnung nicht mehr vom göttlichen Verstand ab: Denn sie ist nicht mehr vom ewigen Logos ableitbar, an den Gott selbst notwendig gebunden ist, sondern stimmt wesentlich mit dem freien Entschluss des göttlichen Willens überein; ihr Wert gründet einzig und allein auf dessen Wahl. 655 Mit anderen Worten, die Vorstellung von dieser faktischen Welt hat an innerer und spezifischer Verständlichkeit gewonnen, gerade weil sie von Gott gewollt wurde, und nicht, weil sie mit dem maßgebenden Verstand Gottes oder mit den ewigen Modellen des Wesens Gottes (des Logos) übereinstimmte. Dies hat zur Folge, dass die Naturgesetze eben deshalb als vernünftig zu betrachten sind, weil sie von Gott gewollt wurden; sie sind also nicht wegen ihrer Vernünftigkeit gewollt. Noch einmal: Die moralische Ordnung ist gerecht, weil sie von Gott gewollt wurde, und nicht etwa, weil sie von Gott wegen ihrer Gerechtigkeit gewollt wäre. Diese innovative Auffassung des Ordnungsbegriffs, welche auf der Umkehrung des Vorrangs zwischen Gottes Verstand und Willen gründet, vermag einerseits, Gott als schlechthin freier Ursache gerecht zu werden, andererseits aber den möglichen Vorwurf einer Willkür abzuwehren. Um jedes Risiko diesbezüglich zu vermeiden, greift Scotus zu einer Unterscheidung aus dem Wortschatz des Rechts, nämlich der zwischen einem Handeln ›de jure‹ und einem ›de facto‹. Der freie Wille handelt insofern de jure (und seine Macht ist geordnet), als er gemäß dem Recht, dem rechten Gesetze ist; umgekehrt, wenn der freie Wille jenseits oder gegen dieses Gesetz handelt, handelt er de facto (und seine Macht ist absolut). 656 Nur uneigentlich kann nach Scotus dieses Gleichnis auf Gott angewendet werden, da er nicht nur entscheidet, ein Gesetz zu befolgen, sondern er selbst der Gesetzgeber jener Ordnung ist, die ihrerseits dem logisch Möglichen folgt. Wenn er also beschlösse, das Gesetz zu übertreten, Die folgenden Klärungen der scotischen Lehre orientieren sich an: De Libera: La querelle des universaux: de Platon à la fin du Moyen Age, 1996, 329–351; Alliney: Giovanni Duns Scoto. Introduzione al pensiero filosofico, 2012, 105–115. 656 Duns Scotus, Ord., I, d. 44, q. un., n. 3., Vaticana, VI, 363–365. 655
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hätten wir im selben Akt die Aufhebung jener Norm und die Begründung einer neuen. In diesem Sinne, wenn Gott auch beschlösse, (kraft seiner absoluten Macht), die faktische (zufällige) Ordnung der Welt zu übertreten oder zu verändern, wäre jeder Akt erstens ein Zeichen für eines von den ante creationem noch nicht verwirklichten possibilia (und implizierte eine Strukturveränderung in der Zusammenstellung der aktuellen Möglichen, die aber an sich nicht-widersprüchlich wäre), sodann wäre dies ipso facto eine Neugründung der Weltordnung, die ex parte creati als Ausdruck seiner geordneten Macht erschiene. Mit anderen Worten: Die eventuelle Änderung der bestehenden Ordnung, da sie stets einem logisch Möglichen entspricht, würde eine neue, an sich kohärente Ordnung verwirklichen. Um bei dem bloß hypothetischen Gedankengang stehen zu bleiben, könnte man also annehmen, dass der Mensch bei so einem Grenzfall weder ein Bewusstsein noch eine Erfahrung von solcher Änderung hätte, soweit diese vernunftgemäß ist. 657 Wenn Gott also mit absoluter Macht eine andere Weltordnung oder deren Aufhebung (wie es z. B. bei den Wundern geschieht) beschlösse, erwiese sich jene Macht folglich in der Welt ipso facto als Ausdruck seiner geordneten Macht oder als ein Akt, der keine Bedrohung für die etablierte Weltordnung wäre. Scotus’ Unterscheidung zwischen absoluter und geordneter Macht (potentia absoluta und potentia ordinata) in Bezug auf Gott scheint letzten Endes ein Vernunftkriterium zu sein, welches dem menschlichen Verstand dazu dient, den Vorrang des Willens vor dem Verstand Gottes sowie auch seine radikale Abhängigkeit von der vollkommenen Freiheit seines Schöpfers richtig einzuschätzen. Das göttliche Handeln ist aber an sich Vollkommenheit und Ordnung. 658 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass jegliche RückfühVgl. Alliney, Duns Scotus, 110 f. In der Lectura I, 39 vermag Scotus eine Lösung vorzuschlagen, die das freie Handeln des Menschen und die Voraussicht Gottes zusammenhält oder freie und zufällige Entschlüsse des Menschen mit deren gewisser Kenntnis von Gott kompatibel macht. Nach dem Kriterium der ›synchronen Kontingenz‹ gestaltet sich die Zusammensetzung (sensus compositus) von göttlicher Erkenntnis und Kontingenz der Dinge als notwendig, während die göttliche Erkenntnis und das Wirkliche als getrennt betrachtet (necessitas consequentiae, aber nicht necessitas consequentis) nicht notwendig sind. Daraus folgt: 1. Dass die Erkenntnis Gottes nicht falsch sein kann, nicht einmal, wenn man annimmt, dass ein Sachverhalt sich niemals verwirklichen wird. 2. Die Tatsache, dass Gott eine gewisse Erkenntnis eines möglichen Sachverhaltes hat, bedeutet nicht, dass ein solcher Sachverhalt sich notwendig verwirklichen soll. 3. Die Zukunft kann daher als zufällig betrachtet werden, trotz der gewissen Erkenntnis
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rung der scotischen Unterscheidung von beiden Mächten (potentia absoluta und potentia ordinata) auf eine göttliche Willkür irreführend ist. 659 Denn Scotus hat sich eben deshalb von der tausendjährigen Tradition distanziert, die dem göttlichen Verstand einen Vorrang zuerkannte, weil seines Erachtens der Wille allein frei ist. 660 Diese Überzeugung macht anscheinend den Kern des scotischen Voluntarismus aus. Es ist nicht so, dass Scotus den unersetzlichen Wert des göttlichen Verstandes für den Willen verkennte; der göttliche Verstand dient jedoch nicht mehr als Erstursache, woraus sich die unvermeidlichen Konsequenzen herleiten, von denen schon ad abundantiam bei Cacciari die Rede war. Wenn aber der göttliche Wille als Erstursächlichkeit begriffen wird, dann ist die göttliche Freiheit nicht mehr gehalten, nach naturgemäßen, ewigen Modellen zu handeln (da die possibilia nicht von ontischer Ordnung sind), und daher ist Gott die Freiheit überhaupt. Überdies impliziert diese Annahme, dass Gott wiederum das Vermögen besitzt, unmittelbar auf die Kontingenz einvon Gott. 4. Die Freiheit des Menschen ist mit der göttlichen Voraussicht und Freiheit kompatibel. 659 Man darf nicht übersehen, dass die Macht Gottes laut Scotus eine Grenze hat, die vom Widerspruchsprinzip bestimmt wird. Es lassen sich Beispiele anführen: In seiner Tugendlehre erläutert Scotus, dass es Gesetze (wie das Naturgesetz) gebe, die nicht einmal Gott verändern könne, da der Verstoß gegen diese einen logischen Widerspruch einschlösse. All die Gesetze, die das göttliche Wesen überhaupt darstellen, bleiben unveränderlich und sind seiner absoluten Macht nicht ausgesetzt, sonst schlössen sie nicht nur einen Widerspruch, sondern sogar eine Selbstnegation Gottes ein. Man denke an das, was Scotus bezüglich der ersten zwei Gebote aus dem Dekalog sagt, wobei er erläutert, dass Gott das Gesetz nicht aufheben könnte, wonach der Mensch das höchste vollkommene Wesen zu lieben habe, d. h. den Gott ohne jegliche Finsternis: »Die ersten zwei Gebote der ersten Tafel […] sind Naturgesetze im engsten Sinne. Daraus folgt allerdings: Ist Gott existierend, dann ist er als alleiniges Sein zu lieben und kein Anderer als er zu verehren; Gott lässt sich auf keinerlei Weise respektlos behandeln. Folglich darf Gott nicht von diesen Vorschriften freistellen«. Ord., III, d. 37, q. un., n. 20, Vaticana, X, 280–281. 660 »Et ratio differentiae est, quia intellectus movetur ab obiecto naturali necessitate, voluntas autem libere se movet« Quodl. q. 16, n. 6. In der Quaestio Utrum potentia sit nobilior, intellectus an voluntas betont Scotus: »Quod autem intellectio non sit totalis causa volitionis patet, quia cum prima intellectio causetur a causa mere naturali, et intellectio non sit libera, ulterius simili necessitate causaret quidquid causaret, et sic quomodocumque circuli fierent in actibus intellectus et voluntatis, totus processus esset mere necessitate naturali; quod cum sit incoveniens, ut salvetur libertas in homine, oportet dicere posita intellectione, non habere causam totalem volitionis, sed principaliorem respectu eius esse voluntatem quae sola libera est.« Ord. II, d. 49, q. ex latere. Der Anfang als Freiheit
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zuwirken. Diese Wende scheint von höchstem Wert für das christlich-biblische theologische Denken zu sein, da sie sich auf das Ereignis eines offenbarenden Gottes in der Geschichte gründet. Mit Scotus fängt also ein Denken von Gott als freier Kausalität an, und dieses Prinzip vereitelt jegliches Suchen nach einem Bewegungsgrund, der der göttlichen Entscheidung vorausginge.
