Die Gnadenlehre als "salto mortale" der Vernunft?: Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant 9783495998489, 9783495485248


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German Pages [371] Year 2012

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Vorwort
Einführung: ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ im Spannungsfeld von Augustinus und Kant
Augustins ›De libero arbitrio‹ und die Selbstrezeption in Augustins Spätwerk
Zur Frage nach dem allgemeinen Heilswillen Gottes im Denken Augustins. Eine Untersuchung zu ausgewählten Kapiteln von ›De civitate Dei‹
Natur, Freiheit und Gnade im Disput zwischen Augustinus und Julian von Aeclanum
Zwischen Heilsuniversalität und Prädestination. Ein Versuch zur Kontroverse Augustins mit den ›Semipelagianern‹
Anselms ›De libertate arbitrii‹. Betrachtet vor dem Hintergrund von Augustins ›De libero arbitrio‹ und ›Contra Iulianum opus imperfectum‹
›Si ratio recta, et voluntas recta‹. Augustinus und die Pariser Verurteilung von 1277
Der Streit Luthers mit Erasmus über die Willensfreiheit
Endliche Freiheit. Luthers und Kants Freiheitsverständnis im Kontext von Augustins Schrift ›De libero arbitrio‹
›Natura pura‹ im Übergang von Francisco Suarez zu Cornelis Jansen
Natur und Freiheit bei Augustinus und Kant
Das Sollen und das Böse als Themen der Philosophie Kants
Der formale Grund des Bösen bei Immanuel Kant
›Glaubenslehren sind Gnadenbezeigungen‹. Ansätze zur Gnadenlehre in der Philosophie Immanuel Kants
Natur, Freiheit und Gnade bei Jacques Derrida
Siglenverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Autorenverzeichnis
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Die Gnadenlehre als "salto mortale" der Vernunft?: Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant
 9783495998489, 9783495485248

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Norbert Fischer (Hg.)

Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495998489

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Norbert Fischer (Hg.) Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft?

ALBER PHILOSOPHIE

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Augustinus und Kant haben auf je eigene Weise die »Dialektik von Freiheit und Gnade« gedacht. Während Augustins Gnadenlehre, einseitig ausgelegt, eine »Logik des Schreckens« (nach Kurt Flasch) enthält, bezeichnet Kant eine Lehre von Glaube und Gnade, nach der die »moralische Beschaffenheit des Menschen« nur vom »unbedingten Ratschluß Gottes« abhängt, als den »salto mortale der menschlichen Vernunft«. Im Spannungsfeld dieser beiden Denker werden philosophische und theologische Grundfragen sowie Antwortversuche von Anselm bis Derrida erörtert.

Der Herausgeber: Norbert Fischer, geb. 1947, Studium der Philosophie, Theologie und Germanistik in Mainz und Freiburg/Breisgau. Promotion (1978) und Habilitation (1985) im Fach Philosophie in Mainz; Professuren für Philosophie in Mainz (1986–1989) und Trier (1989–1991), erster Lehrstuhl für Philosophie in Paderborn (1991–1995), seit 1995/96 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Neuste Veröffentlichungen: Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema. Hg. zusammen mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Hamburg: Meiner 2007. Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹. Hamburg: Meiner 2010. Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. Hg. mit Maximilian Forschner. Freiburg u. a.: Herder 2010. Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. Hg. mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Hamburg: Meiner 2011.

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Norbert Fischer (Hg.)

Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: KN Digital Printforce GmbH, Erfurt Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48524-8

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Norbert Fischer

Einführung: ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ im Spannungsfeld von Augustinus und Kant . . . . . . . . . .

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Johannes Brachtendorf

Augustins ›De libero arbitrio‹ und die Selbstrezeption in Augustins Spätwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Theresia Maier

Zur Frage nach dem allgemeinen Heilswillen Gottes im Denken Augustins. Eine Untersuchung zu ausgewählten Kapiteln von ›De civitate Dei‹ . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Lenka Karfíková

Natur, Freiheit und Gnade im Disput zwischen Augustinus und Julian von Aeclanum . . . . . . . . . . . . .

90

Guntram Förster

Zwischen Heilsuniversalität und Prädestination. Ein Versuch zur Kontroverse Augustins mit den ›Semipelagianern‹ . . . . 108 Frederick Van Fleteren

Anselms ›De libertate arbitrii‹. Betrachtet vor dem Hintergrund von Augustins ›De libero arbitrio‹ und ›Contra Iulianum opus imperfectum‹ . . . . . . . . . . . . . 131

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Inhalt

Erich Naab

›Si ratio recta, et voluntas recta‹. Augustinus und die Pariser Verurteilung von 1277 . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Mathias Eichhorn

Der Streit Luthers mit Erasmus über die Willensfreiheit . . . 167 Christian Danz

Endliche Freiheit. Luthers und Kants Freiheitsverständnis im Kontext von Augustins Schrift ›De libero arbitrio‹ . . . . 191 Giovanna D’Aniello

›Natura pura‹ im Übergang von Francisco Suarez zu Cornelis Jansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Horst Seidl

Natur und Freiheit bei Augustinus und Kant . . . . . . . . . 233 Jakub Sirovátka

Das Sollen und das Böse als Themen der Philosophie Kants . 248 Maximilian Forschner

Der formale Grund des Bösen bei Immanuel Kant . . . . . . 268 Norbert Fischer

›Glaubenslehren sind Gnadenbezeigungen‹. Ansätze zur Gnadenlehre in der Philosophie Immanuel Kants . . . . . . . 285 Florian Bruckmann

Natur, Freiheit und Gnade bei Jacques Derrida . . . . . . . . 311 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Quellen- und Literaturverzeichnis Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . 334

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 6

ALBER PHILOSOPHIE

Norbert Fischer (Hg.)

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Vorwort

RGV B 177f. = AA 6,120f.: »Würde aber sogar dieser [Kirchen]Glaube selbst so vorgestellt, als ob er eine so besondere Kraft und einen solchen mystischen (oder magischen) Einfluß habe, daß […] er […] den ganzen Menschen von Grunde aus zu bessern […] im Stande sei: so müßte dieser Glaube selbst als unmittelbar vom Himmel […] ertheilt und eingegeben angesehen werden, wo denn alles selbst mit der moralischen Beschaffenheit des Menschen zuletzt auf einen unbedingten Rathschluß Gottes hinausläuft: ›Er erbarmet sich, welches er will, und verstocket, welchen er will,‹ welches, nach dem Buchstaben genommen, der salto mortale der menschlichen Vernunft ist.«

Kant distanziert sich hier klar von Auslegungen des Kirchenglaubens und einer Gnadenlehre, die unser Leben mit seinem Glanz und Elend, in seiner Lebendigkeit und Tödlichkeit, mit seinen Freuden und Leiden lediglich auf das Tun Gottes zurückführen, und bekämpft sie scharf als den ›salto mortale der menschlichen Vernunft‹. Die Zwiespältigkeit, die uns beim Anblick unseres faktischen Lebens entgegentritt, hat Augustinus dazu geführt, unser Leben todhaft zu nennen (›vita mortalis‹) und vom Leben als lebendigem Tod zu sprechen (›mors vitalis‹ ; conf. 1,7), oft vom Schmerz und von der Mühsal unseres Lebens (›dolor et labor‹ ; z. B. conf. 10,39): er hatte dabei offenbar Lebenswirklichkeiten im Auge, um die es später auch Kant gegangen ist. Auf seinem eigenen Denkweg, der mit der Abwendung vom Manichäismus und deren Verteidigung begonnen hatte, bejahte er die Freiheit der Entscheidung zunächst so weitgehend, daß er unseren Willen für fähig hielt, das höchste in der Welt mögliche Gute, den guten Willen (›bona voluntas‹), allein durch sich hervorzubringen (lib. arb. 1,26: »sola […] voluntas per se ipsam«). Die neuen Aufgaben und Tätigkeiten als Bischof und Prediger (die mit intensiverer Exegese der Schrift verbunden waren), trieben Augustinus an, Gottes Gnade höheren Rang zuzusprechen. Mehrere der hier vorgelegten Beiträge machen indessen deutlich, daß A

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Vorwort

seine ›neue Gnadenlehre‹ nicht mit der Bestreitung der Freiheit der Willensentscheidung verbunden war. Vielleicht hätte er sogar Verständnis für folgendes Wort Kants gehabt und ihm zugestimmt (SF A 55 = AA 7,41): »So ist es mit St. Paulus’ Lehre von der Gnadenwahl gegangen, aus welcher aufs deutlichste erhellt, daß seine Privatmeinung [scil. die Meinung des Apostels Paulus] die Prädestination im strengsten Sinne des Worts gewesen sein muß, welche darum auch von einer großen protestantischen Kirche in ihren Glauben aufgenommen worden, in der Folge aber von einem großen Theil derselben wieder verlassen, oder, so gut wie man konnte, anders gedeutet worden ist, weil die Vernunft sie mit der Lehre von der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen und so mit der ganzen Moral unvereinbar findet.« Die Auslegung der Natur des Menschen, der Freiheit des Willens und unseres Angewiesenseins auf die göttliche Gnade, die schon im Werk Augustins auftreten, waren ein hart umkämpftes und zentrales Thema bis hin zu Kant – und darüber hinaus bis in die Gegenwart (vgl. auch hSA). Der Streit um Natur, Freiheit und Gnade hat inzwischen zur Forderung einer ›Entlutherisierung‹ der Paulus-Exegese geführt; vielleicht ist aber nicht nur die Paulus-Exegese, sondern schon der Blick auf Luther korrekturbedürftig: seine Stärke mag gewesen sein, im Geist des Evangeliums zur Umkehr zu rufen, nicht aber, widerstreitende Motive systematisch kohärent zu reflektieren. Luther erwähnt Augustins De libero arbitrio nicht, hat aber eine heftige Diatribe gegen Erasmus von Rotterdam mit dem Titel De servo arbitrio geschrieben, in der er Augustinus zwar für sich reklamiert, teils aber Thesen bestreitet, die Augustinus explizit vertreten hatte. Überdies mag unklar sein, ob Luther sein polemisch gegen Erasmus und dessen De libero arbitrio gerichtetes Werk in Kenntnis auch nur des Titels von Augustins De libero arbitrio geschrieben hat. Noch immer gibt es ›Theologen‹, die dem mit Vernunft begehbaren Zugang zur christlichen Theologie einen Bärendienst tun, indem sie (unter Berufung auf Augustinus) einen monokausalen Monotheismus propagieren, der für endliche Freiheit und Verantwortung keinen Platz läßt. Wie auch Beiträge dieses Bandes zeigen, ist die einseitige Berufung auf Augustinus als Lehrer der Gnade, die seine Freiheitslehre 8

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Norbert Fischer (Hg.)

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Vorwort

ignoriert oder an den Rand drängt, problembeladen und weder textlich zu rechtfertigen noch denkerisch aus den Intentionen Augustins zu begründen. Gleichwohl erklärt Volker Henning Drecoll (UG 39): »Wenn die Erlösung nicht allein von Gott abhängig ist, dann erscheint, zu Ende gedacht, neben Gott ein zweites Prinzip – selbst wenn man noch so sehr versucht, dieses Zweitprinzip irgendwie Gott unterzuordnen. Gott ist dann nicht das eine Prinzip, von dem alles abhängt. Das stellt letztlich den Monotheismus in Frage.« Demgegenüber darf Gott gerade nicht als ›das eine Prinzip‹ gedacht werden, vom dem alles abhängt, weil es seiner nicht würdig wäre, ein ›kosmisches Marionettentheater‹ zu schaffen, in dem er sich selbst seine Allmacht in den Freuden und Leiden der Geschöpfe beweisen wollte. Thema des Buches ist also auch der Sinn des Schöpfungswillens Gottes, der nach Augustinus aus Liebe will, daß andere (freie) Wesen neben ihm, dem Allmächtigen, seien (vgl. DASC 91f.: »amo: volo, ut sis«), Thema ist damit weiterhin der allgemeine Heilswille Gottes und zugleich die Heilsbedeutung der ›Philosophie als des vernünftigen Strebens nach Weisheit‹ (vera rel. 8). Augustinus sucht den Gott der schöpferischen Liebe, der Anderen eigenes Selbstsein verleiht, in einer Liebe, die keine Sklaven will, deren Freuden, Mühen, Taten, Untaten und Leiden nur von Gott abhingen. Sein trinitarischer Monotheismus hat nichts mit Substanzmonismus zu tun. Kant wollte »das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX), gewiß weil er das Ziel hatte, dem »Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben« die Wurzel abzuschneiden, aber auch »der Schwärmerei und Aberglauben« (KrV B XXXIV). Zunächst kämpfte er gegen »die freche und das Feld der Vernunft verengende Behauptungen des Materialismus, Naturalismus und Fatalismus« (Prol A 186 = AA 4,363), in der Folge aber auch gegen Auslegungen des Glaubens, die er als ›salto mortale der menschlichen Vernunft‹ begriff. Dies tat er im Namen der Vernunft, im Sinne eines auch von der Vernunft geleiteten Glaubens. Wer die ›Prädestination‹ in dem von Kant getadelten Sinne vertritt, könnte genötigt sein, dem Lied des Harfners in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zuzustimmen. Es lautet (HA 7,136):

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Vorwort

Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte! Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein: Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Diese Verse entspringen einer gnadenlosen Auffassung vom Wirken göttlicher Kräfte, die mit Recht als ›salto mortale‹ der Vernunft oder als ›Logik des Schreckens‹ bezeichnet worden ist. Das Tun des Allmächtigen weist nur insofern auf Gnade, als es Dank und Verehrung hervorruft. Solche Verehrung ruft zunächst die ›Natur‹ hervor, die uns als ›gutes‹ Werk Gottes begegnet. Das ist im biblischen Schöpfungsbericht als Wort Gottes zu allem von ihm Geschaffenen zu lesen – und auch Augustinus sagt es überdeutlich (lib. arb. 3,36): »omnis ergo natura bona est.« Zwar wird Gott selbst als ›unendlich gut‹ gedacht, aber auch das geschaffene Endliche wird als Werk Gottes und folglich als ›gut‹ anerkannt, allerdings in dreifach gestufter Weise, die notwendig – wie Augustinus alsbald sieht – auch die Möglichkeit zu Bösem und zu Schlechtem in sich enthält. Die Schwierigkeit, daß die Ethik, in der es um unser verantwortliches Gutwerden geht, in Spannung zum vorgängigen Gutsein des Geschöpfes steht, löst Augustinus durch den Gedanken des ›medium bonum‹, das zur gottgewollten Vollkommenheit der Welt nötig ist (vgl. bonum, 675–677). Um das Gutsein der Schöpfung in den Augen Gottes denken zu können, unterscheidet Augustinus zwischen niederem Guten (den ›minima bona‹, z. B. lib. arb. 2,49f.), das den Grund seines Gutseins nicht in sich selbst hat, und mittlerem Guten (den ›media bona‹): Das ›medium bonum‹ des freien Willens des Menschen (›libera voluntas‹ ; z. B. lib. arb. 2,5) birgt in sich die Möglichkeit des bösen Willens (›mala voluntas‹), aber auch des guten Willens (›bona voluntas‹), den der Wille wie erwähnt (lib. arb. 1,26) nur allein durch sich selbst hervorbringen kann (sonst wäre er nur ein niederes Gutes). Wer guten Willen hat, den jeder Einzelne nur durch sich selbst haben kann, soll an ihm festhalten, zumal es über ihn hinaus vorerst nichts Höheres gibt (lib. arb. 1,27): »quisquis ergo habens bonam voluntatem […] hanc unam dilectione amplexetur qua interim melius nihil habet«. Der gute Wille, der ›Freiheit‹ von Handelnden 10

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Vorwort

voraussetzt, ist insofern schon nach Augustinus das höchste Gut in der Welt mögliche Gut, ohne das die Güte der Schöpfung insgesamt gar nicht gedacht werden kann (bonum 678). Ein Gegengift gegen Goethes den Gottesglauben vernichtende Deutung der ›himmlischen Mächte‹ bietet auch nach Kant nur die Annahme der Freiheit. Kant sagt (RGV B 48 = AA 6,44): »Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben.« Offenbar vereindeutigen einige Interpreten manche polemischen und problematischen Aussagen Augustins in einer Weise, die Widerspruch nicht nur plausibel macht, sondern ihn hervorruft. Ein Gott, der im Gericht nur über das richtete, was er als absolut Allmächtiger selbst angerichtet hat (vgl. SwL VIII), kann endliche Vernunftwesen weder zum Dank noch zur Verehrung locken. Augustinus selbst äußert sich vorsichtig, spannungsvoll und uneinheitlich, wie es der disparaten Situation der Menschen in der Welt entspricht, die ihnen Schmerz auferlegt und Mühe abfordert. Im Blick auf Simplicians Fragen nennt er die Meinung (auch künftiger Leser), Paulus hebe die Freiheit der Willensentscheidung auf, als Meinung von solchen, denen die richtige Einsicht fehlt (Simpl. 1,1,11): »his verbis videtur non recte intellegentibus velut auferre liberum arbitrium.« Mit dieser Mahnung ›entlutherisiert‹ Augustinus kurzerhand – gleichsam in einem Vorgriff – schon die Paulus-Exegese. Und später betont er in seiner Beantwortung der Fragen Simplicians den unverzichtbaren Rang der freien Willensentscheidung (Simpl. 1,2,21): »liberum voluntatis arbitrium plurimum valet.« Kurt Flaschs Diagnose unter dem Titel einer Logik des Schreckens trifft also nicht Augustinus, sondern Deutungen, die den von Augustinus selbst genannten Maßgaben nicht gerecht werden. Noch in seinen späten Schriften tritt die Notwendigkeit der Annahme des freien Willens hervor, wie mehrere Beiträge zeigen. Allerdings wird auch deutlich, wie sehr Augustinus sich in der Frage einer ›Dialektik von Freiheit und Gnade‹ selbst (und seine Gesprächspartner) gequält hat. Jedenfalls hat er noch in späteren Schriften auch Versuche unternommen, die problembeladene ›Prädestinationslehre‹ (die in der folgenden Deutungsgeschichte umstritten und Modifikationen ausgesetzt war) grundsätzlich zu relativieren, einerseits zum Beispiel, um die von Cicero in der Art des modernen ›postulatorischen Atheismus‹ A

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Vorwort

vorgebrachten Argumente zurückweisen zu können (vgl. civ. 5,9f.), andererseits, um in einer ›heilsuniversalistischen Stellungnahme‹ die sechs Fragen von Heiden einleuchtend beantworten zu können (vgl. ep. 102,8–15). Das vorliegende Buch schließt an einige Publikationen an, die der Herausgeber im Vorfeld betrieben hat. Genannt sei hier erstens: Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Band I: Von den Anfängen bis zur Reformation. Band II: Von Descartes bis in die Gegenwart (Hamburg: Meiner 2009). Sodann sei erwähnt: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ (Hamburg: Meiner 2010). Das hier vorliegende Buch enthält wichtige Beispiele von Gedanken zum Thema, die im Spannungsfeld der Diskussionen entfaltet worden sind, die sich im Anschluß an Augustinus schon zu dessen Lebzeiten entwickelt haben und die über eine lange Geschichte bis zu Kant reichen, wobei diese Autoren nicht von vornherein als Antipoden aufzufassen sind. Ob Augustinus mit Recht einseitig und ausschließlich als ›doctor gratiae‹ vorgestellt werden darf und Kant einseitig nur als ›Philosoph der Freiheit‹ zu verstehen ist, ist wenigstens eine Frage, die auch kontrovers beantwortet werden kann und die demgemäß im vorliegenden Buch gelegentlich kontrovers diskutiert wird. Zitate der beiden Autoren, die im Titel als Pole des Spannungsfelds genannt sind, das hier vor Augen geführt werden soll, werden nach einheitlichen Regeln nachgewiesen: Augustinus nach den Regeln des Augustinus-Lexikons (AL) und des Corpus Augustinianum Gissense (CAG); bei Kant werden die drei Kritiken nur nach der Paginierung der Originalausgaben belegt, andere Werke werden nach den Originalausgaben und zusätzlich der Akademie-Ausgabe zitiert, deren Orthographie in allen Zitaten übernommen wird. Siglen der Werke Augustins entsprechen dem AL und dem CAG; für Kant gilt das Verzeichnis in Kants Metaphysik und Religionsphilosophie (KMR), das der Herausgeber seinerzeit mit der Redaktion der Kant-Studien vereinbart hat. Kleinere Besonderheiten der Zitierweise im Usus der Beiträger sind, wenn sie kompatibel waren und nicht weiter erklärungsbedürftig schienen, unverändert geblieben. Die Grundlage des vorliegenden Buches war ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Symposion, das der Her12

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Vorwort

ausgeber initiiert, geleitet und gemeinsam mit den eingeladenen Referenten vom 24.–26. Juni 2010 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt durchgeführt hat. Für die nötige Hilfe ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft, aber auch der Eichstätter Universitätsgesellschaft zu danken. Herzlich dankt der Herausgeber der Diözese Eichstätt, vertreten durch den ltd. Finanz- und Baudirektor, Herrn Domdekan Willibald Harrer, für eine Druckbeihilfe. Wiederum hat er den Mitarbeitern des Eichstätter Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie zu danken, insbesondere dem Assistenten, Dr. Jakub Sirovátka, und der Sekretärin, Anita Wittmann, die auch das bei diesem Buch besonders nützliche Namenregister erstellt hat. Weiterhin dankt er den wissenschaftlichen Hilfskräften, die an den Korrekturarbeiten beteiligt waren, nämlich Maximilian Brandt, Sr. Hanna-Maria Ehlers OCist, Maria Muther, Florian Sassik und Elisabeth Wittmann, die zusätzlich den ›Anhang‹ erarbeitet hat. Ebenso gilt der Dank Herrn Lukas Trabert, der die Vorträge des Symposions persönlich verfolgt und das aus ihm erwachsene Buch in das Programm des Verlags Karl Alber aufgenommen hat. Der Beitrag von Horst Seidl versteht sich aus der seinerzeit wirksamen Kooperation zwischen dem Eichstätter Lehrstuhl und der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom, die sich der Offenheit ihres damaligen Rektors, Erzbischof Rino Fisichella, verdankt. Weil der Herausgeber es im Rückblick für ein Desiderat gehalten hat, die Debatte zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam um den ›freien Willen‹ eigens zu berücksichtigen, bat er Mathias Eichhorn nachträglich um einen Beitrag zu diesem Thema. Allen Beteiligten sei für ihre Mitarbeit herzlich gedankt. Eichstätt / Wiesbaden, 13. November 2011

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Einführung: ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ im Spannungsfeld von Augustinus und Kant Norbert Fischer (Eichstätt)

1.

Zum Horizont der Fragen nach ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹

Thema des Buches sind mit ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ Kräfte, die dem Leben, auch dem alltäglichen, aus unterschiedlichen Quellen Gestalt und Richtung geben, die philosophischer und theologischer Reflexion bedürfen und sich mit Gedanken Augustins und Kants erhellen lassen. Es handelt zudem von der Wirkungsgeschichte, in der das Denken dieser Autoren zugespitzt, teils aber auch verunstaltet wurde. 1 Bei der Wirkungsgeschichte Augustins ist zu bedenken, daß die beiden Pole seiner Besinnung in den Confessiones – das faktische Leben und dessen Beziehung zu Gott – alsbald kaum mehr beachtet wurden, daß vielmehr die ›doktrinalen‹ Schriften ins Zentrum des Interesses gelangten und der Lebensbezug seines Denkens vernachlässigt wurde. 2 Im Blick auf die Wirkungsgeschichte Kants ist zu beachten, daß seine Hinweise zur unübersehbaren Wirkungsgeschichte Augustins finden sich bei Norbert Fischer (Hg.): Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Band I: Von den Anfängen bis zur Reformation. Band II: Von Descartes bis in die Gegenwart (= ASS I und II). Zu Kants ebenso komplizierter Wirkungsgeschichte und deren kritischer Diskussion vgl. Norbert Fischer (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie; Ders.: Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte; Ders.: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ ; Ders.: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. 2 Einen von der Augustinus-Forschung vernachlässigten Neuansatz bietet z. B. Martin Heidegger in der frühen Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus (Sommersemester 1921), die jedoch erst 1995 in GA 60 (Phänomenologie des religiösen Lebens) veröffentlicht und zugänglich wurde. Wo immer der heutigen Augustinus-Forschung diese Blindheit anzulasten ist, verkennt sie den denkerischen Zug im Werk Augustins, wie er in der Neuzeit öfters aufgegriffen wurde (vgl. ASS II), und behindert ein echtes, sachgemäßes Verständnis von Augustins Gedanken. Lebensvolle (aber umstrittene) Augustinus-Rezeptionen boten jedoch schon Meister Eckhart und Blaise Pascal. 1

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Philosophie – nach dem verheißungsvollen Beginn, in dem deren Intentionen positiv aufgegriffen worden waren – gegen seine erklärten Hoffnungen als Destruktion der Metaphysik bekämpft oder gar begrüßt wurde. 3 Besonders zu erwähnen ist die thematische Nähe beider Autoren, die beide die Fragen nach Gott und der Seele, also den Lebensvollzug der menschlichen Person, sofern dieser Vollzug unvermeidlich auf die Beziehung zu Gott verweist, ins Zentrum ihrer Bemühungen gestellt haben. Augustinus bezeichnet diese beiden Fragen schon in den Soliloquia als die einzigen, über die er Klarheit zu erlangen wünsche (sol. 1,7): »deum et animam scire cupio. – nihilne plus? – nihil omnino.« Nach den frühen ›Selbstgesprächen‹ versucht er, diese beiden Fragen im betenden Reden ›hin zu Gott‹ zu klären, wie er es in den Confessiones durchführt. Gottes Antwort findet er dabei in den ›Heiligen Schriften‹, aber auch im faktischen Verlauf seines Lebens. Indem Kant die Wirklichkeit Gottes und das Bevorstehen einer künftigen Welt als die ›Cardinalsätze‹ der menschlichen Vernunft anführt 4 und diese Sätze als ›Postulate der reinen praktischen Vernunft‹ ausarbeitet (KpV A 219–237), scheint er gleichsam an die zwei Fragen Augustins anzuknüpfen. Kant vergegenwärtigt die von Augustinus bevorzugten Quellen für Antworten auf die genannten Fragen zwar nicht in einem vergleichbaren Maß, vernachlässigt sie aber auch nicht vollständig. Daß er auf die biblische Botschaft Bezug nimmt, ist bekannt und leicht zu belegen; aber auch das faktische Leben (wenngleich nicht explizit das eigene) spielt bei Kant eine Rolle, wenigstens in Form der VergegenKants Kampf gegen den ›Dogmatismus‹ der Metaphysik, mit dem er zum Glauben Platz bekommen wollte (KrV B XXX), wurde weithin als Befreiung erlebt und auch von kirchlicher Seite anerkannt. Auf evangelischer Seite z. B. Johann Friedrich Christoph Gräffe (1795): Vollständiges Lehrbuch der allgemeinen Katechetik nach Kantischen Grundsätzen zum Gebrauche akademischer Vorlesungen; auf katholischer Seite vgl. Sebastian Mutschelle (1792): Christkatholischer Unterricht. Wie man gut, und selig werden könne. Es gab Vereinnahmungen, restaurative Abwehr und skurrile Zurückweisungen (vgl. dazu insgesamt KuK). Ludwig Feuerbach meinte zunächst, sich auf Kant berufen zu können, und wollte Das Wesen des Christentums unter dem Titel Kritik der unreinen Vernunft publizieren (vgl. WC V). Erst mit dem 20. Jahrhundert rückte Kant als ›Metaphysiker‹ in den Fokus, vgl. z. B. Max Wundt (1924): Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Der metaphysische Charakter der Philosophie Kants wird bis heute vernachlässigt und ist immer noch umstritten. 4 Vgl. dazu in Varianten z. B. KrV B 769, 827. Weiterhin Reflexion 5678; AA 18,325. 3

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Einführung: ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹

wärtigung moralisch relevanter Situationen, die Kant gewiß auf sein eigenes Leben bezieht und die er die Leser auf ihr eigenes Leben zu beziehen anleitet. 5 Ein Ausgangspunkt für das vorliegende Buch war die Annahme, die Botschaft Jesu betreffe implizit das Sein, den Sinn und das Heil des Lebens aller Menschen von Anbeginn der Zeiten. Das Buch zielt also auf allgemeine Fragen, wie sie in der Philosophie erörtert werden, knüpft aber auch an die biblische Verkündigung an, die sich in engen geschichtlichen Grenzen ereignet hat und doch in den Lehren von ›Schöpfung‹ und ›Erlösung‹ mit universalem Anspruch für alle Menschen einhergeht – was Theologen zum Bedenken des allgemeinverständlichen Sinns der Botschaft zwingt, Philosophen aber zum Bedenken der faktischen Geschichtlichkeit des Lebens. Theologen könnten angeregt sein, die Botschaft trotz ihrer geschichtlichen Bedingtheit auf die Allmacht, auf die universale Wirksamkeit und den allgemeinen Heilswillen Gottes zu beziehen. Philosophierende könnten die Geschichtlichkeit aller Suche und allen Lebensvollzugs bemerken und sehen, daß sich unser Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe nie abstrakt vollzieht, sondern in einer konkreten Geschichte, die das Streben ermöglicht und von der es lebt. Sofern die christliche Botschaft Sein und Leben aller Menschen auf den einen Schöpfer bezieht, von dem geglaubt wird, daß er die Menschen und ihre Welt wollte, erlangt sie, obwohl sie im Kontext des jüdischen Lebens und Glaubens verkündet wurde, Nähe zu philosophischen Fragen. Als wesentliches Moment der Predigt Jesu kann nämlich gesehen werden, daß sie sich in ihrer historischen Kontingenz zwar faktisch an ein besonderes, zufälliges Publikum oder sogar an ein ›auserwähltes Volk‹ richtet, überdies aber prinzipiell alle Menschen aller Zeiten im Auge hat, die jeweils als unmittelbar auf Gott bezogene ›Personen‹ verstanden werden, unabhängig von der Frage nach ihrem geschichtlichen Ort, unabhängig von ihrem theoretischen oder prakti-

Vgl. die Skizze moralisch relevanter Lebenssituationen in KpV A 54; anschließend nimmt Kant auf das je eigene Leben des Autors und seiner Leser Bezug, die durch Situationen zu Entscheidungen genötigt werden (ebd.): »Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen.« Jedenfalls führt Kants praktische Philosophie zu Imperativen, in freier Entscheidung Maximen für das je eigene faktische Leben zu übernehmen, die als streng verpflichtend erkannt worden sind.

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schen Leistungsvermögen, ganz ohne Rücksicht auf ihre äußere Stellung und ihre Macht. 6 Augustins große Bedeutung für die christliche Theologie wird durch einander widerstreitende Auslegungen kontrovers. Wer meint, »die Willensentscheidung, die dem Glauben und gerechtem Handeln zugrundeliegt«, basiere für Augustinus »selbst auf Erwählung […], so daß eine ›prinzipielle‹ Unabhängigkeit nicht gegeben ist«, mag sich auf die Maßlosigkeit pelagianischer und antipelagianischer Polemiken berufen, verfehlt aber Augustins Intentionen grundsätzlich. 7 Schon die Freiheit des Fragens (›prima libertas quaerendi‹) gehört konstitutiv zum Sein des Menschen (lib. arb. 1,4; vgl. conf. 10,10), ohne die er kein ›cor inquietum‹ ist (conf. 1,1; 10,10). Gerechtes Tun erfolgt nicht allein aus Glauben, Glauben folgt nicht allein aus Gnadengaben. Sonst wäre die Arbeit, die Augustinus auf sich nimmt, an sich sinnwidrig (conf. 10,25): »laboro hic et laboro in me ipso: factus sum mihi terra difficultatis et sudoris nimii«. Böses und Gutes sind Taten, die auf freier Willensentscheidung gründen (div. qu. 24): »est igitur et peccatum et recte factum in libero voluntatis arbitrio«. Augustins Manichäismuskritik setzt eine ›autonome Vernunftmoral‹ voraus; sie fordert ›Freiheit‹, in der Gott keine direkte Rolle bei der Gründung der Moralität spielt. 8 Deshalb bezeichnet Kant die Prädestinationslehre als den »salto mortale der menschlichen Vernunft« (RGV B 178 = AA 6,121). Er erklärt (Reflexion 6190; AA 18,484): »Die Lehre der Prädestination gründet sich entweder auf den Begrif der [Natur] Nothwendigkeit der Handlungen im Gegensatz der Freyheit, oder auf den Begrif der moralischen Unfähigkeit zum Guten, da es niemals aus uns selbst entspringen, sondern nur von Gott gewirkt werden kan. // Hier ist das Jesus bekämpft in der ›Bergpredigt‹ (Mt 5,3–12) den Dünkel verkrusteter (auch intellektueller und religiöser) ›Eliten‹, wie ihn folgender Satz zum Ausdruck bringt (vgl. Alois Brandstetter: Cant läßt grüßen,78): »Vielen christlichen Adeligen ist ein unchristlicher Adeliger immer noch näher und lieber als ein christlicher Bürgerlicher.« 7 Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, z. B. 249. Mit entgegengesetzter Absicht Kurt Flasch: Logik des Schreckens. Flasch verzeichnet zwar Augustins Denken, trifft aber Drecolls Augustinus-Deutung ins Mark; vgl. Norbert Fischer: Vorwort, Einleitung und Anmerkungen in: SwL, bes. LV-LIX; LXIV. 8 Gebotenes ist nicht gut, weil Gott es gebiete; sondern Gott gebiete es, weil es gut ist (lib. arb. 1,6): »non sane ideo malum est quia vetatur lege, sed ideo vetatur lege quia malum est.« Augustinus baut nicht auf Autorität, sondern auf das Urteil der ›auris interior‹, die frei auf Gottes Wahrheit hört; vgl. Norbert Fischer: bonum, 674–678, bes. 675 f. 6

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Vernünftige Wesen blos Maschine zu gottlichen Absichten. Die Verdammung ist keine Strafe und die Seeligkeit keine Belohnung fürs Wohlverhalten.« 9

Schon Augustinus hat die Freiheit wie Kant nicht im Widerstreit mit der Allmacht, sondern als Gabe Gottes gesehen, die Allmacht also nicht im Sinne der ›Prädestinationslehre‹ verstanden. Kants Verhältnis zum christlichen Glauben wurde bisher meistens aus verengten Blickwinkeln betrachtet, unter Betonung seiner Kritik der (dogmatischen) Metaphysik, nicht orientiert an den grundlegenden Intentionen, die auf eine kritische Metaphysik zielten und mit denen er auch »zum Glauben Platz« bekommen wollte (KrV B XXX). Seine Nähe zur Philosophie Platons wurde zwar zunehmend anerkannt; aber seine unbestreitbare, teilweise auch kritische Nähe zum christlichen Glauben wird in Philosophie und Theologie noch nicht angemessen gewürdigt, obwohl seine Auslegung des Verhältnisses von reiner philosophischer Religionslehre und geschichtlicher Offenbarungsreligion mit Augustins grundlegender These zur Beziehung von Philosophie und Religion in De vera religione korrespondiert, wie noch zu zeigen sein wird. Augustinus spricht in dieser frühen Schrift ein oft verkürzt zitiertes Wort aus, das für ihn vom Beginn seines Denkwegs bis zu dessen Ende Geltung behalten hat, auch wenn er es später in modifizierter Form aufgegriffen hat, weil intensivere Lektüre ihn zu tieferem Eindringen in den Sinn der biblischen Botschaft geführt hatte. Schon früh war ihm klar, daß er – um zur Wahrheit zu gelangen, die auf den Weg Kant fährt fort: »Schwärmerischer Begrif der Auserwählten. Blos passiv in ansehung der Gottlichen rathschlüsse zu seyn, so wohl äußerlich in Ansehung tod und leben, als innerlich in der Besserung seiner Selbst. Scheu, das Gute sich selbst zuzuschreiben. falsche Demuth.« Vgl. Norbert Fischer: Müssen Katholiken weiterhin Furcht vor Kant haben? Kants Philosophie als ›ancilla theologiae‹, 31 f.: »St. Paulus’ Lehre von den Gnadenwahl«, die er als dessen »Privatmeinung« deklassiert, sei zwar »von einer großen protestantischen Kirche in ihren Glauben aufgenommen […], aber am Ende wieder verlassen worden […], weil die Vernunft sie mit der Lehre von der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen und so mit der ganzen Moral unvereinbar findet« (SF A 55 = AA 7,41). Martin Luther behauptet zwar (De servo arbitrio; WA 18,640): »Augustinus […] totus meus est«; Augustins Zurückweisung der Thesen Ciceros (civ. 5,9 f.), die man als ›postulatorischen Atheismus‹ deuten kann, lehnt er jedoch dem Inhalt nach ab (WA 18,718 = LDStA 484). Luthers Auslegung der ›absoluten Allmacht Gottes‹ in DSA weckt kritische Anfragen an die Theologie (Luthers). Zum ›postulatorischen Atheismus‹ vgl. Norbert Fischer: Epigenesis des Sinnes. Nicolai Hartmanns Destruktion einer allgemeinen Weltteleologie und das Problem einer philosophischen Theologie.

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wahren Lebens weist – sich nicht darauf beschränken durfte, nur in sich zu suchen, weil er die gesuchte Wahrheit Gottes tiefer in seinem Inneren wußte, als sein eigenes, ihm gegebenes (von Gott geschenktes) Selbst, weil er sie zudem für höher als sein eigenes Höchstes hielt (conf. 3,11): »tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo.« In Anknüpfung, aber auch in Absetzung von Plotin, 10 hatte er in De vera religione alle, die sich anschicken, ›die Wahrheit‹ zu suchen, zwar auf den ›Weg nach innen‹ gewiesen, wegen der Veränderlichkeit des Inneren aber in der Annahme, daß ›die‹ Wahrheit dort nicht im gesuchten Sinn zu finden sein werde, daß also auch das Innere überstiegen werden müsse (vera rel. 72): »noli foras ire, in te ipsum redi. in interiore homine habitat veritas. et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum.« 11 Um Suchenden nicht ein Sichselbstübersteigen in eine höhere Wahrheit, das Selbstvergottung bedeutete, zumuten zu müssen, unterscheidet er zunächst zwischen denkender Seele (›anima ratiocinans‹) und dem faktischen Ich, das überschritten wird. Schon in De vera religione sieht er also, daß er die Wahrheit zwar auf dem Weg des Rückgangs zu sich selbst sucht, sie aber nicht dort finden kann, sondern erst in einem Höheren, von dem das Licht der Vernunft entzündet wird. Also legt er die Forderung, sich selbst zu übersteigen, als Imperativ für das Offensein gegenüber einem Geschehen aus, das sich von einer anderen Seite her schon ereignet hat, gegenüber dem er nur Empfänger sein kann (ebd.): »illuc ergo tende unde ipsum lumen rationis accenditur.« Der von Gott angeregte Weg, den Gott suchende Menschen beschreiten müssen, führt am Ende zur Notwendigkeit einer Inversion der Aktivität, in der sich die Suchenden für Vgl. Norbert Fischer: Sein und Sinn der Zeitlichkeit im philosophischen Denken Augustins, bes. 206 f. Indem Augustinus sich von Plotins henologischer Ontologie löst und zwischen göttlicher und weltlicher Wirklichkeit unterscheidet, zeigt sich die Würde des von der Zeitlichkeit bestimmten menschlichen Weltdaseins, das Plotin nur als die sich ins Nichts verlierende Ausstrahlung des Einen denken konnte (vgl. z. B. Enneade V 1 6,53 f.). 11 Verkürzt zitiert von Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, 39 (vgl.183): »Mit anderen Worten, der notwendige Weg zu einer im höchsten Sinne letztbegründeten Erkenntnis, oder, was einerlei ist, einer philosophischen, ist der einer universalen Selbsterkenntnis, zunächst einer monadischen und dann einer intermonadischen. Das delphische Wort: gnji seautn hat eine neue Bedeutung gewonnen. Positive Wissenschaft ist Wissenschaft in der Weltverlorenheit. Man muß erst die Welt durch Epoché verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen. Noli foras ire, sagt Augustinus, in interiore homine habitat veritas.« 10

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›die‹ Wahrheit öffnen, die in ihrem Inneren gerade nicht zu finden war. Augustins Weg der Gottsuche zeigt sich als Weg eines jeden Menschen in der natürlichen Welt, der zwar von der Freiheit der geschöpflichen Suche bestimmt ist, 12 aber für die Gnade offen bleibt, mit der Gott der Freiheit seiner Geschöpfe am Ende zu Hilfe kommen mag. 13 Klarer als in De vera religione stellt Augustinus im zehnten Buch der Confessiones am Ende der dort dargestellten Suche nach der Wahrheit Gottes, die in seinem Inneren begonnen hatte, sein Angewiesensein auf eine Inversion der Aktivität fest (conf. 10,37): »neque enim iam eras in memoria mea, priusquam te discerem.« Da er im Bedenken seines Wegs inzwischen überzeugt war, Gott gefunden zu haben, muß er fragen, wo er ihn gefunden hat, wobei er überzeugt ist und gesteht, daß er Gott nicht in sich, sondern nur über sich, also in Gott, hatte finden können (ebd.): »ubi ergo te inveni, ut discerem te, nisi in te supra me?« Von Anfang an hatte er gesehen, daß die Antwort nicht in ihm selbst zu finden war, da er etwas suchte, das seine Seinsmöglichkeit, die von Zeitlichkeit und Veränderlichkeit bestimmt ist, bei weitem übersteigt. Er hoffte darauf, zu empfangen, er hoffte auf eine Inversion der Aktivität, in der Gott sich ihm zuwendet. In der Gewißheit, dem wahren Gott am Ende der Suche in ›reinem Finden‹ begegnet zu sein, sieht er das Finden nicht als seine Leistung, sondern als Tat Gottes: Gott sei es gewesen, der gerufen, geschrieen und sein taubes Ohr geöffnet habe; Gott habe geblitzt und geleuchtet, die Nacht vertrieben und seine Blindheit geheilt; Gott habe Wohlgeruch verströmt; er aber habe den Duft eingesogen und lechze nun nach ihm; er habe gekostet und hungere und dürste nun nach Gott; Gott habe ihn berührt und er glühe nun vor Verlangen nach dem Frieden Gottes (conf. 10,38):

Diese Suche ist von ihrem Ansatz her etwas Anderes als der Wille Gottes, der die Welt ja ›nicht aus sich‹, sondern ›aus nichts‹ geschaffen hat; zur ›creatio de nihilo‹ vgl. schon lib. arb. 1,6. Diese Lehre bringt einerseits die nicht steigerbare Größe Gottes zum Ausdruck, andererseits das Selbstsein des Geschaffenen, das in Differenz und in der durch die Differenz ermöglichten Beziehung zu Gott existiert, weil Gott es aus Liebe wollte. 13 Vgl. schon lib. arb. 1,5: »ex quo fit ut de nihilo creaverit omnia, de se autem non crearit, sed genuerit quod sibi par esset, quem filium dei unicum dicimus; quem cum planius enuntiare conamur, dei virtutem et dei sapientiam nominamus, per quam fecit omnia quae de nihilo facta sunt.« Schon von hier stellt sich die Frage des Zusammenhangs von Schöpfungslehre und Christologie. Zur Explikation der ›Inversion der Aktivität‹, wie Augustinus sie in den Confessiones (vor allem im zehnten Buch) entfaltet vgl. Norbert Fischer: Einleitung (SwL), bes. XIX-XXX. 12

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»vocasti et clamasti et rupisti surditatem meam, coruscasti, splenduisti et fugasti caecitatem meam, fragrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi, gustavi et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam.«

Augustinus glaubt, Gott, den er zwar mit aller Kraft gesucht hatte, erst durch die Tat Gottes kennengelernt zu haben, und ist in dieser Lage bereit, weiter auf Gott zu hören – jedoch nicht ohne bleibenden Willen, das Gehörte auch zu verstehen (conf. 11,5): »audiam et intelligam«. Hier ist seine oben schon vorläufig erwähnte Stellungnahme zum Verhältnis von Philosophie und Theologie zu beachten, die weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Natur, Freiheit und Gnade hat und die eng mit Kants grundlegender Bestimmung der Beziehung von reiner philosophischer Religionslehre und geschichtlicher Offenbarungstheologie verwandt ist. Augustinus nennt als ›Hauptpunkt des menschlichen Heils den Glauben und die Lehre, daß Philosophie (die er als Streben nach Weisheit, nicht als deren Besitz bezeichnet) 14 und Religion nicht verschieden seien‹ (vera rel. 8): »sic enim creditur et docetur, quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem«. Die Behauptung der ›Nichtverschiedenheit‹ von Religion und Philosophie, die dennoch deren Differenz nicht übersieht (aber diese Differenz nur unklar zum Thema macht), hat Kant im Bild der ›konzentrischen Kreise‹ ausgedrückt, das mit Augustins genannter These kompatibel ist: 15 »Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere als eine engere in sich beschließt, (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als concentrische Kreise) betrachten können, innerhalb deren letzterem der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer (aus bloßen Principien a priori) halten, hiebei also von aller Erfahrung abstrahiren muß.«

Kants Verhältnis zum christlichen Glauben, der zunächst Menschen wenig gebildeter Schichten verkündet wurde und gleichsam ein ›FiZu Augustins Weg vgl. SwL: Einleitung. Philosophisches Suchen geht der Zeit nach (also für uns Zeitwesen) der ›Gnade‹ und dem ›offenbarten Glauben‹ voraus; vgl. auch Thomas von Aquin: S.th. I,2,2 ad 1; I,1,8 ad 2. 15 RGV B XXIIf. = AA 6,12; vgl. dazu Aloysius Winter: Kann man Kants Philosophie ›christlich‹ nennen?, 32; bes. 37–42 (mit dem Unterabschnitt: Die ›concentrischen Kreise‹). Winter weist 38 mit Recht auf SF A XIX = AA 7,9. 14

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scherglaube‹ war, 16 ist auch dadurch bestimmt, daß Kant keineswegs Verachtung für die ungebildete Menge hegt, die von den Griechen noch als clo@ diskreditiert worden war, 17 sondern dafür arbeitet, »daß die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch eben so leicht gelangen kann« (KrV B XXXIII). Noch schärfer erklärt er, entsprechend dem Geist der Predigt Jesu, in der Kritik der praktischen Vernunft (A 136): »Vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht. Ich kann hinzu setzen: Vor einem niedrigen, bürgerlich gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen.«

Bekanntlich wendet sich Gott, wie Jesus ihn verkündet hat, ja nicht denen in Gnade zu, die ihn frömmlerisch anbeten und ›Herr, Herr‹ sagen, sondern denen, ›die den Willen des Vaters tun‹. 18 Dazu ist zunächst die – allerdings auslegungsbedürftige – Annahme Kants in den Blick zu fassen, nach der die »Autonomie des Willens […] das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten« ist, »alle Heteronomie der Willkür […] dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit« gründet, »sondern […] vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen« ist (KpV A 58). Um Kants These auf das genannte Wort Jesu zu beziehen, wäre zu sagen: Wer den ›Willen des allmächtigen Vaters‹ aus Motiven der »Gunstbewerbung und Einschmeichelung« täte, um sich beim Allerhöchsten Vorteile zu verschaffen, verfehlt nach Kant den Willen Gottes und die »Religion des guten Lebenswandels« (KU B 109). Zu beachten ist überdies, daß Kant das unbedingt gebietende moralische Gesetz – trotz der Lehre von der ›Autonomie des Willens‹ – nicht als »Product«, sondern Vgl. Walter Andreas Euler: Christlicher Glaube und Bildung aus fundamentaltheologischer Sicht. 17 Immerhin ist zu beachten, daß Sokrates, der Protagonist der Platonischen Dialoge, gerade nicht der Aristokratie zuzurechnen ist und es auch nicht vermieden hat, vor der Menge zu sprechen (z. B. Euthydemos 271a). 18 Mt 7,21: am Tag des Gerichts zählt nur noch die Frage der Befolgung oder Übertretung des Gesetzes (natürlich in der Reinheit der Gesinnung, die Freiheit voraussetzt); vgl. auch Mt 21,29,31 f.; Lk 6,46; Jak 1,22; 1 Joh 2,17. 16

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als »Factum« der Vernunft bezeichnet, das folglich »als gegeben anzusehen« ist; nach Kant ist es jedoch nicht als ›empirisches‹ Faktum zu verstehen, sondern als »das einzige Factum der reinen Vernunft […], die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt« (KpV A 56). Zwar gilt nach Kant (KpV A 36): »Die praktische Regel ist jederzeit ein Product der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt.« Zu ergänzen ist jedoch (ebd.): »Diese Regel ist aber für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist, ein Imperativ«. Nach Kant ›sieht man leicht‹, daß der Wille bei ›kategorischen Imperativen‹ »auf etwas Anderes verwiesen werde« (KpV A 37), zumal deren Befolgung das eigene Leben kosten kann (z. B. KpV A 54). Damit zeigt sich, daß die Annahme der Freiheit nicht aus theoretischen Argumenten folgt, sondern sich »durchs moralische Gesetz« offenbart, das natürliche Antriebe und diesen folgende kluge Berechnungen überwinden kann (KpV A 59). Das Gesetz begegnet der spekulativen Vernunft »als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist« (KpV A 218; vgl. KrV B 829). Im Ausgang von der Frage nach der Herkunft des Bewußtseins des moralischen Gesetzes 19 gelangt Kant am Ende denn auch »zur Religion d. i. zur Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanctionen, d. i. willkürliche, für sich selbst zufällige Verordnungen eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen« (KpV A 233). 20 Den ›Grund‹ der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs als objektiven Prinzips moralischer Handlungen findet Kant im Dasein von Personen als ›Zwecken an sich selbst‹ (GMS BA 66 f. = AA 4,429). Die durch den Besitz der Vernunft (vgl. Gen 1,27) grundgelegte Annäherung an das Urbild »der allein Gott wohlgefälligen Menschheit« (z. B. RGV B 193 = AA 6,128 f.) weist auf die »uns schon durch die Vernunft versicherte […] Liebe« Gottes »zur Menschheit, sofern sie seinem Willen nach allem ihrem Vermögen nachstrebt« (RGV B 176 = AA 6,120). 20 RGV B 138 f. Fn = AA 6,99 Fn: »Sobald etwas als Pflicht erkannt wird, wenn es gleich durch die bloße Willkür eines menschlichen Gesetzgebers auferlegte Pflicht wäre, so ist es doch zugleich göttliches Gebot, ihr zu gehorchen. Die statutarischen bürgerlichen Gesetze kann man zwar nicht göttliche Gebote nennen, wenn sie aber rechtmäßig sind, so ist die Beobachtung derselben zugleich göttliches Gebot. Der Satz ›man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen‹ bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse […] ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll.« Vgl. Norbert 19

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Aber nicht nur in ihrem ›Grund‹ (von der ›Schöpfung‹ her) ist das Prinzip der Vernunft, sofern erst sie den Menschen zur ›Person‹ macht, auf Gott bezogen, sondern auch im Blick auf die Möglichkeit einer endgültigen Beurteilung der menschlichen Moralität (vgl. KrV B 579 Fn): ohne Gott als ›Richter‹, der zugleich der »Herzenskündiger« ist, 21 läßt sich die Bestimmtheit der moralischen Gesinnung, die zu ihrer Möglichkeit und erst recht zu ihrem Sinn anzunehmen notwendig ist, uns selbst aber verborgen bleiben muß, gar nicht denken (RGV B 85 = AA 6,67). Zudem knüpft Kant in dieser Hinsicht nicht nur an biblische Kernaussagen an, sondern indirekt – vielleicht, ohne es zu wissen oder sich darum zu bekümmern – auch an die große theologische Tradition, wie sie zum Beispiel Augustinus ausgebildet hat, dem als ›Kirchenvater‹ hohe Autorität für die authentische denkerische Auslegung der christlichen Botschaft zukommt. Wie nach Kant alles auf die Reinheit der Gesinnung ankommt, die in der ›Bergpredigt‹ Jesu klar hervortritt, so hat die ›Bergpredigt‹ auch für Augustinus vermutlich die entscheidende Rolle bei seiner Suche nach dem wahren Leben und auf seinem Weg zum christlichen Glauben gespielt. Schon der Anfang des in den Confessiones dargestellten Wegs zeigt zwar, daß Augustinus sich auf seinen Weg gerufen weiß (z. B. conf. 1,1); 22 der Inhalt des Rufs, von dem er spricht, bleibt jedoch zunächst unklar (vgl. conf. 10,38) und tritt positiv erst durch die Bezugnahme auf die ›Bergpredigt‹ deutlich hervor (conf. 11,1), wobei diese Bezugnahme schließlich den Weg ebnet, Gott mit den Worten zu loben, mit denen die Confessiones begonnen hatten. 23 Die RuhelosigFischer: Die Gegenwart des Unbedingten in Kants praktischer Philosophie. Das ›Bewußtsein des moralischen Gesetzes‹ als das ›einzige Factum der reinen Vernunft‹. 21 Vgl. Martin Luthers treffliche Übersetzung von kardiognðsth@ (Apg 15,8): »hertzkündiger«; vgl. Biblia. Das Newe Testament, 98. Im Blick auf Augustins Bezugnahme auf diesen Gedanken vgl. z. B. div. qu. 59,3; dort spricht er von Gott als dem, »qui cordis inspector est«. Der ›hertzkündiger‹ sieht die Wirkung der Freiheit im Inneren. Vom ›Herzenskündiger‹ spricht Kant an zahlreichen Stellen, z. B. RGV B 139 = AA 6,99. 22 Zum ›Rufen‹ vgl. folgende Stellen der Confessiones: 1,1: »quaeram te, domine, invocans te«; 4,10: angesichts des Todes des Jugendfreundes liegt die Hoffnung auf dem ›ad aures tuas plorare‹ ; 8,29: »tolle, lege«; 10,38: das »vocasti et clamasti« ist seltsam inhaltlos; es bekommt seinen Inhalt jedoch in 11,1 durch die Bergpredigt. 23 Im Unterschied zu den Mosaischen ›zehn Geboten‹ vom Berg Sinai, die auch als Klugheitsregeln ausgelegt werden können, fordert die ›Bergpredigt‹ reine moralische Gesinnung. Die Kritik, Kant reduziere Religion auf Moral ist verfehlt. Die ›Moral Jesu‹ ist von solcher Höhe, daß die Rede von ›Reduktion‹ sich selbst Lügen straft. A

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keit unseres Herzens lebt davon, daß wir auf Gott hin geschaffen sind (»quia fecisti nos ad te«); sie ist hervorgerufen vom Ruf zu göttlicher Liebe, wie sie in der ›Bergpredigt‹ verkündet wird. 24 Augustinus hat in der ›Bergpredigt‹ die Verkündigung des Maßstabs gesehen, der den Willen gut macht, auf den es schließlich sogar allein ankommt (conf. 11,1; vgl. auch lib. arb. 1,26). 25 Diese Predigt fordert reine Liebe, sie fordert göttliche Liebe, die aber von uns vollzogen werden soll. Es ist immer noch eine ungelöste Aufgabe, Augustins Denkweg zu rekonstruieren, sofern er sich in der Spannung zwischen der reflektierten Annahme, des Hörens zu bedürfen, und der kritischen Mahnung vollzieht, bloß Gehörtem nicht zu folgen, ohne es zuvor auch bedacht zu haben. Es fällt auf, wie abweisend er manches (z. B. von den Manichäern) ›Gehörte‹ bedenkt und wie vorsichtig er sich sogar christlichen Kerndogmen nähert und sie zu rekonstruieren versucht.26 Augustinus begnügt sich nie mit dem bloßen Hören, sondern versucht stets, auch zu verstehen. Worauf es nach Augustinus im menschlichen Leben aber vor allem ankommt, ist das Streben nach Heiligkeit, eine Aufgabe, die schon in der Annahme hervortritt, wir seien von Gott auf Gott hin geschaffen (conf. 1,1): »fecisti nos ad te«. Der ›Weg zu Gott‹ ist für uns der ›Weg zur Heiligkeit‹, auf welches höchste Ziel wir durch die Schöpfung hingeordnet sind. Den Weg zu ihr, der nur in Freiheit zu beschreiten ist, hält Augustinus durch unsere faktische Situation, die uns bedrängt, für so versperrt, daß wir eines Mittlers bedürfen, um ihn beschreiten zu können. 27 Erst im Glauben an das Beispiel und das Vorbild des Mittlers, Vgl. Heideggers Komprimierung von Augustins Liebesgedanken: »amo: volo, ut sis«. Hinweise dazu Norbert Fischer: »Deum et animam scire cupio«.Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen, bes.91 f. 25 Vgl. Norbert Fischer: Augustins Philosophie der Endlichkeit, bes. 236–367 (Kapitel X: Augustins Klärung der Grundbegriffe der praktischen Philosophie). Als erste Skizzen zum Thema vgl. Norbert Fischer: Natur, Freiheit und Gnade. Systematische Überlegungen im Anschluß an Augustinus und Kant; Ders.: Augustinus und Kant. 26 Dies zu entfalten, wäre das Thema einer anderen und umfangreicheren Untersuchung. Ansätze zur Nachzeichnung von Augustins Weg in die Richtung der Trinitätslehre finden sich bei Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in ›De Trinitate‹. Weiterhin vgl. Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, bes. 405–534 (Augustins ursprüngliche Einsicht in ›De trinitate‹). 27 Vgl. conf. 10,67–70: weil wir Menschen »mortales et peccatores« sind, Gott aber 24

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der den Weg der Heiligkeit trotz seiner Sterblichkeit gegangen ist, sieht Augustinus für uns den Weg zum höchsten Ziel eröffnet. Solche Heiligkeit ist nach Kant wie nach Augustinus das Ziel eines jeden Menschen, sofern wir mit der Art der Vernunft, durch die wir Zwecke an sich selbst sind, auf Gott hin geschaffen sind. Obwohl diese Seite der Philosophie Kants bei heutigen Kantianern wie bei Kantgegnern weithin vernachlässigt und ausgeblendet wird, erkennt Kant selbst sowohl die strenge Forderung der Heiligkeit an, als auch die Schwäche der menschlichen Natur, die es uns nicht erlaubt, das uns allen aufgegebene Ziel allein mit der geschenkten, endlichen Kraft zu erreichen. Kant unterscheidet zwei Grundarten der Vernunft, die sich beide auf das menschliche Wollen und Handeln beziehen und die einander widerstreitende Handlungsregeln hervorbringen können. Einerseits ist die »praktische Regel« zwar »jederzeit ein Product der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt« (KpV A 36). Aber mit diesem ›Produkt der Vernunft‹ bleibt der ›gute Wille‹, »der ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden« (GMS BA 1 = AA 4,393), noch ganz außerhalb der Grenzen des Denkbaren, zumal »das kalte Blut eines Bösewichts«, der seine Ziele eben auf Grund vernünftiger Berechnung verfolgt, »ihn nicht allein weit gefährlicher« macht, sondern auch unmittelbar in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er ohne dies dafür würde gehalten werden« (GMS BA 3 f. = AA 4, 394). Woher sich ›die Vernunft‹ zu verstehen hätte, durch deren Gesetzgebung der Wille endlicher, vernünftiger Wesen »schlechthin gut« werden kann, bliebe insoweit noch undurchsichtig. Einen »Grund dieses Princips«, das dem Willen »einen kategorischen Imperativ« vorschreibt, kann es für diese Art von Vernunft eigentlich nicht geben, sofern ein un-bedingt geltender Imperativ nur im Rahmen der Unableitbarkeit oder Grundlosigkeit des Gebotenen denkbar ist (GMS BA 66 = AA 4, 428 f.). Kant zeigt die Problematik selbst im Rahmen seiner Reflexion an, in der er zum »Grund dieses Princips« festhält, daß »die vernünftige Natur […] als Zweck an sich selbst«

»immortalis et sine peccato« (67), bedürfen wir, um uns Gott nähern zu können, eines wahrhaften Mittlers (›verax mediator‹), der im Sinne der Idiomenkommunikation die Sterblichkeit mit den Menschen, die Gerechtigkeit mit Gott gemeinsam hat (68: »mortalis cum hominibus, iustus cum deo«). Vgl. dazu auch den christologischen Ansatz in conf. 4,19. A

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existiert, wobei er diese Annahme als bloßes Faktum einführt, ohne den Versuch einer weiteren Ableitung zu unternehmen. Immerhin behauptet er dort: »So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor«. Woher die ›Notwendigkeit‹ dieser Vorstellung rührt, in der ich mich für einen »Zweck an sich selbst« halte, bleibt hier indessen noch unbeantwortet. Trotz der vermeinten Notwendigkeit gesteht er, daß diese Vorstellung der vernünftigen Wesen von sich selbst zunächst doch nur »ein subjectives Princip menschlicher Handlungen« ist; nur weil »auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt«, als »Zweck an sich selbst« erfasse, sei es »zugleich ein objectives Princip«, das als kategorischer Imperativ auftrete; dieser besagt (GMS BA 66 f. = AA 4, 429): »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Das faktische Dasein vernünftiger Personen als Zwecken an sich selbst ist der ›Grund‹ des kategorischen Imperativs, den Kant mit Recht als ›Factum‹ bezeichnet, nämlich als »das einzige Factum der reinen Vernunft […], die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend ankündigt« (KpV A 56). Die eine Art der Vernunft zeigt mich als ›atheistisches Ich‹ (vgl. KrV B 660 f.; dazu TI 29), dem die Welt Objekt der Bearbeitung ist und das eine ›Metaphysik der Probleme‹ (eine Metaphysik notwendiger, theoretisch unlösbarer Aufgaben) hervorbringt (KrV B 310; dazu MAA §§ 4–5). Die andere Art der Vernunft macht mich und die Anderen, die an dieser Vernunft teilhaben, zu ›Zwecken an sich selbst‹ und fordert von mir, mich und die Anderen als ›Personen‹ zu achten. Durch die eine Vernunft »steige ich vom Abgeleiteten so hoch hinauf in der Reihe der Gründe, wie ich will, […] um meine forschende Vernunft […] vollständig zu befriedigen« (KpV A 256). Aus der anderen Vernunft, die »auf einer Pflicht gegründet« ist und von mir fordert, »das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern« (KpV A 257), folgt ein ›reiner Vernunftwille‹, »der hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht« (KpV A 258). Obwohl diese andere Art der Vernunft meine natürliche Eigenliebe stört, kann ich mich nach Kant gerade durch sie ›der Liebe Gottes versichert‹ sehen 28 und begegne in dieser Liebe also »meinem unsichtbaren Selbst, meiner Per28 Vgl. dazu RGV B 176 = AA 6,120; ebenso vgl. die Hinweise zu dieser Stelle bei Norbert Fischer: ›Glaubenslehren sind Gnadenbezeigungen‹. Ansätze zur Gnadenlehre in

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sönlichkeit […] in einer Welt, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist« (KpV A 289). Nach der Formulierung des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft, 29 das sich nur durch das genannte ›Faktum‹ verstehen läßt, das in moralisch relevanten Situationen auftritt und »als gegeben anzusehen ist« (KpV A 56), 30 spricht Kant in der zweiten der folgenden ›Anmerkungen‹ zunächst zur ›Heiligkeit‹ Gottes als »der allergenugsamsten Intelligenz« und fügt im Blick auf Ursprung, Sinn und Ziel der menschlichen Moralität dann hinzu: »Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl eine praktische Idee, welche nothwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht«. 31 Die Idee der Heiligkeit des Willens, die den Menschen als Person und endliches Vernunftwesen fordert, aber auch überfordert, ist es nach Kant, »welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält«. 32 Sie ist nur in der Hoffnung auf Hilfe und in einem »ins Unendliche gehenden Progressus« zu erstreben«, den wir nicht aus eigener Kraft zur Vollendung bringen können; dennoch ist

der Philosophie Immanuel Kants, bes. im ersten Unterpunkt (Selbstsein und Freiheit als grundlegende Vorbedingungen der Gnadenlehre). 29 Vgl. KpV A 54: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Dieses ›Grundgesetz‹ setzt als ›Grund‹ des Prinzips das Faktum der Gegebenheit von Personen als Zwecken an sich selbst voraus; ohne diese bleibt es ein bloß zufälliges, subjektives Prinzip. 30 Zunächst ist klar (KpV A 58): »Die Autonomie des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten: alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.« Unmittelbar ist zwar nach Kant »das christliche Princip der Moral selbst doch nicht theologisch«, aber das Sein der Persönlichkeit als Zweck an sich selbst, die der Ursprung der Moral ist, kann er nur von Gott her verstehen (vgl. KpV A 232 f.). 31 KpV A 57 f. In Kants ›praktischem Glauben an den Sohn Gottes‹, in seiner Rede vom »Urbilde der Menschheit« (RGV B 76 = AA 6,62) liegt insofern eine Nähe zur katabatischen und zu anabatischen Christologie, die mit Augustins Rede vom Mittler zu verbinden ist, die auf der oben erwähnten ›Idiomenkommunikation‹ gründet. 32 Zur Herkunft dieses ›Faktums‹, das mit dem »Ideal der moralischen Vollkommenheit« zu tun hat, sagt er später auch (RGV B 74 = AA 6,61), »daß jenes Urbild vom Himmel zu uns herabgekommen sei, daß es die Menschheit angenommen habe (denn es ist nicht eben sowohl möglich, sich vorzustellen, wie der von Natur böse Mensch das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit erhebe, als daß das Letztere die Menschheit (die für sich nicht böse ist) annehme und sich zu ihr herablasse).« A

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die Heiligkeit zugleich »das Höchste […], was endliche praktische Vernunft bewirken kann« (KpV A 58). In ihr gründet die Notwendigkeit der Annahme der »ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit« von uns endlichen Vernunftwesen, die Kant als »Postulat der reinen praktischen Vernunft« darstellt. Kant sagt (KpV A 220): »Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als praktisch nothwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist nach Principien der reinen praktischen Vernunft nothwendig, eine solche praktische Fortschreitung als das reale Object unseres Willens anzunehmen.«

Diese praktische Idee führt wegen der Unmöglichkeit, das Gesollte zu verwirklichen, nicht nur zum Postulat der »Unsterblichkeit der Seele«, sondern auch ausdrücklich zur Offenheit für eine Gnadenlehre, die Kants Interpreten bei diesem Autor nicht zu vermuten sich angewöhnt haben. In Kants Offenheit für eine Gnadenlehre werden allerdings die Freiheit und Verantwortung des Willens der endlichen Vernunftwesen nicht aufgehoben, sondern vielmehr sogar bestätigt, weil Kant einerseits überzeugt ist, daß Gnade ohne Freiheit auf ein unwürdiges ›Marionettenspiel‹ hinausliefe (vgl. KpV A 265), daß andererseits Freiheit ohne Gnade als eine sinnlose, am Ende sinnwidrige Wirklichkeit erschiene, die für unsere Begriffe unfaßbar bliebe, schon weil sie indirekt auf einen ›Herzenskündiger‹ verweist (KrV B 579 Fn). Kants Lehre tritt deutlich in der Fußnote hervor, in der er »die christliche Vorschrift der Sitten […] in Ansehung ihrer Reinigkeit vor dem moralischen Begriffe der Stoiker« – und der anderen »griechischen Schulen« – miteinander vergleicht (KpV A 229 f.). Die Ideen der griechischen Schulen sind nach Kant ›Natureinfalt‹ (Cyniker), ›Klugheit‹ (Epikureer), ›Weisheit‹ (Stoiker); die der Christen aber sei ›Heiligkeit‹. Zur ›christlichen Moral‹, die einerseits die ›Freiheit‹ der handelnden Wesen, andererseits ihr Angewiesensein auf ›Gnade‹ einschließt, erklärt Kant eindeutig zustimmend (ebd.): »Die christliche Moral, weil sie ihre Vorschrift (wie es auch sein muß) so rein und unnachsichtlich einrichtet, benimmt dem Menschen das Zutrauen, wenigstens hier im Leben, ihr völlig adäquat zu sein, richtet es aber doch auch dadurch wiederum auf, daß, wenn wir so gut handeln, als in unserem Ver-

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mögen ist, wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht.« 33

Mit dieser Einsicht öffnet sich nicht nur prinzipiell das Tor zu einer vorerst mit Absicht unbestimmt präsentierten Gnadenlehre (die also weiterer Erörterung bedarf), sondern zugleich auch zu einer sachgemäßen Auslegung von Kants These, daß die »Autonomie des Willens […] das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten« sei (KpV A 58): diese These hat offensichtlich nichts mit angemaßter Autarkie (Selbstgenugsamkeit) zu tun. Kants Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Vernunft, durch die sie nicht in der Lage ist, die theoretischen Aufgaben der Metaphysik einer dogmatischen Lösung zuzuführen, war ja oft genug Anlaß von Polemiken gegen die kritische Philosophie; unser Nichtwissen weist nach Kant aber auf »die unerforschliche Weisheit«, »durch die wir existiren«; und zu der er erklärt, daß sie »nicht minder verehrungswürdig« sei in dem, »was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ« (KpV A 266). Allein die Gabe des Nichtwissens, die eine notwendige Voraussetzung für unsere endliche Freiheit ist, kann uns Menschen nach Kant in die Situation »des Streits« bringen, »den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch allmählig moralische Stärke der Seele zu erwerben ist«, in dem nicht nur »wie im Marionettenspiel alles gut« gestikuliert (KpV A 264 f.). Auch in dieser Diagnose könnte er Augustinus zustimmen, der unseren Weg von Versuchung (›temptatio‹) bestimmt sieht, wobei Gott zwar um uns Sorge trage (conf. 11,3), allerdings nicht so, daß wir unseren Weg durch die Zeit ohne Unsicherheit und Zweideutigkeit gehen könnten. 34 Nach Augustinus haben wir – auf uns selbst gestellt, so daß 33 Vgl. dazu auch RGV B 62 = AA 6,51 f.: »Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist) ist es ein Grundsatz: daß ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, thun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angebornes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX, 12–16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden.« Dazu ausführlicher Norbert Fischer: ›Glaubenslehren sind Gnadenbezeigungen‹ (im vorliegenden Band). 34 Nach lib. arb. 3,52 ist unser Leben durch Unwissenheit und Schwäche (›ignorantia‹ und ›difficultas‹) bestimmt; nach den Confessiones ist das menschliche Leben insgesamt

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wir auch auf Irrwege geraten – den Weg des wahren Lebens zu suchen und uns selbst um unser Sein zu bekümmern (conf. 10,40–66).

2.

Zur geschichtlichen und systematischen Verortung des Themas

›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ sind sprachliche Ausdrücke, die zwar jeder zu verstehen meint, die aber eine Fülle verschiedener Inhalte anzeigen, die an den Rand der Äquivokation führen. Das Wort ›Natur‹ kann allgemeine Arten von Seiendem (die ›Natur‹ von Pflanzen oder Tieren) oder die besondere Art von einzelnem Seienden bezeichnen (z. B. die ›Natur‹ eines bissigen oder harmlosen Hundes), aber auch das Ganze der wahrnehmbaren Welt; es kann auf das Ganze des Seienden überhaupt deuten, womöglich sogar im monistischen Sinne von ›deus sive natura‹. 35 Eine ähnlich große Bedeutungsvielfalt ist mit den Ausdrücken ›Freiheit‹ und ›Gnade‹ verknüpft, die in den Kontexten des alltäglichen Lebens, der Politik, der Rechtsprechung, der Moral und der Theologie analoge, aber auch kaum mehr zusammenhängende Bedeutungen haben können. Mit ›Freiheit‹ kann Ungebundenheit gemeint sein, Außerkraftsetzung von Regeln (zum Beispiel in Ausdrücken wie ›freie Wirtschaft‹ oder ›freie Liebe‹), sie kann aber auch als die Bedingung der Möglichkeit für die eigene Verantwortung von Handelnden für ihre Taten gedacht werden. 36 Obwohl ›Gnade‹ am treffendsten redurch Versuchung (›temptatio‹) gekennzeichnet, aus der wir uns im Leben nicht befreien können (vgl. 10,39). Daß wir einen Weg des ›Streits‹ gehen, zeigt das Leben (10,40– 66), in dem wir um ›continentia‹ zu ringen haben. Vgl. Norbert Fischer: Unsicherheit und Zweideutigkeit der Selbsterkenntnis. Augustins Antwort auf die Frage ›quid ipse intus sim‹ im zehnten Buch der ›Confessiones‹. 35 Z. B. können wir von der ›Natur des Menschen‹ (im Unterschied zur ›Natur des Tieres‹) sprechen, oder auch von der besonderen ›Natur‹ eines gutmütigen oder eines jähzornigen Menschen. Oder wir denken ›Natur‹ materiell als ›Inbegriff der Erscheinungen‹, formell als ›Inbegriff der Regeln‹ (vgl. Prol A 110 = AA 4,318); oder wir verstehen sie wie im Titel von Ciceros De natura deorum; aus Spinozas Naturbegriff folgt von ›Gott‹ her ein allgemeiner Determinismus; vgl. Ethica, prop. XXIX: [O]mnia ex divinae naturae determinata sunt. Vgl. dort auch das Scholium mit der Unterscheidung von natura naturans und natura naturata. 36 Zur Freiheit im negativen Verstande sagt Kant (KrV B 475): »Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln.« Damit werden weitere Bestimmungen zur Klärung der Bedeutung von ›Freiheit‹ nötig (s. u.).

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ligiös verstanden wird, nämlich als wohlwollende, freiwillig erteilte, unverdiente Zuwendung Gottes zu den Menschen, gibt es auch hier Verständnisunterschiede hinsichtlich der Frage, wie sich Gnade und Freiheit zueinander verhalten, vor allem, ob Gnade als Gegenbegriff zur Freiheit verstanden wird (wie in der Prädestinationslehre) oder als freies Werk Gottes, das die Freiheit des Menschen voraussetzt, auf sie zugeht und ihr aufhilft. 37 Natur, Freiheit und Gnade sind Themen der abendländischen Philosophie seit ihrem Beginn. Schon für Platon, den ›Homer der Philosophen‹ (Panaitios), spielen diese Begriffe eine wichtige Rolle, seit er den Kulturentstehungsmythos des Protagoras übernommen und die Sonderstellung der Menschen innerhalb der ›sterblichen Geschlechter‹ (jnhtÞ gffnh) durch göttliche Vorzüge festgestellt und die ›Freiheit‹ der Menschen vom Gebundensein an natürliche Bedingungen der Lebenserhaltung erklärt hatte. 38 Er betont damit einerseits, daß Menschen als endliche Freiheitswesen in die Natur eingebunden sind, andererseits aber auch, daß ihr Verhalten dereguliert ist. Zwar sah er in Gott den Urheber von Welt und Mensch, nannte ihn sogar Ursache von allem (p€ntwn a—tio@, vgl. Politeia 379b–380c; weiterhin 516e), betonte angesichts des Schlechten in der Welt aber doch mit Nachdruck, daß Gott nur Ursache des Guten sei, daß er also bei den Menschen nur von wenigem Ursache sei, weil es im Verhalten der Menschen eben weit weniger Gutes als Schlechtes gebe (Politeia 379 b/c). Um die ›Freiheit der Geschöpfe‹ zu verdeutlichen, läßt Platon den Herold im Mythos des Er ausrufen, daß jeder Einzelne für sein Geschick selbst verantwortlich sei, Gott aber schuldlos (Politeia 617e): a§tffla loumffnou‡ je@ ⁄naffltio@. Dem Menschen obläge folglich die volle Verantwortung für seinen Lebensvollzug. Demnach geht Platon davon aus, daß sich der an sich Allmächtige, den er als ›Vater des Ganzen‹ bezeichnet, als den patffir to‰ pant@, 39 Als solche ruft sie Dank und Verehrung hervor. Hierzu wäre noch einmal Thomas von Aquin zu beachten; vgl. S.th. I,2,2 ad 1; »sic enim fides praesupponit cognitionem naturalem, sicut gratiam naturam, et perfectio perfectibile.«; S.th. I,1,8 ad 2: »Cum enim gratia non tollat naturam, sed perficiat«. 38 Vgl. Protagoras 320c–322d; als Wesenszüge der Menschen werden zunächst soyffla und tffcnh hervorgehoben (321d/e), sodann dfflkh und a§dð@ (322c); Hinzuweisen wäre hier auch auf Arnold Gehlen: Der Mensch, z. B. 20, 33. 39 Timaios 28c; dazu vgl. Norbert Fischer: Die Ursprungsphilosophie in Platons ›Timaios‹. 37

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nach der Hervorbringung des Kosmos zunächst zurückgezogen und die Menschen ihrer eigenen Tätigkeit und ihrem Schicksal überlassen habe, daß er – mythisch gesprochen – nach seiner Tätigkeit als Weltenschöpfer den Menschen die Verantwortung für die Gestaltung des Geschehens und ihres eigenen Schicksals übertragen hat (Politikos 268d–274e). Nach dem Entstehen der Natur und im Anschluß an die Wirksamkeit menschlicher Freiheit sieht Platon schon die Notwendigkeit helfender Gnade, mit der Gott sich den Verfehlungen der Menschen zuwende und sie heile. Obwohl den Menschen selbstanordnende Fürsorge (a'tepit€xi@ und ¥pimffleia) für ihren Lebensweg aufgegeben und auferlegt sei, 40 greife der Weltenlenker (to‰ pant@ kubernffith@) rettend ein, sobald der Weltlauf allzu sehr in Verwirrung gerate, da er sich weiter um die Geschicke der von ihm geschaffenen Welt sorge (Politikos 272e–273d). Die Annahme eines Eingreifens Gottes in die von Natur und Freiheit bestimmte Welt ist für Platon nicht fremd, wobei er zuweilen von einem ›Los‹ spricht, das Gott den Menschen zuteilt (jeffla mo…ra), oder von einem ›göttlichen Zufall‹ (jeffla tÐch). 41 Nachdem schon Platon unsere Geschicke in den Horizont von Natur, Freiheit und Gnade gestellt hatte, wundert es nicht, daß sich dieses Thema über die abendländische Philosophiegeschichte hin verfolgen läßt. Dies gilt in einem eminenten Sinn für die Hauptautoren, deren Werke den Beiträgen dieses Bandes zugrunde gelegt wurden, weil sie ihre besondere Aufmerksamkeit der Beurteilung der möglichen Arten von Verursachung menschlichen Handelns gewidmet haben. Für Augustinus wurde alsbald die Frage drängend, wie er die Welt als Schöpfung denken könne. Er sah sich im Gegensatz zu Plotin dazu bewogen, ein eigenes Sein der Schöpfung anzunehmen, in einer ›creatio de nihilo‹, nicht einer ›creatio de se‹, wodurch die Kausalität der Ereignisse in der Welt getrennt von der Kausalität Gottes gedacht werden konnte, 42 ohne daß die Allmacht Gottes bestritten werden müßte, sofern die Welt ja als Werk des Allmächtigen betrachtet wird. Wie Platon denkt

40 Politikos 274a–d; dazu weiterhin Norbert Fischer: Menschsein als Möglichsein, 38– 41. 41 Vgl. Nomoi 642c; dieses Geschick macht den Menschen aber nicht zur Marionette (vgl. 644d; vgl. auch 759b/c). 42 Das Thema der Trennung ist von Emmanuel Levinas zugespitzt worden; vgl. schon Totalité et Infini, 23–32: L’atheisme et la volonté, bes. 50: »L’atheisme conditionne une relation véritable avec un vrai Dieu kaj’ a¢t.«

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er die Ermöglichung ursprünglicher endlicher Kausalität als Absicht Gottes. 43 Wer das Ganze als Überstrahlung (perffllamvi@) oder Ausfluß (cÐsi@) des Einen auslegt, rettet nichts, zumal das Eine im Überstrahlen und Ausfließen seine Göttlichkeit zunehmend verlöre. 44 In der Welt geht es ja keineswegs so göttlich zu, daß man annehmen könnte, ›alles in allem‹ sei göttlich, vor allem, wenn man mit Platon die Gerechtigkeit als den Wesenszug Gottes sieht. 45 Weil die Welt nicht als verendlichtes Stück Gottes gedacht werden kann, weil ihr, obwohl von Gott geschaffen, eigenes Sein zukommt, das vom Sein Gottes getrennt und unterschieden ist, kann es in ihr blinde Naturkausalität und auch Erstursächlichkeit aus endlicher Freiheit geben. 46 Wäre die Welt von Gott so auf Gott hin geschaffen, daß endliche Wesen zwar aus eigener Kraft den Weg zu ihrem überhohen Ziel beschreiten sollen, dieses Ziel aber auf Grund ihrer Endlichkeit nicht alleine erreichen können, blieben sie am Ende auf göttliche Gnade angewiesen. Damit scheint es in der Welt drei verschiedene Arten von Kausalität geben zu müssen, die zwar in Spannung zueinander stehen, aber dennoch notwendig zu einer Schöpfung Gottes gehören. Der maßgebende Anfang allen ›metaphysischen‹ Denkens mag darin bestehen, daß wir Handlungen endlicher Wesen (also auch unsere eigenen Handlungen), die wir im Bewußtsein des moralischen Gesetzes für ungerecht halten, nicht als schicksalhaft bewirkte Ereignisse verstehen, sondern daß wir die Verantwortung für sie bei den Handelnden (also auch bei uns selbst) suchen. Der Anfang der Metaphysik wäre derart eine ›Beschuldigung‹ der Handelnden (die uns zunächst als Beschuldigung unserer selbst im ›schlechten Gewissen‹ angeht), gegen die sich die jeweils Beschuldigten mit einer Art von ›Ent-schuldigung‹ wehren könnten, mit der sie auf andere Ursprünge des ungerechten Vgl. Politikos 272e (Rückzug Gottes); Timaios 29e (Güte Gottes); Theaitetos 176b (Verähnlichung mit Gott). 44 Im Blick auf die Weltentstehung ist bei Augustinus keine Rede davon, daß die Seelen sich aus Übermut und, um sich selbst zu gehören, ins Viele gestürzt hätten; zur ersten Andersheit (prðth terth@), dem Ursprung des Anderen überhaupt, das zugleich das Schlechte (kakn) ist vgl. Plotin: Enneade V 1,1,1–5. 45 Vgl. Theaitetos 176b/c: je@ o'dam–» o'dam@ ˝diko@, ˝ll3 £@ o on te dikaitato@. Vgl. auch schon Politeia 379a–c, bes. B: nicht von allem sei Gott Ursache, Ursache sei er nur von Gutem, am Üblen sei er schuldlos: tn de kakn ⁄naffltion. 46 Vgl. Politeia 617e: A§tffla loumffnou‡ je@ ⁄naffltio@ (gegen eine falsche Deutung der göttlichen Allmacht). 43

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Geschehens verweisen, für das sie jede Verantwortung bestreiten. Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes – oder der Ruf des Gewissens – fordert von uns, gewisse Handlungen zu vermeiden, die wir vollziehen könnten und zu denen wir geneigt sind, andere Handlungen aber zu vollziehen, die uns widerstreben und die wir vermeiden könnten. Augustinus beginnt De libero arbitrio vor dem Hintergrund solcher Erwägungen mit der Frage, ob nicht der allmächtige Gott der Urheber des Übels sei (1,1): »utrum deus non sit auctor mali«. Auf sie hatte Plotin eine beschwichtigende Antwort gegeben, der Augustinus nicht zustimmte, da ihm das Dasein willenloser Spielzeuge (pafflgnia) den Sinn des Seins endlicher Geschöpfe und den Sinn der Welt insgesamt, die er als Werk Gottes auszulegen versuchte, zu zerstören schien. 47 Gott als Schöpfer willenloser Spielzeuge zu denken, der keine Geschöpfe mit eigener ursprünglicher Kausalität geschaffen hätte, hieße nach Augustinus also, zu gering von Gott zu denken. 48 Damit die Schöpfung der geglaubten übergroßen Güte Gottes entsprechen konnte, 49 mußte er die Kausalität der Geschöpfe – im Unterschied zur Kausalität natürlicher Wesen – 50 so denken, daß sie sowohl zur Hervorbringung von Gutem wie von Bösem in der Lage sein mußten. Augustinus nennt zweierlei Kausalität in der Welt und denkt die eine als abgeleitete Kausalität mit notwendigen Abläufen (›necessitate naturae‹), die andere als ursprüngliche Kausalität, die vom Willen endVgl. Enneade III 2,15,44 ff. Nach Plotin kommt dem Leben kein letzter Ernst zu; vielmehr schaffe es ›unablässig schöne, wohlgestaltete lebendige Spielzeuge‹ (ebd. 32 ff.): poio‰sa ⁄e½ kalÞ ka½ e'eid» znta pafflgnia. Dazu vgl. APE, bes. 123–125. Sofern endlichen Wesen keine Verantwortung für ihre Seinsvollzüge zukommt, wird das Weltgeschehen zu einem kosmischen Marionettentheater. Zu diesem Bild vgl. schon Platon (Nomoi 644d); vgl. auch Norbert Fischer: Einleitung (Tusculum), 822. Weiterhin Heinrich Kleist: Über das Marionettentheater. 48 Um die Güte der Schöpfung denken zu können, erklärte er (lib. arb. 3,7): »nihil tam in nostra potestate quam ipsa voluntas.« Das galt anfangs sowohl für die Hervorbringung des guten Willens, den der Wille nach Augustinus allein durch sich selbst bewirken kann (1,26: »sola […] voluntas per se ipsam«), als auch für die Möglichkeit, das erkannte Gute zu verfehlen (3,49): »voluntas est prima causa peccandi aut nullum peccatum est prima causa peccandi«. 49 Vgl. conf. 7,7: »bonus bona creavit«. Augustinus hat die von ihm früh entfaltete Freiheitslehre nie aufgegeben, aber aus verschiedenen Gründen modifiziert. 50 Zur Trias ›esse‹, ›vivere‹, ›intellegere‹ vgl. lib. arb. 2,7. Zur Kausalität von Dingen (›motus lapidis‹, der sich ›naturae necessitate‹ vollzieht) im Unterschied zum ›motus animae‹ ; im Blick auf die Bewegung der Seele zweifelt Augustinus nicht, sie für schuldhaft zu halten vgl. ebd. 3,2: »istum motum non dubitamus esse culpabilem«. 47

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licher Wesen ausgeht, die Vollzüge allein durch sich selbst bestimmen können. Weil Augustinus den Schöpfungsglauben so auslegt, daß Gott ›uns auf sich hin geschaffen hat‹, denkt er unsere Endbestimmung zwar so, daß wir an ihr mit eigener Kraft arbeiten müssen, damit sie überhaupt unsere Endbestimmung sein kann, denkt sie aber so hoch, daß wir das Ziel nicht ganz allein aus eigener Kraft erlangen können, sondern zusätzlich der göttlichen Gnade bedürfen. Die so verstandene Gnade kann nur als Werk der Freiheit Gottes gedacht werden, die nicht Marionetten zuteil werden kann, sondern nur Wesen, die selbst zu freiem Handeln befähigt sind. Augustins Denken einer Beziehung der Menschen zu Gott hat ihn also zur Ausbildung von drei in der Welt wirksamen Arten der Kausalität geführt, nämlich Natur, Freiheit und Gnade. Wer dazwischenfragen kann, was Augustinus als Vermögen von Menschen nennt, (conf. 10,10: »homines autem possunt interrogare«), wird sich nicht leicht mit Faktischem zufrieden geben. Wie Kant hält er menschliche Erkenntnis nicht für etwas bloß Gegebenes, sondern setzt als Möglichkeitsbedingung endlicher Erkenntnis auch die Spontaneität des Erkennenden voraus. Beide nehmen ›Freiheit‹ bei den suchenden und denkenden Menschen an, die nur als Geschöpfe Gottes gedacht werden können, sofern ihnen auch Freiheit zukommt. Die Bestreitung endlicher Freiheit verdürbe folglich die Möglichkeit, die Schöpfung als Werk Gottes anzunehmen. Diese Annahme kann weiter durch eine Erwägung gestützt werden, die Augustinus in den späten Retractationes zur conditio humana angestellt hat. Unwissenheit und Schwäche (›ignorantia‹ und ›difficultas‹) hatte er bekanntlich lange nur als Beeinträchtigung unseres Zustands beurteilt und die Schuld dafür Adam (oder anonym dem Menschengeschlecht) zugeschoben, um ihn nicht dem Schöpfungswillen Gottes anlasten zu müssen. In den Retractationes aber bringt er die Annahme ins Spiel, Unwissenheit und Schwäche gehörten als ›primordia naturalia‹ zu unserem ursprünglichen Naturzustand, für den Gott gerade nicht zu beschuldigen, sondern vielmehr zu loben sei. 51 Falls unsere ›ignorantia‹ und ›difficultas‹ nicht als Beeinträchtigung Vgl. retr. 1,9,6: »quamvis ignorantia et difficultas etiamsi essent hominis primordia naturalia, nec sic culpandus sed laudandus deus esset, sicut in eodem libro tertio disputavimus.« Vgl. dazu Kants schon erwähnte Bemerkung zur Verehrungswürdigkeit der unerforschlichen Weisheit, obwohl sie uns auch manches versagt hat (KpV A 266).

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der Güte des Schöpfers zu denken wären, träte das Angewiesensein der Geschöpfe auf die Gnade Gottes noch deutlicher hervor. Die von Augustinus und Kant bevorzugten Zugänge zu den Begriffen ›Natur‹ und ›Freiheit‹ legen sie als Arten der Kausalität aus, als die auch der Sinn von ›Gnade‹ erläutert werden kann. Zur Besonderheit unwillentlicher Vorgänge in der Natur gehören im Denken Augustins und Kants Blindheit, Notwendigkeit und Berechenbarkeit in einer Weise, daß sie Natur konstituieren. Zur Kausalität aus Freiheit gehört, daß von ihr bedingte Akte nicht durch Natur bestimmt sind (Freiheit von Naturkausalität), daß sie auf Selbstbestimmung gründen (Freiheit für das Sittengesetz) und bei endlichen Wesen Wahlmöglichkeiten eröffnen (Freiheit zwischen gut und böse). Für Vorgänge, denen der Charakter des Gnadenhaften zukommt, sind als Hintergrund ›Natur‹ und ›Freiheit‹ in einer Weise vorauszusetzen, daß Gnade ohne sie gar nicht gedacht werden kann: im Gnadenhaften verschwinden Blindheit, Notwendigkeit und Berechenbarkeit des Natürlichen, die ihm ansonsten zu eigen sind, so daß die Natur als schöne Gabe und als Geschenk hervortritt. Die Möglichkeit des Hervortretens der Gnade als Geschenk setzt als besonderen Charakter die Freiheit des Empfängers dieser Gabe voraus: zwar muß er als frei angenommen werden, aber so, daß ihm in der Gnade etwas zuteil wird, was er kraft eigener Bemühungen nicht erreichen kann. Im Gnadencharakter ist zudem nicht nur die Freiheit der Empfänger notwendig mitgedacht, sondern auch die des Urhebers (z. B. ep. 186,6: »gratia gratis datur«), sofern er den Empfängern aus freien Stücken in einer Weise zu Hilfe kommt, daß seine Gaben reinen Dank hervorrufen. ›Schöpfung‹ ist als Hervorbringung anderer Wesen zu denken, die zwar auf Gott hin geschaffen sein mögen, die aber selbst etwas Anderes sind als Gott, nämlich Wesen mit eigener Kausalität. Damit endliche Wesen frei sein können, muß es Naturkausalität geben, die alle Naturvorgänge bestimmt, von der einige Wesen aber frei sein können, so daß sie für von ihnen verursachte Ereignisse in der Natur verantwortlich wären. Wenn es die ›Absicht‹ des Schöpfers wäre, Wesen in der Welt auf Göttlichkeit hin zu schaffen, muß es in der Welt Naturkausalität geben, aber auch Kausalität aus Freiheit, da ein kosmisches Marionettentheater nicht das Werk des allgenugsamen Gottes sein kann. Weil das Ziel der Göttlichkeit geschaffene Wesen unendlich überfordert, bleibt die Freiheit endlicher Wesen der Hilfe bedürftig, die als dritte Art der Kausalität in der Welt, als Gnade, bezeichnet werden kann 38

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und voraussetzt, daß Gott sich weiter um seine Geschöpfe sorgt. Nach Augustinus hat Gott die Welt aus der Vollkommenheit seiner Güte geschaffen, nicht aus Mangel und Bedürfnis (conf. 13,5). Sofern die Schöpfung ihr von Gott gewolltes Ziel aber noch nicht erreicht hat, nimmt Augustinus an, daß Gott, um sein Ziel zu erreichen, sich weiter um die Schöpfung sorgt, obwohl er selbst ohne Sorgen ist (conf. 11,3: »qui securus curam nostri geris«). Nach Augustinus hat Gott uns ein ruheloses Herz eingepflanzt, so daß wir in Endlichem keine Ruhe finden können und einen Weg zu gehen haben, an dessen Ziel wir erst dann gekommen sind, wenn wir mit Gott in einem dauerhaften Reich einer heiligen Gemeinschaft freier Bürger Ruhe gefunden haben (conf. 11,3: »regnum tecum perpetuum ›sanctae civitatis‹ tuae«). Überraschend mag sein, daß solche Überlegungen auch wieder bei Immanuel Kant auftreten, der nicht ohne Recht als ›Philosoph der Freiheit‹ bezeichnet wird, der für den tendenziell autokratischen ›Subjektivismus‹ in Beschlag genommen wird und folglich in einem unüberbrückbaren Spannungsverhältnis zu Augustinus zu stehen scheint, den man den ›Lehrer der Gnade‹ nennt. Inwieweit diese vereindeutigenden Bezeichnungen die grundlegenden Intentionen der beiden Autoren sachgemäß und vollständig charakterisieren, wird womöglich neu zu überprüfen sein. Im Blick auf das Werk Augustins liegt auf der Hand, daß er nicht nur eine Gnadenlehre entfaltet, sondern zunächst sogar vorrangig an einer Freiheitslehre gearbeitet und sie so vertreten hat, daß die Pelagianer sich auf Augustins Thesen in De libero arbitrio stützen und berufen konnten, nachdem die Gnadenlehre bei ihm übermächtig in den Vordergrund getreten war. Jedenfalls zeigt sich, daß Augustinus seine frühe Freiheitslehre nie wirklich preisgegeben hat, auch nachdem er sich in verbissene Streitereien mit Pelagianern und späterhin mit den Semipelagianern verstrickt hatte. Für ein Gesamtbild von Augustins Lehre bleibt es also erforderlich, seine Lehren zur Freiheit und zur Gnade zu beachten, auch wenn diese nicht systematisch integrierbar sein sollten. Ebenso ist die Restriktion Kants auf einen bloßen ›Lehrer der Freiheit‹ zu relativieren, zumal er schon in der Kritik der reinen Vernunft den von Leibniz geprägten Begriff des ›Reiches der Gnaden‹ aufgegriffen (B 840) und die Ergänzungsbedürftigkeit endlicher Freiheit betont hat (B 579 Fn). Zwar hat Kant keine explizite Gnadenlehre ausgearbeitet, aber doch Fundamente für sie gesucht. Wie der späte Augustinus hat er Unwissenheit und Schwäche der menschlichen Natur nicht als A

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Strafe für eine Verfehlung des Menschengeschlechts gedeutet. Er hält es für nötig, daß wir Menschen, um das sein zu können, was wir um des höchsten Gutes willen sein sollen, uns in der Situation »des Streits« befinden müssen, der im Leben zu entscheiden ist, da das Gute nicht »wie im Marionettenspiel« getan werden kann (KpV A 264 f.). Also sah er in der Einschränkung unserer natürlichen Kräfte einen Vorzug, der uns zur Dankbarkeit bewegen sollte (KpV A 266). Die faktische Unwissenheit und Schwäche endlicher Vernunftwesen sind nach Kants Einsicht erforderlich, damit das Gute aus Güte getan werden kann. Nach Kant muß endlichen Wesen, die auf die Möglichkeit des guten Willens hin geschaffen sind, Freiheit zukommen, sie müssen aber auch unwissend sein und der Hilfe bedürfen. Unter der ›Autonomie des Willens‹ hat Kant nicht die ›Autarkie‹ zur Erlangung seiner höchsten Möglichkeiten und Ziele verstanden: das moralische Gesetz ist keine Regel, die zum Zwecke der klugen Beförderung der eigenen Glückseligkeit erdacht worden wäre, sondern ist »gleichsam durch ein Factum gegeben« (vgl. KpV A 96). Da ›glücklich zu sein‹ »nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens« ist, muß sich das ›Factum‹ des moralischen Gesetzes gegen die natürlichen Neigungen allererst Bahn brechen und sich im Gestus des Befehlshabers »ursprünglich gesetzgebend« ankündigen (KpV A 56). Die Möglichkeit endlicher Wesen, das Gute selbst anzustreben und so ihr eigenes endliches Selbstsein zu verwirklichen, setzt, wie Kant schon in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht sagt, »das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks« voraus. Wie Augustinus von »dolor et labor« spricht, die ihn bedrängen (conf. 10,39), sieht Kant das menschliche Leben von »Arbeit und Mühseligkeiten« bestimmt und meint, daß diese sogar zum Besten der Menschen dienten und gern zu übernehmen seien: denn gegen den äußeren Anschein »verrathen [sie] die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe« (IaG A 393 f. = AA 8,22) Nicht unähnlich der Mängelwesentheorie von Platons Protagoras deutet er die Unvollkommenheit der menschlichen Naturanlage als Hilfe und Anreiz zur Selbstwerdung vernünftiger Wesen (IaG A 385–3991 = AA 8,17–20). Diese Parallele wirft auch wieder Licht auf »das besondere Schicksal«, das Kant der ›menschlichen Ver40

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nunft‹ in der Metaphysik zuspricht und als ›metaphysische Naturanlage der menschlichen Vernunft‹ beschreibt (KrV A VII, B 21). Zum Sinn des Ursprungs der ›Metaphysik‹ hat er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft gefragt (B XV): »Woher hat denn die Natur unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht, ihm als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren?« Kants Eingeständnis der Endlichkeit der menschlichen Vernunft ist eine ›confessio scientiae et imperitiae‹ (vgl. conf. 11,2), die Augustinus mit dem Dank an den Schöpfer verbunden hat. Schon in ihm öffnet sich grundsätzlich das Tor zu einer Gnadenlehre.

3.

Vorblick auf die Beiträge

Nach diesem einführenden Einstieg in das Thema aus dem Blickwinkel, der den Herausgeber angeregt hat, das im Juni 2010 in Eichstätt durchgeführte Symposion und das vorliegende Buch zu planen, folgt nun ein Vorblick auf die Beiträge aus der Perspektive der beteiligten Autoren. Für die Veröffentlichung ist der Beitrag von Mathias Eichhorn hinzugekommen, weil es dem Herausgeber unerläßlich schien, Martin Luthers Streit mit Erasmus von Rotterdam in seiner oft erwähnten, aber selten gelesenen Schrift, nämlich De servo arbitrio (1525), aufzunehmen. Im Zentrum des Beitrags von Johannes Brachtendorf, der vom ›Kompatibilismus‹ Harry Frankfurts ausgeht, steht Augustins De libero arbitrio mit den Fragen, ob der Mensch seine moralische Identität wählen kann, ob die Kraft der menschlichen Freiheit so weit reicht, daß wir über die Grundorientierung unseres Lebens zu entscheiden vermögen, oder das ›liberum arbitrium‹ darauf beschränkt ist, im Rahmen des bereits so oder anders bestimmten Charakters der Person Entscheidungen zu treffen, ob wir uns also selbst zu guten Menschen machen können. Der Beitrag zeichnet die Position von Augustins De libero arbitrio in dieser Frage nach und konfrontiert sie mit der Neuinterpretation dieser Schrift im Spätwerk Augustins. Schließlich wird gezeigt, daß Kants Auffassung in diesem Punkt eher der frühen als der späten Position Augustins entspricht. Theresia Maier beginnt mit dem Hinweis, daß der ›allgemeine Heilswille Gottes‹ in der theologischen Systematik traditionell in der Eschatologie behandelt wird, aber auch für andere Traktate relevant ist A

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(Gotteslehre, Christologie, Ekklesiologie etc.). Der Beitrag zeigt, wie Augustinus in De civitate dei auf diesbezügliche Fragen eingeht und darstellt, wie die biblische Verkündigung des Gerichts verstanden werden kann. Elemente seiner Argumentation sind nach dieser Auslegung die ›Schöpfung‹, der ›Mensch in seiner postlapsarischen Verfassung‹, die Ablehnung der Apokatastasis, die Bedeutung der Ermahnung der Gläubigen und die wesentliche Zugehörigkeit des liberum arbitrium zum Menschsein auch in seiner erlösten Existenz. Lenka Karfíková untersucht die Polemik zwischen Augustinus und Julian von Aeclanum, in der sich zwei unvereinbare Auffassungen der menschlichen Natur und Freiheit treffen, die aber beide etwas Wichtiges von der conditio humana zeigen. Augustinus entwickele im Rahmen seiner Gnadenlehre besonders in seinen späten Jahren die Vorstellung der erblich ›verletzten‹ Natur des Menschen und des Willens, der sich immer schon versklavt habe und nur noch durch die affektiv wirkende Gnade geheilt werden könne. Gegen diese in seinen Augen manichäische Lehre stelle Julian, durch seine antike Ausbildung inspiriert, den Glauben an den guten Schöpfer einer untadelhaft guten Natur. Nach seiner Überzeugung komme den Menschen unzerstörbare Freiheit zu, die sie zwar schlecht nutzten, aber nie verlieren können, weder durch ihre eigenen unvernünftigen Handlungen, noch durch die Schuld der Ahnen. Guntram Förster wirft ein Schlaglicht auf die Kontroverse Augustins mit den ›Semipelagianern‹, die sich für eine ihrer Hauptpositionen, daß Gottes Gnadenwahl von der ›praescientia‹ des menschlichen Glaubens abhängig sei, u. a. auf eine zwei Jahrzehnte zuvor entwickelte Argumentation Augustins in den Quaestiones expositae contra paganos beriefen. Der Beitrag skizziert, wie Augustinus im späten Doppelwerk De praedestinatione sanctorum / De dono perseverantiae jene frühere Stellungnahme einer Releküre unterzieht und zu einer Klärung von Bedeutung und Funktion der ›praescientia‹ im Berufungsgeschehen kommt, in der die göttliche Souveränität strikt gewahrt werde. Dabei zeige sich freilich, daß auch diese Konzeption des späten Augustinus nicht ohne die eigene Beteiligung des Menschen am Heilsgeschehen auskommt. Nach Frederick Van Fleteren steht Augustinus stets im Hintergrund des Denkens des Anselm von Canterbury, wenn nicht das Gegenteil deutlich hervortritt. Exemplarisch wird gezeigt, daß sowohl De libero arbitrio als auch Contra Iulianum opus imperfectum, ins42

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besondere das zweitgenannte Werk Augustins, im Hintergrund von Anselms De libertate arbitrii stehen. Mit der Freiheit der Entscheidung (›libertas arbitrii‹) meine Anselm die Harmonie zwischen unserem Willen (›voluntas‹) und den einzelnen Akten unseres Willens (›voluntates‹). Diese Harmonie, die indessen durch die Sünde verloren gegangen sei, werde nach Anselm durch göttliche Gnade wiederhergestellt, die den Menschen ohne Forderung einer Gegenleistung zuteil werde. Erich Naab untersucht die Verurteilung der These ›si ratio recta, et voluntas recta‹, die Stefan Tempier, Bischof von Paris, 1277 mit der Autorität Augustins begründet habe. Während Augustinus in seinen Enarrationes den Willen über die gute Konkupiszenz an die ›mens‹ zurückgebunden und das ersehnte Gut durch den Intellekt vergegenwärtigt gewußt habe, also von einer praktischen Vernunft ausgegangen sei, träten in der Rezeption seines Textes Vernunft und Wille auseinander, so daß die Augustinische Verflechtung von Verlangen und Begehren aufgehoben werde, die Vernunft ihre praktische Ausrichtung verliere und der Wille, unterschieden von der Vernunft, zum Ort der Gnade werde. Die Verurteilung, die Siger von Brabant und Boetius von Dazien getroffen habe, könne auch auf Thomas von Aquin bezogen werden, der dem Gedankengang Augustins näher stehe als die Glosse. Bei den angedeuteten, sich entwickelnden Diskussionen zwischen den Thomisten und den sogenannten Augustinisten werden die rezeptiven Verschiebungen Augustinischen Denkens beachtet. Giovanna D’Aniello vergegenwärtigt das Denken des Löwener Theologen Cornelis Jansen (1585–1638), der Professor der Exegese und später Bischof von Ypern war und eine Augustinisch gefärbte christliche Anthropologie zu rehabilitieren versucht, um ein richtiges Verständnis von Gnade und Freiheit zu sichern. Besonders einleuchtend sei in diesem Zusammenhang seine Auseinandersetzung mit der Spätscholastik, vor allem bezüglich der vieldiskutierten Möglichkeit einer Erschaffung des Menschen in puris naturalibus. Diese Betrachtung des Menschen außerhalb der Gnadenökonomie habe sowohl metaphysische als auch praktische Konsequenzen. Die Heranziehung von Francisco Suárez (1548–1617) verleihe der Hypothese der reinen Natur systematische Form und mache es erst möglich, die philosophische Basis dieser Theorie zu verstehen. Im II. Band seines Hauptwerks Augustinus wende sich Jansen entschieden gegen diese Konzeption und stelle ihr seine Hauptargumentationen gegenüber. Der Diskussionskern bestehe in seiner Erörterung des Liebesbegriffs, der eine RadikaA

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lisierung des Denkens Augustins zur Folge habe. Die Auseinandersetzung mit der Spätscholastik erlaube es ihm, zwei Konzeptionen der ›Reinheit‹ miteinander zu vergleichen: die eine gründe auf der Idee der reinen Natur als minimaler Denkbedingung der göttlichen Gnade; die andere gründe hingegen auf der Idee einer absoluten, ›interesselosen‹ Selbsthingabe an Gott. Nach Mathias Eichhorn geht es Luther in De servo arbitrio allein um die Frage, ob der Mensch sein Heil selber zu erwirken vermag, oder ob er für sein Heil auf die Gnade Gottes angewiesen ist. Ob der Mensch daneben eine Freiheit hat, in Dingen zu wählen, die Luther als weltlich betrachtet, interessiere Luther nur am Rande, wenngleich er auch für diesen Bereich natürlich die Vorsehung und Allmacht Gottes als wirksam erachte. Die Polemik gegen Erasmus könne Luther um so schärfer formulieren, als auch Erasmus dieser in seiner Zeit kaum hinterfragten, jedenfalls nur unter größten Gefahren öffentlich hinterfragbaren Metaphysik verpflichtet bleibe bzw. verpflichtet bleiben mußte. Erasmus zeige sich nämlich in der Frage ›Gnade oder Freiheit‹ unentschieden. Das habe es Luther ermöglicht, einen eindeutigen Standpunkt einzunehmen, oder besser gesagt, einen scheinbar eindeutigen Standpunkt. Seine Unterscheidung zwischen dem deus revelatus und dem deus absconditus im Hinblick auf den freien Willen Gottes zeige aber, daß uns diese vermeintliche Lutherische Eindeutigkeit heute nicht mehr genügen kann. Christian Danz stellt Luthers und Kants Freiheitsverständnis im Kontext von Augustins Schrift De libero arbitrio dar. Obwohl der Freiheitsbegriff durch Augustinus zu einem Schlüsselbegriff der theologischen und philosophischen Debatten avanciert sei, lasse sich das Verhältnis von Luthers und Kants Freiheitsverständnis nicht durch die Alternative von Bestreitung der menschlichen Willensfreiheit auf der einen und von sittlicher Autonomie auf der anderen Seite erfassen. Auch Luther kenne eine ›Freiheit des Christenmenschen‹ und Kant habe in seiner Religionsschrift mit dem Problem der Zurechenbarkeit des Bösen gerungen. Sowohl Luther als auch Kant hätten die menschliche Freiheit mit einer Dialektik verbunden und sie als endliche Freiheit verstanden. Von Augustinus über Luther zu Kant werde der Freiheitsbegriff zunehmend in die Reflexivität des Selbstverhältnisses verlagert und dadurch der objektiv-kosmologische Explikationsrahmen des Freiheitsbegriffs abgebaut. Nirgends schlage sich das deutlicher nieder als in den Gottesbegriffen Augustins, Luthers und Kants. Diese 44

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These wird in drei Abschnitten dargelegt: Begonnen wird mit einem kurzen Blick auf Augustins Bestimmung der menschlichen Freiheit, wie sie vor allem in der frühen Schrift De libero arbitrio ausgeführt ist. Auf der Folie von Augustins Freiheitsverständnis wird im zweiten Abschnitt das Luthers in den Blick genommen, wie es sich ihm im Zusammenhang mit seiner reformatorischen Entdeckung erschlossen hat. Im dritten und letzten Abschnitt geht es schließlich um das Freiheitsverständnis, wie Kant es auf der methodischen Grundlage der Transzendentalphilosophie ausgeführt hat. Nach Horst Seidl hat Kant die Terminologie der theoretischen und praktischen Philosophie noch großenteils aus der Tradition übernommen, so daß es möglich scheine, Kants Auffassung zu Natur und Freiheit mit der bei Augustinus in Vergleich zu bringen. Doch seien die Auffassungen beider Denker sehr verschieden, da die traditionellen Begriffe bei Kant gänzlich neue Inhalte erhalten hätten. In Augustins De libero arbitrio habe das Sinnesstreben als Objekt die materiellen Güter, so wie der Wille als Objekt das geistige moralische Gute habe. Das Böse entspringe aus der Abkehr des Willens und des Verstandes vom geistigen Guten und seiner Quelle in Gott, wenn der Verstand die gesetzvolle Ordnung verletze und im Mißbrauch der Freiheit die geschaffenen irdischen Güter vor den geistigen und göttlichen bevorzuge. In Kants Kritik der praktischen Vernunft verliere das Gute hingegen seine normative Funktion. An seine Stelle trete als Sittengesetz der sog. ›kategorische Imperativ‹, der keinen Bezug mehr zum normativen Guten habe: Er fordere Selbstbestimmung des Willens nicht mehr um des Guten willen, sondern habe formalistisch die bloße Selbstbestimmung im Sinn. Der freie Wille erfülle sich in der bloßen Selbstbestimmung, nicht mehr in der Befolgung des normativen Guten. Jakub Sirovátka geht davon aus, daß das Sollen und das Böse als Themen der Praktischen Philosophie Kants die Freiheit des Willens voraussetzen, die »den Schlußstein der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft« bildet. Im Sollen drücke sich ein unbedingt geltendes Moralgesetz aus, das als ›das einzige Faktum der reinen Vernunft‹ gilt und zugleich die Willensfreiheit als real erkennen läßt. Der unbedingte, normative Sollensanspruch werde uns in ›moralisch relevanten Situationen‹ bewußt, in denen die Anwesenheit der anderen Menschen als Zwecken an sich selbst vorausgesetzt ist. Erst vor dem Hintergrund der Freiheit des Willens und des normativen ›Sittengesetzes‹ erhalte die Rede vom moralisch Bösen Sinn. Das Phänomen des Bösen werde in A

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der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft behandelt, die an die kritische Philosophie anknüpft und sie weiterführt. Der Beitrag lebt von der Spannung, daß der Mensch zwar unzerstörbare ›Anlagen zum Guten‹ habe, aber ebenso einen permanenten ›Hang zum Bösen‹. Maximilian Forschner untersucht Kants Theorie des radikal Bösen, die in der Religionsschrift entwickelt sei, und rechnet sie zu den umstrittensten Lehrstücken seiner praktischen Philosophie. Sie stehe offensichtlich in der Tradition der christlich-theologischen Lehre von Ur- und Erbsünde. Die gängige Kritik richte sich einerseits gegen den (scheinbar noch allzu) christlichen Hintergrund der Theorie; sie reibe sich andererseits an ihrer scheinbar mangelnden Konsistenz. Die erste These des Beitrags ist: Kants Theorie des radikal Bösen im Menschen verrät keineswegs das Projekt der Aufklärung; sie übersetzt die theologische Lehre vielmehr in eine säkulare philosophische Anthropologie. Und diese Theorie, so die zweite These, lasse sich als in sich völlig konsistent erweisen. Die Konsistenz werde sichtbar, wenn man die verschiedenen Perspektiven und die verschiedenen Bedeutungen beachte, in denen Kant vom Bösen spricht. Norbert Fischer beginnt seine Darstellung der Ansätze zu einer Gnadenlehre Kants unter Hinweis auf die Endlichkeit der Menschen als Vernunftwesen, die ihr Leben als Gabe und als Aufgabe zu übernehmen haben, die sie nicht aus eigener Kraft lösen können. Von dort aus wird Kants Offenheit für eine Gnadenlehre dargestellt, aber auch seine kritischen Überlegungen zu Formen von Gnadenlehren, die der menschlichen Freiheit keinen Platz lassen. Als Vorstufen, die Kant zur Gnadenlehre geführt haben, werden Selbstsein und Freiheit der Wesen angeführt, die vernünftigerweise Ziel der Gnade Gottes sein könnten. Sodann werden diese Ansätze mit Kants Gottesgedanken verknüpft, der mit seiner Auslegung von Ursprung und Ziel der Schöpfung, die mit dem ›Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit‹ zu tun haben, mit der Heiligkeit des Willens, welchem Urbilde sich in Unendliche zu nähern das einzige sei, was allen endlichen vernünftigen Wesen zustehe, was sie aus eigener Kraft erstreben sollen, aber nicht verwirklichen können. Florian Bruckmann untersucht Natur, Freiheit und Gnade im Denken von Jacques Derrida, der mit Nietzsche und Heidegger in einer nachmetaphysischen bzw. metaphysikkritischen Denktradition einzuordnen ist. Deswegen lehne Derrida im Rahmen seiner Logozentrismuskritik ein essentialistisches bzw. substantialistisches Naturver46

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ständnis ab und weise nach, daß auch Rousseaus Gedanke, Natur sei ein unberührt vorkultureller Zustand, eine kulturelle Konstruktion ist. In den Augen von Derrida sei auch der Begriff von Freiheit ambivalent zu betrachten, weil sie in Verknüpfung mit Souveränität zu Willkür und einseitiger Machtausübung tendiere. Derridas Verständnis von ›Ereignis‹ sei hervorragend für ein Gespräch mit der Theologie geeignet, weil es den Implikationen des Gnadenbegriffes sehr nahe komme, so daß bei Derrida sogar der Gedanke eines sich kenotisch entäußernden Gottes gefunden werden kann. ************ Kant hat das Problem der ›Freiheit‹, das heute noch immer virulent ist, das heftig diskutiert wird und Anforderungen an das Denken richtet, in die folgende Formel zugespitzt (KrV B 564): »Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.« 52 Diese These verschärft er, indem er erklärt (KpV A 181): »wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein.« Dann aber müßte gesagt werden (ebd.): »Der Mensch wäre Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre«. 53 Damit ist der monokausale Monotheismus der Prädestinationstheoretiker für ihn unannehmbar, weil er den Schöpfer wie die Geschöpfe zu lächerlichen und zu traurigen Gestalten erniedrigt. 54 Kant hat sich infolgedessen immer wieder scharf gegen die Prädestinations52 Vgl. dazu Maximilian Forschner: Zur Antinomie der dynamischen Ideen, bes. 287– 292. Weiterhin Norbert Fischer: Die Zeit als Thema der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und der kritischen Metaphysik. Ihre Bedeutung als Anschauungsform des inneren Sinnes und als metaphysisches Problem, bes. 90–95. 53 Jacques de Vaucanson (1709–1782) hatte eine seinerzeit Staunen erregende automatische Ente konstruiert. 54 Vgl. dazu Norbert Fischer: Schöpfungslehre und Christologie in Augustins Confessiones. Zu systematischen Grundlagen der Fragen nach Einheit und Vielheit im Denken Augustins, bes.83 f., 89 f.

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lehre gewehrt und in der Schöpfung die von Gott gewollte Begrenzung seiner an sich grenzenlosen Allmacht gesehen. Deshalb sagt er (KpV A 265): »Das Verhalten der Menschen, so lange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe, würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde.« Gott hat die Schöpfung indessen nach Augustinus wie nach Kant in seiner unerforschlichen und verehrungswürdigen Weisheit als eigenständige Wirklichkeit gewollt, sofern Wesen in ihr aufgefordert sind, ein oberstes Gut (nämlich guten Willen aus Freiheit) hervorzubringen, das Voraussetzung für das höchste Gut ist, die Glückseligkeit in der Ruhe des Geschöpfs in Gott. Nach Augustinus zeigt sich so das Ideal frei gewollter, uneigennütziger Liebe und Verehrung (›gratis diligere‹ ; ›gratis colere‹), das auch nach Kant auf das höchste vollendete Gut verweist. Meister Eckhart legt es im Sinne reiner Liebe und im Einklang mit Augustinus und Kant aus (Predigt 1; DW 1,6 f.): »Eyâ, nû merket! Wer wâren die liute, die dâ kouften und verkouften, und wer sint sie noch? Nû merket mich vil rehte! Ich wil nû zemâle niht predigen dan von guoten liuten. […] Sehet, diz sint allez koufliute, die sich hüetent vor groben sünden und wæren gerne guote liute und tuont ir guoten werk gote ze êren, als vasten, wachen, beten und swaz des ist, aller hande guotiu werk, und tuont sie doch dar umbe, daz in unser herre etwaz dar umbe gebe, oder daz in got iht dar umbe tuo, daz in liep sî: diz sint allez koufliute.« 55

Nach Augustinus wie nach Kant weckt unsere faktische Lebenssituation, die uns in die Natur einbindet, die uns reine Güte aus endlicher Freiheit bewundern läßt und uns zur Einsicht bewegt, göttlicher Gnade zu bedürfen, bei allen Menschen Fragen, die Antwort und Entscheidung fordert. Unsere endlichen Lebensvollzüge sind in dieser denkerischen Tradition, ohne daß wir das immer bemerkten und ohne daß wir uns dessen immer bewußt wären, Antworten auf unendliche Fragen. Insofern sind sich alle endlichen Vernunftwesen selbst eine große Frage und eine ins Unendliche weisende Aufgabe, ohne das selbst überblicken zu können (auch weil wir die Wahrheit um unserer endlichen Freiheit willen nicht sehen dürfen). Wir finden uns nach Augustinus und Kant Meister Eckharts Denken ist eine wichtige Brücke zur Neuzeit (zum Beispiel über Nikolaus von Kues und Martin Luther) und zu Kant. Vgl. dazu Johannes Brachtendorf: Meister Eckhart (1260–1328) und die neuplatonische Transformation Augustins; weiterhin Norbert Fischer: Meister Eckhart und Augustins ›Confessiones‹.

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Einführung: ›Natur‹, ›Freiheit‹ und ›Gnade‹

durch unsere Lebenssituation faktisch als Wesen vor, die einerseits von den Kräften der Natur betroffen sind, die andererseits aber zugleich unter dem Anspruch der Freiheit (von der Naturkausalität) stehen, die insofern zur Achtung und Liebe jeder Person und zu reiner Liebe aufgefordert sind (also für das Sittengesetz, das Heiligkeit gebietet). Jedem endlichen Vernunftwesen wird ständig Entscheidung abverlangt (auch zwischen gut und böse). Sofern dieser Anspruch unsere endliche Kraft überfordert, sind wir, da wir notwendig danach verlangen, glücklich zu sein, durch unsere Situation zugleich auf die Gnade Gottes angewiesen.

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Augustins ›De libero arbitrio‹ und die Selbstrezeption in Augustins Spätwerk Johannes Brachtendorf (Tübingen)

1.

Können Personen ihren moralischen Charakter wählen?

De libero arbitrio (entstanden in den Jahren 387–395) ist die erste Schrift, in der Augustinus sich ausführlich zu den Themen Freiheit, Erlösung und Gnade äußert. Bekanntlich hat dieses Thema Augustinus bis an sein Lebensende beschäftigt, wobei seine ursprüngliche Position einige Veränderungen erfahren hat. Pelagius, der große Widersacher Augustins in diesen Fragen ab dem Jahr 410, war klug genug, um De libero arbitrio gegen die spätere Position Augustins ins Feld zu führen, wodurch Augustinus zu einer kritischen Revision und einer Neuinterpretation seines Frühwerks aus der Sicht seiner späteren Auffassungen veranlaßt wurde. Obwohl Augustinus in den Retractationes (426/7) zu all seinen literarischen Werken Stellung nimmt, ist seine späte Auseinandersetzung mit dem Gedankengut von De libero arbitrio doch besonders intensiv. Dieser Beitrag soll zeigen, daß und wie der alte Bischof sein frühes Denken kritisiert, weil darin das Verhältnis von Freiheit und Gnade auf unzureichende Weise bestimmt worden sei. Da das vorliegende Buch auf ›Augustinus und Kant‹ bezogen ist, wird auch eine Brücke zum Königsberger Philosophen geschlagen. Kant bringt immer wieder die Gnade Gottes ins Spiel, wenn er über die Bekehrung des Menschen vom Bösen zum Guten spricht. Meine These lautet, daß Kants Auffassung zum Verhältnis von Freiheit und Gnade, wie sie in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft greifbar ist, eher mit Augustins früher Sicht übereinstimmt als mit der späteren. Hätte der späte Augustinus Kants Religionsphilosophie gekannt, dann hätte er sie vermutlich in der gleichen Weise kritisiert wie sein eigenes Denken in De libero arbitrio. Um einen Einstiegspunkt in Augustins Denken zu gewinnen, der für das Vorhaben geeignet ist, und um die Aktualität der hier zu behandelnden Fragestellung zu zeigen, gehe ich aus von einer prominen50

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ten, gegenwärtigen Theorie der Willensfreiheit, nämlich vom sogenannten Kompatibilismus, wie er von Harry Frankfurt 1 entwickelt wurde und hierzulande etwa von Peter Bieri vertreten wird. 2 Der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat seit den 1970er Jahren durch eine Reihe von Beiträgen viel Bewegung in die Frage gebracht, was es heißt, eine Person zu sein und welche Rolle Willensfreiheit für den Begriff der Person spielt. Dieser Position zufolge schließen sich Determinismus und Freiheit nicht aus; vielmehr seien sie eben kompatibel. 3 Frankfurt unterscheidet zwei Ebenen des Wollens. 4 Volitionen erster Ordnung liegen direkt unseren Handlungen zugrunde, denn jede Handlung ist eine gewollte. Personen zeichnen sich nach Frankfurt aber dadurch aus, daß sie zu ihren Volitionen Stellung nehmen können. Anders als bei Tieren führt bei Personen nicht jeder Impuls oder Anreiz gleich zur Ausbildung einer Volition, die eine Handlung verursacht. Vielmehr bestimmen Personen selbst, welche Impulse zu einem handlungsleitenden Wollen werden und welche nicht. Dieses Bestimmen geschieht nach Frankfurt im Licht von Volitionen zweiter Ordnung. Darunter sind fundamentale Werthaltungen oder übergreifende Lebensorientierungen eines Menschen zu verstehen. Frankfurt spricht auch von letzten Zielen eines Menschen, oder davon, worum ein Mensch sich sorgt, 5 oder einfach von seiner Liebe. 6 Personen lenken ihre Handlungen, indem sie nur solche Impulse handlungsleitend werden lassen, die zu den Volitionen zweiter Ordnung passen. Willensfreiheit liegt nach Frankfurt genau dann vor, wenn die Volitionen erster Ordnung den Volitionen zweiter Ordnung entsprechen, denn dann hat ein Mensch genau denjenigen Willen (erster Ordnung), den er haben will (zweite Ordnung). Natürlich stellt sich in diesem Konzept gleich die Frage nach dem Status, der Herkunft und der Beeinflußbarkeit der Volitionen zweiter Ordnung. Nach Frankfurt kann eine Person keine Kontrolle über ihre Liebe ausüben, und zwar aus systematischen Gründen. Freie Entschei1 Dazu vgl. Monika Betzler; Barbara Guckes (Hgg.): Harry G. Frankfurt – Freiheit und Selbstbestimmung. 2 Vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, München 2001. 3 Zur kritischen Prüfung vgl. Johannes Brachtendorf: Personalität und Freiheit. Zur Kritik des Kompatibilismus. 4 Vgl. zum folgenden Harry Frankfurt: Willensfreiheit und der Begriff der Person. 5 Vgl. Harry Frankfurt: Über die Bedeutsamkeit des Sich-Sorgens. 6 Vgl. Harry Frankfurt: Autonomie, Nötigung und Liebe.

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dungen setzen nämlich ihm zufolge immer schon eine Lebensorientierung voraus, aus der heraus sie getroffen werden. Frankfurt schreibt: »Nehmen wir an, daß es jemanden gibt, dem nichts bedeutsam ist. Eine solche Person hat keine Grundlage, auf welcher sie zu der Überzeugung kommen kann, daß ihr etwas bedeutsam ist. Wenn es wirklich stimmt, daß sie sich um nichts kümmert, dann ist es ihr nicht möglich, irgendeine überdachte Entscheidung zu fällen, sich um irgend etwas zu sorgen«. 7 An anderer Stelle heißt es (ebd. 155): »Damit eine Person eine geeignete Grundlage für den Beschluß über ihre letzten Zwecke besitzt, reicht es folglich nicht aus, daß es etwas gibt, das ihr im Voraus wichtig ist; dessen Bedeutung muß dazu noch ihrer unmittelbaren freiwilligen Kontrolle entzogen sein. Es muß, anders gesagt, etwas geben, um das zu sorgen ihr nicht freisteht.« Demnach kann eine Person ihre Liebe oder ihre Lebensorientierung nicht wählen, weil Wahlentscheidungen immer schon eine Lebensorientierung voraussetzen. Das entscheidende Argument für diese These lautet: Freie Entscheidungen sind nur dort möglich, wo es Kriterien gibt, nach denen sie getroffen werden. Gäbe es diese Kriterien nicht, so würde es sich um irrationale Willkürakte handeln, deren Ergebnis zufällig wäre, aber nicht um Willensakte. Diese Kriterien sieht Frankfurt in der bereits bestehenden Liebe einer Person. Die Liebe einer Person kann aber ihrerseits nicht noch einmal Gegenstand ihrer freien Wahl sein, weil es für diese Wahl keine Kriterien mehr gäbe. Unterstünde mein Charakter der direkten Kontrolle meines eigenen Willens, wäre keine begründbare Entscheidung mehr möglich. Anders gesagt: Es gibt keinen neutralen Standpunkt, von dem aus ich über mich selbst bestimmen könnte. Das Bild des Menschen, der am Scheideweg steht und zu wählen hat zwischen dem rechten Pfad und dem linken, ist nach Frankfurt fundamental falsch. Freiheit ist ihm zufolge nur im Rahmen einer gegebenen Ausrichtung des Charakters möglich. Deshalb meint Willensfreiheit, kompatibilistisch gesehen, auch nur die Übereinstimmung der Volitionen erster Ordnung mit den Volitionen zweiter Ordnung, nicht aber die Fähigkeit, über die Volitionen zweiter Ordnung, also die Liebe einer Person, verfügen zu können. 8 Harry Frankfurt: Über die Nützlichkeit letzter Zwecke, 153. Nach Frankfurt besäße eine Person sogar dann noch Willensfreiheit, wenn ein ›Teufel‹ oder ein geschickter ›Neurologe‹ die Volitionen zweiter Ordnung dieser Person von außen determiniert hätte. Vgl. Harry Frankfurt: Drei Konzepte freien Handelns, 93.

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Augustins ›De libero arbitrio‹ und die Selbstrezeption in Augustins Spätwerk

Freilich sind auf der Ebene der Liebe Veränderungen möglich. Peter Bieri (alias Pascal Mercier) spürt in seinen Romanen solchen Vorgängen nach, insbesondere im Nachtzug nach Lissabon, 9 anhand des Berner Lateinlehrers Gregorius, dessen gewohntes Leben eines Tages in sich zusammenbricht. Man könnte hier von einem Bekehrungserlebnis (allerdings ohne religiösen Hintergrund) sprechen, oder von einem Identitätsbruch. Den Bruch in seinem Leben führt der Lehrer Gregorius aber nicht durch eine freie Entscheidung herbei, sondern er erlebt ihn als etwas, das an ihm geschieht, ungewollt und ungeplant, und dem er sich fügen muß, vergleichbar vielleicht mit dem Erlebnis des Apostels Paulus, der bei Damaskus vom Pferd geworfen wurde (Apg 9,3–9), oder auch mit Augustinus, der in den Confessiones rückblickend auf sein Bekehrungserlebnis nicht etwa sagt: ›Ich habe mich zu dir, Gott, bekehrt‹, sondern: »Du, Gott, hast mich zu dir bekehrt« (conf. 8,30: »convertisti enim me ad te«). Die Frage, von der aus ich im folgenden Augustins Denken angehen will, lautet: Kann der Mensch seine moralische Identität wählen? Vermag er darüber zu entscheiden, ob er ein guter Mensch ist oder ein böser? Kann er selbst über die Ausrichtung seiner Liebe bestimmen, also darüber, ob Gott der höchste Gegenstand seiner Liebe ist, so daß er alles andere nur auf Gott hin und in Gott liebt, oder ob er sich selbst am meisten liebt und alles Andere nur um seines eigenen Selbstes willen? Reicht die Kraft der Freiheit so weit, daß wir zwischen einem guten Willen (voluntas bona) und einem bösen Willen (voluntas perversa) wählen können? Oder würde Augustinus den modernen Kompatibilisten recht geben und behaupten, das liberum arbitrium vermöge nicht mehr, als auf der Grundlage und im Rahmen eines bereits so oder so bestimmten Charakters weitere Entscheidungen zu treffen? Zunächst wende ich mich Augustins Schrift De libero arbitrio zu, um zu fragen, wie Augustinus hier über die Möglichkeit eines Wechsels in der Lebensorientierung eines Menschen denkt. Wie beschreibt Augustinus darin den Vorgang der Bekehrung? Und welche Rolle spielt dabei das liberum arbitrium?

9 Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, München 2004. Die zugehörige theoretische Erörterung solcher Umbruchsphänomene findet sich in Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, 414–423.

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2.

Augustins ›De libero arbitrio‹ – moralisches Verdienst als Voraussetzung der Gnade

Entscheidend ist hier das dritte Buch dieses Werkes. Augustinus zufolge besaßen die Ureltern des Menschengeschlechts, Adam und Eva, durchaus uneingeschränkte Freiheit des Willens. Sie konnten frei wählen zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu sich selbst. Insofern besaßen sie also jene Fähigkeit, ihre Lebensorientierung zu wählen, die Frankfurt den Menschen abspricht. 10 Nach Augustinus war dies aber nur vor dem Sündenfall so. Als dessen Folge verloren die Menschen erstens das Wissen um das wahre höchste Gut (›ignorantia‹), dessen Besitz glückselig macht (vgl. lib. arb. 3,51), und zweitens die Fähigkeit, dieses höchste Gut, selbst wenn sie es erkennen, zum Maßstab des Handelns zu machen. Man könnte hier von Willensschwäche sprechen; Augustinus nannte dies ›difficultas‹ (lib. arb. 3,52). Ignorantia und difficultas werden nach Augustinus an alle Nachkommen Adams und Evas vererbt. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Erbsünde, sondern um ein bloßes Erbübel, denn in den Nachkommen der Ureltern tragen ignorantia und difficultas zunächst keinen Schuldcharakter; vielmehr sind sie bloß Hindernisse, die der Mensch auf dem Weg zum Guten überwinden muß. Auch löschen sie das liberum arbitrium im Sinne der Fähigkeit, den moralischen Charakter zu wählen, nicht aus, sondern behindern bloß seinen Gebrauch. Die Behinderung liegt darin, daß die Adamskinder zwar aus eigener Kraft den guten Weg wählen können, ihn aber ohne Gottes Gnadenhilfe nicht zu begehen vermögen. Augustinus macht dies deutlich, wenn er in De libero arbitrio III den ›murrenden Menschen‹ antwortet, die sich darüber beklagen, daß sie mit den Übeln von Unwissenheit und Willensschwäche für eine Sünde bestraft werden, die nicht sie selbst, sondern ihre Ureltern begangen haben: »Wenn Adam und Eva gesündigt haben, was haben denn wir Unglücklichen getan, daß wir mit der Blindheit der Unwissenheit und der Qual des Unvermögens geboren wurden und zuerst als Unwissende uns darin irrten, was wir tun sollten, und dann, als die Gebote der Gerechtigkeit uns eröffnet wurden, lib. arb. 3,52. De libero arbitrio wird im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Augustinus: De libero arbitrio – Der freie Wille. zweisprachige Ausgabe, eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Johannes Brachtendorf (Augustinus – Opera/Werke, Bd. 9). Paragrapheneinteilung nach CAG (auch in der benutzten Ausgabe angegeben).

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sie befolgen wollten, aber es wegen irgendeiner widerstrebenden Notwendigkeit der fleischlichen Begierde nicht vermochten?« 11 Augustinus ruft die derart Murrenden zur Ruhe, indem er auf die Hilfe hinweist, die Gott dem Menschen durch die Sendung Jesu Christi gewährt: »[Es] wird dir nicht als Schuld angerechnet, was du wider Willen nicht weißt, sondern was du, da du es nicht weißt, versäumst zu fragen, und nicht, daß du dich mit deinen verwundeten Gliedern nicht aufraffst, sondern daß du den verachtest, der sie heilen will. Dies sind deine eigenen Sünden. Denn keinem Menschen ist es vorenthalten zu wissen, daß es nützlich ist zu suchen, was man zu seinem Schaden nicht weiß, und daß man seine Schwachheit demütig bekennen muß, damit dem Suchenden und Bekennenden der zu Hilfe kommt, der weder irrt noch Mühe hat, wenn er hilft.« 12 Etwas später heißt es in gleichem Sinne: »Denn nicht, was sie natürlicherweise nicht weiß und natürlicherweise nicht kann, wird der Seele als Schuld angerechnet, sondern was zu wissen sie sich nicht bemüht hat, und daß sie sich nicht bemühte, die Kraft zum rechtschaffenen Handeln zu gewinnen.« 13 Hier ist eine Auffassung des Verhältnisses von liberum arbitrium und göttlicher Gnade erkennbar, die das Modell der »helfenden Hand Gottes« genannt werden kann. Es ist durch folgende Thesen gekennzeichnet: 1) Der gefallene Mensch kann kraft des liberum arbitrium eine Entscheidung für das Gute treffen. 2) Der Umsetzung dieser Entscheidung stellen sich Hindernisse entgegen, deren Existenz der Einzelne aber nicht zu verantworten hat. 3) Gott bietet dem Menschen die Hilfe an, die er braucht, um diese Hindernisse (Unwissenheit, Willensschwäche) zu überwinden. 4) Der Mensch entscheidet frei darüber, ob

Vgl. lib. arb. 3,53: »Si Adam et Eva peccaverunt, quid nos miseri fecimus, ut cum ignorantiae caecitate et difficultatis cruciatibus nasceremur et primo erraremus nescientes quid nobis esset faciendum, deinde ubi nobis inciperent aperiri praecepta iustitiae, vellemus ea facere et retinente carnalis concupiscentiae nescio qua necessitate non valeremus?« 12 lib. arb. 3,53: »non tibi deputatur ad culpam quod invitus ignoras, sed quod neglegis quaerere quod ignoras, neque illud quod vulnerata membra non colligis, sed quod volentem sanare contemnis; ista tua propria peccata sunt. Nulli enim homini ablatum est scire utiliter quaeri quod inutiliter ignoratur, et humiliter confitendam esse inbecillitatem, ut quaerenti et confitenti ille subveniat qui nec errat dum subvenit nec laborat.« 13 lib. arb. 3,64: »Non enim quod naturaliter nescit et naturaliter non potest, hoc animae deputantur in reatum, sed quod scire non studuit et quod dignam facilitati conparandae ad recte faciendum operam non dedit.« 11

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er diese Hilfe annimmt oder nicht. Dies ist die Entscheidung für oder gegen den Glauben; sie ist dem Einzelnen zurechenbar. Der Mensch befindet sich also zunächst in einer Unheilssituation. Er sitzt gleichsam in einem moralischen Sumpf, aus dem er sich nicht selbst herausarbeiten, sondern nur von Gott herausziehen lassen kann. Daß er in diesem sitzt, ist ihm nicht zurechenbar, denn hier handelt es sich um ein ererbtes Übel. Ob er den Sumpf verlassen will und die dazu notwendige Hilfe annimmt, indem er Gottes ausgestreckte Hand ergreift, ist seiner eigenen Entscheidung überlassen, und insofern trägt er Verantwortung. Der Entschluß, ein guter Mensch sein zu wollen, fällt demnach in die Kompetenz des liberum arbitrium. Nur zur Durchführung dieses Entschlusses ist der Mensch zu schwach, so daß Gott seine Gnadenhilfe anbietet. Gott hilft dem Menschen aber nur unter der Bedingung, daß der Mensch zuvor diesen Entschluß gefaßt hat und die angebotene Hilfe annimmt. Die scholastische Tradition spricht hier von der nachfolgenden und mitwirkenden Gnade (gratia subsequens et cooperans), weil sie dem eigenen Entschluß des Menschen zum Guten nachfolgt und bei der Durchführung dieses Entschlusses mitwirkt. Blicken wir zurück auf unsere Ausgangsfrage, ob der Mensch einer Änderung seines moralischen Charakters fähig ist, ob er sich also bekehren kann, dann gilt nach Augustins De libero arbitrio und seinen anderen Schriften aus dieser Zeit folgendes: Der Freiheitsverlust durch die Ursünde äußert sich darin, daß die Menschen zur Ausführung des Guten aus eigener Kraft nicht mehr fähig sind, sondern der Hilfe Gottes bedürfen. Allerdings sind sie auch als gefallene Menschen durchaus noch imstande, sich kraft des liberum arbitrium zum Guten zu entschließen; und dieser freie Entschluß ist sogar die Bedingung für die Erteilung der Gnadenhilfe. Augustinus sieht in dieser Konstruktion eine Möglichkeit, die Gerechtigkeit Gottes zu verteidigen, der manche Sünder durch seine Gnade rechtfertige, andere hingegen zu weiterer Sünde verhärte (vgl. div. qu. 68,5). Gott mache sein Handeln nämlich von der freien Entscheidung des Menschen für oder gegen den Glauben abhängig. Die einen Menschen, die sich frei zum Glauben entschließen, rechtfertige Gott durch seine Gnade; die anderen, die sich frei gegen den Glauben entschließen, bestrafe er durch weitere Verhärtung. Somit sei der Mensch im letzten selbst verantwortlich für das, was Gott an ihm tut. In einer seiner frühen Auslegungen des Römer-Briefes schreibt Augustinus (zu 56

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Röm 9,21): »Aber wie die Barmherzigkeit dem vorausgehenden Verdienst des Glaubens zuteil wird, so auch die Verhärtung dem vorausgehenden Unglauben, so daß wir einerseits das Gute aufgrund der Gabe Gottes, andererseits das Böse aufgrund der Strafe tun; trotzdem wird dabei dem Menschen die Freiheit der Willensentscheidung nicht genommen, sowohl an Gott zu glauben, so daß uns seine Barmherzigkeit trifft, als auch zum Unglauben, so daß darauf seine Strafe folgt.« 14 Daß wir glauben oder nicht glauben, ist demnach unser Werk und unser Verdienst. Daß wir auf Grund des Glaubens Gutes tun, bzw. aufgrund des Unglaubens Böses, sei hingegen Gottes Werk.

3.

Augustins Selbstrezeption in ›De natura et gratia‹ und die Ablehnung des Pelagianismus

Durch die Auseinandersetzung mit Pelagius ab dem Jahr 411 erhielt Augustins De libero arbitrio eine neue Aktualität, denn jener berief sich für seine Position unter anderem auf dessen frühe Werke, was Augustinus zu einer anti-pelagianischen Relecture seiner eigenen Schriften veranlaßte. Diese Selbstrezeption Augustins liegt vor in De natura et gratia (415) und vor allem in seinen Retractationes (426/27). Schon der relativ große zeitliche Abstand zwischen diesen Schriften läßt vermuten, was der Inhalt dieser Schriften durchaus bestätigt, nämlich daß es sich hier eigentlich um zwei Stufen der Selbstrezeption Augustins handelt. Wie Augustinus berichtet, 15 nahm die Auseinandersetzung mit Pelagius ihren Anfang in Rom. Dort las jemand im Beisein des Pelagius aus den Confessiones vor (10,40.45.60), wo es heißt: »da, quod iubes, et iube, quod vis« (›gib was du befiehlst, und [dann] befiehl, was du willst‹). Pelagius habe darauf sofort heftig reagiert und die Berechtigung dieser Bitte bezweifelt, denn sie stelle die persönliche Verantwortung in Frage und unterminiere jedes Tugendstreben. Statt sich einer moralischen Anstrengung zu unterziehen und sich um die Befolgung der Gebote Gottes zu bemühen, nehme Augustinus sozusagen eine unerlaubte Abkürzung, indem er Gott darum bitte zu bewirken, daß er (Augustinus) in Zukunft nach den Befehlen Gottes lebe. 14 15

Vgl. exp. prop. Rm. 62 (ALG), Prolegomena 1,81. Vgl. persev. 20,53 (ALG VII 417). A

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Die Lehre des Pelagius, soweit wir sie Augustins Darstellung entnehmen können (Pelagius’ Schriften sind ja größtenteils verloren) scheint folgende gewesen zu sein (vgl. nat. et gr. 8,51): Die Menschen waren ursprünglich imstande, ihre Lebensorientierung frei zu wählen, und sind es auch weiterhin. Der Sündenfall mache es nicht unmöglich, aus eigener Kraft ein gutes Leben zu führen, sondern erschwere das nur. Gottes Gnade sieht Pelagius zunächst als Schöpfungsgnade, durch die uns das liberum arbitrium voluntatis verliehen wurde, sodann als Erlösungsgnade, mit der Gott uns durch das Gesetz, den Umkehrruf der Propheten und die Botschaft Jesu Christi ermahne, auf den rechten Weg zurückzukehren und ein gutes Leben zu führen. Alles über Sünde und Erlösung Gesagte müsse so verstanden werden, daß unsere Freiheit und Verantwortlichkeit erhalten bleiben. Insbesondere lehnt Pelagius die Lehre von der Veränderung der Natur durch die Ursünde ab, weil das Böse durch Naturalisierung zu einer Notwendigkeit werde, gegen die Menschen nichts ausrichten können. Er beruft sich auf zahlreiche Stellen aus De libero arbitrio. 16 Eine dieser Stellen lautet: »Was immer diese Ursache des Willens [zu sündigen] ist – wenn man ihr nicht widerstehen kann, ist das Nachgeben ohne Sünde; wenn man aber widerstehen kann, gebe man ihr nicht nach, und dann wird auch nicht gesündigt.« 17 Augustinus wirft Pelagius vor, die Gnade Gottes vergeblich zu machen, indem er sie auf eine Ermahnung zum Guten beschränke. Denn wenn es sich nur um eine Ermahnung handele, dann könne der Mensch prinzipiell auch ohne Gnade gut sein, was Pelagius in der Tat behauptet. Daß die Gnade nicht vergeblich ist, heißt für Augustinus: Sie ist notwendig für das Gutsein des Menschen, der sich aus eigener Kraft nicht mehr zum Guten wenden kann. Diese Notwendigkeit interpretiert Augustinus in De natura et gratia aber noch ebenso wie in De libero arbitrio im Sinne der gratia subsequens et cooperans. Der Mensch, selbst wenn er sich zum Glauben entschließt und gut sein will, besitzt – wegen der Schwächung seiner Natur durch den Sündenfall – nicht die Kraft, diesen Entschluß in seiner Lebensführung umzusetzen und bedarf insofern notwendigerweise der Gnade Gottes. Auch der Augustinus hat diese Stellen in seinen Retractationes zusammengestellt (vgl. retr. 1,9,3). 17 lib. arb. 3,50: »quaecumque ista causa est voluntatis, si non ei potest resisti, sine peccato ei ceditur; si autem potest, non ei cedatur et non peccabitur.« 16

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Satz aus Confessiones 10, den Pelagius so scharf kritisiert hatte (»gib was du befiehlst und [dann] befiehl was du willst«), ist wohl durchaus im Sinne der Freiheits- und Gnadenlehre von De libero arbitrio zu verstehen, denn das, worum Augustinus Gott bittet, ist die Kraft, das Gute, das er tun will, auch tun zu können. Die Diskussion mit Pelagius scheint sich um die These zu drehen, daß der Mensch, der sich kraft seines liberum arbitrium zum Gutsein entschlossen hat, diesen Entschluß ohne die Hilfe Gottes in seiner Lebensführung nicht zur Geltung bringen kann. Augustinus bemüht sich rückblickend darum hervorzuheben, daß er in De libero arbitrio beides festgehalten habe, nämlich einerseits die Notwendigkeit der Gnade, und andererseits die Eigenverantwortlichkeit des Menschen. Dazu zitiert er aus der frühen Schrift: So »wird dir nicht als Schuld angerechnet, was du wider Willen nicht weißt, sondern was du, da du es nicht weißt, versäumst zu fragen, und nicht, daß du dich mit deinen verwundeten Gliedern nicht aufraffst, sondern daß du den verachtest, der sie heilen will.« 18 Sich selbst auslegend erklärt er: »So habe ich auch nach meinen Kräften zum rechten Leben aufgemuntert und nicht die Gnade Gottes entwertet, ohne welche die nunmehr verfinsterte und verletzte menschliche Natur nicht erleuchtet und geheilt werden kann.« 19 Wie in De libero arbitrio denkt Augustinus die moralische Anstrengung, zu der er aufmuntert, hier als etwas, das am Anfang stehen muß. Sie ersetze die Gnadenhilfe aber nicht; vielmehr sei diese strikt notwendig, weil die menschliche Natur durch den Sündenfall derart verschlechtert worden sei, daß der Entscheidung zum Guten keine Fähigkeit zu ihrer Durchführung mehr entspreche.

4.

Augustins Selbstrezeption in den Retractationes – die Unverdienbarkeit der Gnade

Eine zweite Stufe der Selbstrezeption Augustins findet sich in den Retractationes sowie in De praedestinatione sanctorum (429). Hier liegt eine deutliche Selbstkritik vor, allerdings mit dem Versuch verbunden, lib. arb. 3,53: »non tibi deputatur ad culpam quod invitus ignoras, sed quod neglegis quaerere quod ignoras, neque illud quod vulnerata membra non colligis, sed quod volentem sanare contemnis.« 19 nat. et. gr. 81 (Übers.: ALG 1,561). 18

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De libero arbitrio im Sinne der späteren Gnadenlehre umzudeuten. In De praedestinatione sanctorum erörtert er dazu einen Spruch des Apostels Paulus (vgl. 1 Kor 4,7): »Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?« Vom Standpunkt dieser Aussage aus beurteilt Augustinus seine frühe Lehre von Freiheit und Gnade deutlich negativ. Er schreibt: »Vor allem durch dieses Zeugnis bin ich auch selbst widerlegt worden. Ich befand mich nämlich in einem ähnlichen Irrtum und wähnte, der Glaube an Gott sei kein Geschenk Gottes, sondern er sei in uns aus eigenem Vermögen […]. Auch ich war der Meinung, daß Gottes Gnade dem Glauben nicht vorausgehe und daß wir nicht erst durch sie zu heilsamen Bitten befähigt werden. Zwar glaubte ich schon, die Verkündigung der Wahrheit müsse notwendig unserem Glauben vorausgehen; der verkündigten Frohbotschaft aber zuzustimmen hielt ich für unsere eigene Sache, die uns aus uns selbst zukommt. Diesen meinen Irrtum zeigen offenkundig einige der Schriften, die ich vor meiner Bischofsweihe verfaßte.« 20 Der eigene Irrtum, den Augustinus hier anprangert, ist offenbar jene Zuordnung von Freiheit und Gnade, die ich als das Modell der »helfenden Hand Gottes« bezeichnet habe. Zu den kritisierten Schriften, die Augustinus vor seiner Bischofsweihe verfaßte, gehört auch De libero arbitrio. Was Augustinus mit seiner Selbstkritik sagen will, ist folgendes: Nimmt man den Satz des Apostels ernst (1 Kor 4,7: »Was hast du, das du nicht empfangen hättest?«), läßt sich die These, die Entscheidung zum Glauben bzw. die Wahl eines moralisch guten Charakters sei unsere eigene Leistung, die dann durch Zuteilung der Gnadenhilfe Gottes belohnt werde, nicht aufrechterhalten. Die Gnade, so meint der alte Bischof von Hippo, folgt der Entscheidung des Menschen für das Gute nicht nur nach, sondern sie geht ihr voraus, indem sie diese Entscheidung herbeiführt (gratia praeveniens; vgl. praed. sanct. 7). Gnade wird nicht erst unter der Bedingung gewährt, daß der Mensch kraft des liberum arbitrium das Gute wählt, sondern ist ihrerseits Bedingung dapraed. sanct. 7 (Übers.: ALG 7,249). »Quo praecipue testimonio etiam ipse convictus sum, cum similiter errarem, putans fidem qua in Deum credimus, non esse donum Dei, sed a nobis esse in nobis, […] Neque enim putabam Dei gratia praeveniri, ut per illam nobis daretur quod posceremus utiliter; nisi quia credere non possemus, si non praecederet praeconium veritatis: ut autem praedicato nobis Evangelio consentiremus, nostrum esse proprium, et nobis ex nobis esse arbitrabar. Quem meum errorem nonnulla opuscula mea satis indicant, ante episcopatum meum scripta.«

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für, daß ein Mensch diese Wahl trifft. Gnade ist nicht daran geknüpft, daß der Mensch eine Vorleistung erbringt und ein Verdienst erwirbt, indem er sich durch moralische Anstrengung für das Gute entscheidet; vielmehr gewährt Gott seine Gnade umsonst und bedingungslos. D. h. sie ist selbst die Bedingung, unter der allein der Mensch sich zum Glauben entschließen kann, woraufhin ihm dann die gratia subsequens verliehen wird, die ihn befähigt, diesen Entschluß auch durchzuführen. Oder im Bild der helfenden Hand formuliert: In der Tat sitzt der Mensch in einem moralischen Sumpf, aus dem er sich nicht selbst befreien kann, weshalb er auf die ihm entgegengestreckte Hand Gottes angewiesen ist (gratia subsequens). Nur ist die Entscheidung des Menschen, die angebotene Hilfe anzunehmen und die Hand Gottes zu ergreifen, keine moralische Leistung des Menschen selbst, derer er sich rühmen könnte, und die ihm Anspruch auf Belohnung verschafft. Vielmehr verdankt sie sich ihrerseits einem ihr noch einmal vorausgehenden Gnadenakt Gottes, der gratia praeveniens. So schreibt Augustinus über seine eigene frühe Römerbrief-Auslegung, wie sie in der Expositio quorundam propositionum ex epistula apostoli (394) vorliegt: »Ich hielt es aber für überflüssig zu untersuchen, wie das Verdienst des Glaubens selbst schon ein Gottesgeschenk ist, und habe darüber geschwiegen.« 21 Nicht beachtet zu haben, daß das Verdienst des Glaubens selbst schon ein Gottesgeschenk ist – das gilt auch im Blick auf De libero arbitrio. In den Retractationes versucht Augustinus am Text von De libero arbitrio zu zeigen, daß die Lehre von der vorausgehenden Gnade Gottes doch schon hier und da hindurchschimmere, und daß sein damaliges Konzept diese Lehre zumindest erahnen lasse. Die späte Selbstinterpretation Augustins habe ich andernorts en détail mit De libero arbitrio verglichen; es ist zu konstatieren, daß diese Selbstdeutung wohl eine Mißdeutung seiner selbst ist. De libero arbitrio bietet keinen Ansatzpunkt für die Einführung einer gratia praeveniens. Vielmehr schließt er diese sogar aus, weil sie der frühen Auffassung widerspricht, der gerechte Gott belohne Wohlverhalten durch seine Gnade und bestrafe dessen Fehlen durch Vorenthalten der Gnade. 22 Offensichtlich praed. sanct. 7 (Übers.: ALG 7,253): »verissime dixi, sed fidei meritum etiam ipsum esse donum Dei, nec putavi quaerendum esse, nec dixi.« 22 Vgl. Johannes Brachtendorf: Einleitung (Augustinus: De libero arbitrio – Der freie Wille), 39–41. 21

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erfordert die Lehre von der gratia praeveniens einen anderen Begriff der Gerechtigkeit Gottes. Der neue Begriff der Gerechtigkeit Gottes setzt voraus, daß aufgrund der Ursünde (peccatum originale) nicht nur ein Erbübel erzeugt und an die Nachkommen weitergegeben wird, nämlich ignorantia und difficultas, die zwar eine Selbstbefreiung des Menschen unmöglich machen, in sich aber als bloße natural gegebene Bedingungen moralisch indifferent sind. Vielmehr denkt der spätere Augustinus an eine wirkliche Erbsünde, d. h. an die Weitergabe des Schuldmoments der Ursünde von Generation zu Generation. 23 Vor dem Hintergrund der Erbsündenlehre kann Augustinus sagen, es entspreche durchaus der Gerechtigkeit Gottes, wenn er alle Menschen verfallen lasse – einschließlich der ungetauft gestorbenen Kinder. Freilich tut Gott dies Augustinus zufolge nicht, sondern aus seiner übergroßen Liebe heraus rettet er die Menschen, indem er durch seine vorausgehende Gnade ihre Entscheidung zum Guten bewirkt und durch die nachfolgende Gnade die Durchführung dieser Entscheidung ermöglicht. Allerdings rettet Gott Augustinus zufolge nicht alle Menschen, sondern nur einige, andere hingegen nicht. Weil aber aufgrund der Universalität der Erbsünde niemand einen Anspruch auf Rettung habe, und weil keiner eine moralische Leistung vorweisen könne, durch die er sich die Gnade verdienen könnte, sei die Rettung bloß einiger keine Frage der Gerechtigkeit Gottes mehr, sondern müsse seiner unergründlichen Weisheit anheimgestellt werden. Kehren wir zurück zur Frage nach der Verfügungsmacht des Menschen über seine eigene moralische Identität. Im Urzustand gab es Augustinus zufolge eine Wahlmöglichkeit. Der Mensch habe im Urzustand wählen können, worauf sich seine fundamentale Liebe richte. Er entschied sich für bestimmte second order volitions. Hinsichtlich des gefallenen Menschen denkt Augustinus in der Phase von De libero arbitrio an eine Einschränkung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung im Sinne einer Wahl seiner Liebe. In späteren Werken hingegen läßt er die Idee einer – wenn auch eingeschränkten – Verfügungsmacht des gefallenen Menschen über seine moralische Identität fallen. Der Entschluß zum Gut-sein-wollen und zur gläubigen Annahme der notwendigen Hilfe Gottes wird nach dem späten Augustinus in letzter Instanz Vgl. nupt. et conc. 1,25 (für einen Vergleich der an dieser Stelle geäußerten Auffassung mit De libero arbitrio vgl. Johannes Brachtendorf: Einleitung, 31–33).

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von Gott selbst, vom Menschen hingegen nur in vorletzter bewirkt. Damit ist dem gefallenen Menschen die Fähigkeit zur Wahl seines moralischen Charakters endgültig abgesprochen.

5.

Augustinus und der Kompatibilismus

Vergleicht man Augustins späte Auffassung mit der von Frankfurt und Bieri her bekannten, dann zeigt sich eine Ähnlichkeit bei der Beschreibung des Menschen im jetzigen Zustand. Ebenso wie die Kompatibilisten des 20. Jahrhunderts ist Augustinus der Meinung, die Freiheit des Menschen, wie wir ihn kennen, reiche zwar aus, um sein Wollen und Handeln im Rahmen einer gegebenen moralischen Identität zu bestimmen, vermöge diesen Rahmen aber nicht zu verlassen. Das liberum arbitrium (bzw. die Willensfreiheit) arbeitet nur im Dienste der grundlegenden Liebe eines Menschen, ohne diese Liebe verändern zu können. Freilich begreift Augustinus diese Liebe des Menschen als eine Liebe zum Bösen, während sie für Bieri und Frankfurt zunächst moralisch unqualifiziert bleibt. Augustins späte Auffassung von Gnade und Freiheit zog immer schon Kritik auf sich, weil ihr zufolge Menschen wegen ihrer Bosheit verurteilt werden, obwohl sie – wenn Gott ihnen seine Gnade vorenthält – keine Chance haben, ihre Bosheit zu überwinden. Hier zeigt sich eine weitere Parallele zwischen dem späten Augustinus und den modernen Kompatibilisten. So hält Frankfurt Personen sogar dann für verantwortlich und somit für schuldfähig, wenn sie aufgrund der Determination ihrer second order volitions durch einen ›Teufel‹ oder einen ›raffinierten Neurologen‹ böse Handlungen begehen. 24 Bieri folgt der Auffassung Strawsons, 25 der zufolge das Verantwortlich-sein einer Person in einem Verantwortlich-gemacht-werden durch die Gemeinschaft gründet, in der die Person lebt. Deshalb ist es Bieri zufolge gerechtfertigt, wenn der Richter den Mörder Rodion Raskolnikow aus Dostojewskis Schuld und Sühne zur Lagerhaft verurteilt, obwohl Raskolnikow überzeugend argumentiert, sein moralischer Charakter sei durch seine Sozialisation in einem Elendsviertel determiniert, so daß er unausweichlich zu dem Entschluß habe kommen müssen, den Raub24 25

Vgl. Harry Frankfurt: Drei Konzepte freien Handelns«, 92–93. Vgl. Peter Strawson: Freiheit und Übelnehmen, 201–233. A

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mord an der alten Pfandleiherin zu begehen. Der Richter verteidigt bei Bieri einfach die Lebensweise seiner moralisch gesinnten Gemeinschaft, indem er den Mörder, der wegen des Mangels an alternativen Möglichkeiten des Wollens vielleicht gar nicht verantwortlich ist, eben verantwortlich macht und folglich verurteilt. 26 Ebenso wie der späte Augustinus halten die modernen Kompatibilisten es für gerechtfertigt, Personen für ihre Willensentschlüsse und Handlungen auch dann zu bestrafen, wenn sie gar nicht anders wollen und handeln konnten. Systematisch gesehen liegt der wichtigste Unterschied zwischen Augustinus und den Kompatibilisten aber darin, daß Bieri und Frankfurt der Meinung sind, der freie Wille könne sich aus notwendigen, begrifflichen Gründen nicht auf die fundamentale Liebe einer Person erstrecken, während Augustinus hier keine notwendige, sondern bloß eine faktische Einschränkung des liberum arbitrium sieht. Hätte es keine Ursünde gegeben, dann könnten wir nach Augustinus weiterhin frei über unsere Liebe bestimmen, wie auch Adam und Eva es vor dem Sündenfall vermochten. Der kompatibilistische Zug in Augustins Lehre von der Freiheit gründet nicht darin, daß Augustinus (wie Frankfurt und Bieri) den Kompatibilismus für wahr und den Libertarismus für falsch hielte, sondern darin, daß der Mißbrauch der ursprünglichen Wahlfreiheit zu einem Verlust der umfassenden Fähigkeit zur Selbstbestimmung geführt hat, so daß den Menschen nun faktisch nichts anderes mehr bleibt als die kompatibilistische Schrumpfform der Freiheit, nämlich die Fähigkeit, das Wollen innerhalb eines vorgegebenen moralischen Charakters zu bestimmen, der vom Wollenden selbst nicht zu durchbrechen ist. Freilich ist auch der spätere Augustinus wie Bieri der Meinung, daß sich die charakterliche Orientierung eines Menschen in fundamentaler Weise ändern kann, und zwar im Sinne eines Identitätsbruches, bei dem der den Bruch erleidende Mensch sich nicht aktiv, sondern rezeptiv verhält. Bieri vergleicht solche Vorgänge allerdings mit anonymen tektonischen Prozessen, in denen sich gleichsam die inneren Erdplatten eines Menschen gegeneinander verschieben (Bieri, 415), während Augustinus in Gott den primär Handelnden sieht (vgl. conf. 8,30).

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Vgl. Peter Bieri; Das Handwerk der Freiheit, 357–361.

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6.

Kant über moralisches Verdienst und Gnade

Wie verhält sich Kant in der Frage einer charakterlichen Selbstbestimmung des Menschen zu Augustinus und zu den modernen Kompatibilisten? Im ersten Stück seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft vertritt Kant zunächst wie Augustinus die Idee einer Urwahl, in der der Mensch seine Lebensorientierung bestimmt. Allerdings stellt er diesen Akt nicht als in einer historischen Vergangenheit geschehen vor, sondern als intelligible, d. h. zeitlich nicht lokalisierbare Tat des je einzelnen Individuums (RGV, B 26 = AA6,26). Hier findet Kant zufolge eine Wahl der obersten Maxime statt, durch die die moralische Qualität des Charakters eines Menschen bestimmt wird. Wer die Neigungen an oberster Stelle in seine Maxime aufnimmt, erwirbt einen moralisch bösen Charakter. Wer hingegen die Befolgung des moralischen Gesetzes zu seiner obersten Maxime macht, erwirbt einen moralisch guten Charakter (RGV, B 33 f. = AA6,36). Faktisch entscheiden sich Kant zufolge alle Menschen, den Neigungen nachzugehen. Dadurch sind sie »radical« (wurzelhaft) böse (RGV, B 26–38 = AA6,32–38), weil die oberste Maxime letztlich alle Handlungen des Menschen bestimmt und darüber hinaus auch alle untergeordneten Maximen des Handelns reguliert. Demnach befinden sich alle Maximen und alle Willensbestimmungen des radikal bösen Menschen in Übereinstimmung mit dem Grundsatz, daß die eigene, egoistisch verstandene Glückseligkeit das oberste Lebensziel sei. Vor dem Hintergrund dieser Konzeption müßte Kant dem späteren, antipelagianisch denkenden Augustinus (und auch den modernen Kompatibilisten) zustimmen in der These, daß Freiheit nur innerhalb einer vorgegebenen, d. h. durch den intelligiblen Sündenfall bestimmten Lebensorientierung möglich sei, diese Orientierung selbst aber nicht zu ändern vermöge. Doch im zweiten Stück der Religionsschrift lenkt Kant seine Konzeption in eine gänzlich andere Richtung. Vor allem führt er nun den Grundsatz an: ›Du kannst, denn du sollst‹. Der radikal böse Mensch weiß, daß sich das moralische Gebot ein guter Mensch zu sein, an ihn richtet. Da er ein guter Mensch werden soll, muß er es Kant zufolge auch werden können, und zwar durch eigene moralische Anstrengung, denn sein Gutsein soll ihm selbst zurechenbar sein. 27 Der böse Mensch 27

Vgl. RGV B 60 = AA 6,50: »Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet: wir sollen A

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vermag demnach seinen Charakter zu revolutionieren und sich in einen guten Menschen zu verwandeln; er muß also die Fähigkeit besitzen, durch eine freie Tat seine moralische Identität in ihr Gegenteil zu verkehren. Dazu tauscht er Kant zufolge seine böse oberste Maxime, die Befriedigung seiner Neigungen an die höchste Stelle zu setzen, gegen die gute oberste Maxime aus, der Erfüllung der Pflicht stets den Vorrang bei der Bestimmung des Willens einzuräumen. Wie dieser Tausch möglich sein soll, ist nach Kant selbst unbegreiflich (vgl. RGV B 49 = AA 6,44 f.). Denn wenn alle neuen Maximen im Licht der moralischen Qualität einer bereits bestehenden höchsten Maxime angenommen werden, und daher stets mit ihr zusammenstimmen müssen, kann man nicht sehen, wie es zum Austausch der höchsten Maxime selbst kommen könnte. Um sich aus einem radikal bösen in einen radikal guten Menschen zu verwandeln, müßte der Mensch zuvor schon gut sein, was er aber defintionsgemäß nicht ist. Die Möglichkeit der Revolution des Charakters ist nach Kant selbst ein Geheimnis, und zwar nicht des Glaubens, sondern der Vernunft. 28 Wenn Kant meint, daß der gefallene Mensch sich kraft freier Entscheidung selbst zu einem guten Menschen machen könne, so entspricht dies zunächst der Position des Pelagius, die Augustinus so heftig bekämpft hatte. Mit dem Prinzip: ›du kannst, denn du sollst‹, bringt sich Kant in eine Gegenstellung zu Augustins These, die man artikulieren könnte als: ›Du weißt, daß du sollst, doch du willst nicht, und selbst wenn du wolltest, könntest du nicht‹. Auch Kants Postulat der Existenz Gottes 29 atmet übrigens den Geist des Pelagianismus, insofern Kant hier argumentiert, es müsse ein allmächtiges, moralisch-weises Wesen geben, das dem Tugendhaften Glückseligkeit verleihe. Warum ist dieses Argument pelagianisch? Weil es Gott als denjenigen einführt, der die guten Menschen belohnt, nicht aber – wie der spätere Augustinus es tun würde – als denjenigen, der den Tugendhaften allererst tu-

jetzt bessere Menschen sein; so folgt unumgänglich: wir müssen es auch können«. Vgl. weiter RGV B 61 = AA 6,51): »[…] weil er ein guter Mensch werden soll, aber nur nach demjenigen, was ihm als von ihm selbst getan zugerechnet werden kann, als moralischgut zu beurteilen ist«. Vgl. auch RGV B 54 f. = AA 6,47 f. 28 Zum »Geheimniß der Erwählung« vgl. RGV B 217 = AA 6,143. Zu den Geheimnissen der Vernunft bei Kant vgl. Johannes Brachtendorf: Die Kritik des Judentums und die Geheimnisse der Vernunft, 151–172. 29 Vgl. KpV A 198–215; RGV B XI-XIII Fn = AA 6,6.

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Augustins ›De libero arbitrio‹ und die Selbstrezeption in Augustins Spätwerk

gendhaft sein läßt, und dem der moralisch gute Mensch sein moralisches Gutsein verdankt. Eine sorgfältige Lektüre der Religionsschrift zeigt aber, daß Kant seinen Pelagianismus in zahlreichen Bemerkungen und Klauseln abmildert und sich auf eine Position hin bewegt, die der früheren Auffassung Augustins, wie sie sich in De libero arbitrio findet, entspricht. Eine einschlägige Passage, in der Kant sich mit der Frage nach der Notwendigkeit der Gnade für die Bekehrung des Menschen befaßt, lautet folgendermaßen: »Gesetzt, zum Gut- oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nöthig, so mag diese nur in der Verminderung der Hindernisse bestehen, oder auch positiver Beistand sein, der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen, und diese Beihülfe annehmen (welches nichts Geringes ist), d. i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxime aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, daß ihm das Gute zugerechnet und er für einen guten Menschen erkannt werde.« 30 Offenbar schließt Kant nicht aus, daß der Mensch zu schwach ist, um sich aus eigener Kraft bekehren zu können und daher einer übernatürlichen Hilfe, d. h. der Gnade Gottes bedarf. Freilich behauptet Kant auch nicht, daß es sich so verhalte. Vielmehr sagt er, daß, falls der Mensch der Gnade bedürfe, er sich jedenfalls zuvor durch eigene moralische Anstrengung würdig machen müsse, diese Hilfe zu empfangen. Dies scheint nun der Position Augustins in De libero arbitrio sehr nahe zu kommen. Falls es sich wirklich so verhält, daß der Mensch sich aus eigener Kraft nicht aus dem moralischen Sumpf befreien kann, in dem er sitzt, muß er doch zuvor ein moralisches Verdienst erwerben, indem er sich zum Gutsein entschließt. Nur unter dieser Bedingung wird ihm, so meinte der frühe Augustinus, die Kraft Gottes zuteil, dank derer er den Entschluß auch zu verwirklichen vermag. Kant modifiziert also seine zunächst pelagianisch angeRGV B 49 = AA 6,44. An anderer Stelle schreibt Kant in ähnlicher Weise (RGV B 62 = AA 6,51 f.): »Nach der moralischen Religion aber […] ist es ein Grundsatz, daß ein jeder, so viel, als in seinen Kräften ist, tun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angeborenes Pfund nicht vergraben (Lukä XIX,12– 16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden«. Hierhin gehören auch zahlreiche Äußerungen, in denen Kant die Güte Gottes und seine Liebe zum Menschen an dessen Würdigkeit bindet (vgl. RGV B 176 = AA 6,120; RGV B 214 = AA 6,141; RGV B 217 = AA 6,143; RGV B 220 = AA 6,145 f. mit Fn), d. h. an eine vorausgehende Anstrengung des Menschen, Gott moralisch wohlgefällig zu sein.