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Kapitel III Anfang als Freiheit. Ausblick auf die gegenwärtige Theologie und Neukonzeptualisierung jenseits des Konkurrenzmodells (Theologische Mindestforderungen in sechs Thesen) Mit den im ersten und zweiten Kapitel hier ausgeführten Überlegungen sollten zunächst den spekulativen und philosophiegeschichtlichen Fragestellungen von Cacciari neue hermeneutische Impulse gegeben werden. Dabei wurde die theoretische Umdeutung des Anfangsproblems im Zeitraum von Kant bis Schelling fokussiert. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, dass allen von Cacciari herangezogenen philosophisch ausgearbeiteten Optionen die zugrundeliegende Problematik, den Anfang als Anfang zu denken, weiterhin ein Stein des Anstoßes bleiben musste. Sodann erschien es angesichts der von Cacciari geäußerten Kritik an der christlichen Kosmologie angebracht, entscheidenden Umstellungen in der Entwicklung der systematischen Problemstellung der Schöpfungstheologie genauer nachzugehen und bei dieser Zuspitzung der Argumentation eine Neubestimmung der Begriffe des »possibile logicum« und der »synchronen Kontingenz« zu versuchen, die zuvor schon Duns Scotus vorgeschlagen hatte, und die man – so die Korrektur hier des neuzeitlich eingegrenzten Rückgriffs von Cacciari – als mögliche Überwindung der von ihm diagnostizierten Aporie der theologischen Tradition aufgreifen und so als hermeneutisch-systematischen Gegenentwurf aufstellen kann. Die hier solchermaßen ausgerichtete Argumentation soll und kann auch nicht historisch-diachronisch vorgehen, auch wenn die ausgeführte theologische Retrospektive als ein bloßer Schritt zurück in die Vergangenheit gedeutet werden könnte und damit als der philosophischen Reflexion nachträglich aufgepfropft verstanden werden könnte. Denn aus mindestens zwei Gründen ist dies gerade nicht der Fall. Erstens, weil Kants Ontologie geschichtlich als eine neuzeitliche Auffassung der Ontologie als »scientia transcendens« zu verstehen ist, die seit Scotus (in der Nachfolge der Metaphysik von Avicenna) als erstes und neutrales Objekt auf den Begriff vom »ens in quantum Der Anfang als Freiheit
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ens« hinauslief. Denn die Lehre von Duns Scotus begründete damit eine komplexe, dauerhafte Tradition, die ihren Einfluss weit über den orthodoxen Scotismus hinaus auch auf ganz andere Systeme geltend machte. Sie hat zur Veränderung der hierauf fußenden philosophischen Begrifflichkeiten beigetragen; sie hat aber nicht nur neue, genuin philosophische Grundbegriffe – wie etwa haecceitas – geprägt, sondern vor allem ein neues hermeneutisches Paradigma der Ontologie als allgemeiner Wissenschaft des Seienden (einschließlich einer Aufhebung des thomasischen Vorrangs des Seins) eingeführt, das noch lange danach (mehr oder weniger bewusst) die Geschichte der Metaphysik geformt hat. 661 Freilich hätte der Zusammenhang zwischen der Seins-Univokation von Scotus und dem neuzeitlichen Transzendentaldenken Kants eine gründlichere Behandlung verdient. Eine solche ist aber bereits von Magnus Striet 662 (den Beitrag von Ludger Honnefelder und theologische Intuitionen von Thomas Pröpper aufnehmend) bereits ausgeführt worden. Zweitens – und dies ist unerlässlich zu bedenken – sind die strittigen Reflexionen zur Freiheit des Anfangs bei Kant und Schelling wie auch die creatio ex nihilo bei Duns Scotus auf dieselben theoretischen Schwierigkeiten gestoßen, unbeschadet der historischen Unterschiede in der Lehre und in den hermeneutischen Voraussetzungen; 661 Für eine Rekonstruktion der scotischen Auffassung der neuzeitlichen Ontologie ist unverzichtbar: Honnefelder, Scientia transcendens, 1990. Nach Honnefelder kann man von einer scotischen Prägung der neuzeitlichen (und anti-thomasischen) Auffassung der Ontologie bei Wolff, Kant und Peirce sprechen. Hinsichtlich des Einflusses des Scotismus auf das frühzeitliche Denken beispielsweise bei Leibniz ist zu verweisen auf, De Candia, Die Scotus-Rezeption des jungen Leibniz. In: Studia Leibnitiana, 2016, 119–150. 662 Hier wird insbesondere Bezug genommen auf die Studien von Magnus Striet: Offenbares Geheimnis, 147–212 ff.; Ders., Das Ich im Sturz der Realität, 243–267. In den letzten Jahren sind mehrere Untersuchungen zum theologischen Thema des freiheitstheoretischen Paradigmas erschienen (Schubert, Mere passive?, 2014; Stürzekarn, Freiheit, die Befreiung braucht, 2015; Lerch, Selbstmitteilung Gottes, 2015): Deswegen scheint es hier nicht nötig, eine Synthese dieser theologischen Perspektive anzubieten. Die letzte kritische Arbeit von Magnus Lersch erweist sich als ausreichend in dieser Hinsicht (Lerch, Selbstmitteilung Gottes, 2015). Bei der Ausarbeitung der folgenden Thesen werden einige Einsichten von Th. Pröpper und M. Striet aufgenommen, um diese mit den Ideen Cacciaris zum Verhältnis von Anfang und Freiheit kritisch vergleichen zu können und damit Cacciaris Sichtweise noch einmal zu konturieren. Zu derselben Problematik in freiheitstheoretischer Hinsicht: Essen, Geschichte und Offenbarung. 2011, 143–162; 157; Ders., Hellenisierung des Christentums? 2012, 1–17; bes. 16–17.
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sie mussten dem Anfangsdenken als reiner Spontaneität der Handlung jede Spur von Notwendigkeitszusammenhang und Ewigkeitsontologie entziehen, um so der Schöpfungsidee als alleinigen, nichtableitbaren Akt des göttlichen Willens (creatio ex nihilo) gerecht werden zu können, sollte denn die Freiheit Gottes innerhalb des theologischen Diskurses konsistent gedacht werden. Scotus kann – so die These hier – ein unmittelbares Schöpfungshandeln Gottes in der Kontingenz so entfalten, dass seine Theorie aufgrund ihrer Argumentationskohärenz auch für die neuere philosophische Reflexion noch von Bedeutung ist. Das aber spricht für die Relevanz der Wiederaufnahme seiner Fassung ontologischen Denkens als eigens zu fokussierende Thematik in den Ausführungen hier. Darüber hinaus aber ist der Anschluss an Scotus in der Auseinandersetzung mit Interpretationsvorschlägen gegenwärtigen theologischen Denkens weiterzuführen und hier so zu einem Abschluss zu bringen unter dem Titel: Anfang als Freiheit. Mit den Reflexionen von Kant und Schelling steigt man in die Abgründe von Freiheit und Vernunft; dies zeigt eine überraschende inhaltliche Kompatibilität mit den theologischen Fragestellungen der Gottes- und Schöpfungslehre, so dass der Zussammenhang von Freiheits- und Vernunftbegriff als neu gefasste Problemstellung bzw. Problemlösung damit zugleich auch eine ›theologische‹ Relevanz erhält. Denn Kant hat gezeigt, dass die Vernunft um ihrer selbst willen den Anfang weder als Urtäuschung noch als Naturgesetz deuten kann. Anders gesagt, sofern die Vernunft mit all ihren unterschiedlichen Vernunftthematisierungen nach ihrem Woher befragt wird, befindet sie sich ipso facto an einer ›theologischen‹ Grenze. Denn es wäre nach Kant ein error in objecto, sich anzumaßen, den Anfang als Spontaneität der Handlung beweisen zu wollen, so als ob er mit einem Kausalgesetz – wie etwa bei Naturphänomenen – zu vergleichen wäre. Ein Anfang durch Freiheit kann nur postuliert werden; es ist sogar erforderlich, dass ein solcher postuliert wird, um dem Anspruch auf Gründung und Erfüllung der ›formalen Unbedingtheit‹ endlicher Freiheit selbst genügen zu können – ein Anspruch, mit dem die Hypothese eines irrationalen Abgrundes und einer Urtäuschung als ihr nicht gemäß abgelehnt werden muss. Damit zeigt sich eine entscheidende Einsicht: Die zu veranschlagende Offenheit der Vernunft gegenüber der Anerkennung einer Kausalität aus Freiheit stellt für die intellektuelle Erfahrung – ihrem Postulieren – eher ihre notwendige Ergänzung dar als einen Bruch. Der Anfang als Freiheit
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Auch für den späten Schelling ist der Gottesgedanke als absolute Freiheit für die Selbstaufklärung der Vernunft (durch eine ›umgekehrte Idee‹ 663) wesentlich. Man könnte sogar sagen, dass er den Sinn der Gedanken Kants noch vertieft, wenn dieser den Abgrund der Vernunft als Kausalität aus Freiheit postuliert. Denn der späte Schelling vermag sozusagen die Rangfolge von negativer und positiver Philosophie, Potenz und Aktus, Notwendigkeit und Freiheit umzustellen. Die negative Philosophie ist hier von der Nötigung einer selbstständigen Begründung jeglicher Erkenntnis, gar der Erkenntnis des Absoluten, entbunden. Das bloß Existierende geht nämlich jeglicher ›negativen‹ Denkoperation der Vernunft voraus und stellt seinerseits einen solchen Vorrang dar, weil es von einem freien und schlechthin unbedingten Anfang »erschaffen« wurde. Nichts kann der Vernunft solche Wahrheit versichern, wenn sie nicht zunächst die Evidenz und den Vorrang des Seins vor jeglicher Begrifflichkeit anerkennt. Und eben diese – in ihren Grenzen operierende und immer wieder auf ihre Grenzen stoßende Vernunft – weist implizit auf die Möglichkeit, bereitet sie gewissermaßen in ihrer Grundbegrifflichkeit darauf vor, sich dem theologischen Diskurs des Christentums annähern zu müssen, der im Erfassen in Gott »als die höchste Tatsache« 664 gipfelt, in der das Geheimnis der göttlichen Freiheit und des Seins sich in seiner Unableitbarkeit geoffenbart hat. Mit dem so weit zurückgelegten Argumentationsweg hier konnte der Anfang als Anfang konzeptuell weit über das Verhältnis strikter Konkurrenzmodelle hinausgeführt werden. Es ist nun möglich, die zu vermeidenden verkürzten Problemfassungen zurückzulassen – sowohl die Modelle eines zu eng begriffenen, sozusagen halbierten Freiheitsbegriffs als auch die daraus resultierenden Zwänge der negativen Philosophie. An ihre Stelle können jetzt vielmehr Minimalbestimmungen eines theologisch offenen Anfangsdenkens treten, die anhand einiger Thesen zusammengefasst werden.
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SW XIII, 162 f.; vgl. Dritter Teil, Kap. I, 4. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 432.
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Der Anfang ist eher ein praktischer Ort als ein theoretischer Gegenstand
3.1 Der Anfang ist eher ein praktischer Ort als ein theoretischer Gegenstand Am Anfang steht nie der Anfang, sondern das Angefangen-sein. Die Geschichte des Denkens ist von diesem Problem bleibend angezogen. Der Anfang ist ἄτοπον (átopon) und jedem gedachten Anfang geht ein schon Angefangenes voraus. Jede metaphysische Rekonstruktion des Anfangs fängt jene ursprüngliche Instanz mit einer vereinseitigten Perspektive ein. Der Philosoph phantasiert gewissermaßen mythologisch, wenn er vorgibt, alles von außen beobachten und den Anfang in sich selbst sich sagen lassen zu können. 665 Man muss sich mit dieser Beschränkung abfinden: »Principii nulla est origo«, wie Cicero 666 sagt. Diese Situation verleiht allen Aussagen eine gewisse Absurdität, anhand derer vorgegeben wird, den absoluten Anfang vor dessen Übergang zum Anfangen logisch rekonstruieren zu können. Das ›vor‹ setzt eine Zeit voraus, in der hingegen der Anfang ein Nicht-Zeitliches, also ewiges Substrat ist. Wenn man sich aber vorzunehmen meint, über diese Grenze hinausgehen zu können – so wie das Cacciari negativ verweisend mit dem Konzept des All-Mitmöglichen im Sinn hat – oder den Anfang mit dem Begriffspaar Potenz-Aktus einfangen zu können glaubt, wobei lediglich geschieht, was eben geschehen kann, dann schöpft man nicht aus einer höheren Wahrheit, sondern entzieht dem Anfangsdenken die Freiheitsdimension. Die Betrachtung des Anfangsproblems von Kant über Jacobi und Hegel bis Schelling hat exemplarisch gezeigt, dass die »negative Philosophie« in unlösbare Schwierigkeiten oder gefährliche Rationalisierungen gerät, sobald sie die Anfangsfrage aus sich heraus zu lösen versucht. Denn nichts kann der Vernunft unwiderlegbar versichern, dass am Anfang der Welt eine Intelligenz, eine Ordnung, ein Gott sei. 667 Nicht einmal die Betrachtung und die Erforschung des Weltalls, 665 Ich nehme diesbezüglich eine Überlegung von Pareyson auf: Pareyson, Ontologia della libertà, 299. Auf ähnliche Weise entwickeln sich die Betrachtungen zum Anfang von Carlo Sini, Dell’Inizio duale, 2002, 15 ff. 666 Marcus Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes, 1, 22, § 53, 52. 667 Vgl. dazu Wendel, Das freie Subjekt als Prinzip Theologischer Ethik: »Dass Vernunft in ihrem Streben nach Synthesis Unbedingtes denken kann, ja vielleicht sogar denken muss, steht außer Frage. Aus der Idee des Unbedingten folgt aber nicht, dass Unbedingtes ebenso notwendig existiert etwa als unbedingtes Sein oder Wesen. Für die Existenz des Unbedingten kann (theoretische) Vernunft nicht aufkommen, denn
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die Ordnung der in die Natur eingeschriebenen Gesetze, die fragile Vollkommenheit der Geschöpfe können den Menschen dazu ›zwingen‹, auf einen Anfang als freie Kausalität zu vertrauen. Und dennoch ist das Sein, wie die erste Evidenz, die unwiderlegbare Voraussetzung jeder ›negativen Philosophie‹ (Schelling). Diese Evidenz macht schon die These von Cacciari fragwürdig, derzufolge der Anfang eine Art Mutterschoß alles Möglichen und Unmöglichen sei, so als ob er athematisch allem Angefangenen mit-präsent wäre – ein Anfang, der aber zugleich dazu führen könnte, dass alles sei, als ob es nie gewesen wäre. Der unbestreitbare Vorrang der Tatsache (initium) vor jeglicher abstrakten Metaphysik des Anfangs (principium) sowie auch die Vorgabe des Angefangen-seins und des Andauerns der Dinge im Sein bilden die Voraussetzungen dafür, einen Zugang zum hermeneutischen Potenzial der jüdisch-christlichen Protologie zu eröffnen, um ausgehend von der Gegenwart unter Rückgriff auf das dort entfaltete Interpretationspotenzial in neuer Weise auf die Anfänge 668 blicken zu können.