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setzte Position, indem er – allerdings bloß hypothetisch – den Gedanken einer gratia subsequens et cooperans zuläßt. Möglicherweise reicht die Kraft des liberum arbitrium nicht aus, die Revolution des Charakters zu vollziehen und die moralische Identität eines Menschen in ihr Gegenteil zu verkehren, aber eine Eigenleistung, durch die er sich der Kraftvermehrung durch die Gnadenhilfe würdig macht, muß auf jeden Fall am Anfang stehen. Augustinus schreibt am Ende seines Lebens über seine frühe Auffassung von der Gnade: »Ich befand mich nämlich in einem […] Irrtum und wähnte, der Glaube an Gott sei kein Geschenk Gottes, sondern er sei in uns aus eigenem Vermögen. […] der verkündigten Frohbotschaft zuzustimmen hielt ich für unsere eigene Sache, die uns aus uns selbst zukommt.« 31 Die gleiche Kritik, die der späte Augustinus hier an De libero arbitrio übt, hätte er vermutlich auch Kants Gnadenlehre entgegengebracht, hätte er diese gekannt. Auch Kant, so hätte Augustinus gesagt, hält es für überflüssig zu untersuchen, wie das moralische Verdienst der Willensanstrengung selbst schon ein Gottesgeschenk ist. 32 Kant stimmt mit Augustins De libero arbitrio darin überein, daß ein Mensch, auch als gefallener, noch Zugriff auf seine Lebensorientierung im Ganzen besitzt, und auch darin, daß seine Freiheit stark genug ist, ihm Umkehr zu ermöglichen, auch wenn dabei vielleicht eine Mithilfe Gottes notwendig ist. Er unterscheidet sich aber vom späteren Augustinus und von den modernen Kompatibilisten, insofern beide behaupten, das liberum arbitrium könne nur noch im Rahmen einer bereits bestehenden Liebe wirken. Die Intention Augustins wird m. E. erst von der Gnadenlehre her wirklich deutlich. Nach der frühen Position Augustins, und auch nach derjenigen Kants, erlöst Gott diejenigen Menschen, die es aufgrund ihrer eigenen moralischen Anstrengung verdient haben, erlöst zu werden. Darin sieht der späte Augustinus jedoch eine Unterschätzung der Gnade Gottes. Ihm zufolge erlöst Gott solche, die es nicht verdient haben, erlöst zu werden.

praed. sanct. 7 (Übers.: ALG 7, 249: »cum similiter errarem, putans fidem qua in Deum credimus, non esse donum Dei, sed a nobis esse in nobis, […] ut autem praedicato nobis Evangelio consentiremus, nostrum esse proprium, et nobis ex nobis esse arbitrabar.« 32 Vgl. praed. sanct. 7 (Übers.: ALG 7,253). 31

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Zur Frage nach dem allgemeinen Heilswillen Gottes im Denken Augustins Eine Untersuchung zu ausgewählten Kapiteln von ›De civitate Dei‹ Theresia Maier (Eichstätt / Tübingen) 1.

Einleitung

1.1 Zum allgemeinen Heilswillen Gottes Unter dem Begriff des allgemeinen oder universellen Heilswillens Gottes wird in der katholischen Dogmatik heute der Glaubenssatz zusammengefaßt, »daß Gott [das] Heil für ausnahmslos alle Menschen will, es für alle verheißen hat und alle auf dem Weg zu diesem Ziel wirkmächtig begleitet.« 1 Man spricht daher auch von ›Heilsuniversalismus‹. Ältere Dogmatiken führen neben dem allgemeinen und bedingten Heilswillen Gottes (voluntas antecedens et condicionata) auf formal gleichwertiger Ebene den besonderen (partikulären) Heilswillen Gottes (voluntas consequens et absoluta) an. 2 Ebenso wird der Prädestination, d. i. hier die göttliche Vorherbestimmung eines Teils der Menschheit zum Heil, die Reprobation gegenübergestellt. Letztere bedeutet die ewige Verwerfung bestimmter Menschen aufgrund des göttlichen Vorherwissens ihrer Sünden. 3 Sie ist zwar nicht formell definiert, galt jedoch als allgemeine Lehre der Kirche. Das II. Vatikanische Konzil hat demgegenüber in der Kirchenund in der Pastoralkonstitution der Gültigkeit des propositum salutis Ausdruck verliehen: 4

Karl-Heinz Menke: Heilsuniversalismus, 1349; vgl. Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, 283. 2 Vgl. Ludwig Ott: Grundriß der katholischen Dogmatik, 288. 3 Vgl. Ludwig Ott: Grundriß der katholischen Dogmatik, 295. 4 LG 16, GS 22; deutsche Übersetzung aus Rahner/Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium (Hervorhebungen von T. M.). 1

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»Salvator velit omnes homines salvos fieri« (LG 16) »Cum enim pro omnibus mortuus sit Christus cumque vocatio hominis ultima revera una sit, scilicet divina, tenere debemus Spiritum Sanctum cunctis possibilitatem offerre ut, modo Deo cognito, huic paschali mysterio consocientur.« (GS 22)

[Gott] ›als Erlöser will, daß alle Menschen gerettet werden.‹ ›Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, daß der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein.‹

Herbert Vorgrimler hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß dem allgemeinen Heilswillen Gottes keine quasi-gleichwertige Alternative mehr zur Seite gestellt werden kann: »Der […] allumfassende Heilswille Gottes besagt, daß das Heil nicht eine von zwei Möglichkeiten ist, neben der Unheil und ewige Verdammnis als gleichrangige zweite Möglichkeit stünde, wobei das Geschöpf Gottes in seiner Freiheit dazu verurteilt wäre, autonom zwischen beiden Möglichkeiten wählen zu müssen. Die zuvorkommende, liebende und vergebende Gnade Gottes bildet den Raum der Freiheitsentscheidungen der einzelnen Menschen.« 5

1.2 Biblische Grundlagen Die Konzilsväter führen in Lumen gentium zur Begründung etliche Belege aus dem Neuen Testament an, 6 die loci classici für den allgemeinen Heilswillen Gottes sind, allen voran 1 Tim 2,4: »Er will, daß alle Menschen gerettet werden […]«. Es lassen sich aber bereits auch im Alten Testament Belege finden, die auf den allgemeinen Heilswillen Gottes hindeuten. 7 Unter den relevanten Texten im Neuen Testament Vgl. Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, 284; bereits laut Karl Rahner: Allgemeiner Heilswille, 166, ist »der Heilswille auf jeden Fall nicht von der gleichen Art (in einer nur angemaßten metaphysischen Einordnung in ein homogenes System) zu erachten wie jener ›Wille‹, mit dem Gott das Böse (und seine Folgen) ›zuläßt‹.« 6 Zur Problematik im NT: Gerhard Lohfink: Universalismus und Exklusivität des Heils im NT. 7 Z. B. Gen 9,8–17: Gottes Bund mit Noah umfasst »alle[n] lebenden Wesen, alle[n] Wesen aus Fleisch auf der Erde«; Gen 12,13 u. 18,18: durch Abraham »sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen«; vor allem im Buch Jesaja findet man das Motiv der sog. ›Völkerwallfahrt‹ (etwa Jes 2,2–5; 25,6–8; 45,20; 56,6 f.), in dem ausdrücklich alle 5

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ragt besonders der Römerbrief hervor, der – v. a. wiederum in Röm 9 bis 11 – erkennen läßt, daß bereits Paulus um das Verhältnis von Gnade und Freiheit, etwa im Hinblick auf den Sinn der ›Verstockung‹ Israels für den Heilsplan Gottes, gerungen hat – und an dessen Auslegung sich seither die Geister scheiden. Der Problemcharakter der Frage nach dem allgemeinen Heilswillen Gottes wurzelt also bereits im disparaten Zeugnis der Bibel.

2.

Zur systematisch-theologischen Einordnung und zum Problemcharakter der Frage

In der klassischen Gliederung der dogmatischen Traktate wird die Frage nach dem allgemeinen Heilswillen vor allem im Zusammenhang mit der individuellen Eschatologie behandelt; ein alternativer Ansatz, der sich nicht auf diesen Ausschnitt beschränkt, sondern davon ausgeht, daß der allgemeine Heilswille Gottes wie eine Art Generalbaß die einzelnen Traktate durchzieht, soll im folgenden zugrunde gelegt werden. 8 So wird die Eschatologie des einzelnen in einen systematischtheologischen Gesamtzusammenhang eingebettet, der im folgenden kurz skizziert werden soll.

2.1 Gotteslehre und Theodizee Der allgemeine Heilswille Gottes berührt zum einen den theologischen Traktat der Gotteslehre. Er kann sich dabei als Problem zeigen, wenn man annimmt, Gott müsse seinen Willen verwirklichen können, weil ihm ja das Prädikat der Allmacht zukomme: Wenn er zwar alle Menschen retten wollte, es aber nicht vermöchte, wäre er nicht allmächtig. Wenn Gott gemäß seiner Gerechtigkeit, die darin besteht, daß er jedem das Seine zuteilt, zum Heile führte, dürfte er niemanden rechtfertigen (Röm 3,23). Wenn Gott nun aus Barmherzigkeit für alle einen Weg zum Heil eröffnet, erschiene es wiederum ungerecht, wenn er – in seiner Allmacht und seinem Allwissen – nicht zugleich bewirkte, daß Völker in die göttliche Heilsverheißung miteinbezogen werden. Vgl. Erich Zenger: Jahweh, Abraham und das Heil der Völker. 8 Vgl. Filipe J. Couto: Hoffnung im Unglauben, 2. A

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auch alle zur Verwirklichung dieses Heiles gelangen können. 9 Das theologische Problem besteht also darin, wie Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Allmacht Gottes zusammenzudenken sind.

2.2 Christologie und Ekklesiologie Der Heilswille Gottes steht außerdem im Spannungsverhältnis mit einigen Axiomen der Christologie und der Ekklesiologie. Wie läßt sich der allgemeine Heilswille Gottes mit der Verknüpfung des Heils an den durch Schrift und Tradition vermittelten Glauben (vgl. sola scriptura bzw. sola fides) 10 zusammendenken? Wie verhält er sich zur (alleinigen) Heilsmittlerschaft Jesu Christi (Apg. 4,11 f.)? Und wie steht es schließlich mit der Heilsnotwendigkeit der Kirche (extra ecclesiam nulla salus)? 11 Nicht umsonst erscheint die christologische Fundierung von Heil im Kontext einer pluralistischen Theologie der Religionen als problematisch. 12 Allerdings liegt gerade im Christusereignis ein nicht zu unterschätzender positiver Beitrag für die dringende Frage nach dem Heil der Menschen: denn »das in [der] Offenbarung bezeugte Gerettet-Sein eines Menschen (Jesus)« dient ja »als der dogmatische Grund für die ernste Annahme der realen Möglichkeit des Heiles aller Menschen.« 13

2.3 Gnadenlehre und Freiheit des Menschen Der allgemeine Heilswille Gottes betrifft ferner die grundlegende Frage, wie das Verhältnis von (göttlicher) Gnade und (menschlicher) Freiheit zu denken sei: Wenn man davon ausgeht, daß sich der Mensch in Vgl. Filipe J. Couto: Hoffnung im Unglauben, 284. Die traditionelle Lösung dieses Dilemmas besteht im ›ex voto‹, vgl. Filipe J. Couto: Hoffnung im Unglauben, 223. 11 Vgl. Bernhard Dörr: Heilswille Gottes, 1356: »Das traditionelle Axiom ›Extra ecclesiam nulla salus‹ kann im Licht des heutigen Erkenntnisstandes als hoffnungsgestimmtes ›Intra ecclesiam salus‹ verstanden werden.« 12 Vgl. John Hick oder Perry Schmidt-Leukel: Grundkurs Fundamentaltheologie, zitiert John Hick (200), demzufolge »die Wirksamkeit Gottes in Jesus von der gleichen Art ist wie die Wirksamkeit Gottes in anderen großen menschlichen Mittlern des Göttlichen«. 13 Filipe J. Couto: Hoffnung im Unglauben, 285. 9

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seiner Freiheit dem Heil Gottes auch verweigern kann, scheitert die Verwirklichung des universellen Heiles nicht am Willen Gottes, sondern am Willen des Menschen. Wenn man annähme, Gottes Gnade und Allmacht würden sich einfach über den menschlichen freien Willen hinwegsetzen, erschiene dieser belanglos. Genau dieses Problem stellt sich etwa bezüglich der sog. Apokatastasis. Diese dem östlichen Theologen Origenes († 253) zugeschriebene Position besagt, daß letzten Endes eine völlige Wiederherstellung des Urzustandes der Schöpfung erfolge, die auch alle vernunftbegabten Wesen umfasse, also auch alle Menschen und sogar alle Engel, d. h. auch schwere Sünder und abgefallene Engel. Augustinus bezieht dazu eindeutig ablehnend Stellung (civ. 21,17) und liegt damit auf einer Linie mit der späteren kirchlichen Verurteilung dieser Position. 14 Will man demzufolge die menschliche Freiheit ernstnehmen, muß man ihr wohl eine – wie auch immer geartete – Wirksamkeit einräumen. Das schließt aber wiederum – zumindest hypothetisch – die Möglichkeit ein, daß Vernunftwesen ihr ewiges Heil aus Freiheit verlieren könnten. Dieser »hypothetische Charakter des Heilsverlustes« 15 steht ebenso unter dem eschatologischen Vorbehalt, wie die Aussage, daß sich kein Mensch seines Heiles sicher sein kann. 16

2.4 Anthropologie und Eschatologie Geht man weiter davon aus, daß sich in jedem Menschen ein desiderium naturale (eine ›metaphysische Naturanlage‹) findet, daß also die vita beata das naturgemäße Ziel menschlichen Lebens sei, oder auch nur, daß alle Menschen versuchen, ihrer Situation und ihrem Handeln einen Sinn abzugewinnen, so kann dies als anthropologische Entsprechung zu dem betrachtet werden, was theologisch im allgemeinen Heilswillen Gottes ausgesagt ist. 17 Da nun dieses desiderium des Menschen diesseitig scheitert, weil Glückswürdigkeit und Glück eben nicht zufriedenstellend zusammen14 Synode von Konstantinopel anno 543: DH 411; 5. Ökumenisches Konzil von Konstantinopel anno 553: DH 433; vgl. dazu Wilhelm Breuning: Apokatastasis. 15 Filipe J. Couto: Hoffnung im Unglauben, 288. 16 Hartmut Rosenau: Allversöhnung, 323, nennt indes die ›Allversöhnung‹ »eine durchaus begründete Konzeption mit Anspruch auf theologische Verbindlichkeit.« 17 Vgl. Filipe J. Couto: Hoffnung im Unglauben, 280 f.

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gehen, 18 wie es jedoch für die Sinnhaftigkeit der unbedingten Verpflichtung des Sittengesetzes erforderlich wäre, ergibt sich hier die Verbindung zur Frage nach dem ›ewigen Leben‹, zur Eschatologie. Schließlich ist die Entscheidung über das endgültig-ewige Ergehen der Menschen bereits in der Schrift mit Auferstehung und Gericht verknüpft. 19

3.

Augustinus: ›De civitate Dei‹

Vor dem Hintergrund dieses eben skizzierten Spektrums von Fragen soll nun die Position Augustins anhand einiger ausgewählter Abschnitte seiner Schrift De civitate Dei untersucht werden. Dabei muß klar sein, daß Augustinus das theologiegeschichtlich junge dictum eines allgemeinen Heilswillens Gottes höchstens implicite kennt. Keinesfalls wäre es zulässig, eine theologische Position des 20. Jahrhunderts retrospektiv an Augustinus heranzutragen, wohl aber, aufgrund einer sorgfältigen Lektüre von De civitate Dei zu einer differenzierten Darstellung des Problems zu gelangen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß die Rezeptionsgeschichte den differenzierten und problembewußten Ansätzen Augustins teilweise nicht gerecht wird, wie folgendes Urteil zeigen mag: »Der die westliche Eschatologie prägende Widerspruch gegen diese Konzeption [der Apokatastasis, T. M.] kommt entscheidend von Augustinus, der mit Sicherheit um den doppelten Ausgang des Gerichtes weiß, diesen als notwendige Voraussetzung für den Entscheidungsernst des Christseins erachtet und damit zweifelsohne auch viel vom biblischen Sinn der Gerichtsverkündigung aufdeckt, der sich andererseits aber auch – biblisch nicht so gestützt – merkwürdig ungerührt mit dem Schicksal endgültig Verdammter abfindet und darin sogar einen Beitrag zur harmonischen Ausgewogenheit der Schöpfung sieht.« 20 Zutreffend sieht Breuning, daß Augustinus an einem doppelten Ausgang des Gerichts festhält. Die »Sicherheit« gewinnt Augustinus indes vor allem auf der Grundlage des Zeugnisses der Schrift (vgl. civ. 20,1), jedoch betont er, daß wir Gottes Urteil über den Menschen nicht 18 19 20

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Eindrücklich schildert Augustinus dies in civ. 20,2. Z. B. Mt 25, 31–46; Offb 20. Wilhelm Breuning: Apokatastasis, 823.

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wissen können und deshalb nicht über uns selbst oder andere endgültig befinden können. Daß sich Augustinus »merkwürdig ungerührt mit dem Schicksal endgültig Verdammter« abfinde, indem er es positiv umdeutet und damit nicht mehr ernstzunehmen scheint, läßt sich bei der Lektüre von De civitate Dei nicht so recht nachvollziehen.

3.1 Das eloquentia-Argument (civ. 11,18) Die »harmonische Ausgewogenheit der Schöpfung«, von der Breuning spricht, meint wohl die Argumentation Augustins in De civitate Dei 11,18, die sich klar umgrenzt und relativ abgeschlossen präsentiert und daher kurz als eloquentia-Argument bezeichnet werden könnte. Der Kontext der Stelle ist die Frage, wie es sein kann, daß es in der Welt, die Schöpfung eines guten Gottes sein soll, etwas Böses geben kann. Augustinus versucht nun, im Rückgriff auf eine Analogie aus seiner eigenen Disziplin, der Rhetorik, die Existenz von Gegensätzlichem (opposita, contraposita) in der Welt zu erklären, 21 und resümiert: civ. 11,18: »sicut ergo ista contraria contrariis opposita sermonis pulchritudinem reddunt: ita quadam non verborum, sed rerum eloquentia contrariorum oppositione saeculi pulchritudo componitur.«

›Ebenso also wie diese Gegensätze dadurch, daß sie ihrem jeweiligen Gegenteil gegenübergestellt sind, die Schönheit einer Rede ausmachen: so wird die Schönheit der Welt durch eine gewisse Redekunst – nicht der Worte, sondern der Tatsachen – in der Gegenüberstellung von Gegensätzen zuwege gebracht.‹

Wie der gute Redner zum Schmuck der Rede (ornamenta locutionis) Antithesen einsetze, so verfüge auch Gott über eine Beredsamkeit (eloquentia), die sich nicht auf Worte, sondern auf Dinge (oder besser: Tatsachen) beziehe und mittels derer er die Schönheit (pulchritudo) Dem Zitat voraus geht folgendes, civ. 11,18: »neque enim deus ullum, non dico angelorum, sed vel hominum crearet, quem malum futurum esse praescisset, nisi pariter nosset quibus eos bonorum usibus commodaret atque ita ordinem saeculorum tamquam pulcherrimum carmen etiam ex quibusdam quasi antithetis honestaret. antitheta enim quae appellantur in ornamentis elocutionis sunt decentissima, quae Latine ut appellentur opposita, vel, quod expressius dicitur, contraposita, non est apud nos huius uocabuli consuetudo, cum tamen eisdem ornamentis locutionis etiam sermo Latinus utatur, immo linguae omnium gentium. his antithetis et Paulus apostolus in secunda ad Corinthios epistula illum locum suaviter explicat, ubi dicit […].«

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der Welt bewirke, die sozusagen als wunderschönes Gedicht erscheint (tamquam pulcherrimum carmen). Da Paulus der antiken Tradition zufolge als rhetorisch geschult galt, und weil Briefe neben den Reden in der Tat zu den Gegenständen der Rhetorik zählten, kann Augustinus hier den Apostel als Kronzeugen anführen. Der griechische Begriff für den Redeschmuck (ksmo@) erleichtert es uns, zu verstehen, wie naheliegend der Brückenschlag vom ksmo@ der Rede zum ksmo@ der Schöpfung ist: dem griechischen Begriff ksmo@ entspricht ja auf lateinischer Seite sowohl pulchritudo bzw. ornatus (speziell für den Redeschmuck), als auch saeculum oder mundus (die Welt, Schöpfung) und – für Augustinus zentral – der ordo. Es läßt sich dennoch eine gewisse Spannung feststellen zwischen der – biographisch bedingten – großen Vertrautheit (auch seines Publikums) mit der antiken Rhetorik, deren ästhetische Maßstäbe für Augustinus wohl immer noch gelten, und dem Bestreben eines christlichen Intellektuellen, sich vom heidnischen kulturellen Erbe abzugrenzen. 22

3.2 Begrenzte Urteilsfähigkeit des Menschen aufgrund des peccatum originale Augustinus schließt einen weiteren Gedanken an: Wenn an der Schönheit und Gutheit der Schöpfung festzuhalten ist, stammt das, was uns schlecht an ihr scheint, nicht von ihr oder gar von ihrem Schöpfer, So führt Augustinus als Belege biblische Texte an und nicht die Meisterschaft Ciceros, obwohl er sich doch früher eben an der stilistischen Unzulänglichkeit der biblischen Sprache (im Vergleich mit Cicero) gestoßen hatte (conf. 3,9): »itaque institui animum intendere in scripturas sanctas […] non enim sicut modo loquor, ita sensi, cum attendi ad illam scripturam, sed visa est mihi indigna, quam Tullianae dignitati compararem.« – In den Confessiones hatte sich Augustinus wiederholt sehr abfällig über die Rhetorik geäußert, von der er sich damals losgesagt hat, z. B. conf. 3,7: »inter hos ego imbecilla tunc aetate discebam libros eloquentiae, in qua eminere cupiebam fine damnabili et ventoso per gaudia vanitatis humanae«; vgl. conf. 9,2: »et placuit mihi in conspectu tuo non tumultuose abripere, sed leniter subtrahere ministerium linguae meae nundinis loquacitatis, ne ulterius pueri meditantes non legem tuam, non pacem tuam, sed insanias mendaces et bella forensia mercarentur ex ore meo arma furori suo.« In civ. 19,4 illustriert er anhand von Ciceros Trostschrift (consolatio) über den Tod seiner Tochter Tullia (45 v. Chr.) die Vergeblichkeit der Rhetorik hinsichtlich der eigentlichen Probleme der Menschen: »quam lamentatus est Cicero in consolatione de morte filiae, sicut potuit; sed quantum est quod potuit?« – vgl. zur Frage nach dem Verhältnis Augustins zur klassischen Rhetorik: Peter Prestel: Rezeption der ciceronischen Rhetorik durch Augustinus. 22

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sondern aus unserer unzulänglichen Wahrnehmung. Über die Stichworte decus und artifex läßt sich dabei die Verbindung zum eloquentia-Argument herstellen. civ. 12,4: »cuius ordinis decus nos propterea non delectat, quoniam parti eius pro condicione nostrae mortalitatis intexti universum, cui particulae, quae nos offendunt, satis apte decenterque conveniunt, sentire non possumus. unde nobis, in quibus eam contemplari minus idonei sumus, rectissime credenda praecipitur providentia conditoris, ne tanti artificis opus in aliquo reprehendere vanitate humanae temeritatis audeamus.«

›Die Schönheit dieser Ordnung [sc. der vergänglichen Dinge] erfreut uns deswegen nicht, weil wir – verwoben mit einem Teil des Universums infolge der Situation unserer Sterblichkeit – dieses Universum nicht wahrnehmen können, zu dem die Teilchen, an denen wir uns stoßen, in ausreichend angemessener und geziemender Weise passen. Daher wird uns geboten, an die Vorsehung des Schöpfers zu glauben, wo wir nicht sonderlich geeignet sind, dieser Vorsehung ansichtig zu werden, damit wir nicht in der Eitelkeit menschlicher Vermessenheit wagen, das Werk eines so großen Künstlers in irgendeinem Punkt zu tadeln.‹

Diese unzulängliche Wahrnehmung (vgl. in diesem Sinne auch civ. 11,22), die uns ein definitives Urteil über die Schönheit und Zweckmäßigkeit der Welt verbietet, gründet in unserer Sterblichkeit (mortalitas), die wiederum Folge der Sünde ist. 23 Denn die Notwendigkeit des Todes und das non posse non peccare (nicht umhinkommen, zu sündigen, vgl. nat. et gr. 57) sind gewissermaßen in die Natur des Menschen übergegangen: civ. 14,1: »[…] a quibus admissum est tam grande peccatum, ut in deterius eo natura mutaretur humana, etiam in posteros obligatione peccati et mortis necessitate transmissa.«

›[…] von denen eine so große Sünde begangen wurde, daß durch diese die menschliche Natur zum Schlechteren hin verändert wurde, weil die Schuldenlast der Sünde und die Notwendigkeit des Todes sogar noch auf die späteren überging.‹

Was die »in Nordafrika im Gegensatz zu Rom und zum Osten bereits fest verwurzelte Lehre von der Ursprungssünde« betrifft, was Augustinus von Tertullian beeinflußt; vgl. Otto Hermann Pesch/Albrecht Peters: Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, 17.

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Das fehlende Urteilsvermögen des Menschen erstreckt sich laut Augustinus dann auch auf die eschatologischen iudicia Gottes: civ. 21,12: »sed poena aeterna ideo dura et iniusta sensibus videtur humanis, quia in hac infirmitate moribundorum sensuum deest ille sensus altissimae purissimaeque sapientiae, quo sentiri possit quantum nefas in illa prima praevaricatione commissum sit.«

›Aber die ewige Strafe erscheint in der menschlichen Wahrnehmung deswegen hart und ungerecht, weil in dieser Schwachheit der todkranken Sinne jener Sinn für die höchste und reinste Weisheit fehlt, durch den wahrnehmbar ist, welch großer Frevel mit jener ersten Übertretung begangen wurde.‹

Diese eingeschränkte Urteilsfähigkeit der Menschen bewirkt also laut Augustinus, daß Menschen gar nicht in der Lage sind, selbst über die Schöpfung oder über ihr Geschick zu befinden, sondern dazu auf die göttliche Offenbarung angewiesen sind. In diesen Zusammenhang gehört auch die Augustinische Rede von der ›massa damnata‹, deren Erwähnung manchmal mißverständlich erscheint. Die einschlägigen Stellen in De civitate Dei 24 sprechen m. E. nicht so sehr von einer damnatio, die Gott vorausweiß und im Gericht verhängen wird, sondern von der damnatio, die den postlapsarischen Status des Menschen kennzeichnet. In diese Situation greift das göttliche Gnadenhandeln ein.

3.3 Eschatologischer Vorbehalt Für Augustinus ist gewiß, daß sich Gottes Urteile schließlich, d. h. am Gerichtstag, als höchst gerecht herausstellen werden (apparebunt esse iustissima), so daß kein Raum mehr bleibt, uns gemäß unserer Gerechciv. 14,26: »verum tamen omnipotenti deo […] non defuit utique consilium, quo certum numerum civium in sua sapientia praedestinatum etiam ex damnato genere humano suae civitatis impleret, non eos iam meritis, quando quidem universa massa tamquam in vitiata radice damnata est, sed gratia discernens et liberatis non solum de ipsis, verum etiam de non liberatis, quid eis largiatur, ostendens.« civ. 15,1: »nam quantum ad ipsum adtinet, ex eadem massa oritur, quae originaliter est tota damnata; sed tamquam figulus deus (hanc enim similitudinem non inpudenter, sed prudenter introducit apostolus) ex eadem massa fecit aliud vas in honorem, aliud in contumeliam.« – civ. 15,22: »Adam, ex cuius origine damnata, veluti massa una meritae damnationi tradita […]« – civ. 21,12: »hinc est universa generis humani massa damnata.«; (Hervorheb. von T. M.) vgl. dazu Allen Fitzgerald, Damnatio, ferner Karl Rahner: Heilswille Gottes, 166 f. 24

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tigkeitsmaßstäbe zu beschweren (vgl. inperita querella); die Gerechtigkeit Gottes kann auch voreschatologisch im Glauben angenommen werden. 25 civ. 20,2: »ubi hoc quoque manifestabitur, quam iusto iudicio dei fiat, ut nunc tam multa ac paene omnia iusta iudicia dei lateant sensus mentesque mortalium, cum tamen in hac re piorum fidem non lateat, iustum esse quod latet.«

›Dort wird sich auch folgendes herausstellen: nämlich durch welch gerechtes Urteil Gottes es geschieht, daß jetzt so viele, ja sogar fast alle gerechten Urteile Gottes den Sinnen und Gedanken der Sterblichen verborgen sind, ohne daß in dieser Angelegenheit dem Glauben der Frommen verborgen ist, daß gerecht ist, was da verborgen ist.‹

Der eschatologische Vorbehalt, unter dem unser Urteil steht, betrifft ferner nicht nur den individuellen Ausgang der Geschichte, sondern auch den kollektiven, wie Augustinus im Blick auf die beiden civitates zeigt: 26 Die Tatsache, daß Irdisches und Himmlisches in dieser Weltzeit miteinander verschränkt und vermischt sind, ist für Augustinus wiederum eine Mahnung, mit vorschnellen Urteilen zurückhaltend zu sein. Aus diesem Grund umfaßt etwa auch die Fürbitte der Kirche zunächst alle Menschen: »sed quia de nullo certa est [sc. ecclesia], orat pro omnibus« (civ. 21,24), auch wenn die Erhörung ihrer Fürbitte nicht bei ihr liegt.

3.4 Auseinandersetzung mit der Apokatastasis und anderen Entschuldigungs-Strategien (civ. 21,17–27) In den letzten zehn Paragraphen (17–27) des 21. Buches setzt sich Augustinus mit der Apokatastasis-Lehre sowie mit einer Reihe von Positionen auseinander, die eine irgendwie gestufte Heilsgewißheit für eine

25 civ. 20,2: »iste quippe dies iudicii proprie iam vocatur, eo quod nullus ibi erit inperitae querellae locus, cur iniustus ille sit felix et cur ille iustus infelix. […] non solum quaecumque tunc iudicabuntur, verum etiam quaecumque ab initio iudicata et quaecumque usque ad illud tempus adhuc iudicanda sunt, apparebunt esse iustissima.« 26 civ. 11,1: »de duarum civitatum, terrenae scilicet et caelestis, quas in hoc interim saeculo perplexas quodam modo diximus invicemque permixtas, exortu et excursu et debitis finibus, quantum valuero, disputare«; vgl. civ. 18,1.

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bestimmte und bestimmbare Gruppe von Geschöpfen vertreten. 27 Er weist derartige Ansätze als scheinbares Mitleid (misericors videbatur; videtur sentire clementius, civ. 21,17) zurück und stützt sich dabei auf die Autorität der Schrift (vgl. errare deformius et contra recta dei verba perversius, ebd.). 28 Den einzelnen Kompromisse zufolge, die Mitchristen Augustins vorschlagen, werde Rettung vor der Verdammung jeweils bewirkt durch – die intercessio sanctorum, die Fürbitte der Heiligen beim Jüngsten Gericht (civ. 21,18); – die christliche Initiation (Taufe und Eucharistie), unabhängig von möglichen Verstößen gegen Sitten oder von späterem Abfall (civ. 21,19); 29 – dieselbe, aber eingegrenzt auf die catholici, sofern sie durch Taufe und Eucharistie in die katholische Kirche eingegliedert sind, wiederum unabhängig von möglichen Verstößen gegen Sitten oder von späterem Abfall (civ. 21,20); – das Ausharren in der Kirchenzugehörigkeit (in ecclesia catholica perseverantibus), selbst bei schlechter Lebensführung (etiamsi malae vitae fuerit catholicus christianus; civ. 21,21); – (eigene) Werke der Barmherzigkeit (elemosynae), und zwar sogar, wenn die eigene Lebensführung gottlos und liederlich (nefarie ac nequiter) wäre (civ. 21,22). Im Anschluß daran weist Augustinus die referierten Positionen in derselben Reihenfolge zurück (civ. 21,23–27). Er betont, daß dies nicht aus Neid gegenüber den vermeintlich Geretteten (neque […] inviderunt, civ. 21,23) geschehe, sondern weil die Gültigkeit der Schrift respektiert

Der »polemische, bisweilen sogar ironisch-sarkastische Ton« dieses Abschnittes wird von Franz-Josef Nocke: Eschatologie, 439, zutreffend kommentiert: »Zu fragen ist allerdings, wie weit seine Warnung vor dem die beiden Civitates scheidenden Gericht und seine Absage an die ›mitleidigen‹ Theorien, zumindest in ihrer Pointierung, vom politischen und pastoralen Kontext bestimmt sind: von der Auseinandersetzung mit der heidnischen Identifizierung von irdischem Imperium und ewigem Heil sowie von seiner Sorge vor einer falschen Heilssicherheit innerhalb der Kirche.« 28 Nicht alles, was Augustinus darlegt, steht für ihn unter dem Verdikt absoluter Gültigkeit. Mehrmals räumt er ein, daß auch andere Auslegungen denkbar seien: z. B. civ. 21,24: »quod quidem non ideo confirmo, quoniam non resisto.«; vgl. 21,26: »non redarguo, quia forsitan verum est.« 29 civ. 21,19: »Christi baptismate ablutis, qui participes fiunt corporis eius, quomodolibet vixerint, in quacumque haeresi vel impietate fuerint.« 27

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werden müsse (divinam vacuari vel infirmari non posse sententiam; scriptura, quae neminem fallit, ebd.). Um die Argumentation Augustins nicht vorschnell als überhebliche Grausamkeit mißzuverstehen, die ihm gelegentlich untergeschoben wird, bedarf der Text einer sorgfältigen Lektüre, die hier nur ansatzweise skizziert werden kann. civ. 21,23: »quod si ita est, quo modo ab huius aeternitate poenae vel universi vel quidam homines post quantumlibet temporis subtrahentur, ac non statim enervabitur fides, qua creditur sempiternum daemonum futurum esse supplicium?«

›Wenn das [sc. in der Schrift Gesagte] so ist, wie können alle oder einige Menschen aus der Ewigkeit dieser Strafe nach einer beliebigen Zeit herausgenommen werden, ohne daß zugleich der Glaube entkräftet würde, durch den geglaubt wird, daß die Bestrafung der Dämonen eine immerwährende sein wird?‹

»si enim quibus dicetur: discedite a me, maledicti, in ignem aeternum, qui paratus est diabolo et angelis eius [Mt 25,41], vel universi vel aliqui eorum non semper ibi erunt, quid causae est cur diabolus et angeli eius semper ibi futuri esse credantur?«

›Was ist der Grund, zu glauben, der Teufel und seine Engel werden immer dort sein, wenn alle oder einige von denen, welchen das Wort gilt: »Weicht von mir, Verfluchte, ins ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist« [Mt 25,41], nicht immer dort sein werden?‹

»an forte dei sententia, quae in malos et angelos et homines proferetur, in angelos vera erit, in homines falsa?«

›Ist vielleicht gar Gottes Wort, das für böse Engel wie Menschen überliefert ist, für die Engel wahr, für die Menschen aber falsch?‹

»ita plane hoc erit, si non quod deus dixit, sed quod suspicantur homines plus valebit.«

›So wäre es allerdings, wenn nicht Geltung hätte, was Gott gesagt hat, sondern was die Menschen mutmaßen.‹

»quod fieri quia non potest, non argumentari adversus deum, sed divino potius, dum tempus est, debent parere praecepto, qui sempiterno cupiunt carere supplicio.«

›Weil dies aber nicht geschehen kann, dürfen diejenigen, die von immerwährender Bestrafung verschont werden wollen, nicht gegen Gott rechthaberisch sein, sondern sie müssen vielmehr – solange noch Zeit ist – seiner Weisung Folge leisten.‹

Augustinus häuft drei rhetorische Fragen aufeinander, die eine negative Antwort suggerieren, wobei diese Suggestion in der dritten Frage (an forte) am stärksten zutage tritt: Gottes Wort kann eben nicht falsch A

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sein, 30 ihm ist daher Gültigkeit einzuräumen. Verurteilt wird von Augustinus nicht der menschliche Wunsch, der ewigen Verdammnis zu entkommen, sondern die menschliche Vermessenheit, Gott gegenüber quasi ein Recht auf Erlösung einklagen zu wollen. Wer dies tut, erscheint zwar barmherzig (velut misericordia maiore, civ. 21,24), muß sich aber den Vorwurf gefallen lassen, dabei auf seine eigene Rettung zu schielen (suas agentes causas, ebd.). 31

3.5 ›Erzieherische‹ Funktion von (leerer) Strafandrohung? (civ. 21,24) Eine teilweise bis heute vorgetragene Lösung für die Frage, wie sich biblische Gerichtsverkündigung mit dem allgemeinen Heilwillen Gottes vereinbaren lasse, liegt in der Reduktion der ersteren auf ihre ›erzieherische‹ Funktion. Will heißen: Die Bibel spreche nur von Gericht und Strafe, um uns zu motivieren, uns für unser Heil anzustrengen. Augustinus weist eine derartige Auslegung der Schrift entschieden zurück: hier wird nicht eine Drohkulisse aufgebaut (minaciter), vielmehr beansprucht das Gotteswort, Wahres über die Zukunft zu verkünden (veraciter). 32 civ. 21,24: »ceterum eos, qui putant minaciter potius quam veraciter dictum […] non tam ego, quam ipsa scriptura divina planissime atque plenissime redarguit ac refellit.«

›Diejenigen übrigens, die glauben, daß [sc. diese Aussagen über Verdammung und Gericht in der Schrift] eher als Drohung denn als wahrhaft eintretend gemeint seien, werden nicht so sehr von mir, als vielmehr von der Heiligen Schrift selbst – in einer an Deutlichkeit und Vollständigkeit nicht zu übertreffenden Weise – zurückgewiesen und widerlegt.‹

Darüber hinaus steht hinter einer solchen ›pädagogischen‹ Deutung letztlich sowohl ein fragwürdiges Gottes- als auch vor allem ein fragVgl. dazu Platon: Apologie 21b. Vgl. civ. 21,24: »hanc dei iustitiam, quam donat gratia sine meritis, nesciunt illi, qui suam iustitiam volunt constituere«; weiterhin civ. 21,27: »homines inpunitatem sibi perversissime pollicentes«; vgl. ebd. den Vorwurf, den eigenen Willen über die Aussagen der Schrift setzen zu wollen: »eas [sc. scripturas] male intellegendo non quod illae loquuntur, sed hoc potius putant futurum esse quod ipsi volunt.« 32 Das Adjektiv verax bezieht sich meist auf verkündende Instanzen und Inhalte (Prophezeiungen, Orakel, Parzen etc.). 30 31

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würdiges Menschenbild. Denn der Mensch würde sich somit in erster Linie aus Furcht, nicht aus Freiheit und gutem Willen für das Gute entscheiden, hätte also nicht die Möglichkeit, aus Güte gut zu sein. 33 Die uns mitunter grausam erscheinende fundamentale Unsicherheit des Menschen ist dafür unabdingbare Voraussetzung.

3.6 Überwiegen der ad intra gesprochenen Ermahnung (civ. 21,27) Wenn die biblische Rede vom Gericht nicht auf eine leere Androhung bloß aus pädagogischer Absicht reduziert werden darf, so schließt das nicht aus, daß sie auch als Ermahnung an Gläubige verstanden werden kann. 34 So lehnt Augustinus etwa keineswegs die Wirksamkeit der Fürbitte an sich ab, warnt aber davor, sie als kalkulierbaren Faktor in die Rechnung miteinzubeziehen, die einem letzten Endes vorgelegt werden wird: 35 In der Verborgenheit der eigenen moralischen Qualität (und nicht jener der Güte Gottes) sieht er zuallererst den Ansporn zum Fortschritt: »et fortassis propterea latent, ne studium proficiendi ad omnia cavenda peccata pigrescat.« (ebd.), bevor er zur Illustration die hypothetische, im Irrealis formulierte Umkehrung anführt. 36 civ. 21,27: »quoniam si scirentur quae vel qualia sint delicta, pro quibus etiam permanentibus nec provectu vitae melioris absumptis intercessio sit inquirenda et speranda iustorum, eis secura se obvolueret humana segnitia, nec evolvi talibus implicamentis

›Wenn sie nämlich wüßten, welche oder wie schwere Verstöße es wären, für die man die Fürsprache der Gerechten ersuchen und erhoffen muß, und zwar auch, wenn sie bestehen blieben und nicht im Gedeihen einer besseren Lebenweise verzehrt würden, ließe sich die menschliche Schwerfälligkeit von ihnen in

Augustinus drückt dies in der Formulierung ›gratis diligere‹ bzw. ›gratis colere‹ aus, z. B. civ. 1,9; conf. 8,10; 10,32 u. ö. – vgl. dazu Immanuel Kant z. B. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV, 393), wo es heißt, daß »der gute Wille die unerlaßliche Bedingung selbst der Würdigkeit glücklich zu sein auszumachen scheint.« 34 Eine derartige Auslegung trägt auch der hermeneutischen Forderung (gemäß der modernen historisch-kritischen Methode) Rechnung, die Adressaten eines Textes bei seiner Auslegung mitzuberücksichtigen. 35 civ. 21,27: »sed quis iste sit modus, et quae sint ipsa peccata, quae ita impediunt perventionem ad regnum dei, ut tamen sanctorum amicorum meritis inpetrent indulgentiam, difficillimum est invenire, periculosissimum definire.« 36 Im Deutschen nicht wiedergegeben ist das Wortspiel mit obvolvere und evolvere bzw. implicatio. 33

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ullius virtutis expeditione curaret, sed tantummodo quaereret aliorum meritis liberari […].«

Sicherheit wiegen und würde sich nicht darum kümmern, sich von solchen Verstrickungen loszumachen, indem man sich zu irgendeiner eigenen Tüchtigkeit aufraffte, sondern nur um die Befreiung durch Verdienste anderer ersuchte.‹

Dann kehrt er wiederum zur nachdrücklichen Beteuerung dessen zurück, worauf es ihm tatsächlich ankommt: das faktische Unvermögen, über die eigene Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit zu befinden, und die daraus resultierende Bemühung zum Guten. 37 civ. 21,27: »nunc vero dum venialis iniquitatis, etiamsi perseveret, ignoratur modus, profecto et studium in meliora proficiendi orando et instando vigilantius adhibetur et faciendi de mammona iniquitatis sanctos amicos cura non spernitur.«

›Tatsächlich aber wird man, solange das Maß der zu begnadigenden Ungerechtigkeit, selbst wenn sie bestehen bleiben sollte, unbekannt ist, den Eifer üben, zum Besseren hin Fortschritte zu machen durch Gebet und größere Zudringlichkeit (vgl. Lk 11,8 und 18,1 ff.), und nicht das Bemühen vernachlässigen, sich mit dem ungerechten Mammon heilige Freunde zu verschaffen.‹

Die Versuchung, sich auf die Verdienste anderer zu verlassen, statt sich um die eigenen zu mühen, will Augustinus entkräften, indem er den Spieß umdreht und seine Gegner mit ihren eigenen Waffen schlägt. An diesem – wie Augustinus sagt – elegantissime vorgebrachten Argument, nach allen Regeln der dialektischen Kunst, scheint mir Augustinus geradezu Freude zu haben: civ. 21,27: »qua opinione quidam cum videret homines inpunitatem sibi perversissime pollicentes, eo quod omnes isto modo ad liberationem pertinere posse videantur, elegantissime respondisse perhibetur, bene potius esse vivendum, ut inter eos quisque reperiatur, qui pro aliis interces-

›Als jemand sah, wie Menschen – dieser Meinung folgend – in völlig verdrehter Weise sich selbst Straflosigkeit versprachen, weil auf diesem Wege alle scheinen zur Befreiung gelangen zu können, habe er – so heißt es – diesen höchst feinsinnig erwidert, lieber solle jeder ein anständiges Leben führen, um sich unter denen zu befinden, die für die Befreiung

nunc vero nach irrealer konditionaler Periode ist ein starkes sprachliches Signal dafür, daß jetzt von tatsächlich Wirklichem gesprochen wird.

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suri sunt liberandis, ne tam pauci sint, ut cito ad numerum suum vel tricenum vel sexagenum vel centenum unoquoque eorum perveniente multi remaneant, qui erui iam de poenis illorum intercessione non possint et in eis inveniatur quisquis sibi spem fructus alieni temeritate vanissima pollicetur.«

anderer eintreten werden, damit diese nicht zu wenige sind; denn wenn ein jeder schnell zu seiner Zahl von jeweils dreißig, sechzig oder hundert [zu Befreienden] gelange, hätte das zur Folge, daß viele übrigblieben, die durch deren Fürsprache nicht mehr der Strafe entrissen werden könnten, so daß dazu jeder gehöre, der sich selbst aus Nichtsnutzigkeit und Vermessenheit Hoffnung auf fremden Erfolg verspreche.‹

Wenn die Fürbitte von Heiligen in der Tat eine so große Wirkung zu entfalten vermag, daß man mit ihr rechnen kann, so ist es nichtsdestotrotz geboten, sich darum zu bemühen, eher zu diesen Heiligen zu gehören; wenn sich jeder darauf verließe, daß nur die anderen heiligmäßig lebten, könnte es sein, daß es am Ende zu wenige davon gäbe und die in Rechnung zu bringenden Verdienste nicht für alle ausreichten. Überflüssig ist es, darauf hinzuweisen, daß Augustinus eine derartige Rechnerei überhaupt ad absurdum führen will.

3.7 Die Bedeutung des liberum arbitrium für die Vollendung des Menschen (civ. 22) Das letzte Buch, das Augustinus dem debitus finis der civitas Dei widmet, also der ewigen Seligkeit, greift (Kap. 1) auf die Schöpfung zurück, die als gute Schöpfung des guten Gottes begriffen wird: »ipse est enim, qui in principio condidit mundum, […]«. 38 Am Ende weiterer Prädikate steht die Sammlung des Gottesvolkes (colligit) als das Handeln Gottes, das sich bis in unsere Zeit erstreckt; Augustinus zeichnet hier ein sehr hoffnungsvolles Bild, wenn er nicht nur von der Instand-

civ. 22,1; das Schöpfer-Sein Gottes wird durch einen Relativsatz ausgedrückt, dem fünf weitere folgen, die syntaktisch auf derselben Ebene stehen und in denen ebenfalls Gott handelndes Subjekt ist – hier deckt sich also die formale sprachliche Struktur mit ihrer inhaltlichen Aussage. Alle Prädikate, die das göttliche Handeln ausdrücken, tun dies im Perfekt (weisen also auf eine abgeschlossene Handlung), bis auf das letzte, colligit, (Präsens): civ. 22,1: »qui […] tribuit; qui […] non ademit; qui […] obstrinxit atque […] dedit; qui […] fecit; qui […] colligit […].«

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setzung, sondern sogar einer Steigerung (uberior), einem Übertreffen des ursprünglichen Zustandes spricht. Im zweiten Kapitel handelt Augustinus über die voluntas dei und ihr Verhältnis zum Wollen des Menschen. Menschliches Wollen, das gegen den Willen Gottes gerichtet ist, vermag den Heilsplan Gottes nicht zu beschädigen. 39 Behutsam versucht Augustinus dann, die mißverständliche Rede vom Willen Gottes zu klären: Man sagt zwar (dicitur), Gott ändere seinen Willen, doch die Veränderung findet auf Seiten der Menschen statt. Man sagt zwar, Gott bewirke in uns, daß wir wollen, doch diese Art des Gotteswillens liegt auf einer anderen, untergeordneten Ebene. Nur so dürfe man es verstehen, wenn man sagt, Gott wolle etwas und bewirke es nicht auch zugleich (vult nec facit). Dies resultiert aus der Zeit, in der wir uns bewegen und die unsere Perspektive einschränkt, der aber Gott keinesfalls unterliegt, weil ihm Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig sind. 40 Das letzte Kapitel (30) und der visionäre Abschluß des Werkes beginnt mit dem staunenden Ausruf: »quanta erit illa felicitas« (civ. 22,30)! Ein Element in dieser ganz neuen Existenzweise, dem Augustinus viel Raum einräumt, ist das liberum arbitrium: »nec ideo liberum arbitrium non habebunt« (civ. 22,30); die Litotes steigert hier den Grad der Bejahung. Dieses neue liberum arbitrium wird von dem ersten unterschieden: civ. 22,30: »nam primum liberum arbitrium, quod homini datum est, quando primo creatus est rectus, potuit non peccare, sed potuit et peccare; hoc autem novissimum eo potentius erit, quo peccare non poterit; verum hoc quoque dei munere, non suae possibilitate naturae.«

›Denn der erste freie Wille, der dem Menschen gegeben wurde, als dieser das erste Mal ohne Fehler geschaffen wurde, vermochte es, nicht zu sündigen, vermochte aber auch zu sündigen; aber dieser letzte [freie Wille] wird umso mächtiger sein, als er nicht im Stande sein wird, zu sündigen; aber dies [geschieht] eben durch göttliche Leistung, nicht

civ. 22,2: »multa enim fiunt quidem a malis contra voluntatem dei; sed tantae est ille sapientiae tantaeque virtutis, ut in eos exitus sive fines, quos bonos et iustos ipse praescivit, tendant omnia, quae voluntati eius videntur adversa.« 40 Zum gesamten Absatz vgl. civ. 22,2. – Vgl. auch Karl Rahner: Allgemeiner Heilswille, 166: »In der Universalität und souveränen Freiheit des Heilswillens zugleich (nicht in einem abstrakten Begriff vom göttlichen Willen überhaupt) erscheint für uns erst, wer Gott in seiner freien Liebe ist. So und nicht anders.« 39

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durch eine Möglichkeit in seiner eigenen Natur.‹ »sicut enim prima inmortalitas fuit, quam peccando Adam perdidit, posse non mori, novissima erit non posse mori: ita primum liberum arbitrium posse non peccare, novissimum non posse peccare.«

›Denn wie es eine erste Unsterblichkeit gab, die Adam durch die Sünde verlor – nämlich im Stande zu sein, nicht zu sterben –, die letzte [Unsterblichkeit] aber darin bestehen wird, nicht im Stande zu sein, zu sterben: so war der erste freie Wille im Stande, nicht zu sündigen, der letzte wird nicht im Stande sein, zu sündigen.‹

Klar dürfte für Augustinus sein, daß die ›Neuschöpfung‹ keine Korrektur vermeintlicher Fehler an der ersten Schöpfung ist, die ›recht-schaffen‹ ist (creatus est rectus). Gleichwohl gibt es einen Aspekt der Steigerung und Überbietung (potentius): Das non posse peccare wird jenem Willen von Gott verliehen (dei munere), es transzendiert die Möglichkeiten der Natur dieses Willens. Dieses irgendwie vergleichbar und doch ganz anders Sein kommt sprachlich zum Ausdruck durch die kleine, aber folgenschwere Variation in der Wortstellung: aus »posse non mori« bzw. »posse non peccare« wird »non posse mori« bzw. »non posse peccare«. 41

4.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Welche Antworten lassen sich nun für die Frage nach dem allgemeinen Heilswillen Gottes auf der Grundlage von Augustins De civitate Dei festhalten? Zunächst scheint es einige ›archimedische Punkte‹ zu geben: Einer davon ist gewiß das bonus bona creavit (conf. 7,7). Augustinus sucht nach Argumenten, welche eine Integration von (in unseren Augen) Schlechtem in die insgesamt sehr gute Schöpfung ermöglichen, bzw. den ›Fehler‹ von der Schöpfung in unsere Optik hinein verlegen. Durch die Analogie zwischen Welt-Schöpfung und literarischen Schöpfungen im eloquentia-Argument wird nicht die virulente ErfahOtto Hermann Pesch/Albrecht Peters: Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, 24, formulieren diesbezüglich: »Was, so müßte man mit Augustinus fragen, ist denn freier als der Wille unter der Anziehungskraft der Liebe Gottes und unter der Triebkraft der von Gott selbst geschenkten Gottesliebe?«

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rung der Unzulänglichkeit der Welt und ihres Leids entschärft und zum Stilmittel degradiert; vielmehr eröffnet sich so die Möglichkeit zu denken, daß alles, was in der Welt geschieht, aus der Perspektive Gottes einen Sinn hat, der uns zunächst nicht einsichtig ist. Denn Augustins Äußerungen zeigen, daß er es durchaus als Skandal empfindet, wenn es in der Welt nach menschlichen Maßstäben ungerecht zugeht. 42 Zudem liegt die entscheidende Unsicherheit, der sich der Mensch ausgesetzt sieht, nicht darin, ob Gott gut, gerecht und barmherzig ist und so auch richten wird, sondern darin, ob wir gut sind oder nicht. Es ist ja »ausgeschlossen, eigene oder fremde Integrität unzweifelhaft festzustellen und damit Aussagen über die eschatologische Errettung oder Verwerfung zu treffen.« 43 Die Ursache für die Unzulänglichkeit unseres Urteils hängt für Augustinus mit dem peccatum originale und unserer Sterblichkeit zusammen – deshalb der eschatologische Vorbehalt. Alle Strategien, das Heil an kontingente Bedingungen zu knüpfen, etwa an die Kirchenzugehörigkeit, laufen ins Leere. Jedoch ist nicht der menschliche Wunsch nach Heil verwerflich, sondern die Vermessenheit, sich dieses an Gottes Gnade vorbei mit Kalkül zu sichern. Augustinus hält ferner an der Wahrhaftigkeit der biblischen Verkündigung fest, auch sofern sie von Gericht und Verdammung spricht, doch er zeigt sich »in charakteristischer Weise […] auch beim Versuch, die Strafen der Verdammten zu beschreiben, zurückhaltend und weigert sich im allgemeinen, über das hinauszugehen, was in 42 civ. 20,2: »nescimus enim quo iudicio dei bonus ille sit pauper, malus ille sit dives; iste gaudeat, quem pro suis perditis moribus cruciari debuisse maeroribus arbitramur, contristetur ille, quem vita laudabilis gaudere debuisse persuadet; exeat de iudicio non solum inultus, verum etiam damnatus innocens, aut iniquitate iudicis pressus aut falsis obrutus testimoniis, e contrario scelestus adversarius eius non solum inpunitus, verum etiam vindicatus insultet; impius optime valeat, pius languore tabescat; latrocinentur sanissimi iuvenes, et qui nec verbo quemquam laedere potuerunt, diversa morborum atrocitate affligantur infantes; utilis rebus humanis inmatura morte rapiatur, et qui videtur nec nasci debuisse, diutissime insuper vivat; plenus criminibus sublimetur honoribus, et hominem sine querella tenebrae ignobilitatis abscondant, et cetera huius modi, quae quis colligit, quis enumerat?« 43 Christoph Horn: Einleitung, 6, mit Bezug auf Kant, vgl. dazu KrV B 579 Fn: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.«

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Zur Frage nach dem allgemeinen Heilswillen Gottes im Denken Augustins

der Hl. Schrift deutlich ausgesagt wird.« 44 Die Gerichtsverkündigung ist eingebunden in ein Konzept, in dem erstens der freien Willensentscheidung ein hoher Stellenwert eingeräumt wird – so hoch, daß das liberum arbitrium integraler Bestandteil der erlösten und vollendeten Existenz ist. Und die Ernsthaftigkeit des freien Willens ist wohl kaum aufrecht zu erhalten, wenn man davon ausgeht, daß unser Wollen für unser Heil ›egal‹ ist. Schließlich gibt es auch einen starken paränetischen Aspekt, der im Kontext begründeter Hoffnung steht. In diesem Sinne kann man folgende Feststellung Augustins in den Confessiones verstehen, die hier am Schluß stehen soll und das Spannungsfeld von Natur, Freiheit und Gnade zu umreißen vermag (conf. 10,5): »bona mea instituta tua sunt et dona tua, mala mea delicta mea sunt et iudicia tua«. 45 Seinen bona und mala schreibt Augustinus jeweils zwei Prädikate zu, von denen, durch das Possessivpronomen, drei Gott (tua) und eines ihm selbst (mea) zugeordnet werden. Mit dem ersten Prädikat (instituta tua) ist Kausalität durch Schöpfung ausgedrückt, 46 mit dem zweiten (dona tua) Kausalität durch Gnade. Das dritte Prädikat (delicta mea) macht den Anteil des Menschen aus, nämlich seine Freiheit, die hier zwar negativ, gewissermaßen als Kehrseite der Medaille, erscheint, aber doch die Konsequenz daraus ist, daß der Ursprung des malum weder der Natur als Schöpfung Gottes, noch gar diesem selbst zugeschrieben werden kann, und auch keiner anderen übernatürlichen Macht neben ihm. So wird am Ende Gott das letzte Wort und Urteil (iudicia tua) überlassen.

Brian Daley: Patristische Eschatologie, 205. Die Aussage erhält in Bezug auf ihre sprachliche Gestalt auch durch den KlauselSchluß sowie durch die Rahmung mit parallel konstruierten Sätzen (respirent […] suspirent […]) besonderes Gewicht. 46 Mit Begriffen, die sich von instituere ableiten, wird bei Augustinus Gottes Schöpfertätigkeit etwa auch in conf. 1,7; Simpl. 1,2,8 und an weiteren Stellen ausgedrückt. 44 45

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Natur, Freiheit und Gnade im Disput zwischen Augustinus und Julian von Aeclanum Lenka Karfíková (Prag)

Die Polemik mit Julian von Aeclanum, die Augustins zehn letzte Lebensjahre (419–430) füllte, ist sicherlich der umfangreichste und zugleich auch leidenschaftlichste literarische Streit, den Augustinus je führte. In diesem um eine Generation jüngeren Bischof, der mit antiker Ausbildung zur Elite des italienischen Episkopats gehörte (Julian war Sohn eines Korrespondenten Augustins, des kampanischen Bischofs Memorius, und Schwiegersohn des Bischofs Aemilius von Benevent), fand Augustinus einen Opponenten, der ihm nicht nur in Redekunst und Ausdauer ebenbürtig war, sondern der auch der theologischen Problematik die gleiche Bedeutung zuschrieb, die im pelagianischen Streit im Spiel war, nämlich der Auslegung der menschlichen Natur, der Freiheit der Menschen und der Gnade Gottes. 1 Angesichts der Lehre Augustins von der ererbten verdorbenen Natur und angesichts der antipelagianischen Kampagne, die von mehreren römischen Bischöfen befürwortet wurde, fühlte Julian sich verpflichtet, der ›manichäischen‹ Fehlinterpretation des Christentums afrikanischer Herkunft (c. Iul. 3,31) standzuhalten und den guten Schöpfer, die gute Menschennatur, die Ehe als gottgewollt und die Mühe um Tugend und Heiligkeit als sinnvoll zu verteidigen.

Zu Julian vgl. Albert Bruckner: Julian von Eclanum. Sein Leben und seine Lehre. Ein Beitrag zur Geschichte des Pelagianismus; François Refoulé: Julien d’Éclane, théologien et philosophe; Mathijs Lamberigts: Julian of Aeclanum: a Plea for a Good Creator; Josef Lössl: Julian von Aeclanum. Studien zu seinem Leben, seinem Werk, seiner Lehre und ihrer Überlieferung. 1

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Disput zwischen Augustinus und Julian von Aeclanum

1.

Julians Auffassung der Natur, Freiheit und Gnade

Julian ist überzeugt – das kann als Hauptaussage seiner Polemik gegen Augustinus gelten –, daß die Situation der Menschen ein gutes Werk des guten Gottes ist, das in keinem Punkte getadelt werden kann. 2 Sie bietet dem Menschen als freiem Wesen die Gelegenheit, durch seinen Willen über sein eigenes Schicksal zu entscheiden (c. Iul. imp. 1,78 f.; 1,82). Julian zieht keine scharfe Grenze zwischen Adam in Paradies und der gegenwärtigen Lage des Menschengeschlechts. 3 Die Geschichte Adams ist in seinen Augen vielmehr eine paradigmatische Darstellung aller menschlichen Geschichten, in denen den Menschen als von Natur aus sterblichen und freien Wesen offensteht, ob sie die Tugend und die Gebote Gottes bewahren und dadurch das ewige Leben erreichen – oder ob sie durch ihre Unvernünftigkeit und Ungehorsam den ewigen Tod verdienen. Jeder verantwortet dabei für sich selbst, die Schuld des einen betrifft keineswegs die anderen, obwohl sicherlich jeder durch sein Verhalten den anderen ein Vorbild (›exemplum‹) liefert, wodurch auch ihr Benehmen beeinflußt wird (c. Iul. imp. 2,47). Obwohl Julian anerkennt, daß ihr ganzes Geschlecht durch die Strafe für die Sünde des ersten Menschenpaares getroffen wird (Gn 3,16–19), bedeutet das für ihn keineswegs, daß auch ihre Schuld auf das ganze Geschlecht übergeht (c. Iul. imp. 6,25). Jeder kann nur durch seine eigene Handlung schuldig werden, und keiner kann zugleich schuldig und unschuldig sein, da diese Gegensätze (›contraria‹) nach den Regeln der Dialektik einander ausschließen (c. Iul. imp. 3,32). Zur natürlichen Menschenlage gehört nach Julian der physische Tod (er ist also nicht eine Strafe für die Sünde) und zugleich das Fortpflanzen der Nachkommenschaft. Wegen der Endlichkeit des Menschen kann das Menschengeschlecht nur in einem Wechsel der Generationen bestehen. 4 Die Fortpflanzung setzt dabei ein sexuelles Begeh2 c. Iul. imp. 3,158. Die Natur ist nach Julian ausschließlich gut, die Möglichkeit des Bösen besteht im Willen (c. Iul. imp. 5,59). 3 c. Iul. imp. 6,21. Zur unterschiedlichen Interpretation der Geschichte Adams nach Julian und Augustinus vgl. Mathijs Lamberigts: Julien d’Éclane et Augustinus d’Hippone. Deux conceptions d’Adam. 4 c. Iul. imp. 6,30. Zu ›Adam‹ als dem Namen der Menschennatur, zu der die Sterblichkeit mit gehört, vgl. auch c. Iul. imp. 6,31. Zu Julians Auffassung des Todes vgl. JeanMichel Girard: La mort chez saint Augustin. Grandes lignes de l’évolution de sa pensée, telle qu’elle apparaît dans ses traités.

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ren als Teil der Menschennatur voraus, wie es auch bei anderen Lebewesen der Fall ist. 5 Der menschliche Körper samt der Sexualität ist nach Julian von Gott geschaffen, und die Fruchtbarkeit gilt als göttliche Gabe. 6 Die Ehe kann kaum ein Gut sein, wenn ihre Früchte als von Geburt aus sündig angesehen werden (nupt. et conc. 2,41). Wenn Augustinus die Früchte der Ehe dem Teufel selbst zuschreibt, so Julian, lehnt er dadurch nicht nur die Ehe, sondern auch die Menschennatur als ganze und somit auch ihren Schöpfer ab. 7 Julian polemisiert deswegen gegen die Vorstellung der Erbsünde. Die Sünde ist ja eine Tat des Willens (nupt. et conc. 2,15; vgl. Julian von Aeclanum: Ad Turb. I, fr. 18), und kann unmöglich einem neugeborenen Kind zugeschrieben werden (nupt. et conc. 2,44; vgl. Julian von Aeclanum: Ad Turb. I, fr. 31–32; Ad Turb. I, fr. 64; Ad Turb. I, fr. 68; Ad Turb. I, fr. 75). Sie wird, so Julian mit Pelagius, nicht durch die Fortpflanzung, sondern durch die Nachahmung (›imitatio‹) tradiert (c. Iul. imp. 2,52; 2,61), da es eine Frage ›der Sitten, nicht der Samen‹ sei (»morum, […] non seminum«; c. Iul. imp. 2,194; ähnlich c. Iul. imp. 3,11; 3,46). So ist auch der Bibelvers zu verstehen (Röm 5,12): »Durch einen Menschen trat in diese Welt die Sünde, und durch die Sünde der Tod, und damit ging der Tod auf alle Menschen über, weil (›in quo‹ bedeutet hier nicht ›in ihm‹, wie Augustinus meint) alle gesündigt haben.« 8 Wenn die Sünde nicht aus dem Willen, sondern der Natur entspringe, handele es sich um die manichäische Vorstellung einer ursprünglich bösen Natur (originale malum), die Augustinus aus seiner manichäi5 c. Iul. imp. 2,122; c. Iul. imp. 4,38; c. Iul. imp. 5,5. Zu Julians Auffassung der Sexualität, die der antiken Medizin und der altchristlichen Moral entspricht, vgl. Peter Brown: Sexuality and Society in the Fifth Century A.D.: Augustine and Julian of Eclanum. 6 nupt. et conc. 2,12 f. (BA 23, 170–172). Vgl. Julian von Aeclanum: Ad Turb. I, fr. 21–29, CCL 88, 345–348. 7 nupt. et conc. 2,11. Vgl. Julian von Aeclanum: Ad Turb. I, fr. 20; Ad Turb. I, fr. 74; Ad Turb. II, fr. 135. 8 Unterschiedlich zu Augustinus (vgl. De pecc. mer. I,9,10–10,11) versteht Julian in quo (¥y3 † ) in diesem Vers nicht als einen Hinweis zu Adam, »in dem« alle gesündigt haben, sondern (wahrscheinlich angemessener) als eine Begründung: ›weil‹ (›in quo‹ = ›quia‹, ›quoniam‹) alle gesündigt haben (vgl. c. Iul. imp. 2,174; nupt. et conc. 2,45; Julian von Aeclanum: Ad Turb. IV, fr. 324a). Vgl. dazu Bruno Delaroche: Saint Augustin, lecteur et interprète de saint Paul dans le De peccatorum meritis et remissione (hiver 411–412), 142 ff., 147 ff., 212–217, 297 f., 311–314, 317, 321 ff. Stanislas Lyonnet: Rom. V,12 chez saint Augustin. Note sur l’élaboration de la doctrine Augustinienne du péché originel; Gaetano Di Palma: Ancora sull’interpretazione agostiniana di Rom 5,12: »et ita in omnes homines petransiit, in quo omnes peccaverunt«.

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schen Jugend beibehalten habe (nupt. et conc. 2,49; vgl. Julian von Aeclanum: Ad Turb. I, fr. 78). Augustins Lehre von der Sünde als einem ›natürlichen‹, erblich tradierten Bösen und von der menschlichen Willensentscheidung, die ›versklavt‹ (›captivum‹ ; c. Iul. imp. 1,85) sein soll, hält daher Julian für einen manichäischen Irrtum. 9 Um dies zu beweisen, nimmt er die Epistola ad filiam Menoch zu Hilfe, d. h. die lateinische Version einer Mani zugeschriebenen Abhandlung, die nach Julians Auskunft in Konstantinopel gefunden wurde 10 (Augustinus hat von dieser Schrift nie vorher gehört; vgl. c. Iul. imp. 3,172). Nach Augustinus, so Julian, werden die Menschen zwar von Gott gut erschaffen, trotzdem aber körperlich unter der Herrschaft des Teufels geboren (c. Iul. imp. 1,62; 4,90; c. Iul. imp. 4,120). Genauso werde für die Manichäer in der menschlichen Natur das Gute der Seele mit dem Übel des Körpers gemischt. Das Übel werde nach Augustinus, wie nach den Manichäern, durch sexuelle Konkupiszenz tradiert; und ebenfalls durch die Konkupiszenz wird der Mensch nach beiden Lehren gezwungen, gegen seinen Willen zu handeln (c. Iul. imp. 3,174; 3,187). Das Übel der Konkupiszenz wird nach den Manichäern, wie nach Augustinus, besonders durch die Scham indiziert, die die Fortpflanzung begleitet (c. Iul. imp. 5,30). Das Übergehen dieses Übels zusammen mit der Seele von den Eltern auf die Kinder sei ein dem Manichäismus verwandter Irrtum, dessen Vertreter Julian spöttisch als ›Traduzianer‹ (›traduciani‹) bezeichnet. 11 Den Urc. Iul. imp. 1,1; 1,97; 2,226. In seiner Polemik mag sich Julian durch den antimanichäischen Traktat des Serapion von Thmuis inspirieren lassen, so mindestens Nello Cipriani: L’autore dei testi pseudobasiliani riportati nel C. Iulianum (I, 16–17) e la polemica agostiniana di Giuliano d’Eclano. 10 c. Iul. imp. 3,166. zu Julians Exzerpten aus diesem Brief vgl. c. Iul. imp. 3,172–187 (auch die Erwähnung in c. Iul. imp. 4,109). Der Brief stellt für die Forschung einen Rätsel dar: Es mag sich um einen manichäischen Pseud-epigraph zum Zweck der Mission unter den Christen (so G. J. D. Aalders: L’Épître à Menoch, attribuée à Mani), oder sogar um eine pelagianische Falsifikation handeln, wenn die Verfasserschaft Manis auch nicht ganz ausgeschlossen ist (vgl. Markus Stein: Einleitung, in: Epistula ad Menoch, Manichaica Latina; die Authentizität des Briefs wird verteidigt durch Geoffrey Harrison – Jason BeDuhn: The Authenticity and Doctrine of (Ps.?)Mani’s Letter to Menoch). Zu Julinas Argumentation vgl. Mathijs Lamberigts: Was Augustine a Manichaean? 11 Vgl. c. Iul. imp. 1,6; 1,27; 1,75; 2,14; 2,27. Julian schreibt den Traduzianismus dem Afrikaner Tertullian (vgl. De anima 27, Waszink 38 f.; der Kommentar ibid. 342–348) und den Manichäern zu (vgl. c. Iul. imp. 2,178), er findet ihn auch in der Epistola ad filiam Menoch (c. Iul. imp. 3,172 f.). Augustinus hat sich für diese Position nie eindeutig entschieden, wenn er ihr auch sehr nahe gekommen ist (vgl. Gn. litt. 10,26.28; an. et or. 9

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sprung des Bösen, das für die Manichäer eine selbständige Natur ist, sieht Augustinus im ›Nichts‹, woraus der Mensch erschaffen und wodurch sein Wille zum Bösen verkehrt wurde. In beiden Fällen ist jedoch das Böse eine ›gewaltig wirkende‹ (›violenta‹) Größe, sei sie nun als Substanz (so die Manichäer), oder als das Nichts (so Augustinus) verstanden (c. Iul. imp. 5,32). Was die Gnadenlehre betrifft, in deren Dienst Augustinus seine Erbsündenlehre entwickelte, ist nach Julian schon die Erschaffung des Menschen aus dem Nichts sowie die Gabe der Rationalität (›ratio‹) und Freiheit (›libertas‹) des Abbilds Gottes eine große Gnade (›gratia‹). Auch das Gesetz, das dem jüdischen Volk geschenkt wurde, ist eine göttliche Gabe, da sie zu erkennen hilft, was zu tun und was zu vermeiden ist. Die Fülle der Gnade oder des göttlichen Wohlwollens (›gratiae, id est divinae benevolentiae‹) ist jedoch die Menschwerdung, in der der Sohn Gottes den Menschen an seinem eigenen Erbe einen Anteil gibt. 12 Selber in der gleichen Lage wie alle anderen Menschen (es ist in Julians Augen eine manichäische Version des Apollinarismus, wenn Augustinus behauptet, daß im Menschen Jesu die Konkupiszenz nicht zu finden war), 13 hat Jesus die Sünde vermieden und dadurch den Menschen das Heil zugänglich gemacht, insofern sie ihm nachfolgen (c. Iul. imp. 4,49; 4,87; 6,31; 6,34; 2,223). Seine Geburt aus der Jungfrau ist für Julian ein Zeichen (›signum‹ ; c. Iul. imp. 1,66; 4,53), daß in ihm die Natur durch das Heil überschritten wird, nicht jedoch eine Anklage der Natur. Die christliche Taufe wird als die Gabe des neuen Lebens gespendet, das den Gottessöhnen geschenkt wird und wodurch das natürliche Leben vollbracht wird. Für die Erwachsenen bringt die Taufe zugleich ein Heilmittel (medicina) und die Vergebung der Sünden (c. Iul. imp. 3,151; vgl. auch 5,9). Die Gnade des neuen Lebens schenkt 1,24 f.; 4,5). Zu dieser Vorstellung vgl. Pier Franco Beatrice: Tradux peccati. Alle fonti della dottrina agostiniana del peccato originale; zu ihrer Bedeutung im Disput zwischen Augustinus und Julian E. A. Clark: Vitiated Seeds and Holy Vessels: Augustine’s Manichean Past. Die Positionen beider Oppenenten analysiert Mathijs Lamberigts: Julian and Augustine on the Origin of the Soul. 12 c. Iul. imp. 1,94. Zu Julians Auffassung der Gnade vgl. Mathijs Lamberigts: Julian of Aeclanum on Grace: Some Considerations, in: Studia Patristica, 27, 1993, 342–349; Ders.: Julian von Aeclanum und seine Sicht der Gnade: Eine Alternative? 13 c. Iul. imp. 4,45–47. Zu den christologischen Fragen in dieser Polemik vgl. Nello Cipriani: Echi antiapollinaristici e aristotelismo nella polemica di Giuliano d’Eclano; Joanne McW. Dewart, The Christology of the Pelagian Controversy, bes. 1233–1241; Mathijs Lamberigts: Competing Christologies: Julian and Augustine on Jesus Christ.

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damit nicht nur die Vergebung, sondern auch Erleuchtung (›illuminatio‹) und Heiligung (›sanctificatio‹), sie macht die Menschen zu den Gliedern des Leibes Christi und zu den Söhnen Gottes (c. Iul. imp. 1,53), die sie von Natur aus nicht sind. Gott vertritt zwar keinen in seinen Entscheidungen, durch die jeder Mensch sein Schicksal bestimmt. Er hilft jedoch jedem, der seine Hilfe annehmen will (c. Iul. imp. 3,106; 1,93). Wäre nämlich die letzte Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten nicht von jedem Menschen selbst getragen, könnte keiner von Gott gerecht gerichtet werden. Jeder wird selber zum ›Gefäß des Zornes‹ oder ›der Schande‹ (Röm 9,21), keinem wurde dieses Los von Gott bestimmt (c. Iul. imp. 1,128–131). Die Lehre Augustins vernichtet in Julians Augen jede Möglichkeit des moralischen Urteils. Wenn nämlich der Mensch zur Sünde durch seine Natur selbst gezwungen wird, kann ihm die Sünde keineswegs als eine Schuld zugeschrieben werden, und jedes Gericht ist letztlich ungerecht (c. Iul. imp. 1,67). Wenn der Mensch nicht im Stande ist dem Bösen standzuhalten, kann es ihm auch nicht auferlegt werden (c. Iul. imp. 1,70; 1,71; 4,119). Und wenn die ungetauften Kinder ohne jede eigene Schuld verworfen werden, muß Gott letztlich ungerecht sein (c. Iul. imp. 1,48; 1,57). Die Gerechtigkeit bedeutet ja jedem das ihm Gehörige zu geben, ohne jeden Betrug und ohne jede Bevorzugung. 14 Aber Augustinus glaube eben nicht an den gerechten Gott (c. Iul. imp. 1,50; 3,7; 4,2), ja er mache die Urteile Gottes ›barbarisch ungerecht‹ (c. Iul. imp. 3,77) und seine Gnadenlehre leugne die Entscheidungsfreiheit (c. Iul. imp. 1,94; 3,69), durch die Menschen die Tugend erreichen und ihr ewiges Schicksal bestimmen könnten. Neben den unterschiedlichen Naturauffassungen vertreten die beiden Autoren auch unterschiedliche Vorstellungen von der Freiheit. Nach Julian ist die Entscheidungsfreiheit eine Möglichkeit zwischen dem Guten und dem Bösen zu wählen, d. h. die Sünde zu vermeiden oder zu begehen (c. Iul. imp. 1,100 f.; 3,109–112). Diese Freiheit gehört dem Menschen in seiner natürlichen Ausstattung und kann nicht einmal durch Sünde verloren gehen (c. Iul. imp. 1,96). Sie wird auch nicht erst durch die Taufe oder durch eine besondere Gnade dem Menschen geschenkt (c. Iul. imp. 1,95;1,101). Der Mensch kann nicht nicht frei 14 c. Iul. imp. 1,35; 1,38; ähnlich auch c. Iul. imp. 3,2. Vgl. dazu Allister E. McGrath: Divine Justice and Divine Equity in the Controversy between Augustine and Julian of Eclanum.

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sein, es ist nicht Frage seines Willens, sondern seiner Natur (c. Iul. imp. 5,47; vgl. auch 6,11). Zwischen dem Willen und der Natur gibt es nach Julian keinen Übergang: der Wille kann die Natur nicht ändern. Der freie Wille (›liberum arbitrium‹) kann sich daher auch nicht selbst versklaven, was ein Widerspruch wäre: frei (›liberum‹) und gefangen (›captivum‹) zu sein, sind Gegensätze, die einander ausschließen (›contraria‹ ; c. Iul. imp. 3,120). Die Willensfreiheit kann es nur dann geben, wenn sie keiner Notwendigkeit unterzogen ist (c. Iul. imp. 3,122). Der Wille ist nämlich eine »Bewegung des Geistes, zu der wir von keinem gezwungen werden« (›motus animi cogente nullo‹) und die nicht anderswo ihren Ursprung (›origo‹) nimmt als in unserem Geist selbst (c. Iul. imp. 5,41). Gott respektiert diese Freiheit unter allen Umständen, und es ist daher der Mensch selbst, der über sein Schicksal entscheidet (c. Iul. imp. 1,93; 1,126).

2.

Die kranke Natur

Gegen diese (sehr vernünftige, vielleicht allzu vernünftige) Vorstellung der Menschennatur und ihrer Vollendung durch den Willen, dem die Gnade zum Heil verhilft, stellt Augustinus ein dramatisches Bild des erblichen Elends, in das den Menschen seine verdorbene Natur und sein verkehrter Wille fallen lassen. Durch seine entgegensetzten Begierden zerrissen, kann der Mensch nur durch eine unverdiente göttliche Gnade gerettet werden, die dank ihrer affektiven Süße die Krankheit der schamhaften Konkupiszenz zu überwinden vermag. Augustinus ist vor allem überzeugt, daß die Lage des Menschen, wie sie jetzt erfahren wird, ein Gemisch von Elend und Greuel ist, das keineswegs ein Werk Gottes sein kann. Gott ist zwar, so Augustinus, ein guter Schöpfer der guten Natur, diese Natur hat jedoch in den ersten Menschen gesündigt. Die Natur selbst (›natura‹), nicht nur die der ersten Menschen, ist damit schuldig geworden, da sich ihre Schuld wie eine Ansteckung im ganzen Geschlecht verbreitet (›minores maiorum contagione sunt rei‹). Wenn auch Gott den Menschen gut erschuf, werden die Menschen doch schuldig und verkehrt geboren (c. Iul. 3,13). Der Mensch ist zwar nicht schuldig durch sein Dasein selbst (c. Iul. 3,14), er bleibt immerhin eine gute Schöpfung, die konkrete Form seiner Existenz ist jedoch durch Schuld belastet, die Menschheit ist eine »Masse der Verdammnis« (›massa perditionis‹ ; c. Iul. 3,10). 96

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Nach der Diagnose Augustins ist jedoch die Lage des Menschen nicht, wie die Manichäer meinen, ein Gemisch der guten und der bösen Natur, sondern etwas sozusagen viel Schlimmeres und viel schwieriger zu Beseitigendes, nämlich eine Verdorbenheit oder eine Krankheit (›vulnus‹, ›languor‹) der guten Natur selbst (c. Iul. 5,65; 6,57). Diese Krankheit ist kein selbständiges Subjekt, sondern etwas ›am Subjekt‹ (›in subiecto‹), eine akzidentelle Beschädigung der Natur. Wie die schwarzen Äthiopier schwarze Söhne gebären, geht auch diese Krankheit als eine qualitative Bestimmung der Natur erblich auf die Nachkommenschaft über, und zwar nicht durch einen akzidentellen Akt des Übertragens (wie einer dem anderen eine Tunika übergibt), sondern mit der Natur selbst als ihre ›Affizierung‹ und ›Ansteckung‹ (›affectione et contagione pertranseunt‹ ; c. Iul. 5,51). Der Sohn kann eine Krankheit seines Vaters erben, obwohl sie bei seinem Vater durch einen akzidentellen Unfall verursacht wurde (z. B. eine Beschädigung des Auges), so meint mindestens Augustinus gegen Julians Regel, daß die Natur durch die Akzidenzien nicht geändert werden kann (c. Iul. 6,16).

3.

Die ererbte Sünde

Die Erbkrankheit des Menschengeschlechts ist für Augustinus ›concupiscentia‹ oder ›libido‹, eine Begierde, die der Kontrolle der Vernunft und des Willens nicht unterliegt. Sie tritt am deutlichsten als sexuelle Begierde hervor, obwohl sie nicht auf diesen Bereich begrenzt ist. Schon in den antimanichäischen Frühschriften hat Augustinus ›die Konkupiszenz des Fleisches, die Konkupiszenz der Augen und den Hochmut des Lebens‹ nach 1 Joh 2,16 analysiert. 15 In De civitate dei (19,15) spricht er auch von der ›libido dominandi‹ ; Julian wirft er die ›libido loquendi‹ vor (c. Iul. imp. 5,27). Trotz ihres unausrottbaren Charakters gehört Konkupiszenz oder Libido nicht zur Menschennatur, sie sind weder ein Seelenteil (wie die Platoniker meinen; c. Iul. 6,53), noch ein »lebenspendendes Feuer« (›ignis vitalis‹), das gut in seiner Natur als Begierde (›appetitus‹), schlecht erst in seinem Exzeß erscheint, wie

vera rel. 70. Dazu Gerald Bonner: Libido and Concupiscentia in St. Augustine; Marleen Verschoren: The Appearance of the Concept concupiscentia in Augustine’s Early Antimanichaean Writings (388–391).