3.2 Der Gedanke der Schöpfung ist zuallererst ein Erfahrungsurteil, sodann eine theoretische Einsicht Aus dem soeben Gesagten ergibt sich Folgendes: Erstens lässt sich die Vorstellung der Schöpfung nicht sola ratione von den Naturgesetzen ableiten, sondern sie ist zuerst eine theologische Kategorie; zweitens sollte aus methodologischer Sicht ein Vorrang des zeitlichen initium vor dem transzendentalen principium gelten, wenn auch letzteres als Voraussetzung der Welt im Hintergrund bleibt. Ein rabbinisches Sprichwort verbietet jegliche Untersuchung über das, was der Schöpfung in der Zeit vorangeht, da diese Schöpdies übersteigt die Möglichkeit ihrer Erkenntnis. Allenfalls als Postulat praktischer Vernunft kann die Existenz Gottes angenommen werden.« 167. 668 »Die christliche Protologie schaut von der Gegenwart auf die Anfänge. Augustinus hat in seiner Zeitanalyse im 11. Buch seiner Confessiones dargelegt, dass das, was ›ist‹, immer als Modus der Gegenwart da ist […] Die Frage nach dem Anfang ist motiviert und qualifiziert durch die Gegenwart der Fragenden. […] Die Gegenwart – als Zeit des schon eröffneten Heils wie als Zeit bittersten Unheils – ist der Raum, in dem auch die Frage nach den Anfängen Gestalt annimmt.« Sattler, »Im Anfang …«. Erwägungen zur Hermeneutik protologischer Aussagen, 2001, 222. Für einen kurzen Blick auf die Vielgestaltigkeit der existentiellen Anfangserfahrungen vgl. ebd., 211 f.
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Der Gedanke der Schöpfung ist zuallererst ein Erfahrungsurteil
fung ein absoluter Akt der Freiheit und Großzügigkeit Gottes sei: »Du darfst nichts erforschen, wenn nicht ab dem Tag der Schöpfung der Welt«. 669 Mit diesem Ausspruch wird davon ausgegangen, dass für die Theologie der Glaube an das schöpferische Handeln Gottes erstrangig ist, der dem christlichen Schöpfungsbekenntnis des Credo entspricht: Credimus in unum Deum, Patrem omnipotentem, Creatorem caeli et terrae. 670 Der Anfang des Apostolikums nimmt die Welt nur indirekt in den Blick. Folglich darf es gar keine Erkenntnis der Welt als Schöpfung geben, es sei denn aufgrund der primären Anerkennung von Gott als Schöpfer. 671 Aber diese Anerkennung findet nicht durch einen ›salto mortale‹ statt, ist also nicht das Ergebnis einer Art Selbstentfremdung der Vernunft oder des Willens – wie das sich bei den Reflexionen von Kant und Schelling schon erwiesen hat; sie ist eher ein Erfahrungsurteil oder ein spezifisches Urteil über die Erfahrung der endlichen Freiheit selbst und deren Verlangen nach Erfüllung. Es lohnt sich bei dieser Erfahrung zu verweilen, die den Glauben erfordert und zugleich ermöglicht, um dann das mit jener Erfahrung spezifisch verbundene Urteil genauer zu konturieren. Im Anschluss an Kants Reflexion ist Freiheit – noch vor dem Vermögen zu wählen (Wahlfreiheit) – hauptsächlich ein vorausgesetztes transzendentales Vermögen des Menschen, und zwar das »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen«. 672 Dies setzt voraus, dass die Freiheit eine Re-flexion über sich selbst und ihre eigene Erfahrung ermöglicht und erfordert, was eigentlich erst dann geschieht, wenn das menschliche Denken ›sich verdoppelt‹ und sich selbst reflektiert. Wenn der Mensch so über die Erfahrung seiner eigenen Freiheit nachdenkt, wird er zunächst eine Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt realisieren. In diesem Sinne ist Freiheit wesentlich ein Kommunikationsbegriff. 673 Zweitens nimmt der Mensch in sich das formale Bedürfnis einer unbedingten Anerkennung des Lebens und der Tendenz zur Verwirklichung seiner selbst, des geliebten Anderen und des Fremden wahr, und dies als ethischen Imperativ. Um ein Gleichnis zu verwenden, so ist es hierbei so, als ob die Freiheit auf formaler Ebene zu sich selbst Dazu vgl. Pareyson, Ontologia della libertà, 168 ff. DH 125, 150. 671 Vgl. Betont wird dieser Aspekt auch von: Dalferth, Schöpfung – Stil der Welt, 1999, 432–444. 672 KrV, 488 f. 673 Vgl. Nitsche, Der drei-eine Gott als Freiheitskommerzium, 437; 462. 669 670
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sagte: »Weniger als Alles genügt mir nichts«, oder auch: »Du sollst auf ewig leben«. 674 Was aber die materielle Verwirklichung der eigenen Freiheit betrifft, hat der Mensch unvermeidlich mit der Kontingenz, mit den eigenen Grenzen und denen des Anderen, und mit einem ständigen Aufschub des Vollzugs bis zum unerbittlichen geschichtlichen Scheitern zu rechnen. Mit seiner transzendentalen Analytik der Freiheit hat Cacciari selbst keine Schwierigkeiten gehabt, dieses Streben nach dem Unbedingten anzuerkennen, das der endlichen Freiheit innewohnt. Er hält allerdings die Erfüllung dieses Anspruchs auf Unbedingtheit für schlechthin unmöglich. Es gebe keinen angemessenen, materiellen oder formalen Gehalt, der diese Spannung auflösen könne, weil der Andere, mein Gegenüber, in gleicher Weise endlich ist wie ich, so dass beide sozusagen tragisch am seidenen Faden der Indifferenz des All-Mitmöglichen hingen. Gerade auf diesen Punkt sollte es hinauslaufen: Der Mensch kann die konstitutive Antinomie nicht selbst auflösen, derzufolge er »als irreduzible Synthesis von unbedingter Spontaneität und Angewiesenheit auf Gegebenes« 675 existiert. Hierbei ergibt sich die (philosophisch nicht ableitbare, jedoch theoretisch legitime) Möglichkeit, dieses Bewusstsein vom Unbedingten der eigenen Freiheit und zugleich der eigenen Kontingenz »als Indiz für die Freiheit des möglichen Gottes zu werten, und es somit auch zulässt, […] – zumal ein in sich Notwendiges in keinem Erkannten antreffbar ist – die Welt als Schöpfung zu glauben.« 676 Eine der endlichen Freiheit angemessene Gottesvorstellung sollte sich der formalen Unbedingtheit menschlicher Freiheit und der Möglichkeit ihres vernünftigen Vollzugs 677 als entsprechend erweisen. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, einen Beweis für das Dasein Gottes zu liefern, sondern eher den Anspruch auf die Anerkennung und den 674 In verschiedenen Beiträgen, die unter dem Titel Evangelium und freie Vernunft erschienen, hat Pröpper eine phänomenologische Beschreibung der Erfahrung angeboten, in der sich die materiell bedingte Freiheit ihrer formalen Unbedingtheit vergewissert, und darin zum Begriff des christlichen Gottes als Verheißung einer vernunftgemäßen Erfüllung gelangen kann. 675 Pröpper, Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott, 90. 676 Ebd. 677 In diesem Sinne ist die Zukunft bzw. Eschatologie als derjenige Zeithorizont zu betrachten, in dem auch die Anfangsfrage bzw. Protologie gestellt werden kann. Dazu: von Balthasar, Umrisse der Eschatologie, 1990, 276–300; Pannenberg, Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens, 1995, 139–152; bes. 152; Link, »Im Anfang …«. Augabe und Ansatz einer Schöpfungslehre heute, 1995, 153–175.
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Der Gedanke der Schöpfung ist zuallererst ein Erfahrungsurteil
unbedingten Vollzug der endlichen Freiheit als ein sinnvolles, unumgängliches Problem anzusehen. In diesem Sinne kann als Minimalbestimmung, ausgehend von der Forderung nach der absoluten Autonomie endlicher Freiheit, Gott nicht anders als vollkommene Freiheit 678 gedacht werden. Wie Magnus Striet gezeigt hat, wird hierbei dieser Gottesbegriff nicht mehr via eminentiae erlangt (wie bei dem von Cacciari kritisierten Modell), sondern im selbstreflexiven Vollzug der ›freien Vernunft‹ gewonnen, 679 und zwar durch einen synthetisch-transzendentalen Akt derselben. Eine solche Instanz ist dann als möglich zu denken, wenn der Mensch auf die Frage, die er selbst für sich selbst ist, antworten soll, und die ihm von seiner eigenen Freiheit als ihm auferlegtes Gesetz gestellt wird. Wenn aber die Hypothese einer Vollendung von Seiten der göttlichen Freiheit a priori ausgeschlossen wäre, dann müssten wir zugeben, dass sich die Freiheit wider sich selbst und ihr Gesetz (und somit gegen ihr eigenes Streben nach dem Unbedingten) setzte – und so bei den tragisch-aporetischen Konsequenzen Cacciaris endete. Es geht hier zweifellos um einen Gottesgedanken, der einen Ausweg aus dem Labyrinth der Tragödie findet. Damit gelangen wir aber
678 Mit H. Krings und H. M. Baumgartner legt Thomas Pröpper eine theologische Hypothese vor (die Magnus Striet und Georg Essen weiterführen), die von der Anerkennung des formalen Verlangens endlicher Freiheit nach dem Unbedingten ausgeht. Der radikale Unterschied zwischen dieser theologischen Hermeneutik und der Freiheitsanalytik Cacciaris liegt darin, dass die Anhänger des theologisch-transzendentalen Paradigmas von der bloßen Anerkennung des formalen Unbedingten der Freiheit zur bewussten Annahme eines angemessenen Inhalts übergehen, welcher der formalen Unbedingtheit entspreche und ihre vernunftgemäße Erfüllung darstelle. Der Gottesbegriff, der von einer Analyse der unbedingten Spannung in actu in der endlichen Freiheit stammt, wird hierbei entscheidend im selbstreflexiven Vollzug der ›freien Vernunft‹ (zwar durch einen synthetisch-transzendentalen Akt der Vernunft) gewonnen. Schließlich kann die Subjektivität der Ankunft eines Unbedingten Raum geben, insofern sie das Verlangen der freien Vernunft nach dem Unbedingten ernst nimmt – und dies ist überhaupt nichts Romantisches – sondern stellt eher die eigentliche Dynamik der konkreten Erfahrung der Freiheit dar. Vgl. Krings, Transzendentale Logik, 1964; Ders., Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken, 161–184; Baumgartner, Endliche Vernunft, 1991; Ders., Die Bestimmung des Absoluten, 1980, 321–342; Pröpper, Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott, 72–92; Ders., Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, 182–194 (und alle Beiträge überhaupt in Evangelium und freie Vernunft); Striet, Das Ich im Sturz der Realität, 243–267; Ders., Offenbares Geheimnis, 164–187; Essen, Die Freiheit Jesu, 2001. 679 Vgl. Krings, Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken, 176; Striet, Offenbares Geheimnis, 184 ff.; vgl. auch in dieser Hinsicht: Müller, Wenn ich »ich« sage, 1994.
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noch nicht in den Spielraum der ›danteschen Komödie‹, 680 wo alles vorbestimmt und in Gott geordnet sei, wie Cacciari das schildert; vielmehr gilt es, ein dramatisches Verständnis der endlichen Freiheit zu fördern, wobei die Tatsache der Selbstoffenbarung Gottes in Christus das freie Ereignis überhaupt darstellt, in dem Gott selbst sich der menschlichen Freiheit zuwendet. Es geht letzten Endes um eine Begegnung zweier Freiheiten, die immer eine offene Geschichte bleibt – wie dies die Heilige Schrift auch besagt. Genau genommen scheint die Berücksichtigung der Schöpfung im Ergebnis bzw. Wissen eines Erfahrungsurteils wesentlich dem zu entsprechen, was die jüdischchristliche Tradition uns eigentlich überliefert hat. Erst angesichts der Befreiung des versklavten Volks Israel erwacht im Judentum das Bewusstsein Gottes als des einzigen Schöpfers. Neben diesem Ereignis sieht das Christentum in der trinitarischen Ökonomie, der Inkarnation des Logos und der ›neuen Schöpfung‹, die sich in der Auferstehung des Sohnes vollendet, die endgültige Bestätigung der Schöpfung. Vom trinitarischen Gott, der sich durch die Heilsgeschichte hindurch geoffenbart hat und in der Zuwendung der Gnade der Erhöhung von Leben und Freiheit des Menschen dient, fällt rückblickend auch ein Licht auf das Geheimnis des Anfangs. Hält man also die biblische Offenbarung und ihre Erfüllung in der christologischen Offenbarung für einen hermeneutischen Schlüssel, um das Verhältnis zwischen Gott und Welt, reinem Anfang und Vollzug des Anfangs verstehen zu können, wandelt sich das theologisch verstandene Paradigma der Schöpfung um; es geht nicht mehr um eine Ursache-Wirkung-Beziehung, sondern um die erschlossene Abhängigkeit vom Vater. In dieser spielen kausal-deterministische Kategorien keine Rolle mehr, eher die Vater-Sohn-Beziehung, in der sich die Freiheit des Sohnes im Geist zur Freiheit des Vaters verhält. In der geschichtlichen Verwirklichung seiner Freiheit offenbart Christus, der Sohn, auf bedingte Weise den Sinngehalt der Freiheit Gottes selbst und mithin auch des Menschen: Sie besteht in der freien und unbedingten Bestätigung der Freiheit des Anderen. Durch Inkarnation, Leiden und die geschichtliche Gegenwart des Auferstandenen wird der materielle Gehalt der Freiheit ersichtlich, da der Sohn sich immer neu dazu entschließt, sich von der menschlichen Freiheit bestimmen zu lassen. Die absolute Anerkennung und Förderung der Freiheit des Anderen gilt seither für die christliche Theologie sowohl 680
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Cacciari, Primo monologo filosofico. Colloquim salutis, 1996, 148.
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Die Schöpfung als Über-gang des innertrinitarischen Geschehens
als Kriterium für den philosophischen Zugang zum Verständnis des Wesens Gottes und für alle theologischen Aussagen (von der Schöpfung über den Sündenfall zur Erlösung), als auch als inhaltliche Maßgabe für jede anthropologische Reflexion und moralische Verbindlichkeit. 681
3.3 Die Schöpfung als Über-gang des innertrinitarischen Geschehens Im vorher Gesagten liegt eine weitere Wahrheit über Gott und seine Schöpfung, die in dem Urteil der Erfahrung und der freien Christusoffenbarung implizit enthalten ist. Denn das innertrinitarische Geschehen stellt die einzige Voraussetzung für das Werden der Welt dar, für diejenige Schöpfung, die ihren Grund und letzten Sinn in einer grundlos-freien Liebe hat. Freilich schien, so war bei Cacciari zu lesen, die christliche Theologie von einer Metaphysik des notwendigen Seins belastet zu sein, die auf das Denken der göttlichen Freiheit Schatten geworfen und unauflösbare Probleme gezeitigt hatte. Demnach habe die theologische Lehre Gott entweder als eine notwendig an ihre Wirkungen gebundene Ursache gedacht oder als einen ebenso notwendig sein Sein mitteilenden (communicativum) ›Vater‹. Um die Freiheit Gottes zu verteidigen, schlägt Cacciari vor, den Anfang als einen Un-grund aufzufassen, d. h. als jene Voraussetzung (das indifferente All-Mitmögliche), die die absolute Freiheitswahl Gottes in jeder möglichen Richtung offenhält. Die Fraglichkeit einer solchen Lösung sowie auch die Parteilichkeit dieser Diagnose, die die ganze Theologie mit einem Offenbarungspositivismus zu identifizieren sich anschickt, sind eingehend erörtert worden. Positiv geht es an dieser Stelle darum, dass bei dem trinitarischen Gott (anders als bei dem metaphysisch verstandenen) das ewige Sein (oder Wesen) dem ewigen Geschehen entspricht – eine Aussage, die bereits bei Schelling formuliert wird und damit weit über jenes dialektische Spiel hinausgeht, infolgedessen Gott innerhalb der Alternative von Freiheit und Notwendigkeit handeln müsste. Für eine Theologie, die ihre Reflexion auf das tiefe Geheimnis der geoffenbarten Freiheit stützt, ist das Sein des trinitarischen Gottes an sich ein ewiges (also nicht zeitliches) Freiheitsgeschehen: »Ein 681
Wendel, Das freie Subjekt als Prinzip Theologischer Ethik, 167 ff.