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Julian (mit den Stoikern) denkt. 16 Die Konkupiszenz, die der Kontrolle des Willens nicht unterliegt, ist für Augustinus eindeutig ein Böses (›malum‹) und eine Krankheit (›morbus‹), die geheilt werden muß (c. Iul. 3,28 f.). Augustinus versucht mehrmals den Unterschied zwischen dem ›Gut der Ehe‹ als göttlicher Gabe und dem Übel der Konkupiszenz zu erklären, die Scham verdient (›pudenda concupiscentia‹) und als Folge der Sünde zur Ehe nicht notwendig, sondern nur als ihre nachträgliche Verdorbenheit gehört (nupt. et conc. 1,1). Für diese Idee stützt sich Augustinus besonders auf zwei Bibelstellen, nämlich erstens auf die Erwähnung der Scham, die zur Menschennatur nicht von Anfang an, sondern als Folge der Sünde gehört (Gn 2,25; 3,7; nupt. et conc. 1,7), und zweitens auf die Klage des Apostels Paulus über den ›Leib des Todes‹, in dem ›das Gesetz der Glieder‹, d. h. ›die Sünde, die in mir wohnt‹, dem Geist des Menschen widersteht (Röm 7,14–24) und damit den Menschen gegen seinen Willen versklavt (nupt. et conc. 1,30). Der Ungehorsam der ersten Menschen gegenüber dem Schöpfer hat nämlich das Gleichgewicht der Schöpfung beschädigt und zugleich den Ungehorsam des eigenen Körpers verursacht, der am deutlichsten in der libidinösen Bewegung der Geschlechtsorgane zum Erscheinen kommt. Eben als etwas, was dem Willen nicht gehorcht, ist diese Bewegung von Scham begleitet (nupt. et conc. 1,7; 1,24; 2,17). Eine körperliche Verbindung des ersten Menschenpaares war, so Augustinus, schon immer von Gott beabsichtigt (nupt. et conc. 1,23), was jedoch hinzutrat, ist eben der libidinöse Charakter, der in diesem ›Leib des Todes‹ zu dieser Verbindung leider notwendig gehört. Der libidinöse Charakter der Fortpflanzung belastet die Nachkommen mit einem tödlichen Übel, obwohl sie an sich gut sind. Abgesehen von der Legitimität bzw. Illegitimität der Verbindung ihrer Eltern sind Nachkommen zwar ein Werk Gottes, aber mit einer ererbten Schuld belastet, die eine neue Geburt nötig macht (nupt. et conc. 2,35; 2,36; 2,55). Aus diesem Grund werden die neugeborenen Kinder getauft, damit in der ›geistigen Geburt‹ der fragliche Charakter ihrer ›leiblichen‹ Geburt saniert wird (nupt. et conc. 1,37), die aus einer ›verdorbenen‹ (›vitiata‹) Natur, ja aus dem Kern selbst ihrer Verdorbenheit c. Iul. 3,26 f.; vgl. auch c. Iul. 4,8. Zur stoischen Vorstellung des ›calor vitalis‹ vgl. Cicero: De natura deorum, II,24; 27; 41. Dazu Mathijs Lamberigts: The Philosophical and Theological Background of Julian of Aeclanum’s Concept of Concupiscence.

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hervorgeht, nämlich aus dem Punkt, wo ›das Gesetz der Glieder‹ dem Willen entgleitet (nupt. et conc. 1,26 f.). Die Sünde, die im Menschengeschlecht tradiert wird, ist keine manichäische Konstruktion, sondern, so Augustinus, eine althergebrachte Lehre der Kirche (›catholica fides credit antiquitus‹ ; nupt. et conc. 2,25), die durch Ambrosius von Mailand und Cyprian von Karthago als den Vertretern der italienischen und der afrikanischen Kirche bezeugt wird. 17 Augustinus hat jedoch nicht nur die Sünde als eine Strafe im Sinn (wie die Mehrheit seiner Vorgänger), sondern auch die Sünde als Schuld. Die Konkupiszenz wird nicht nur als eine Strafe ererbt (als der Leib, der der Kontrolle des Geistes entgleitet), sondern wegen des libidinösen Charakters der Fortpflanzung wird zugleich die Schuld übertragen (nupt. et conc. 1,25; 1,37). Sogar die getauften Eltern, die die Erbschuld losgeworden sind, tradieren eine Krankheit, an der sie selber nicht mehr leiden, obwohl sie unter ihren Folgen leiden. Wie nämlich die Sünden, die in ihrem Akt (›actu‹) vorübergegangen sind, in ihrer Schuld (›reatu‹) weiter bestehen, so kann nach Augustinus, die Konkupiszenz in ihrem Akt (›actu‹) weiter bestehen, obwohl ihre Schuldhaftigkeit (›reatus‹) durch die Taufe aufgehoben wurde. Der ›Akt‹ der Konkupiszenz ist dabei weder die unselige Qualität, durch die die Menschennatur belastet wird, noch die Tat, zu der diese Qualität den Menschen verführt, sondern die Sehnsucht (›desiderium‹) als durch das Ersehnte hervorgerufene Bewegung (›motus‹). Die Konkupiszenz als Qualität (›qualitas‹) wird durch das Ersehnte aktualisiert, wobei der Menschengeist (›mens‹) diesem Akt der Konkupiszenz widerstehen oder nachgeben kann. Nur in diesem zweiten Fall kommt der Akt der Konkupiszenz zur Auswirkung (›effectus‹ ; c. Iul. 6,60). Die Schuld wird nach Augustinus nicht erst durch Aktualisierung und Auswirkung der Konkupiszenz zugezogen; vielmehr gilt schon die angeborene Qualität vor ihrer Aktualisierung als Schuld, die in der Verdorbenheit des Ursprungs gründet (›origo vitiata efficit reos‹ ; c. Iul. 6,79; vgl. auch 3,46). Augustinus will den Ursprung der Sünde im Willen (wie er in seinen antimanichäischen Schriften hervorgehoben hat) nicht leugnen. Die ersten Menschen haben die Drangsale selbst verursacht, mit denen nun ihr Vergehen an ihrem ganzen Geschlecht bestraft wird. Ihre nupt. et conc. 2,15; 2,51. Vgl. Ambrosius: Fr. Es. 1; Cyprian: Ep. 64,5,2. Dazu Pier Franco Beatrice: Tradux; Otto Wermelinger: Rom und Pelagius, 272 ff.

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Nachkommen waren in ihnen schon im Augenblick ihrer Sünde keimhaft enthalten (›ratione seminum‹) und tragen deswegen die Schuld der ersten Verfehlung mit (c. Iul. imp. 2,177;5,12; vgl. 2,7; 3,4). Diese Schuld wird durch Fortpflanzung übertragen, die zur Strafe mit versklavender Konkupiszenz, d. h. mit ›schamhafter Begierde‹ (›pudenda libido‹) verbunden ist (c. Iul. imp. 2,42). Die im Menschengeschlecht tradierte Sünde ist zwar eine ›fremde‹, zugleich aber unsere eigene Sünde (c. Iul. imp. 1,48; vgl. auch 3,25). Wo Strafe tradiert wird, muß zweifelsohne auch Schuld übertragen werden (c. Iul. imp. 6,27; 6,36). Wären Kinder ohne jede Schuld geboren, dann wäre es ungerecht, daß sie unter so vielen Plagen des Körpers und des Geistes leiden, wie es bei Neugeborenen beobachtet wird (c. Iul. imp. 1,35; 1,54). Wenn es keine Erbsünde gäbe, müßte Gott ungerecht oder ohnmächtig sein, deduziert Augustinus (c. Iul. imp. 1,49; 1,120; 4,136). Der Ursprung des Bösen ist damit immer noch im Willen, für die Nachkommen Adams ist das Böse jedoch nicht nur ein aktives eigenes Vergehen, sondern zugleich auch eine erlittene Strafe für die Verfehlung ihrer Stammeltern (›poena peccati‹), wobei diese Strafe selbst eine Sünde ist (c. Iul. imp. 1,44; 1,47). Die Sünde hängt daher mit dem Willen eng zusammen und kann ohne den Willen nicht bestehen, wenn sie auch nicht immer eine willentliche Tat, sondern zugleich eine selbstständig gemachte Auswirkung des Willens ist – wie es die Kohle ohne Feuer nicht gibt, wenn sie auch nicht immer aktuell im Feuer sein muß (c. Iul. imp. 4,91). Die Sünde, als eine willentliche Tat gewollt, kann in ihrer Auswirkung, nämlich in ihrer Schuld, nicht gewollt sein (›qui volens fecit peccatum, nolens habet peccatum‹ ; c. Iul. imp. 4,103). Das Nichts, aus dem der Mensch herstammt, ist damit für Augustinus kein aktiver Stifter des menschlichen Bösen, sondern eine Erklärung, warum der Wille so zerbrechlich ist, daß er sich vom Guten abwenden konnte. Der Mensch ist nämlich nicht Gott, dessen freie Entscheidung sich nie dem Bösen zuwenden kann, sondern nur ein aus dem Nichts stammendes Geschöpf, dessen Wille eben daher das Gute unterlassen kann (c. Iul. imp. 5,38; 5,42).

4.

Die zwiespältige Lage des Menschen

In den (manchmal bizarren) Ausführungen Augustins über die ererbte Konkupiszenz wird die Lage des Menschen in ihrer Zwiespalt auf eine 100

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sehr interessante Weise analysiert. Die Konkupiszenz als die ›Sünde, die in mir wohnt‹ (Röm 7,17.20), ist für Augustinus eine latente Kraft (›vis occulta‹ ; nupt. et conc. 1,38), die erweckt wird, um dem Willen zu widerstehen. Dieser vom Apostel Paulus in den ›Leib‹ lokalisierte Drang bin ›ich selber‹ und bin es zugleich nicht. Ich bin es nicht, so Augustinus am Anfang seiner Polemik gegen Julian, sofern ich durch meinen Willen der Konkupiszenz nicht zustimme und damit meinen Willen nicht leugne. Die Konkupiszenz setzt sich nämlich dem Willen entgegen; falls der Wille ihr zustimmt, muß er sich selbst hassen, da er sich dadurch versklavt (›oderit quia consentit‹). Auch diese Zustimmung sei jedoch ein Akt des Willens, den ich vollziehe und in dem ich mich mit der ›Sünde, die in mir wohnt‹, identifiziere. ›Ich selbst‹ (ipse) bin auch diese ›Sünde‹, die zuerst in meinem ›Leib‹ latente Kraft der Konkupiszenz (nupt. et conc. 1,31). Die Zustimmung müsse zwar nicht immer gegeben werden (der Wille könne sich von ihr auch einmal distanzieren); es sei aber unmöglich, sie auszurotten. Die Klage des Apostels, daß er zwar den Willen, jedoch nicht die Kraft habe, ihn ›zu vollbringen‹ (›perficere‹), bezeugt nach Augustinus die Unmöglichkeit, das Gute in diesem Leben ›zu Ende zu führen‹ (›perficere‹), d. h. die Konkupiszenz völlig loszuwerden. Dies wird erst in dem auferstandenen Leib der Fall sein können, nicht in dem jetzigen ›Leib des Todes‹ (nupt. et conc. 1,31 f.; vgl. auch nupt. et conc. 1,35). Während seiner irdischen Existenz ist der Mensch stets mit der Krankheit der Konkupiszenz belastet, die nicht nur seinen ›Leib‹, sondern ihn selbst betrifft: ich selbst bin durch die Konkupiszenz versklavt (›captivans me‹, Röm 7,23; vgl. nupt. et conc. 1,34). Die Freiheit des Menschen hat damit für Augustinus die paradoxe Eigenschaft, sich selbst versklaven zu können; besser gesagt: hat sie sich schon immer versklavt. Der Mensch habe seine Freiheit immer schon verloren, meint Augustinus in seiner allerletzten Schrift Contra Iulianum opus imperfectum (vgl. dort 1,104). Sein Wille sei nun durch die Konkupiszenz gefangen (›voluntas captiva‹ ; c. Iul. imp. 3,112), durch seine eigene Begierde, die dem Willen nicht gehorcht und ihn verführt. Die Freiheit des Menschen sei zum Opfer der Notwendigkeit (›necessitas‹) zu sündigen geworden, sie sei versklavt (›servitus‹). Der Mensch tue nicht mehr, was er will (c. Iul. imp. 1,99; 1,106; 5,50), sondern »ist gezwungen böse zu sein« (›mali esse coguntur‹ ; c. Iul. imp. 5,64). Als die »Sünde, die in mir wohnt« (Röm 7,17.20) und der ich gegen meinen Willen zugestimmt habe, gehöre die Konkupiszenz zu A

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mir selbst (›suum esse‹ ; c. Iul. imp. 2,15), es ist nicht mehr eine fremde Kraft. Die Strafe des Menschen besteht damit gerade darin, daß er »sündigt wider seinen Willen« (›peccat invitus‹ ; c. Iul. imp. 4,100). Die Konkupiszenz ist nicht nur ein unausrottbares Moment der Zwiespalt des Menschen, sondern eine Kraft, die den Willen des Menschen immer schon versklavt hat. In diesem Sinne ist der Mensch selbst seine Konkupiszenz geworden, da ihr sein Wille schon immer unterliegt.

5.

Die Befreiung des Willens durch die Gnade

Angesichts dieser Lage des Menschen sieht Augustinus nur in der göttlichen Gnade eine Kraft, die dem Willen des Menschen helfen kann, gegen die Konkupiszenz zu bestehen. Nur die Gnade kann nämlich verursachen, daß das »Gefallen am Gesetz Gottes« (Röm 7,22) die Konkupiszenz als das »Gesetz der Glieder« überwindet und der Mensch damit ein ›Gefallen‹ daran findet, was seinem Willen entspricht. Dank diesem Gefallen wird nämlich sein Wille strenger als die Konkupiszenz. Dies ist nach Augustinus die Befreiung des Willens durch die Gnade (nupt. et conc. 1,33): »Ibi sumus veraciter liberi, ubi non delectamur inviti« (›wirklich frei sind wir nur, wenn wir kein Gefallen daran finden, was unserem Willen widersteht‹). Solches Gefallen (›condelectatio‹) am Gesetz könne sich keiner selbst geben: der Wille müsse dazu durch Gnade befreit werden (c. ep. Pel. 1,18–22). Das Gesetz rufe keine echte Liebe zur Gerechtigkeit hervor, sondern verhindert ihre Verletzung nur durch Strafandrohung. Erst Gnade, die Liebe in das Herz des Menschen eingießt, kann ›Gefallen an der Gerechtigkeit‹ (›dilectio et delectatio‹ bzw. ›amor iustitiae, cupiditas boni‹) schenken, so daß der Mensch nichts Böses tun will, wäre es auch straflos. Was nur die Gnade geben kann, ist die Süße (›dulcedo‹), die verursacht, daß die Gerechtigkeit den Menschen freut (›ut nos delectet et cupiamus, hoc est amemus, quod praecipit‹) und ihm nicht bloß auferlegt ist (c. ep. Pel. 1,15; 2,21). Gott schenke dem Menschen, der von sich aus nur noch sündigen kann, da seine Entscheidungsfreiheit in der Gefangenschaft der Sünde ist (›captivum‹), 18 durch seine Gnade einen Willen zum Guten, ohne c. ep. Pel. 3,24: »[…] liberum arbitrium captivum non nisi ad peccatum valet, ad iustitiam vero nisi divinitus liberatum adiutumque non valet«. Vgl. auch c. ep. Pel. 2,9.

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dadurch den willentlichen Charakter seiner Taten aufzuheben (c. ep. Pel. 1,38). Auf diese Weise hilft Gott zu erfüllen, was er dem Menschen als seine Pflicht auferlegt. An einer guten Tat beteiligen sich damit Gott und Mensch zugleich, der Mensch jedoch nur dank der Gabe des Willens, dessen er ein bloßer Vollzieher ist (c. ep. Pel. 2,20 f.). Die Freiheit des Menschen ist damit völlig auf Gott angewiesen, der Mensch hat weder seine Befreiung bzw. Gefangenschaft in der eigenen Hand, noch kann er den Urteil Gottes durch seinen Willen oder durch seine Handlung beeinflussen, da diese letztlich nur den Willen Gottes vollziehen (c. Iul. imp. 1,134; 1,141; 2,230 f.). Ein Paradigma dieser Gratuität (›exemplum gratiae‹), sei der Mensch Jesus (c. Iul. imp. 1,140), der dank seiner jungfräulichen Geburt von der Konkupiszenz bewahrt wurde, die sich dem Willen entgegensetzt (c. Iul. imp. 4,52–54; 4,57). Er sei nicht nur wahrer Mensch, sondern nur er sei Mensch im ursprünglichen Sinne, nicht die erbärmlichen Söhne Adams, die schon immer durch Erbschuld, Konkupiszenz, Unwissenheit und Sterblichkeit deformiert sind. Seine Ausnahmestellung habe der Mensch Jesus jedoch keineswegs verdient, sondern sie sei ihm durch unbegreifliche Gnade geschenkt worden. In ihm als in einem ›zweiten Menschen‹ (c. Iul. imp. 2,187; vgl. auch 6,22) sei ein Keim (›semen‹) des neuen Menschengeschlechts gelegt worden, das aus dem ererbten Fluch und dem Tod als seiner Folge befreit ist (c. Iul. imp. 3,51; vgl. auch 1,109 f.; 2,216; 4,135). Seine Sündenlosigkeit sei für den Menschen jedoch nicht nur Vorbild, wie Julian denkt, sondern die Heilung seiner Natur (c. Iul. 5,58; vgl. Julian von Aeclanum: Ad Turb. III, fr. 220). Sie sei die Gründung eines neuen Geschlechts, das die Schuld der Ahnen nicht mehr tradiert, in dem jeder vielmehr als Adoptivsohn Gottes ohne Belastung neu geboren wird. Der ›Tod der Sünde‹ und die Geburt des neuen Menschen in der Taufe bedeuten einen ›Wechsel des Vaters‹ durch Adoption, einen ›Wechsel der Erbschaft‹, Lösung von der ererbten Schuld (c. Iul. 6,83). Der Wechsel sei nicht nur ›scheinbar‹, wie Julian seinem Opponenten vorhält (Ad Turb. IV, fr. 284), obwohl das alte Erbe nicht auf einmal vernichtet sei und seine Folgen überdauerten. Der Mensch ist nicht nur ›quasi‹ gerettet, auch wenn er nur ›in der Hoffnung‹ gerettet ist (Röm 8,24); völlig geheilt wird er erst in dem neuen Leib, der dem Tod nicht unterliegt und der von der Konkupiszenz frei sein wird (c. Iul. 6,14 f.). Für das neue Leben entscheidet sich der Mensch zwar durch seinen Willen, nämlich durch seinen Glauben; es ist jedoch ein A

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von Gott ›vorbereiteter‹ oder ›verursachter‹ Wille (c. Iul. imp. 3,163; vgl. auch 5,42), den Gott nur denen schenkt, die er ohne ihr Zutun aus dem verdammten Menschengeschlecht auserwählt hat (c. Iul. imp. 4,125; 4,131). Diesen Auserwählten hilft Gott über die Konkupiszenz zu siegen (c. Iul. imp. 2,226), indem er ihren Willen durch Gnade befreit (c. Iul. imp. 1,79). Gott lasse sich nicht durch menschliche Vorstellungen von der Gerechtigkeit bestimmen, sondern gebe dem Menschen auch das, was er nicht verdient hat (c. Iul. imp. 1,38; ähnlich 3,27) – und nicht einmal verdienen konnte, da sein versklavter Wille des Guten ganz unfähig ist (c. Iul. imp. 1,79 f.; 1,98; 3,110). Augustinus sieht die Lehre von der Natur, die durch Freiheit verdorben und durch Gnade geheilt wird, als Weg zwischen der Skylla des Manichäismus und der Charybdis des Pelagianismus. Der Mensch ist weder ein gutes Wesen, das mit Gottes Hilfe dem Guten folgt, wie die Pelagianer meinen, noch ein Gemisch der guten und der bösen Natur, wie die Manichäer lehren. Nach Augustinus gilt nicht, was diese beiden Gruppen voraussetzen, nämlich daß ein Böses nie von einem Guten herrühren kann (c. Iul. 1,42). Im Gegenteil: die gut geschaffene Natur wurde durch freien Willen beschädigt (›vitiata‹ ; nupt. et conc. 2,9), wobei die Beschädigung keine andere Natur, sondern ein Defizit (›vitium‹), eine Krankheit (›languor‹) der ursprünglichen Natur ist (nupt. et conc. 2,57), die nur durch Gnade geheilt werden kann (nupt. et conc. 2,58).

6.

Schluß

Die menschliche Natur, wie Augustinus sie in seiner Polemik gegen Julian schildert, ist jedenfalls nicht nur ein gutes Geschöpf Gottes, das sich selbst durch seine freie Wahl vollenden soll, 19 sondern zugleich eine Natur, die sich schon immer negativ vollendet hat und damit einen tragischen Zwiespalt zwischen seiner ursprünglichen Bestimmung und der jetzigen Lage verursachte. Obwohl der Wille mindestens in dem Maße frei bleibt, damit es sinnvoll ist, von seiner Versklavung zu sprechen, es steht ihm leider nicht mehr frei, die eigene Lage durch eine Willensentscheidung wieder gutzumachen. Dazu mußte im Menschen Jesus ein neues Geschlecht gegründet werden, das die unselige Ver19

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Vgl. lib. arb. 1,26; trin. 8,4 f.; conf. 13,3.

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wicklung in die verdorbene Natur loswird. In dieses neue Geschlecht tritt der Mensch zwar auch durch seinen Willen ein, jedoch durch einen Willen (die Liebe), der ihm nur geschenkt werden kann. Dieser Wechsel geschieht nicht auf einmal und ist im irdischen Leben nie definitiv. Deswegen löst die Teilnahme an der neuen Lage den Zwiespalt zwischen der ursprünglichen und der verdorbenen Natur nicht, sondern bringt vielmehr eine noch dramatischere Spannung mit sich. Augustinus kann mit dem Apostel Paulus sagen – und zwar gerade von einem durch die Gnade befreiten Menschen (Röm 7,24): »Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« 20 Erst ein Mensch »unter der Gnade«, so Augustinus in seinen späten Jahren, versteht nämlich seine Zwiespalt zwischen der Absicht des Willens (der »ich selbst« bin) und dem Abgrund der Konkupiszenz, der den Willen an seiner Absicht hindert bzw. ihn zu einer anderen Absicht verführt. Da die Begierde ihr Ziel nur durch den Willen erreichen kann, entsteht eine Spaltung im Willen selbst. Der Wille folgt seiner durch die Gnade inspirierten Absicht, er neigt jedoch zugleich in die entgegengesetzte Richtung. Falls ihn die Konkupiszenz überwindet, muß der Mensch-Wille sagen: »Ich tue das, was ich nicht will« (Röm 7,16). Die wirkliche Spannung der Menschenlage, wie sie Augustinus gegen Julian schildert, besteht damit nicht so sehr im Zwiespalt zwischen der ursprünglichen Bestimmung der menschlichen Natur zum Guten und ihrer Krankheit. Vielmehr scheint die ursprüngliche Bestimmung des Menschen so vollkommen verloren gegangen, daß sie nicht einmal eine solche Spannung entstehen lassen kann. Es ist vielmehr ein Kampf zwischen der Konkupiszenz als der Krankheit der guten Natur und der geschenkten Liebe, die den Willen zum Guten wendet. Der versklavte Wille kann dabei nur durch dasjenige Mittel befestigt werden, woran er sich gewöhnt hat, nämlich durch eine affektive Verführung (nicht durch eine rationale Argumentation, die ihm Zur Änderung in Augustins Interpretation der Verse Röm 7,22–25a vgl. retr. 1,23,1; retr. 1,26; retr. 2,1,1. Dazu Hans Jonas: Augustinus und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlichen Freiheitslehre, 22–44; Otto Bardenhewer: Augustinus über Röm. 7,14 ff.; Robert Dodaro: »Ego miser homo.« Augustine, the Pelagian Controversy, and the Paul of Romans 7:7–25; Marie-François Berrouard: Exégèse augustinienne de Rom. 7,7–25 entre 396 et 418 avec les remarques sur les deux premières périodes de la crise »pélagienne«. Zu Julians Interpretation vgl. Ad Turb. fr. 316.

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vielleicht bekannt ist, jedoch nicht hilft). Deswegen bedient sich Gott, wenn er dem versklavten Willen zu Hilfe kommt, gerade dieses Mittels. Er muß den Willen durch die »Süße« der Liebe anlocken und durch das »Gefallen« am Guten überzeugen, die noch attraktiver und stärker sein werden als die Verführung der irrigen Begierde. Die wirkliche Freiheit besteht daher für Augustinus nicht in der Möglichkeit der Wahl, sondern in der Befreiung vom Zwiespalt des Willens – wenn man nämlich mit einer solchen Fülle der Gnade überschwemmt wird, daß kein Widerstand der Konkupiszenz zu überwinden bleibt (nupt. et conc. 1,33): »ibi sumus veraciter liberi, ubi non delectamur inviti.« Oder auch (gr. et pecc. or. 1,14): »liber facit, qui libens facit« (›derjenige handelt frei, der mit Vergnügen handelt‹), wie Augustinus schon gegen Pelagius festgestellt hat. Die geschenkte Freiheit ist nicht nur die Kraft, durch den Willen den Widerstand der Konkupiszenz zu besiegen, sondern vielmehr eine Affizierung des Willens, die den Zwiespalt im Willen überwindet. In Augustins Vorstellung der Gnade als affektiv wirkender Liebe handelt es sich jedoch nicht nur um den Primat des Gefühls vor der Vernunft oder der Gestimmtheit vor der Reflexion oder um eine affektiv-willentliche Motivation der Erkenntnis und der Handlung. Alle diese Motive, die bei Augustinus begegnen, gründen auf der Auffassung des Menschen als eines aus nichts geschaffenen Wesens, das in sich reflexive Selbsterkenntnis (vgl. die Analyse in trin. 10,5–10) und einen undurchsichtigen Abgrund der Konkupiszenz verbindet. Der aus nichts geschaffene Mensch enthält in sich nicht nur durchsichtige Rationalität, sondern auch dunkle Tiefen von Potentialitäten, die er mit seinem Geist nicht nur nicht ganz beherrscht, sondern die vielmehr ihn zu beherrschen drohen. Gerade deswegen ist für ihn die Gnade nicht nur eine Gabe des Gesetzes, des Vorbilds und der Verheißungen, die sich an seine Vernunft wenden, wie Julian betont, sondern auch eine affektive Kraft, eine ›Attraktion‹ der Süße, der Wollust, der Liebe (Io. ev. tr. 26,2–5: »trahit sua quemque voluptas«), wie Augustinus von Vergil (Ecl. 2,65) wußte. Diese Affizierung des Willens liegt nach Augustinus nicht in der Kraft der menschlichen Natur, sondern in der göttlichen Gnade. Er rechnet nicht wie die griechischen Väter mit einer durch die Menschwerdung Gottes erneuerten Natur, sondern spricht vielmehr von einem neuen Menschengeschlecht, das nicht mehr auf der Natur, sondern auf der Gnade gründet. Die Natur werde zwar geheilt, jedoch vor

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allem durch den geschenkten Willen, besser gesagt aber durch die geschenkte Süße, die den Willen affiziert. Gegen diese Auffassung Augustins stellt Julian den Glauben an den guten Schöpfer einer unzerstörbar guten Natur, die durch die Menschwerdung des Gottessohnes zur Teilnahme an der Gottessohnschaft gelangt. Nach seiner Überzeugung entscheidet der Mensch selbst über die Annahme des Heils. Seine Freiheit ist unzerstörbar: sie kann zwar schlecht benutzt, aber nie aufgehoben werden, weder durch eigene unvernünftige Handlungen, noch durch die Schuld seiner Ahnen. Der Mensch ist auch in seiner Endlichkeit, als Wesen der Entstehung und des Untergangs, ein Wesen der Vernunft und der Freiheit, das sich immer wieder – wie tief es auch gefallen sein mag – dank der Vernunft, dank des göttlichen Gesetzes, dank des Vorbilds Christi und der eschatologischen Verheißungen, zum Guten wenden und seine ursprüngliche Orientierung bestätigen kann. Es ist sicherlich eine Frage, ob diese vernünftige, optimistische, ja ›humanistische‹ Position, die zweifelsohne durch Julians antike Bildung inspiriert wurde – und die in manchem an Immanuel Kant denken läßt –, der ganzen Skala des menschlichen Bösen gerecht wird. Sie scheint eher als Korrektiv zu Augustins Vorstellung von der verdorbenen Natur beachtenswert zu sein. Vielleicht wird keine der beiden Auffassungen allein der Situation des Menschen ganz gerecht. Vielmehr scheinen erst beide zusammen und in ihrem Streit etwas vom Menschen und seiner Natur auszusagen.

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Zwischen Heilsuniversalität und Prädestination Ein Versuch zur Kontroverse Augustins mit den ›Semipelagianern‹ Guntram Förster (Würzburg)

Die Kontroverse mit den sogenannten ›Semipelagianern‹ ist die letzte große Debatte, die Augustinus am Ende seines Lebens begonnen hat und die sich über seinen Tod hinaus noch ein gutes Jahrhundert, bis zur Entscheidung der Synode von Orange (529), hinziehen sollte. Die Bezeichnung ›Semipelagianer‹ ist erstmals in der Lutherischen Konkordienformel (1577/1580) belegt; im Gnadenstreit des frühen 17. Jh. wurde sie von den Bañezianern polemisch gegen die Molinisten gebraucht, um die Lehre des Luis de Molina als Spielart des Pelagianismus abzuqualifizieren. 1 Als historischer Fachbegriff kennzeichnet ›semipelagianisch‹ eine in Südgallien verbreitete Theologie, die sich gegen die Prädestinationslehre des späten Augustinus richtete. Problematisch an der Bezeichnung ist der Begriff (neben der häufig mitschwingenden konfessionellen Polemik) insofern, als er eine Nähe zum Pelagianismus suggeriert, obwohl die Vertreter des ›Semi-Pelagianismus‹ theologisch in keiner Weise von Pelagius und seinen Gefolgsleuten abhängig sind. Der Begriff wird deshalb in Anführungszeichen verwendet. In diesem Beitrag soll ein Schlaglicht auf diese Kontroverse Augustins geworfen werden, und zwar mit Fokus auf die Relektüre einer heilsuniversalistischen Stellungnahme (Epistula 102) aus der Zeit um 409 in den Spätschriften De praedestinatione sanctorum / De dono perseverantiae. Zur Einordnung in die Entwicklung der Gnadentheologie Augustins sei zunächst – auf der Grundlage vor allem der einschlägigen Forschungen von Thomas Gerhard Ring – ein Blick auf die entscheidende Schrift Ad Simplicianum 1,2 gestattet.

1 Zum Ursprung der Bezeichnung siehe Gerhard Rottenwöhrer: ›Semipelagianismus‹, 35 f. Zur Problematik des Begriffs siehe Gerhard Ludwig Müller; Semipelagianismus. Conrad Leyser, Semi-Pelagianism.

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Zwischen Heilsuniversalität und Prädestination

1.

Einführung: Die gnadentheologische Schlüsselerkenntnis von 396

Daß Augustins im Jahre 396 verfaßte Schrift Ad Simplicianum 2 eine entscheidende Weichenstellung in der Entwicklung seiner Gnadentheologie bedeutete, hatte die Augustinus-Forschung bereits vor Kurt Flaschs Anklageschrift Logik des Schreckens erkannt; der Bischof von Hippo hat dafür noch zu Lebzeiten das Seinige getan, indem er, rückblickend auf seine geistige Entwicklung, die Rezipienten seines Œuvres unmißverständlich auf die Schlüsselstellung dieser Schrift aufmerksam machte (praed. sanct. 8). Seine bahnbrechende Erkenntnis machte Augustinus bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit dem 9. Kapitel des Römerbriefes, in dem der Apostel das Erwählungshandeln Gottes am Paradigma des alttestamentarischen Zwillingspaares Jakob und Esau veranschaulicht: Gott schenkt seine Gnade in absoluter Souveränität und unabhängig von jeglicher menschlicher Vorleistung (Simpl. 1,2,7): »ante omne meritum est gratia«, womit nicht nur verdienstliche Werke, sondern jetzt ausdrücklich auch der (Wille zum) Glauben als Ursache des göttlichen Erbarmens ausgeschlossen werden. Dieses Gnadenverständnis bedeutet eine wesentliche Korrektur gegenüber seiner früher vertretenen Auffassung, wonach Gott die vorzeitliche Erwählung von der vorhergesehenen Willensentscheidung zum Glauben abhängig mache. 3 Nach dieser früheren Konzeption bildete das Vorherwissen (›praescientia‹) Gottes gewissermaßen den »hermeneutischen Schlüssel« (T. G. Ring), um die Vereinbarkeit von göttlicher Allmacht und menschlicher Willensfreiheit sowie die Gerechtigkeit Gottes in seinem erwählenden Handeln plausibel zu machen. In Ad Simplicianum 1,2 revidiert Augustinus diese Lösung, indem er feststellt, daß die Erwählung allein im göttlichen Ratschluß (›propositum‹) wurzele. 4

2 Vgl. die Ausgabe von Thomas Gerhard Ring: An Simplicianus zwei Bücher. Aus ihr ist auch die Übersetzung wörtlicher Zitate übernommen. 3 Daß die Anwendung zeitlicher Bestimmungen, wie sie beispielsweise im Begriff ›praescientia‹ enthalten sind, auf Gott per se problematisch ist, war Augustinus sich bewußt und hat auf deren analogen Charakter hingewiesen. Vgl. Thomas Gerhard Ring: Electio, 750 f. 4 Simpl. 1,2,6. Zum Begriff des ›propositum‹ im gnadentheologischen Kontext vgl.: Adolar Zumkeller: ›Propositum‹ in seinem spezifisch christlichen und theologischen Verständnis bei Augustinus, 304–310.

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Guntram Förster

Folglich ist auch der Glaube bereits eine Wirkung der Gnade – und nicht deren Voraussetzung. 5 Diese Revision brachte zugleich eine Korrektur an seinem Verständnis der Schriftstelle (Mt 22,14; vgl. 20,16b): »Viele sind berufen, wenige aber auserwählt« mit sich. Nach Augustins früherer Auslegung (exp. prop. Rm. 55) enthält dieses Herrenwort eine zweifache Berufung, derzufolge zwischen den ›nur‹ Berufenen (den »vocati«) einerseits und den »›secundum propositum‹ Berufenen« (Röm 8,28), die er mit den »electi« (Mt 22,14 bzw. 20,16b) identifiziert, andererseits zu unterscheiden sei; zu den letzteren zähle aber nur der, von dem Gott »vorherwußte, daß er glauben und der göttlichen Berufung folgen werde«. An der Unterscheidung von zweierlei ›vocatio‹ hielt Augustinus zwar fest, doch bedingte sein neugewonnenes Verständnis von ›electio‹ zugleich eine Neubestimmung der Funktion der göttlichen ›praescientia‹ im Berufungsvorgang. In Ad Simplicianum wird das Vorherwissen Gottes nicht mehr als Grund der vorzeitlichen Erwählung betrachtet, sondern es bedingt deren zeitliche Verwirklichung, den ›modus vocandi‹ (Simpl. 1,2,13): »Wessen (Gott) sich […] erbarmt, den beruft er, wie es gemäß seinem Wissen jenem angemessen ist, so daß jener den Berufenden nicht verschmäht.« Das Konzept der ›vocatio congrua‹ besagt also, daß Gott bei der innerweltlichen Verwirklichung seiner Gnadenwahl aufgrund seines Vorherwissens um die Persönlichkeit des Erwählten die ihm ›gemäße‹ Weise der Berufung wählt, wodurch die freiwillige Annahme der Berufung unfehlbar bewirkt wird. Den Berufungsvorgang selber kennzeichnen die beiden Momente der Begegnung (›attingere mentem‹) als äußere Gnade und der Freude (›delectatio‹) als innere Gnade (1,2,21). Wenn ein Mensch ›congruenter‹, d. h. auf die ›ihm gemäße Weise‹ berufen wird, löst dies in dem Adressaten eine Freude aus, die ihn zur Zustimmung bewegt 6 . So wird »verstehbar, wie die Gnade den Willen bewegen kann, ohne seine Freiheit aufzuheben. Was der Mensch gern tut, dazu braucht er nämlich keinen

Thomas Gerhard Ring: Der Anfang des Glaubens: Verdienst oder Gnade?, 184. Ring formuliert als Fazit von Simpl. 1,2: »Gott reagiert nicht auf das Verdienst des Menschen, sondern er agiert ursächlich durch die Spendung der Gnade, aus welcher der Glaube folgt, durch den der Mensch mit dem Tun des Guten verdienstlich reagiert«. 6 Thomas Gerhard Ring: Bruch oder Entwicklung im Gnadenbegriff Augustins? (Kritische Anmerkungen zu K. Flasch, Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, Die Gnadenlehre von 397), 51. 5

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Zwang, darin handelt er freiwillig«. 7 Bezeichnend für die Funktion der ›praescientia‹ im Rahmen des Konzepts der ›vocatio congrua‹ ist das Anliegen Augustinus, das Heilshandeln Gottes nicht vom menschlichen Willensentscheid abhängig zu machen. Repräsentativ für den Konsens der Forschung stellt das Augustinus-Lexikon fest, daß für Augustinus die mit Ad Simplicianum 1,2 gefundene »neue Gewichtung und Formulierung der Gnadenlehre […] fortan zum Fundament seines Denkens gehört«. 8 Auch werde die Präszienzlösung von ihm später nicht mehr vertreten (ebd. 107). Vor diesem Hintergrund stört es ein wenig, daß Augustinus in einem gut ein Jahrzehnt später verfaßten Text eine ausgesprochen heilsuniversalistische Argumentation entwickeln und darin zugleich die ›Voraussicht des Glaubens‹ einbeziehen wird.

2.

Eine heilsuniversalistische Stellungnahme (ep. 102,8–15)

Zwischen 406 und 412, vermutlich im Jahr 409, 9 verfaßte Augustinus einen kleinen Traktat mit dem Titel ›Erörterung von sechs Fragen gegen die Heiden‹ (Quaestiones expositae contra paganos numero sex), 10 7 Thomas Gerhard Ring: An Simplicianus zwei Bücher über verschiedene Fragen, 322. Ähnlich J. Patout Burns: The Development of Augustine’s Doctrine of Operative Grace, 43: »In his theory of two kinds of vocation which God gives, one to the called and another to the elect, Augustine found a way of reconciling human freedom and divine sovereignty.« 8 Volker Hennig Drecoll: Gratia, 198. 9 Das Jahr 409 versucht Almut Mutzenbecher, CCL 57, XX, als Abfassungszeitpunkt wahrscheinlich zu machen. Gesichert ist freilich – aufgrund der Behandlung von ep. 102 in retr. 2,31 – lediglich der Zeitraum zwischen der Entstehung der eindeutig datierbaren Werke Cresc. (405/406; siehe retr. 2,26) und pecc. mer. et rem. (411/412; siehe retr. 2,33). Vgl. ausführlich zur Datierungsproblematik Jocelyne Larrieu-Regnault: Saint Augustin, Lettre 102. Exposition de six questions contre les païens. Présentation et traduction. Memoire D.E.A, 5–7. 10 So lautet der Titel gemäß der den Retractationes vorangestellten Liste aller darin behandelten Werke, dem auch das von Karl Heinz Chelius für das Augustinus-Lexikon erstellte Verzeichnis »Augustins Werke und kritische Editionen« (neueste Fassung: AL 3, XI-XXXII, hier: XVI) folgt. Leicht modifiziert nennt Augustinus in retr. 2,31 als Titel: ›Sex quaestiones contra paganos expositae‹ ; diesen Wortlaut benutzen auch die meisten Handschriften der ep. 102 als ›Zwischenüberschrift‹, um den ›Begleitbrief‹ (Paragraph 1) von der in Paragraph 2 beginnenden eigentlichen Abhandlung abzutrennen. – Vgl. die abweichende und weit umfangreichere Titelangabe bei Possid. indic. 1,21.

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den er mit vorangestelltem kurzem Begleitbrief an den befreundeten Priester Deogratias 11 nach Karthago sandte, weswegen die Abhandlung, die der Kirchenvater selbst als »librum […] non prolixum« bezeichnet (retr. 2,31), in den Editionen als Nr. 102 seines Briefkorpus firmiert. Augustinus schrieb dieses Werk als Antwort auf ein vorangegangenes, im Wortlaut aber nicht überliefertes Bittschreiben des Deogratias, worin dieser dem Bischof von Hippo einen Fragenkatalog übermittelte, der ihm, Deogratias selber, von einer dritten, zwar nicht namentlich genannten, aber mit ihnen beiden bekannten Person – einem Heiden – vorgelegt worden war (vgl. ep. 102,1). Über diese sechs Fragen schreibt Augustinus rückblickend (retr. 2,31): »Ein Freund hatte sie gestellt, dessen Konversion zum Christen ich wünschte. Ihm lag an der Lösung dieser Fragen den Heiden gegenüber, zumal einige von ihnen, wie er sagte, von dem Philosophen Porphyrius aufgestellt worden waren. Ich glaube aber nicht, daß es sich hierbei um jenen Sizilianer Porphyrius gehandelt hat, dessen Ruhm sehr gefeiert wird. […] Die erste dieser Fragen geht um die Auferstehung, die zweite um den Zeitpunkt, in dem die christliche Religion in Erscheinung trat, die dritte um die Unterscheidung der Opfer, die vierte über die Schriftstelle bei Matthäus (7,2): Mit dem Maße, mit dem ihr meßt, wird auch euch gemessen werden, die fünfte über den Gottessohn nach Salomo, die sechste über den Propheten Jonas«. 12

In seinem Antwortschreiben gibt Augustinus, ehe er seine Repliken verfaßt, zunächst jeweils die ihm vorgelegte Frage wieder. Ob die Fragen tatsächlich auf Porphyrius zurückgehen, ja ob sie möglicherweise – wie eine Formulierung nahelegen könnte, mit der bei Augustinus die Quaestio 2 eingeführt wird 13 – ursprünglich Bestandteil von dessen berühmt-berüchtigter Streitschrift Contra Christianos 14 waren, von der nur mehr Fragmente erhalten sind, wird in der Forschung – ungeachtet der oben zitierten, vermeintlich negativen Einschätzung AuguVgl. Goulven Madec: Deogratias. Übersetzung nach Carl Johann Perl (Aurelius Augustinus: Die Retractationen in zwei Büchern, 195), geringfügig modifiziert. 13 ep. 102,8: »item alia proposuerunt, quae dicerent de Porphyrio contra christianos tamquam validiora decerpta […]«. 14 Die Abfassung des Werkes muß im Zeitraum zwischen 270 und 303, dem mutmaßlichen Todesjahr des Porphyrius, erfolgt sein, eine nähere Präzision erscheint unmöglich. So jüngst Sébastien Morlet: La datation du Contra Christianos de Porphyre. À propos d’un passage problématique d’Eusèbe de Césarée (Histoire ecclésiastique, VI, 19, 2). 11 12

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stins – seit Harnacks Edition von 1916 bis in die Gegenwart diskutiert. 15 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die zweite ›quaestio‹, mit der die heidnische Seite in die Herzmitte des christlichen Selbstverständnisses zielt und Augustinus zu einer bemerkenswerten Antwort herausfordert, die ihn zwei Jahrzehnte später, d. h. kurz vor seinem Tod, noch einmal beschäftigen wird. In dieser zweiten Anfrage wird von heidnischer Seite der universale Anspruch der christlichen Religion mit deren geschichtlichem Charakter konfrontiert (ep. 102,8): »Wenn Christus, sagen sie, sich den Weg des Heiles nennt, die Gnade und die Wahrheit, und allein in sich für die an ihn glaubenden Seelen die Rückkehr festsetzt – was taten dann die Menschen all der Jahrhunderte vor Christus?«

Die ausschließliche Bindung des Heils an die Person Christi, hier mit unüberhörbaren Anklängen an christologische Aussagen des Johannesevangeliums formuliert, 16 soll so ad absurdum geführt werden. Denn der Anspruch Christi, der einzige Heilsweg zu sein, könne sich offenbar nicht auf den Teil der Menschheit erstrecken, der vor seinem Kommen gelebt hat – denn wie sollte es den Menschen vor Christi Geburt möglich gewesen sein, an ihn zu glauben? Damit aber wäre der Großteil der Menschheit von vornherein vom Heil ausgeschlossen. Um die gewaltigen historischen Ausmaße herauszustellen, richtet der Fragesteller im folgenden den Blick auf das Zentrum der antiken Welt und verfolgt die Religionsgeschichte Roms über die Gründung von Alba bis zu den mythischen Anfängen der Königsherrschaft in Latium zurück: In all diesen Jahrhunderten seien hier, aber auch auf dem ganzen Erdkreis die Götter verehrt worden, lange bevor man in Rom von der ›christiana lex‹ gehört hatte (ep. 102,8). Mit dem späten Erscheinen 15 Adolf von Harnack: »Gegen die Christen«, 15 Bücher. Harnack führt die bei Augustinus zitierten sechs Quaestiones als Fragmente seiner Sammlung Nr. 91 (= ep. 102,2), 81 (= ep. 102,8), 79 (= ep. 102,16), 91 (= ep. 102,22), 85 (= ep. 102,28), 46 (= ep. 102,30). – Auf seiner Sammlung beruhen alle seither erschienenen Ausgaben von Contra Christianos (siehe zuletzt Robert M. Berchman: Porphyry Against the Christians; Giuseppe Muscolino (Ed.): Contro i cristiani. Nella raccolta di Adolf von Harnack con tutti i nuovi frammenti in appendice). Eine Neuausgabe wird vorbereitet von Sébastien Morlet (»Contre les chrétiens. Réédition et analyse des fragments«, siehe hhttp://www.parissorbonne.fr/IMG/pdf/Sebastien_MORLET.pdfi). Zuweisung der Fragmente siehe Isabelle Bochet: The Role of Scripture in Augustine’s Controversy with Porphyry, 50 f. 16 Joh 1,14; 3,15–17; 14,6. Vgl. Isabelle Bochet: The Role of Scripture in Augustine’s Controversy with Porphyry, 21 f.

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des Christentums ist ein Vorwurf angesprochen, der schon früh in das Standardrepertoire der antichristlichen Polemik Einzug hielt: die ›novitas christiana‹. 17 Einerseits mußte die Verwurzelung der christlichen Religion in einem – zudem verhältnismäßig kurz zurückliegenden – geschichtlichen Ereignis per se den Argwohn einer dem Anciennitätsprinzip verpflichteten Mentalität erwecken. 18 Andererseits war mit dem Neuheitscharakter die weitergehende, philosophisch-theologisch brisante Frage nach der Gerechtigkeit Gottes aufgeworfen, die der Heide folgendermaßen artikuliert: »Was also, fragt er, geschah mit so zahllosen Seelen, die gänzlich ohne jede Schuld sind, da doch jener, dem man hätte glauben können, die Menschen seiner Ankunft noch nicht gewürdigt hatte?« 19 Das klassische Gegenargument der christlichen Apologetik, die Berufung auf das Erbe Israels, weist der Fragesteller bereits im voraus zurück: Die – wenn auch vergleichsweise alte – ›lex Iudaica‹ sei immer noch verhältnismäßig spät in der Geschichte erschienen, vor allem aber sei deren Geltung zunächst auf eine abgelegene Region in der römischen Provinz Syrien beschränkt geblieben, ehe sie sich langsam bis nach Italien ausbreitete, allerdings nicht vor der Zeit des Kaisers Caligula (37–41 n. Chr.). 20 Daß bereits vor dem Kommen Christi »für das Menschengeschlecht gesorgt worden« sei, läßt sich – aus Sicht des Heiden – mit der Berufung auf den Alten Bund also gerade nicht begründen; stattdessen heißt es polemisch, der ›sogenannte Heiland‹ habe sich jahrhundertelang ›entzogen‹ (ep. 102,8). Der heidnische Einwand mündet in den Satz (ebd.): »Was also geschah mit den Seelen der Römer und Latiner, die der Gnade des noch nicht kommenden Christus bis zur Kaiserzeit beraubt waren?« In seiner Erwiderung wendet Augustinus den Vorwurf zunächst auf den Angreifer selbst zurück, indem er deutlich macht, daß dieser Einwand im Grunde jede Religion trifft, deren Kult einen historischen Vgl. Wolfram Kinzig: Novitas Christiana: Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche. Zu ep. 102,8 vgl. dort 371. 18 Vgl. Isabelle Bochet: The Role of Scripture in Augustine’s Controversy with Porphyry, 22 f. 19 ep. 102,8. Vgl. Robert M. Berchman: Porphyry Against the Christians, 47; Wolfram Kinzig: Novitas Christiana: Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche, 370; Xavier Levieils: Contra Christianos. La critique sociale et religieuse du christianisme des origines au concile de Nicée (45–325), 213 f. 20 Zu dieser polemischen Spitze vgl. Jeremy M. Schott: Porphyry on Christians and Others. »Barbarian Wisdom«, Identity Politics, and Anti-Christian Polemics on the Eve of the Great Persecution, 306. 17

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Anfang hat. Die Heiden müssen sich daher ebenso der Frage stellen (ep. 102,9): »Was ist denn mit jenen geschehen, die der Tod ereilt hat, bevor diese [sc. Kulthandlungen] eingeführt wurden?« Mit diesem rhetorischen Griff ist der heidnische Vorwurf nicht nur entschärft, sondern vor allem eine gemeinsame Ausgangsbasis geschaffen, die es Augustinus erlaubt, die Universalität des Christentums argumentativ zu begründen. Kultische Neuerungen – in Bezug auf die römische Religion denkt Augustinus an die legendarische Gestalt des Numa Pompilius 21 , der als »Stifter kultischer Gewohnheiten« galt 22 – rechtfertigt er, kurzzeitig selbst in die Rolle des heidnischen Gesprächspartners schlüpfend, als Notwendigkeiten, die durch die Unterschiedlichkeit der zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten bedingt sind: Die Verschiedenheit im Bereich religiöser Handlungen (Augustinus spricht von ›sacramenta‹) müsse der Unterschiedlichkeit der Zeiten und Orte ebenso ›angemessen‹ sein wie die Verschiedenheit im Bereich der sprachlichen Laute der Unterschiedlichkeit der Sprachen und Hörer (ep. 102,10). Daß das einer jeden Zeit ›Angemessene und Nützliche‹ eintritt, wird durch das die Zeiten ordnende Wirken der göttlichen Vorsehung gewährleistet (ep. 102,13). Es ist aber niemand anderer als Christus, der die ›congruentia temporum locorumque‹ verbürgt, denn als der ewige Logos regiert er das Universum und lenkt den Lauf der Zeiten (ep. 102,11). Deshalb vermag Christus auch allen Menschen, die an ihn glauben, unabhängig von den Zeiten und Orten, an denen sie leben, das Heil zu vermitteln (ep. 102,12): »Wie wir nämlich an ihn glauben als den, der als stets beim Vater Bleibender bereits im Fleisch gekommen ist, so glaubten die Alten an ihn als stets beim Vater Bleibenden, der noch im Fleisch kommen wird.« Augustinus ist auf biblischer Grundlage davon überzeugt, daß es diese Gläubigen seit den Anfängen der Menschheit zu allen Zeiten gegeben hat, auch außerhalb des Volkes Israel. 23 Insofern ist für ihn die (›virtuelle‹ 24 ) Universalität des Christentums erwiesen: »Daher wurde unter anderen Bezeichnungen und Zeichen damals und

Siehe den Verweis auf Numa in ep. 102,13. Thomas Baier: Werk und Wirkung Varros im Spiegel seiner Zeitgenossen. Von Cicero bis Ovid, 44. 23 ep. 102,15. Vgl. Isabelle Bochet: The Role of Scripture in Augustine’s Controversy with Porphyry, 37. 24 Jocelyne Larrieu-Regnault: Saint Augustin, Lettre 102. Exposition de six questions contre les païens, 54. 21 22

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unter wieder anderen heute, früher von wenigeren, später von mehreren, doch die eine und selbe wahre Religion bezeichnet und befolgt.« 25 Augustinus will aber auch eine konkrete Antwort auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Kommens Christi nicht schuldig bleiben. Die Antwort, die er wagt, nimmt auf das göttliche Vorherwissen des Glaubens Bezug (ep. 102,14): »Christus habe den Menschen zu der Zeit erscheinen und seine Lehre verkünden lassen wollen, wann und wo, wie er wohl wußte, Menschen lebten, die an ihn glauben würden. [Der Herr] wußte eben voraus, daß damals und dort, wo man sein Evangelium nicht verkündete, alle Zuhörer die Verkündigung so aufgenommen hätten, wie es zwar nicht alle, aber doch viele bei seiner wirklichen Ankunft taten, [jene Menschen nämlich], die an ihn nicht einmal glauben wollten, als er die Toten zum Leben erweckte. Auch heute finden wir viele von dieser Art. Sie wollen noch immer nicht glauben, da sich doch die Weissagungen der Propheten an Christus so augenscheinlich erfüllen, und wollen lieber in menschlicher Schlauheit Widerstand leisten, als daß sie sich der klaren, einleuchtenden, erhabenen und wohlbekannten Autorität Gottes beugen und mit ihrem schwachen, beschränkten Menschenverstand der Wahrheit Gottes beipflichten. Was braucht man sich also wundern, wenn Christus wußte, daß die Welt in den vorausgehenden Jahrhunderten so voll von ungläubigen Menschen war, daß er ihnen mit Recht weder erscheinen noch verkündet werden wollte? Er wußte doch voraus, daß sie seinen Worten und Wundern keinen Glauben schenken würden. Es ist nämlich gar nicht unwahrscheinlich, daß alle Menschen damals von solcher Art gewesen wären, wie wir sie zu unserer Verwunderung seit seiner Ankunft bis auf den heutigen Tag so häufig erlebten und noch immer erleben.«

Durch diese Aussage erfährt der die Argumentation der Quaestio 2 prägende universalistische Tenor eine gewisse Einschränkung, weswegen sich als Fazit ergibt, daß »das von dieser Religion vermittelte Heil niemals einem Menschen gemangelt hat, der dessen würdig war, und hat es ihm gemangelt, so war er dessen nicht würdig« (ep. 102,15). Erstaunlich ist allerdings der Rückgriff auf das Argument des göttlichen Vorherwissens als Grund für den von Christus festgesetzten Zeitpunkt der Inkarnation, gilt diese Lösung doch, um es zu wiederholen, seit Ad Simplicianum 1,2 als endgültig überwunden. Manche Autoren werten diesen Abschnitt daher als Rückfall hinter den Er25 ep. 102,12. Die Übersetzung dieser und weiterer Passagen aus ep. 102,14 f. (= praed. sanct. 17) folgt der von Adolar Zumkeller in der Ausgabe ALG 7, 275–277 (ggf. mit geringfügigen Modifikationen). Vgl. retr. 1,13,3.

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kenntnisstand von 396. 26 Zur Wertung dieses Sachverhalts ist freilich auch die Art und Weise zu berücksichtigen, mit der das Argument an dieser Stelle eingeführt und unter einen Vorbehalt gestellt wird (ep. 102,14): »Lassen wir jene Tiefe der Weisheit und der Erkenntnis Gottes beiseite, in der vielleicht noch ein anderer göttlicher Ratschluß tief verborgen liegt, und achten wir auch nicht der anderen möglichen Gründe, die von einsichtigen Leuten ausfindig gemacht werden.«

Dies spricht für die Einschätzung von Burns, daß es sich um eine dem anti-paganen Kontext geschuldete ›ad hoc‹-Lösung handelt 27 ; der darin enthaltene Anklang an Röm 11,33 (»O altitudo divitiarum sapientiae et scientiae dei […]«), in den Gnadenschriften später ein häufig verwendeter Schriftbeleg für das Mysterium von Gnade und Erwählung, deutet in der Tat darauf hin, daß Augustinus hier die ganz bewußte Entscheidung trifft, auf eine gnadentheologische Erörterung zu verzichten. Damit bestätigt ep. 102 eine in den ersten Jahren nach 396 zu beobachtende Tendenz Augustins, die in Ad Simplicianum 1,2 im Zusammenhang der Paulusexegese gemachte Entdeckung in anderen Kontexten nicht zu thematisieren – erst der durch Pelagius ausgelöste Gnadenstreit sollte ihn von dieser Zurückhaltung abbringen. 28 Dies ist auch der Hintergrund, vor dem Augustinus gut zwei Jahrzehnte später zu den hier getroffenen Aussagen nochmals Stellung nehmen wird.

3.

›Semipelagianische‹ Vereinnahmung in Südgallien (epp. 225 und 226)

Im Jahre 411 begann die erste Phase des Pelagianischen Streits um göttliche Gnade und menschliche Freiheit, die mit der Epistula tractoria von Papst Zosimus im Jahr 418 einen Abschluß im Sinne Augustins fand. Doch entzündete sich in der Folgezeit eine zweite Pelagianische Kontroverse, weil eine Gruppe von 18 süditalienischen Bischöfen unter Führung des Julian von Aeclanum sich dem römischen Entscheid nicht Vgl. Engelbert Krebs: Sankt Augustin. Der Mensch und Kirchenlehrer, 283. Vgl. J. Patout Burns: The Development of Augustine’s Doctrine of Operative Grace, 79. 28 Vgl. J. Patout Burns: The Development of Augustine’s Doctrine of Operative Grace, 78 f. 26 27

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beugen wollte – diese Kontroverse sollte den Bischof von Hippo bis an sein Lebensende beschäftigen; sein letztes gegen Julian gerichtetes Werk hinterließ er unvollendet. 29 In dieser zweiten Phase des Pelagianischen Streites erfuhr die Gnadenlehre Augustins eine zunehmende Verschärfung, die sich insbesondere am Hervortreten der Prädestinationslehre ablesen läßt. Wichtig wurde der von Augustinus an den damaligen römischen Presbyter Sixtus, den späteren Papst Sixtus III. (432–440), gerichtete Brief 194 aus der Zeit um 418. 30 Dieser Traktatbrief zieht gleichsam das Resümee aus der Kontroverse mit Pelagius und formuliert die Quintessenz der Augustinischen Sicht von Gnade und Prädestination. Den Glauben, die guten Werke und das Gebet um Gnade dürfe der Mensch nicht sich selbst als Verdienst anrechnen, vielmehr seien diese bereits Wirkungen der Gnade. Wem diese Gnade zuteil werde, beruhe einzig auf Gottes freiem Entschluß. Augustinus nimmt hier seine Gedanken aus Ad Simplicianum wieder auf, so auch die Bezeichnung der gesamten Menschheit als »massa damnationis« (ep. 194,4). Infolge des Sündenfalles ist sie als Ganzes mit Recht verdammt, und es liegt kein Unrecht darin, wenn die Gerechtigkeit Gottes den einen die gebührende Strafe erteilt, den anderen aber aufgrund seiner unerforschlichen und unergründlichen Weisheit seine Gnade schenkt. Wie in Ad Simplicianum 1,2 argumentiert er auch hier mit Röm 9, wo Paulus von der Erwählung Jakobs und der Verwerfung Esaus handelt, noch ehe die beiden geboren waren. Das Schicksal der kleinen Kinder, die noch vor der Erlangung des Vernunftgebrauchs sterben, wird ihm zum Argument für die Prädestination: während die einen getauft und so ohne eigenes Verdienst gerettet werden, werden die anderen, die ungetauft sterben, aufgrund der Erbschuld zu Recht verdammt (ep. 194,31). »Mehr und mehr wird die Prädestination nicht nur als herausragendes Beispiel der Ungeschuldetheit von Gnade, sondern vor allem als Grund

Zum Verlauf vgl. z. B. Volker Henning Drecoll (Hrsg.), Augustin Handbuch, 179– 203: Abschnitt B. 7: »Der Pelagianische Streit« (Drecoll/Löhr/Lössl). 30 Johannes Divjak: Epistulae, 990. Inhaltliche Darstellungen der ep. 194, auf die im folgenden zurückgegriffen wird, bei Sebastian Kopp: Einführung. II. Entstehungsgeschichte der Schriften »Gnade und freier Wille« und »Zurechtweisung und Gnade«, 31–38; und Clemens M. Kasper: Der Beitrag der Mönche zur Entwicklung des Gnadenstreits in Südgallien, dargestellt an der Korrespondenz des Augustinus, Prosper und Hilarius, 154–156. 29

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einer ohne Verdienst jedem guten Akt vorauslaufenden Gnade erkannt und in die Argumentation eingeführt«, schreibt Clemens Kasper. 31 Es ist kaum verwunderlich, daß diese Position Augustins auch innerkirchlich Widerspruch provozierte. Dieser artikulierte sich um das Jahr 425 zunächst im nordafrikanischen Kloster Hadrumetum (Sousse im heutigen Tunesien), nachdem der Mönch Florus eine Abschrift der Epistula 194, auf die er während seines Besuchs bei Bischof Evodius in Uzala stieß, an seine Mitbrüder geschickt hatte. Dieser Brief entfachte dort allerdings einen heftigen Streit, weil einzelne Mönche darin die menschliche Willensfreiheit sowie die Berechtigung der Klosterdisziplin in Frage gestellt sahen. Mit Hilfe seiner Schrift De gratia et libero arbitrio, zwei Briefen (epp. 214–215) und einem weiteren Werk, De correptione et gratia, vermochte Augustinus die nordafrikanischen Opponenten zu überzeugen: Augustinus zeigte, daß die Beachtung der Klosterdisziplin und Zurechtweisung ihren Sinn angesichts der Prädestination nicht verlieren, schließlich könne Gott das Instrument der Zurechtweisung zur Verwirklichung seiner Prädestination benutzen. 32 Weit folgenreicher und langlebiger war allerdings der Widerstand, der sich wenig später im südlichen Gallien regte und auf den in der Regel der Begriff ›Semipelagianismus‹ angewandt wird. Während lange Zeit die Sicht vorherrschend war, daß die südgallische Opposition – als deren geistiges Haupt man Johannes Cassian namhaft zu machen versucht hat 33 – ebenfalls im monastischen Milieu verortet war, 34 konnte Clemens Kasper nachweisen, daß unter den Opponenten eine Clemens M. Kasper: Der Beitrag der Mönche zur Entwicklung des Gnadenstreits in Südgallien, dargestellt an der Korrespondenz des Augustinus, Prosper und Hilarius, 155. 32 Zur Hadrumetum-Kontroverse vgl. Josef Lössl, De correptione et gratia. 33 Vgl. etwa die Qualifizierung Cassians als »Vater des Semipelagianismus« (Friedrich Wörter, zitiert bei Clemens M. Kasper: Der Beitrag der Mönche zur Entwicklung des Gnadenstreits in Südgallien, dargestellt an der Korrespondenz des Augustinus, Prosper und Hilarius 153 Anm. 2. Karl Rahner: Augustin und der Semipelagianismus 174 spricht von der »ganz semipelagianische[n] 13. Collatio Cassians«). Eine differenzierte Darstellung des Verhältnisses von Johannes Cassian und Augustinus bieten: Conrad Leyser, Semi-Pelagianism 753 f.; Boniface Ramsey: Cassian, John; Donato Ogliari: Gratia et certamen: The Relationship between Grace and Free Will in the Discussion of Augustine with the So-called Semipelagians. 34 Repräsentativ für dies Sicht etwa Charles Pietri: Die Schwierigkeiten des neuen Systems (395–431). Die führende Häresie des Westens: Pelagius, hier 547: »Daher rief sie [sc. Augustins Konzeption der Herrschaft der Gnade] Gegner hervor, und zwar insbesondere von seiten der Experten der Askese und der Abhärtung: den Mönchen.« 31

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monastische sowie eine bischöflich-klerikale Richtung zu unterscheiden sind. 35 Es waren zwei Laienmönche, Prosper Tiro von Aquitanien, der »Troubadour des Augustinismus«, 36 und ein sonst nicht bekannter Hilarius, 37 die den Bischof von Hippo um 428/429 brieflich alarmierten und über die Widerstände in Gallien gegen die Ansichten Augustins zu Gnade und Prädestination unterrichteten. 38 Nach dem Zeugnis des Prosper und des Hilarius waren die Massilienser mit Augustinus von der Existenz der Erbsünde überzeugt; niemand könne daher aufgrund seiner eigenen Leistungen das Heil erlangen, sondern jeder sei auf die Gnade angewiesen (ep. 225,3; 226,2). Prosper erwähnt eigens, daß sie ausdrücklich auch die Positionen Augustins in seinem Werk Contra Iulianum unterstützten (ep. 226,3); dessen ungeachtet kämen manche der Opponenten aber pelagianischen Positionen bedenklich nahe (ep. 226,4). Ihre Kritik richte sich gegen die Lehre Augustins von der vorzeitlichen Erwählung bzw. Verwerfung – das impliziere einen Determinismus, der jegliches ethische Bemühen nutzlos mache; im übrigen stelle die Prädestinationslehre eine Neuerung gegenüber der kirchlichen Tradition dar (ep. 225,3). Die ›Semipelagianer‹ vertraten eine optimistische Sicht auf die Möglichkeiten der Natur des Menschen, auch nach dem Sündenfall. Wie ein Patient von sich aus nach dem Arzt rufe, um von ihm Heilung zu erlangen, so leiste der Mensch von sich aus den Glauben, um von Gott das Heil zu erlangen – diese Verpflichtung und dieses Vermögen, das der Natur des Menschen nach dem Willen des Schöpfers zugestanden sei, habe keine Seele durch den Sündenfall eingebüßt (ep. 226,2). Insofern der – wiewohl gefallenen – Natur des Menschen die Fähigkeit zur Glaubensentscheidung geblieben sei, beziehe sich Gottes Vorherwissen, Prädestination oder Ratschluß auf die zukünftig Glaubenden (ep. 226,4). Auf die Frage, warum das Evangelium in Gegenwart und Clemens M. Kasper: Der Beitrag der Mönche zur Entwicklung des Gnadenstreits in Südgallien, dargestellt an der Korrespondenz des Augustinus, Prosper und Hilarius. 36 Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte 3, 245. Zur Person des Prosper vgl. auch Michael P. McHugh: Prosper of Aquitaine. 37 Vgl. Hanns Christoph Brennecke: Hilarius IV. H. aus Gallien, 347. 38 Überliefert im Augustinischen Briefkorpus als ep. 225 (Prosper) und ep. 226 (Hilarius). Vgl. Johannes Divjak: Epistulae 998 f. Ausführlich referiert wird der Inhalt der beiden Briefe von Adolar Zumkeller: Einführung. III. Entstehungsgeschichte der Schriften »Die Vorherbestimmung der Heiligen« und »Die Gabe der Beharrlichkeit«, 59–66; sowie Clemens M. Kasper: Der Beitrag der Mönche, 166–180. 35

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Vergangenheit manchen Völkern verkündigt wurde und anderen nicht, antworten sie mit dem ›praescientia‹-Argument: »es liege am göttlichen Vorherwissen, daß die Wahrheit zu der Zeit, an dem Ort und an jene Völker verkündigt wurde oder werde, zu welcher Zeit und an welchem Ort sie seinem Vorherwissen nach geglaubt werde«. 39 Bestätigt sehen sie ihre Deutung durch die oben (Kap. 2) bereits zitierte ›praescientia‹-Argumentation Augustins in ep. 102,14, ergänzt um zwei weitere Stellen aus der frühen Pauluskommentierung in exp. prop. Rm. 60.62 (ep. 226,3). Prosper, der in Bezug auf die Evangelisierung der Völker das ›praescientia‹-Argument ebenfalls referiert (allerdings ohne dabei eine Bezugnahme der Massilienser auf Augustins frühere Schriften zu erwähnen), fügt noch die Vereinbarkeit dieser Lösung mit dem Schriftwort über den universalen Heilswillen (1 Tim 2,4) hinzu – ein zentrales Anliegen der südgallischen Opponenten (ep. 225,5). Die ›praescientia‹-Argumentation wird nach dem Zeugnis des Prosper von den ›Semipelagianern‹ auch auf den Fall der früh, d. h. schon vor Erlangung der Fähigkeit des Vernunftgebrauchs verstorbenen Kinder angewandt. Für Augustinus bildete die Tatsache, daß die einen vor ihrem Tod die Taufe empfangen und gerettet werden, die anderen aber ungetauft sterben und somit verloren gehen, ohne daß sie sich – angesichts ihrer kurzen Lebensdauer – schon Verdienste hätten erwerben können, den schlagenden Beweis, daß die göttliche Gnadenwahl nicht auf zukünftigen Verdiensten beruhen kann (vgl. ep. 194). Für die Massilienser hingegen hing das Schicksal der früh verstorbenen Kinder davon ab, wie sie sich nach Gottes Vorherwissen verhalten haben würden, wenn sie länger gelebt hätten und zum Vernunftgebrauch gelangt wären (ep. 225,3). Bezüglich der Beharrlichkeit (›perseverantia‹) im Glauben widersprachen sie der Auffassung Augustins von deren Unverdientheit, vielmehr werde die Perseveranz dem vorausgegangenen Willensentschluß zuteil. Sie waren überzeugt, daß man sie sich sowohl verdienen als auch verscherzen könne (ep. 226,4). Nach den Schilderungen des Prosper und des Hilarius waren die südgallischen Opponenten also durchaus auf einer Linie mit Augustinus, was die Tatsache der Erbsünde und die Angewiesenheit auf die Gnade Gottes angeht; um den Konsequenzen der Prädestinationslehre zu ent39 ep. 226,3: »[…] dicunt id praescientiae esse divinae, ut eo tempore et ibi et illis veritas adnuntiaretur vel adnuntietur, quando et ubi praesciebatur esse credenda«.

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gehen, mußte der Glaubensakt jedoch ganz in die Eigenverantwortung des Menschen gelegt werden.

4.

Relektüre von ep. 102,14 im Spätwerk De praedestinatione sanctorum / De dono perseverantiae

Die in den Briefen des Prosper und Hilarius berichteten Vorgänge in Südgallien und die ausdrückliche Bitte der Briefschreiber um eine schriftliche Stellungnahme Augustins bildeten den unmittelbaren Anlaß zur Abfassung der beiden Schriften De praedestinatione sanctorum und De dono perseverantiae, zweier kleinerer Werke, die im Grunde zusammen eine einzige Abhandlung bilden. 40 Der greise Bischof schrieb das Doppelwerk vermutlich in seinem letzten Lebensjahr, d. h. zwischen Sommer 429 und Sommer 430; es ist Prosper und Hilarius gewidmet (ebd.). Im Fokus des ersten Bandes steht die Frage nach dem Anfang des Glaubens (›initium fidei‹), während der zweite Band die Beharrlichkeit (›perseverantia‹) im Glauben bis ans Lebensende behandelt.

4.1. Die Zuordnung von ›praedestinatio‹ und ›praescientia‹ (praed. sanct. 17–19) Ausgangspunkt von Augustins Darlegungen in De praedestinatione sanctorum ist die Verstrickung der gesamten Menschheit in die Sünde Adams. Daß Befreiung von der Erbsünde allein durch die Rechtfertigung in Christus möglich ist, bildet für ihn die gemeinsame Gesprächsbasis mit den südgallischen Opponenten. Zum zentralen Thema dieses Buches macht Augustinus den Nachweis, daß bereits der Glaubensanfang (›initium fidei‹) Geschenk der göttlichen Gnade ist (praed. sanct. 5): »Unsere Fähigkeit, den Anfang des Glaubens zu setzen, stammt […] aus Gott«. Als Gnade aber ist sie ungeschuldet, denn würde sie »secundum meritum« gegeben, hörte sie auf, Gnade zu sein Als Variante zu De dono perseverantiae führen manche Handschriften für das zweite Werk auch den Titel »Liber II de praedestinatione sanctorum« bzw. »De bono perseverantiae«. Vgl. Adolar Zumkeller: Dono perseverantiae (De-), 651 mit Fn 4. Die Übersetzung der Zitate aus beiden Werken folgt Adolar Zumkeller in: ALG 7,241–439. 40

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(ebd. 6). Zu einer Art Leitmotiv wird für ihn das Pauluswort 1 Kor 4,7: »Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?« Auf dessen zentrale Bedeutung wurde Augustinus nach eigenen Worten durch das Zeugnis des Kirchenvaters Cyprian aufmerksam, und dieses Zeugnis widerlegte seinen früheren Irrtum, den er im Zuge einer frühen Römerbriefauslegung vertreten habe und durch den sich heute die ›Semipelagianer‹ bestätigt fühlten: »Ich […] wähnte, der Glaube an Gott sei kein Geschenk Gottes, sondern er sei in uns aus eigenem Vermögen« (praed. sanct. 7). 41 Seine später neu gewonnene Gnadenauffassung, wonach auch der Glaube eine ungeschuldete Gnadengabe Gottes ist, legt er durch ein längeres Selbstzitat aus der zugehörigen Retractatio (1,23,2–4; praed. sanct. 7) und eine Würdigung seiner Schrift Ad Simplicianum dar (praed. sanct. 8). Unausweichlich stellt sich die Frage, warum die Glaubensgnade offensichtlich nicht allen geschenkt wird – was Augustinus zum Anlaß nimmt, eine neuerliche Deutung von 1 Tim 2,4 vorzunehmen, zumal die ›Semipelagianer‹ sich auf dieses Schriftwort beriefen. Der Bischof von Hippo leugnet den universalen Heilswillen Gottes keineswegs im Grundsatz, schränkt ihn aber in seiner faktischen Verwirklichung ein. 42 Im Anschluß an das Johanneische Jesuswort: »Jeder, der auf den Vater hört und sich von ihm belehren läßt, kommt zu mir« (Joh 6,45), bringt er folgendes Beispiel (praed. sanct. 14): »Es ist so ähnlich, wie wenn wir in freiem Sprachgebrauch von einem Schullehrer, der der einzige am Ort ist, sagen: Alle lehrt dieser Mann lesen und schreiben; nicht weil alle es lernen, sondern weil alle, die dort lesen und schreiben lernen, es nur von ihm lernen. So sagen auch wir ganz richtig: Alle lehrt Gott, zu Christus zu kommen, nicht weil alle wirklich kommen, sondern weil kein Mensch auf andere Weise kommt«.

Dies ist eine weitere Variante, mit der es der Lehrer der Gnade in seinem Spätwerk unternimmt, das Schriftwort vom universalen Heilswillen Gottes 1 Tim 2,4 einer restriktiven Deutung zu unterziehen. Donato Ogliari sieht im Fehlen einer endgültigen Interpretation zu Recht ein Indiz dafür, daß es dem Kirchenvater nicht gelang, die traditionelle

Augustinus nimmt hier Bezug auf ep. 226,3 und exp. prop. Rm. 60–62. Vgl. Donato Ogliari: Gratia et certamen: The Relationship between Grace and Free Will in the Discussion of Augustine with the So-called Semipelagians, 364.

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(wörtliche) Deutung von 1 Tim 2,4 mit seiner theologischen Lehre von der unbedingten Gnade und Prädestination zu vereinbaren. Der mittlere Abschnitt von De praedestinatione sanctorum (1731) dient der Verhältnisbestimmung von Glaubensgnade und Prädestination bzw. Erwählung. 43 Diese wichtige Klärung unternimmt Augustinus ausgehend von der Relektüre seiner Äußerungen in ep. 102,14 über das Vorherwissen des Glaubens, die ihm von Seiten der Massilienser als Einwand gegen seine aktuellen Ansichten zur Prädestination entgegengehalten wurden. Sein Satz: »Christus habe den Menschen zu der Zeit erscheinen und seine Lehre verkünden lassen wollen, wann und wo, wie er wohl wußte, Menschen lebten, die an ihn glauben würden«, diente den ›Semipelagianern‹ als Stütze ihrer Auffassung, daß die Gnade der Erwählung vom Vorherwissen des zukünftigen Glaubens abhängig sei, sie werde dem Erwählten also geschenkt, weil Christus voraussehe, daß er zum Glauben kommen werde. Christi Vorherwissen rechnet den Erwählten nach Auffassung der Massilienser also den Glauben als Verdienst an. Im Unterschied zu seiner Aussage in exp. prop. Rm. 60–62 bezichtigt der Kirchenvater sich hier nicht eines früheren Irrtums, anerkennt aber Klärungsbedarf angesichts der gnadentheologischen Diskussion, in der er seine frühere Aussage nun wiederfinden mußte. Augustinus macht geltend, daß es sich damals um eine situationsbedingte und aufgrund des heidnischen Adressaten offensichtlich um die gnadentheologische Dimension verkürzte Aussage gehandelt habe. Wörtlich schreibt er, »daß ich diese sorgfältigere und mühevollere Untersuchung der Gnade überging« (praed. sanct. 18). Vom Vorauswissen Christi habe er nur insofern sprechen wollen, als »dies zur Widerlegung des heidnischen Unglaubens, der mir diese Frage aufgegeben hatte, hinreichend schien«. Die Frage nach Vorauswissen oder Vorherbestimmung habe sich im damaligen Kontext so nicht gestellt, erst der pelagianische Irrtum habe es nötig gemacht, dieses Problem nunmehr ausführlicher und gründlicher zu diskutieren. 44 Die umstrittene Passage läßt laut Augustinus aber eine rechtgläubige Interpretation zu, indem er den Relativsatz »qui in eum fuerant credituri« durch »qui electi fuerant in ipso ante mundi constitutionem« ersetzte, so daß die Aussage nun lautet: Zur Gliederung der Schrift vgl. Adolar Zumkeller: Einführung. III. Entstehungsgeschichte, 68. 44 praed. sanct. 18; vgl. ebd.: »quae nunc ex admonitione Pelagiani erroris […].« 43

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»Tunc voluisse hominibus apparere Christum, et apud nos praedicari doctrinam suam, quando sciebat et ubi sciebat esse qui electi fuerant in ipso ante mundi constitutionem«.

›Christus habe den Menschen zu der Zeit erscheinen und seine Lehre verkünden lassen wollen, wann und wo, wie er wohl wußte, Menschen lebten, die schon vor Erschaffung der Welt in ihm auserwählt waren‹.

Diese neue Lesart stellt jedenfalls klar, daß die göttliche Erwählung nicht vom menschlichen Willen abhängt, sondern von der Gnade und der Prädestination. 45 Diese Auseinandersetzung mit seiner früheren Stellungnahme nimmt Augustinus nun zum Anlaß, die Begriffe ›Vorherbestimmung‹ und ›Vorherwissen‹ ebenso wie den Begriff ›Gnade‹ gegeneinander abzugrenzen (praed. sanct. 19). Der Unterschied zwischen Gnade und Prädestination ist für Augustinus lediglich dieser: Prädestination ist Vorbereitung auf das Geschenk der Gnade (›gratiae praeparatio‹), während die Gnade als das Geschenk selbst (›ipsa donatio‹) bzw. als Wirkung (›effectus‹) der Vorherbestimmung bezeichnet wird. Doch vermag die Prädestination nicht ohne Vorherwissen zu existieren, denn für die Vorherbestimmung muß Gott ein Vorauswissen seines eigenen (zukünftigen) Handelns haben. Und hier liegt der entscheidende Punkt, der ihn von seinen früher vertretenen Anschauungen unterscheidet: Gottes Vorherbestimmung, Prädestination, ist nicht ein Vorauswissen menschlichen Glaubens oder anderer Verdienste, sondern Gott weiß seine eigenen künftigen Werke voraus. Es gibt für Augustinus aber auch Vorauswissen ohne Vorherbestimmung, denn: Gott

Vgl. Donato Ogliari: Gratia et certamen: The Relationship between Grace and Free Will in the Discussion of Augustine with the So-called Semipelagians, 384. Ob diese Deutung der Argumentation in ep. 102 noch gerecht wird, ist allerdings diskussionswürdig. Beraubt sie nicht vielmehr das Argument seiner eigentlichen Pointe und läßt den Vorwurf der Ungerechtigkeit Gottes unbeantwortet? Adolar Zumkeller: Erläuterungen zu »Die Vorherbestimmung der Heiligen«, hat jedenfalls den Eindruck, »daß Augustinus dem ursprünglichen Sinn jener Sätze mit dieser späteren Deutung nicht vollständig gerecht wird« (491). Engelbert Krebs: Sankt Augustin. Der Mensch und Kirchenlehrer, formuliert schärfer (285), »daß diese späte Korrektur den Gedankengang des ursprünglichen Textes nicht korrigiert, sondern einfach aufhebt. Denn wenn ein Heide auf Augustins ursprüngliche Erklärung hin damals katholisch geworden wäre, so hätte er hinsichtlich dieser quälenden Frage, warum Christus nicht früher erschienen sei, nicht einfach weiter lernen, sondern umlernen müssen«. Vgl. Karl Rahner: Augustin und der Semipelagianismus, 194 Fn 118.

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kann auch alles vorherwissen, was er nicht selbst tut, z. B. die Sünden der Menschen. Gegen die vor 396 selbst vertretene, aktuell nun von den Massiliensern beanspruchte Präszienzlösung greift Augustinus abermals das Argument der ›kleinen Kinder‹ auf. Ungetauft verstorbene Kinder verfallen wegen der Erbschuld der Verdammnis – darin ist Augustinus sich mit seinen ›semipelagianischen‹ Gegnern einig. Aber warum wird den einen die Taufe und damit das ewige Leben geschenkt, während die andern ungetauft der Verdammnis anheimfallen? Die ›Semipelagianer‹ wollten den Grund in den Verdiensten sehen, die sich die Kinder erworben, bzw. in Sünden, die sie begangen hätten, falls sie länger gelebt hätten. Mit dieser These geht Augustinus hart ins Gericht: »Wie solche Menschen auf den Gedanken verfallen konnten, Künftiges, das doch niemals sein wird (›futura quae non sunt futura‹) werde bestraft oder den Kindern zum Verdienst angerechnet, ist mir unbegreiflich« (praed. sanct. 24). E contrario gewinnt er damit ein weiteres Argument für die freie Gnadenwahl Gottes. De praedestinatione sanctorum schließt mit einem dritten Abschnitt (32–42), der den Gedanken der Erwählung bzw. Prädestination mit Schriftzeugnissen absichert.

4.2. Korrektur durch das Herrenwort über Tyros und Sidon (Mt 11,21 f.). (persev. 23–25) De dono perseverantiae, der Fortsetzungsband zu praed. sanct., gliedert sich in zwei Abschnitte: Während der erste das Verhältnis der Gabe der Beharrlichkeit zur Prädestination thematisiert (1–33), werden im zweiten praktisch-pastorale Fragestellungen behandelt, die seitens der ›Semipelagianer‹ gegen die Prädestinationslehre ins Feld geführt wurden (34–67). 46 Gleich zu Beginn findet eine Begriffsklärung statt (persev. 1): »Diese Beharrlichkeit freilich, von der wir jetzt handeln und kraft der man in Christus bis ans Ende ausharrt, kann man keineswegs dem zuerkennen, der nicht [wirklich] bis ans Ende ausharrt.« Über den Besitz der Beharrlichkeit kann es per definitionem also keine Gewißheit geben, solange einer lebt. Analog zur Gnade des Glaubensanfangs hatten die Massilienser auch die Gabe der Beharrlichkeit bis ans Ende von der Voraussicht des 46

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Vgl. Adolar Zumkeller: Dono perseverantiae (De-), 652.