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Geschehen« – mit Balthasar – »das also kein Werden im innerweltlichen Sinn ist, kein Entstehen dessen, was irgendwann nicht war (das wäre Arianismus), aber offenbar doch etwas, das die Idee, die innere Möglichkeit und Wirklichkeit eines Werdens fundiert.« 682 Es gibt also einen ganz schmalen Grat und zugleich einen radikalen Unterschied von einer solchen Auffassung vom Sein Gottes und der Rationalisierung einer derartigen Über-Logik in der dialektischen Synthese bei Hegel. So kann man sagen, dass die treibende Kraft der Theologie die trinitarische Überlebendigkeit ist, für die von Cacciari veranschlagte Philosophie jedoch nur der Sog des Abgrunds des Gottesgedankens; für erstere ist Gott wesentlich Liebe, und gerade deswegen bleiben die drei göttlichen Personen in ihrem Schöpfungsund Heilshandeln ursprünglich und vollkommen frei. Um die von Cacciari bervorzugte Formel zu verwenden, könnte man ein solches trinitarisches Freiheits-Kommerzium als Geheimnis der höchsten Mitmöglichkeit bezeichnen – in Anlehnung an den condilectus bei Richard von St. Viktor, der aber in dem Zusammenhang hier so zu verstehen ist, dass die freie Gegenseitigkeit und Einigkeit des trinitarischen Lebens als eine ewige Aktualisierung des Möglichsein-Könnens erscheint. Damit diese Kategorie in innertrinitarischer Hinsicht sinnvoll ist, ist sie als eine immer schon realisierte Mitmöglichkeit zu verstehen, die gerade als schlechthin vollkommene – im Unterschied zur materiell bedingten Freiheit des Menschen – keines Anerkennungsprozesses (also keines ›Werdens‹) bedarf, um zu sich selbst zu kommen. 683 Gott ist immer schon eine wechselseitige Anerkennung und eine gegenseitige Selbstunterscheidung der drei gleichursprünglichen freien Hypostasen. Mit Recht könnte man einwenden, dass eine solche Kategorie logisch nicht kohärent sei, da eine so beschriebene Mitmöglichkeit sich als gleichwertig mit der ewigen Aktualität erweise, das Mögliche als Kategorie also keinen Sinn mehr habe. Es besteht kein Zweifel daran, dass hierbei die Verwendung dieses Begriffs die ewige Aktualität der trinitarischen Beziehungen (ordo processionis) einschließt. Gleichzeitig aber beruht das Beharren auf dem Cum-possibile (dessen Nuancierung das Wort communio auf unerwartete Weise verstehen lässt) gerade auf dem Gedanken des possest des innergöttlichen ›Freiheitsraums‹ und der souveränen Freiheit
682 683
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Balthasar, Theodramatik. IV, 59. So auch Nietsche, Gott und Freiheit, 178 ff.; 196 ff.; 206 f.
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Die Schöpfung als Über-gang des innertrinitarischen Geschehens
jeder göttlichen Hypostase, der man die Möglichkeit des Auftauchens je neuer Aspekte des göttlichen Lebens als Über-Erfüllung ihres Seins nicht absprechen kann. Damit ist der dreifaltige Gott selbst als der Eine id quo maius cogitari nequit, als dreifaltiger aber stets größer als das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. In seiner Theodramatik hat von Balthasar in diesem Sinne einen unübertrefflichen Beitrag geleistet, indem er die Reflexion über den dreifaltigen Gott als eine ständige Einweisung in die gegenseitige Anerkennung des Freiseins verstanden hat. In diesem Zusammenhang kommt er, inspiriert von Adrienne von Speyr, öfter auf die Bezeichnung einer »Kommunion der Überraschung« zurück, die besonders treffend für die unerhörte Dynamik innerhalb des trinitarischen Freiheits-Kommerziums zu sein scheint. So ist »[…] der Sohn die erste Erwartung des Vaters und auch seine erste Erfüllung, und er bleibt die Ewigkeit lang das, was er war und ist: Erwartung und Erfüllung. Unübertreffbare Erwartung, die immerfort in der Erfüllung übertroffen wird, trotzdem die Erwartung unübertreffbar war […] Und nochmals ereignet sich dieser Überschwang im Hervorgang des Heiligen Geistes, da Vater und Sohn ihre gegenseitige Liebe in dieser Weise übertroffen sehen, dass sie als eine dritte Person aus ihnen hervorgeht.« 684 In diesem Sinne kann die Schöpfung nur ausgehend von einer trinitarischen Auffassung verstanden werden: Die Schöpfung ist eben die Frucht jener ewigen Gemeinsamkeit der trinitarischen Überraschung, welche dann vom Vater mit seinen eigenen Händen 685 – d. h. mit dem Wort und dem heiligen Geist – ins Dasein gebracht wird, wie es Irenäus von Lyon ausdrückte. Nur in dem Überwerden und Über-gehen des innertrinitarischen Geschehens, nur in der »unendlichen Distanz zwischen Gott und Gott«, kann er die Welt in sich frei entstehen lassen. 686
684 Balthasar, Theodramatik. IV, 69. Das Zitat stammt aus Adrienne von Speyr: Die Welt des Gebets, 23. 685 Irenäus von Lyon, Adversus Haereses, IV, 4; IV, 7, 4; V, 1, 3; V, 5, 1; V, 6, 1; V, 28, 4. 686 »Die Freiheitsräume in Gott entstehen sowohl durch das Sich-verschenken der Hypostasen wie durch das Sein-lassen je der zwei anderen Hypostasen durch die eine. Keine will die beiden anderen sein. Das ist nicht Rückzug oder Resignation, sondern positive Gestalt der unendlichen Liebe. Und deshalb bedarf Gott auch keines Rückzugs, keiner ›Selbstverschränkung‹ oder ›Kenose‹, wenn er die Welt in sich entstehen lässt.« Balthasar, Theodramatik. II., 238.
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3.4 Die creatio ex nihilo impliziert eine radikale Differenz Trotz der oben erwähnten konzeptuellen Schwierigkeiten ist der christlichen Theologie von Beginn an deutlich gewesen, welche Neuheit die biblische Schöpfungslehre gegenüber den hellenistischen Kosmologien enthält: Gott ist Schöpfer, insofern er gemäß seiner Güte beschließt, die Welt ins Dasein zu rufen, und ist dabei weder beschränkt noch bedingt von irgendeinem Vorherbestehenden oder ihm Mitewigen. Dass die Schöpfung nicht aus einer vorherigen Materie stammt – wie mit der platonischen Auffassung des Demiurgen gedacht wurde – sondern sich auf einen reinen Freiheitsakt Gottes gründet, verdankt sich dem Unterschied zwischen den göttlichen Hypostasen und bestätigt zugleich den absoluten Unterschied zwischen Gott und Welt. Schöpfung und Geschöpf haben kein mitewiges ›Element‹ gemeinsam. Und dies bedeutet nicht nur, dass Gott ursprünglich frei ist, sondern auch, dass er post creationem immer noch frei bleibt. Im Prinzip ist es überhaupt nicht erforderlich, dass Gott an die Welt gebunden sei, wenn nicht aufgrund seines freien Handelns. In der Annahme einer creatio ex nihilo ist also eine radikale Differenz zwischen Gott und Welt impliziert, die die absolute Freiheit des Schöpfers offenbart und dementsprechend diejenige des Geschöpfs gewährleistet. Erst dann, wenn Unterschied und Abstand garantiert werden, ist auch die Beziehung zur Andersheit möglich: Es ist – wie die biblische Erzählung bezeugt – eine Geschichte von zwei Freiheiten. Die Kategorie der ›Mitmöglichkeit‹ und der wechselseitigen Anerkennung hat in diesem Sinne auch Konsequenzen für das Verständnis des freien Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, für die Anthropologie, für das schöpferische Miteinander und die gegenseitige Anerkennung von Freiheiten, für die der so verstandene trinitarische Gott Modell, Garant und Verheißung des Gelingens wäre. Indem Gott die Welt erschafft, erweitert er die Horizonte des ›Mitmöglichen‹ und daher der Freiheit; außerdem appelliert er an die freie und sich geschichtlich bestimmende Anerkennung des Menschen. Wie die Offenbarung aus Liebe, die nicht aus unvergleichlicher Freiheit stammte, eigentlich weder Offenbarung noch Liebe wäre, so wäre ein nicht auf die freie Zustimmung und den freien EinverständnisProzess des Menschen einwirkendes Geheimnis bloße Ideologie. Und umgekehrt eine endliche Freiheit, die sich nicht als schon (von Gott) initiierte, angesprochene, befähigte und eingesetzte verstünde, würde ihrerseits zum Opfer jener Täuschung, die die Theologie Sünde nennt 328
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In der Person Christi nimmt die göttliche Freiheit die Form der Freiheitswahl
und den Bruch des Menschen mit der ursprünglichen Mitmöglichkeit ratifiziert. 687
3.5 In der Person Christi nimmt die göttliche Freiheit die Form der Freiheitswahl an Bedeutsam für den Zusammenhang hier ist nun die Betrachtung der Neuheit, die von der Christologie in das Verstehen der geschöpflichen Freiheit Gottes eingeführt wird. Die Gestalt Jesu stellt als Sohn Gottes dar, wie die göttliche Freiheit sich als Form einer Freiheitswahl hätte realisieren lassen können. Denn wenn man die Betrachtung der Freiheit des Sohnes als Wahl ausschlösse, müsste man gezwungenermaßen in die Häresie des Monotheletismus fallen und folglich Christus eine unvollkommene Menschlichkeit zuschreiben. Wie die Episode der Versuchung in der Wüste (Mt 4,1–11; Mk 1,12–13; Lk 4,1–13) oder das Gebet in Gethsemane (Mk 14,32–41; Mt 26, 36–46; Lk 22, 40–46) bezeugen, musste Christus die Feuerprobe der Entscheidung bestehen, er musste sich der Provokation und dem Risiko aussetzen, denen die Ureltern seitens des Versuchers erlegen waren. Er allerdings entschied sich, seine Freiheit auf den Vater hin auszuüben, und dies durch einen weder ableitbaren noch vorherbestimmten Akt. Gerade weil in Christus die göttliche und menschliche Natur indivise et inconfuse 688 wirksam sind, kann seine Freiheit auf keine Weise als nötigende Wirkung seiner göttlichen Natur erklärt werden. 689 Die vom Sohn geoffenbarte Freiheit (Joh 10, 17–18) 687 Die Letztbedeutung dieser Aussage ist von Bernhard Nitsche zum Ausdruck gebracht, indem er schreibt: »Die Selbstverfehlung der Freiheit in ihrer Selbstbestimmung ist also keine kategoriale Weise der Wahl zwischen guten und bösen Alternativen, sondern eine ursprüngliche Selbstverfehlung und Selbstverunmöglichung der Freiheit.« Nitsche, Endlichkeit und Freiheit, 403. 688 »Unum eundemque Christum Filium Dominum unigenitum in duabus naturis inconfuse, immutabiliter, indivise, inseparabiliter agnoscendum, nusquam sublata differentia naturarum propter unionem, magisque salva proprietate utriusque naturae in unam personam atque substantiam concurrente.« – »Ein und derselbe Christus, der Sohn, der einziggeborene Herr, ist in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungeteilt und untrennbar anzuerkennen, wobei nirgends der Unterschied der Naturen wegen der Einung aufgehoben ist, vielmehr die unversehrte Eigentümlichkeit beider Naturen zu einer Person und Substanz zusammenkommt.« DH, 642. 689 Georg Essen hat das Verdienst, die Aporetik der ›Zweinaturenlehre‹ überwunden und damit eine Neubestimmung der neuchalkedonischen Enhypostasielehre in der
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stellt also die einzigartige theologische Möglichkeit einer Auslegung der Freiheit des Vaters dar (Joh 14,9); der freie Wille Jesu ist die menschliche, bedingte Form einer unbedingten Freiheit, die sich ganz von der göttlichen Freiheit her versteht und auf sie bezieht. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass Christus sich mit der Notwendigkeit auseinandersetzen musste, wie das Ereignis am Kreuz zeigt. Und dennoch geht diese Notwendigkeit, wie Balthasar bemerkt hat, nicht der Ausübung seines freien Entschlusses voran. Sie ist eher eine nachfolgende Notwendigkeit (necessitas sequens), die auf den freien Entschluss des Sohnes folgt, für den Vater zugunsten der Menschen zu leben. Der Unterschied zwischen necessitas antecedens (vorausgehende Notwendigkeit) und necessitas sequens, dem Denken Anselms vertraut, 690 ist in diesem Sinne entscheidend. In dem Werk Cur Deus homo wird der Vorrang der Freiheit vor der Notwendigkeit mit dem Adverb »sponte« ausgedrückt, das wie von Balthasar meint, das Leitmotiv der gesamten dramatischen Handlung 691 darstellt. An anderer Stelle konnte die freie Durchquerung der Notwendigkeit von Seiten des Sohnes als mehr-als-notwendig 692 definiert werden: Sie ist mehr als Nötigung (necessitas antecedens) und auch mehr als Willkür oder Zufall (weniger-als-notwendig). 693 Die BeBegrifflichkeit neuzeitlichen Freiheitsdenkens profiliert zu haben: Essen, Die Freiheit Jesu, 192–241. 690 Vgl. Anselm, Cur Deus homo, II, 17; Ders., De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae Dei cum libero arbitrio, q. I, c. 2. Für einen theoretischen Excursus zum duplex modus necessitatis von Aristoteles zu Anselm: Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 353–450. 691 Balthasar, Theodramatik. III., 238; vgl. 235–241. 692 Eberhard Jüngel hat die Kategorie des »mehr als notwendig« in die Theologie eingeführt (Gott als Geheimnis der Welt, 27–44). Er benutzt jene Formel als eine Art rhetorischer Deckung, die es ihm erlaubt, die Selbstoffenbarung Gottes unter den Bedingungen der »nicht Notwendigkeit« Gottes für die Welt der modernen Zeit zu behaupten. So hatte ich Gelegenheit zu zeigen, wie die mangelnde systematische Vertiefung der Konzeptualisierung eines ›mehr-als-notwendig‹ in seinem Diskurs die Verwendung dieses Kriteriums aus theoretischer Sicht extrem schwächt. Bei meinem Versuch ging es hingegen um eine begriffliche Definition des ›mehr-als-nötigen‹ in einer klaren Dialektik zwischen Freiheit und Notwendigkeit, wie sie schon in Cur Deus Homo Anselms enthalten ist und auch für eine korrekte Hermeneutik des unum argumentum grundlegend ist: De Candia, Il peso liberante del Mistero, 93–98; 451– 462. 693 Dem Rhythmus dieses theologischen Kriteriums haben sich in ihren Untersuchungen zur Christologie Anselms von Canterbury einige Autoren angenähert: M. Corbin, der eine »Ultra-Logik« des »mehr als« entwickelt (La nouveauté de l’Incarnation, 1988, 11–166.), und G. Gäde, der von einer »anderen Barmherzigkeit«