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guten Willens abhängig gemacht. 47 Augustinus muß daher erneut gegen die Präszienzlösung argumentieren. Vehement widerspricht Augustinus abermals und macht deutlich, daß die Theorie der Massilienser impliziere, »die Beharrlichkeit werde gegeben oder verweigert aufgrund guter oder schlechter Werke, die der Mensch in einem längeren Leben vollbracht habe« (vgl. Zumkeller ebd. 654 f.). In diesem Zusammenhang kommt er wieder auf seine Aussage aus ep. 102,14 zurück und zeigt nun anhand des Herrenwortes über Tyrus und Sidon (Mt 11,21 f.) deren Grenzen auf (persev. 23): »Fragt man uns nämlich, warum solche Wunder bei Leuten geschahen, die sie sehen und doch nicht glauben sollten, bei jenen aber nicht geschehen, die geglaubt hätten, wenn sie dieselben gesehen hätten –, was werden wir antworten? Sollten wir vielleicht sagen, was ich in jenem Buch äußerte, in welchem ich auf sechs Frage von Heiden Antwort gab, jedoch ohne die anderen Gründe zu berücksichtigen, die verständige Leute ausfindig machen können? Auf die Frage, warum Christus [erst] nach so langer Zeit kam, sagte ich nämlich, wie ihr wißt, folgendes: ›Er wußte voraus, daß damals und dort, wo man sein Evangelium nicht verkündigte, alle Zuhörer die Verkündigung so aufgenommen hätten, wie es […] viele bei seiner wirklichen Ankunft taten, Leute, die an ihn nicht einmal glauben wollten, als er die Toten zum Leben erweckte‹. Ebenso sagte ich kurz darauf im selben Buche und bei der gleichen Frage: ›Was braucht man sich also wundern, wenn Christus wußte, daß die Welt in den vorausgehenden Jahrhunderten so voll von ungläubigen Menschen war, daß er ihnen mit Recht […] nicht verkündigt werden wollte? Wußte er doch voraus, daß sie seinen Worten und Wundern keinen Glauben schenken würden‹.«

Augustinus stellt nun fest, daß es sich mit den Bewohnern von Tyrus und Sidon nach Jesu Wort in Mt 11,21 f. so nicht verhält. Denn von diesen Heidenstädten heißt es ausdrücklich, daß sie sich bekehrt haben würden, wenn sie die Wunder gesehen hätten, die Jesus bei den Juden getan hat. Und doch werden sie nach dem Wort der Schrift beim Gericht bestraft, wenn auch in geringerem Maße als Chorosain und Bethsaida. Für Augustinus ist durch dieses Jesuswort die These widerlegt, daß die Gnade aufgrund des Vorherwissens ›bedingt zukünftiger Werke‹ gegeben werde (ebd.): »Somit ist es nicht wahr, daß die Verstorbenen auch nach den Taten gerichtet werden, die sie getan haben würden, wenn die Frohbotschaft sie noch bei Lebzeiten erreicht hätte.« 47

Vgl. Adolar Zumkeller: Dono perseverantiae (De-), 654. A

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Damit bestätigt er vor allem auch seine Auffassung über das Problem der ungetauft verstorbenen unmündigen Kinder: Daß sie verloren gehen, ist nicht die Strafe für böse Taten, die sie im Falle eines längeren Lebens begangen haben würden, sondern ist ein Resultat ihrer Verstrickung in die Erbsünde. Daß andere früh verstorbene Kinder zuvor der Taufgnade teilhaftig werden, verdanken sie nicht der Voraussicht guter Werke, die sie im Falle eines längeren Lebens getan haben würden, sondern einzig der Barmherzigkeit Gottes, der sich in freier Gnadenwahl entschlossen hat, ihnen durch die Taufe den Nachlaß der Sünden zu gewähren.

5.

Schluß und Ausblick

Vorstehende Ausführungen wollten zeigen, wie die ›semipelagianische‹ Kontroverse einen neuen Verstehenshorizont für eine von Augustinus in anti-paganem Kontext entwickelte Argumentation schuf und ihn zu einer selbstkritischen Relektüre veranlaßt. Die ausgesprochen heilsuniversalistisch ausgerichtete Argumentation in ep. 102, die manche Rezipienten mit dem Bedauern kommentieren, daß Augustinus diese Gedankenlinie nicht weiter ausgearbeitet habe, 48 zeigt jedenfalls, daß Augustinus gut ein Jahrzehnt nach seiner gnadentheologischen Schlüsselerkenntnis von 396 sich keineswegs eindeutig vom universalen Heilswillen Gottes verabschiedet hatte 49 – daß die Massilienser seine Argumentation wie selbstverständlich mit 1 Tim 2,4 zusammenstellen konnten, spricht für sich. Es erscheint mehr als fraglich, ob Ad Simplicianum 1,2 wirklich jenen »Bruch« im Denken Augustins darstellt, den Kurt Flasch mit seiner Logik des Schreckens zu markieren beansprucht. Erst durch die Herausforderung des Pelagius und des Julian von Aeclanum kam es zu jener Zuspitzung der Gnadenlehre zu einer Prädestinationslehre, die in den behandelten Spätschriften ihren Höhepunkt erreicht. 50 Dennoch: selbst in De praedestinatione sanctoVgl. Donato Ogliari: Gratia et certamen, 355: »Unfortunately he did not fully work out these intuitions«. Ebd. Fn 278. 49 So die Meinung von Kurt Flasch: Logik des Schreckens, 79: »Die neue Konzeption fordert, daß Gott nicht will, daß alle Menschen selig werden.« – Zur Problematik des universalen Heilswillens bei Augustinus vgl. auch den Beitrag von Theresia Maier im vorliegenden Band. 50 Vgl. J. Patout Burns: The Development of Augustine’s Doctrine of Operative Grace; 48

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rum und De dono perseverantiae bleibt m. E. das Spannungsfeld von Gnade und Willensfreiheit aufrechterhalten, der menschliche Pol wird nicht völlig vom göttlichen absorbiert. Ich möchte hierzu abschließend einer Spur nachgehen (praed. sanct. 22), wo Augustinus sich mit dem Paulusvers Röm 10,9 auseinandersetzt: »Wenn du glaubst, wirst du selig werden«. Die Massilienser interpretierten dieses Pauluswort gewissermaßen synergistisch: »Das eine wird gefordert (also der Glaube), das andere geboten (also das Heil). Was gefordert wird, steht in des Menschen Macht, was angeboten wird, in Gottes Macht.« Ergo wären die Bereiche fein säuberlich geschieden: Der Glaube ist allein Sache des Menschen. Dem widerspricht Augustinus natürlich heftig. Denn auch das, was Gott fordert, stehe in Gottes Macht, sagt der Bischof von Hippo mit einer deutlichen Anspielung an jenes Stoßgebet, das mit zum Auslöser für die Kontroverse mit Pelagius wurde (conf. 10,40.45.60: »da quod iubes, et iube quod vis«): 51 »Man betet doch, damit Gott gibt, was er fordert.« Als Beispiel aus der liturgischen Praxis nennt Augustinus das Gebet der Gläubigen um Mehrung ihres Glaubens und das Gebet für die Ungläubigen, daß ihnen der Glaube geschenkt werde. Also sei der Glaube, den Gott fordert, zugleich Gottes Gabe. Ebenso sei es mit der Abtötung der Werke des Fleisches, die zwar Gottes Gabe ist, von uns aber dennoch mit dem Hinweis auf den Lohn des Lebens gefordert wird. Augustinus resümiert: »Deshalb werden alle diese Dinge uns aufgetragen und zugleich als Gottesgaben gezeigt, damit man einsähe, wie wir sie zwar tun und doch auch Gott macht, daß wir sie tun (quod et nos ea faciamus, et deus facit ut illa faciamus)«. Mir scheint, in diesem Gedankengang kommt sehr deutlich die Dialektik von menschlichem und göttlichem Tun, von Willensfreiheit und Gnade zum Ausdruck, die dem Denken Augustins in gut biblischer Tradition zugrundeliegt. Noch deutlicher rückt die zugespitzte Gnadenlehre seiner letzten Lebensjahre in ein anderes Licht, wenn der Kirchenvater die Konfrontation seiner theologischen Ideen mit der pastoralen Praxis zuläßt (Augustinus war ja nicht nur der ›Lehrer der Gnade‹, sondern auch ›Der Seelsorger‹): Er hielt seine Prädestinationslehre offenbar nur für benach ihm kommt es gar auf den Nachweis an, daß der entscheidende Wendepunkt der Augustinischen Gnadenlehre nicht schon im Jahr 396 liege, sondern erst 418. Kritik an dieser Position z. B. bei Eiichi Katayanagi: The last congruous vocation. 51 Vgl. Cornelius Mayer: Da quod iubes et iube quod vis. A

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dingt geeignet für den Einsatz auf der Kanzel, vielmehr gibt er in persev. 57–62 seinen Freunden Hilarius und Prosper konkrete Richtlinien für die Verkündigung, die zu beachten sind, wenn sie auf die Prädestination zu sprechen kommen. Der Bischof von Hippo warnt davor, durch die Verkündigung der Prädestination Heilsangst und Verzweiflung unter den Gläubigen zu verbreiten, vielmehr nimmt er die Gläubigen in die Pflicht, sich für das Heil aller einzusetzen und zu beten – und insofern scheinen mir die folgenden Sätze, mit denen ich meine Ausführungen abschließen möchte, etwas anderes als eine Logik des Schreckens zu sein (persev. 60): »Und wenn einige noch nicht berufen sind, laßt uns für sie beten, daß sie bereuen werden. Denn vielleicht sind sie auf diese Weise vorherbestimmt, daß sie durch unsere Gebete begnadigt werden und eben diese Gnade empfangen, durch die sie auserwählt sein wollen und werden. Denn Gott, der alles, was er vorherbestimmte, vollbrachte, hat gewollt, wir sollten auch für die Feinde des Glaubens beten, und zwar deshalb, daß wir dadurch zur Einsicht kommen, daß er selbst auch Ungläubigen Glauben verleiht und aus Widerwilligen Wohlwollende macht.«

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Anselms ›De libertate arbitrii‹. Seine Hintergründe in Augustins ›De libero arbitrio‹ und in ›Contra Iulianum opus imperfectum‹* Frederick Van Fleteren (Philadelphia)

In der gegenwärtigen historischen Forschung steht die Notwendigkeit der Quellenforschung außer Diskussion. Was die Quellenforschung bei Anselm von Canterbury betrifft, so ist, soweit es keine ausdrücklich entgegenstehenden Gründe gibt, davon auszugehen, daß Augustinus stets im Hintergrund seiner Werke steht. Zwei neue, noch unveröffentlichte Arbeiten haben einen erfolgreichen, wenn auch nicht erschöpfenden Nachweis für diese These erbracht. Zum einen handelt es sich um einen von F. B. A. Asiedu verfaßten Kommentar zum Monologion mit dem Schwerpunkt auf der Einzelauslegung; zum anderen unternahm Eileen Sweeney den Versuch eines Kommentars für das gesamte Anselmsche Corpus. 1 Auf unterschiedlichen methodischen Wegen kommen beide zum Schluß, daß Augustinus eminente Bedeutung für Anselm zukommt. Gewiß lag Augustinus in Bec wie in Canterbury ›in der Luft‹. Die Confessiones gehörten im Mittelalter zur täglichen monastischen Lesung, ähnlich wie die Imitatio Christi in der Epoche der devotio moderna. Die Enarrationes in Psalmos wurden als Tischlesung vorgetragen, die sich besonders an Mönche ohne Bildung, ohne Kenntnis des Lesens und Schreibens, richtete. Jenseits dieses allgemeinen Hintergrundwissens sind jedoch präzise Aussagen nötig, um den Anforderungen der Wissenschaft gerecht zu werden. Die zentrale Frage lautet nach wie vor: Welche konkreten Werke Augustins stehen hinter welchen konkreten Werken Anselms? Bei unserer Suche nach Antworten auf diese Frage ist es geboten, einfache Lösungen zu meiden. Anselm hatte die Werke Augustins so sehr in sich aufgesogen, daß er – nach seinem eigenen Anspruch – zutiefst Augustinisch war. Die Methoden der philologischen Quellen* Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Eck. 1 Beide Werke lagen mir in Manuskriptform vor. Bisher ist m. W. keines von ihnen erschienen. A

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forschung, die bei der Erforschung von Ambrosius und Augustinus relativ erfolgreich waren, 2 können bei Anwendung auf Anselm nicht zu denselben Erträgen führen. Anselm hat Augustinische Themen vielfach verinnerlicht, ohne aber Augustins Formulierungen genau beizubehalten. Manchmal benutzt er Augustinisches Vokabular in abgewandelter Bedeutung. Dann kommt es auch vor, daß Augustins eigenes Vokabular verschwimmt, wenn er Ausdrücke im Rahmen der Entwicklung ein und desselben Themas variiert. Schließlich gibt es bei Augustinus häufig Wiederholungen, die zu einer Vertiefung des Themas führen. Aus diesen Gründen stößt die notwendige und nützliche philologische Betrachtung bei der Suche nach Quellen Anselms an ihre Grenzen. Franciscus Salesius Schmitt hat in den Anmerkungen seiner Maßstäbe setzenden Ausgabe von Anselms Opera omia oftmals hilfreiche Hinweise zu Anselms Quellen bei Augustinus gegeben. Er nennt Texte, die thematisch und philologisch ähnlich sind. Nichtsdestoweniger würde Schmitt selbst einräumen, daß seine Quellenarbeit weiterer Bemühungen bedarf. Schon Anselms genereller Entwurf einer ›fides quaerens intellectum‹ hat Augustinische Wurzeln. Als Ursprungstext des Anselmschen Ansatzes wird von den Kommentatoren häufig das folgende Wort Augustins zitiert (trin. 15,2): »fides quaerit; intellectus invenit.« Augustins Suche nach dem ›intellectus fidei‹ reicht jedoch bis in das Jahr 386 zurück (Acad. 3,42). Augustinus versucht, die Glaubenswahrheiten möglichst auf Wegen der Philosophie zu verstehen, und zwar zunächst im Neuplatonismus. Seine lebenslange Suche nach dem dreieinigen Gott ist dafür exemplarisch. Vor über vierzig Jahren hat Olivier du Roy Augustins Entwicklung im Verständnis des dreieinigen Gottes erforscht.3 Die Suche beginnt 386 in Cassiciacum und erreicht erst in De trinitate XV (wohl 421 vollendet) ihren Höhepunkt, wo Augustinus am Ende sieht, daß im Rahmen der göttlichen Gnade ›memoria dei‹, ›intelligientia dei‹ und ›amor dei‹ am meisten dem – wenngleich entfernten – Bild Gottes im Menschen entsprechen. Die Augustinischen Wurzeln der ›fides quaerens intellectum‹ sind in fast jedem Werk Anselms zu finden. Um Anselms Ansatz in jedem einzelnen seiner Werke zu verstehen, ist es hilfreich, manchmal sogar notwendig, das im Hintergrund 2 3

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Vgl. z. B. Pierre Courcelle: Recherche sur les Confessions. Olivier du Roy: L’intelligence de la foi dans la Trinité selon saint Augustin.

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stehende Werk Augustins zu spezifizieren. Einiges ist für diese Aufgabe schon erforscht. So steht De trinitate eindeutig im Hintergrund des Monologion. 4 Es handelt sich hier um komplexe Beziehungen: Manchmal faßt Anselm Augustinus zusammen; an anderen Stellen legt er aber Argumentationsgänge vor, die wir in De trinitate nicht finden. Beide Autoren suchen zwar nach dem dreieinigen Gott; ihre Ansätze unterscheiden sich aber: Anselm will die dreieinige Natur Gottes allein durch die Vernunft (›sola ratione‹) beweisen. Augustinus geht davon aus, daß dem menschlichen Verstehen nur eine entfernte Vorstellung von Gott erreichbar sei. Beide zitieren aus 1 Korinther 13,12: Der Mensch könne Gott nur ›per speculum et in aenigmate‹ erkennen. Für Augustinus bedeutet dieser Paulinische Satz, daß dem Menschen in diesem Leben nur eine ferne und verdunkelte Vorstellung von Gott möglich ist. Für Anselm bedeutet er, daß der Mensch zwar die Dreieinigkeit Gottes mit dem Verstand beweisen könne, die Frage, auf welche Weise diese wahr ist, bleibe jedoch ein Geheimnis. 5 Hinter der Soteriologie von Cur deus homo steht De trinitate 13. 6 Augustins anti-pelagianische Werke sind ausgesprochen soteriologisch. Dennoch hat Augustinus keinen Traktat über die Soteriologie oder über die Christologie in dem Sinn geschrieben, wie diese Begriffe heute verstanden werden. Anselm wie Augustinus stehen in der Tradition der ›felix culpa‹, nach der das Ziel der Inkarnation darin liegt, den Menschen von der Sünde Adams zu erlösen, durch die er in den Machtbereich des Teufels gelangt war. Auch hier unterscheiden sich beider Ansätze. In Cur deus homo will Anselm die Lücken schließen, die er in Augustins Soteriologie vorfindet. Nach Augustinus hat der Vater seinen Sohn gesandt, um uns aus dem Machtbereich des Teufels freizukaufen. Anselm stimmt dem zu und erklärt ausdrücklich, es sei angemessen, daß nur ein Gottmensch solch eine Aufgabe erfüllen konnte. Augustinus wäre damit einverstanden gewesen. Anselm geht – wie er es häufig tut – vom decet (es geziemt sich) zum debet (es ist nötig) über: Gott müsse stets auf die angemessenste Weise handeln. Augustinus behauptet weder einen Übergang vom decet zum debet, noch im4 Frederick Van Fleteren: The Influence of Augustine’s De trinitate on Anselm’s Monologion. 5 Frederick Van Fleteren: ›Per speculum et in aenigmate‹. The Use of 1 Corinthians 13:12 in the Writings of St. Augustine. 6 Frederick Van Fleteren: Traces of Augustine’s ›De trinitate XIII‹ in Anselm’s ›Cur Deus Homo‹.

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pliziert er ihn. Denn ein solcher Übergang würde die Freiheit Gottes einschränken, an der nach Augustinus streng festgehalten werden muß. 7 De libero arbitrio 2 steht hinter dem in Proslogion 2–4 dargelegten Argument für die Existenz Gottes. 8 Das Argument stammt von Anselm selbst, doch hat seine Benennung Gottes als »aliquid quo maius nihl cogitari potest« mehrere Vorläufer bei Augustinus, vor allem in De libero arbitrio 2. 9 Es besteht eine Verbindung zwischen Augustins Gedanken der ›veritas incommutabilis‹ und Anselms Aufweis der Existenz Gottes, der von der Idee Gottes ausgeht. 10 Anselms Versuch ist originär, aber nicht vollkommen unabhängig. Die Proömien der Confessiones (1,1–6) und der Soliloquia (1,2–6) bilden zweifellos den Hintergrund des Gebets in Proslogion 1. 11 In diesen Werken nimmt Anselm in verschiedener Weise Bezug auf Augustinus. Gewöhnlich ist Augustinus die Inspirationsquelle für Anselms Begriffe. Anselm führt Augustins Denken zwar in eigenständiger Weise weiter, manchmal faßt er in logischer Darstellung aber das zusammen, was Augustinus in rhetorischem Stil ausgedrückt hat. Ab und an ergänzt er eine philosophische Argumentation, wenn er der Auffassung ist, daß Augustinus sie benötigt. Gelegentlich gibt er klarere Erklärungen für Dinge, die ihm in Augustins Rhetorik undurchsichtig erscheinen. Naheliegend ist Schmitts Vorschlag, De libero arbitrio als wahrscheinliche Quelle von De libertate arbitrii zu betrachten. Überraschender ist sein Rat, Contra Iulianum opus imperfectum heranzuziehen. 12 Im folgenden wenden wir uns weiteren Vorschlägen Schmitts zu.

Frederick Van Fleteren: Augustine’s Influence on Anselm’s ›Proslogion‹. Vgl. dazu Klaus Kienzler: Form und Gestalt. 9 Vgl. Augustinus: lib. arb. 2,14: »quo est nullus superior«; weiterhin: mor. 1,4 f. 1,29; 2,1; 2,24; div. qu. 18; 28; vera rel. 65; 72; doctr. chr. 1,7: »quo nihil sit melius atque sublimius.« Vgl. ähnlich Cicero: Tusc. I,65. 10 Etienne Gilson: Christian Philosophy of St. Augustine. 11 Fransiscus Salesius Schmitt: Omnia opera Anselmi, Proslogion I; Klaus Kienzler: Zur philosophisch-theologischen Denkform bei Augustinus und bei Anselm von Canterbury, 353–388. 12 Fransiscus Salesius Schmitt: Opera omnia Anselmi I, 201–227. Schmitt nennt Contra Julianum opus imperfectum I und VI als mögliche Quellen von De libertate arbitrii. 7 8

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Anselms ›De libertate arbitrii‹

1.

Voraugustinische Hintergründe

Die menschliche Freiheit, der menschliche Wille und der freie Wille des Menschen sind im abendländischen Denken komplexe Begriffe, die meist mehrere mögliche Bedeutungen haben. Ein allgemeiner Überblick über voraugustinische Bedeutungen dieser Begriffe trägt auch dann, wenn er so kurz bleiben muß wie hier, zum besseren Verständnis Augustins und Anselms bei. 13 Die ›Freiheit‹ hat verschiedene, aber miteinander in Wechselbeziehung stehende Bedeutungen: zum Beispiel Freiheit von Sünde oder Knechtschaft (im Paulinischen Sinn), Freiheit von Leidenschaft, Freiheit von Verpflichtungen, Freiheit von äußerer Notwendigkeit, Freiheit von innerer Notwendigkeit, soziale Freiheit und politische Freiheit, um nur einige zu nennen. Auch dem ›Willen‹ werden in der Geschichte des Abendlandes verschiedene Bedeutungen zugeschrieben. Er kann ein intellektuelles Urteil oder eine intellektuelle Präferenz bedeuten. Grob gesprochen ist diese Bedeutung bis in die Zeit des Aristoteles hinein sogar die einzige, die sich in der griechischen Philosophie findet. In ihrer reinen Form begegnet diese Lehre erkennbar erstmals bei Sokrates. Seine philosophische Absicht lag darin, ethische Begriffe zu definieren. Dabei glaubte er offenbar, daß ein entsprechendes Wissen zur Praxis der Tugend führen würde. Das ethische Problem des Menschen sei Unwissenheit. Platon folgte Sokrates in der intellektualistischen Sicht des Willens bis zu einem gewissen Grad und begründete sie metaphysisch, indem er die Existenz niedrigerer (¥pijumffla) und höherer (jum@) Antriebskräfte behauptete (Politeia 435a ff.). Tatsächlich sollte der jum@, als Sitz höherer Kräfte, die rationale Aktivität des Menschen unterstützen (Politeia 439d ff.). Platon behauptete die Existenz des ˛rw@ der zum Guten (t agajn) und Schönen (t kal¡n) antreibe (Politeia 506d ff.; Symposion 203a ff.). Wenn Platon von ›Freiheit‹ spricht, geschieht dies meist im Kontext sozialer oder politischer Bedeutungen, nicht im Sinne der ›Freiheit des Willens‹. Platons Ansichten über die Bildung und Formung des Geistes (Politeia 523bff.) zeigen, daß er die Sokratische Deutung des Willens als intellektueller Präferenz vertrat, wenn auch in weiterentwickelter Form. Eine umfassende und durchdachte Behandlung des Willens, der unser Überblick viel verdankt, bietet Vernon J. Bourke: The Will in Western Thought; vgl. auch Albrecht Dihle: Die Vorstellung vom Willen in der Antike.

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Aristoteles kommt der Entwicklung einer Theorie des Willens, die in diesem mehr als eine intellektuelle Präferenz sieht, bereits näher. Er gebraucht Begriffe, die manchmal unscharf mit ›freiwilliger‹ (t koÐsion) und ›unfreiwilliger‹ (t ⁄koÐsion) Aktivität übersetzt werden (NE 11032 f.). Einige Interpreten des Mittelalters und sogar der Gegenwart meinten, Aristoteles vertrete ein Konzept, das den Willen als rationale Antriebskraft verstehe. Er spricht in der Tat vom Entschluß (proafflresi@) als einer Art selbstkontrollierter Aktivität, die (m. E. zu Unrecht) einige als freie Aktivität interpretieren. In De anima diskutiert Aristoteles den Antrieb auf der Ebene der Sinne (rexi@), behauptet aber, daß nur eine Antriebskraft in der Seele existiere. Er spricht ohne weitere Erklärung vom Wollen (boÐlhsi@; vgl. De anima 1111a22–1113a14). Damit überschreitet er die Auslegung des Entschlusses als lediglich intellektueller Präferenz. Jedoch gibt es bei ihm noch kein ausdrückliches Konzept eines freien vernünftigen Antriebs, der von dem der Sinne unterschieden ist. Der Begriff des Willens als vernünftigen Antriebs hat seine ersten Anhaltspunkte in der Stoa. Die Stoiker differenzierten nicht zwischen sinnlichen und intellektuellen Vermögen, ebensowenig trennten sie scharf zwischen sinnlicher und rationaler Antriebskraft. Sie versuchten zwar, das göttliche Vorauswissen mit dem menschlichen Willen in Einklang zu bringen, hatten jedoch kein entwickeltes Konzept eines menschlichen Vermögens im Sinne des freien Willens. 14 Beispiele ihrer Lehre zur ›voluntas‹ finden sich bei Cicero. Deren Bedeutung ist schwer faßbar. Cicero definiert sie wie folgt (Tusc. 4,12): »voluntas est quod quid cum ratione desiderat«. Diese Definition spiegelt die Sicht des Willens als rationalen Verlangens wider. ›Voluntas‹ hat bei Cicero noch verschiedene andere Bedeutungen, u. a. ist sie ein Wünschen, ein Wollen, eine Bereitwilligkeit, eine bewußte Wahl, etwas Gespürtes ebenso wie eine Neigung. Welches griechische Wort (bzw. welche Wörter) Cicero lateinisch mit ›voluntas‹ wiedergibt, ist unklar. Die Behauptung der Existenz eines rationalen Verlangens ist nicht schon an und für sich ein Hinweis darauf, daß dieses Verlangen ›frei‹ ist. Man kann Marcia Colish setzt in ihrer sonst scharfsinnigen Analyse des Stoizismus bei Augustinus den Begriff des freien Willens bei den Stoikern ohne Nachweis voraus; vgl. Marcia L. Colish: The Stoic Tradition from Antiquity to the Middle Ages, II. Stoicism in Christian Latin Thought through the Sixth Century, 142–234. Dort findet sich eine weitere Bibliographie. Besonders bedeutsam ist Gerard Verbeke: Augustin et le stoïcisme.

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Cicero in der Frage der ›voluntas‹ als Vorläufer Augustins betrachten, doch gibt es bei ihm keine entwickelte Form des Gedankens, daß der menschliche Wille seiner Natur nach ein vom Intellekt unterschiedenes Vermögen sei. Ebensowenig kennt er eine Gleichsetzung des Willens mit der Ausübung der Freiheit. Plotin und Porphyrius beschreiben die Emanation aus dem Einen ( n) mit dem Ausdruck des Strebens (boÐlhsi@). 15 Solches Streben bedeutet oft einen Abstieg der menschlichen Seele – im Fall von Plotin und Porphyrius allerdings nur teilweise – aus der intelligiblen Welt (no‰@). Diese Emanation resultiert aus dem Willen des Einen, seine Gottheit zu teilen – eine Position, die erstmals bei Platon erscheint (Timaios 29e: ¥boulffijh; Enneade V 1,1: t boulhj»nai). Plotin stellt im Einen eine Beziehung zwischen dem Streben und der Freiheit her. 16 Was vom Menschen abhängt, muß seinem Willen unterworfen sein (Enneade VI 8,5: t a'texoÐsion). Dies ist der Punkt, wo die Griechen dem Konzept eines freien Willens am nächsten kommen. Diese Lehre könnte von Ammonius Sakkas beeinflußt worden sein, der wiederum unter dem Einfluß des Christentums steht. Jedoch gibt es bei Plotin (und Porphyrius) keinen anderen klaren und offensichtlichen Begriff eines freien menschlichen Willens als den einer intellektuellen Präferenz. In diesem Sinne bleiben sie Griechen. Ob Augustinus die hier in Frage stehende Abhandlung Plotins (vgl. insgesamt Enneade VI 8) zum Zeitpunkt, als er De libero arbitrio schrieb (oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt), gelesen hatte, ist zweifelhaft. Nach hebräischem Verständnis liegt der Sitz der höheren menschlichen Kräfte, seien sie intellektuell oder affektiv, im Herzen. Wo andere Zeitgenossen ›Geist‹ oder ›Willen‹ einsetzen, sprechen die Hebräer vom ›Herzen‹. Dieses Wort findet sich in verschiedenen zentralen Enneaden V,1, zum Beispiel. Es ist fast sicher, daß Augustinus diese Abhandlung 386 in Mailand im Zuge seiner Beschäftigung mit den libri platonicorum gelesen hat; vgl. Paul Henri: Plotin et L’Occident. Specilegium sacrum Laveniense (Louvain 1934). Es ist nicht notwendig zu postulieren, Augustin habe Enneaden IV,7 über den Abstieg der Seele gelesen, wie dies Volker Henning Drecoll. in Ders. (Hg.) Augustin-Handbuch (Tübingen 2007), und James O’Connell, Augustine’s Early Theory of Man, A.D. 386– 391 (Cambridge MA 1968) passim; Der.: St. Augustine’s Confessions: the Odyssey of Soul (Cambridge 1969) passim, tun. 16 Enneade VI 8,1–6. Diese Enneade trägt den Titel Per½ to‰ kousfflou. Richard Harder übersetzt: ›Der freie Wille‹. Plotin unterscheidet zwar das Notwendige von dem, was der menschlichen Kontrolle unterliegt. Dennoch bezeichnet er das rationale Antriebsvermögen des Menschen nicht klar und eindeutig als frei. 15

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Passagen des Alten und Neuen Testaments. 17 Der Wille kommt auch im Vater unser vor (Mt 6,10): »Dein Wille geschehe.« Implizit liegt der ›freie Wille‹ der biblischen Annahme der Verantwortung für die Sünde zu Grunde. 18 Das Verständnis des menschlichen Willens als rationaler Wahl findet endgültig durch die Schriften des Apostels Paulus Eingang ins westliche Denken. Der Römerbrief ist zusammen mit dem Prolog des Johannes-Evangeliums zweifellos das einflußreichste theologische Dokument in der Geschichte des abendländischen Denkens. 19 Paulus spricht im Römerbrief vom gespaltenen menschlichen Willen (Röm 7,18 f.): »Das Gute, das ich will, tue ich nicht. Das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« Es wurde gewiß zutreffend bemerkt, daß Paulus oft im Hintergrund des Augustinischen Denkens steht. 20 Augustinus hatte zweimal versucht, einen Kommentar zum Römerbrief zu verfassen, jedoch nur, um ihn beide Male wegen der enormen Anforderungen des Projekts wieder beiseite zu legen. 21 Auch Tertullian, der afrikanischer Landsmann Augustins, spricht vom ›liberum arbitrium‹, 22 ebenso wie Cyprian (Ad Quirinum 3; 52). Augustinus selbst erwähnt in den Confessiones, daß er von diesem Terminus in Mailand gehört habe – zweifellos von Ambrosius. 23 Gleichwohl ist Augustinus der erste christliche Autor, der eine Abhandlung schreibt, die ausschließlich und ausführlich dem ›liberum arbitrium‹ gewidmet ist. Er ist der erste, der eine Abhandlung schreibt, die ausdrücklich eine rationale und gleichzeitig freie Antriebskraft zum

Zu Verwendungen, bei denen das Herz den Verstand symbolisiert, vgl. Dtn 8,5; 15,9; Ex 28,3; 1 Kön 3,12; 5,9; Mt 12,34; Mk 7,21; Lk 6,45; 11,23; Joh 12,40; Apg 7,23; 28,27; Röm 10,6. 18 Vgl. z. B. Gen 18,22–26; Dtn 7,10; 24,16; 25,1; Jdt 8,20; Jer 31,30. Vgl. gr. et lib. arb. 2,3–5,12. 19 Zu Augustins Exegese des Römerbriefs vgl. Daniel Patte und Eugene TeSelle: Engaging Augustine on Romans. 20 James O’Donnell: Confessions, Bd. 2, 175 f.; Bd. 3, 391. 21 Vgl. exp.prop. Rm. (394); ep. Rm. inch. (394). 22 Zum ›liberum arbitrium‹ bei Tertullian vgl. Adversus Marcionem II (CSEL 340–342; 347; 349); De anima 20–22; De monogamia 47; zur ›libertas arbitrii‹ siehe Adversus Marcionem II, (CSEL 340–345; 350); De anima 20; 38. Tertullian und Ambrosius trennen nicht so klar wie Augustinus zwischen ›liberum arbitrium‹ und ›libertas arbitrii‹. 23 Vgl. conf. 7,4. Zum ›liberum arbitrium‹ bei Ambrosius vgl. De Cain et Abel 2,9; De Abraham 2,4; Exhortatio virginitatis 4,21; De fide II,6; 11; IV, 11; De spiritu sancto II,12; zur libertas arbitrii vgl. De Jacob 2,3. 17

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Thema hat. Die Lehre vom freien Willen ist seine Antwort auf den kosmischen Determinismus der Manichäer.

2.

›Liberum arbitrium‹ und ›Libertas arbitrii‹

De libero arbitrio (387–395) ist in einem gewissen Sinn eine Fortsetzung der Diskussion über die göttliche Vorsehung und das Problem des Bösen in De ordine. Dort war die Diskussion aber ohne greifbares Ergebnis geblieben – das Problem bedurfte folglich weiterer Aufmerksamkeit. Die zentrale These von De libero arbitrio macht den Menschen allein für das Übel (›malum‹) verantwortlich, was voraussetzt, daß Gott die Menschen als Wesen mit freiem Willen geschaffen hat. Der Ausdruck ›liberum arbitrium‹ erscheint bei Augustinus in ebendiesem Werk zum ersten Mal als ein terminus technicus und bleibt dies in all seinen anderen Abhandlungen. ›Liberum arbitrium‹ bedeutet Freiheit von innerem Zwang. Der menschliche Wille kann wählen zwischen diesem und jenem Objekt, und also auf diese oder jene Weise handeln. In diesem Kontext bleibt der menschliche Wille aber dennoch grundsätzlich zum Guten hin determiniert. Diese Festlegung wirft für Augustinus aber Fragen auf. Am Ende von De libero arbitrio I geht Augustinus auf solche Fragen ein (1,30): 24 »cur igitur eam non adipiscuntur omnes? dixeramus enim atque convenerat inter nos voluntate illam mereri homines, voluntate etiam miseram, et sic mereri ut accipiant.«

›Warum also erlangen es also dann nicht alle? Wir sagten schon und einigten uns darauf, daß die Menschen es durch den Willen verdienen, durch den Willen aber auch das unglückliche Leben, und daß sie es so verdienen, daß sie es auch erhalten.‹

Augustinus fährt fort (lib. arb. 1,32): Es gibt ›keine wahre Freiheit [libertas] außer der Freiheit der Glücklichen und derer, die dem ewigen Gesetz anhängen‹. Auf die Frage, warum wir Böses tun, beharrt er am Ende auf der gegebenen Antwort (1,35): »ex libero voluntatis arbitrio«. Augustinus unterscheidet klar zwischen ›liberum arbitrium‹ und ›libertas‹. ›Liberum arbitrium‹ bezieht sich auf die freie Entscheidung des 24

Übersetzung nach Johannes Brachtendorf: De libero arbitrio – Der freie Wille, 117. A

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Willens; ›voluntates‹ sind die Entscheidungen, durch die der Mensch erreicht, was er will; ›voluntas‹ ist die fundamentale Ausrichtung ihres Willens auf Glück. Menschen erlangen Glück, wenn ihre ›voluntates‹ mit ihrer ›voluntas‹ harmonieren. 25 Das Gegenteil von ›liberum arbitrium‹ ist ›necessitas‹. Das Gegenteil von ›libertas‹ ist ›servitudo‹. Hier geht Augustinus deutlich über die Griechen und Cicero hinaus. Augustins Themen bleiben konstant (auch wenn sie sich entwikkeln), obwohl seine Terminologie variiert. Die Unterscheidung zwischen ›liberum arbitrium‹ und ›libertas‹ bleibt indessen in all seinen Schriften bestehen. ›Liberum arbitrium‹ und ›necessitas‹ sind für die anti-manichäischen Werke von zentraler Bedeutung; ›libertas‹ und ›servitudo‹ spielen in den anti-pelagianischen Werken eine zentrale Rolle. In De libero arbitrio läßt Augustinus das siebente Kapitel der Römerbriefs unerwähnt. Es ist gut möglich, daß Paulus in diesem Punkt erst später in den Blick kommt, nämlich in den Confessiones (8,20 f.). Jedoch gibt es Beispiele in Frühwerken, in denen Augustinus für biblische Positionen eintritt, ohne sich biblischer Sprache zu bedienen. Mit der ›libertas‹ verbunden ist eine andere Bedeutung von Freiheit, die in Augustins späteren Werken stärker hervortritt: befreit zu werden. Diese Freiheit ist die Freiheit derjenigen, die zum Guten entschlossen sind, weil Gott sie von der Sünde befreit hat (retr. 1,9,4). Augustinus glaubt, daß diese Freiheit zwar Wahlfreiheit voraussetzt, allerdings nur dann Früchte tragen kann, wenn die Gnade den freien Willen in einer Weise unterrichtet, daß er zur richtigen Wahl befähigt ist. Der Gegenspieler der ›libertas‹ ist nach Augustinus nicht die Notwendigkeit oder der Determinismus, sondern die Knechtschaft (›servitus‹ oder ›servitudo‹) der Sünde (c. Iul. imp. 1,86–94). Libertas bezieht sich also auf die Freiheit, das ewige Gesetz oder das Gute für sich anzunehmen, wobei dieses Gute durch Gottes Gnade gewährt wird. Zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des achten Buchs der Confessiones ist das siebente Kapitel des Römerbriefs im Blick Augustins. Dessen Einfluß ist schon in früheren Werken wahrzunehmen. Augustins wohlbekannte Unterteilungen der Menschheitsgeschichte in ›ante legem‹, ›sub lege‹, ›sub gratia‹ und ›in pace‹ entsprechen seiner Untergliederung des Römerbriefs (div. qu. 43; Röm 7,14–25 und 9,9–29 stehen hinter der Auslegung des freien Willens und der Gnade, vgl. Vgl. Johannes Brachtendorf: Einleitung, 44–65; Ders.: Augustins ›Confessiones‹, 171–75.

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Anselms ›De libertate arbitrii‹

Simpl. 1,2). Infolge der Ursünde sei der menschliche Wille gespalten. Er könne nicht aus sich selbst heraus das tun, was er will (conf. 8,21 f.). Der Mensch verfüge nicht mehr über die volle Koordination zwischen seinen individuellen Akten (›voluntates‹) und seinem Willen (›voluntas‹ ; vgl. Röm 7,19: »Das Gute, das ich will, tue ich nicht. Das Böse, das ich nicht will, das tue ich«). Eher als das ›liberum arbitrium‹ ist es also die ›libertas‹, die im Einklang mit dem Römerbrief steht (7,14–25). Der Einfluß dieses Kapitels auf Augustinus steht außer Frage. Das Heil liegt demnach nur in der Gnade Gottes (vgl. Röm 7,24 f.): »Oh ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus dem Leib dieses Todes retten? Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus.« Augustins Text und die Vulgata des Hieronymus geben beide den Gedanken des Paulus wieder. Augustinus kritisiert einige Passagen aus De libero arbitrio in den Retractationes. Zum Beispiel sagt er dort (1,9,4): »voluntas quippe est qua et peccatur et recte vivitur; quod his verbis egimus. voluntas ergo ipsa nisi dei gratia liberetur a servitute, qua facta est serva peccati, et ut vitia superet adiuvetur, recte pieque vivi a mortalibus non potest.«

›Der Wille ist es, mit dem gesündigt als auch recht gelebt wird, und darum allein ging es bei unseren Äußerungen. Wenn aber die Gnade Gottes diesem Willen nicht die Befreiung von jener Knechtschaft zuteilt, durch die er Knecht der Sünde (Röm 6, 17, 20) wurde, ihm also nicht geholfen wird, die Laster zu besiegen, ist für sterbliche Menschen ein gerechtes und frommes Leben unmöglich.‹

Die Gnade, und genauerhin; allein die Gnade, bringt die ›voluntates‹ in Einklang mit der ›voluntas‹. Augustinus behauptet jedoch, daß dieser Sinn in nuce bereits in De libero arbitrio gegeben sei. In seinen späteren anti-pelagianischen Schriften gelangte die Darstellung erst zu ihrer Reife. Sicherlich stellt Ad Simplicianum (397) dabei einen Wendepunkt in Augustins Theorien über die Gnade und den freien Willen dar. Die ›libertas arbitrii‹ tritt deutlicher in späteren Werken in Erscheinung, insbesondere in Contra Iulianum opus imperfectum I (429–430). Julian von Aeclanum propagierte eine libertarianische Definition der ›libertas arbitrii‹ (c. Iul. imp. 1,78). ›Per definitionem‹, so meint Julian, schließe die ›libertas arbitrii‹ die Fähigkeit ein, zu sündigen oder nicht zu sündigen. Dem widerspricht der nicht libertarianisch denkende Augustinus; die ›libertas arbitrii‹ bringe nicht notwendigerweise die Freiheit zu sündigen mit sich. Denn Gott sei zwar in höchA

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stem Maße frei, könne aber nicht sündigen (c. Iul. imp. 1,81). Ferner betrachtet Augustinus den johanneischen Text (Joh 8,34): »Jeder, der sündigt, ist Sklave der Sünde.« Dabei wendet er sich gegen eine Auslegung, nach der ein Mensch durch die Sünde zu ihrem Sklaven werde und ihr nicht wieder entkommen könne. 26 Auf die betreffenden Fragen, einschließlich der nach der Auslegung der Johannes-Zitats, geht Augustinus in Contra Iulianum opus imperfectum I ein, und zwar fast unmittelbar nachdem er die Unrichtigkeit der libertarianischen Definition von Freiheit als der Fähigkeit oder Unfähigkeit zu sündigen bedacht hat. Im gegenwärtigen Zustand könne der Mensch keinen Gebrauch vom Vermögen zu wählen machen, wenn er nicht durch Gottes Gnade befreit wird (c. Iul. imp. 1,82). Augustinus erklärt zur Johannes-Stelle, dieser Text, den ursprünglich Julian zitiert hatte, bedeute, daß derjenige, der sündigt, zwar der Sklave der Sünde sei (Ursünde), aber durch die Gnade Gottes aus dieser Knechtschaft befreit werden könne (c. Iul. imp. 1,87–88; 98).

3.

De libertate arbitrii

Zusammen mit De veritate und De casu diaboli bildet De libertate arbitrii eine Trilogie. In De libertate arbitrii beabsichtigt Anselm eine zufriedenstellende Definition der ›libertas arbitrii‹ : Gegen Ende bestimmt er die ›Entscheidungsfreiheit als das Vermögen, die Rechtschaffenheit des Willens um der Rechtschaffenheit selbst willen einzuhalten‹ (vgl. De libertate arbitrii 13): »libertas arbitrii est potestas servandi rectitudinem voluntatis propter ipsam rectitudinem«. Diese Definition entspricht nicht unserer unmittelbaren Erwartung, steht aber in Übereinstimmung mit der Anselms in De veritate gegebenen Definition der ontologischen Wahrheit als der ›rectitudo‹. De veritate behandelt die Rechtschaffenheit des Verstandes, De libertate arbitrii die Rechtschaffenheit des Willens. ›Libertas arbitrii‹ ist nicht ›liberum arbitrium‹. Vielmehr ist sie die Fähigkeit, den Willen um des Guten selbst willen auf das Gute hinzuordnen. Zweifellos sollte Augustins Auslegung des ›servus peccati‹ vor dem Hintergrund der Sklavenhaltung seiner Zeit gesehen werden. Sklaven konnten durch ›manumissio‹, einen langwierigen gerichtlichen Prozeß, befreit werden. Vgl. zu diesem Thema Gervase Corcoran: Saint Augustine on Slavery.

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Anselms ›De libertate arbitrii‹

Wie Augustinus wendet sich auch Anselm gegen den Libertarianismus: 27 ›Libertas arbitrii‹ ist nicht die Fähigkeit, zu sündigen oder nicht zu sündigen. Die Engel sündigten wie die Menschen durch freie Entscheidung (›liberum arbitrium‹). Die Menschen seien nicht in dem Sinn Sklaven der Sünde geworden, daß sie nicht mehr durch göttliche Gnade hätten befreit werden können (De libertate arbitrii 2). Anselms erstes Anliegen ist die Erläuterung der Stelle des Johannes-Evangeliums (Joh 8,34): »Jeder, der sündigt, ist Sklave der Sünde.« Wäre der Mensch Sklave der Sünde, hätte die Sünde uneingeschränkt Herrschaft über ihn und der Mensch wäre nicht frei. Diese Diskussion steht auf der Grundlage des biblischen Texts, der in Contra Iulianum opus imperfectum I zitiert und ausgelegt wird. 28 Wie kann der Mensch frei sein? Vor dem Sündenfall waren weder Engel noch Menschen gezwungen zu sündigen. Sie besaßen jedoch das Vermögen, es zu tun. Vor dem Sündenfall besaß der Mensch die Entscheidungsfreiheit, die Handlungsregeln einzuhalten, die er einhalten sollte, er besaß folglich die Rechtschaffenheit des Willens. Nach dem Sündenfall besaß er immer noch die natürliche Entscheidungsfreiheit, war aber unfähig geworden, sie ohne die göttliche Gnade in vollem Umfang auszuüben (De libertate arbitrii 3). Genau diese Position findet sich mehrmals in Contra Iulianum opus imperfectum, jedoch nicht ausschließlich in diesem Werk. ›Libertas arbitrii‹ wird hier als Vermögen gedacht, die Rechtschaffenheit des Willens um der Rechtschaffenheit selbst willen einzuhalten. Der Mensch besitzt dieses Vermögen und kann es in diesem Leben nur durch seinen eigenen Willen verlieren. Wie leitet Anselm diese Definition her? Nach Anselm besitzt der Mensch das Vermögen, die Rechtschaffenheit des Willens durch Verstand und Willen zu behalten (De libertate arbitrii 4). Er kann Rechtschaffenheit nicht widerwillig wollen. Wenn er die ›rectitudo‹ einmal besitzt, kann nichts sie ihm wieder nehmen, außer er will das. Die ›rectitudo‹ kann dem Menschen nur genommen werden, wenn er nicht gewillt ist, sie zu besitzen. In diesem Sinn kann die Rechtschaffenheit niemals aus dem menschlichen Wesen verschwinden. (De libertate arbitrii 5). De libertate arbitrii 1. Vgl. Contra Iulianum opus imperfectum I,81; 102. Vor kurzem wurde nachgewiesen, daß im Früh- und Hochmittelalter Manuskripte von Contra Iulianum opus imperfectum im gesamten kontinentalen Europa verbreitet waren. Siehe Michalea Zelzer: Das augutinische ›Opus imperfectum contra Iulinaum‹ und seine Rezeption in Mittelalter.

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Im Rest des Dialogs zeigt Anselm, wie nichts, was außerhalb des Menschen selbst liegt, ihn der Rechtschaffenheit berauben kann: weder die Versuchung, ja nicht einmal Gott selbst kann es. Die Versuchung kann den Menschen nur besiegen, wenn er selbst dies erlaubt. Selbst wenn der Mensch äußeren Hindernissen gegenüber steht, kann er immer noch frei wählen, wenngleich unter Schwierigkeiten (De libertate arbitrii 6). Selbst Gott kann dem gerechten Willen die Rechtschaffenheit nicht entziehen, sofern ein gerechter Wille gerade das will, was Gott will (De libertate arbitrii 8). Nichts ist freier als der gerechte Wille, weil ihm seine Rechtschaffenheit nicht durch irgendeine äußere Macht genommen werden kann (De libertate arbitrii 9). Wenn der Mensch die Rechtschaffenheit verläßt, dann kann aber nur die göttliche Gnade sie ihm wiederherstellen (De libertate arbitrii 10). Am Ende unterscheidet Anselm verschiedene Arten von ›libertas arbitrii‹ bei Gott, bei Engeln und den Menschen (De libertate arbitrii 14). Zweifellos war Anselm der Ansicht, daß Augustins in verschiedenen Werken geführte Diskussion der ›libertas‹ bei Engeln und Menschen größerer Präzision bedurfte. Die Abgrenzung verschiedener Arten von ›libertas‹ verleiht den verschiedenen Arten der Freiheit von Knechtschaft, die Anselm in Augustins anti-pelagianischen Werken findet, mehr logische Strenge. Somit ist deutlich, daß hinter Anselms Willensbegriffen Gedanken Augustins stehen. Anselm unterscheidet zwischen dem Willen und dem Einsatz des Willens. Eine solche Unterscheidung ist aber Augustins Unterscheidung zwischen ›voluntas‹ und ›voluntates‹ nicht unähnlich. Die ›rectitudo‹ ist der ›voluntas‹ insofern vergleichbar, als es die fundamentale Willensebene ist, die die ›voluntates‹ leitet. Der Gegenspieler der ›libertas arbitrii‹ ist bei Anselm die ›servitus‹ – bei Augustinus hingegen die ›servitus‹ oder die ›servitudo‹. Bei beiden Denkern kann der Mensch die Harmonie zwischen seinem fundamentalen Willen und seinen Entscheidungen verlieren und hat sie bereits verloren. Bei beiden Autoren ist der Mensch aber nicht so zum Sklaven der Sünde geworden, daß die Harmonie zwischen dem Willen und seinen Entscheidungen nicht mehr wiederhergestellt werden könnte. Beide legen die Stelle des Johannes-Evangeliums ähnlich aus. Für beide sind die Menschen frei, wenn immer sie von der Knechtschaft der Sünde frei sind. Beiden zufolge kann die von der Sünde herrührende Disharmonie zwischen der ›voluntas‹ des Menschen und seinen ›voluntates‹ durch göttliche Gnade, und nur durch sie, überwunden werden. In all diesen Fragen lehnen Augustinus und Anselm sich an den Römerbrief an. 144

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Anselms ›De libertate arbitrii‹

Was folgt aus alledem? Anselm und Augustinus sind mit verschiedenen Aufgaben konfrontiert. Manichäismus und Pelagianismus waren Augustins Gegner, die indessen bis in die heutige Zeit fortwirkende Fragen aufwerfen. In Anselms Diskurs spielen sie zwar keine unmittelbare Rolle. Dennoch kann De libertate arbitrii sehr wohl ein Versuch Anselms sein, Augustins unvollendetes Werk gegen die Pelagianer, das durch seinen Tod abgebrochen wurde, zu ergänzen. Diese Intention könnte der Grund dafür sein, daß Anselm sein Werk mit der Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von Freiheit abschließt, um das zu Ende zu führen, was unvollendet geblieben war. Zumindest überführt er das, was er bei Augustinus vorfindet, in eine Ordnung. Eine ganz andere Frage wäre indessen die nach einem Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion. Das Thema der göttlichen Initiative wird m. W. in der aktuellen Diskussion um Libertarianismus und Kompatibilismus nicht berührt. 29 Augustinus und Anselm leisten dazu aber ihren Beitrag. Weder Augustinus noch Anselm sind Libertarianer. Mutatis mutandis könnten sowohl Anselm als auch Augustinus als Kompatibilisten bezeichnet werden. Bei Anselm ist die ›rectitudo‹ die erstrangige Freiheit des Willens; bei Augustinus stellt die ›voluntas‹ die erstrangige Freiheit des Willens dar. Auf ›rectitudo‹ und ›bona voluntas‹ sollte das menschliche Leben ausgerichtet sein. Der Mensch besitzt diese ›rectitudo‹, wenn – und zwar nur dann – wenn er den Willen dazu hat. Sie kann ihm niemals ohne seinen Willen genommen werden. Sie kann ihm nur entzogen werden, wenn er es will. Nur Gott kann sie wiederherstellen. Unsere zweitrangigen Handlungen (›voluntates‹) sind gut oder schlecht, soweit sie im Einklang (oder eben nicht im Einklang) mit dieser ›rectitudo‹ oder ›voluntas‹ stehen und uns zum Ziel des von uns ersehnten Glücks führen. Die Gnade stellt die Kompatibilität zwischen der ›voluntas‹ und den ›voluntates‹ wieder her und bringt die ›rectitudo‹ hervor. In diesem Sinn können Augustinus und Anselm ungeachtet der jeweils andersartigen Umstände zu unserer gegenwärtigen Diskussion beitragen.

Eine umfassende Diskussion der Geschichte des Kompatibilismus bis zum heutigen Tag findet sich bei Michael McKenna: Compatibilism. Eine umfassende Bibliographie zum Libertarianismus findet sich im Artikel Incompatibilism (nondeterministic) Theories of Free Will.

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Si ratio recta, et voluntas recta Augustinus und die Pariser Verurteilung von 1277 Erich Naab (Eichstätt)

Als Stefan Tempier, der Bischof von Paris, am 7. März 1277, auf den Tag drei Jahre nach dem Tod des Thomas von Aquin, das Dekret mit 219 verurteilten Sätzen gegen einige Lehrer der Artistenfakultät publizierte, 1 deutete er nur bei wenigen Sätzen den Grund der Verurteilung mit einem Argument an (Thesen 43.53.60.68.119.124.149.151.187); einmal nannte er, beim Wissen um die zukünftigen nicht-notwendigen Dinge, gar interne Begründungen der verurteilten These (These 42) und gerade an zwei bzw. drei Stellen gibt er Autoritäten an, gegen die seiner Meinung nach verstoßen würde. Es ist dies zum einen der Apostel Paulus, auf den er in These 18 bei der Möglichkeit der Auferstehung implizit mit der Wiedergabe von 2 Kor 10,5 hinweist: Der Philosoph solle seinen Geist in den Gehorsam Christi gefangen geben. Das trifft offensichtlich nicht nur bei der Problematik der genannten These zu, sondern hat mit dem Selbstverständnis des ganzen Vorgangs zu tun. Mit Anicius Boethius De consolatione philosophiae weist er die These 21 um Zufall und Notwendigkeit zurück. So zentral diese Thematik im Pariser Dekret auch ist, der Bezug auf die Autorität des spätantiken Römers scheint kaum von stärkerem Einfluß auf das Dekret in seiner Gesamtheit zu sein. Die verurteilte 130. These behauptet: »si ratio recta, et voluntas

Chartularium Universitatis Parisiensis I (= Denifle-Chatelain), 543–558. Pierre Mandonnet: Siger de Brabant et l’averroïsme latin au XIIIme siècle II, 172–191. Kurt Flasch (Hg.): Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Roland Hissette: Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277. Die Zählung der Irrtümer folgt hier der Ordnung bei Denifle-Chatelain. Vgl. aus der umfangreichen Literatur Jan A. Aertsen; Andreas Speer (Hgg.): Was ist Philosophie im Mittelalter?, 71–121. 371–434 (mit Beiträgen von Alain de Libera, Luca Bianchi, John E. Murdoch, Silvia Donati, Claude Lafleur, Gyula Klima, Luis Alberto De Boni, Karl Ubl, Gianfranco Fioravanti, Zdzislaw Kuksewicz).

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recta«. 2 Der Bischof qualifiziert diesen Satz nochmals eigens als Error; das ist die Wertung, die dem Einführungsschreiben nach alle Thesen trifft, und die für Bischof Tempier ausreichte, die zu exkommunizieren, die alle oder auch nur eine dieser Propositionen lehren, verteidigen oder irgendwie aufrechterhalten, selbst die Hörer, sollten sie nicht binnen sieben Tage Anzeige erstatten. 3 Gegen die genannte 130. These führt Tempier gleich zwei Argumente an: Sie widerspreche zum einen der Glosse Augustins zum Psalm: »concupivit anima mea desiderare [iustificationes tuas in omni tempore]« (Ps 118,20) – Grundlage des Einspruchs ist der Augustinus der Enarrationes in psalmos 4 –, und zum andern sei im Verständnis der These zur Rechtheit des Willens allein ein Wissen und keine Gnade notwendig, und das komme der Irrlehre des Pelagius gleich. Die These wird somit als Verstoß gegen die Augustinische Gnadenlehre aufgefaßt.

1.

Die Augustinische Vorlage: ›Enarrationes in psalmos‹

Beachten wir zunächst diese beiden Argumente und vergleichen die Glosse mit dem originären Text Augustins. Augustinus spricht – bereits in hohem Alter – anläßlich des Psalmverses 5 in ungewöhnlicher Weise von einer bisweilen außer Acht gelassenen, einer guten, ja lobenswerten, keineswegs verdammungswürdigen Konkupiszenz. Weil dadurch der Begründungszusammenhang für die Verurteilung gerade nicht offensichtlich wird, will ich den Text deutlicher vorstellen. Augustin kommt auf jene Begierde zu sprechen, in der nicht das Fleisch gegen den Geist, sondern der Geist gegen das Fleisch begehrt (vgl. Gal 5,17). Gut ist dieses Begehren nach den ›iustificationes tuas‹, von denen der Psalm parallel zu den ›mandata‹ Gottes spricht, nach der göttlichen Gerechtigkeit, seinen ›Urteilen‹ oder ›Satzungen‹, wie der Terminus In der Zählung bei Pierre Mandonnet: Siger de Brabant, 188, ist es These 166. Vgl. Denifle-Chatelain 543: »Et ea totaliter condempnamus, excommunicantes omnes illos, qui dictos errores vel aliquem ex illis dogmatizaverint, aut deffendere seu sustinere presumpserint quoquemodo, necnon et auditores, nisi infra vij dies nobis vel cancellario Parisiensi duxerint revelandum.« 4 En. Ps. 118 s. 8,3–5 (CCL 40,1687–89). 5 Ps 118 hat Augustinus als letzten ausgelegt, frühestens 419, wahrscheinlich aber um oder nach 422. Vgl. Hildegund Müller: Enarrationes in Psalmos. Charles Kannengiesser: Enarratio in psalmum CXVIII. Science de la révélation et progrès spirituel. 2 3

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gerne wiedergegeben wird, oder ›Werken der Gerechtigkeit‹, wie Augustinus den Ausdruck versteht. 6 Wir werden darunter die Werke verstehen, die im Menschen durch das Geschenk der Gnade möglich sind, ein Handeln in Gerechtigkeit und Heiligkeit. 7 Gut ist ebenso das Begehren der Weisheit, das ins Gottesreich führt und das Augustinus aus dem biblischen Buch der Weisheit kennt (vgl. Weish 6,21). Es seien noch viele Zeugnisse für diese Form der Konkupiszenz zu finden, 8 und in der Tat wußten die afrikanischen Theologen Tertullian und Cyprian um sie. Tertullian nennt sie sogar ›rationalis concupiscentia‹ ; 9 und Ambrosius hatte in der Auslegung unseres Psalmverses die ›gute Konkupiszenz‹ für jeden Augenblick des Lebens begehrt. 10 Aber Augustinus spricht doch eher selten von ihr, an unserer Stelle und im zweiten (etwa zeitgleich entstandenen) Buch der antipelagianischen Schrift De nuptiis et concupiscentia 2,23.52, 11 in dem er bereits auf die Gegen»Iustificationes autem facta sunt iusta, id est, opera iustitiae« (3, 26 f.). In nr. 4 spricht er gleichbedeutend von den ›iustificationes Dei‹ (4,43.44.45.45 f.52; auch 5, 7), und deklariert sie als »opera iusta, non verba« (4,55). In nr. 5 ist nochmals von ihrer ›operatio‹ (5,14) die Rede. Es sind also Werke, die vor Gott gerecht sind, vor Gott bestehen. Es ist in unserem Text nichts darüber gesagt, unter welcher Bedingung Werke gerecht sein können. 7 Vgl. Augustinus: ep. 194, 5, 19 ad presbyterem Sixtum (CSEL 57,190 f.): »quia eadem merita, quibus redditur, non a nobis facta sunt per nostram sufficientiam, sed in nobis facta per gratiam, etiam ipsa gratia nuncupatur non ob alius, nisi quia gratis datur, nec ideo, quia non meritis datur, sed quia data sunt et ipsa merita, quibus datur.« – Vgl. auch die ps.-coelestinischen Kapitel, cap. 9, wonach Gottes Güte gegen alle Menschen so groß ist, daß er will, daß unsere Verdienste seien, was seine eigenen Geschenke sind (DH 248). 8 Vgl. vor allem 1 Tim 3,1, in der Vetus Latina: »si quis episcopatum concupiscit, bonum opus concupiscit« (die Vulgata übersetzt das griechische ¥pijume… an dieser Stelle mit ›desiderat‹). 9 Tertullian: De anima 16,5 f. (CCL 2, 803,33–37): »et concupiscet deus rationaliter, quae digna sunt ipso. Nam et malo indignabitur et bono concupiscet salutem. Dat et apostolus nobis concupiscentiam: ›si quis epicopatum concupiscit, bonum opus concupiscit‹ (1 Tim 3,1); et ›bonum opus‹ dicens rationalem concupiscentiam ostendit.« 10 Ambrosius: Expositio in ps 118, s.3 n. 33 (CSEL 62, 60, 9–12): »Concupiscamus ergo et nos desiderare iudicia dei – bona concupiscentia quae, cum examinatur, probatur – et concupiscamus desiderare in omni tempore, ut nullum momentum bonae praetereat vacuum cupiditatis.« 11 Nupt. et conc. 2, 23 (CSEL 42, 275, 16–18): »In concupiscentiae autem nomine aliquando gloriandum est, quia est et concupiscentia spiritus adversus carnem, est et concuspiscentia sapientiae.« – Nupt. et conc. 2,52 (CSEL 42, 308, 19–21): »non dixi: ›nulla esset concupiscentia‹, quia est et glorianda concupiscentia spiritalis, qua concupiscitur 6

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angriffe seines pelagianischen Kontrahenten Julian von Aeclanum reagiert. Ansonsten betont Augustin bekanntlich sehr den negativen Charakter der Konkupiszenz. Werde nicht ausdrücklich das begehrte Gut benannt, so richte sich Konkupiszenz auf Übles. 12 Mit Hilfe des Psalmverses unterscheidet Augustin das ›concupiscere‹ vom ›desiderare‹, das Begehren vom Verlangen: »Ich glaube, er ersehnte diese guten Werke noch nicht, als er sie zu ersehnen begehrt hat.« 13 Diese Unterscheidung ist ihm erleichtert, weil er das angezielte Gut hier nicht in der reinen Gabe Gottes als solcher sieht, 14 sondern in deren menschlicher Annahme und Umsetzung, in den menschlichen Werken der Gerechtigkeit, die weder im Begehren noch Verlangen schon geschehen sind. Drängt er damit den positiven Aspekt der Konkupiszenz etwa zurück, der nur Vorstufe des unmittelbaren Verlangens nach dem Heilsgut wäre? Wie kann das Verlangen begehrt werden? Sind Verlangen und Begehren, ›desiderare‹ und ›concupiscere‹, nicht das Gleiche? Was soll diese merkwürdig distanzierte Form des Verlangens? Am Beispiel des Kranken, 15 der nur noch mit Widerwillen essen kann, aber begehrt, diesen Ekel zu überwinden, um zu essen und gesund zu werden, verdeutlicht Augustinus zunächst, daß Konkupiszenz, auch im Blick auf die körperliche Gesundung – ›ratio sanitatis‹ (4,17 f.) –, nicht ein leibliches, sondern ein geistiges, seelisches Begehren ist: »in animo est, et non in corpore« (4,15 f.). Sind aber ›concupissapientia, sed dixi: ›nulla esset pudenda concupiscentia‹.« Vgl. Gerald Bonner: Concupiscentia, 1113–15. 12 »Cum autem non additur quid concupiscatur, sed sola ponitur, nonnisi mala intellegitur« (3, 15–17). – Vgl. Röm 7,7: »non concupisces«. – In diesem Zusammenhang verdient der 1990 von François Dolbeau entdeckte, wenig tradierte Sermo Augustini de bono nuptiarum Beachtung (Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz, Signatur Hs I 9). Vgl. dazu François Dolbeau: Die in Mainz wiederentdeckten Predigten Augustins. 13 »Credo nondum eas desiderabat, quando concupivit desiderare« (3, 25 f.). Weiter: »Cum itaque nondum habeat et qui iam desiderat, quam longe ab his erat qui adhuc eas desiderare concupiscebat? et quam longius ab eis sunt qui neque hoc adhuc concupiscunt?« (3, 28–30). 14 Auch nicht in den ›iudicia‹, wie noch Ambrosius und Hilarius von Poitiers gelesen hatten. Hilarius: Tract. in ps 118, gimel n. 11–13 (CSEL 22, 384 f.), hatte sie als das zu fürchtende Gericht verstanden und daher die Unterscheidung von ›desiderare‹ und ›concupiscere‹ erklärt: »non enim iudicium desiderat, sed, ut desideret, concupiscit« (CSEL 22, 385, 5 f.). 15 Der Vergleich begegnet schon in der Auslegung des Ambrosius: Expos. in ps 118 s.3 n. 33 (CSEL 62, 60, 3–6), erhält aber bei Augustinus eine neue Wendung. A

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centia‹ und ›desiderium‹ beide Sache der Seele, worin besteht dann die Unterscheidung? Denn Begehren kann sich nicht nur nach dem Verlangen richten, sondern verlangt mit diesem auch nach dem Verlangten: »Ich könnte ja das Verlangen nach der Gerechtigkeit nicht begehren, wenn ich nicht zugleich auch die Gerechtigkeit begehrte.« 16 Augustinus weist sodann darauf hin, daß ganz entsprechend der Liebe auch die Konkupiszenz einen Selbstbezug kenne. Wie die Liebe geliebt wird, mit der das Liebenswerte geliebt wird, wird auch die rechte Konkupiszenz begehrt. Augustinus arbeitet nicht nur keinen Unterschied zwischen ›dilectio‹ und ›concupiscentia‹ heraus, sondern bemerkt in diesen Ausdrücken nur eine andere Weise zu sprechen: »Was ist denn dieses Begehren, wenn nicht eine gute Liebe (bona dilectio)? Wenn man sagt, etwas sei zu lieben, was heißt das anders als es sei zu begehren? Weil nun die gerechten Werke vor Gott recht begehrt werden, wird deswegen auch die Konkupiszenz nach diesen Werken recht begehrt. Das kann auf andere Weise so ausgedrückt werden: Wenn die gerechten Werke vor Gott recht geliebt werden, wird die Liebe zu diesen Werken recht geliebt.« 17 Mit dieser Zuordnung unterscheidet sich Augustinus jetzt übrigens terminologisch deutlich von der Lehre der afrikanischen Synode im Mai 418 in Karthago, die die Einsicht in die Mandate Gottes und das Wissen um das, was wir erstreben müssen, scharf von dem ›diligere‹ getrennt hatte, in der wir das Erkannte auch tun (DH 226). Augustinus achtet aber hier nur auf die Unterscheidung zwischen ›concupiscentia‹ und ›desiderium‹. Die Differenz liege in der Abwesenheit des Verlangten und in einer gewissen Gegenwärtigkeit des Begehrten. Daher kann sich die Konkupiszenz nach dem Verlangen richten, aber nur im Verlangen begehrt sie das Abwesende. 18 Die Konkupiszenz ist also nicht ein minderes ›desiderium‹, sondern ein gesteigertes, weil Vgl. en. Ps. 118,8,4: »non enim possem concupiscere desiderium iustitiae, nisi concupiscendo iustitiam.« 17 Vgl. en. Ps. 118,8,4: »quid est ista concupiscentia, nisi bona dilectio? cum autem dicitur: diligenda est, quid aliud dicitur quam, concupiscenda est? quocirca quoniam recte concupiscuntur iustificationes dei, recte concupiscitur concupiscentia iustificationum dei. hoc enim alio modo sic potest dici: si recte diliguntur iustificationes dei, recte diligitur dilectio iustificationum dei.« 18 Vgl. en. Ps. 118,8,4: »nam concupiscendo, fruitur homo rebus quas habet; desiderando autem, absentia concupiscit. desiderium ergo quid est, nisi rerum absentium concupiscentia?« 16

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sie in der ›ratio‹ das Verlangte virtuell, gedacht, gegenwärtig hat und über das Verlangen das Verlangte in die Gegenwart holt. Auf die ›iustificationes‹ oder ›opera iusta‹ angewandt, fragt sich, ob sie anwesend oder abwesend sind, wenn man nur von ihnen weiß. Worte etwa wären durch Wissen anwesend, aber Werke müssen geschehen. Auch das Verlangen kann sie wegen der menschlichen Schwäche – ›infirmitate animae‹ (4,55 f.) – nicht gegenwärtig setzen. 19 Andererseits mag ihre Angemessenheit und Richtigkeit eingesehen werden, und doch kann das Verlangen, das ›desiderium‹, oder die Lust, die ›delectatio‹, sie zu tun, fehlen. Es ist also die Kraft des Geistes – ›ratio mentis‹ (4,56) –, die ihre Nützlichkeit und Heilsamkeit erkennt, 20 auch wenn Verlangen und Lust die sinnvollen guten Werke noch nicht in die Tat umsetzen, oder sogar daran hindern. Dahinter steht die Erfahrung des Apostels, daß wir nicht das Gute tun, das wir wollen, 21 und damit die Frage nach der Identität des Menschen, sofern darin sein Erkennen, Verlangen und Tun zusammenkommen und er vor Gott gerecht ist. In diesem Auseinandertreten der nicht nur begrifflichen, sondern schmerzlich erfahrenen Differenz von Erkennen und Verlangen gibt Augustin den Hinweis, daß das Verlangen aber doch immer noch begehrt werden könne (4, 57): »potest earum desiderium concupisci«. Also reicht die Konkupiszenz kraft des Geistes weiter als das Verlangen, und sie geht dem Verlangen voraus, weil sie unmittelbarer vom Geist, vom Intellekt in der ›mens‹ bestimmt ist und das Verlangen wenigstens begehren kann. Augustinus geht so weit, daß er das ›desiderium‹ mit ›delectatio‹ und ›affectus‹ wiedergeben, und die ›concupiscentia‹, die er schon als andere Ausdrucksweise mit der ›dilectio‹ verbunden hat, auch mit ›intellectus‹ und ›ratio‹ umschreiben kann: »Der Intellekt eilt voraus, das menschliche und schwache wohlwollende Verlangen (affectus) folgt langsam, und manchmal gar nicht. Daher begehrte er also das zu verlangen, was er als gut betrachtete, und er begehrte dabei, Freude an dem zu haben, dessen Grund er einsehen konnte.« 22 Das ist interpretative Wiedergabe; vgl. en. Ps. 118,8,4: »nam quid sunt iustificationes, nisi opera iusta, non verba? ac per hoc possunt infirmitate animae non desiderari«. 20 Vgl. en. Ps. 118,8,4; »utiles et salubres«. Gleichsinnig (118,8,5): »utiles et honestae«. 21 Vgl. en. Ps. 118,8,4: »saepe enim quid agendum sit videmus, nec agimus: quia non delectat ut agamus, et cupimus ut delectet.« Vgl. Röm 7,19. Vgl. auch Ovid: Metamorphosen 7,19–21: »aliudque cupido, mens aliud suadet: video meliora proboque, deteriora sequor.« 22 Vgl. en. Ps. 118,8,5: »praevolat intellectus; et tarde sequitur, et aliquando non sequi19

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Es sei hier erwähnt, daß Augustinus auch schon vor der Synode von 418 zwar nicht die ›concupiscentia‹, so doch den ›appetitus amoris‹ mit dem ›iudicium rationis‹ innerlich in der ›mens‹, dem ›inneren Menschen‹ so verbunden hatte, daß sie sich zusammen zur höchsten Tätigkeit des Menschen ausrichten. 23 ›Mens‹ und ›intellegentia‹ tragen nach Augustinischem Sprachgebrauch (zumal in seinem Liber de videndo Deo) als der innere Mensch die Spitze in sich, mit der Gott geschaut werden kann. Die Metapher vom reinen Herzen stand für die ›mens‹, nicht für die ›ratio‹. Es ist nicht nur das Urteil des Verstandes allein, sondern in der ›mens‹ mit ihm auch das Begehren der Liebe, in der jenes Ziel erreicht wird. 24 Ausdrücke aus dem Wortfeld ›voluntas-velle‹ fallen in unserem Text nicht. Mit der Einsicht und der Vernunft bereitet die Konkupiszenz das Verlangen und die Lust vor. Während das Verlangen sich nach dem Ausstehenden richtet, aber es nicht in die Gegenwart holen kann, geht die Konkupiszenz über das Verlangen auf das Ausstehende, vergegenwärtigt es, das heißt die ›iustificationes Dei‹ oder ›opera iusta‹, aber aus der ihr inneren Kraft des Intellekts nur als etwas zu Erstrebendes. In der so beschriebenen Konkupiszenz finden menschlicher Intellekt und sein Verlangen zusammen. Augustinus stellt mit ihr, so können wir wohl sagen, einen Aspekt der praktischen Vernunft vor. Damit ist der Konkupiszenz eine sehr hohe Bedeutung zuerkannt, aber Augustinus weiß auch noch um eine vollere Identität des Menschen, in der auch die ›iustificationes‹ ihre ganze Wirklichkeit erreichen. Das geschieht erst, wenn flammende ›caritas‹ sich auf sie hin richtet und in ihr deren ganze ›claritas‹ aufleuchtet. 25 Erst an dieser Stelle wird in unserem Text ein Hinweis auf die Gnade deutlich, die zur Verwirklichung des Ersehnten und Begehrten führt. Der Weg nimmt – so faßt Augustinus geradezu in Schritten seine Überlegung zusammen – seitur humanus atque infirmus affectus. ideo ergo desiderare concupiscebat quae bona esse cernebat, cupiens eorum habere delectationem quorum potuit videre rationem.« 23 Vgl. ep. 147,44 (CSEL 319, 2 f.; vgl. Erich Naab: Über Schau und Gegenwart des unsichtbaren Gottes, 174). 24 Vgl. Erich Naab: Über Schau und Gegenwart des unsichtbaren Gottes, 33 f. Vor allem Augustinus: ep. 147, 44 (CSEL 44, 319, 2 f.; 174): »non solum iudicio rationis, sed amoris quoque appetitu«. Vgl. hier die terminologischen Beobachtungen bei Erich Naab, ebd. 31–34. 25 Vgl. en. Ps. 118,8,5: »si autem iam desiderabat, cur non habebat? non enim aliquid impedit quominus habeantur iustificationes dei, nisi quia non desiderantur, dum non in eas caritas fervet, quarum claritas lucet.«

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nen Ausgang also bei der Erkenntnis, wie sich der Mensch zu den ›iustificationes Dei‹ recht verhalten solle, und das kann unterschiedliche Intensität haben, von der Erkenntnis ihrer ›utilitas‹ oder bloßen ›honestas‹ und ›salubritas‹ ; er führt über die Konkupiszenz zum Verlangen und freut sich zuletzt an der Tätigkeit, wenn der Mensch mit Hilfe des Lichts und seiner Gesundheit (»proficiente lumine atque sanitate«) diese ›iustificationes‹ auch verwirklichen kann. Wenn das geschieht, findet auch die ›ratio‹ ihre Freude. 26 Sie erreicht so ihre aktuelle Vervollkommnung, in der sich ihre Stimmigkeit und Übereinstimmung auch mit sich selbst ausdrückt. Aber über den letzten Punkt der Verwirklichung der ›iustificationes‹ wie des Menschen will Augustinus an anderer Stelle sprechen. Was genau stört an Augustins Auslegung des Psalms so sehr die These: »si ratio recta, et voluntas recta«, daß diese gleich als Irrtum bezeichnet werden kann? Insistiert er in seinem Verständnis der Schriftstelle nicht deutlich darauf, daß aus der ›ratio‹ die gute Konkupiszenz kommt, die das Verlangen in die Wege leiten kann, um sogar die ›ratio‹ zur Freude zu führen, wenn die ›caritas‹ hinzukommt, die Vollendung der Liebe, die in der Konkupiszenz unter dem Aspekt der ›dilectio‹ in einer ersten Form schon real anwesend ist, während er das Wort ›voluntas‹ nicht gebraucht und von der Sache des Willens als ›concupiscentia‹ und ›desiderium‹ 27 spricht? Und den Einfluß der Gnade thematisiert er in der Auslegung weder ausdrücklich für den Willen noch die Vernunft.

2.

Die Rezeption in der ›Glosse‹

Der Pariser Bischof Tempier greift bei der Verurteilung allerdings nicht auf Augustinus direkt zurück, sondern auf eine Glosse. Verkürzt sie den Augustinischen Text oder gewichtet sie ihn um? In der Magna Glossatura des Petrus Lombardus 28 († 1160) finden wir eine sehr ge26 Vgl. en. Ps. 118,8,5: »sed quibus quasi gradibus ad eas perveniatur, ostendit. prius est enim ut videatur quam sint utiles et honestae; deinde, ut earum desiderium concupiscatur; postremo, ut proficiente lumine atque sanitate delectet earum et operatio, quarum sola ratio delectabat.« 27 Bzw. mit den Verben ›concupiscere‹, ›desiderare‹, auch ›cupere‹ (en. Ps. 118,8,4), aber nicht ›velle‹. 28 Petrus Lombardus: Commentarius in Psalmos Davidicos (PL 191, 55–1296, hier

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raffte Wiedergabe. Das Augustinische Verständnis der ›concupiscentia‹ aus dem Selbstbezug der ›dilectio‹, in dem er beide gleichsetzte – »Quid est ista concupiscentia, nisi bona dilectio?« (4, 40 f.) –, verblaßt zu einer bloßen Strukturentsprechung, 29 bei der kein sachlicher Zusammenhang genannt wird. Überhaupt wird die Positivität der lobenswerten Konkupiszenz nicht eigens zum Thema gemacht. Auch Lombardus erwähnt, daß die ›iustificationes Dei‹, die er ebenfalls als Werke der Gerechtigkeit versteht, manchmal vernünftigerweise in ihrer Nützlichkeit erkannt werden, aber wir sie auf Grund unserer Schwäche bisweilen nicht begehren. 30 Augustins ›ratio mentis‹ wird unter der Hand auf die bloße ›ratio‹ reduziert, wird also nicht mehr akzentuiert im Zusammenhang der ›dilectio‹ oder wenigstens des Willens gesehen, sondern kann (fügen wir hinzu: ›in sensu scolastico‹) im Unterschied oder gar im Gegensatz dazu aufgefaßt werden. Eine weitere Verschiebung zielt in die gleiche Richtung, ist aber daneben von geringerer Bedeutung: Die präzisere ›infirmitas animae‹ Augustins, deretwegen das Verlangen die gerechten Werke nicht in die Wirklichkeit umsetzen konnte, wird schlicht zur ›infirmitas‹ verallgemeinert. Die Differenz von Erkennen und Verlangen kann zwar noch bemerkt werden, aber auch ihre existentielle, belastende Erfahrung drückt sich nicht mehr aus. Augustins letzter Hinweis auf die brennende Liebe, in der die schon erkannten ›iustificationes‹ erst voll aufleuchten und die das Verlangen nach ihnen in ein Haben überführt, fehlt im mittelalterlichen Exzerpt. Doch die Zusammenfassung gleichsam in Schritten, in denen von der Erkenntnis des Rechten über Begehren und Verlangen zur Ver1055AB). Bisweilen wird dieser Text auch Glossa in Psalmos genannt. Petrus Lombardus griff dafür auf Anselm von Laon († 1117) und die media Glosatura des Gilbert von Poitiers († 1154) zurück; ob er die Enarrationes Augustins zur Hand hatte, ist nicht eindeutig geklärt. Vgl. Petrus Lombardus: Sententiae in IV Libris distinctae I/1: Prolegomena, p. 46*–61*. – Die unter dem Namen Haymo von Halberstadt gedruckte, vermutlich von Anselm von Laon stammende Explanatio in omnes psalmos (PL 116, 191– 696, hier 605B–606C) zeigt an unserer Stelle weder einen Einfluß von Augustins en. Ps. 118, noch einen Einfluß auf Petrus Lombardus. Die fälschlich unter dem Namen des Walahfried Strabo gedruckte Glosse (PL 113–114) übergeht in PL 113, 1041D leider den Ps 118 wegen seines Umfangs. 29 Petrus Lombardus: »Ita vero amanda est dilectio qua diligenda diliguntur, sicut illa est odienda qua non diligenda diliguntur« (PL 191, 1055A). 30 Petrus Lombardus: »Videmus enim ratione nonnunquam quam utiles sunt iustificationes Dei, id est opera iustitiae sed infirmitate aliquando non desideramus« (PL 191, 1055AB).

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wirklichung fortgeschritten wird, übernimmt Lombardus fast wörtlich. Und somit wird doch noch der Hinweis auf die Gnade nachgetragen. Der Ausdruck ›voluntas‹ fehlt (ebenso wie das Verb ›velle‹) auch im Abstract des Lombardus. Noch eine Beobachtung scheint mir bedenkenswert zu sein: Im Psalm hatte ein ›incola in terra‹, ein Gast auf Erden, gesprochen. In Augustins Erklärung ist das der Mensch in seiner gegenwärtigen Lage, der das Rechte zumindest soweit erkennt, daß er wenigstens das Verlangen nach ihm begehren kann. Freilich hatte er, wie es im vorausgehenden Psalmvers hieß, um die Weisungen des Herrn schon gebeten. 31 Die Spannung zwischen ›concupiscentia‹ und ›desiderium‹ prägt sein Vorwärtsschreiten. Der ›incola terrae‹ des Petrus Lombardus ist in einer anderen Situation, er ist schon fortgeschritten. Bei ihm gibt es nicht mehr das Begehren nach dem Verlangen, das war einst, sondern nur noch ein Verlangen, 32 das nicht mehr durch Verdruß ermattet ist. 33 Denn jener Erdenbürger ist nicht wie alle Menschen, sondern wie alle seine Väter, wie die Gerechten. 34 Mit Gebot und Verheißung hat sich in der Glosse das kunstvoll gesponnene, ausgreifende und vergegenwärtiAugustinus wagte nicht zu entscheiden, ob unter dem ›incola‹, dem Fremden, der ganze Mensch zu verstehen sei, weil er einmal Bürger des Paradieses war, oder nur in Bezug auf die Seele gesprochen sei, die nicht aus der Erde stammt. Aber er ging davon aus, daß es der Mensch sei, dem die ewige Heimat im Himmel verheißen ist. Er hielt aber auch fest, daß Ungläubige Fremdlinge sind, zwar nicht auf Erden, so doch im Volk Gottes, aus dem sie nicht stammen; vgl. en. Ps. 118,8 (1,1–60). 32 Petrus Lombardus: »hoc olim concupivit non modo, quia iam quando incola terrae erat, non cupiebat desiderare, sed desiderabat. Olim vero nondum desiderabat eas [sc. iustificationes tuas], sed fastidio languebat« (PL191, 1055A). Er wiederholt nochmals das ›olim‹ 1055B: »Ita iste olim desiderare concupiescebat.« 33 Während Petrus Lombardus den augustinischen sachlichen Zusammenhang zwischen ›concupiscentia‹ und ›dilectio‹ in einen bloßen Vergleich auflöst, konstruiert er hier aus einem Augustinischen Vergleich einen, sagen wir, heilsgeschichtlichen Status. Augustinus hatte den Kranken mit seinem Ekel vor Speisen nur bemüht, um das Begehren (›concupiscentia‹), wieder Appetit zu haben (›desiderium‹), als einen Vorgang in der Seele zu verdeutlichen. Er spricht hier nicht von einer vergangenen Situation. Bei Lombardus ist die von ihm eingebrachte einstige Situation des Menschen dadurch charakterisiert, daß er »fastidio languebat«. Beide Worte stellt er aus unterschiedlichen Mikrokontexten Augustins zusammen. Das ›fastidium‹ hatte die zum bloßen Vergleich herangezogene körperliche Krankheit geprägt, während mit »iste mirabilis atque inexplicabilis languor« (4,10 f.) die Differenz zwischen ›concupiscentia‹ und ›desiderium‹ angefragt war. 34 Petrus Lombardus zu Ps 118,19: »peregrinus sum, non sicut omnes homines, sed sicut omnes patres mei, id est iusti« (PL 191,1054D). 31

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gende Verhältnis von Begehren und Verlangen erst verflacht, dann entflochten. Bei Lombardus prägt auch die positive Konkupiszenz nur den, der noch nicht Fremdling auf Erden ist, weil er noch nicht um seine wahre Heimat im Himmel weiß. Augustinus hatte dagegen die Konkupiszenz gerade in den Vorgang des Gerechtwerdens integriert. Nach seiner Analyse setzte in jeder Situation, auch bei den Glaubenden, der Vorgang des Begehrens und Verlangens mit der Erkenntnis, der ›ratio mentis‹, ein, weil hier der Ursprung der guten Konkupiszenz oder – um Tertullians Ausdruck zu wiederholen – der ›rationalis concupiscentia‹ liegt. Indem Petrus Lombardus in seiner Wiedergabe gleich beim Verlangen ansetzt, und dessen Vorgang in der Konkupiszenz ausklammert, kann umso mehr auch der Zusammenhang mit der ›ratio‹ für den von ihm in der Gerechtigkeit situierten Menschen in die Vergangenheit und das Vergessen fallen. Das muß freilich nicht die Intention des Petrus Lombardus bei seiner Zusammenfassung gewesen sein. Wenn wir aber das Verlangen als Ausdruck des Wollens verstehen und nicht mehr in der ›ratio mentis‹ fundieren, ist auch der Zusammenhang zwischen ›ratio recta‹ und ›voluntas recta‹ nicht mehr erklärt. Die Vernunft verliert ihre praktische Ausrichtung. Sie wird zu einem Abstraktum, das sie als ›ratio mentis‹ nie sein konnte. Aber das geschieht dann gegen den Text Augustins, der der Glosse zugrunde liegt, auf die sich das Dekret von 1277 beruft. An Stelle des echten Augustinus ist der virtuelle Autor, der Augustinus des Mittelalters getreten.