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In der Person Christi nimmt die göttliche Freiheit die Form der Freiheitswahl
trachtung der Freiheit Christi als eines mehr-als-notwendigen Aktes wahrt sowohl die Unableitbarkeit des christlichen Ereignisses als auch dessen Angemessenheit. Nur angesichts der Offenbarung kann man das Maßlose der göttlichen Freiheit erahnen und deren Maß und Form in ihrem Liebe-Sein finden und begreifen. Wenn man etwa die sieben Worte Jesu am Kreuz vernimmt, kann man, inmitten der an diesem Karfreitag sich auftuenden Distanz, das Ausmaß erahnen, das dem freien Willen aus der auf- und ausrichtenden Kraft der Freiheit Gottes gegeben ist. 694 Damit kann man eine wichtige Leitlinie formulieren: Was angemessen für Gott und seine Freiheit ist, ist not-wendig für den Menschen, und was dem Menschen gemäß ist, nimmt Gott als notwendig für sich an und auf. In der Wendung »er nimmt es in sich auf« findet sich das ganze Geheimnis der freien Entscheidung Gottes. Deswegen kann man nur uneigentlich von einer Notwendigkeit in Gott sprechen oder gar von einem geraden, unfehlbaren Weg, der risikofrei von der Schöpfung zum Eschaton führte. Es ist andererseits auch einleuchtend, dass die so große Angemessenheit der Inkarnation, das so große Ausmaß der christologischen Freiheit, aus der Perspektive des geschaffenen Seins gesehen, auch als etwas erscheinen kann, das nicht anders hätte sein können. Es handelt sich hier freilich um eine hermeneutische Retrospektive, die, wie im Fall der Folgen des menschlichen Entschlusses, niemals a priori abgeleitet werden kann. Es wäre ein Verrat an der Erlösung und der gottmenschlichen Freiheit, die necessitas sequens als eine Notwendigkeit zu interpretieren, die die Ausübung des konkreten und schweren Entschlusses Christi auf den Vater hin zugunsten der Menschen, vorbestimmt hätte. Wie es Luigi Pareyson zur Verteidigung der Unableitbarkeit der Geschichte der christlichen Freiheit ausdrückt: »[…] auch wenn diese Geschichte ewig ist, hört sie nicht auf,
spricht (Eine andere Barmherzigkeit, 1989), ferner N. Albanesi, der mit Rückgriff auf die Interpretation von G. Plasger die Form einer »anderen Gerechtigkeit« verwendet (Plasger, Die Not-Wendigkeit der Gerechtigkeit, Münster 1993; Albanesi, Cur Deus homo. La logica della Redenzione, 76 ff. 694 Cacciari muss das Verdienst zugesprochen werden, das Ausmaß der von Christus geoffenbarten Freiheit während der Passion erkannt zu haben. Er drückt das in Betrachtungen von hoher Eindringlichkeit und dramatischem Pathos aus. Im Unterschied zu der christlichen Perspektive ist Christus für Cacciari der Mediator des Unmöglichen als Hintergrund des Anfangs, der Darsteller der unendlich tragischen Öffnung des Indifferent-Unmöglichen. Für eine Darstellung der christologischen Sicht Cacciaris vgl. Guanzini, Anfang und Ursprung, 89–92. Der Anfang als Freiheit
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Geschichte zu sein und ihre Ereignisse werden nie dialektische Momente werden.« 695
3.6 Das Eschaton als endgültige Vollendung der gottmenschlichen Freiheit Dass das Christentum sich als Triumph einer Vorherbestimmung darstellen konnte, als Ideologie der absoluten Versöhnung, des glücklichen Endes, ist eine Tatsache, die nicht nur mit dem Drama über den Ursprung der Engel und der Schöpfung im Widerspruch steht, sondern noch mehr mit dem Ereignis der Inkarnation und dem Kreuz des Sohnes. Mit dem Christentum ist nichts garantiert, auch nicht nach der Auferstehung. Die immer mögliche Ablehnung der im Sohn geoffenbarten Freiheit von Seiten des Menschen, sogar der Abscheu, den eine so große Freiheit hervorruft (Joh 15,25), ist nicht nur immer möglich, sondern macht die christliche Sicht der Existenz noch dramatischer. Beim Rückgang vom Ereignis der Offenbarung zum zugrundeliegenden Gedanken der Freiheit des Anfangs ist klar, dass es trotz der Angemessenheit des nexus mysteriorum nicht legitim ist, die göttliche Freiheit als Selbstentwicklung eines notwendigen Seins zu deduzieren. Auch in einer noch so großen Gemäßheit des geoffenbarten Mysteriums muss die immer größere Unableitbarkeit seiner vollkommenen Freiheit bewahrt werden, das Überraschende der innertrinitarischen Liebe, die die überraschende Neuheit der Schöpfung und der anderen Geheimnisse als so unerschöpflich erscheinen lässt. Dieser unvordenkliche Charakter des Christentums bewahrt die Geheimnisse vor jedem Rationalismus und jeder Ideologie. Die Schrift verkündigt den Schöpfer-Gott, der den Raum der Freiheit ausdehnen wollte (aber nicht musste). Damit hat er das Hervortreten der einzigen Weise erlaubt, in der Engel und Menschen ihn frei erkennen konnten. Mit dem Aufkommen des freien Willens entsteht auch das dramatische Risiko der Verfehlung, ohne das es keine Freiheit gäbe. Nach dem Fall Luzifers und dem zweiten Fall Adams kann die Inkarnation des Menschen nichts anderes als eine zweite Chance der menschlichen Freiheit sein, eine weitere Probe, die das Drama verdoppelt. Denn der Sohn Gottes wird zum Tod verdammt und gekreuzigt. Die Auferstehung, das Ausströmen des Geistes und 695
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Pareyson, Ontologia della libertà, 136.
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Das Eschaton als endgültige Vollendung der gottmenschlichen Freiheit
die Entstehung der Kirche zwingen die Freiheit des Menschen nicht, den Vater anzuerkennen. Folglich ist dem Christentum auch die Idee eines decretum absolutum, das von oben erlassen würde, innerlich fremd. Wenn alles ab origine oder seit der Auferstehung von Gott genötigt wäre, dann gäbe es tatsächlich keine Freiheit mehr für den Menschen. Das, was bei genauerem Hinsehen das christliche Mysterium als ›dramatisch‹ erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass Gott selbst die menschliche Freiheit ernst nimmt. Alles dreht sich um sie, von der Genesis bis zur Apokalypse. Dementsprechend müsste die Eschatologie selbst nicht teleologisch verstanden werden. Pareyson hat in Bezug darauf vollkommen Recht, wenn er schreibt: »Die Teleologie ist die Negation der Eschatologie und umgekehrt. Das Eschaton bricht unerwartet ein, während der telos Höhepunkt einer Bewegung ist. Das Eschaton kann die teleologische Bewegung unterbrechen, während der telos nichts zum Aufkommen des Eschaton beiträgt.« 696 Die einzelnen menschlichen Teleologien können vom Ausbruch des Eschaton unterbrochen werden, von einer Dimension, die über jede logische Vorhersage hinausgeht. Und dennoch muss dieses letzte Urteil seinerseits die einzelnen Teleologien, die einzelnen Freiheiten respektieren. Das Urteil ist kein fremder Spruch; es muss seinerseits als letzter Akt der vollkommenen göttlichen Freiheit und extremer Akt des freien menschlichen Willens interpretiert werden: Es geht um die letzte Geste der Freiheit von Seiten des Menschen, um einen Akt der Selbstinterpretation des eigenen Lebens und einen extremen letzten Entschluss. Auch hier garantiert uns nichts ein Ergebnis. Die Möglichkeit, sich für oder gegen Gott zu entscheiden, ist auch diesmal vollkommen offen. Wenn die Möglichkeit real ist und auch nicht am Ende eliminiert wird, da sie Ausdruck der menschlichen Individualität und seiner gesamten Geschichte ist, dann muss sie auch eine Rolle im Letzten Gericht spielen. Und Gott muss seinerseits das, was von seiner Kreatur auch in extremis beschlossen wurde, anerkennen. Weder aus Schwäche noch aus Strenge, sondern weil er die Freiheit seiner Kreatur ehren wollte, deren Handlungen eine ewige Endgültigkeit hätten. Man versteht also nur so die offene Frage Christi, die auch Cacciari wichtig war: »Wird der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde noch Glauben finden?« (Lk 18,8).
696
Ebd., 307 f.
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Gianluca De Candia
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Der Anfang als Freiheit
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