3.

Weitere Verkürzung in den ›Sentenzen‹ des Petrus Lombardus

In seinen Sentenzen greift Petrus Lombardus nochmals auf Augustins Auslegung zurück, genauer: auf seine eigene, eben vorgestellte Zusammenfassung, von der er etwa die Hälfte wörtlich übernimmt, 35 während die ersten Sätze – und damit sogar der bloße Vergleich mit der ›dilectio‹ – ganz entfallen. Es entfällt damit auch die einleitende Unterscheidung zwischen der einstigen und jetzigen Situation, 36 während Allein die ›infirmitas‹ erhält wieder einen Zusatz, aber sie wird nicht zur ursprünglichen ›infirmitas animae‹, sondern zum ungeklärten Hemmnis, zur ›infirmitas praepediti‹. 36 Mit dem Zitat wird allerdings auch ein ›olim‹ übernommen. Es wird nicht verdeut35

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die Zuordnung von Begehren und Verlangen durch eine neue Unterscheidung wieder auftritt. Das geschieht in lib.II dist.26, wo er das Verhältnis von wirkender und mitwirkender Gnade erörtert, und zwar in cap. 6. Er hält zunächst fest, daß jenes Denken und jener Wille, die dem Glauben und der Liebe vorausgehen, weder zum Heil noch zu einem rechten Leben ausreichen. Durch diesen nicht ausreichenden Willen werde immerhin der gute Wille begehrt, der freilich im Unterschied zu jenem vorausgehenden ein großes Gut sei. 37 Die späten Verwicklungen der Augustinischen Gnadenlehre mit den südgallischen Mönchen um das ›initium fidei‹ (bzw. den sogenannten Semipelagianismus), in denen die zweite Synode von Orange 529 sogar den ›affectus credulitatis‹, die erste Neigung, glauben zu wollen, nur als Geschenk der Gnade festhielt (vgl. DH 375 f.), waren im Mittelalter nicht mehr präsent. Immerhin geht der insuffiziente Wille voraus und kann daher nicht völlig äquivok zum guten Willen verstanden werden. Er ist doch irgendwie ein Bedenken des Guten. Petrus Lombardus legt seine eigene Glosse so aus, daß die Einsicht in das Gute dem Begehren derart vorausgeht wie diese gute Konkupiszenz der ›delectatio‹, dem freudigen Genuß (in den sich das ehemalige Verlangen nun schon erfüllt hat). Und dieser Genuß geschehe durch Glaube und Liebe; hat man sie, ist der Wille gut und das Leben recht. Der gute Wille aber begleitet den Glauben nur, und geht ihm nicht voraus. 38 Widerspruchsfrei – scheint mir – könnten diese Sätze verstanden werden, wenn, auch im Hinblick auf einen wirklichen allgemeinen Heilswillen Gottes (vgl. 1 Tim 2,4), für das erste Bedenken des Guten und den vorausgehenden Willen, der den guten Willen immerhin begehrt, schon eine initiale, wirkende (den Rechtfertigungsprozeß anstolicht, wie sich die einstige Zuordnung von ›concupiscere‹ und ›desiderare‹ von der jetzigen Situation unterscheidet. Vom bloßen ›desiderare‹, das die Magna Glossatura behauptet hat, ist jetzt nicht mehr die Rede. 37 Sent. II d.26 c. 5 (476, 5–9): »De illa cogitatione boni quae praecedit fidem plene disseritur. Illa autem cogitatio sive voluntas, quae fidem et caritatem aliasque iustificationes praecedit, non sufficit ad salutem, nec recte vivitur ea. Hac voluntate concupiscitur illa bona voluntas quae est magnum bonum, ista vero non; alia ergo est illa voluntas sive cogitatio, alia ista.« 38 Sent. II d.26 c. 6,2 (476, 27–477, 2): »qualiter scilicet intellectus bonorum praecedit concupiscentiam eorundem, et ipsa concupiscentia delectationem, quae fit per fidem et caritatem; qua habita, vere bona est voluntas qua recte vivitur; ipsaque fidei comes est, non praevia.« A

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ßende) Gnade angenommen werden kann, die allgemein initiiert, recht denken und daher begehren zu können, die menschlichen Möglichkeiten bis in die ›ratio‹ und die ›acies mentis‹ hinein umzusetzen, gerade nicht zu binden, sondern frei zu geben und die insofern auch Freiheit ausüben läßt. Denn alles Glauben, Wollen, Sehnen, alle Anstrengung und Mühe, Bitten, Wachen, Streben, Verlangen, Suchen, Anklopfen, all das geschieht ja, wie die 2. Synode von Orange betont, durch Eingießung und Einhauchung des Heiligen Geistes, so daß wir (nicht er) mit unserem Willen all das zu tun vermögen (vgl. DH 376). Natürlich ist ein Anstoß noch nicht die Vollendung des Heils, das sich weder in einem – sit venia verbo – Deismus der Gnade (bei dem das Geschenk der Freiheit eine lebendige Begegnung ersetzt), aber auch nicht in einer bloßen neuen Qualifizierung des Menschen in einem sogenannten Gnadenhabitus fassen läßt. Der Sentenzenmeister spricht denn auch von einem ›ordo gratiarum‹, 39 von verschiedenen Gnaden, die den ganzen Prozeß in unterschiedlicher Intensität begleiten. Zu bemerken bleibt aber, daß die eigentliche, die hinreichend wirksame Gnade auf den Willen fokussiert wird, daß der Intellekt nur in der entfernteren Vorbereitung platziert ist und daß der Augustinische Rückbezug bei der Verwirklichung, beim letzten der von ihm beschriebenen Schritte, auf die ›ratio‹, die dabei ihre Freude und damit ihre Vervollkommnung findet, nicht mehr erwähnt wird. 40 Im intensiven Willen, im Verlangen und in der Freude, erst kommt die entscheidende Gnade mit dem Glauben und der Liebe an. Daß die ›ratio mentis‹ und der Intellekt das Einfallstor der Gnade ist, gerät bei dieser in den ursprünglichen Text neu eingetragenen Unterscheidung zwischen Suffizienz und Insuffizienz 41 in Vergessenheit. Die rationale Dimension des Menschen bleibt, wenn auch von der Gnade nicht ganz unberührt, so doch bei der psychologischen Beschreibung der Begnadung in der Zuordnung von Erkenntnis und Wille mehr oder weniger außen vor. Diesen Vorgang können wir auch in der Summa sententiarum aus der Viktorinerschule beobachten: Sie weiß den Willen ohne Gnade gebunden und fordert zum guten Wollen nicht die ›cogitatio‹, sondern Sent. II d.26 c. 6,2 (476, 26). Augustinus: en. Ps. 118,8,5: »delectet earum et operatio, quarum sola ratio delectabat.« 41 Diese Unterscheidung hat noch nichts zu tun mit den späteren Diskussionen zwischen Thomisten und Molinisten über die ›gratia sufficiens‹ und ›gratia efficax‹. 39 40

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eine ›delectatio‹, ein Vergnügen, das durch die ›caritas‹ gegeben ist, 42 während Hugo von St. Viktor († 1141) schon in technisch abstrakter Form eine ›gratia operatrix‹ einführt, mit der der Hl. Geist den guten Willen gibt. 43 Andererseits hatte noch Bernhard von Clairvaux († 1153), zumindest in seinen frühen Jahren (1127/28), die Gnade uns im guten Gedanken zuvorkommen lassen, den wir ergreifen, denken und mitvollziehen. Die erneuernde Form kommt in der Leichtigkeit der ›cogitatio‹ unserer Zustimmung zuvor, in welcher der von Gott geschenkte Gedanke ergriffen wird. Der Gedanke ist bei ihm der Reiz der Gnade an den Willen, genauer gesagt: nicht der vom Willen bestimmte Gedanke, sondern das dem Menschen in Gottes Wohlwollen Vor-Gedachte: »Die Gnade selbst erweckt den freien Willen, wenn sie das Samenkorn des Gedankens aussät.« 44 Auch bei der unter dem Namen des Haymo von Halberstadt gedruckten Psalmenerklärung vermutlich des Anselm von Laon († 1117) war die Befähigung zur Gotteserkenntnis noch die Voraussetzung für das rechten Wollen und das rechte Handeln. 45 Abälard († 1142) kennt die Vorstellung einer inneren Inspiration, über die er allerdings inhaltlich wenig sagt, so daß sie als eine Hilfskonstruktion erscheinen konnte, um die Allgemeinheit des Heilsangebotes festzuhalten. 46 Summa sent. tr.3 c. 9 (PL 176, 104). Hugo von St.Viktor: De sacramentis Christiane fidei I 6 [17] (ed. Rainer Berndt 151, 22–24; PL 176, 104); vgl. Artur M. Landgraf: Dogmengeschichte der Frühscholastik I/1, 117. 44 Bernhard von Clairvaux: De gratia et libero arbitrio 47 (199, 28 f.): »Ipsa [gratia] liberum excitat arbitrium, cum seminat cogitatum.« Vgl. Erich Naab: Bernhard von Clairvaux’ Beitrag zur Gnadenlehre. 45 Explanatio in omnes psalmos, ps. 118 gimel (PL 116, 605BC): »qui tribuisti ut te cognoscerem, fac mihi aliam retributionem, hanc scilicet, vivifica me, id est, facultatem bene operandi, quam perdidi in primo parente, mihi restitue.« 46 Vgl. Rolf Peppermüller: Abaelards Auslegung des Römerbriefes, 178. Vgl. etwa In Rom. III 7 (CCM 11,200): »Credimus tamen eos omnes qui illi imperfectioni mandatorum amore Dei potius quam timore obtemperant, ante diem sui exitus quod de perfectione ei per ignorantiam deerat, quia lex tacuerat, vel per spiritualem aliquem doctorem vel per internam divinae gratiae inspirationem ei revelari.« Auch In Rom. IV 7 (CCM 11,257 [39]). Apologia, fragm.2 bei Thomas von Morigny (CCM 11,366). – Durch innere Aspiration sollten auch Defizite der Lehrvermittlung überwunden werden. So Abälard zur 4. Bitte in: Expositio Orationis Dominicae (PL 178, 611A–618C). – Heinz Robert Schlette, Aspiratio, 211–215. – Der inneren Inspiration kommt aber auch zu, Einsicht in den Glauben zu schenken, damit das Wort so gepredigt wird, daß es überzeugt und die Liebe weitergibt. Vgl. In Rom. III 8 (CCM 11, 211). 42 43

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4.

Zum Pelagianismus-Vorwurf

Achten wir noch auf den mit der Verurteilung der These »si ratio recta, et voluntas recta« verbundenen, etwas allgemeinen Vorwurf des Pelagianismus. Als charakteristisch für diese Lehre, die jede Übertragung der Erbsünde ablehnt, gilt die Anerkennung der Fähigkeit des menschlichen Willens, aufgrund seines natürlichen Vermögens den Geboten Gottes zu gehorchen. Der freie Wille konnte als Gabe Gottes niemals von der Sünde korrumpiert werden. Auf die verworfene These angewandt, legt sich deren Verständnis in dem Sinne nahe, daß die Abfolge von ›ratio‹ und ›voluntas‹ sich in einem gewissen Automatismus ereigne, während der Einfluß der Gnade gerade während dieses Vorganges auf den Willen zu beachten sei. Im Blick auf die Glosse legt sich nahe, daß von Stefan Tempier, dem verurteilenden Bischof, die ›ratio‹ als neutrales, willenloses und gnadenfreies Vermögen betrachtet wird. Freilich hatte die (bereits erwähnte) afrikanische Synode in Karthago im Mai 418 die Einsicht in die Gebote Gottes, durch die wir wissen, was wir erstreben (›appetere‹) und meiden müssen, ein Geschenk Gottes genannt, aber darüber hinaus auch auf die Notwendigkeit der Hilfe hingewiesen, mit der wir das, was wir erkannt haben, daß es zu tun sei, auch zu tun wünschen, es zu tun lieben und zu tun vermögen. Diesem Zweiten gegenüber wurde die bloße Erkenntnis als inferior angesehen, weil Wissen aufblähe, aber die Liebe aufbaue (vgl. 1 Kor 8,1). Die Gnade Gottes dürfe gerade nicht auf die Erkenntnis reduziert werden. 47 Diese Ausführungen waren in den so genannten Indiculus (die pseudocoelestinischen Kapitel) aufgenommen worden (DH 245), hatten höchst wahrscheinlich schon zur Epistula tractoria des römischen Bischofs Zosimus aus dem Spätsommer 418 gehört und hatten über den

15. (16.) Synode von Karthago, 1. Mai 418, can. 4 (DH 226): »Item, quisquis dixerit, eandem gratiam Dei per Iesum Christum Dominum nostrum propter hoc tantum nos adiuvare ad non peccandum, quia per ipsam nobis revelatur et aperitur intellegentia mandatorum, ut sciamus, quid appetere, quid vitare debeamus, non autem per illam nobis praestari, ut quod faciendum cognoverimus, etiam facere diligamus atque valeamus, anathema sit. Cum enim dicat Apostolus: ›Scientia inflat, caritas vero aedificat‹ [1 Cor 8,1], valde impium est, ut credamus, ad eam, quae inflat nos habere gratiam Christi, et ad eam, quae aedificat, non habere, cum sit utrumque donum Dei, et scire, quid facere debeamus, et diligere, ut faciamus, ut aedificante caritate scientia nos non possit inflare.«

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Indiculus um 500 Eingang in die Dekretalensammlung des Dionysius Exiguus gefunden; sie hatten so allgemeine Geltung erlangt. Wenn die ›ratio‹ in der inkriminierten These nicht im Sinne der augustinisch konkreten ›ratio mentis‹, nicht im Sinne einer praktischen Vernunft, sondern als gnadenfreie Vernunft, als bloße Möglichkeit geistiger, intellektiver Tätigkeit verstanden wird, die nicht auf ein Handeln und Hervorbringen zielt, 48 ist der Vorwurf des Pelagianismus schwer von der Hand zu weisen. Er trifft schon zu, wenn die ›ratio‹ mit dem Intellekt vom Willen getrennt wird und für ihre Rechtheit zwar die Notwendigkeit der Gnade für den Intellekt anerkannt wird, aber dann in gewisser Mechanik außerhalb des lebendigen, aktuellen Einflusses der Gnade ein rechter Wille resultierte. Aber wäre es sinnvoll, von einer Richtigkeit der ›ratio‹ zu sprechen, wenn sie in ihrem Ausdruck, in der Verwirklichung in den Willen beschnitten wäre? Ebenso ist die Rechtheit eines Willens anzufragen, dessen Freiheit nicht in ihm, sondern ihm voraus in der ›ratio‹ liegt. Neben der theologischen Problematik um Freiheit und Stetigkeit der Gnade dürfte schon die behauptete Rechtheit sowohl für die getrennte Vernunft wie für den mechanisch abgeleiteten Willen schwer verständlich sein. Wird aber im Sinne einer praktischen Vernunft argumentiert, läßt sich deren Rechtheit nur zusammen mit der Rechtheit des Willens behaupten, weil – aristotelisch gesprochen – deren Wahrheit in ihrer Übereinstimmung mit dem richtigen Streben liegt.

5.

Wen trifft die Verurteilung?

Fügen wir noch in einem kurzen Ausblick an, wen die Verurteilung treffen sollte und welche Diskussionen sie ausgelöst hat, ohne die These in eine innere Systematik der 219 Irrtümer beziehungsweise der von Vgl. NE 1139 a 29–31: »Bei der spekulativen Denkbewegung, die nicht auf ein Handeln oder Hervorbringen zielt […] bedeutet ›gut‹ und ›schlecht‹ einfach ›wahr‹ und ›falsch‹ – denn dies ist ja die Leistung alles spekulativen Verhaltens. Bei einem denkerischen Verhalten dagegen, welches auf Handeln zielt, liegt die ›Wahrheit‹ in der Übereinstimmung mit dem richtigen Streben.« Aristoteles unterscheidet praktische und dianoetische Vernunft. Vgl. Roland Hissette: Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 Mars 1277, 258, gibt die Unterscheidung mit »la raison théorique« und »la raison pratique« wieder. Theoretische Vernunft scheint mir im Augustinischen Kontext allerdings insofern mißverständlich, als die höchste Tätigkeit in der Schau liegt.

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Stefan Tempier repräsentierten Gegenposition einordnen zu wollen. Im Sinn der Stimmigkeit der Vernunft nur in Übereinstimmung mit dem richtigen Streben kann etwa Thomas von Aquin († 1274) lehren, daß die Güte des Willens von der ›ratio‹ abhängt, weil nur sie ihm sein Objekt bereitstellt. 49 Zwar steht die 130. Pariser These nicht auf der Liste der 16 ›thomistischen‹ Propositionen, die der Dominikaner Pierre Mandonnet ausgezogen hat, von denen sich auch fast keine wörtlich bei Thomas nachweisen läßt. 50 (In franziskanischen Zusammenstellungen war Thomas gewöhnlich von noch mehr Sätzen betroffen.) Aber die 130. These wird doch eng berührt von der auch bei Mandonnet aufgeführten These 163: »Der Wille folgt mit Notwendigkeit dem, was die Vernunft für richtig hält. Er kann sich nicht abwenden von dem, was die Vernunft vorschreibt. Diese Nötigung ist kein Zwang, sondern die Natur des Willens.« 51 Freilich weist Thomas darauf hin, daß noch mehr als von der menschlichen ›ratio‹ der rechte, gute menschliche Wille vom ewigen Gesetz abhängt, aber das ist nichts anderes als die ›ratio divina‹. Und diese göttliche Vernunft werde uns einigermaßen durch unsere natürliche menschliche Vernunft bekannt, die von ihr als deren charakteristisches Abbild (›propria imago‹) herrührt.52 Ein Wille, der mit der eigenen Vernunft nicht übereinstimmt, sei sie nun richtig oder irrig, ist immer von Übel. Thomas weiß im Corpus seines Artikels differenzierende Auffassungen einiger zu berichten – Vertreter der älteren Franziskanerschule, Bonaventura († 1274) und Alexander von Hales († 1245), 53 können genannt werden –, gegen die er darauf hinweist, daß etwas, was in sich gut sein S.th. I-II 19, 3c: »bonitas voluntatis dependet a ratione, eo modo quo dependet ab obiecto.« 50 Pierre Mandonnet: Siger de Brabant, 231–233. Vgl. James A. Weisheipl: Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie, 306. 51 »Quod voluntas necessario prosequitur, quod firmiter creditum est a ratione; et quod non potest abstinere ab eo, quod ratio dictat. Hec autem necessitatio non est coactio, sed natura voluntatis.« – Vgl. S.th. I-II 9, 6 ad 3: »Sed homo per rationem determinat se ad volendum hoc vel illud, quod est vere bonum vel apparens bonum.« 52 S.th. I-II 19, 4c: »Quod autem ratio humana sit regula voluntatis humanae, habet ex lege aeterna, quae est ratio divina.« Ebd. ad 3: »licet lex aeterna sit nobis ignota secundum quod est in mente divina; innotescit tamen nobis aliqualiter vel per rationem naturalem, quae ab ea derivatur ut propria eius imago; vel per aliqualem revelationem superadditam.« 53 Bonaventura: In II Sent. dist.39 a.1 q. 3 (Opera omnia II, 905–907); Alexander von Hales: Summa Theologica II-II n. 388 (Bd. III, 387–389). 49

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mag, akzidentell bei der Nichtübereinstimmung von Vernunft und Wille übel wird. 54 Sünde ist in menschlichen Akten immer gegen den zielgerichteten ›ordo rationis‹ gerichtet (S.th. II-II 153, 2c). Ob aber ein Wille, der mit irrender Vernunft übereinstimmt, gut genannt werden kann, hängt davon ab, ob die ratio nicht willentlich irrt (S.th. I-II 19, 6). Damit ist endgültig deutlich, daß auch Thomas von einer praktischen Vernunft spricht. In den kardinalen Aussagen S.th. I 43, der Scharnierstelle der Summa zwischen Theo-logie und Ökonomie, sieht er die Vollendung des Intellekts in der Gnade gegeben, wenn der Intellekt durch die unsichtbare, innere Sendung dem göttlichen Logos assimiliert und zu ursprünglicher Erkenntnis so aufgestellt ist, daß aus ihm der Affekt der Liebe hervorbricht. Dann sei sogar eine perzeptive oder experimentale Kenntnis des dreifaltigen Gottes gegeben. Nicht der Intellekt, nicht der Wille, sondern deren gemeinsame Basis, die ›mens‹, 55 ist der Ort, in der die ›missio‹ der göttlichen Personen als die Grundlage der menschlichen Vollendung ankommt, und diese faltet sich notwendiger Weise sowohl im Intellekt wie im Willen aus, als ›illuminatio‹ und ›inflammatio‹. 56 Heinrich von Gent († 1293), Repräsentant der manchmal ›neoaugustinisch‹ genannten Strömungen in Paris, auch Mitglied der von Bischof Tempier für sein Dekret bemühten Kommission von 16 Theologen, 57 betonte in seinem ersten Quodlibet von 1276 gegen Aristoteles den autonomen und aktiven Charakter des Willens. 58 Der von Natur aus freie Wille handle, indem er selbst wählt, also entweder dem Urteil der Vernunft oder dem eigenen Begehren folge. Die Vernunft lege nur das vor, was gewollt werden kann, so daß der Wille auch WahlS.th. I-II 19,5. Er nennt dabei eigens die Glaubensproblematik: »Credere in Christum est per se bonum, et necessarium ad salutem: sed voluntas non fertur in hoc, nisi secundum quod a ratione proponitur. Unde si a ratione proponatur ut malum, voluntas feretur in hoc ut malum: non quia sit malum secundum se, sed quia est malum per accidens ex apprehensione rationis.« 55 S.th. I 43,5c: »per gratiam gratum facientem tota Trinitas inhabitat mentem«. 56 Vgl. S.th. I 43, 5 ad 2 et ad 3. Dazu Erich Naab: Erfahrung der Gnade – Gnade der Erfahrung. 57 Heinrich von Gent: Quodlibet II q. 9 (Opera Omnia VI, 67,21 f.): »In hoc enim concordabant omnes magistri theologiae congregati super hoc, quorum ego eram unus.« 58 Vgl. Raymond Macken, Heinrich von Gent. – Vgl. Heinrich von Gent: Quodlibet I q. 14–19 (Opera Omnia V, 83–156). – Jörn Müller: Willensschwäche im Voluntarismus? Das Beispiel Heinrichs von Gent. Pasquale Porro: Metaphysics and Theology in the Last Quarter of the Thirteenth Century: Henry of Ghent Reconsidered. 54

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möglichkeiten hat. 59 Die Vernunft ist auf einen engen Schulbegriff reduziert, hat ihren ausgreifenden – sagen wir: ›sensus humanus‹ verloren. Die Vernunft gleiche einem Knecht, der nachts dem Herrn die Laterne vorträgt, um ihm den Weg zu weisen; aber der Herr, der Wille, dirigiert seinen Knecht ganz nach eigenem Belieben. 60 1285, nachdem Aegidius von Rom († 1316), Augustiner-Eremit und Schüler des Thomas, die These »si ratio recta, et voluntas recta« zu rehabilitieren unternommen hatte und ihm von der Pariser Universität die sogenannte ›propositio magistralis‹ zugestanden war: »Niemals gibt es Schlechtigkeit im Willen, es sei denn ein Irrtum oder wenigstens irgendeine Unwissenheit läge in der Vernunft«, 61 griff Heinrich die Fragestellung von neuem – etwas moderater – auf, betonte die Selbstbewegung des Willens 62 und suchte die Beziehung zwischen Schlechtigkeit und Irrtum nicht kausal, sondern im Sinne notwendiger Gleichzeitigkeit zu verstehen. 63 Quodlibet I q. 16 (105,58–106,66): »Si ergo electio principaliter dependet a voluntate, et ipsa ex natura sua libera est, et quod principale est in ipsa, libertas eius est. Libertas ergo principaliter est ex parte voluntatis, ut si velit, agat per electionem sequendo iudicium rationis, vel contra ipsum sequendo proprium appetitum. Ita quod ad volendum simpliciter nihil faciat ratio nisi quod proponat volibilia, licet ad volendum per electionem necesse est praecedere rationis sententiam, quia aliter voluntatis appetitus non esset electivus nec aliter proprie est rationalis nec proprie voluntas.« Ebd. (108, 5 f.): »Nullo ergo modo voluntas principium libertatis a ratione habet sed a se ipsa primo, et sic electio libera.« 60 Quodlibet I q. 14 (90, 45–50): »sicut dominus servum: ille est superior: sic voluntas dirigit intellectum; vel ministerialiter sicut servus dominum, praeferendo lucernam de nocte ne dominus offendat: tale dirigens est inferius et sic intellectus dirigit voluntatem, unde a dirigendo et intelligendo potest ipsum voluntas retrahere quando vult, sicut dominus servum.« 61 Aegidius Romanus: Apologia a.51 (Opera Omnia III.1, 59): »Numquam est malitia in voluntate, nisi sit error vel saltem aliqua nescientia in ratione.« Zum Vorgang vgl. Jürgen Miethke: Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts, bes. 89–91. Aegidius Romanus: Super libros de anima; Ders.: Defensorium seu correctorium librorum S. Thomae Aquinatis. – Die Augustiner-Eremiten hatten sich bekanntlich auf ihrem Generalkapitel 1287 bezüglich ihrer Ordensdoktrin auf Aegidius verpflichtet. Erst Gregor von Rimini († 1358) wird stärker auf Augustinus als Autorität drängen. 62 Quodlibet IX q. 5 (Opera Omnia XIII): »Utrum voluntas moveat seipsam«. – Vgl. Roland J. Teske: Henry of Ghent’s Rejection of the Principle: ›Omne quod movetur ab alio movetur‹. 63 Quodlibet X q. 9 (Opera Omnia XIV,245 f.): »simul tempore est deordinatio in utroque. Sive enim ab intellectu causetur in voluntate, sive e converso, numquam potest esse 59

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Die Auseinandersetzung mit Heinrich von Gent um das Problem der Willensfreiheit wurde dann von thomistischer Seite durch Herveus Natalis OP († 1323) weitergeführt. 64 Auf franziskanischer Seite wird der Primat des Willens und die immer stärker damit verbundene Frage nach der Einheit oder Vielheit der Form(en) im Menschen65 vor allem von John Peckham († 1292) geführt, der die von Robert Kilwardby OP († 1279), seinem Vorgänger als Erzbischof von Canterbury, am 18. März 1277 für die Universität Oxford erlassene und in deutlicher Opposition zu dessen Ordenskollegen Thomas stehende Verurteilung des angeblich heterodoxen Aristotelismus 1284 erneuert hat. 66 Aber diese Diskussionen wären ein eigenes, umfangreicheres Thema. Ebenso braucht nur erwähnt zu werden, daß von der Verurteilung der in uno quin simul in altero. […] simul similiter necessario sunt error in ratione et in voluntate.« 64 Vgl. Werner Schöllgen: Das Problem der Willensfreiheit bei Heinrich von Gent und Herveus Natalis. Schöllgen legt den ungedruckten Traktat De intellectu et voluntate aus der Vatikanischen Bibliothek, Cod. Burgh. 315, fol. 52ra–87va, zugrunde. – Herveus verteidigte thomistische Auffassungen auch gegen Johannes Duns Scotus, Petrus Aureoli, auch gegen seine Ordensbrüder Jakob von Metz und Durandus a S. Porciano, bekämpfte selbst aber den realen Unterschied zwischen ›esse‹ und ›essentia‹ (mit Jakob von Metz und Durandus), der später für den Thomismus als fundamental angesehen wurde, und sprach sich für den Vorrang der ›essentia‹ aus. 65 Vgl. Ludwig Hödl: Neue Nachrichten über die Pariser Verurteilungen der thomasischen Formlehre. Theodor Schneider: Die Einheit des Menschen: Die anthropologische Formel ›anima forma corporis‹ im sogenannten Korrektorienstreit und bei Petrus Johannis Olivi. Günther Mensching: Absoluter Wille versus reflexive Vernunft: Zur theologischen Anthropologie der mittleren Franziskanerschule, 101: »Nur als absoluter entspricht, strenggenommen, der Wille seinem Begriff. Er macht den Kern der menschlichen Person aus, deren Wesen folglich in der Freiheit der Zwecksetzung besteht. Demgegenüber ist die intellektive Erkenntnis, die nach Thomas der Grund der Freiheit ist, an die unausweichliche Eindeutigkeit des zu Erkennenden gebunden und kann deshalb aus franziskanischer Perspektive keine Garantie der Freiheit bieten.« 66 Vgl. John Peckham, Brief an den Bischof von Lincoln, 1. Juni 1285; bei: Franz Ehrle, John Peckham über den Kampf des Augustinismus und Aristotelismus in der 2. Hälfte des 13. Jahrhundert, 186: »Quae sit ergo solidior et sanior doctrina, vel filiorum s. Francisci, sanctae scilicet memoriae fratris Alexandri ac fratris Bonaventurae et consimilium, qui in suis tractatibus ob omni calumnia alienis, sanctis et philosophis innituntur; vel illa novella quasi tota contraria, quae quidquid docet Augustinus de regulis aeternis et luce incommutabili, de potentiis animae, de rationibus seminalibus inditis materiae et consimilibus innumeris, destruat pro visibus et enervat, pugnas verborum inferens toti mundo; videant antiqui, in quibus est sapientia, videat et corrigat Deus coeli.« Der Brief findet sich auch bei Denifle-Chatelain 634 f. – Johannes Peckham: Quaestiones tractantes de anima; Ders.: Tractatus de anima. A

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130. These auch Siger von Brabant († 1283 ermordet) wie Boetius von Dacien (Todesjahr unbekannt) betroffen waren. 67 Auch für Siger gehörte ein geordnetes Verlangen zur ›ratio recta‹ notwendigerweise. 68 Fassen wir zusammen: Die Verurteilung der These »si ratio recta, et voluntas recta« wird von Stefan Tempier 1277 mit der Autorität Augustins begründet, aber mit einem aus der Glosse entnommenen Text. Während Augustinus in seinen Enarrationes den Willen über die gute Konkupiszenz an die ›mens‹ zurückband, durch den Intellekt das ersehnte Gut vergegenwärtigt wußte und von einer praktischen Vernunft ausging, treten in der Rezeption seines Textes Vernunft und Wille auseinander, die Augustinische Verflechtung von Verlangen und Begehren wird aufgehoben, die Vernunft verliert ihre praktische Ausrichtung, der Wille wird, unterschieden von der Vernunft, zum Ort der Gnade. Die Verurteilung kann (neben Siger von Brabant und Boetius von Dazien) auf Thomas von Aquin bezogen werden, der dem Augustinischen Gedankengang näher steht als die Glosse. Bei den angedeuteten, sich entwickelnden Diskussionen zwischen den Thomisten und den sogenannten Augustinisten sind die rezeptiven Verschiebungen Augustinischen Denkens zu beachten.

67 Vgl. Siger von Brabant: Impossibilia V, 87, 37–39 (zit. nach Roland Hissette: Enquête 259 Anm. 7): »Actus humanus dicitur malus, qui fit extra rectam rationem, sicut et bonus, qui fit secundum ordinem rectae rationis.« 68 Siger: Quaestiones morales V,104,28 f. (zit. nach Roland Hissette: Enquête 260 Anm. 10): »Non enim in eo (bono homine) est discordia intellectus et appetitus.« – Boetius von Dacien: Super librum Topicorum IV 20 (Opera VI/1, 249, 21 f.): »moraliter loquendo omnis pravitas in electione consistit, quae non est recta ratio ratione regulata.«

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Der Streit Luthers mit Erasmus über die Willensfreiheit Mathias Eichhorn (Frankfurt am Main)

Als ein eleatischer Philosoph im Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts einmal vor einem Publikum behauptet habe, es gebe keine Bewegung, sei Diogenes von Sinope einfach aufgestanden und auf und ab gegangen. 1 Da wird Diogenes die Lacher wohl auf seiner Seite gehabt haben. Ist aber die Behauptung, es gebe keine Freiheit des Willens, nicht ähnlich lächerlich wie die Leugnung der Bewegung? Die Bestreitung der Willensfreiheit bei Luther, insbesondere in seiner Schrift De servo arbitrio aus dem Jahre 1525, mit der er auf die Diatribe des Erasmus von Rotterdam De libero arbitrio antwortete, wäre dann nicht mehr weiter ernst zu nehmen und hätte uns heute nichts mehr zu sagen. Das Erlebnis der Freiheit ist uns in unseren alltäglichen Entscheidungen so selbstverständlich, daß wir sogar darüber staunen, wenn wir in Ausnahmefällen unseren Willen einmal als unfrei erleben, etwa bei den Fehlleistungen, die Sigmund Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens beschreibt und analysiert. Und wenngleich auch Kant über die Freiheit urteilt, sie sei kein Begriff, sondern eine transzendentale Idee – »[d]ie Freiheit ist […] eine reine transscendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann, weil es ein allgemeines Gesetz selbst der Möglichkeit aller Erfahrung ist, daß alles, was geschieht, eine Ursache, mithin auch die Causalität der Ursache, die selbst geschehen oder entstanden, wiederum eine Ursache haben müsse« (KrV B 561) – so schreibt er doch in seiner transzendentalen Methodenlehre zum Abschluß der Kritik der reinen Vernunft, daß es im Hinblick auf den empirischen Gebrauch und das praktische Interesse nicht nur gar keine Antithetik der reinen Vernunft gebe (KrV B 771), sondern weitergehend (KrV B 830): »Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden.« 1

Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen VI, 39. A

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Aber Freiheit ist bei Kant nicht Freiheit. Oder besser gesagt: Kant hat keinen eindeutigen Gebrauch des Freiheitsbegriffs. Denn die Kritik der reinen Vernunft ermittelt nicht nur die Bedeutung der Freiheit im Hinblick auf ein praktisches Interesse, sondern hat überhaupt Freiheit zur Voraussetzung, wie Kant selber an vielen Stellen feststellt. Stellvertretend sei hier aus der Methodenlehre zitiert (KrV B 766): »Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch thun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachtheiligen Verdacht auf sich zu ziehen.« Damit ist aber die Freiheit der Kritik eine andere Freiheit als die Willensfreiheit. Letztere kann für Kant empirisch nicht festgestellt werden. Sie wird postuliert – als praktische Freiheit aber wiederum erfahren, freilich nur in der Selbstwahrnehmung. Aber die Freiheit der Kritik wird nicht postuliert, sondern für die Reflexion der reinen Vernunft vorausgesetzt. Der Genitiv im Titel der Kritik der reinen Vernunft ist sowohl genitivus objectivus als auch genitivus subjectivus. Darum hat Hegel konsequent die Freiheit als die Seinsverfassung der Vernunft verstanden, als die Seinsverfassung des bewußten Seins überhaupt. Die Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit ist damit schon eine freie Differenzierung des Selbstbewußtseins im Hinblick darauf, daß es sich als Willen begreift, über dessen Bindung es selber in Freiheit entscheidet. Somit sind Wille und Freiheit synonym zu verstehen. Tieren sprechen wir entsprechend einen Willen ab und sprechen von Verhalten 2 oder von Instinkt. Im vierten Paragraphen der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt es darum folgerichtig: »Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als seine zweite Natur, ist.« 3

2 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 344 ff. Heidegger wollte den Begriff des Verhaltens freilich auch für den Menschen reserviert wissen und sprach den Tieren dagegen nur ein ›Benehmen‹ zu. In der Tat steckt in dem Begriff des Verhaltens ein ›sich Zurücknehmen‹, wie wir es etwa erfassen, wenn jemand ›verhalten‹ spricht – d. h. sich im Aussprechen in der Lautstärke zurückhält. 3 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Grundlinien einer Philosophie des Rechts, 28.

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Der Streit Luthers mit Erasmus über die Willensfreiheit

Tatsächlich aber sind wir in unserem heutigen Freiheitsverständnis auch schon über Hegel hinaus, der Freiheit noch als Einsicht in die Notwendigkeit begriff, wobei der Begriff der Notwendigkeit für ihn natürlich eine logische Kategorie bezeichnete und nicht eine irgendwie geartete Geschichtsnotwendigkeit im Sinne eines Determinismus. Hegel meint also Einsicht in die logische Notwendigkeit, in die Notwendigkeit logischer Rede im Hinblick auf das Erreichen einer Übereinkunft. Dabei verstand Hegel unter Logik nicht die starre Logik, die auf Aristoteles beruht, sondern das dialektische Denken als Anstrengung des Begriffs. Unser heutiges Freiheitsverständnis ist dagegen pragmatisch ausgerichtet. Wir sind frei, Probleme zu lösen, aber dabei nicht mehr an ein System der Wissenschaft gebunden, das einer vorgegeben Logik zu gehorchen hätte. 4 Ein solches Selbstverständnis kann den Menschen der Reformationszeit nun freilich nicht unterstellt werden. Nicht nur Luther, auch Erasmus wäre die Explikation der menschlichen Freiheit als Autonomie völlig unverständlich gewesen, aber auch als völlig unannehmbar erschienen – sie hätten sie als Sophistik zurückgewiesen und verdammt. Darum ist die Freiheit, die wir meinen, wenn wir über Freiheit reflektieren, nicht die Freiheit, über die Erasmus und Luther stritten. Es kann aber trotzdem gesagt werden, daß sie diese Freiheit dennoch, wenn auch unbemerkt, stillschweigend so voraussetzten wie Kant die Freiheit der Kritik, indem sie sich schließlich die Freiheit nahmen zu disputieren, zu streiten, zu polemisieren. Was hätte denn die ganze Argumentation und Rhetorik, der ganze Kampf, intendiert, wenn es nicht darum gegangen wäre, das jeweilige Gegenüber und das lesende Publikum zu überzeugen, daß sie ihren Standpunkt ändern, was nichts anderes heißt, als daß sie eben Andere werden. Das ist aber der praktische Erweis der Freiheit im Sinne Kants und Hegels, nämlich daß Einer ein Anderer wird, und das ist, nebenbei gesagt, das klassische Verständnis dessen, was Lernen ist. Und so schreibt auch der Erasmusbiograph Richard Newald: »Im Grunde erkennen weder Erasmus noch Luther eine Unfreiheit des Willens im Sinne der Prädestinationslehre an und machen den Menschen nicht zu einem blinden und willenlosen Werk-

So etwa in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus von John Dewey: Die Theorie der Forschung, 28: »Die Vorstellung, die Logik könne endgültig formuliert werden, ist ein eidolon des Theaters.«

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zeug« 5 – was freilich auf Grund seiner ›gewundenen‹ Ausdrucksweise bei Luther nicht so deutlich werde. Newald bezieht sich hier wohl auf die reformierte Prädestinationslehre, die freilich auch nicht so einzuschätzen ist, als betrachte sie den Menschen als willenlos. Die Prädestinationslehre der Reformierten steht in keinem Widerspruch zu Luthers Schrift über den unfreien Willen. Aber das sei nur am Rande bemerkt. 6 Freiheit ist also nicht immer gleich Freiheit. Der Freiheitsbegriff ist selber nicht eindeutig, und Freiheit ist mitnichten immer nur Wahlfreiheit. Wahlfreiheit ist nur ein Aspekt der Freiheit, eine Erscheinungsweise der Freiheit. Auch wenn Luther an einer Stelle schreibt, es sei »an dem einfachen und reinen und natürlichen Sinn der Worte festzuhalten, den die Grammatik und der Sprachgebrauch (usus loquendi) bieten, den Gott in den Menschen geschaffen« habe (DSA; LDStA 1,443), die Semantik eines Begriffs ist nicht unabhängig von seinem Kontext. Und so sind die Diskurse über Freiheit, die Augustinus mit Pelagius, Erasmus mit Luther und einige heutige Philosophen mit einigen Vertretern der Neurobiologie führen, auch nicht deckungsgleich, weil die jeweiligen Freiheitsverständnisse verschieden sind. Dazu ist leider zu bemerken, daß in den Diskursen, seien es synchrone oder diachrone, das jeweilige Freiheitsverständnis nicht immer expliziert wird, was dazu führt, daß die Debattierenden oft an einander vorbeireden. Und das ist auch bei Luther und Erasmus der Fall, wie zu zeigen sein wird – allerdings nicht im Hinblick auf die Freiheit, sondern auf den Willen. Beide streiten nicht so sehr über Freiheit und Unfreiheit, sondern über den Willen, und zwar den menschlichen Willen im Hinblick auf den göttlichen Willen. Es fehlt ihnen für diese Erörterung aber zum einen ein ausgearbeitetes psychologisches Begriffssystem, das uns heute zur Verfügung steht, zum anderen aber auch die Einsicht in ihr Tun, also das VerständRichard Newald: Erasmus Rotterdamus, 239. Vgl. Christian Link: Prädestination und Erwählung, 39. Link betrachtet die Prädestinationslehre Calvins im Kontext der Verfolgungen, denen die Reformierten ausgesetzt gewesen seien, und betont ihre Funktion als Trost. Er sieht sie aber auch anders akzentuiert als die Luthers: »Sie ist in ihrer kritischen Spitze gewissermaßen das reformierte Pendant zu Luthers Schrift ›Vom unfreien Willen‹. Deutlicher hat sie das Ziel, die Gläubigen von jeglicher Sorge um ihr Heil zu entbinden, sie von der Furcht um eine Zukunft zu befreien, die nicht von uns abhängt. Statt sich um das ›Jenseits‹ zu sorgen, das Gottes Sache ist, will sie uns dazu freisetzen, […] uns Gottes Auftrag zur Gestaltung einer menschlichen, von Recht und Gerechtigkeit bestimmten Welt zur Verfügung zu stellen.« 5 6

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nis einer pragmatischen Hermeneutik. Darum kann man die metaphysische Argumentation der beiden Kontrahenten eigentlich auch durchaus und mit gutem Gewissen vernachlässigen, sie hatte ihre Zeit und sagt uns heute nichts mehr. Der Streit zwischen Luther und Erasmus über die Willensfreiheit beinhaltet aber noch einen anderen, außerordentlich interessanten Aspekt, der m. E. nicht stark genug betont werden kann, so daß der Diskurs uns heute doch noch angeht: Der Verteidiger des freien Willens, also Erasmus, achtet die Freiheit im Hinblick auf den öffentlichen Vernunftgebrauch sehr gering, während der Leugner des freien Willens, also Luther, die Freiheit und damit die Öffentlichkeit der Kritik im Sinne von Prüfung – um es hier einmal mit dem Begriff zu sagen, den Kant später benutzen wird –, nicht nur hoch achtet, sondern sich als ihren expliziten Verteidiger ausweist. Dieses scheinbare Paradox, daß der Leugner der Willensfreiheit die bedeutendste Freiheitsbewegung der Menschheit initiierte, während der Verteidiger der Willensfreiheit eine hierarchisch verfaßte Gesellschaft verteidigte, in der Freiheit des Meinungsaustauschs nur den mehr oder weniger geschlossenen Zirkeln der Humanisten vorbehalten sein sollte, ist nur zu verstehen, wenn man den Freiheitsbegriff des Disputs zwischen Luther und Erasmus eben nicht mit dem Freiheitsverständnis Kants und Hegels verwechselt. Es ist also nicht so, daß im Streit Luthers mit Erasmus der Eine ein Anwalt der vorausbestimmten Notwendigkeit und der Andere ein Vertreter der Freiheit gewesen wäre. Die Sache ist komplizierter. Und es geht auch nicht nur um Metaphysik. Es geht m. E. sogar gar nicht um Metaphysik, sondern um eine kirchenpolitische Kontroverse, die damals noch Gesellschaftspolitik war, die aber in einer metaphysischen Terminologie formuliert und ausgetragen wurde. In vielen Äußerungen hat Erasmus kundgetan, daß er der Auseinandersetzung mit Luther eigentlich habe aus dem Weg gehen wollen, er habe den Streit nicht gesucht. Das ist natürlich Rhetorik. Erasmus war zwar ständig von der römischen Seite gedrängt worden, etwas gegen Luther zu unternehmen, aber ihn in der Frage über den freien Willen anzugreifen, war die freie Entscheidung des Erasmus. Er wollte gerade zu diesem Thema mit Luther die Klingen kreuzen. Im Ton hielt er sich dabei zurück, worauf in der Literatur über Erasmus und Luther auch einmütig hingewiesen wird. Gemessen an der Schärfe, die Erasmus sonst zu Eigen gewesen sei, wenn er über seine Kritiker hergezogen habe, sei er gegenüber Luther sehr konziliant geblieben. Aber ErasA

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mus wäre nicht Erasmus gewesen, hätte er Luthers Reaktion nicht voraussehen können. Denn es geht nicht um den Ton, sondern um den Inhalt. Mit seiner Schrift über den freien Willen bestreitet Erasmus nämlich der Reformation insgesamt ihre Legitimität. Die Heftigkeit der Reaktion Luthers dürfte Erasmus darum schwerlich überrascht haben. Dessen Poltern war provoziert, und der kluge Erasmus überließ das scharfe Polemisieren mit Freude dem Gegner. Denn als eigentlicher Angreifer konnte er sich dann im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung dem Publikum als der Angegriffene präsentieren. Luther ist bereitwillig, zudem wohl noch von seinem Temperament getrieben, in diese Falle getappt. Nun hatte Erasmus vorher aber auch öffentlich Luther gegenüber Sympathie bekundet, insbesondere Luthers Kritik der Zustände in der Kirche gelobt, etwa was den Ablaß betraf. Dennoch hielt er Rom die Treue. Es störte ihn an der Reformation, was er als öffentlichen Aufruhr betrachtete. Und darum wollte er die Freiheit der öffentlichen Rede eingeschränkt wissen. Er traute dem freien Willen der breiten Masse erstaunlich wenig zu (DLA 36 f.): »Ich habe die Absicht dieses Buches schon zur Hälfte erreicht, wenn ich damit die Leser davon überzeugen kann, daß es besser ist, über Dinge dieser Art nicht allzu kleinlich zu streiten, zumal vor dem Volk«.

Und in seiner Antwort auf Luthers Schrift gegen seine Diatribe, im ersten Teil seines Hyperaspistes, klagt er, daß »heute […] sogar die Gerber bei ihren Trinkgelagen über den freien Willen« disputierten (Hyperaspistes 277). Mit der Öffentlichkeit hält Erasmus es grundsätzlich so (DLA 15): »Schließlich gibt es noch gewisse Dinge der Art, daß es, auch wenn sie wahr wären und gewußt werden könnten, dennoch nicht förderlich wäre, sie gemeinen Ohren preiszugeben.«

Luther entgegnet darauf, freilich in einem anderen Zusammenhang, nämlich dem der Beichte (DSA; LDStA 1,265/267): »So stellst Du einstweilen Gott und das Gewissen hintan (was nämlich geht es Erasmus an, was der in diesen Dingen will und was diesem zuträglich ist), stürzt dich auf deine äußere Maske und klagst das gewöhnliche Volk an, daß es die Predigt von der freien Beichte und der Genugtuung nach seiner Bosheit mißbrauche zur Freiheit des Fleisches. Durch die Notwendigkeit zu beichten werde dies, wie du sagst, immerhin verhindert. O herrliche und ausgezeich-

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nete Beweisführung! Heißt das etwa, Theologie zu lehren? Die Seelen mit Gesetzen zu binden und, wie Ezechiel sagt, zu töten, die von Gott nicht gebunden sind? Mit dieser Beweisführung nämlich richtest du uns die gesamte päpstliche Tyrannei der Gesetze wieder auf. So als wäre sie nützlich und heilsam, weil durch jene auch die Bosheit des gewöhnlichen Volkes im Zaume gehalten würde. […] Ein guter Theologe lehrt folgendermaßen: Das gewöhnliche Volk muß gebändigt werden durch die äußere Gewalt des Schwertes, wenn es übel handelt, wie Paulus Röm 13 lehrt. Ihre Gewissen dürfen aber nicht in falsche Gesetze verstrickt werden, so daß sie von Sünden geplagt werden, wo Gott gar keine Sünden hatte haben wollen. Denn die Gewissen werden allein durch das Gebot Gottes gebunden. Jene sich dazwischendrängende Tyrannei der Päpste, die fälschlich Schrecken verbreitet, die Seelen inwendig tötet und äußerlich vergeblich den Körper ermüdet, muß gänzlich aus dieser Stellung entfernt werden. Denn wenn sie äußerlich zur Beichte und anderen Belastungen zwingt, wird doch das Herz trotzdem nicht gebändigt.«

Luther kämpft also nicht nur für die Anerkennung der Freiheit der öffentlichen Debatte, sondern auch für die Anerkennung der Freiheit der Gewissen – und das gegen Erasmus, der wiederum für die Freiheit des Willens eintritt. Das ist doch mehr als verwirrend. Lassen wir Erasmus mit seinem Widerspruch zunächst einmal unbehelligt, aber warum bestreitet Luther, trotz seines offensichtlichen Eintretens für Freiheit, dann die Willensfreiheit? Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? Oder argumentiert Luther einfach unüberlegt? Doch Luther ist hier erst einmal ausführlich zitiert worden, um zunächst die Bedeutung des Streits, den er mit Erasmus ausficht, deutlich zu machen. Es geht beiden nämlich nicht einfach um einen Teilaspekt der reformatorischen Lehre, sondern ums Ganze. Richard Newald urteilt richtig, wenn er, die Schrift des Erasmus über den freien Willen im Blickt, schreibt: »Erasmus eröffnete damit seinen Kampf gegen die Reformation.« 7 Der weiteren Einschätzung Newalds vermag ich mich freilich nicht anzuschließen, nämlich daß Erasmus mit ›zwingender Logik‹ seine Gedankengänge entwickelt habe, zudem Newald auch schreibt, Erasmus habe sich durch »Skepsis […] vor Rechthaberei und leidenschaftlichem Zurechtbiegen der Gegebenheiten« gesichert gewußt. Die Skepsis verträgt sich nicht mit zwingender Logik – außer daß mit zwingender Logik die Rechtmäßigkeit der Skepsis hätte bewie-

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Vgl. dazu Richard Newald: Erasmus Rotterdamus, 238. A

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sen werden sollen. Das darf Erasmus aber in seiner Zeit gerade nicht unternehmen, um es sich nicht mit allen betroffenen Parteien zu verderben. Und so nimmt er den Standpunkt einer milden Skepsis ein. Sie erscheint ihm im Zusammenhang mit dem Thema vernünftig und angebracht. Diese milde Skepsis ist jedoch auf der anderen Seite auch dafür verantwortlich, daß Erasmus gerade nicht bedingungslos die Freiheit des Willens behauptet, sondern eine unentschiedene Position einnimmt. Wenn man Luther auch zu Recht unterstellen kann, daß er die Unfreiheit bzw. Knechtschaft des Willens behauptet, so vertritt Erasmus keineswegs die Gegenposition. Aber inwiefern reden die beiden Kontrahenten nun eigentlich aneinander vorbei? Der Weg zum Freiheitsverständnis, über das gestritten wird, führt über das jeweilige Verständnis dessen, was Wille ist. Zudem kennt das Lateinische zwei Begriffe für Willen, nämlich arbitrium und voluntas. Für Erasmus ist arbitrium eine Kraft des menschlichen Wollens (vis humanae voluntatis), mit der es sich dem eigenen Heil sowohl zuwenden als auch von ihm abkehren kann (DLA 37 f.), während er mit voluntas die Entscheidungs- bzw. Wahlfreiheit bezeichnet, die ihre Wurzel in der ratio habe (DLA 41): »In Adam scheint mehr der Wille (voluntas) verdorben gewesen zu sein infolge einer gewissen maßlosen Liebe gegen seine Braut, deren Begehren er eher folgen wollte als dem Gebot Gottes, obwohl ich glaube, daß gerade dabei auch die Vernunft geschädigt worden ist, aus der das Wollen entsteht (ex qua nascitur voluntas).«

Freilich ist die Unterscheidung zwischen arbitrium und voluntas wiederum nicht sonderlich klar, und im weiteren Verlauf seiner Diatribe verwendet Erasmus beide Begriffe auch synonym. Und in der Tat ist ja ein Wille, dem es an Durchsetzungskraft fehlt, nichts als ein Wunsch. Doch die Freiheit des Wünschens ist nicht Gegenstand der Untersuchung. Im Hinblick auf die Freiheit hat nun aber die Vorstellung, die voluntas wurzele in der ratio, erhebliche Konsequenzen, weil Erasmus die Vernunftgaben als ungleich verteilt betrachtet (DLA 43): »Was für den Körper das Auge ist, das ist für die Seele die Vernunft. Diese wird teilweise erleuchtet vom angeborenen Licht, das allen eingepflanzt ist, freilich nicht in gleichem Maße.«

Das ist, auf seine Art selbstverständlich, auch eine Prädestinationslehre, was oft übersehen wird. Sie begründet nicht nur die unterschiedliche Stellung der Menschen in der damaligen Ständegesellschaft, 174

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sondern auch in der Kirche. Denn die minderbegabten Menschen bedürfen, wenn die Vernunft sie nicht leitet, der Sakramente der Kirche und damit einer herausgehobenen Priesterschaft – und die wiederum der Gelehrten vom Schlage des Erasmus. Dies auch dem Klerus aufzuzeigen, ist eine Nebenabsicht der Diatribe. Erasmus geht das Thema als Humanist an, d. h. er geht von der Natur des Menschen aus. Er will zunächst nicht als Theologe argumentieren. Diarmaid MacCulloch schreibt über den Humanismus zur Zeit des Erasmus: »Für einen Humanisten war es selbstverständlich, daß der Mensch erschaffen wurde, um Gutes zu bewirken. […] Typisch für diesen Geist war der Lobpreis des freien Willens und der Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung.« 8 MacCulloch verweist auf die Schrift Oratio de hominis dignitate von Giovanni Pico della Mirandola. Aber anders als die italienischen Humanisten, die offen die Ziele der Renaissance vertreten und den Menschen ins Zentrum der Welt stellen, kann Erasmus mit Rücksicht auf Rom die Theologie nicht ignorieren. Er führt gegen Luther eine ganze Reihe von Bibelstellen an, die für ihn eindeutig die Freiheit des Willens (immer wieder einmal arbitrium, dann wieder voluntas) bestätigen. Andererseits, so gesteht er zu, sei die Bibel auch nicht immer eindeutig, sie weise durchaus dunkle Stellen auf. Erasmus muß aber auch auf die Gnadenlehre Rücksicht nehmen. Das ist die Zwickmühle, in der er sich befindet, und die ihn gerade nicht, wie die italienischen Humanisten, die Freiheit des Willens vertreten, sondern unentschieden sein läßt: Ein Zitat mag genügen, in dem die Unentschiedenheit aufleuchtet, in dem auch noch einmal das Unbehagen aufscheint, das Erasmus im Hinblick auf die Öffentlichkeit des Themas hat (DLA 19): »Wir wollen […] annehmen, daß in einem gewissen Sinne wahr sei, was Wiclif lehrte, Luther behauptete, daß, was immer von uns geschieht, nicht aus freiem Willen, sondern aus reiner Notwendigkeit (mera necessitate) geschehe, was gibt es Unzweckmäßigeres (quod inutilius), als dieses Paradox der Welt bekannt zu machen?«

Denn Erasmus begründet die Willensfreiheit ähnlich, wie sie später Kant postulieren wird, nämlich aus praktischem Interesse. Wer bemühe sich noch um ein gottgefälliges Leben, wenn die guten und bösen

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Vgl. Diarmaid MacCulloch: Die Reformation 1490–1700, 155. A

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Taten dem menschlichen Willen nicht angerechnet werden könnten, weil Gott sie bewirke (DLA 19): »Wiederum wollen wir einmal annehmen, es sei in einem gewissen Sinne wahr, was Augustinus irgendwo schreibt (alicubi scribit), daß Gott sowohl das Gute als auch das Böse in uns wirke, und seine guten Werke in uns belohnt und seine bösen Werke in uns bestraft würden. Ein wie großes Fenster würde diese Behauptung, wenn man sie im Volk bekannt machte, unzähligen Sterblichen zur Gottlosigkeit öffnen, besonders bei der Sterblichen großen Trägheit, Gedankenlosigkeit, Bosheit und unverbesserlichen Geneigtheit zu jeder Art von Frevel?«

Aber anders als Kant kann Erasmus die Freiheit nicht einfach als regulative Idee postulieren, weil das im metaphysischen Selbstverständnis seiner Zeit undenkbar war. Er muß die Freiheit und die Notwendigkeit der Gnade als ontische Sachverhalte im Blick behalten. Er kann also, wenn er sich dieses Themas annimmt, nicht einen rein vernünftigen, philosophischen Standpunkt einnehmen, wie der Philosoph Kant es in der Aufklärungszeit, zumal im aufgeklärten Preußen Friedrichs II, später konnte. Aber Erasmus scheitert daran, Freiheit und Gnade miteinander zu vereinbaren. Stattdessen wechselt er ständig den Standpunkt, was ihm den Vorwurf Luthers einbringt, er sei ein Proteus. So kann er z. B. formulieren (DLA 157): »Wir werden daher den Leuten, die folgendermaßen schließen: Der Mensch vermag etwas nur mit Hilfe der Gnade Gottes, daher gibt es keine guten Werke des Menschen, den, wie mir scheint, wahrscheinlicheren Schluß entgegensetzen: Der Mensch ist mit Hilfe der Gnade Gottes zu nichts unfähig, daher können alle Werke des Menschen gut sein.«

Mit seinem Schluß widerspricht er aber gerade nicht der Folgerung, die er zu widerlegen vorgibt, er bestätigt sie vielmehr und führt darüber hinaus sogar auch die bösen Werke der Menschen auf die Gnade Gottes zurück. Er geht damit eigentlich über die Luther (und Augustinus) unterstellte Behauptung hinaus, Gottes Wille wirke das Gute und das Böse im Menschen. Er verweist dabei u. a. auf Origines und vereinbart die Gnade und die Freiheit des Willens auf die Weise, daß sie, die Gnade, die Bosheit der Bösen zuweilen sogar verhärte, womit er die für ihn nicht akzeptable Konsequenz vermeidet, daß Gott die Herzen der Boshaften verstocke. Denn in den Augen des Erasmus wäre Gott dann die Ursache der bösen Taten. Die Gnade vergleicht er dem Wasser, das sowohl Frucht als auch Unkraut hervorsprießen lasse. Erasmus unter176

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scheidet nämlich den Handlungsablauf in drei Abschnitte, den Anfang (initium), den Fortschritt (progressus) und die Vollendung (summa). Am Anfang und bei der Vollendung wirke die Gnade entscheidend mit, aber den Fortschritt bewirke der freie Wille. Auch das ist nicht konsequent gedacht, denn so läßt sich nicht mit Origines verstehen, warum der Boshafte gerade durch die Gnade noch boshafter werden soll. Außerdem argumentiert Erasmus, wenn auch unter Berufung auf einen Kirchenvater, wenngleich auch einen, der dem Vorwurf der Häresie ausgesetzt war (eben Origines), so, wie Paulus gerade nicht im Hinblick auf die Gnade, sondern vielmehr auf das Gesetz argumentiert. Damit nimmt er die Gegenposition zu dem paulinisch argumentierenden Luther ein (DSA; LDStA 1,423): »Denn im Neuen Testament wird das Evangelium gepredigt, das nichts anderes ist als eine Rede, durch die der Geist und die Gnade zur Vergebung der Sünden, durch den gekreuzigten Christus für uns erworben, angeboten werden, und dies ganz umsonst allein durch die Barmherzigkeit Gottes des Vaters, die uns Unwürdigen und solchen, die Verdammung eher als irgendetwas anderes verdienen, gewogen ist. Dann folgen Ermahnungen, welche diejenigen, die schon gerechtfertigt sind und die Barmherzigkeit erlangt haben, anstacheln, daß sie tatkräftig sind in den Früchten der geschenkten Gerechtigkeit und des Geistes und Liebe üben durch gute Werke, tapfer das Kreuz tragen und alle anderen Anfeindungen der Welt. Dies ist die Summe des ganzen Neuen Testaments. Daß die ›Diatribe‹ davon nichts versteht, zeigt sie hinreichend damit, daß sie in keiner Weise zwischen Altem und Neuem Testament zu unterscheiden weiß.«

Indem Erasmus die Grenze zur Theologie überschreitet – überschreiten muß! – kommt er Luther ins Gehege. Denn Luther fühlt sich in seinem Zentrum angegriffen, in der Gnadenlehre – in der Lehre von der frei geschenkten Gnade Gottes, die sich der Sünder nicht zu verdienen vermag. Und Luther sagt es sehr deutlich, daß es in diesem Streit nicht um die Freiheit des Willens geht (DSA; LDStA 1,279): »Wir disputieren über das Wort Gottes.« Anders als Erasmus also, der die Ungleichheit der Menschen auf Grund der verschiedenen Vernunftgaben behauptet, behauptet Luther mit seiner Gnadenlehre die Egalität der Menschen als Sünder, gleich welchen Standes sie auch seien. Und indem Luther die Gnade als frei geschenkt behauptet, unterscheidet er zwar zwischen Gläubigen als Erwählten und Ungläubigen als Verworfenen, er vertritt aber eben auch die prinzipielle Gleichheit der Gläubigen, gleich welchen gesellschaftlichen Standes sie auch sein mögen und unabhängig A

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von ihrem Bildungsgrad, in der Kirche. Darum geht der Streit der beiden, freilich in der Terminologie der Metaphysik ihrer Zeit, nämlich um Kirchen- und damit Gesellschaftspolitik. In dieser Metaphysik spielen aber Allmacht und Voraussicht Gottes eine prominente Rolle, was die Kontrahenten zu berücksichtigen haben. Und in diesem Zusammenhang kommt der Begriff der Notwendigkeit ins Spiel. Luther kann auf Grund der Argumentation in der Diatribe nun Erasmus vorwerfen, was Erasmus Luther vorwirft, nämlich die Unterstellung einer Notwendigkeit, aber nicht nur auf der Seite der Menschen, sondern auch auf der Seite Gottes (DSA; LDStA 1,455 f.): »Wenn also nach einer einzigen Definition in allen Menschen dieselbe Unfähigkeit des freien Willensvermögens ist (das hatte Erasmus ja konzediert; Anm. M. E.), kann kein Grund angegeben werden, warum der eine zur Gnade gelangt und der andere nicht dahin gelangt; denn es wird ja nichts anderes gepredigt als die Milde des Gottes, der erträgt, und die Züchtigung des Gottes, der sich erbarmt. Denn das freie Willensvermögen ist in allen Menschen nach der gleichen Definition gesetzt, daß es nämlich nichts Gutes wollen kann. Dann wird Gott weder irgendeinen erwählen noch bleibt Raum für irgendeine Erwählung, sondern allein die Freiheit des Willensvermögens, welches die Milde und den Zorn annimmt oder ablehnt. Was aber wird Gott, seiner Kraft und seiner Weisheit der Erwählung beraubt, anderes sein als ein Schicksalsgötze, durch dessen Walten alles zufällig geschieht? Und schließlich wird man dahin kommen, daß die Menschen selig werden und verdammt werden, ohne daß Gott es weiß. Denn er hat ja nicht durch eine gewisse Auswahl diejenigen unterschieden, die selig werden sollen und die zu verdammen sind. Sondern, nachdem er die allgemein ertragende und verstokkende Milde, ferner das züchtigende und strafende Erbarmen allen angeboten hat, überließ er es den Menschen, ob sie selig oder verdammt werden wollen. Er selbst ist inzwischen vielleicht zum Gastmahl nach Äthiopien aufgebrochen, wie Homer sagt. Einen solchen Gott, nämlich der schläft und zuläßt, daß beliebige Leute seine Milde und Strafe gebrauchen und mißbrauchen, zeichnet uns auch Aristoteles.«

Hier ist die Argumentation Luthers etwas, um es mit den Worten Newalds zu sagen, ›gewunden‹ : Zusammengefaßt ließe es sich so sagen: Wenn es Gott den Menschen überließe, auf seine Gnade entweder böse oder gut zu reagieren, wobei nicht erklärt werden kann, warum die einen so und die anderen anders reagieren, weil Erasmus ja zugesteht, daß der freie Wille aller der Gnade bedürfe, um das Gute wählen zu können, dann wäre Gott nicht Gott, sondern – der freie Wille wäre Gott! 178

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Darum distanziert sich Luther im Diskurs mit Erasmus sogar von Augustinus. Im Vergleich zu Erasmus vertrete Augustinus zwar eine härtere Auffassung 9 : »Jene zweite ist die härtere, die meint, das freie Willensvermögen sei zu nichts im Stande als zum Sündigen. Dies ist aber die Meinung des Augustinus, an vielen anderen Stellen auch, aber besonders im Buch über den Geist und den Buchstaben dargelegt, wenn ich mich nicht täusche im 4. und 5. Kapitel, wo er eben diese Worte benutzt.« Aber, so Luther weiter (DSA; LDStA 1,367): »Jene dritte Meinung, die härteste, ist die Wyclifs und Luthers, daß das freie Willensvermögen ein leerer Name sei und alles, was geschehe, geschehe aus reiner Notwendigkeit.« Und Luther schreibt weiter (ebd.): »Und ich glaube nicht, daß Augustinus anderes wollte.« Für Luther ist also der freie Wille nicht etwa nur frei, nur das Böse zu tun, also letztlich unfrei, es gibt ihn vielmehr gar nicht – sonst wäre er Gott. Er ist also für Luther ein Götze und damit ein Nichts. 10 Aber wie meint Luther, daß Augustinus ihm im Streit mit Erasmus in seinem Sinn, den er den Worten beimißt, beigestanden hätte, wo er doch die Position Augustins als die härtere von Wyclif und seiner als der härtesten unterscheidet? Unbemerkt nimmt er Augustinus aus dessen Kontext heraus und versetzt ihn in seinen Kontext. Dabei verändert er, Luther, die Semantik gerade der Worte, von denen er selber bezeugt, daß Augustinus sie anders benutzt, nämlich im Buch über den Geist und den Buchstaben. Da ist man aber doch versucht zu fragen: Wo ist nun, Bruder Martin, der »einfache und reine und natürliche Sinn der Worte«, den Du Dich gegen Erasmus zu verteidigen angeschickt hast? Auf Augustinus kann sich Luther hier m. E. dennoch berufen, weil er dessen Gnadenlehre vertritt. Für Luther ist die Gnade nicht initium, sondern principium. Initium bezeichnet den Anfang, der in der Vergangenheit zurück bleibt, während principium der Anfang ist, der den gesamten Prozeß einer Handlung nicht nur in Gang setzt, sondern leiLuther bezieht sich hier auf Erasmus, der diese Unterscheidung so gemacht hat; vgl. DLA 56 f. 10 Auch hinsichtlich ihrer Stellung zu Augustinus macht Christian Link einen Unterschied zwischen Luthers und Calvins Prädestinationslehre aus; vgl. Prädestination und Erwählung, 55. Unter Hinweis auf Wilhelm Neuser unterscheidet er zwischen der Lehre, die den erwählenden Gott in den Blick nehme, und der Predigt, die den erwählten Menschen anspreche. Calvins Prädestinationslehre sei, trotz der Bezeichnung, wie die des Augustinus eher Predigt. 9

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tend begleitet und schließlich vollendet. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die Immatrikulation ist initium, sie wird Vergangenheit. Aber der angestrebte Studienabschluß, der schon die Immatrikulation bewirkte, ist principium des Studiums und begleitet und lenkt den Studierenden, der nun zwar frei ist, auch die akademische Freiheit zu mißbrauchen, indem er etwa die erforderlichen Studien nicht leistet und sich billigen Vergnügungen hingibt, einem studentischen Bummelleben etwa – sich damit aber dann in Freiheit dieser akademischen Freiheit, die Bindung ist, gerade begibt. Freiheit ist ohne Bindung nicht zu denken. Vor diesem Hintergrund, diesem Gnadenverständnis Luthers, verändert sich sowohl der Begriff des Willens als auch der der Freiheit. So antwortet Luther Erasmus und dessen Vorwurf, er mache Gott zum Urheber des Bösen, wenn der Mensch mit Notwendigkeit sündige (DSA; LDStA 1,289): »Notwendigerweise, sage ich, aber nicht gezwungenermaßen (Necessario vero dico, non coacte). Vielmehr […] mit einer Notwendigkeit der Unveränderlichkeit (necessitate immutabilitatis), nicht des Zwangs. Das heißt: Wenn der Mensch ohne Heiligen Geist ist, dann handelt er nicht unter Gewalteinfluß – als ob er am Hals gewürgt und weggerissen würde – gegen seinen Willen böse. So wie etwa ein Schurke oder Dieb gegen seinen Willen der Strafe zugeführt wird. Sondern er handelt aus eigenem Antrieb und freiwillig. Diese Freiwilligkeit oder diesen Willen (voluntas) zu handeln aber kann er nicht aus eigenen Kräften unterlassen, zügeln oder ändern, sondern er fährt fort zu wollen und bereitwillig zu sein; sogar wenn er äußerlich mit Gewalt gezwungen wird, etwas anderes zu tun, widersetzt sich dennoch drinnen der Wille und ist widerwillig gegen den, der ihn zwingt oder ihm Widerstand entgegen bringt.«

Luther ist in der Unterscheidung zwischen arbitrium und voluntas konsequenter als Erasmus, was es der Übersetzerin Athina Lexutt gestattete, arbitrium ebenfalls konsequent mit Willensvermögen und voluntas mit Willen wiederzugeben. Aber diese Unterscheidung ist für Luther gerade nicht der systematische Anfang seiner Überlegungen, weil er nicht als Humanist Stellung nehmen will, er nicht einmal Rücksicht auf den Humanismus nehmen muß, sondern konsequent als Theologe argumentiert. Und das Fundament seiner Theologie ist die Gnadenlehre, von der her er alles weitere systematisch aufzubauen versucht. Daß Luther freilich keine systematische Theologie in Vollendung formuliert, ist auch deutlich. Dennoch versucht er in seiner 180

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Der Streit Luthers mit Erasmus über die Willensfreiheit

Schrift gegen Erasmus, die Gotteslehre, also auch die Lehre von der Allmacht und Allwirksamkeit Gottes, schließlich die Lehre von der Voraussicht Gottes, mit der Gnadenlehre zu vereinbaren. Luther hat darum von allen seinen Schriften die beiden Katechismen und sein Buch über das unfreie Willensvermögen (De servo arbitrio) am meisten geschätzt. Ob letzteres Werk im heutigen Luthertum noch so geschätzt wird, wie es Luther eigentlich gefordert hat? Wilfried Härle, der auch die lateinisch-deutsche Studienausgabe der Werke Luthers besorgte (LDStA), hat jüngst der besagten Schrift Luthers einen Aufsatz gewidmet. Härle wendet sich gegen jeden theologischen Determinismus, er hält ihn auch mit der Theologie Luthers für unvereinbar. Er betont die drei grundsätzlichen Unterscheidungen bei Luther, nämlich zum einen die zwischen inferiora und superiora (ersteres bezeichnet die Dinge, über die wir verfügen, letzteres die Dinge, die über uns sind), zum zweiten die zwischen creatio (Schöpfung) und cooperatio (Mitwirkung) und zum dritten die Unterscheidung, daß Gott zwar das Gute bewirke, aber das Böse auch zulasse. 11 So habe der Mensch zwar keine Möglichkeit, sein Heil zu verdienen, aber sehr wohl eine Wahlfreiheit in weltlichen Dingen (inferiora). Aber Härle gibt doch auch zu bedenken, daß Luther die Welt, in der der Mensch mitwirken könne, nicht als sich selber überlassen bzw. dem Menschen als überlassen betrachte, sondern so, daß Gott die Schöpfung auch lenke. Hier komme Luther einem theologischen Determinismus sehr nahe. 12 Aber im ZuWilfried Härle: Die Unvereinbarkeit des Determinismus mit Luthers Theologie unter Bezugnahme zur aktuellen neurobiologischen Diskussion. 12 In seiner Dogmatik schreibt Härle über den Determinismus des Deismus an anderer Stelle (289): »Es wäre nur scheinbar sinnvoll, Motive gegeneinander abzuwägen, sich an Werten oder Geboten zu orientieren, Buße zu tun, andere zur Rede zu stellen, nach Gründen zu fragen, die Zukunft zu planen etc. D. h. nicht, […] daß es dann sinnvoll wäre, all dies zu unterlassen (denn auch die Unterlassung geschähe ja durch Gott), sondern es heißt, daß die Kategorie ›Sinn‹« nicht mehr – sinnvoll – auf menschliche Handlungen (sondern allenfalls auf das Ganze des Weltgeschehens) angewandt werden kann. Diese Konsequenz ist so unverantwortlich, daß sie – wenn schon nicht theoretisch, so doch – praktisch widerlegt werden kann, und ihr praktisch widersprochen werden muß. Konsequent deterministisch zu leben, hieße: sich vollständig treiben zu lassen – noch genauer gesagt: sich als jemand zu verstehen, der vollständig getrieben wird.« Und in einer Fußnote fügt Härle hinzu: »Vermutlich hat es noch nie einen Menschen gegeben, der auch nur einigermaßen konsequent nach dieser Theorie gelebt hat.« Aber es steht nicht in Frage, ob jemand nach einer Theorie lebt, sondern ob jemand sein Leben im Bezug auf eine Theorie versteht. Und es scheint mir außer Frage zu stehen, daß Luther sich als von Christus getrieben betrachtet hat. Darum muß die Sinnfrage 11

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sammenhang mit der Erklärung des Bösen schreibt Härle: »Während dort [im Hinblick auf das Gute; Anm. M. E.] Gott auch den menschlichen Willen lenkt, wohin er will, findet er hier [beim Bösen; Anm. M. E.] den von ihm abgewandten Willen vor; deshalb zieht Luther bei dieser dritten Unterscheidung aus der Allwirksamkeit Gottes nicht die Konsequenz, die Sünde von Gott gewählt, gewollt und determiniert sein zu lassen. Hier erweist sich die Unterscheidung zwischen Gottes Allwirksamkeit, die Luther lehrt, und Gottes Alleinwirksamkeit, die Luther bestreitet, als theologisch äußerst relevant.« 13 Und so zitiert Härle noch eine Anmerkung Luthers zum Text von De servo arbitrio in der Wittenberger Ausgabe von 1546 zum Begriff der Notwendigkeit: »Ich wünschte freilich, es gäbe ein anderes, besseres Wort in dieser Disputation als dieses gebräuchliche Wort Notwendigkeit, weil es weder über den göttlichen noch über den menschlichen Willen richtig redet«. 14 Härle prüft im weiteren Verlauf, inwiefern der Theologie über Luther ein Gespräch mit der Neurobiologie möglich werden könnte, die z. T. bekanntlich die Willensfreiheit des Menschen bestreitet. Die Emotionen und Gefühle würden im limbischen System des menschlichen Gehirns verortet, die bewußten Entscheidungen und Reflexionen im Neocortex. So habe der Mensch zwar im Rahmen seiner Möglichkeiten Handlungsfreiheit, aber in Grenzen. Wir könnten zwar tun, was wir wollten, aber wir könnten nicht wollen, was wir wollten – also frei darüber entscheiden, was wir wollten. 15 Das komme dem lutherischen Denken über die Willensfreiheit sehr nahe. Härle vermißt aber bei den neurobiologischen Ansätzen den Aspekt der Befreiung, den Luther im Begriff der Gnade gedacht habe, und er sieht im Bildungsbegriff einen Anknüpfungspunkt in dem Sinne, daß Freiheit im Bildungsgeschehen als die Übereinstimmung des Menschen mit seiner Bestimmung verstanden werden könne, die eben keine rein biologische sei. Damit wird aber die Neurobiologie nichts anzufangen wissen. Aber was Härle nicht bemerkt: Die Schlußfolgerungen der Neurobio-

nicht im Hinblick auf menschliche Handlungen, sondern auf die Luther zu Grunde liegende Metaphysik gestellt werden, anstatt ihn kantianisch anzureichern und damit die erasmische Position als mit Luther vereinbar erscheinen zu lassen. 13 Vgl. Wilfried Härle: Die Unvereinbarkeit des Determinismus, 9. 14 Zitiert nach Wilfried Härle: Die Unvereinbarkeit des Determinismus, 11. 15 Wilfried Härle: Die Unvereinbarkeit des Determinismus, 20.

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logie vom Organ Gehirn auf das Bewußtsein und den Willen beruhen auf einem Kategorienfehler. Während die modernen positiven Wissenschaften beobachtbare Phänomene berechnen, die sie zu messen verstehen, ist das Bewußtsein eben gerade kein solcher Gegenstand. Es ist immer Selbstbewußtsein, d. h. ›Gegenstand‹ der Selbstwahrnehmung und nicht, wie die meßbaren Gegenstände der Wissenschaft, der Fremdwahrnehmung. Mit den Neurobiologen, die also vom Organ Gehirn auf das Bewußtsein schließen, kann man nur einen Dialog führen wollen, wenn man ihnen ihren Kategorienfehler durchgehen läßt. Diesem Kategorienfehler unterliegt Luther nicht, weil bei ihm Willensvermögen auf Willen trifft. Die Unterscheidung zwischen voluntas und arbitrium gestattet es Luther, der voluntas Wahlfreiheit zuzugestehen, aber nur zum Bösen. Das kann nur dann paradox klingen, wenn man das Gute und das Böse als jeweils einzelne Entitäten und nicht als Qualitäten mißversteht. Die voluntas des Menschen kann auch für Luther zwischen vielerlei Optionen wählen, sie kann, zwar nicht im Hinblick auf das ganze Gesetz, aber doch im Hinblick auf einzelne Gebote, sogar das vermeintlich Gute wählen. Aber diese voluntas wählt für Luther auch das Gute (das gute Gesetz) in böser Absicht, nämlich um sich selber zu rechtfertigen. Hier kommt nun für ihn das arbitrium ins Spiel: Das Willensvermögen hat für Luther gerade nicht die Freiheit, den Willen im Sinne der voluntas hin zum Guten zu steuern. Darum vermöge der Mensch sich nicht zu rechtfertigen und bedürfe der Gnade. Und auch im Stande der Gnade bleibe er Sünder, sei er simul iustus et peccator: iustus auf Grund der Gnade, peccator auf Grund seines Willensvermögens. Nur das von Gott zum Guten gelenkte Wilensvermögen sei gut. Die Güte einer Handlung zeigt sich demnach nicht am Ergebnis einer Handlung, das mit dem Gesetz durchaus in Einklang stehen kann. Sie ist, modern gesprochen, empirisch nicht aufweisbar. Der Glaube spricht sie Gott zu und erweist sich so überhaupt erst als Glaube. Dennoch bemüht Luther gerade in diesem Zusammenhang, sehr im Unterschied zu Erasmus, die Erfahrung. Seine Überlegungen über den Willen sind nicht nur metaphysische Spekulationen: Luther beruft sich auf die Erfahrung sowohl im Sinne der Eigenerfahrung als auch der Fremderfahrung, wenn er Erasmus im Hinblick auf die behauptete Freiheit des Willens auffordert (DSA; LDStA 1,289): »Befrage die Erfahrung, wie wenig die zu überzeugen sind, die irgend einer Sache leidenschaftlich anhängen.« Aber auch wenn er auf die guten Taten zu A

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sprechen kommt, die Gott wirke, schreibt Luther über den menschlichen Willen (DSA; LDStA 1,291): »Wenn Gott in uns wirkt, will und handelt der Wille, der durch den Heiligen Geist verändert und uns sanft eingehaucht worden ist. Er handelt aber wiederum aus reinem Belieben, aus Neigung und aus seinem freiem (sic) Antrieb, nicht gezwungen. So kann er durch nichts, was ihm entgegen ist, in etwas anderes verwandelt werden. Nicht einmal durch die Pforten der Hölle wird er besiegt oder gezwungen, sondern er fährt fort, das Gute zu wollen, willig zu tun und lieb zu haben, so wie er zuvor Böses wollte, willig tat und es lieb hatte. Dies erweist wiederum die Erfahrung (Hvh. M. E.). Wie unbezwingbar und standhaft sind heilige Männer, während sie mit Gewalt zu anderem gezwungen werden. Sie werden dadurch noch mehr zum Wollen gereizt, wie ein Feuer vom Wind mehr angefacht als ausgelöscht wird. So gibt es auch hier also keinerlei Freiheit oder ein freies Willensvermögen, das in der Lage wäre, sich anderswohin zu wenden oder anderes zu wollen, solange der Geist und die Gnade Gottes im Menschen andauern.«

Natürlich, so ist zu ergänzen, kann auch diese empirisch feststellbare Standhaftigkeit Sünde sein, sofern sie in der Absicht der Selbstrechtfertigung geschieht. Wiederum spricht der Glaube die Heiligkeit Gott und nicht dem Willen der ›heiligen Männer‹ zu. Es ist an dieser Stelle vielleicht ganz hilfreich, Philipp Melanchthons Loci communes von 1521 heranzuziehen, weil Luther gegenüber Erasmus selbst lobend darauf verweist. 16 Denn anders als Luther, der von der Gnade her denkt, betrachtet der dem Humanismus nahe stehende Melanchthon wie Erasmus zunächst die menschliche Natur. Dabei unterscheidet er aber deutlicher als Erasmus die menschlichen Seelenvermögen. Zunächst sieht er den Willen auch als eine Kraft an – wie später Erasmus (Loci 27): »In ihm ist nämlich die Kraft, erkennen zu können, sowie die Kraft, durch die er entweder dem folgt oder das zurückweist, was er erkannt hat.« Und dann präzisiert Melanchthon (ebd.): »Die Erkenntniskraft ist die Kraft, durch die wir wahrnehmen oder verstehen, schlußfolgern, das eine mit dem anderen vergleichen, das eine aus dem Vgl. DSA; LDStA 1,221: »So erschien es überdies überflüssig, auf diese deine Argumente zu antworten, zumal ich sie schon zuvor oftmals widerlegt habe. Ja, jetzt sind sie richtiggehend in den Boden gestampft und geradewegs zertreten durch das unwiderlegliche kleine Buch Philipp Melanchthons über die theologischen Loci. Das ist meinem Urteil nach nicht nur der Unsterblichkeit würdig, sondern sogar dessen, in den kirchlichen Kanon aufgenommen zu werden!«

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anderen berechnen. Die Kraft, aus der die Affekte hervorgehen, ist die, mit der wir entweder das Erkannte verwerfen oder ihm folgen. Diese Kraft nennt man bald Wille, bald Leidenschaft, bald Trieb« (voluntas, affectus, appetitus).

Es wird an dieser Stelle sehr deutlich, daß Melanchthon unter Willen und Luther unter Willensvermögen etwas ganz Anderes verstehen als Kant oder Hegel. Und es entspricht auch nicht unserem Verständnis von Willen, sondern dem von Trieb, oder besser Intention 17 . Im weiteren Verlauf kommt Melanchthon dann auf den freien Willen zu sprechen (Loci 29): »Die Erkenntnis dient dem Willen. Daher nennen sie den mit der Erkenntnis oder mit der Einsicht des Verstandes geeinten Willen mit einem neuen Wort den ›freien Willen‹.«

Nun gebe es im Hinblick auf die äußeren Werke (inferiora) Freiheit, »[d]agegen sind die inneren Affekte nicht in unserer Gewalt. Denn durch Erfahrung und Gewohnheit erleben wir, daß der Wille nicht aus eigenem Antrieb Liebe, Haß oder ähnliche Affekte ablegen kann, sondern ein Affekt wird durch den (anderen) Affekt besiegt« (Loci 37). Das wird dann an anderer Stelle noch einmal erläutert (Loci 41): »Denn wenn der, der haßt, (selbst) bestimmt, den Haß abzulegen (statuit ponere odium), so ist das platterdings eine Ausgeburt des Verstandes, nicht ein Werk des Willens – es sei denn (der Betreffende) ist wirklich von einem stärkeren Affekt überwältigt worden (der den Haß besiegt).« Abschließend urteilt Melanchthon dann (ebd.): »Wenn wir lieber das Wort ›Herz‹, das die Schrift gebraucht, als das aristotelische Wort ›Wille‹ hätten benutzen wollen, hätten wir uns leicht vor diesen so plumpen und groben Irrtümern gehütet.« Dieser Einschätzung Melanchthons vermag ich mich nicht anzuschließen. Wenn die Erkenntnis dem Willen dient, ist das nicht dasselbe, was Erasmus sagt, nämlich daß der Wille in der ratio wurzele. Wer den Streit sucht und den Kampf zu führen bereit ist, wer darauf brennt, ihn endlich anfangen zu lassen, kann nicht durch vorgeblich bessere Begriffe, also rationale Argumente, vom Losschlagen abgehalten werden. Wenn der Wille (voluntas) im Sinne Luthers die ratio führt, aber nichts Gutes bewirkt, dann können nur jene mit einander rational argumentieren, die einen gemeinsamen Willen haben. Darum ist auch Die beiden Kontrahenten vermeiden den Begriff der inentio (intensio), den die Scholastik auch im Sinne von Wille durchaus kannte.

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die Frage müßig, wer nun eigentlich von den beiden, also Luther und Erasmus, den Streit gewonnen habe. Jede Partei wird, überzeugt von ihrem eigenen Willen, von vorne herein und ohne Rücksicht auf rationale Argumente dem Anwalt ihrer Partei den Sieg zusprechen. Das hätte Luther nicht gewundert, aber Erasmus wäre daran verzweifelt. Neben dem Willen hat darum Luther bekanntlich auch der Vernunft nichts zugetraut, und schon gar nicht hat er ihr zugesprochen, ein Maßstab zu sein. So sind die Begriffe und Ideen Werkzeuge und bisweilen Waffen, die zu einem Zweck eingesetzt werden, der außerhalb ihrer liegt. Schon Luther und Erasmus meinen jeweils etwas Anderes, wenn sie über den Willen sprechen: Für Erasmus entspringt der Wille der ratio, für Luther ist der Wille irrational. So reden sie eigentlich beide aneinander vorbei. Dennoch kommen sie sich in der Metaphysik sehr nahe (Erasmus gezwungenermaßen, weil er eben auf die Theologie im Hinblick auf Rom Rücksicht nehmen muß), was übrigens auch Luther selber bemerkt (DSA; LDStA 1,293): »Du stellst die Kraft des freien Willensvermögens als ziemlich bescheiden dar, nämlich so, daß sie ohne die Gnade Gottes geradezu wirkungslos ist. Das gibst du doch zu, nicht wahr? Nun frage ich dich aber und bitte ich dich: Wenn die Gnade Gottes fehlt oder getrennt wird von jener ziemlich bescheidenen Kraft – was kann sie selbst tun? Unwirksam, sagst du, ist sie und tut nichts Gutes. Also wird sie nicht tun, was Gott oder seine Gnade wollen […] Wenn das feststeht – geschenkt, daß du die Kraft des freien Willensvermögens nicht nur als ziemlich bescheiden darstellst! Stell sie doch als engelgleich dar! Stell sie, wenn du kannst, als vollkommen göttlich dar! Wenn du nur diesen traurigen Anhang hinzusetzt, daß du sie ohne Gnade Gottes als unwirksam bezeichnest, hast du ihr schon alle Kraft genommen. Was ist eine unwirksame Kraft anderes als gar keine Kraft.«

Liest man also, was Erasmus der Gnade zugesteht, dann muß man konstatieren, daß sich Erasmus und Luther, abgesehen von der jeweiligen Strategie der Argumentation, inhaltlich nicht sonderlich widersprechen. Darum sind es nicht die metaphysischen Differenzen, die die Unversöhnlichkeit der Standpunkte begründen. Aber betrachten wir einmal, wie verschieden Erasmus und Luther die von Luther und Melanchthon angeführten Erfahrungen jeweils deuteten, wenn wir davon ausgehen, daß auch Erasmus bestätigte, solche Erfahrungen gemacht zu haben. Erasmus erklärte das jeweilige Verhalten in Bezug auf den Bildungsstand der beobachteten Menschen, verbunden mit dem Hinweis, die einen hätten eben mehr, die anderen dagegen weniger Ver186

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nunftgaben mitbekommen. So sei der Mensch mit höherer Bildung eben besser imstande, seine Affekte zu kontrollieren. Aber damit rechtfertigt Erasmus eine hierarchisierte Gesellschaft und eine hierarchisierte Kirche. Die Berufung auf Bildung als Herrschaftslegitimität ist aber gefährlich, weil es nicht ausgemacht ist, was Bildung eigentlich ist. Darum fordert Erasmus die Vermeidung öffentlicher Disputationen, die seinem Bildungsverständnis und der mit ihm begründeten Autorität gefährlich werden könnten. Luther verweist dagegen auf Sünde und Gnade, und wenngleich er damit auch nicht eine egalitäre Gesellschaft rechtfertigt, so doch eine egalisierte Kirche. Darum geht der Streit zwischen Erasmus und Luther, und darum wird so hart gefochten. Und darum bekämpft derjenige, der die Freiheit des Willens behauptet (wenn auch nicht konsequent), die Freiheit der Kritik, die Freiheit des öffentlichen Vernunftgebrauchs, während derjenige, der die Willensfreiheit bestreitet, zu einem, in unseren heutigen Worten ausgedrückt, Anwalt des öffentlichen Vernunftgebrauchs wird. Dazu abschließend noch einmal Luther (DSA; LDStA 1,261): »Weiter oben habe ich gesagt, es sei das, was in den Heiligen Schriften überliefert oder dargelegt wird, nicht nur offensichtlich, sondern auch heilsam, daher könne, ja müsse es ohne Gefahr unters Volk gebracht, gelernt und gewußt werden. Es ist daher falsch, was du sagst: es sei nicht jedermanns Ohren preiszugeben.«

Und im Hinblick auf den Einwand des Erasmus, niemand bemühte sich mehr, sein Leben zu bessern, werde die Freiheit des Willens bestritten, antwortet Luther (DSA; LDStA 1,283 f.): »Wer sagst du, wird sich noch bemühen, sein Leben zu bessern? Darauf antworte ich: Kein Mensch, auch nicht einer wird es können, denn Gott kümmert sich nicht um deine Verbesserer, die ohne Geist, aber gute Heuchler sind. Gebessert aber werden die Auserwählten und Gottesfürchtigen durch den Heiligen Geist. […] Mit dieser Antwort sind die Gottesfürchtigen zufrieden. […] Zweierlei erfordert es, solches zu predigen: Das Erste ist die Demütigung unseres Hochmutes und die Erkenntnis der Gnade Gottes, das andere ist der christliche Glaube selbst. Zunächst: Gott hat mit Gewißheit den Gedemütigten, das heißt, den völlig Verzweifelten seine Gnade zugesagt. Der Mensch kann aber erst dann vollständig gedemütigt werden, wenn er weiß, daß sein Heil gänzlich außerhalb seiner Kräfte, Absichten und Bemühungen und seines eigenen Willens, seiner Werke liegt und ganz und gar von der Entscheidung, der Absicht, vom Willen und Werk eines anderen abhängt, nämlich Gottes allein. […] Wegen der Auserwählten also werden diese Dinge A

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unters Volk gebracht, damit sie, auf diese Weise gedemütigt und zunichte gemacht, heil werden.«

Indem Luther also zwischen voluntas und arbitrium unterscheidet, kann er die Widersprüchlichkeit, in der sich Erasmus verfängt, auflösen. Der Mensch hat demnach einen freien Willen, zwischen Handlungsoptionen zu wählen (voluntas), aber nicht das Vermögen (arbitrium), sich für das Gute, und das ist gleichbedeutend mit dem, was Gott will, zu entscheiden. Aus dieser Unterscheidung lassen sich nun alle Unterscheidungen, die Luther noch macht und die sein theologisches Denken noch charakterisieren, ableiten, zunächst die zwischen Gesetz und Evangelium. Dem Hinweis des Erasmus, die Forderungen des Gesetzes etwa seien überhaupt nicht zu verstehen, wenn sie nicht auch an das freie Willensvermögen der Menschen appellierten, entgegnet Luther mit dem Hinweis auf den usus legis elanchticus, dem zweiten Gebrauch des Gesetzes: Dem Sünder werde mit dem Gesetz der Wille Gottes geoffenbart, aber er erkenne sich im Glauben als der Sünder, der dem Gesetz eben nicht Genüge leisten könne. Das Gesetz diene der Erkenntnis der Sünde. In De servo arbitrio betont Luther gerade den zweiten Gebrauch des Gesetzes gegenüber dem ersten und dem dritten Gebrauch (usus politicus und usus in renatis) (DSA; LDStA 1,385): »Der ganze Sinn und die ganze Stärke des Gesetzes liegt einzig darin, Erkenntnis, und zwar Erkenntnis nur der Sünde, zu verleihen, nicht aber darin, irgendeine Stärke zu zeigen oder zu verleihen.«

Luthers Gnadenlehre, seine Unterscheidungen hinsichtlich des Gesetzes, die Zwei-Reichelehre unter Berufung auf Röm 13 und schließlich seine Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, alles das wird in seiner Schrift De servo arbitrio in einen systematischen Zusammenhang gestellt. Anders als die Diatribe des Erasmus weist Luthers Antwort eine gewisse systematische Geschlossenheit auf. Darum hat Luther sie wohl auch so geschätzt und so wie die beiden Katechismen geachtet. Aber ihre systematische Geschlossenheit ist leider auch ihre Schwäche. Denn an dem Begriff der Notwendigkeit scheitern beide, Luther wie Erasmus. Aber während Erasmus in der Tat Gott der Notwendigkeit unterwirft, indem er dem Menschen die Freiheit zuspricht, wenngleich auch nicht konsequent, weil das theologisch nicht akzeptabel gewesen wäre – und dabei die Prädestination nur von der Gnadenwahl weg hin auf die Talentbegabung schiebt –, spricht Luther die Frei188

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heit Gott zu und läßt den Menschen der Notwendigkeit unterworfen sein. Aber neben seinen oben genannten Unterscheidungen ist Luther damit zu einer weiteren Unterscheidung gezwungen, nämlich der zwischen dem deus revelatus und dem deus absconditus. Inwiefern nämlich verantwortet nun Gott, der das Subjekt der Freiheit ist, das Böse nicht? Gott, so Luther, wirke in den Sündern so, wie er sie vorfinde (DSA; LDStA 1,465): »Hier siehst du, daß, wenn Gott in den Bösen und durch die Bösen wirkt, zwar Böses geschieht. Dennoch kann Gott nicht böse handeln, mag er auch Böses durch Böse tun, denn er ist selbst gut und kann nicht böse handeln. Gleichwohl benutzt er die Bösen als Werkzeuge, die dem Fortgerissen- und Angetriebenwerden durch seine Macht nicht entkommen können.«

Das ist natürlich eine ganz unbefriedigende Lösung des Problems, denn Gott in seiner Allmacht muß auch als einer gedacht werden können, der seine Wirkkraft zurückzuhalten vermag. Wenn er die böse Absicht mit Energie auflädt, trifft ihn denn dann etwa keine Verantwortung? Und hierauf antwortet Luther mit dem Hinweis auf die Geheimnisse der Majestät Gottes (DSA; LDStA 1,471 f.): »Es bleibt also noch, daß jemand fragen mag, warum Gott nicht von eben diesem Antrieb der Allmacht abläßt, mit dem der Wille der Gottlosen angetrieben wird und der folglich fortfährt, böse zu sein und noch schlimmer zu werden. Die Antwort darauf ist: Das wäre gleichbedeutend mit dem Wunsch, Gott möge wegen der Gottlosen aufhören, Gott zu sein. Denn Du wünschst, daß seine Kraft und seine Wirkung aufhören, daß er also abläßt, gut zu sein, damit jene nicht schlimmer werden. Aber warum ändert er nicht zugleich die bösen Willen, die er antreibt? Das bezieht sich auf die Geheimnisse seiner Majestät, wo seine Urteile unbegreiflich sind.« 18

Die Unterscheidung zwischen deus revelatus und deus absconditus läßt sich auch nicht umgehen, wenn man einen Determinismus bei Luther zu vermeiden sucht. Härle versteht ja Luther so, daß bei ihm Gott die menschliche Geschichte begleite (concursus), während der Mensch mitwirke (cooperatio), und im Gotteslob äußere sich dann das Erlebnis des Einklangs der Offenbarung Jesu Christi mit dem geschichtlichen Geschehen, in der Klage dagegen das des krassen Gegensatzes zwischen Auch hier verweist Link auf einen Unterschied zwischen Luther und Calvin (Prädestination und Erwählung, 40). Letzterer betone das Gott zustehende Recht der Entscheidung, und »dabei anders als der nominalistisch denkende Luther jeden Gedanken an eine schrankenlose Allmacht von Gott fernhält.« 18

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beidem. Aber auch Härle bleibt nur der Hinweis: »Aus der Sicht des Menschen bleibt das geschichtliche Wirken Gottes undurchschaubar und rätselhaft.« 19 Der Verweis auf den deus absconditus ist der Notausgang einer Metaphysik, die nicht nur Gott, sondern auch sich selber nicht mehr versteht. Er ist der Vorstellung von der Allwirksamkeit Gottes geschuldet, die nicht nur die Freiheit des Willensvermögens negiert, sondern auch die Offenbarung der Gnade diskreditiert. So konsequent Luther auch gegen Erasmus, der hin und her schwankt und keinen Ausgleich der Widersprüche erstrebt, argumentiert, der Aporetik der Metaphysik entkommt er nicht, und seine Lösung des Problems ist dann ein Sprung ins Absurde, eine Kapitulation der Vernunft, mehr noch, eine Verdunklung des gnädigen Gottes, den zu gewinnen doch Luthers ureigenstes Anliegen von Beginn seines theologischen Ringens an war. Daß der Triumph der Gnade und damit der Freiheit der Kinder Gottes als Öffentlichkeit zunächst der Vernunftkritik, schließlich der Religionskritik und der Bibelkritik im Sinne der quellenkritischen Hermeneutik gerade in der protestantischen Tradition nicht nur nicht aufzuhalten war, sondern sogar entgegen der Absichten der Reformatoren noch vorangetrieben wurde, bestätigt freilich Luthers Bestreitung der Freiheit der menschlichen Willensvermögen in einer Weise, die Luther selber sehr verwundert und verblüfft hätte.

Wilfried Härle: Dogmatik, 293. Bei Link heißt es dazu (Prädestination und Erwählung, 44): »Das Problem der Prädestination ist von seinem Ansatz her so gestellt, daß es, wenn überhaupt, dann nur auf einer Ebene oberhalb und jenseits der menschlichen Geschichte verhandelt werden kann. Es ist Gottes eigenes Problem und deshalb für den Menschen ein undurchdringliches Rätsel.«

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Endliche Freiheit Luthers und Kants Freiheitsverständnis im Kontext von Augustins Schrift ›De libero arbitrio‹ Christian Danz (Wien)

In seinen mehrfach in Jena vorgetragenen Vorlesungen über die Philosophischen Aphorismen Ernst Platners kommt Johann Gottlieb Fichte an einer Stelle auf Immanuel Kant und Martin Luther zu sprechen. Er schreibt hier: »Der einzige Weg, die Menschen zum Glauben zu bringen, ist sonach der, sie zur Tugend zu bringen. So sagt Luther, u. dann nach ihm auch Kant.« 1 Fichte ordnet in der zitierten Stelle die Philosophie Kants in die Wirkungsgeschichte der Theologie des Reformators ein. Solche Konstruktionen einer ungebrochenen, kontinuierlichen Entwicklung von Luther zur Aufklärung oder eben zu Kant begegnen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bei verschiedenen Autoren. 2 Abgesehen von den geschichtsmethodologischen Problemen von derartigen Kontinuitätslinien sind alle Versuche einer Zusammenschau von Luther und Kant mit dem Problem konfrontiert, daß Luther die Freiheit des menschlichen Willens vehement bestreitet, während Kant sie geradezu behauptet. In seiner 1525 in De servo arbitrio mit Erasmus von Rotterdam geführten Auseinandersetzung hatte Luther schroff dessen These von der Freiheit des menschlichen Willens widersprochen und ausdrücklich behauptet, daß Freiheit allein ein göttlicher Name sei. Er sagt dort (LDStA 1,295): »Jetzt folgt, daß das freie Willensvermögen vollständig ein göttlicher Titel ist und niemandem zustehen kann als allein der göttlichen Majestät. Diese nämlich kann und tut (wie der Psalm singt) alles, ›was sie will im Himmel und auf Erden‹. Wenn dies den Menschen zugebilligt wird, könnte ihnen mit glei-

Johann Gottlieb Fichte: Vorlesung über Logik und Metaphysik SS 1797, 431. Siehe hierzu Karl Holl: Die Kulturbedeutung der Reformation; Emanuel Hirsch: Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation; Christian Danz/Rochus Leonhardt (Hg.): Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert.

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chem Recht auch die Göttlichkeit zugebilligt werden. Das wäre ein Sakrileg sondergleichen.« 3

Von einer Freiheit des menschlichen Willens zu sprechen, wäre, so Luther, eine Gotteslästerung sondergleichen. Allein Gott kommt das Prädikat der Freiheit zu. Im Unterschied zu Luther behauptet Kant die Autonomie des menschlichen Willens. Für Kant ist allein der Wille ein guter Wille, der sich dem Sittengesetz unterstellt hat. Von einem solchen Willen gilt, daß er frei ist. Der menschliche Wille unterstellt sich selbst einem Gesetz, das er sich selbst gibt. Der Gedanke eines Gottes als Geber des Sittengesetzes würde in begründungstheoretischer Hinsicht die Autonomie der Sittlichkeit in bloße Heteronomie verkehren. Theologische Heteronomie auf der einen und sittliche Autonomie auf der anderen Seite, so läßt sich das Verhältnis des Reformators zu dem Königsberger Philosophen auf den Begriff bringen. Im Verhältnis von Luther und Kant scheint sich das Verhältnis des jungen zu dem späten Augustinus geradezu widerzuspiegeln. Begründete der junge Augustinus in seiner im Jahre 387, also ein Jahr nach seiner Bekehrung, begonnenen Schrift De libero arbitrio die menschliche Freiheit, um Gott von den Übeln zu entlasten, so scheint der späte Augustinus der Gnadenlehre die menschliche Willensfreiheit zu revozieren und den menschlichen Willen zum Werkzeug des allein handelnden Gottes zu depotenzieren. »Der Allmächtige«, so Augustinus in seiner antipelagianischen Schrift De gratia et libero arbitrio, »lenkt nämlich in den Herzen der Menschen auch die Bewegungen ihres Willens, um seinen eigenen Willen durch sie durchzusetzen.« 4 Wenn es im folgenden um Luthers und Kants Freiheitsverständnis im Kontext von Augustins Schrift De libero arbitrio gehen soll, dann ist weder ein Spezialbeitrag zur Augustinusforschung noch eine weitere Erörterung zu Kant als dem Philosophen des Protestantismus intendiert. 5 Vielmehr interessiert allein die systematische Konstrukti3 DSA (WA 18,636; LDStA 294): »Sequitur nunc, liberum arbitrium esse plane divinum nomen, nec ulli posse competere quam soli divinae maiestati, Ea enim potest et facit (sicut Psalmus canit) Omnia quae vult in coelo et in terra. Quod si hominibus tribuitur, nihilo rectius tribuitur, quam si divinitas quoque ipsa eis tribueretur, quo sacrilegio nullum esse maius possit.« 4 Vgl. gr. et lib. arb. 21,42 (Übersetzung nach Schriften gegen die Semipelagianer, 149). 5 Zur Debatte siehe nur Emanuel Hirsch: Luthers Rechtfertigungslehre bei Kant; Jörg Dierken: Freiheit als religiöse Leitkategorie. Protestantische Denkformen zwischen Lu-

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Endliche Freiheit

on des Freiheitsbegriffs und dessen religiöse Deutung bei Luther und Kant im Horizont der Problemformulierung von Augustinus. Denn so gewiß der Freiheitsbegriff durch Augustinus zu einem Schlüsselbegriff der theologischen und philosophischen Debatten avancierte, so gewiß läßt sich auch das Verhältnis von Luthers und Kants Freiheitsverständnis nicht durch die einfache Alternative von Bestreitung der menschlichen Willensfreiheit auf der einen und sittlicher Autonomie auf der anderen Seite erfassen. Denn auch Luther kennt eine Freiheit des Christenmenschen, die von ihm freilich mit dem Gottesverhältnis des Glaubens verbunden wird. Und für Kant ist das Sittengesetz ein Faktum der Vernunft und damit gerade nicht ableitbar. Noch in seiner Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hat Kant mit den Folgeproblemen der von ihm vorgenommenen engen Verknüpfung von Freiheit und sittlich bestimmtem Willen in Form des Problems der Zurechenbarkeit des Bösen gerungen. Sowohl Luther als auch Kant, so die These, welche ich in meinem Beitrag ausführen und begründen möchte, haben die menschliche Freiheit als eine endliche Freiheit verstanden, die sich dem Menschen durch Unterscheidungsleistungen erschließt und deren Realisierung ambivalent bleibt. Von Augustinus über Luther zu Kant wird der Freiheitsbegriff zunehmend in die Reflexivität des Selbstverhältnisses verlagert und dadurch der objektiv-kosmologische Explikationsrahmen des Freiheitsbegriffs abgebaut. Dies schlägt sich, wie zu zeigen sein wird, nirgends anders deutlicher nieder als in den Gottesbegriffen von Augustinus, Luther und Kant. Diese These möchte ich in drei Abschnitten darlegen. Einzusetzen ist mit einem kurzen Blick auf Augustins Bestimmung der menschlichen Freiheit, wie er sie vor allem in seiner frühen Schrift De libero arbitrio ausgeführt hat. Auf der Folie von Augustins Freiheitsverständnis ist im zweiten Abschnitt Luthers Freiheitsverständnis in den Blick zu nehmen, wie es sich diesem im Zusammenhang mit seiner reformatorischen Entdeckung erschlossen hat. Im dritten und letzten Abschnitt soll es schließlich um Kants Freiheitsverständnis gehen, wie er es auf der methodischen Grundlage seiner kritischen Transzendentalphilosophie ausgeführt hat.

ther und Kant; Hans-Martin Rieger: Das radikal Böse. Der Zugang zur menschlichen Selbstverkehrung bei Kant und Luther. A

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1.

Augustinus und das Problem der menschlichen Freiheit

Augustins Behauptung der menschlichen Freiheit darf vor allem auch als ein Resultat seiner Abkehr vom Manichäismus gelten, dem er neun, wenn nicht sogar zehn Jahre anhing. Im siebten Buch seiner Confessiones beschreibt er mit bewegenden Worten seine Ablösung von dieser häretischen Sekte und seine, durch das Studium der »Platonicorum libri« vermittelte Neubestimmung des Gottesgedankens als einer unveränderlichen, geistigen Substanz. Eine wichtige Rolle sowohl für die Neubestimmung des Gottesgedankens als auch für die Behauptung der Freiheit des menschlichen Willens spielt die Frage nach dem Ursprung des Bösen. Denn der manichäistische Dualismus von zwei miteinander im Streit liegenden körperlichen Substanzen bot ihm zunächst eine plausible Antwort auf die ihn bedrängende Frage nach dem unde malum. Sie nahm nicht nur die Erfahrung des Bösen ernst, sondern entlastete auch Gott von dem Bösen. Augustins Rezeption des Neuplatonismus führte diesen zu einer Revision seiner Gotteslehre. Das gewichtigste Resultat ist zweifellos die Ersetzung des manichäistischen Dualismus durch eine monistische Bestimmung des Gottesgedankens. Möglich wurde sie durch eine methodisch veränderte Fragestellung. Augustinus ersetzte nämlich die Frage nach dem unde malum durch die nach dem quid sit malum. »Ihr forscht mich darüber aus, was das Schlechte sei. Nun aber forsche ich umgekehrt euch darüber aus, was das Schlechte sei. Wessen Fragestellung ist angemessener? Etwa die der Leute, die fragen, woher etwas ist, von dem sie nicht wissen, was es ist, oder die Fragestellung von dem, der meint, zuerst sei zu fragen, was etwas ist, damit nicht absurderweise nach dem Ursprung einer unbekannten Sache gefragt wird? Ganz recht, sagt ihr, wer ist nämlich so geistesblind, daß er nicht sieht, daß für jede Gattung dasjenige das Übel ist, was gegen deren Natur ist? Aber wenn dies akzeptiert ist, dann ist eure Häresie ruiniert: Das Schlechte ist nämlich keine Natur, wenn das, was gegen die Natur ist, das Schlechte sein soll.« 6 Der Frage nach dem Ursprung des Bösen hat die nach dem Wesen des Bösen voranzugehen. Deren Beantwortung löst die manichäistische Behauptung auf, daß das Böse eine Natur oder

6 Vgl. mor. 2,2: »nulla enim natura malum, si quod contra naturam est, id erit malum.« Vgl. nat. b. 4.

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Substanz sei. 7 Vielmehr ist das Böse Verderbnis, corruptio, die an einem anderen auftritt, von dem zunächst gelten muß, daß es gut ist. 8 Mit dieser Neubestimmung des Bösen als privatio boni ist eine Neubestimmung des Gottesgedankens verbunden. Gott sei, so Augustinus, auf der einen Seite unwandelbares geistiges Sein und auf der anderen alles bestimmende Macht. 9 Er wirkt alles allein und ist der allmächtige Schöpfer und Lenker von allem, was ist, nämlich der Körperwelt und der Seelen. Zwar bemißt Augustinus dem Willensbegriff eine grundlegende Stellung für den Gottesbegriff bei, demzufolge er Gottes Allmacht als qua Deus »quidquid vult potest« verstehen kann. 10 Aber die Einbeziehung des Willensbegriffs in die Bestimmung des Gottesgedankens führt bei Augustinus noch nicht zu einem theologischen Voluntarismus und einer Suspendierung der Vorgaben der antiken Ontologie. 11 Vielmehr versteht Augustinus das allmächtige göttliche Wirken am Leitfaden des stoisch-neuplatonischen Ordo-Gedankens als Ordnen. 12 Die von Gott geschaffene und geordnete Welt ist gut, und Gott regiert und lenkt den Kosmos durch sein ordnendes Handeln. Die Übel und das moralisch Böse haben ihren Ursprung nicht in Gott, der nach Platon, dem sich Augustinus anschließt, nur bona schafft, sondern im Menschen, genauer in der Freiheit des menschlichen Willens. Den menschlichen Willen als Ursprung des Bösen zu begründen, ist das Anliegen von Augustins im Jahre 387 begonnenen und erst 395 beendeten Dialog De libero arbitrio. Diese Intention der Schrift wird bereits in den Eingangspartien des Dialogs ersichtlich, in dem die Frage 7 Vgl. conf. 7,18: »ergo quandiu sunt, bona sunt. ergo quaecumque sunt, bona sunt, malumque illud, quod quaerebam unde esset, non est substantia, quia, si substantia esset, bonum esset.« 8 Vgl. conf. 7,18: »et manifestatum est mihi, quoniam bona sunt, quae corrumpuntur, quae neque si summa bona essent, neque nisi bona essent, corrumpi possent, quia, si summa bona essent, incorruptibilia essent, si autem nulla bona essent, quid in eis corrumperetur, non esset.« 9 Dazu Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, 244–246. 10 Vgl. s. 214; ench. 24; civ. 21,7. Dazu Jan Bauke-Ruegg; Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, 416–430. 11 Siehe Hans Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, 81; Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, 246. 12 Vgl. ord. 1,28: »Ordo est, per quem aguntur omnia, quae Deus constituit.« Vgl. auch lib. arb. 2,54: »omnem quippe rem, ubi mensuram et numerum et ordinem videris, deo artifici tribuere ne cuncteris.«

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thematisiert wird, ob Gott als der Urheber des Übels verstanden werden könne (lib. arb. 1,1). Augustinus unterscheidet zur Beantwortung dieser Eingangsfrage methodisch zwei Formen des Übels, nämlich solche, die getan, und solche, die erduldet werden. Allein die zweite Art der Übel, nämlich die, welche erduldet werden, haben Gott zum Urheber, da Gott aufgrund seiner Gerechtigkeit die Bösen straft. Aber Gott kann nicht der Urheber der Übel sein, die getan werden. Diese Art der Übel können nicht Gott zum Urheber haben, da Gott gut ist und stets das Gute will. Sie müssen einen anderen Ursprung haben. Augustinus macht ihn im menschlichen Willen aus, von dem deshalb gelten muß, daß er frei ist. Der Mensch hat einen freien Willen, und dieser ist die unergründliche Ursache des Bösen und der Übel. Es ist wichtig zu sehen, daß auch noch der späte Augustinus der Gnadenlehre an dieser Überzeugung festhält, auch wenn er dem Willen des gefallenen Menschen eine eigenständige Ausrichtung auf das Gute bestreitet. 13 Was versteht nun Augustinus unter dem menschlichen Willen? Der menschliche Wille wird von Augustinus als das aktuale Vermögen der Selbstbestimmung verstanden, das jedem Vernunftwesen zugesprochen werden muß. »Wir können nicht leugnen, daß wir die Macht des Wollens haben, es sei denn, daß wir den Willen überhaupt leugnen; fehlt uns aber der Wille, dann ist unser Wollen kein Wollen mehr. Da es aber unmöglich ist, daß wir ohne Willen wollen, ist der Wille jedenfalls in jedem Wollenden vorhanden, und nichts ist so sehr in der Gewalt jedes einzelnen gegeben als gerade dieser bei jedem Wollenden vorhandene Wille. Er wäre gar nicht unser Wille, wenn er nicht in unserer Macht läge, und da er in unserer Macht liegt, ist er in uns frei.« 14 Der Wille ist für Augustinus das Vermögen und die Kraft, sich zu etwas zu bestimmen und ist deshalb frei zu nennen. Der Wille als das Vermögen, sich selbst zu etwas zu bestimmen, gründet nun nicht in sich selbst, sondern er ist von Gott geschaffen. Als geschaffener Wille gehört er zu den Gütern, und zwar zu den mittleren Gütern, die wie alles von Gott Geschaffene wandelbar sind. Gut ist der menschliche Wille dann und nur dann, wenn er sich auf das unwandelbare Gesetz ausrichtet. Dann dominiert die Vernunft die niederen Seelenbewegungen und der Mensch ist gut. Eine Verkehrung dieser StrukVgl. civ. 5,9; gr. et lib. arb. 4,7. lib. arb. 3,8. Zum Willensbegriff Augustins Albrecht Dihle: Die Vorstellung vom Willen in der Antike, 138–163.

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tur kann nun ihren Grund nicht in etwas Äußerem haben, sondern allein in dem Willen des Menschen, der sich statt zu den ewigen Dingen zu den Begierden hinneigt. 15 Das Übel fußt somit für Augustinus allein in dem Willen des Menschen, der sich in einem unergründlichen Willensakt dem Veränderlichen zuwendet. 16 Warum sich der Wille statt dem unveränderlichen Gott den veränderlichen Dingen zuwendet, ist unableitbar (lib. arb. 2,54): »sed tu fortasse quaesiturus es, quoniam movetur voluntas cum se avertit ab incommutabili bono ad mutabile bonum, unde iste motus existat. qui profecto malus est, tametsi voluntas libera, quia sine illa nec recte vivi potest, in bonis numeranda sit. […] non erit ergo iste motus ex deo. unde igitur erit? ita quaerenti tibi si respondeam nescire me, fortasse eris tristior, sed tamen Vera responderim. sciri enim non potest quod nihil est.«

Der Wille ist aber für Augustinus nicht nur das Vermögen der Selbstbestimmung, das immer in Bewegung ist, sondern er ist selbst immer schon bestimmt, und zwar durch das, worauf er sich richtet. Aus diesem Grund kann sich der Wille, wenn er sich den vergänglichen Dingen zugewandt hat, nicht mehr dem Guten zuwenden. Er ist in sich gebrochen und zwiespältig und, wie Augustinus in den Confessiones ausführt, kein ganzer Wille mehr (conf. 8,21): »imperat animus, ut velit animus, nec alter est nec facit tamen. unde hoc monstrum? et quare istuc? imperat, inquam, ut velit, qui non imperaret, nisi vellet, et non facit quod imperat. sed non ex toto vult: non ergo ex toto imperat. nam in tantum imperat, in quantum vult, et in tantum non fit quod imperat, in quantum non vult, quoniam voluntas imperat, ut sit voluntas, nec alia, sed ipsa.«

Augustins religiöse Deutung des menschlichen Willens und des göttlichen Alleinwirkens fußt auf dem von ihm nach 386 neugewonnenen lib arb. 1,21: »ergo relinquitur ut, quoniam regnanti menti conpotique uirtutis quidquid par aut praelatum est non eam facit seruam libidinis propter iustitiam, quidquid autem inferius est non possit hoc facere propter infirmitatem, sicut ea quae inter nos constiterunt docent, nulla res alia mentem cupiditatis comitem faciat quam propria voluntas et liberum arbitrium.« 16 lib. arb. 1,34: »nam quaerere institueramus quid sit male facere […]. quocirca licet nunc animadvertere et considerare utrum sit aliud male facere quam neglectis rebus aeternis, quibus per se ipsam mens fruitur et per se ipsam percipit et quae amans amittere non potest, temporalia et quaeque per corpus, partem hominis vilissimam, sentiuntur et numquam esse certa possunt quasi magna et miranda sectari. nam hoc uno genere omnia malefacta, id est peccata, mihi videntur includi.« 15

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Gottesgedanken. Dieser monistische Gottesgedanke wird von Augustinus auf die Erlösung bezogen. So wie die Schöpfung der Welt allein Gottes Werk ist, so ist auch die Erlösung allein Gottes Werk. Die Zurechtbringung des menschlichen Willens, von Augustinus als Wiederherstellung der von Gott festgesetzten Ordnung verstanden, ist allein Gottes Werk (gr. et lib. arb. 33): »Denn er selbst wirkt anfangs unser Wollen, der in der Ausführung mit unserem Wollen mitwirkt. […] Daß wir also wollen, bewirkt er ohne uns; wenn wir aber wollen, und zwar so wollen, daß wir handeln, wirkt er mit uns. Dennoch sind wir ohne ihn, sei es, daß er unser Wollen bewirkt, sei es, daß er mit unserem Wollen mitwirkt, durchaus unvermögend zu guten Werken der Frömmigkeit.«

Gott wirkt im Wollen des Menschen die Erlösung, und zwar so, daß er dem Willen etwas vorhält, das diesen auf Gott ausrichtet. 17 Wenn aber die eigene Erlösung allein vom Wirken Gottes abhängt und zugleich gilt, daß Gott alles wirkt, dann muß auch der Umstand, daß jemand nicht glaubt und mithin noch nicht erlöst ist, seinen Grund im Wirken Gottes haben. Die Behauptung, daß Gott auch im unerlösten Menschen bereits wirkt, stellt also eine Konsequenz seiner neuen Gottesanschauung und der mit dieser verbundenen Deutung des Alleinwirkens Gottes dar. Augustins späte Gnaden- und Erwählungslehre (nach 396) reflektiert die Kontingenz der eigenen Erlösung, die ausschließlich in Gott gründet. Sie verobjektiviert die eigene, innere Heilserfahrung allerdings aufgrund der beibehaltenen antiken Ontologie zu einem metaphysischen Drama, in dem Gott die einen zum ewigen Heil und die anderen zu ewiger Verdammnis bestimmt hat. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß der Ausgangspunkt von Augustins Deutung des göttlichen Wirkens die eigene religiöse Heilsgewißheit ist, welche sich dem unwandelbaren Willen Gottes verdankt, der alles in allem wirkt. Insofern kann man sagen, daß Augustins späte Gnadenlehre, die als eine ›Logik des Schreckens‹ gedeutet wurde (vgl. LdS 75), eine Darstellung des religiösen Selbstbewußtseins von Augustinus ist. Sie thematisiert die eigene, sich kontingent einstellende innere Heilsgewißheit als ein objektives, äußeres Geschehen.

Vgl. Simpl. 2,22; Übersetzung in LdS 237: »Aber der Wille selbst kann keinesfalls bewegt werden, wenn ihm nichts begegnet, was die Seele erfreut und einlädt. Daß ihm das begegnet, liegt aber nicht in menschlicher Macht.«

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2.

Martin Luther und die Unfreiheit des menschlichen Willens

Augustins früher Dialog De libero arbitrio gehörte nicht zu den Schriften des antiken Theologen, denen der ehemalige Augustiner-Eremit Martin Luther eine maßgebliche Rolle für seine eigene Theologie beigemessen hat. 18 Die antipelagianischen Schriften Augustins, allen voran De spiritu et littera, stehen aus nahe liegenden Gründen dem Reformator wesentlich näher als der frühe Dialog über den freien Willen. Es kann im folgenden auf sich beruhen, inwieweit die Schriften Augustins für die Herausbildung von Luthers reformatorischer Einsicht eine Rolle gespielt haben oder nicht. Eine genauere Kenntnis von Augustins Schrift De spiritu et littera läßt erst Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16 erkennen. 19 Aber auch hier wird man urteilen müssen, daß Luther den platonischen Rahmen von Augustins Theologie und Philosophie gerade nicht rezipiert hat. 20 Die philosophischen und theologischen Debatten im späten Mittelalter hatten die platonische Ontologie zunehmend problematisiert und aufgelöst. 21 Wichtiger als diese nur äußerst schwer aufzuhellenden Fragen der Beeinflussung Luthers durch antike und mittelalterliche Autoren und deren Gewichtung für die Herausbildung von dessen reformatorischer Theologie, die allesamt wiederum von einer Antwort auf die Frage abhängen, worin das Reformatorische in Luthers Theologie eigentlich besteht, ist für unseren Zusammenhang die systematische Frage nach der Konstruktion des Freiheitsbegriffs in Luthers Theologie. Und diese scheint auf den ersten Blick so auszufallen, daß dem menschlichen Willen die Freiheit abgesprochen wird. Luther hatte nicht nur in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam der Behauptung der menschlichen Freiheit energisch widersprochen. Bereits in der Heidelberger Disputation vom Mai 1518 hat Luther die These vertreten, daß das »freie Willensvermögen nach dem Sündenfall […] ein bloßer Name« sei. 22 In seiner Assertio omniDazu Hans-Ulrich Delius: Augustinus als Quelle Luthers. Eine Materialsammlung, 42 f. 19 Dazu Bernhard Lohse: Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther. 20 Vgl. Ulrich Barth: Die christliche Aneignung des platonischen Vernunftideals. Augustins christliche Gnosis, 84 f. 21 Siehe hierzu Christian Danz: Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, 64–70. 22 Martin Luther: Disputatio Heidelbergae habita (WA 1,359 = LDStA 1,47). 18

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um articulorum von 1520 hatte Luther diese These noch verschärft. Hier schreibt er mit Bezug auf seine 13. These der Heidelberger Disputation: »Ich habe nämlich schlecht gesagt, daß das freie Willensvermögen vor der Gnade eine Sache allein dem Namen nach sei; vielmehr hätte ich einfach sagen müssen: ›Das freie Willensvermögen ist ein Hirngespinst unter den Dingen oder ein [bloßer] Name ohne Inhalt.‹ Denn niemand hat es in seiner Hand, sich etwas Böses oder Gutes vorzunehmen, sondern alles (wie der in Konstanz verdammte Artikel Wyclifs recht lehrt) geschieht aus absoluter Notwendigkeit.« 23 Verständlich werden diese Aussagen Luthers freilich nur dann, wenn man sie in sein sich im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts neu erworbenes Verständnis des Glaubens einordnet. Dann zeigt sich nämlich, daß Luthers Rede von der Unfreiheit des menschlichen Willens eine Konsequenz seines Glaubensverständnisses darstellt, deren Fluchtpunkt jedoch nicht in einem wie auch immer gearteten theologischen Determinismus liegt, sondern geradezu in einer Theorie einer endlichen Freiheit. Um dies herauszuarbeiten, sind zunächst die inneren Aufbauelemente von Luthers Glaubensverständnis in den Blick zu nehmen. Luthers neues Verständnis des Glaubens, demzufolge dieser bereits das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis sei, darf als Resultat seines sich in seinen exegetischen Vorlesungen seit der ersten Psalmenvorlesung von 1513 bis 1515 erarbeiteten Neuverständnisses der Buße gelten. Gegenüber dem spätmittelalterlichen Bußsakrament und seinen drei Bestandteilen der Reue, dem Bekenntnis sowie der Genugtuung machte Luther geltend, daß dieses nicht nur viel zu äußerlich sei, sondern eine wahre Buße des Menschen geradezu verhindere. Luther hat das in den ersten beiden seiner 95 Thesen, welche den äußeren Anlaß der Reformation darstellen, klar ausgesprochen. Hier heißt es (Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum; WA 1,233 = LDStA 2,3): »1. Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ›Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‹, wollte er, daß das ganze Leben der Glaubenden Buße sei. 2. Dieses Wort darf nicht auf die sakramentale Buße gedeutet werden, das heißt, auf jene Buße mit Beichte und Genugtuung, die unter Amt und Dienst der Priester vollzogen wird.« Martin Luther: Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (WA 7,146 = LDStA 1,203).

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Die Buße ist für Luther kein sakramentaler Akt mehr, sondern sie wird von diesem als Lebensbuße verstanden. Doch was versteht Luther unter Buße? Im Unterschied zum mittelalterlichen Bußsakrament versteht Luther die Buße als ein Geschehen, in dem dem Menschen allererst das Bewußtsein entsteht, daß er ein Sünder ist. Luther spitzt sein Bußverständnis auf die innere Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder zu, so daß die Buße als Entstehung des Sündenbewußtseins beim einzelnen Menschen verstanden wird (WA 3,287 f.). Mit dem Hinweis, daß die Buße das Geschehen der wahren Selbsterkenntnis des Menschen und damit die Entstehung des Sündenbewußtseins sei, ist freilich Luthers Bußverständnis noch nicht vollständig beschrieben. Luther geht davon aus, daß der Mensch in allen seinen Beziehungen immer auf sich selbst bezogen ist. Für sein Sündenverständnis besagt dies, daß die Erscheinungsform der Sünde gerade in dem Selbstbetrug des Menschen hinsichtlich seines eigenen Sünderseins besteht. Bereits in der ersten Psalmenvorlesung kann Luther diese widergöttliche Selbstbehauptung des Menschen als »incurvatio in seipsum« bezeichnen und mit der concupiscentia identifizieren (BoA 5,125). 24 Damit ist die spätmittelalterliche Unterscheidung von Erbsünde und Aktualsünde, welche die Grundlage des Bußsakraments bildet, von Luther aufgehoben. Aufgrund der unhintergehbaren Selbstbezogenheit des Menschen ist Luther der Meinung, daß die wahre Buße nicht, wie es das mittelalterliche Bußsakrament vorsieht, in der Reue bestehen kann. Diesen Umstand hat Luther vor Augen, wenn er in den 95 Thesen schreibt, daß keiner »der Aufrichtigkeit seiner Reue sicher sein« kann (WA 1, 234 = LDStA 2, 7). Denn was schützt das eigene, noch so ehrlich gemeinte Sündenbekenntnis davor, nichts anderes als eine besonders raffinierte und sublimierte Form von Hochmut zu sein? Aus diesem Grund löst Luther die Entstehung des Sündenbewußtseins sowohl von dem Bußsakrament als auch von dem intentionalen Handeln des Menschen und versteht es als ein Handeln Gottes am Menschen. Daß sich der Mensch als Sünder erkennt und sich als ein solcher bekennt, versteht Luther als ein Handeln Gottes am Menschen. Derjenige, der sich seines eigenen Sünderseins innewird und dies bekennt, der ist aber auch gerechtfertigt (Erste Psalmenvorlesung, 56):

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Vgl. Ulrich Barth: Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubensinns, bes. 273. A

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»Wer sich selbst richtet und die Sünde bekennt, erweist Gott als gerecht und wahr; denn er sagt von sich, was Gott von ihm sagt. Und so stimmt er mit Gott überein und ist wahrhaft und gerecht, wie Gott, mit dem er übereinstimmt. Denn beide sagen dasselbe. Gott aber spricht Wahres und Gerechtes: und er sagt dasselbe. Also ist auch er selbst mit Gott gerecht und wahrhaftig.«

Die Gerechtigkeit Gottes wird von Luther so verstanden, daß sie sich auf die Übereinstimmung des Menschen mit Gott, genauer mit seinem Wort bezieht. Sie gewinnt in dem Menschen Gestalt, wenn er sich als ein Nichts vor Gott erkennt, und genau darin ist er gerecht und wahrhaftig. Das Gericht und die Gnade Gottes sind also zwei Aspekte des Geschehens der vollständigen Selbsterkenntnis des Menschen. Glaube, so lassen sich die vorgetragenen Überlegungen zu Luthers Bußverständnis zusammenfassen, ist das unableitbare Geschehen, in dem sich der Mensch der Gebrochenheit seines reflexiven Bezugs auf sich selbst bewußt wird. Mit dem skizzierten Glaubensverständnis als dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in der Gebrochenheit seines Bezugs auf sich selbst und dessen theologischer Beschreibung durch den Gottesgedanken sind nun bereits die Grundlagen von Luthers Freiheitsverständnis benannt, wie er es in seinem Tractatus de libertate christiana von 1520 und seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam von 1525 ausgeführt hat. Wie bestimmt nun Luther auf der Grundlage seines Glaubensverständnisses den Freiheitsgedanken? Der Ausgangspunkt seiner Bestimmung des Freiheitsbegriffs ist der Begriff des Willens. Der Wille, so Luther in De servo arbitrio, sei das »Vermögen oder die Fähigkeit oder die Fertigkeit oder die Eignung zu wollen und nicht zu wollen, auszuwählen, zu verachten, zuzustimmen, zurückzuweisen und noch etwaige andere Tätigkeiten des Willens«. 25 Der Wille ist für Luther das Vermögen der Selbstbestimmung bzw. die Kraft und das Vermögen, sich zu einer Handlung zu bestimmen. Der so gefaßte menschliche Wille ist nun für Luther immer schon auf etwas bezogen und gerichtet und damit ein bestimmter Wille. Luther hat dies in De servo arbitrio durch das bekannte Reitergleichnis veranschaulicht, demzufolge der menschliche Wille wie ein Lasttier sei, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten werde, wobei es, wie Luther eigens hervorhebt, nicht in der Macht des menschlichen Willens liege, sich zu einem der beiden Reiter hinzube25

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DSA: WA 18,662 f.; vgl. auch WA 18,665.

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wegen. 26 Der gedankliche Gehalt dieses mythischen Bildes eines Kampfes von Satan und Gott um den menschlichen Willen liegt indes darin, daß Luther den Gedanken einer Indifferenzfreiheit, der zufolge die Selbstbestimmung unbestimmt ist und sich geradezu aus einer neutralen Position zu etwas bestimmt, ablehnt. Vielmehr ist der menschliche Wille nicht nur bereits ein bestimmter Wille, sondern er ist auch immer schon in Bewegung. Von diesem sich auslegenden und bestimmenden Willen sagt Luther, er sei unfrei (DSA; WA 18,636; LDStA 1,293). »Es steht also fest, sogar nach deinem [sc. des Erasmus] Zeugnis: Wir tun alles aus Notwendigkeit, nichts aus freiem Willensvermögen.« Luthers Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens ist nun sichtlich eine Konsequenz seines Glaubensverständnisses als dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in seinem Selbstbezug. Unfrei ist der menschliche Wille insofern, als er sich in seiner inneren Struktur nicht erfaßt hat. Ein solcher Wille ist jedoch an sich und seine Selbstbestimmung gebunden. Er muß sich zu etwas bestimmen. Dieses in der Selbstbestimmung des Willens liegende innere Moment der Notwendigkeit, welches sowohl von Zwang (DSA; WA 18,634; LDStA 1,289) als auch von allen äußeren Bedingungen unabhängig ist, hat Luther im Blick, wenn er von der Unfreiheit des menschlichen Willens spricht. 27 Sie bezieht sich allein auf die Nichtdurchsichtigkeit des Menschen im Vollzug seiner eigenen Selbstbestimmung. Die Kontingenz und Unableitbarkeit des Geschehens des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen hat Luther aufgenommen in seiner Bestimmung der »necessitate immutabilitatis«, 28 der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit des menschlichen Willens. Liegt die Unfreiheit des menschlichen Willens für Luther darin 26 DSA: WA 18,635 (LDStA 1,291): »So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt, wie ein Zugtier. Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wohin Gott will, wie der Psalm sagt […]. Wenn Satan darauf sitzt, will und geht es, wohin Satan will. Und es liegt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu behalten.« 27 Vgl. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, BoA 2, 11: »So ists offenbar / das keyn eußerlich ding mag yhn frey / noch frum machen / wie es mag ymmer genennet werden / denn seyn frumkeyt vñ freyheyt / widerumb seyn bößheyt vnd gefenckniß / seyn nit leyplich noch eußerlich.« 28 DSA: WA 18,634. Dazu Christian Danz: Die Notwendigkeit in der Freiheit. Zur Aufnahme von Luthers Freiheitsbegriff in Schellings Freiheitsschrift, bes. S. 80–85.

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beschlossen, daß sich der Mensch in der inneren Struktur seines Selbstbezugs nicht erfaßt hat, so besteht die wahre Freiheit des menschlichen Willens allein in einer sich selbst reflexiv gewordenen Selbstbestimmung. Diese liegt für Luther in dem Gottesverhältnis des Glaubens, also in dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in seiner Selbstbestimmung beschlossen (Von der Freiheit eines Christenmenschen, BoA 2, 15): »Das ist die Christlich freiheit / der eynige glaub / der do macht / nit das wir müßsig gahn oder übell thun mugen / sondern das wir keynis werks bedurffen zur frumkeyt vnd seligkeyt zu erlangen«.

Der Gottesbegriff Luthers ist nichts anderes als die Darstellung und die religiös-theologische Selbstbeschreibung der sich durchsichtig gewordenen endlichen Selbstbestimmung oder des Glaubens. Allein aus diesem Grund ist Luther der Meinung, daß Gott und Glaube zusammengehören. Die Tiefe von Luthers Gottesanschauung darf darin gesehen werden, daß er die beiden Momente des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen, das Gericht Gottes und die Gnade Gottes, so in den Gottesbegriff aufgenommen hat, daß sie zu einer förmlichen Antinomie zugespitzt werden, die sich allein in dem Geschehen des individuellen Glaubens auflöst. Der Gottesbegriff ist für Luther die religiöse Selbstbeschreibung des sich durchsichtig gewordenen endlichen Lebens.

3.

Kant über die Freiheit des menschlichen Willens und seine Selbstdeutung

Luther hatte das Thema der Willensfreiheit von den Vorgaben der antiken Ontologie, wie sie Augustinus noch selbstverständlich in Anspruch genommen hatte, abgelöst und in das Innere des Individuums verlagert. Die von ihm vorgetragene Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens im Gottesverhältnis stellte sich als eine Theorie einer endlichen Freiheit dar, welche das unableitbare Sich-Verständlich-Werden des Menschen in seinem reflexiven Bezug auf sich selbst mit dem Gottesgedanken verbindet. So sehr nun Luther den Gottesgedanken in das Innere des Subjekts verlagert, so sehr behält Luther doch mit der Heiligen Schrift eine quasi objektive Appellationsinstanz bei, welche die subjektive Sprengkraft seines Glaubensverständnisses noch im Zaum hält. Diese von Luther beibehaltenen Objektivitäten 204

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wurden jedoch in der Aufklärung durch die historische Kritik aufgelöst. Für die Bestimmung des Freiheitsbegriffs bedeutet dies, daß dessen Innenverlagerung noch weiter vorangetrieben wurde. Eine nicht unerhebliche Bedeutung in diesem Prozeß kommt Immanuel Kant zu, dessen Bestimmung des Freiheitsbegriffs als sittlicher Autonomie im folgenden in den Blick zu nehmen ist. Wie Kant am 21. September 1798 an Christian Garve schreibt, war es das Antinomienproblem, welches, wie er hier schreibt, ihn aus dem dogmatischen Schlummer der Vernunft erwachen ließ und zu dem Projekt einer Kritik der reinen Vernunft, wie sie von ihm 1781 vorgelegt wurde, motivierte (vgl. AA 12,256 ff.). Wie sehr die Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens auf den Freiheitsgedanken zielt, läßt bereits die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik erkennen. Die Unterscheidung von Dingen an sich und Erscheinungen ziele, wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik, sachlich übereinstimmend übrigens mit der Auflösung der Freiheitsantinomie, ausführt, auf die Denkbarkeit der Freiheit. 29 Kants in der Kritik der reinen Vernunft ausgeführter Nachweis der Denkbarkeit der Freiheit sowie die mit seiner Zweiquellentheorie der Erkenntnis verbundene Restriktion geltender Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung, so daß der Gottesgedanke aus dem Bereich möglicher Erkenntnisgegenstände nur herausfällt, mag im folgenden auf sich beruhen. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist eine Spannung in dessen Freiheitsverständnis. Die Thematisierung dieser Spannung erlaubt es uns dann auch, den Zusammenhang von sittlicher Autonomie und Religion in den Blick zu nehmen, wie er Kant vorschwebte. Für Kant fußt die Moral allein auf dem Menschen als einem freien Wesen. Aber die autonome Moral soll unumgänglich zur Religion führen. Diese interpretationsbedürftige Spannung in Kants Konzept der autonomen Moral findet sich prominent in der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift. Hier schreibt Kant (RGV B III = AA 6,3): 29 KrV B XXIX: »So aber, da ich zur Moral nichts weiter brauche, als daß Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche und sich also doch wenigstens denken lasse, ohne nöthig zu haben sie weiter einzusehen, daß sie also dem Naturmechanism eben derselben Handlung (in anderer Beziehung genommen) gar kein Hinderniß in den Weg lege: so behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht Statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte.«

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»Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« 30

Dieser vollständigen Unabhängigkeit der Moral von Religion und Gottesgedanke ungeachtet, endet der erste Abschnitt der Vorrede geradezu mit einer vollständigen Revision dieser Eingangsthese (RGV B IXf. = AA 6,6): »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.«

Wie ist mit dieser Spannung in Kants Konzeption der moralischen Vernunftautonomie umzugehen? Kants in der ›Analytik‹ der Kritik der praktischen Vernunft durchgeführte Grundlegung der Moral hat bekanntlich ihre Pointe darin, daß bei der Begründung der Moral von allen Zwecken und materialen Bestimmungsgründen des Willens zu abstrahieren sei. 31 Nur dann, wenn der Wille allein durch das Sittengesetz bestimmt ist, liegt eine moralische Willensbestimmung und Freiheit vor. Der Gehalt des Sittengesetzes als einem Gesetz der Vernunft liegt allein in der Form der Gesetzlichkeit und mithin in der Verallgemeinerbarkeit von Maximen (KpV A 113). In begründungstheoretischer Hinsicht fußt somit die Moral weder auf der Religion noch auf anderen Bestimmungsgründen, sondern sie gründet allein in der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft. Andernfalls wäre die Autonomie der Moral durch heteronome Bestimmungsgründe, die nicht allgemein bzw. verallgemeinerbar sein können, untergraben.

Vgl. Ulrich Barth: Die religiöse Selbstdeutung der praktischen Vernunft. Kants Grundlegung der Ehikotheologie. 31 Vgl. auch RGV B IV = AA 6,3 f.: »Denn da ihre Gesetze durch die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der darnach zu nehmenden Maximen, als oberster (selbst unbedingter) Bedingung aller Zwecke, verbinden: so bedarf sie überhaupt gar keines materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür, das ist | keines Zwecks, weder um, was Pflicht sei, zu erkennen, noch dazu, daß sie ausgeübt werde, anzutreiben: sondern sie kann gar wohl und soll, wenn es auf Pflicht ankommt, von allen Zwecken abstrahiren.« 30

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Endliche Freiheit

Mit der von Kant ausgeführten Begründung der Moral im Sittengesetz ist freilich dessen Moralphilosophie noch nicht vollständig beschrieben. Zur Moral gehört auch deren Realisierung. Kant hat diese Realisierungsdimension der Moral, also die Anwendung der reinen praktischen Vernunft auf das sinnlich endliche Vernunftwesen Mensch, in der ›Dialektik‹ der Kritik der praktischen Vernunft ausgearbeitet. Kant nimmt in der Dialektik die in der Analytik ausgeblendete Zweckbestimmung unter dem Titel »höchstes Gut« 32 wieder auf. Der Grund für diese Wiederaufnahme des Zweckgedankens ist darin zu sehen, daß der Mensch als sinnlich endliches Vernunftwesen niemals nur durch die reine Vernunft bestimmt, sondern jederzeit auch durch Neigungen affiziert ist. Die Ausblendung dieser Neigungs-Dimension, so sehr sie auch für die Begründung der Moral unabdingbar ist, im Kontext der Realisierung der Moral würde dazu führen, daß sich die Vernunftbestimmtheit des Willens und die Sinnlichkeit ethisch nicht mehr integrieren ließen. Mit der Einbeziehung der Neigungs-Dimension in die Moralphilosophie kommt jedoch auch die Zweckbezogenheit des Willens, von der in begründungstheoretischer Absicht abstrahiert wurde, wieder zur Geltung. Beide Dimensionen haben jedoch einen unterschiedlichen systematischen Status, und sie lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Auch die für Kants Moralphilosophie signifikante Spannung, von der wir ausgegangen sind, hat ihren Anhalt an dem unterschiedlichen systematischen Status von ›Analytik‹ und ›Dialektik‹. Die Religion kommt nämlich im Kontext der Kantischen Moralphilosophie allein im Hinblick auf die Anwendung der reinen praktischen Vernunft auf sinnlich endliche Vernunftwesen in Betracht. Denn nur endliche Vernunftwesen stehen vor dem Problem, die Sittlichkeit mit ihrer Neigungsaffiziertheit zu vermitteln. Der Schritt von der Moral zur Religion verdankt sich somit weder einem begründungstheoretischen Interesse noch einem begründungstheoretischen Defizit, welches durch die Religion wettgemacht werden müßte, sondern allein dem Anwendungsproblem der reinen praktischen Vernunft. 33 Vgl. KpV A 198 ff. Zu Kants Begriff des höchsten Guts siehe auch Klaus Düsing: Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie; Claus Dierksmeier: Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, 29 ff. 33 Bereits in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft weist Kant darauf hin, daß die »Ideen von Gott und Unsterblichkeit […] nicht Bedingungen des moralischen Ge32

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Kants Religionsphilosophie ist somit eine Theorie der Realisierung der Freiheit. Deshalb steht sie in einem engen systematischen Zusammenhang zur Geschichtsphilosophie. 34 In der Religion thematisiert das endliche Bewußtsein nicht die Konstitution der Freiheit, sondern deren fragile Realisierung. Religion ist also für Kant eine spezifische Form der Selbstdeutung der praktischen Vernunft. Der angedeutete systematische Kontext der Religion im Horizont der ›Dialektik‹ der Kritik der praktischen Vernunft hat gewichtige Konsequenzen für den systematischen Status der Postulate der praktischen Vernunft. Sowohl der Unsterblichkeits- wie auch der Gottesgedanke stellen Implikationen der Realisierung der reinen praktischen Vernunft dar. Mit dem Gottesgedanken deutet das sittliche Bewußtsein die in jedem sittlichen Handeln bereits in Anspruch genommene Beziehbarkeit von Sittlichkeit und Naturnotwendigkeit, die sich weder aus der Sittlichkeit noch aus der Naturnotwendigkeit ableiten läßt (KpV A 223 ff.). Der Gottesgedanke ist also für Kant die Form, in der das sinnlich-endliche Vernunftwesen Mensch die Verbindlichkeit des Sittengesetzes mit seiner sinnlichen Existenzform aufeinander bezieht. Religion ist daher für Kant die Form, unter der das jederzeit sinnlich affizierte endliche Vernunftwesen Mensch nicht nur seine sittliche Pflicht repräsentiert, sondern sich auch deren fortschreitender Realisierung vergewissert. Blickt man von diesem Resultat auf den Gang unserer Überlegungen zurück, dann zeigt sich, daß in der Entwicklungsgeschichte des Freiheitsgedankens von Augustinus über Luther zu Kant sowohl der Freiheits- als auch der Gottesgedanke zunehmend in die Innerlichkeit und Reflexivität des menschlichen Selbstverhältnisses verlagert wird. Der Abbau des platonisch-kosmologischen Explikationsrahmens von Freiheits- und Gottesbegriff ist indes nicht als Verlust zu bewerten. Vielmehr ist zu sagen, daß dadurch erst der genuine Sinn von Religion sichtbar wurde.

setzes« seien, »sondern nur Bedingungen des notwendigen Objekts eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens, d. i. des bloß praktischen Gebrauchs unserer reinen Vernunft« (vgl. KpV A 5 f.); vgl. auch A 232. 34 Vgl. Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte; vgl. Claus Dierksmeier: Das Noumenon Religion, 142 ff.

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›Natura pura‹ im Übergang von Francisco Suárez zu Cornelis Jansen Giovanna D’Aniello (Bari)

Der Naturbegriff hatte im 16.–17. Jahrhundert eine gewisse Doppelsinnigkeit: seine ›schwebende Zuordnung‹ zur Gnade ist aber verloren gegangen, wie Hans-Urs von Balthasar einmal erklärt hat. 1 Von den Katholiken sei er zwar ›eindeutig undifferenziert‹ verstanden worden, 2 während die Reformierten ihn ›dialektisch‹ gefaßt hätten. Dadurch habe der Zusammenhang von Natur und Gnade etwa bei Bajus eine ›juristisch-zwingende‹ Kontur gewonnen. In dieser Zeit sind Aristotelisch-Thomistische und Augustinische Motive aufeinandergestoßen: 3 Der neuentdeckte Aristoteles lehrt die Theologen, daß jede Natur ihr Ziel in sich habe und es selbst erreichen solle; Augustinus lehrt sie in einem heilsgeschichtlichen Aufriß, daß dem Menschen die seligmachende Schau Gottes als letztes Ziel gesetzt sei. Anders ausgedrückt: die Aristotelisch geprägten Systeme suchen ein der Natur immanentes Ziel, mithin natürliche Gotteserkenntnis; die Augustinisch geprägten Systeme hingegen sehen die Natur über ihren Horizont hinaus auf etwas Übernatürliches verwiesen. Die Zielvorstellungen überschneiden sich im Verständnis der supra- und post-lapsarischen Natur: Zwar ist der erste Mensch unmittelbar auf Gott bezogen; zu fragen ist aber, ob seine Anlage auf Natürliches oder auf Übernatürliches zielt, ob die erbsündliche Verfaßtheit privativ (mit der impliziten Ablehnung der Idee einer qualitas morbida) oder positiv (qualitas vitiosa) zu verstehen ist. Cornelis Jansen hat in der Löwener theologischen Tradition großes Gewicht: im Blick auf den Naturbegriff, die Gnadenlehre und das Beharren auf der positiven Theologie gegenüber der spekulativ-scholaHans-Urs von Balthasar: Der Naturbegriff in der katholischen Theologie. Das Risiko eines ›Univozismus‹ bei den Kontroverstheologen betont auch Jan Hendrik Walgrave: L’Augustinus de Jansénius. 3 Eduard Stakemeier: Der Kampf um Augustin auf dem Tridentinum. 1 2

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stischen Theologie oder die Radikalisierung des Augustinismus. Nach intensiver Augustinus-Lektüre 4 schrieb Jansen sein Werk Augustinus, seu doctrina Augustini de humanae naturae sanitate, aegritudine, et medicina, adv. Pelagianos et Massilienses, mit dem er die Wiedereröffnung der congregationes de auxiliis anstrebt, die Paul V. geschlossen hatte (mit dem Verbot der Diskussion um Gnadenhilfen). Dem ersten Band (Historia de haeresi pelagiana) folgt der zweite Band über die Zustände der menschlichen Natur; dieser beginnt mit einer systematischen Widerlegung der Hypothese der reinen Natur, 5 wobei Jansen die Polemik gegen Pelagius in Bezug zur Gegenwart setzt: die Pelagianer bzw. Semi-Pelagianer sind nach Jansen ›Architekten der reinen Natur‹ und die Jesuiten der Spätscholastik sind die Pelagianer und Semi-Pelagianer ihrer Zeit. Die Untersuchung der Kritik der scholastischen Hypothese der natura pura eröffnet einen erhellenden Blickwinkel, um Jansens Auffassung der Natur als der Gnade bedürftig zu verstehen. Unter natura pura versteht man die Natur des außerhalb der Gnadenökonomie stehenden Menschen. 6 Nach Juan Alfaro ist die natura pura »eine reine Möglichkeit, die aber logisch notwendig gedacht werden muß, will man die wirkliche Ungeschuldetheit der Gnade und der Anschauung Gottes voll ausdrücken« (LThK2 7,809). Als bloßes »instrument de travail, une sorte de conception critère« ist die natura pura 4 Jansen las zehnmal das Gesamtwerk Augustins, dreißigmal die Opera contra Pelagianos (Löwen 1555). 5 Löwen 1640; vgl. dazu José Maria Mejía: La hipotesis de la naturaleza pura y sus adversarios en los siglos XVI al XVIII; Léon Renwart: Augustiniens du XVIIIe siècle et ›nature pure‹ ; Robert J. Teske: Augustine, Jansenius, and the State of Pure Nature. 6 Als solcher ist er weder zur Adoptivsohnschaft erhoben noch zur Anschauung Gottes bestimmt. Dieser Fachbegriff der katholischen Theologie wurzelt in der von Thomas von Aquin eingeführten Lehre vom duplex ordo; erst die spätmittelalterlichen Kommentatoren vollziehen eine klare Trennung und betrachten den ordo supernaturalis als ordo superadditus naturalibus, als Ordnung, die sich radikal vom Natürlichen differenziert und sich ihm als Hinzugefügtes entgegensetzt. Vgl. Petrus Lombardus (II Lib. Sent., d.XXV,8): »Per illud namque peccatum naturalia bona in nomine corrupta sunt, et gratuita detracta. Hic est enim ille qui a latronibus vulneratus est et spoliatus: vulneratus quidem in naturalibus bonis, quibus non est privatus: alioquin non posset fieri reparatio; spoliatus vero gratuitis, quae per gratiam naturalibus addita fuerant.« Thomas von Aquin (S.th. I-II, 85, 1c): »Oportet autem quod ex hoc quod aliquid inclinatur ad unum contrariorum, diminuatur inclinatio eius ad aliud. Unde cum peccatum sit contrarium virtuti, ex hoc ipso quod homo peccat, diminunuitur bonum naturae, quod est inclinatio ad virtutem.« Zur Vor- und Nachgeschichte dieses Begriffs Vgl. Revue Thomiste: 101 (2001): Surnaturel. Une controverse au cœur du thomisme au XXe siècle.

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›Natura pura‹ im Übergang von Francisco Suárez zu Cornelis Jansen

von der natura elevata zu unterscheiden,7 von der integritas (der Immunität gegenüber der Begehrlichkeit, dem Tode, dem Leiden), und letztlich von der natura lapsa (die dem Tode unterworfen ist, d. h. innerlich unverletzt, aber unfähig zum Guten und der Gnade bedürftig). Nach der üblichen Geschichtsschreibung ist die natura pura mit der Kontroverstheologie eng verbunden, vor allem mit den Gestalten Bellarmin und Cajetan: die Möglichkeit einer reinen Natur sei im Rahmen von Bellarmins Refutatio Baii zum ersten Mal ausgedacht worden, 8 um die Gratuität und Transzendenz des Übernatürlichen zu sichern. 9 Es wurde jedoch nachgewiesen, 10 daß die Hypothese der ›reinen Natur‹ nicht von Bellarmins Reaktion gegen Bajus stammt, sondern in der Löwener Schule schon vorhanden war und eng mit einem ›radikalen‹ Augustinismus verbunden ist. 11 Joannes Driedo (1480–1535) und Ruard Tapper (1487–1559) beriefen sich zwar auf die Autorität Augustins, 12 um die Theologie des Erasmus zu bekämpfen: ihr anti-erasmiaFrançois-Xavier Jansen: Baius et le Baianisme, 28. Vgl. Robert Bellarmin: Sententiae D. Michaelis Baii Doctoris Lovaniensis a duobus Pontificibus damnate et a Roberto Bellarmino refutatae. Dazu vgl. Henri de Lubac: Augustinisme et théologie moderne, 194–199. Alfred Kaiser: Natur und Gnade im Urstand. Eine Untersuchung der Kontroverse zwischen Michael Bajus und Johannes Martínez de Ripalda; Alfred Vanneste: Nature et grâce dans la théologie de Baïus; Gustavo Galeota: Genesi, sviluppo e fortuna delle controversie; Edmond J. M. van Eijl: La controverse louvaniste autour de la grâce et du libre arbitre à la fin du XVIe siècle. 9 Es geht ursprünglich um den philosophischen Versuch, einen Oberbegriff zu prägen, in dem beide Stände (Urstand und Fall) enthalten sein können; denn aber wird der rein konzeptuelle Modell zu einem dritten Stand. Die Diskussion kreist meistens um die Auslegung einer Textstelle von De lib. arb. 3,56 (weiterhin: retr. 1,9,6, wo Augustin sagt: »quamvis ignorantia et difficultas, etiamsi essent hominis primordia naturalia; nec sic culpandus, sed laudandus esset Deus«). Vgl. Yves De Montcheuil: L’hypothèse de l’état originel d’ignorance et de difficulté d’apres le ›De libero arbitrio‹ de saint Augustin. George Patrick Dwyer: St. Augustine and the possibility of a state of pure nature. A study of the Opus Imperfectum contra Julianum. 10 Zuerst von Pieter Smulders: De oorsprong van de theorie der zuivere natuur. Vergeten meesters der Leuvense School; Karim Schelkens; Marcel Gielis: From Driedo to Bellarmine. The Concept of Pure Nature in the 16th Century: dann von Marcel Gielis: Leuven theologians as opponents of Erasmus and of humanistic theology. Ders.: L’augustinisme anti-érasmien des premiers controversistes de Louvain. Jacques Latomus et Jean Driedo. 11 So Jansen schon im Liber Proœmialis des 2. Bandes des Augustinus (t. II, Lib. Proœm., c. 3, col. 6): »Quid statum purae naturae formavit, ornavit, instruxit, nisi Aristotelica Philosophia, quam etjam Gentiles quidam majori sentiendi sanitate damnarunt?«. 12 Vgl. z. B. Ruard Tapper: Explicationes articulorum Fac. theol. Lovaniensis, l. II, art. 11, 164: »Nam homo in puris naturalibus consistens cum solis proprietatibus ex natura 7 8

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nischer Augustinismus trug dazu bei, der Löwener Theologie entscheidende antischolastische Züge zu verleihen. Mit seinem Traktat über die Gnade (De gratia) arbeitet Driedo an der Quelle der neuzeitlichen Problemstellung des Natur-Gnade-Verhältnisses, in dem er behauptet, daß die christliche Theologie Augustins und die Moralphilosophie des Aristoteles und der Scholastik einander widersprechen: in diesem Sinne hätte Driedo Bajus beeinflußt, denn bei Bajus seien Augustinismus und Scholastik einander entgegengesetzt. Außerdem ist bei Driedo der erste Entwurf des Begriffs natura pura vorzufinden. Der folgende Beitrag verfolgt nicht das Ziel, Entstehungsgeschichte und Nachgeschichte dieses Begriffs nachzuzeichnen, 13 sondern seinen theoretischen Anspruch und seine Tragweite zu verstehen, wie sie sich in der synthetischen Sicht des Suárez’ finden, um danach die Auffassung Jansens durch seine Kritik der reinen Natur hindurch zu fokussieren: denn sie öffnet einen Ausblick auf einige entscheidende Aspekte seines Denkens. In seinem Augustinus weist Jansen allerdings auf die Löwener Schule gar nicht hin, nicht einmal in seiner weitreichenden Widerlegung der ›reinen Natur‹ : er bezieht sich vielmehr auf die Formulierung der Barockphilosophie der Jesuiten, in der diese Hypothese zu ihrer Reife gelangt war.

1.

Der Mensch ›in puris naturalibus‹ bei Francisco Suárez

Die Hypothese einer natura pura wird irgendwie gegen das biblische Bild eines zur seligmachenden Schau Gottes bestimmten Menschen (1 Joh 3,2) entwickelt. Ihre Anhänger erheben den Anspruch, die Schöpfung von der Adoptivsohnschaft zu unterscheiden, als ob der Mensch für eine gewisse Zeit vor dem zweiten Eingreifen Gottes ohne Schuld und ohne Gnade (absque culpa et gratia) bliebe. Es ist interessant, eine Behauptung von Domingo de Soto (1495–1560), Theologie-Professor in Salamanca, aufzugreifen, der sein Werk De natura fluentibus, sine consortio naturae divinae, qualem secundum Augustinum Retract. I c. 9 Deus creare potest, non aliter differt ab homine […] in peccato originali, nisi homo vestibus exutus et a latronibus spoliatus, ab eo qui natus est nudus.« 13 Für einen Blick auf die theologische Diskussion um die reine Natur in ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert, vgl. den wesentlichen Beitrag von Alfred Vanneste: La théologie du surnaturel dans les écrits de Henri de Lubac. Vgl. auch Léon Renwart: La ›nature pure‹ à la lumière de l’encyclique Humani Generis.

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›Natura pura‹ im Übergang von Francisco Suárez zu Cornelis Jansen

et gratia 1547 veröffentlicht hat (sofort nach der 6. Sitzung des Konzils von Trient), wobei er sich an den Titel des antipelagianischen Werks Augustins par excellence anlehnt und sagt (De nat. et gratia, l.I, praefatio, p. 2): »Sane ut hominem in puris naturalibus mente excogitatum, in originali iustitia revera conditum, in culpam inde collapsum, ac denique in gratiam postea restitutum depingerem.« Dieses Werk hat drei Teile, von denen der erste der Erbsünde und ihren Folgen gewidmet ist: in der eben erwähnten Aussage unterscheidet Soto den fiktiven Zustand der natura pura von den anderen drei realen Zuständen, um entgegen dem Lutherischen Pessimismus eine positive Auffassung der menschlichen Natur zu rehabilitieren (l.I, c. 3, p. 6): »in mera natura sua creatus […] utpote rationale animal, absque culpa et gratia, et quovis supernaturali dono.« Die Möglichkeit der natürlichen Tugenden erwägend, stellt Soto die Frage (l.I, c. 4, p. 8): »quaenam officia homo in puris naturalibus prestare possit«, oder anders gesagt: »si auxilio esset gratiae destitutus«. Gleichzeitig geht Soto davon aus, daß der Mensch in puris naturalibus eher einer philosophischen als einer biblischen Betrachtungsweise entspricht: »nihil vel in sacra pagina, vel apud S. Patres scriptum [est]«. Die Zielsetzung Sotos ist eindeutig: er benutzt den Begriff der ›natura pura‹ gegen Luthers Lehre einer radikalen Verderbtheit. Dabei stützt er sich auf den Begriff des concursus Dei generalis (einen Begriff Augustinischer Herkunft), dem er jedoch das Adjektiv ›debitus‹ hinzufügt (De natura et gratia, l.I, c. 2, p. 4). Denn nach Soto ist die universalis providentia der Natur irgendwie ›geschuldet‹ (›quasi […] naturae debita‹). Soto zieht aber eine Konsequenz, die nicht mehr als ›Augustinisch‹ zu betrachten ist: daß der concursus Dei generalis den Naturursachen zu entsprechen scheint, impliziert nämlich nicht, daß er geschuldet ist. Diese Hypothese entsteht im Zuge der Einführung des Aristotelischen ›Urbewegers‹ in die Gnadenökonomie und der scholastischen Unterscheidung zwischen ›influentia generalis et specialis‹; 14 noch wichtiger scheint die Unterscheidung eines doppelten Zieles des Menschen: 15 Gegenstand des natürlichen Verlangens nur natürliche

Dazu vgl. Jacob Schmutz: La doctrine médiévale des causes et la théologie de la nature pure. 15 Vgl. auch Jacques de Blic: Quelques vieux textes sur la notion d’ordre surnaturel; Ders.: Échange de vues: à propos de la conception médiévale de l’ordre surnaturel. Nach de Blic wäre die Lehre der reinen Natur schon im 13. Jh. vorhanden. 14

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Glückseligkeit sein. 16 Findet bei Soto eine Vorwegnahme des natura– pura-Begriffs statt, ist bei Suárez seine erste systematische Verwendung zu finden – und zwar nicht nur gelegentlich, sondern in bewußt theoretischer Intention: war für Soto die universalis providentia noch ›quasi debita‹, so ist sie bei Suárez ›naturaliter debita‹ (De gratia Dei, Proleg. 4, cap. 1,3). Was verbirgt sich hinter dieser Akzentverschiebung? Ein Verzicht auf das natürliche Verlangen nach Gott, aufgrund einer Reduktion des menschlichen Vermögens auf das, was mit eigenen Kräften zu erlangen ist? Nach Hans Boersma 17 führt Suárez das Prinzip (aristotelischer Herkunft) einer ›Connaturalität‹ ein, welche sozusagen das Differential zwischen dem Verlangen und dem letzten Ziel beinahe aufhebt; dadurch ist mitgemeint, daß der Mensch kein natürliches Verlangen nach seliger Gottesschau besitzt: »[…] sed appetitus naturalis fundatur in naturali capacitate, et non tendit nisi in rem aliquo modo naturae possibilem, quia appetitus naturalis est naturae consentaneus: ergo beatitudo, quae est objectum hujus appetitus, est res possibilis homini cujus ipse est capax natura sua.« 18

Eine ganz interessante Entwicklung dieser Hypothese ist im Traktat De legibus zu finden. 19 In seiner Betrachtung über das Gesetz stellt Suárez fest, daß eine lex naturalis nicht bloß vom übernatürlichen Gesetz zu unterscheiden sei, sondern von allem, was ›frei‹ ist; wobei bemerkenswert ist, daß Suárez das Gesetz mit dem Willen in Verbindung bringt: das Naturgesetz ist nämlich das, was keine Freiheit impliziert, kein historisches Geschehen; es ist etwas Reines, ein rein rationales Gefüge

Ganz anders war das Verständnis Augustins, der die Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Freiheit in De gratia et libero arbitrio 20,41 nach einem biblischen Modell stellt. Augustinus benutzt den Begriff natura viciata in seiner Auseinandersetzung mit den Manichäern, um die Frage nach dem Ursprung des Bösen zu beantworten: gutes Handeln ist zugleich die Frucht unseres Strebens und der Gnadenhilfe. Denn die Gnade ersetzt in keiner Weise unsere persönliche Freiheit, sondern ermöglicht ihr, frei zu handeln: Gott schenkt dem freien Willen das posse, und zugleich das velle und das perficere (vgl. Phil 2,13). Vgl. dazu Augustinus: De gratia Christi et de peccato originali, I,5. 17 Hans Boersma: Nouvelle Théologie & Sacramental Ontology. A return to Mystery, bes. 90–97, 117–121. 18 Francisco Suárez: De ultimo fine hominis, tract. I, disp. 4, sect. 2, n. 5; t. 4,42. 19 Vgl. Francisco Suárez: Tractatus de legibus ac Deo legislatore, in decem libros distributus, utriusque fori hominibus non minus utilis, quam necessarius (1612), tt. 5–6 [hier DL]. 16

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›Natura pura‹ im Übergang von Francisco Suárez zu Cornelis Jansen

– wenn nicht sogar ein Wille ohne Freiheit. Suárez unterscheidet nämlich zwischen natürlich und frei in Bezug auf das Gesetz. 20 Von hier aus beschreibt er den Menschen unter einem doppelten Gesichtspunkt (»secundum duplicem naturam et duplex rationis lumen«): einerseits »secundum puram naturam, seu substantiam animae rationalis, et consequenter secundum rationis lumen illi connaturale«; andererseits »juxta naturam gratiae desuper homini infusae, et secundum divinum, ac supernaturale lumen fidei, per quod pro statu viae regitur et gubernatur« (DL I.3.12). Somit wird eine weitere Unterscheidung innerhalb des Naturgesetzes eingeführt: einerseits ist es für den Menschen pure naturale, andererseits ist es für ihn simpliciter supernaturale, und dennoch aus Gnade natürlich (juxta naturam gratiae). Beide Aspekte des Gesetzes sind göttlichen Ursprungs: der erste mittels der Natur, der zweite durch die eingegossene Gnade. Dadurch lassen sich letztendlich eine reine Natur von einer reinen Gnade unterscheiden. Aber erst im Traktat De Gratia Dei seu de Deo salvatore – gehalten am Collegium Romanum in den 80er Jahren und in Coimbra in den 90er Jahren – wird ein weiterer Beleg dafür geliefert. Hier finden sich die wohlbekannten, kanonisch gewordenen Textstellen über die Möglichkeit der reinen Natur: unter den sechs Prolegomena zum Werk ist das vierte den Zuständen menschlicher Natur gewidmet (und trägt den Titel De statibus humanae naturae). Schon im ersten Kapitel stellt er die Frage: »An possit homo in statu purae naturae creari, in ordine ad finem supernaturalem?« 21 Er fragt sich zuerst, ob die Gnade für gute Handlungen notwendig sei, bzw. ›ad naturalia‹ und ›ad opera supernaturalia‹. Vor allem im I. Buch strebt er danach, zu bestimmen, wieweit der Mensch von sich aus zu moralisch Gutem fähig ist – sogar in einem post-lapsarischen Zustand – »sine auxilio speciali gratiae«, und zwar lediglich von einem »concursus naturalis humanae naturae debitus« unterstützt. 22 DL I.3.11: »Est enim advertendum philosophos non agnovisse supernaturalem hominum finem, sed solum de hujus vitae aliquali felicitate, vel potius convenienti statu, ad illam in pace et justitia transigendam, tractasse, et in ordine ad hunc finem de legibus considerasse, et ita naturalem legem solum ab humana, quas nos civilem appellare possumus, distinxisse.« 21 Francisco Suárez: De Gratia Dei seu de Deo salvatore (Opera omnia, t. 7, Proleg. 4, c. 1, n. 1). 22 De Gratia Dei, l.I, c. 8: »Utrum interna gratia specialis, praeter concursum naturalem humanae naturae debitum, sit necessaria simpliciter homini lapso ad operandum.« 20

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Unter den verschiedenen Zuständen der menschlichen Natur (dem status viae et status patriae oder dem status naturae integrae et status naturae lapsae) ist der status purae naturae nicht nur einer unter anderen, sondern den anderen logisch vorangestellt: in jedem anderen Zustand ist die Gnade vorhanden, im Gegensatz zum Zustand reiner Natur. Im Anschluß an »Cajetan et moderniores theologi« erklärt Suárez, daß dieser Zustand de facto zwar nicht existiert, aber doch de jure zu bestimmen sei. 23 Die natura pura könne entweder positiv (in ihrer wesentlichen Vollkommenheit) oder negativ (ohne Hinzugefügtes und ihm Nicht-Geschuldetes) verstanden werden (De gratia Dei, Proleg. 4, c. 1, n. 3): »Status ergo purae naturae duo includit et requirit: alterum positivum, nimirum, ut in eo habeat natura humana cum perfectione essentiali omnes naturales facultates et concursum ac providentiam Dei sibi naturaliter debitam; alterum negativum, ut, videlicet, nihil habeat naturae superadditum, ei non debitum, sive malum, sive bonum, hoc est, ut nec peccatum habeat, nec, quod est consequens, reatum poenae, neque etiam affecta sit aliquibus gratiae donis, aut perfectionibus naturae non debitis.«

Suárez stellt die theologische Einsicht der sacra doctrina nie in Frage; aber zugleich durchläuft er einen Regressus in die Dimension de jure: er muß die Dimension de facto aufheben, um die Ungeschuldetheit schlechthin zu rechtfertigen (De Gratia Dei, Proleg. 4, c. 1, n. 11): »Ex his principiis ulterius sequitur, sicut cœlestis beatitudo est supernaturalis, ita ordinari hominem ad illam consequendam, non esse ex naturae debito, sed ex gratuita dilectione et voluntate Dei.« Ebd. n. 13: »[…] dicendum est primo, de facto nullam creaturam intellectualem fuisse aut existisse unquam in puris naturalibus conditam, cum solo ordinem ad connaturalem finem, imo neque esse posse secundum legem ordinariam a Deo statutam.« Ebd. n. 16: »Secundo dicendum est potuisse Deum creare hominem in puris naturalibus respectu finis ultimis, non immutando naturam ejus vel aliquid ei naturaliter debitum negando.«

Theoretisch hätte Gott den Menschen auf eine bloß natürliche Glückseligkeit hin erschaffen können, ohne damit seine Größe zu schmälern: De Gratia Dei, Proleg. 4, c. 1, n. 2: »[…] licet de facto non fuerit, ut suppono, et infra juxta sanam doctrinam ostendam, cogitari tamen potest ut possibilis, et illius consideratio ad aliorum intelligentiam necessaria est, quia revere hic status est veluti aliorum fundamentum; ideoque de illo in primis dicendum est; postea vero de aliis duobus, et de variis membris in quae subdividi possunt, disseremus.«

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dann wäre die Erschaffung in puris naturalibus nichtwidersprüchlich: denn der Mensch bräuchte nicht auf ein übernatürliches Ziel hingeordnet zu sein; »quia naturalis sufficit«; wenn Gott aber wollte (si velit), könnte er der capacitas naturalis eine ›capacitas obœdentialis‹ hinzufügen (De Gratia Dei, Proleg. 4, c.1, n. 17). Im Menschen ist deswegen kein appetitus naturalis vorhanden, weil er keinerlei potentia activa oder passiva naturalis besitzt, welche ihn zu einer clara visio Dei führte: dennoch ist in ihm eine ›potentia neutra‹ vorhanden. 24 Selbst der »status naturae integrae« – welcher im Unterschied zum Zustand der Gnade keine »habitudinem ad Deum, ut supernaturalem finem« besitzt – fordert nicht durch sich selbst eine solche ›habitudo‹ : »per se non postulat talem habitudinem, nedum intrinsecam proportionem: ergo non requirit statum gratiae«. Die Hypothese der natura pura hat letztlich eine mehrfache Zielsetzung: auf einer ontologischen sowie erkenntnistheoretischen Ebene dient sie dazu, eine bloß noetische Möglichkeit zu begründen, im Sinne einer Nicht-Widersprechlichkeit oder minimaler Denkbedingung; auf einer metaphysischen Ebene dient sie dazu, zwei unterschiedliche Ordnungen zu betrachten, wobei die reine Natürlichkeit die Ungeschuldetheit der Gnade voraussetzt und sichert – denn gerade von der ungeschuldeten Gnade ausgehend, solle man die natura pura wenigstens als permanente Möglichkeit eines Mangels an elevatio des Menschen auf die übernatürliche Ordnung durch den Geist Gottes annehmen; auf einer moralischen Ebene dient sie schließlich dazu, die Eigenständigkeit der Freiheit zu begründen und mithin der Möglichkeit einer natürlichen Glückseligkeit Raum zu geben. Diese Akzentverschiebung ruht auf dem aus Aristotelischer Herkunft verstandenen Begriff der Konnaturalität, der die Unterscheidung zwischen dem Verlangen und dem letzten Ziel auf Kosten der ›Kongenialität‹ gleichsam aufhebt.

24 De Gratia Dei, Proleg. 4, c. 1, n. 21: »Non datur visionis beatae naturalis appetitus. Respondeo igitur non dari in homine talem appetitum naturalem innatum, seu pondus naturae«; »ratio a priori est, quia in homine non est potentia activa nec passiva naturalis ad visionem ipsam beatam, neque ad gratiam, respectu cujus illa visio est finis connaturalis; appetitus autem naturalis sequitur ex potentia naturali, nam obedientialis non sufficit, est enim quasi potentia neutra.«

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Jansens Augustinisch gefärbte Metaphysik der Liebe

2.1 Pars destruens. Die Widerlegung der Hypothese der reinen Natur Jansen nimmt die zweite Bedeutung des Begriffs natura pura auf, nämlich die negative: den Scholastikern bzw. Neupelagianern zufolge ist der Mensch der reinen Natur wie ein Nackter vom Entkleideten (sicut nudus a spoliato) von dem der gefallenen Natur zu unterscheiden; damit verhält sich die reine Natur wie eine Negation (instar negationis), die gefallene Natur dagegen wie eine Privation (instar privationis). 25 Jansens Widerlegung der reinen Natur im II. Band des Augustinus verläuft in mehreren Argumentationsgängen, von denen der erste seine anthropologische Fragestellung am deutlichsten darstellt. Er behauptet hier, daß der Mensch seit seiner Erschaffung auf Gott hingeordnet sei, d. h. daß es einen »ordo ad Deum ut principium et finem« gebe, der dennoch »sine ejus amore« nicht möglich wäre: denn der ordo ad Deum könnte eigentlich auch als ordo amoris gekennzeichnet werden. 26 Die erste Argumentationsreihe ruht auf der ratio finis ultimi. Ein Vernunftwesen im Zustand reiner Natur könne nicht erschaffen werden, weil es das letzte Ziel connaturaliter erblicke, weil es entweder nach dem Ziel verlange oder es genieße (sive ut appetendum sive ut fruendum). Daraus folgt ein doppeltes Verfahren, das eine ex parte appetitus, das andere ex parte fruitionis [ejus]. 27 Die Seele sei in der natürlichen Ordnung Gott als Grund und Ziel durchs Naturgesetz unterworfen (und auch dem ihr vorgesetzten Geschaffenen); allein in reiner Liebe könne sie an Gott hängen und ihm untergeben sein; nur dadurch, daß sie an ihm hänge, reiche sie über die anderen Geschöpfe 25 Aug., t. II, np l.I, c. 1, col. 679: »Regula quippe solemnis eorum est naturam puram a natura lapsa discrepare, sicut nudus a spoliato: qui non aliter differunt, nisi quod hic amiserit quod alter nondum habuit: ut proinde pura natura se habeat instar negationis, lapsa instar privationis.« 26 Schon in der methodologischen Prämisse zum II. Band des Augustinus wird die ratiocinatio der charitas entgegengesetzt: die theologische Wissenschaft enthält Geheimnisse, die vom Gedächtnis wiederzukauen sind, nicht vom Verstand zu begreifen (vgl. Aug., t. II (liber prooemialis)). 27 Vgl. Aug., t. II, np l.I, c. 2, col. 686: »[…] declarabimus primo non posse naturam rationalem in purae naturae statu, juxta sancti Augustini mentem institui ex ratione ultimi finis, quem connaturaliter respicit, sive ut appetendum sive ut fruendum. Unde duplex argumentum nascitur, unum ex parte appetitus, sive dilectionis ultimi finis, alterum ex ratione fruitionis ejus.«

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hinaus, nicht an ihnen hänge sie in Liebe; vielmehr gebrauche sie diese Dinge in der Liebe zu Gott und gehe durch sie über sie hinaus (Aug., t. II, np l.I, c. 3, col. 690): »Ordo autem naturalis hoc habet, ut sicut animus rationalis summo Deo velut principio & fini suo naturae lege subjectus est ceterisque praepositis creaturis; ita illi soli casto amore inhaereat & subdatur, eique soli inhaerendo ceteris omnibus supervolitet, non eis inhaereat diligendo, sed Deum diligens per ea transeat utendo«.

Die Tragweite dieser Aussage wird sich erst im Laufe des Werkes erhellen: hier legt Jansen die Hauptargumentationen zugrunde, die er im ganzen Werk entwickelt. Allererst weist er auf die ›reine‹ Liebe als Fluchtpunkt hin, wobei er herausstellt, daß die ›casta dilectio‹ immer nur Wirkung der Gnade Gottes ist. Denn das Ideal der Reinheit könne keineswegs – wie die Scholastiker meinten – eine Frucht der Kräfte reiner Natur (viribus purae naturae) sein. Diese höchste Liebe ist der Oberbegriff, der sich in amor veritatis, amor justitiae, usw. unterteilt. Um die scholastische Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Liebe zu widerlegen, und mithin die Idee der Erhöhung des Geschöpfes in einen übernatürlichen Zustand, führt Jansen als Argument an, daß sie sowohl der Schrift als auch den Vätern fremd ist: nach Augustinus gelte, »amorem illum creatoris, sine quo creatura rationalis institui nequit, non posse in creatura fieri sine vera & proprie dicta gratia Dei« (Aug., t. II, np l. I, c. 3, col. 692). Er konzentriert sich zunächst auf die Liebe zur Gerechtigkeit, die einen Sonderfall darstelle: jene Liebe sei nichts anderes als die in unsere Herzen durch den Geist eingegossene Liebe. 28 Zur Begründung verweist er auf die Werke der Ungläubigen, die er in den Büchern über die gefallene Natur weiter erörtern wird, und auf die Aussage des Hebräerbriefs (11,5): »sine fide est impossibile placere Deo.« Die Liebe zur Gerechtigkeit könne sich e contrario nur als condelectatio legis Dei seu justitiae ejus ergeben (ebd. col. 699): »Qui amor justitiae cum non sit aliud quam delectatio qua quis condelectatur legi Dei seu justitiae ejus.« Jansen wirft den recentiores vor, die Liebe zur Gerechtigkeit mit der Liebe zur moralischen Tugend oder zum Gesetz zu verwechseln; 29 sie hätten einerseits die Ebd. c. 5, col. 698: »[…] dilectionem illam, qua voluntas diligit ipsam justitiam praecepti & ex illa dilectione justitiae aliquod bonum opus facit, non esse aliud nisi charitatem illam quam diffundit in cordibus nostris vera gratia Spiritus sanctus qui datus.« 29 Aug., t. II, np l.I, c. 6, col. 709: »Recentiores quidam Scriptores cum animadverterent 28

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Gerechtigkeit als eine moralische Affektion der Seele betrachtet, andererseits die Liebe zur Gerechtigkeit dem Streben nach der Tugend um ihrer selbst willen gleichgestellt. Weiterhin reduzierten sie Wahrheit zu bloßer Nichtwidersprüchlichkeit, zur Kongruenz zwischen Zeichen und Dingen: das hätte zur Folge, daß Worte wie ›Gerechtigkeit‹ oder ›Reinheit‹ nur Affektionen der Seele bezeichneten, so daß Liebe zur Gerechtigkeit mit dem bloßen ›Glanz der Sittsamkeit oder Ehrlichkeit‹ (splendorem honestatis) verwechselt würden. 30 Bei genauerer Betrachtung seien Gerechtigkeit, Reinheit, Richtigkeit, Güte usw., zu liebende Gesetze, keine dem Geist per modum accidentium innewohnenden Affekte, sondern gehörten wesentlich zu Gerechtigkeit, Reinheit, Richtigkeit, Güte usw. 31 Als solche seien sie eins mit Gott. Damit verknüpft Jansen die Liebe zur Gerechtigkeit mit den guten Handlungen und dem Erfordernis der Gnade (Aug., t. II, np l.I, c. 9, col. 724): »ista puritas justitiae & veritatis quae non est alia nisi Deus, non potest ullo modo à creatura diligi nisi ejus dilectio divinitus inspiretur.« Der logische Irrtum der recentiores liege in der Verwechslung unveränderlicher Formen (oder ins Herz eingeschriebener ewiger Gesetze) mit guten Affektionen der Seele (oder akzidentiellen Eigenschaften). 32 Um die Aporie zwischen der VeränderAugustinum in suis operibus passim justitiae & legis dilectionem inculcare ut sit opus bonum, ad eamque gratiam Christi docere esse necessariam, ut Augustinum ad philosophiam Aristotelis traherent nihil aliud eum per illam charitatem justitiae intellexisse volunt nisi amorem legis seu virtutis secundum se, hoc est voluntatem faciendi opus moraliter bonum ex omnibus circunstantijs, etiamsi nihil de illo opere in Deum referendo cogitetur.« 30 Aug., t. II, np l. I, c. 7, col. 713: »Philosophi […] nihil aliud intelligunt nomine veritatis, quam congruentiam signi cum rebus, sive signum sit conceptus, sive vox sit scriptura: ut veritas in illis sit, cum rebus significatis ista consonuerint neque quicquam aliud sub nomine justitiae, & castitatis & similium accipiunt, quam affectiones quasdam bonas animi, ita ut consequenter dilectio justitiae sit eis amor quo diligitur virtus, animique virtutes propter se, seu propter quendam splendorem honestatis quae ad seipsum & ad aliud omnino nihil referatur.« 31 Ebd.: »sicut veritas quae diligenda praescribitur ab Augustino non significat illam consonantiam signi creati cum re significata, sed illam incommutabilem aeternamque veritatem, quae cernitur ab ijs qui legis aeternae praescriptum vident, ita justitia, castitas, aequitas, rectitudo, bonitas & c. quas diligendas praecipit, & in visceribus Testamentum novum scribendas docet Augustinus […], significat apud ipsum non affectus aliquos per modum accidentium animo inhaerentes, ut Stoici, & Peripatetici solent, sed incommutabilem illam formam justitiae & castitatis, & rectitudinis & bonitatis & c.« 32 Aug., t. II, np l.I, c. 7, col. 716: »Hi quippe temporales, illa aeterna sunt: hi secundum

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lichkeit der Seele und der Unveränderlichkeit Gottes zu vermeiden, führt er den Begriff von Partizipation ein. 33 In dieser Hinsicht ist die Seele gerecht, erst wenn sie der Gerechtigkeit Gottes teilnimmt; sie ist ebenso wahr, erst wenn sie der Wahrheit Gottes teilnimmt, usw. 34 Nun fragt sich, ob die Liebe zu Gerechtigkeit, Güte usw. natürlich oder übernatürlich sei. Nach Jansen sprechen die Pelagianer sie der freien Willensentscheidung zu (Aug., t. II, np l. I, c. 10, col. 727): »illam boni operis ac justitiae dilectionem, quam Augustinus ex gratia largiendam esse contendebat, liberi arbitrij viribus obtineri posse, & hoc ipsum Philosophos sua libertate fecisse.« Die Unterscheidung von ›natürlich‹ und ›übernatürlich‹ ist Augustinus aber völlig fremd und von den Pelagianern eingeführt worden, um natürliche Liebe als meritum (›ex purae libertatis viribus‹) zu betrachten (Aug., t. II, np l.I, c. 10, col. 728). Jansen fährt fort (col. 729): »impossibile est esse opus bonum, nisi ipsum bonum quod praecipitur & moveat animum.« Letztlich ist Liebe tout court übernatürlich (col. 730): »quae sine amore charitatis, hoc est sine amore supernaturali fieri impossibile est.« Hier führt er die wichtige Unterscheidung zwischen amor gratuitus und amor mercenarius ein, wobei das Wort ›gratuitus‹ zunächst als Synonym für ›übernatürlich‹ zu verstehen ist, im weiteren Verlauf jedoch die Bedeutung von ›interesselos‹ gewinnt. 35 Jansen stößt hier auf die ›erste Schwierigkeit‹, ob und wieweit humanas mutationes oriuntur & occidunt; ista stabiliter permanent«. »Cernitur enim justitia tanquam regula quaedam immutabiliter fulgens supra mentis apicem quae neque accedentium copia augeatur, neque recedentium minuatur, neque ullorum affectuum variegate varietur.« 33 Er stützt sich dabei auf Johannes Evangelist und Augustinus (Aug., t. II, np l.I, c. 9, col. 725): »participationem […] per ipsam substantiam Dei anima vivificatur, sicut corpus per ipsam substantiam animae«; sodann beschreibt er die caritas als ein vinculum glutinosum: »Nam charitas juxta sanctum Augustinum est potius vinculum istud & quasi gluten quo justitia illa seu Deus […].« Vgl. dazu Pierre Courcelle: La colle et le clou de l’âme dans la tradition néo-platonicienne et chrétienne; Matthias Smalbrugge: La notion de la participation chez Augustin. Quelques observations sur le rapport christianisme-platonisme. 34 Vgl. Jean Orcibal: Néo-platonisme et jansénisme, du ›De libertate‹ du P. Gibeuf à l’Augustinus. Ders.: Thèmes platoniciens dans l›Augustinus‹ de Jansénius. 35 Aug., t. II, np l.I, c. 11, col. 733: »[…] omnem amorem quo gratis amatur Deus, nobis esse non posse nisi ex Deo, hoc est, esse supernaturalem hoc ipso quo est gratuitus. Nam hoc ipso propter summam sui puritatem atque subtilitatem omnes naturae & creaturae vires superat, quae non potest viribus suis nisi deorsum & ad seipsam tendere, sursum tantummodo per gratiam & adjutorium Dei.« A

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diese Liebe natürlich ist: nicht natürlich ist sie als Teil der Natur (pars naturae) oder als zu natürlichen Vermögen von Vernunftwesens gehörig (quod ex principijs naturae seu facultatibus nauralibus creaturae rationalis fiat), da solche Wesen nur unvollkommene Glückseligkeit erlangen könne. 36 Jansen weist auf zwei typische Irrtümer hin: Luther und Calvin einerseits verstünden die Gottesliebe als einen der Natur ›wesensgleichen‹ Zustand, so wie die Kälte dem Wasser: 37 sie reduzierten diese Liebe auf etwas, das der Natur als Ornament oder externe Vervollkommnung zugehöre. 38 Andererseits spreche Scotus vom ›natürlichen Vermögen zur Liebe und zum Genuß Gottes‹, wenn auch seine Erlangung übernatürlich sei, 39 während Thomas von Aquin von einem vom Willen stammenden Hang ausgehe. 40 Nach Jansen kann die Gottesliebe weder ein Willensvermögen sein, noch aus dem Willen entstehen, weil der menschliche Wille selbst etwas Abgeleitetes (elicitum) ist: »est enim naturalis quia ipsa natura dictat […], & quia natura ipsa ad hoc appetendum condita est.« Nach Jansen ist die Liebe Gottes dem Vernunftwesen erstens ex parte rationis natürlich, da sie einen ›der gerechten Vernunft höchst konformen Akt‹ und eine ›natürliche Verbindlichkeit‹ darstellt, die »naturali rationis lumine, nulla revelatione, sed ex aeternae legis praescripto« ist; 41 zweitens ist ihm ex parte appetitus natürlich, Gott zu c. 15, col. 745: »Et quidem non esse eo sensu naturalem quia sit pars naturae, nimis manifestum est, dilectio enim sicut & fruitio, hoc est beatitudo creaturae tam imperfecta quam perfecta sunt actiones, unde non possunt esse partes creaturae rationalis. Perinde perspicuum est non esse naturalem quod ex principijs naturae seu facultatibus naturalibus creaturae rationalis fiat.« 37 col. 747: »Unde hallucinantur Lutherus & Calvinus qui voluerunt justitiam originalem, quae Augustino potissimum est iste de quo loquimur amor Dei, veluti finis omnium ceterorum bonorum, voluerunt esse naturale bonum quale est pecudi sanitas, vel aquae frigus quod ex ipsa naturaliter pullulat.« 38 Ebd.: »Quidam igitur hoc tantum sensu amorem Dei naturalem esse volunt quod sit naturae consentaneus. Hoc autem ita explicans, quia naturam ornat atque perficit.« 39 Scotus »doceat habere potentiam naturalem ad dilectionem & fruitionem Dei, hoc est ad beatitudinem quantumvis supernaturaliter acquirendam.« Vgl. Scotus: In I Sent. Proleg. q. 7 e.I2. 40 Vgl. Thomas von Aquin: In lib. de Trin. Boeth., c. 50, 51, 57: »Quamvis homo naturaliter inclinetur in finem ultimum non tamen potest naturaliter illum consequi, sed solum per gratiam, & hoc est propter eminentiam illius finis.« 41 Aug., t. II, np l.I, c. 15, col. 747: »Itaque dicendum arbitror dilectionem Dei dici posse creaturae rationali naturalem, primo ex parte rationis, quia ratio naturali lumine dictat Deum solum super omnia creata esse diligendum, idque non indifferenti quodam dicta36

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lieben. Es folgt Gott, indem es ihn liebt (sequi diligendo), und gelangt zu ihm, indem es ihn genießt (consequi fruendo: Aug., t. II, np l.I, c. 15, col. 749). In der Frage, wie die verderbte Natur zu verstehen ist, wäre sie für die recentiores keine Aufhebung der Vollkommenheit (»ablatio perfectionis«: Aug., t. II, np l.I, c. 16, col. 753), abgesehen davon, daß die perfectio dort nicht als wesensgleich gemeint ist, sondern nur als Schmuck; integritas sei nur eine akzidentielle Eigenschaft, nur ein Attribut, in dem die naturalia bona impliziert sind. Die Liebe Gottes sei den Menschen nicht natürlich, also nicht durch natürliche Kräften zu erlangen, oder mit der Geburt gegeben. In Wahrheit sei der amor Dei aber weder ›consentaneus‹ noch ›ornativus‹ oder ›perfectivus‹ gegenüber der Natur: er sei natürlich, sofern das Vernunftwesen die ewige Wahrheit erblicke und es seiner Natur entspreche, Gott anzugehören. 42 Jansen stößt sodann auf die ›zweite Schwierigkeit‹, ob und wieweit jene Liebe Gottes dem Vernunftwesen geschuldet sei. 43 Gott sei über alle Geschöpfe zu lieben, einfach weil dem als ›imago Dei‹ geschaffenen Vernunftwesen jene Liebe vom Schöpfer eingegossen worden sei. Die Scholastiker hätten, gerade weil sie so sehr die ungeschuldete Gnade erwögen (»gratuitae gratiae trutinatores accuratissimi«; ebd., col. 760), festgestellt, daß im Zustand gefallener Natur eine hinreichende Gnade Gottes geschuldet ist. 44 Dazu weist Jansen auf Suárez, nach dem die mine quasi hoc esset naturae suae quoquo modo consentaneum, ornativum, & perfectivum, […] sed ita ut judicet, hanc esse naturalissimam, arctissimam, universalissimam, severissimamque obligationem. Diligere quippe Deum super omnia est actus rectae rationi quam maxime conformis, quae legis aeternae lumine illustrata, dictat optimum & principium rerum ac finem omnium esse maxime diligendum.« Ebd. 747 f.: »Hunc esse sancti Augustini sensum de naturali obligatione diligendi creatoris, prout hoc naturali rationis lumine, nulla revelatione, sed ex aeternae legis praescripto, ac naturali ordine sibi faciendum rationalis creatura cernit, in ejus operibus perspicue liquet, quantumvis hoc sine ejusdem creatoris auxilio nullo pacto possit implere.« 42 Ebd. c. 16, col. 757: »Amorem scilicet Dei creatoris, creaturae rationali esse naturalem; non isto sensu quasi viribus naturalibus obtineri possit vel pars esset vel ut proprietas vel actio naturalis ex naturae facultatibus flueret […], nec etiam quia dumtaxat a nativitate creaturae datus est, vel naturae consentaneus, ornativus ac perfectivus; sed quia natura rationalis in ipsa arte qua facta est, in incommutabili veritate cernit, naturae suae ut Deo adhaereat convenire: naturae suae competere esse cum Deo.« 43 Ebd. c. 17, col. 757: »Deum creatorem […] esse super omnia creata diligendum«; ebd., col. 758: »hanc dilectionem quantumvis creaturae rationali consentaneam, divinae gratiae beneficio supernaturaliter esse conferendam.« 44 Ebd., col. 760: »[…] etiam in statu naturae lapsae, post gravissimum illud peccatum A

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hinreichende Gnade der auf ein übernatürliches Ziel hingeordneten Natur gewissermaßen geschuldet ist. 45 Zur Widerlegung führt er den Begriff der Unschuld ein; da Reinheit ohne Adoptivsohnschaft undenkbar ist, sei Mangel nicht ohne Schuld zu denken – und tritt so in den Gegensatz zu den Neupelagianern, die eine schuldlose und der Gnaden nicht bedürftige reine Natur denken. Damit sind wir in der zweiten Argumentationsreihe, die auf der fruitio beatifica summi boni beruht (Aug., t. II, np l.II, c. 1, coll. 789 ff.) und in der Jansen bestrebt ist, die natürliche Glückseligkeit zu widerlegen. Jansen stellt der Möglichkeit einer beatitudo naturalis hier zwei Augustinische Prinzipien entgegen, nämlich (Aug., t. II, np l.II, c. 4, col. 805): 1. »quod nemo beatus esse possit nisi habeat quod velit ideoque quamdiu non habeat quod vult, certissimo miser est«; 2. »creaturam rationalem non posse miserijs quantumvis minimis affici à Creatore sine culpa«. Von daher folgt; »non ergo Deus potest creaturam innocentem à regno caelorum & aeterna vita quam diligit sine ejus culpa separare« (Aug., t. II, np l.II, c. 4, coll. 805 f.). Pelagianer wie Semi-Pelagianer lehnen diese Strafe ab: aber Unschuld und Schwäche sind offensichtlich nicht vereinbar. 46 Danach wird die zweite Argumentationslinie im weiteren Verlauf ex negativo ausgestaltet, nämlich ex parte concupiscentiae: in Kürze, Unwissenheit, Blindheit, Willensschwäche, Begehrlichkeit und Sterblichkeit können nicht in einer reinen Natur angesiedelt sein. Hier weist Jansen auf den Streit zwischen Augustinus und Julian über die Natur der Konkupiszenz hin: 47 Julian zufolge ist die Konkupiszenz von Natur aus gut, zwar nicht im moralischen Sinne, sondern einfach, weil sie mit-erschaffen worden sei – der Mensch sei eben von Natur aus mit Begehrlichkeit ausgestattet. Julians Aussage wird quo natura damnata est, gratiam Dei sufficientem creaturae rationali esse adhuc debitam.« 45 Suárez: De praedest., l.2, c. 2, n. 5: »Gratia sufficiens licet non sit debita naturae secundum se spectata & multo minus ut affectae originali culpa; est nihilominus aliquo modo debita naturae ordinatae ad finem supernaturalem cum debito illum procurandi.« 46 Aug., t. II, np l. II, c. 4, col. 809: »[…] nude & pure & simpliciter juxta ipsissimam Pelagianam de statu purae naturae hypothesim quam expugnare nitebatur tanquam impossibilem, ex ratione innocentiae & miseriae quae nulla Dei justitia conciliare potest.« 47 Ebd., c. 11, col. 829: »Ut igitur a concupiscentia tanquam ignorantiae seminario auspicemur, sciendum est acerrimum fuisse inter Augustinum & Iulianum de concupiscientiae bonitate conflictum; uno mordicus asserente, altero negante esse malam.«

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derjenigen der recentiores gleichgestellt: nach Jansen kann die Konkupiszenz aber weder gut noch göttlichen Ursprungs sein; sie sei nicht einmal ohne die Übermittlung der Sünde denkbar (tradux peccati). Außerdem könne das Vernunftwesen aus zwei Gründen a priori nicht in einem Zustand reiner Natur geschaffen worden sein: erstens sei es unmöglich, daß eine Nicht-Konkordanz von Fleisch und Geist einer Natur-Ordnung angehöre; zweitens widerspreche der Geist sich in einer Natur-Ordnung selbst. Und so behauptet er, daß »concupiscentia […] nec bona est, nec à Deo inseri potest.« 48 Jansen strebt also danach, die Möglichkeit eines neutralen Zustandes reiner Natur zu widerlegen, einerseits weil er der Immanenz der Gnade widerspricht (aus diesem Grund rehabilitiert er das Herz als Kriterium seiner Theologie – meistens gestützt auf Augustinus), andererseits weil die darin eingebetteten natürliche Glückseligkeit der Erlösungsbedürftigkeit widerspricht. Er geht hingegen vom gegenwärtigen Zustand aus, wobei die Begehrlichkeit und die Schwäche die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen nachweisen.

2.2 Pars construens. Menschliche Natur als Hinordnung auf Gott durch Liebe Der Begriff dilectio (bzw. amor) gilt als Prüfstein für das natürliche Verlangen des Menschen nach Gott. Der Mensch sei so erschaffen, daß er ein ›Gewicht‹ besitzt, das ihn seinem natürlichen Ort zustreben läßt, und dies Gewicht ist für den Menschen seine Liebe (Aug., t. II, nl l.II, c. 19, col. 382): »Pondus creaturae rationalis est amor ejus«, und zwar ein »impetus […] cuiusque rei conantis ad locum suum«. Die Triebfeder der Seele ist die delectatio, welche es ermöglicht, daß sich die Seele auf ihre eigene Ordnung hinrichtet (Aug., t. II, nl l.II, c. 19,

Aug., t. II, np l.II, c. 20, col. 867: »[…] duae rationes à priori cur concupiscentia cum pura natura dari nequeat. […] Primo, quia impossibile est, ut carnem spiritui repugnare sit ordo naturalis. Caro enim inferioris ordinis est, quam animus naturali ei lege superior. Ex quo fit, ut ordo naturae concordiam eorum postulet … Cujus naturalis ordinis perturbatio eo vitiosior est, quod sine animo nec vita quidem rebellantis corporis esse potest. […] Secundo, quia impossibile est ordinem postulare naturalem, ut animus repugnet sibi, & quidem ut superiori pars inferior, non modo repugnet, sed etiam dominetur.«

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col. 384): »Delectatio quippe quasi pondus est animae; delectatio ergo ordinat animam.« Der Horizont, in dem sich diese Liebesdynamik verwirklicht, ist eher der eines Genießens als der einer Gottesschau; denn diese Dynamik involviert eher den Willen als den Verstand. Die Liebe ist der allumfassende Begriff oder die höchste Affektion, von der Jansen jede andere Affektion ableitet: das Genießen als zweite Affektion weist auf die Beziehung zu Gott als Hauptgegenstand der Liebe. Die Vervollkommnung der Liebe ist eng mit der Befähigung verbunden, das geliebte Objekt bzw. Geschöpf zu genießen, denn der Genuß ist ihr letztes Ziel (Aug., t. II, nl l.II, c. 16, col. 366): »amor enim sine fruitione, & fruitio sine amore intelligi nequit: cum amor sit initium fruendi, & fruitio finis amandi.« Dies ist die Beschreibung des ursprünglichen Zustandes des Menschen: vor dem Fall war der Mensch befähigt zu genießen: frei und interesselos auf das Objekt gerichtet. Die Betrachtung der natura lapsa zeigt hingegen den gegenwärtigen Zustand des Menschen: nach dem Fall ist ihm eine gewisse ›Schwerkraft‹ (quoddam pondus gravitatis) eigen, die ihn nach unten zieht, nach sich selbst und den Geschöpfen. An die Stelle des Genusses tritt die Begehrlichkeit (desiderium seu concupiscentia; ebd., c. 12, col. 349). Die Liebe wird der Quelle eines Flusses verglichen: nach dem ›Fall‹ wird sie eine ›verborgene Quelle‹, wobei der Genuß einem Fluß oder einem See ähnelt, in dem die Liebe ›versunken‹ ist: »Amor enim velut fons absconditus fruitione prius est; fruitio velut fluvius aut lacus, in quem amor mergitur, amore manifestior est.« 49 Zur Erklärung der Macht des Genießens für den freien Willen nennt Jansen zwei Prinzipien: vor dem Fall war Adam mit keiner ›delectatio involuntaria‹ oder ›complacentia indeliberata‹ ausgestattet. Konkupiszenz oder ›delectatio

Aug., t. II, nl l.II, c. 16, coll. 366 f.: »Frui est amore alicui rei inhaerere propter seipsam. Uti autem, quod in usum venerit ad aliquod amas, obtinendum referre [doctr. chr. 1,4]. Quasi frui non esset aliud, quam amare, seu amore rei inhaerere. Nam si non inhaeretur rei propter seipsam, proprie non amatur ipsa, sed aliud; […]. Fruitionem tamen non esse propriè amorem, prout ille à fruitione distingui solet, sed fructum, & effectum, & finem ejus […] Amor inhians habere quod amatur, cupiditas est: id autem habens, eoque fruens laetitia. Ubi magis indicat fruitionem esse de re amata & habita, quam ipsum amorem. Amor enim, cum res abest, erumpit in desiderium, sive cupiditatem: cum obtenta possidetur, in laetitiam sive fruitionem, tanquam effectum optatissimum, & veluti quietem sui motus, quo ad rem amatam desiderando ferebatur. […] Quod quidem sine amore non fit, non tamen nudo amore fit; sed quodam amoris effectu, quo in re adepta & amata quiescendo animus quodammodo diffunditur.« 49

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illecita‹ ist eine Sündenstrafe (pœna peccati) – sonst wäre sie ungerecht. 50 Die Befähigung zum Genuß ist eng mit dem freien Willen verbunden: Weil im ersten Menschen die fruitio der bona voluntas entspricht und es keine »desideria indeliberata« gibt (Aug., t. II, nl l.II, c. 7, col. 322), ist geordnete Liebe möglich. Im gefallenen Menschen aber tritt Unwillentliches an die Stelle der geordneten Liebe, ein Hang, der zu einer natürlichen Haltung (habitus naturalis) wird. Der Urstand ist vom ordo aeternae legis bestimmt, in dem der Wille an sich gut (voluntas bona vel sana) und der Mensch fähig ist, den amor inhaerens zu erfahren; in der gefallenen Natur findet eine desertio Dei oder amissio libertatis statt, die mit einer voluntas mala vel aegrota einhergeht. Der inhärenten Liebe entspricht hier eine vergängliche Liebe, wobei nur eine delectatio oder suavitas den Willen neu in Bewegung setzen kann. Die delectatio fungiert als Bewegungsgrund: sie wirkt auf die Schwäche und Krankheit des Willens (Aug., t. III, l.VII, c. 3, col. 736): »Delectatio efficit voluntatem & libertatem, hoc est, facit velle & libere velle.« 51 Jansen weist auf den Pseudo-augustinischen Text (vermutlich von Hugo von St. Viktor) De substantia dilectionis hin (c. 6: »Vita cordis amor est, & idcirco omnino impossibile est, ut sine amore sit cor quod vivere cupit«) und nimmt die Unterscheidung von amor Dei und amor sui wieder auf (Aug., t. II, np l. I, c. 3, col. 691: »creatura vel Deum diligit vel seipsam)«, 52 die zu einer Spaltung zwischen Selbstliebe und GotAug., t. II, nl l.II, c. 25, col. 420: »[…] impossibile est illam esse naturam voluntatis, ut voluntas antequam in aliquem liberum erumpere possit motum, aliqua involuntaria objecti delectatione seu complacentia necessario fuisset etjam ante primum peccatum hujusmodi mali complacentiam, seu delectationem, seu titillationem debuisse praecedere.« 51 Vgl. Aug., t. III, l.IV, c. 9, col. 430: »Nam delectatio ista caelestis victrix est medicina aegrotae ac prostratae, non adjutorium sanae stantisque voluntatis. […] Voluntas enim per peccatum primi hominis in libidinum imperium praecipitata est, ex quibus fit ut in omnibus actionibus ante gratiam, delectatione quidam libidinosa praeeunte ac titillante provocetur, cui consentiendo peccat; […]. Est enim istud libidinum imperium, non naturalis hominis constitutio, qui antea plenâ libertate & pace secum sua fruebatur, sed pœna damnati. Itaque ista libidinosa delectatio vocatur subinde difficultas ab Augustino […].« 52 Aug., t. II, np l.I, c. 14, col. 744: »Hoc autem ultimum in quo quiescetur, necessario est, vel Deus vel creatura. Si Deus […] est charitas; si creatura, cupiditas. Porro charitatem in hac divisione nullam Augustinus agnoscit aliam, nisi quae inspiratur ac diffunditur in cordibus nostris, per Spiritum sanctum: neque aliam cupiditatem, nisi quae corrumpit ac vitiat creaturam rationalem.« 50

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tesliebe führt. Er unterscheidet zugleich zwischen amor benevolentiae und amor concupiscentiae. Caritas bezeichnet nach oben gerichtete Liebe (oder Gottesliebe), cupiditas nach unten gerichtete Liebe (oder Selbstliebe). Diese Unterscheidung klingt an das Begriffspaar frui-uti an, das Jansen von Augustinus wieder aufnimmt: Indem der Mensch Glückseligkeit erstrebt, sind es die zu genießenden Dinge, die ihn unmittelbar selig machen, während die zu gebrauchenden Dinge der Erlangung der beatitudo dienen. Insofern ist caritas als »motus animi ad fruendum Deo propter ipsum, & se atque proximo propter Deum«, während die cupiditas einen »motus animi ad fruendum se, & proximo, & quolibet corpore non propter Deum« bezeichnet (Aug., t. II, nl l.II, c. 13, col. 354). Reine Liebe (pura dilectio) ist Liebe propter Deum; richtet sie sich auf sich selbst, wird sie vitiosa, sei sie Liebe zu sich selbst oder zum Nächsten (Aug., t. II, nl l. II, c. 21, col. 399, vgl. 401): »Si enim propter se fruimur eo; si propter aliud, utimur eo.« Die Augustinischen Begriffe ›fruitio‹ und ›usus‹ spielen hier eine große Rolle: Sie werden von Jansen aber nicht wie bei Augustinus als relationale Begriffe verstanden, die eng miteinander verflochten sind, sondern als Begriffe, die sich einander ausschließen. 53 Eine Radikalisierung der von Augustinus eingeführten Unterscheidung zwischen Genießen und Gebrauchen führt hier zu einer Entwertung des Gebrauchens: die zu gebrauchenden Dinge sind untergeordnete Geschöpfe (inferiora); andererseits wird das Genießen in eine teleologische Sphäre verschoben. Der dilectio transitoria (= vergängliche Liebe) wird letztlich eine dilectio mansoria (= permanente Liebe) gegenübergestellt. 54 Nach der oben erwähnten Pseudo-augustinischen Deutung schließen sich Gottesliebe und Selbstliebe einander aus. Jansen zufolge muß derjenige, der Gott liebt, sich selbst verschmähen, und viceversa muß derjenige, der sich selbst liebt, Gott verschmäTarcisius Jen van Bavel: Fruitio, delectatio and voluptas in Augustine. Ders.: Von Liebe und Freundschaft. Augustinus über das christliche Leben. 54 Aug., t. II, nl l.II, c. 16, col. 367: »Nec ignoro, inquit, quod propriè fructus fruentis, usus vero utentis sit: atque hoc interesse videatur, quod ea re frui dicimur, quae nos non ad aliud referenda per seipsam delectat: uti vero ea re, quam propter aliud quaerimus [civ. 11,25]. […] Frui dicimur ea re, de qua capimus voluptatem; utimur ea, quam referrimus ad id unde voluptas capienda est [div. quaest. 30]. Unde hujusmodi mediorum dilectionem ac delectationem Augustinus aptissimo vocabulo vocat, non mansoriam, sed transitoriam, tanquam viae, vel tanquam vehiculorum [doctr. chr. 1,35], quibus ad aliud pergimus, cui dilectione mansoriâ inhaereamus.« 53

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hen. Wer Gott propter Deum liebt, ist »bereit, zunichte zu werden« (Aug., t. II, nl l.II, c. 25, col. 424): »Impossibile est enim ut amator sui non contemnat Deum, & è contrario, ut amator Dei non contemnat se. Nam & ille seipsum velut finem omnium appetitionum suarum curet aut diligat nisi propter Deum, ut illi cedat ipsa illa dilectio seu cura sui, seipsum etjam in nihilum redigere paratus, si tanquam in bonum, Dei unice dilecti cederet, juberetur.«

Jansen führt aber eine weitere Unterscheidung hinzu, nämlich die einer doppelten Zielrichtung der Liebe. 55 Der finis qui ist Zweck an sich und mündet in eine bloße complacentia (non libera seu involuntaria delectatio), während der finis cui letztendlich auf Gott zielt und in eine libera delectatio mündet. Der doppelten Zielrichtung entspricht eine doppelte Liebe: dem finis cui entspricht nämlich ein amor amicitiae, während dem finis qui ein amor concupiscentiae entspricht. 56 Mit der Erbsünde aber wird die echte, auf Gott als ihrem höchsten Ziel gerichtete Liebe definitiv zu einer Selbstliebe propter se. Durch die radikale Spaltung zwischen caritas und cupiditas und die weitere Unterscheidung zwischen finis cui und finis qui gerät aber Jansen in einen Widerspruch, weil ihm der Zusammenhang von Gottesliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe verloren geht: dem Menschen im infralapsarischen Zustand ist allerdings eine doppelte Zielrichtung der Liebe möglich. Es ist lehrreich zu sehen, wie er versucht, mit der Liebe zum Nächsten zurechtzukommen: einerseits liebt der Mensch Gott als das höchste Gut und diese Liebe entspricht dem Inneren des Menschen; andererseits Ebd. c. 25, col. 422: »Et sicut illius motus principium, ita & finis ipse fuit. Duplex est enim omnium appetitionum finis, qui & cui. Inter quos ultimus omnino finis est ille qui dicitur cui; respectu cujus, finis qui quodammodo medij rationem induit, quantumcunque aliquis eo frui videatur. Nam & finis qui & fruitio ejus propter ipsum fruentem velut finem cui omnino ultimus appetitur. Sic ergo homo lapsus ab amore Dei, in quem velut in finem qui, simulque finem cui totum ultimo cederet, ferebatur, in seipsum non solum velut omnium appetitionum praesentis & futurarum principium, sed velut in finem ultimum cui cecidit.« 56 Aug., t. III, l.V, c. 9, col. 524: »Ex quo etiam fit, ut finis cui amore amicitiae diligatur, finis qui amore concupiscentiae. Id enim cui cedit res quae diligitur, propter se diligitur; alterum vero amato propter se dilecto concupiscitur. Illa igitur vera distictio inter amorem cupiditatis seu concupiscentiae, & amorem benevolentiae seu sincerae charitatis, quod amor concupiscentiae quidquid appetierit, id ultimo appetat propter se, tanquam finem cui ultimo totum cedat: amor benevolentiae seu charitatis, quidquid appetierit, aut speraverit, aut adeptus fuerit, id totum quasi oblitus sui in hoc ipsum velut finem cui [= qui] retorquet, quem ista benevolentiae charitate dilexerit.« 55

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hängt die Liebe zum Nächsten nicht mehr mit der Gottesliebe zusammen, sondern gilt als bloße Ausdehnung der Selbstliebe (extensio et effigies amoris sui). Diese Deutungsverschiebung des amor proximi in seiner Dissoziation vom amor Dei gilt als ein Grenzfall sowohl in Jansens Kritik am Zustand der reinen Natur (weil eben die Hinordnung auf Gott hin ins Schwanken gerät), als auch in seiner Augustinus-Auslegung: er scheint die caritas als ›umgekehrte‹ Begehrlichkeit zu betrachten, und verursacht damit ein pedantisches Mißverständnis Augustins. Zurück zur Auffassung der Liebe: Letztlich ist die Liebe Gottes in das Naturgesetz eingebettet, während die Nächstenliebe als positives Gesetz betrachtet wird. Nach Jansen darf man weder den Nächsten noch sich selbst genießen: erst wenn die Liebe vollkommen sein wird, wird man einander genießen dürfen, aber nur in Gott (in Deo). Der Verweis auf einen Paulus-Text dient dazu, der Liebe eine teleologische Richtung zu geben: erst in reiner Liebe hindurch darf man den Bruder genießen (Aug., t. II, l.II, c. 21, coll. 401 f.): »Utimur ego proximum, sed non sicut rebus temporalibus, ut ex eis commodum indigentiae nostrae supplendae capiamus; sed ut perducatur nobiscum ad fruendum Deo. […] Quemadmodum ergo nec nobis ipsis frui licet, ita nec proximo: sed sicut nobis ipsis utimur, ita & proximo; ad hoc videlicet nos totos utrosque referendo, ut simul Dei bonitate perfruamur. Quod cum opitulante Deo perfectum fuerit, tunc etjam nobis invicem, sed in Deo perfruemur. […] Ita frater ego te fruor in Domino [ad Philem. 20].«

Allerdings stellt Jansen die Unmöglichkeit der Freundschaft im gegenwärtigen Leben fest (ebd.): »Nam amor amicitiae ad alterum est quaedam velut extensio & effigies amoris sui.« Letzere Aussage scheint eine Umkehrung des ordo creaturalis zu beschreiben: ist die Selbstliebe im gefallenen Menschen nichts anderes als eine selbstsüchtige Liebe und die Nächstenliebe per definitionem eine Analogie der Selbstliebe (sicut teipsum), so ist die Nächstenliebe in diesem Leben eher eine Extension als eine Imitation der Selbstliebe. Damit wird die Nächstenliebe von der Gottesliebe dissoziiert, und sodann ist nicht einmal eine vage Antizipation der Seligkeit möglich. Das angestrebte Ideal der reinen Liebe zeigt hier seine ganze Schwäche: erst indem der Mensch auf jede Liebe zu den Geschöpfen verzichtet, kann er zu einer inhärenten Liebe gelangen; er muß letztendlich jedwede Liebe komprimieren, um sich völlig Gott hinzugeben: 230

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»Ex quibus perspicuum est […] amoris affectum à creaturis omnibus avellendum, nos de amore inhaerente, non transeunte loqui; de amore, qui fruendis non utendis creaturis inhiat; de amore denique qui in creaturam, non in Deum ultimo terminetur. Et ita nullo modo esse contraria, ut affectus omnes à creatis rebus diligendis, quantum possumus, comprimamus, & tamen proximum ex Dei mandato toto pectore diligamus.« 57

Der exklusive Vorrang der Gottesliebe führt zur Selbstvernichtung. Je reiner die Liebe Gottes ist, desto mehr gerät der Mensch ins Hintertreffen (Aug., t. II, l.II, c. 21, coll. 399 f.): »Cumque tanto nobilior & purgatior sit amor Dei, quanto magis hoc à sui ipsius consideratione & reflexione discedit, tanto quoque nobilius perspectiusque seipsum diligit, quanto magis sui-ipsius obliviscitur.« Zwischen Mensch und Gott findet ein Wettkampf statt: wo der Eine sich leert, füllt sich der Andere (Aug., t. II, l.II, c. 21, col. 400): »Ita miro inter se certamine homo vacuando, & Deus implendo contendunt.« Die Entwertung des Gebrauchens zielt auf eine Reinigung der Liebe, bis der Mensch zur »pura dilectio Dei« gelangt (Aug., t. II, nl l.II, c. 21, col. 421). Die Reinigung wird als Opfer beschrieben (»velut holocaustum«), als Auslöschung jedes motus vitalis oder pondus gravitatis (Aug., t. III,l.V, col. 8 f.): im Prozeß der ›Selbstvergessenheit‹ (»quasi oblitus sui«) wird der Mensch endlich zunichte (Aug., t. III, l.V, c. 9, col. 524–526): »Diligimus enim eum atque ejus adeptione gaudemus, quod nobis bonum & optimum est, non tamen ut ultimo nobis bene sit, prout in concupiscentiae amore semper fit, sed ut ei, tanquam supremae veritati, regular rectrici omnium, Deo ac Domino nostro, cujus totum est quicquid sumus, nos & omnia nostra perfecte subijciamus, atque ipsi nos isto amore & fruitione velut holocaustum immolemus. Cujus rei clarius vestigium in amore proximi cernitur, quem tanquam nos ipsos diligere jubemur. […] Illud enim propriè amatur cui ultimo totum cedit. […] Charitas desiderat aut cupit dissolvi & esse cum Christo [1 Cor 15:28].«

Vorläufige Schlußbemerkung Abschließend ist folgendes zu bedenken. Die Positionen Suárez’ und Jansens scheinen sozusagen zwei Seiten derselben Medaille zu sein, sofern beide sich ein richtiges Verständnis der Beziehung Natur-Gnade Aug., t. II, l. II, c. 21, col. 401. Weiterhin zum ersten Buch von De doctrina Christiana (1,22) vgl. Aug., t. III, l.V, c. 9, col. 524: »Sic enim diligens & seipsum propter Deum, & proximum tanquam se ipsum, totam dilectionem sui & illius refert in illam dilectionem Dei, quae nullum à se rivulum duci extra patitur, cuius derivatione minuatur.« 57

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zum Ziel setzten: gelangt der eine zu einem System, in dem die reine Natur als Grundlage der Gnade ihre minimale Denkbedingung oder die permanente Möglichkeit eines Mangels an Gnade beschreibt, stellt der andere eine teleologische Zielrichtung dar, welche quasi deterministisch zur Gnade bestimmt ist, auf Kosten der Freiheit. Sodann scheint Jansen die natura pura durch eine »reine Liebe« zu ersetzen. Letztendlich könnte man provozierend fragen, ob das nach-tridentinische Schema – sowohl in der systematischen Verneinung einer Hinordnung auf Gott als auch im kritischen Versuch der Rehabilitierung des Partizipationsmodells – nicht eine christologische Schwäche in sich trage, indem Anhänger sowie Verächter des Menschen in puris naturalibus irgendwie den selben Fehler begehen, nämlich den Verlust des analogen Charakters des Seins und der Entgeschichtlichung der Erbsündenlehre: beide riskieren einen Naturalismus, indem sie die Gnade Adams und die Gnade Christi irgendwie auf eine Ebene stellen. 58

Zu dieser Interpretation vgl. Alfred Vanneste: Pour une relecture critique de l’Augustinus de Jansénius.

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Natur und Freiheit bei Augustinus und Kant Horst Seidl (Rom)

Der vorliegende Beitrag legt den Schwerpunkt auf Augustinus und geht auf Kant nur insoweit ein, als es der Vergleich mit dem modernen Denker erfordert. Im folgenden legt er zuerst Augustins Lehre aus seiner Schrift Über den freien Willen dar, um dann auf die einschlägigen Stellen bei Kant einzugehen, die für einen Vergleich mit Augustinus in Frage kommen. Dabei bin ich weniger von einem philosophiehistorischen, als vielmehr von einem systematischen Interesse geleitet, das von der historischen Entwicklung der herangezogenen Schriften und ihrer Einordnung in das Gesamtwerk der beiden Denker weitgehend absieht.

1.

Natur und Freiheit bei Augustinus (›De libero arbitrio‹)

In Augustins De libero arbitrio ist die Hauptfrage die nach der Ursache des Bösen, wobei die Erörterung sich zum Teil mit der manichäischen Irrlehre auseinandersetzt, daß nämlich das Böse von einem bösen Gott herkommt, dessen Einfluß auf die Menschen bewirkt, daß sie Böses ohne freien Willen tun. Auf diese Auseinandersetzung ist nicht näher einzugehen. Wir beschränken uns auf Augustins Argumente, soweit sie das Thema allgemein und grundsätzlich behandeln. In Buch I von De libero arbitrio (1–5) schließt Augustinus sogleich aus, daß Gott Ursache des Bösen sein kann, wobei vorausgesetzt wird, daß es allein den einen, absolut guten Gott gibt. Daher kann das Böse nur von den Menschen – und von anderen geistbegabten Geschöpfen – kommen. Nun sind die Christen zwar durch Gottes Offenbarung über den Sündenfall und Gottes Heilsplan in Jesus Christus unterwiesen, aber Augustins Erörterung will nur aus Verstandesgründen selbst argumentieren. Diese wichtige Erwähnung zeigt, daß Augustinus sehr wohl zu unterscheiden weiß zwischen der Theologie, die A

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sich aus dem Glauben vollziehend diesen erforscht, und der ohne Glaubensvoraussetzung argumentierenden Philosophie. Anschließend geht Augustinus der Frage nach, was es heißt, Böses zu tun, und erörtert dies mit Evodius an einzelnen Beispielen: Ehebruch, Tötung u. a. (lib. arb. 1,6–13). Von äußeren Handlungskriterien (im Gesetz und in der goldenen Regel) geht er zu einem inneren Kriterium über, das in der Seele liegt, und bezieht das böse Tun auf die Leidenschaft (›libido‹) bzw. Begierde (›voluptas‹) oder sonst einen Affekt. Dabei wird nun die Begierde vom Verstand, sowie dem Willen, unterschieden, der im Vergleich zu den Tieren nur dem Menschen zukommt und in ihm den Vorrang vor der Begierde (dem Trieb) hat. Er ist auf das Gute als Objekt gerichtet. Buch II wird diese Unterscheidung wieder aufnehmen. Übrigens beantwortet die Zuordnung des bösen Tuns zur Begierde noch nicht die Frage nach der Herkunft des Bösen. 1 Vielmehr erfolgt die Antwort erst am Ende des Buches, nämlich aus der falschen Entscheidung des Verstandes und Willens gegen das Gute, freilich in Abhängigkeit von der Begierde. Danach wird die Unterscheidung zwischen dem vergänglichen und dem unvergänglichen Gesetz eingeführt (lib. arb. 1,6). Böses-tun heißt: aus Begierde handeln; Gutes-tun aus Verstandeseinsicht handeln. Daher zeigt sich ein dem Verstand eigenes, zeitlos unwandelbares Gesetz, gemäß dem Befehl des Verstandes zu handeln und dem unwandelbaren Guten, worauf der Verstand mit dem Willen gerichtet ist, den Vorrang zu geben vor den wandelbaren irdischen Gütern, worauf die Begierde (Sinnlichkeit, Trieb) sich richtet. Ein entsprechendes zeitliches, irdisches Gesetz bedeutet, die irdischen Güter, die an sich nicht böse sind, so zu gebrauchen, daß sie der Verwirklichung des unwandelbaren Guten dienen, nicht um ihrer selbst willen begehrt werden. 2 Da sich das ewige Gesetz in der Anordnung des Verstandes zum guten Handeln findet, wird dargelegt, daß es in der Wesensordnung im Menschen gründet (lib. arb. 1,16): »videamus homo ipse quomodo in se 1 Anders Victorino Capanaga in seinem Kommentar zur Stelle in: Obras de San Agustin, Biblioteca de autores cristianos, vol. III, Obras filosóficas, 191–432, mit der von ihm kommentierten Schrift: El libre albedrio, 99. 2 Vgl. lib. arb. 1,15: Jenes Gesetz, das höchster Verstand genannt wird (»illa lex quae summa ratio nominatur«), ist unveränderlich und ewig (»incommutabilis aeternaque«). Seine Kenntnis, die uns eingeprägt ist (»aeternae legis notionem, quae impressa nobis est«), ist die, wodurch gerecht ist, daß alles aufs Beste geordnet ist (»qua iustum est, ut omnia sint ordinatissima«).

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ipso sit ordinatissimus.«. Damit erreicht die ethische Erörterung ihre anthropologische Grundlage. Das Wesen des Menschen erweist sich nämlich darin, daß er aus Leib und Seele konstituiert ist und die Seele wiederum aus drei Prinzipien besteht, dem vegetativen, das auch die Pflanzen und Tiere haben, dem sensitiven das den Tieren eignet, und dem rationalen, das den Menschen vor den Tieren auszeichnet, wodurch wir ›besser sind‹ (ebd.: »meliores sint«) als die Tiere, die uns unterworfen sind. Die ontologische Gutheit des Menschen liegt in seinem Sein, das vom Wissen seiner selbst begleitet ist (d. h. Bewußtsein hat): »neminem se nosse vivere nisi viventem«. Die verbale Umschreibung: ›wissen zu sein‹, wird später mit dem Substantiv ›Bewußtsein‹ (›conscientia‹), bzw. mit Selbstbewußtsein ausgedrückt. Augustinus fährt fort: Besser als das bloße Leben selbst ist die Wissenschaft, d. h. das Leben mit jenem Wissen (lib. arb. 1,17: »meliorne tibi videtur vitae scientia quam ipsa vita?«), und zwar dank des vernunftmäßigen Erfassens (›intellegere‹) der Denkkraft (›mens‹). Der letzte Lebenszweck liegt in dem vom Verstand geleiteten, vollendeten Leben. Der Verstand ist wesensmäßig dem niederen Seelenteil vorgeordnet, mit der moralischen Aufgabe, über die irrationalen Bewegungen der Seele zu herrschen (lib. arb. 1,18): »hisce igitur animae motibus cum ratio dominatur.« Wenn er dieser Aufgabe nachkommt, dann ist der Mensch geordnet (ebd.): »ordinatus homo dicendus est«. Und in dieser Verstandesherrschaft liegt das ewige Gesetz (ebd.): »cui dominatio lege debetur ea, quae aeternam esse comperimus.« Weisheit und Torheit unterscheiden sich gerade durch den Besitz oder das Fehlen dieser Verstandesherrschaft (lib. arb. 19–26). Nichts (d. h. keine äußere Macht) kann den Verstand der Leidenschaft unterwerfen, sondern nur er sich selbst (20 f.). Zwar wollen alle glückselig sein, aber nicht jeder sucht dieses Ziel auf dem richtigen Wege (27–30). Der falsche Weg ist der nicht vom ewigen Gesetz geleitete. Dem ewigen Gesetz ist das zeitliche untergeordnet, wie dem ewigen Gut die zeitlichen Güter (31–33). Letztere (wie Gesundheit, Schönheit, Reichtum, Ehrungen, Ruhm u. a.) zu erwerben, steht nicht in unserer Macht, während jenes unvergängliche Gut in unserer Macht liegt. Besonders die Stoa hat das Ideal des Weisen ausgearbeitet, der von äußeren Gütern unabhängig ist. Daraus ergibt sich schließlich die Antwort auf die Eingangsfrage nach der Herkunft des Bösen; denn dieses kommt dann auf, wenn einer sich von den göttlichen und wahrhaft bleibenden Dingen abwendet und sich den veränderlichen und unsicheA

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ren zuwendet (lib. arb. 1,35: »cum quisque avertitur a divinis vereque manentibus et ad mutabilia atque incerta convertitur«). Zwar haben diese zeitlichen Güter ihren rechten Gebrauch, werden aber von einer ungeordneten Seele mißbraucht, die ihnen den Vorrang vor den ewigen gibt. Daraus entsteht Böses, und zwar aus einem freien Willensentschluß (ex libero voluntatis arbitrio). Buch II befaßt sich mit dem Problem, wie der freie Wille des Menschen, der sich zu bösem Tun zu entscheiden vermag, vom guten Gott erschaffen sein kann. Es ergibt sich die Alternative: Entweder ist der freie Wille nicht von Gott geschaffen, oder der freie Wille ist nicht in sich selber gut. Die zweite Alternative wird abgewiesen; denn der freie Wille ist, wiewohl er sündigen kann, doch seiner Natur nach gut. Die erste Alternative bleibt eine offene Frage hinsichtlich der Herkunft der menschlichen Seele, ob sie in jedem einzelnen Menschen von Gott erschaffen wird oder nur bei Adam und Eva, hingegen nach ihnen jeweils von den Eltern auf die Nachkommen durchgegeben wird. 3 Was die zweite Alternative betrifft, so bietet Augustinus eine ausführliche Argumentation, die nacheinander drei Fragen klärt: 1. daß Gott existiert, 2. daß alles Gute seinen Ursprung von dem guten Gott hat, und 3. daß der freie Wille des Menschen gut ist. In den Paragraphen 1–6 bedenkt Augustinus die zwei Ebenen, auf denen die Fragen erörtert werden können: die des religiösen Glaubens und die des philosophischen Verstandes. Auf dieser rationalen Ebene beginnt dann die Erörterung der ersten Frage nach der Existenz Gottes. Sie geht vom Sein des Menschen aus, bzw. des Verstandes, der sich auch im Zweifeln noch als seiend weiß. Gegen den Vergleich mit Descartes’ Zweifel möchte ich feststellen, daß bei Augustinus nicht erst aus dem Zweifeln die Gewißheit der Existenz des zweifelnden Subjekts hervorgeht, sondern umgekehrt der Ausgangspunkt die evidente Existenz des Subjekts ist, die durch den Zweifel der Skeptiker nicht erschüttert werden (vielmehr nur bestätigt werden) kann. Die Vernunft oder der Verstand weiß sich als Lebensursache über Leib und Seele, aber unter einer transzendenten Seins- bzw. Lebensursache stehend, die religiös als Gott verehrt wird (lib. arb. 2,7–12). Dieses Wissen ergibt sich besonders aus der

Erwähnt sei, daß Augustinus seine Unsicherheit zur Herkunft der Seele von uns Individuen noch in der späteren Schrift De natura et origine animae und in den Retractationes bekennt.

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metaphysischen Erkenntnis, die Augustinus Weisheit nennt und die zur Quelle aller wahren Erkenntnis führt, zur Wahrheit selbst (lib. arb. 2,33 f.), zugleich zur Quelle des Seins und Lebens, wie auch der Freiheit und der Glückseligkeit. Danach faßt Augustinus nochmals den Schluß auf die Existenz Gottes zusammen (lib. arb. 2,39 f.). Die zweite Frage beantwortet dann die Argumentation, Kapitel 17, daß Gott, wie die Quelle des Seins aller Dinge, besonders der Menschen, und ihrer Wahrheit ist, so auch ihrer Gutheit und Vollkommenheit. Damit wird auch die Antwort auf die dritte Frage erreicht (lib. arb. 2,47–49). Zu den guten Dingen gehört ebenso der freie Wille, ungeachtet dessen, daß er auch zu Bösem mißbraucht werden kann. Zugrunde liegt die Unterscheidung zweier Ebenen, der ontologischen und der moralischen: Der Wille ist in seinem Sein gut, wie jedes substantiell Seiende, wenn er auch auf der Ebene der Handlungen Gutes oder Böses tun kann. Die Scholastik wird zwischen dem ersten (ontologischen) Akt und den zweiten Akten (den Funktionen der Seele) unterscheiden. Buch III erörtert schließlich die Frage, warum die Menschen sich freiwillig von Gott abgekehrt haben und sich immer wieder von ihm abkehren. Ausführlich wird als mögliche Antwort die Annahme zurückgewiesen, daß der menschliche Wille seiner Natur nach so zum Bösen hingeneigt sei, wie vergleichsweise der Stein von Natur dazu tendiert, nach unten zu fallen. Was den Geschöpfen ihrer Wesensnatur nach innewohnt, ist ihnen vom Schöpfergott gegeben. Was aber vom guten Gott gegeben ist, kann nicht zum Bösen hin geneigt sein. Hinzu kommt das Schuld-Bewußtsein der Menschen, die Böses tun. Würde der Wille aus eigener Natur Böses begehen, dann gleichsam aus innerem Zwang, aus Notwendigkeit (wie der Stein von Natur aus immer nach unten fällt), d. h. dann nicht mehr aus freiem Willen und schuldhaft, während sich die Ethik mit ihren Geboten gerade darum bemüht und dazu ermahnt, daß die Menschen sich vom Bösen abund zum Guten hinwenden, d. h. mit dem Verstand nach den ewigen Gütern streben, statt triebhaft nur die irdischen zu begehren. Der gute Gott hat dem Menschen den freien Willen gegeben, daß er Gutes tue. In allen Geschöpfen liegt eine ontologische Gutheit, unbeschadet möglicher Verderbnis und Unvollkommenheit. Aber auch jede Natur, die weniger gut werden kann, ist (gleichwohl) gut (lib. arb. 3,36). Letzte Ursache der Sünde ist der Wille (lib. arb. 3,48), und sündigen kann nur der freie Wille (lib. arb. 3,50). Durch die Erbsünde der StammA

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eltern sind die Menschen zwar in ihrem Wollen und Urteilen geschwächt, aber gleichwohl noch verantwortlich für ihr Tun. Abschließend (lib. arb. 3,74–77) beantwortet dann Augustinus die Frage, warum das rationale Geschöpf sich frei vom göttlichen Guten ab- und dem minderen Guten bzw. dem Bösen zugewandt hat. Der Grund ist beim Willen der Menschen und der Engel insofern verschieden, als der menschliche Wille dem sinnlichen Guten von höherer und niederer Art unvermeidlich begegnet, ihm entweder von Gott oder von Satan gegeben, wobei er sich für das eine oder andere entscheiden muß, hingegen der Wille der Engel nur dem göttlichen Guten begegnet und sich für oder gegen dieses entscheiden muß. In beiden Fällen aber ist die Entscheidung immer eine freie, und von Gott so gewollt, weil Gott in seiner Gutheit von den Geschöpfen nicht aus Zwang, gleichsam aus ihrer Wesensnotwendigkeit geliebt werden will, sondern aus ihrem eigenen Antrieb, mit freiem Willen. Daß das Geschöpf sich freiwillig vom guten Gott abgewandt hat, begründet Augustinus aus dem Rückbezug des geschöpflichen Verstandes auf sich selbst, so daß er dabei sich selbst als Objekt des Willens mehr zu lieben beginnt, als den Schöpfergott, gleichsam geblendet von seiner eigenen Schönheit, und in Hochmut verfällt und in Sünde, mit der Abkehr von Gott (Jesus Sirach 10,15.14).

2.

Natur und Freiheit bei Kant. Vergleich mit Augustinus

Wenden wir uns nun Kant zu, um auf seine Auffassung von Natur und Freiheit in den drei Kritiken einzugehen und diese mit der bei Augustinus zu vergleichen. Dabei kann ich vorteilhaft an Friedrich Delekat (Immanuel Kant) anknüpfen, welcher an die herrschende Kant-Interpretation (Hans Vaihinger, Heinz Heimsoeth) anschließt, sich aber wie auch Gottfried Martin (Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie) verdienstvoll dem Verhältnis des kritischen Kant zu der von seiner Kritik betroffenen Tradition widmet, die auf die Antike zurückreicht.

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Natur und Freiheit bei Augustinus und Kant

2.1 Vorbemerkung zu Kants Kritik Es geht um die, wesentlich auch von Augustinus vollzogene, Verbindung der Philosophie mit der christlichen Offenbarung, die für Kant problematisch und unannehmbar geworden ist. Freilich stützte sich Kant, wie Delekat betont, auf zeitgenössische Handbücher der Schultradition (die über Leibniz, Wolff und Baumgarten läuft); denn er hatte keinen direkten Zugang zu den antiken Quellentexten. In seiner Kritik an der Tradition verwendet er noch weitgehend ihre Terminologie, füllt sie aber nun mit ganz neuen Inhalten. Faktisch richtete sich seine Metaphysik-Kritik gegen den modernen Rationalismus – und gegen diesen zu Recht –, trifft aber keineswegs auf die traditionelle Metaphysik zu, wiewohl zu Unrecht gegen die Metaphysik allgemein gerichtet. Anstoß zur Metaphysik-Kritik gab der durch Francis Bacon begründete Empirismus, welcher (mit der Methode des Experiments) zur sehr erfolgreichen Ausbildung der Naturwissenschaften führte und mit einer scharfen Kritik an der traditionellen Naturphilosophie, einschließlich ihrer metaphysischen Grundlage, verbunden war. Im Anschluß an Delekat möchte ich feststellen, daß es Kant nicht nur um die Beseitigung des Konflikts einer von christlicher Offenbarung geformten Naturphilosophie, philosophischen Psychologie und Metaphysik ging, sondern auch um die Klärung des neuzeitlichen Gegensatzes zwischen den zwei Hauptrichtungen, dem kontinentalen (von Descartes begründeten) Rationalismus und dem Englischen Empirismus. Kants Transzendentalphilosophie versucht beide Richtungen zu kombinieren, indem er jede von ihnen teilweise ablehnt und teilweise akzeptiert. So streitet er den Rationalisten jede metaphysische Erkenntnis ab, hält aber mit ihnen an der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis a priori fest. An den Empiristen kritisiert er den Verlust wissenschaftlicher Erkenntnis, übernimmt aber von ihnen die Einschränkung der Erkenntnis auf die empirische Welt der Phänomene. Die Kombination beider Richtungen kommt in den Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck, in welchen jeweils die These den rationalistischen Standpunkt vorbringt, die Antithese den empiristischen. Dies zu sehen ist für das Verständnis der dritten Antinomie zwischen Natur und Freiheit hilfreich, die unser Thema betrifft und von mir unten besprochen wird. Zuvor ist noch festzustellen, daß sich laut lexikalischem Befund in Kants gesamtem Werk keine Verweise auf Augustins Schriften finden. A

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Eine von wenigen expliziten Erwähnungen Augustins lesen wir in einer vorkritischen Schrift, wo Kant den allgemein bekannten Ausspruch wiedergibt, mit den Worten (UDG A 79 = AA 2,283): »Augustinus sagt: Ich weiß wohl, was die Zeit sei, aber wenn mich jemand frägt, weiß ich’s nicht.« Kants Schrift richtet sich gegen die von Leibniz, Wolff und Baumgarten befolgte Methode ihrer Metaphysik, die mit allgemeinen Definitionen ihrer Begriffe beginnt und dabei größte Genauigkeit und Deutlichkeit beansprucht, nach dem Vorbild der mathematischen Wissenschaften. Die Metaphysik muß von den Erfahrungsdingen ausgehen und bei unseren Alltagsbegriffen beginnen, die wir von ihnen haben, wobei wir schon durch unseren gesunden Menschenverstand eine gewisse Vorkenntnis von den Dingen haben. Hierzu dient dann der zitierte Augustinus-Ausspruch. Kant benützt ihn nicht für eine starke Metaphysik-Auffassung, sondern für eine abgeschwächte, im Gegensatz zu Leibniz und seiner Schule. Während diese optimistisch für eine starke Metaphysik eintritt und sich auf Augustinus stützt, zeigt hiergegen Kant in seiner Schrift eine andere, empirische Einstellung zur Metaphysik und bezieht sich auf einen anderen, eher skeptischen Augustinus. Es gibt von personalistischer Seite immer noch Versuche, Augustinus als Skeptiker darzustellen und sich auf sein Wort zu berufen (conf. 4,9): »factus eram ipse mihi magna quaestio«. Doch sind diese und ähnliche Äußerungen persönlicher Art, in bestimmten Situationen gesprochen, und dürfen uns nicht seine philosophischen und theologischen Argumentationen übersehen lassen, die systematisch vorgehen und erfolgreich zu sehr positiven Ergebnissen gelangen, z. B. in den Confessiones über die Zeit, die klar definiert wird, oder in De libero arbitrio über Wesen und Herkunft des Bösen, sowie das Gute und die Wesensnatur des Menschen, mit der Klärung ihres Verhältnisses zur Freiheit, wobei der Ausgangspunkt durchaus immer ein empirischer ist. Eine Bemerkung sei mir noch zu dem jüngeren Versuch gestattet, gegenüber der herkömmlichen Kant-Interpretation einen ›anderen Kant‹ zu entdecken, der hinter seiner Kritik Metaphysiker geblieben sei. Hierzu hebt Aloysius Winter 4 besonders die tief religiöse Seite 4 Vgl. Aloysius Winter: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. – Im Zuge eines solchen Versuchs wird aus Kants Metaphysik-Kritik eine kritische Metaphysik, vgl. Norbert Fischer (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik.

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Kants hervor, wodurch all sein Philosophieren als Suche nach Gott zu verstehen ist. Nun haben diese Studien ihren unbestreitbaren Wert zum besseren Verständnis des Verhältnisses seiner Philosophie mit seinem Leben und ihrer religiösen Motivation. Aber sie nützt nichts zur Beurteilung von Kants wissenschaftlichen und philosophischen Theorien, wie seiner ausdrücklichen Erkenntniskritik und Metaphysik-Kritik, die als solche auch von den Zeitgenossen und den nachfolgenden Generationen so verstanden wurden und bis in die Gegenwart fortwirkten. Es gäbe viele Beispiele von Wissenschaftlern, wie z. B. Pascal oder Leibniz, die für ihre mathematischen Studien religiös motiviert waren. Aber hiernach kann nicht der wissenschaftliche Ertrag ihrer Mathematik beurteilt werden. Wollte man zur Beurteilung von Kants Philosophie auch seine religiöse Motivation in Anschlag bringen, so würde sich ergeben, daß sie seine Erkenntnis- und Metaphysik-Kritik eher verschärft hat, da sie ja zur gänzlichen Trennung von religiösem Glauben und philosophisch-kritischer Vernunft geführt hat.

2.2 Zu einigen Gesichtspunkten bei Kant, im Vergleich zu Augustinus Gehen wir zum Vergleich zwischen Augustinus und Kant über, so müssen wir uns auf einige Gesichtspunkte beschränken, welche den Verstand und den Willen, im Gegensatz zur Sinnlichkeit, das Sittengesetz, das Gute und Böse, sowie schließlich Natur und Freiheit betreffen. a.

Sinnlichkeit und Verstand

Sinnlichkeit und Verstand bzw. Vernunft treten bei Kant in scharfen Gegensatz, während die Tradition, zu der auch Augustinus gehört, beide zwar als wesentlich verschieden, aber doch in harmonischer Zuordnung zueinander betrachtet, weil bezogen auf ihre verschiedenen Objekte, d. h. auf die sinnliche und die intelligible Komponente der Erfahrungsdinge, die aus Materie und Formursachen konstituierte Einheiten sind. Durch den Verlust der Beziehung der Erkenntnis und ihrer Vermögen zu den Dingen an sich wird bei Kant gar nicht mehr ersichtlich, wie es überhaupt zur Unterscheidung von Sinnlichkeit und Vernunft im Menschen kommt, während die Tradition diese Unterscheidung erstmals aus der Verschiedenheit der Objekte einführte. Erfahrungsdinge sind ›konkret‹, weil aus den Materie- und FormA

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ursachen ›zusammengewachsen‹. Wie wir bei Augustinus gesehen haben, ist die Erkenntnis die Relation zwischen der substantiellen Seele und den substantiellen Dingen: Sie ist ›abstrakt‹ allgemein, nicht weil sie sich von den Erfahrungsdingen entfernt, sondern weil sie von ihrer sinnlich-materiellen Seite absieht, um zur intelligiblen Wesenheit in ihnen vorzudringen. Die Einheit der Dinge ist die Ursache für die Einheit der Sinnes- und Vernunfterkenntnis von ihnen im Subjekt. Anders bei Kant. Durch die subjektivistische Wende geht der reale Bezug zu den Dingen selbst verloren, an deren Stelle nun Objekte qua Phänomene im Subjekt treten. Was a priori erkennbar ist, hat seine Quelle nicht mehr aus Formursachen der Dinge selbst, sondern allein aus Erkenntnisbedingungen im Subjekt. Verstand, Vernunft und Wille haben kein eigenes, intelligibles Objekt mehr, sondern besitzen nur apriorische Denkformen (Verstandes-Kategorien einerseits und Vernunft-Ideen andererseits), die nur in Bezug auf die Erkenntnis der Erfahrungswelt im Subjekt eine positive Funktion gewähren, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft darlegt. Die Abweisung der Gottesbeweise beruht wesentlich auf der Kritik, daß Ideen für Dinge selbst genommen werden. Dies mag jedoch auf den modernen Rationalismus zutreffen, nicht aber auf die traditionellen, induktiven Beweise, die von den Erfahrungsdingen ausgehen, nicht von einer Gottesidee. Augustinus setzt bei der menschlichen Erfahrung an, daß jede Erkenntnis den Anspruch des Wahren enthält, was den Rückschluß auf eine reale erste Ursache für alles erkennbare Wahre erzwingt. Immer sind bei Augustinus der Verstand bzw. die Vernunft und der Wille in allem Erkenntnisstreben realistisch an den Dingen, dem Menschen und Gott, ausgerichtet. Der Bezug zu Gott ist implizit schon in allem wahren Erkennen einbeschlossen. Der metaphysische Beweis weist diesen Bezug explizit auf. b.

Das Sittengesetz

Der bei Kant theoretisch herausgestellte Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft wirkt sich auch in seiner praktischen Philosophie aus. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist er der entscheidende Gesichtspunkt, wonach Kant die gesamte Philosophie in eine empirische und eine reine Philosophie aufteilt. Dem ersten Bereich gehören die empirische Physik und Anthropologie, mit der empirischen Moral, an, dem zweiten der reinen Philosophie hingegen die 242

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Logik und Metaphysik, mit der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten. ›Metaphysik‹ umfaßt hier nicht mehr die realen Erstursachen der Dinge, sondern wird nun jeweils die Disziplin der ersten Erkenntnisprinzipien im Subjekt, nämlich zu den Bereichen der Natur und der Sitten: Prinzipien, die nur aus dem Subjekt selbst gewonnen werden können, unabhängig vom Erfahrungsbereich (Gesetz und Pflicht bzw. Verbindlichkeit, sowie Freiheit). Augustinus hingegen gründet die Ethik auf die rationale Wesensnatur des Menschen und das Gute in ihr, weshalb dieses nicht als bloß empirisch Gegebenes von einer reinen Prinzipientheorie getrennt werden darf. Die Ethik ist keine Theorie zur Praxis, sondern selber praktische Erkenntnis, die im guten Handeln ihren Zweck hat. Anders bei Kant, wenn er in der Vorrede sagt (GMS BA X = AA 4,430): »Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetz gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen.« Dadurch wird nun formalistisch das Gesetz zum Selbstzweck: Selbstbestimmung des Willens durch die Vernunft um der Selbstbestimmung willen. Dagegen ist bei Augustinus Zweck der Ethik und des sittlich guten Handelns nicht das Gesetz selbst, sondern das Gute im Menschen und in Gott. Das Gute begründet sich nicht aus dem Gesetz und der Freiheit, sondern umgekehrt das Gesetz und die Freiheit aus dem Guten. Ebenso begründen sich auch die Tugenden, von denen dann Kants Schrift ausführlich handelt, (traditionell gesehen) nicht aus dem Sittengesetz und der Freiheit, sondern sind selbst Prinzipien der Praxis als erworbene Qualitäten der substantiellen Seele. c.

Das sittliche Gute und Böse

In der Kritik der praktischen Vernunft nimmt Kant die Formulierung des Sittengesetzes aus der Grundlegung wieder auf, das dem Handelnden vorschreibt, immer so zu handeln, daß seine subjektive Maxime zugleich als Gesetzgebung für jedermann gelten könne (KpV A 54). Dieses benennt sicherlich richtig zwei Bedingungen für jede sittliche Norm, nämlich rational und allgemeingültig zu sein. Doch finden wir diese zwei formalen Bedingungen schon bei den Klassikern der Antike und der Patristik, auch bei Augustinus, ohne aber in den Formalismus zu verfallen, der bei Kant darin liegt, daß sein Sittengesetz keinen prinzipiellen Bezug mehr zum sittlichen Guten hat, zum letzten Zweck des A

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menschlichen Lebens, um dessentwillen gehandelt werden soll. Stattdessen soll nun nach dem Sittengesetz um des Gesetzes willen gehandelt werden. Im Grunde ist der sog. Kategorische Imperativ kein Gesetz, sondern nur eine formale Bedingung zu ihm. In Folge der Lehre der Kritik der reinen Vernunft, wonach der menschlichen Vernunft kein anderes Objekt gegeben werden kann als nur das in der Sinnesanschauung, lehnt Kant nun in der Kritik der praktischen Vernunft ausdrücklich das Gute als normativ der Vernunft vorgegebenes Objekt ab. Deshalb kann auch Gott als Ziel des sittlich guten Lebens nach Kant nur mit dem sinnlichen Glücksstreben verbunden vorgestellt werden, was freilich der an sich richtigen Forderung nicht genügen würde, daß das sittliche Prinzip frei von jeder sinnlichen Triebfeder sein muß. Das Gute kann bei Kant als Gegenstand der praktischen Vernunft nur als Wirkung von Handlungen verstanden werden, wenn sie der Mensch nach dem Kategorischen Imperativ vollzieht, nicht jedoch als vorgegebene Norm. Er formuliert das sog. ›Paradoxon der Methode‹ (KpV A 110): »daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anscheine nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.« Kant fährt fort, daß diese Methode, wiewohl ›paradox‹, doch zu befolgen sei (KpV A 112): »Sie erklärt auf einmal den veranlassenden Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Princips der Moral. Denn sie suchten einen Gegenstand des Willens auf, um ihn zur Materie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen (welches alsdann nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes der Bestimmungsgrund des Willens sein sollte)«. Bei den Klassikern, wie bei Augustinus, ist jedoch das sittliche Gute nicht material sinnlich, sondern formal der Vernunft gegeben, intuitiv im schlichten Selbstbewußtsein, mit dem sie das Gute in ihr selbst, und implizit in ihrem Schöpfergott, erfaßt. Was bei Kant als ›paradox‹ erscheint, ist für die Tradition gerade die natürliche Ausrichtung des Willens zum Guten. Wenn es nach Kant in dieser Welt nichts Wertvolleres gibt als einen guten Willen, so beschränkt sich die Gutheit auf das Bestimmtwerden durch die Vernunft. Nach der Tradition hingegen beruht die Gutheit des Willens in seinem Bezug auf das Gute

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selbst. Und dieses liegt in der substantiellen, rationalen Wesensnatur des Menschen. d.

Natur

Die erwähnten Schwierigkeiten bei Kant ergeben sich m. E. aus seinem erfolglosen Versuch, Empirismus und Rationalismus zu kombinieren, wodurch die theoretische und praktische Erkenntnis einerseits auf das sinnlich Erfahrbare eingeschränkt wird, von dem aber andererseits die Vernunft etwas a priori allgemein und notwendig erkennen soll. Den Gegensatz beider Richtungen hat Kant in den Antinomien ausgedrückt, von denen die dritte über Natur und Freiheit von uns nun noch abschließend zu behandeln ist. Vorweg nur ein Wort zu den Antinomien. Kant hat solche schon in seiner Dissertation von 1770 erörtert, da sich ihm bestimmte Probleme als unauflösbar gestellt haben, wenn aus den beiden Richtungen, der empiristischen und der rationalistischen, betrachtet, so daß nur ihre Unauflösbarkeit dargetan werden kann. Kant ›erklärt‹ sie dadurch, daß er einen Widerstreit zwischen Sinnlichkeit und Vernunft im Subjekt ansetzt. 5 Damit stellt er sich der gesamten Tradition, auch Augustinus, entgegen, die beide Vermögen im Menschen zwar als wesentlich verschieden angesehen hat, aber nicht als in Widerstreit, sondern in harmonischer Zuordnung zueinander stehend; denn alle Allgemeinerkenntnis gewinnt ja die Vernunft aus der Sinneserfahrung, und zwar durch den Abstraktionsprozeß, dem weder der Empirismus, noch der Rationalismus gerecht werden. Descartes’ Dualismus in die materielle Welt der Sinneserscheinungen und die des rationalen Denkens wird in beiden Richtungen nicht überwunden, sondern von ihnen eher bestätigt. Zu Kant würde ich bemerken, daß Probleme dort gelöst oder auch erklärt werden müssen, wo sie auftreten, d. h. wenn sie auf der Objektseite auftreten, dürfen sie nicht durch einen Widerspruch auf der Subjektseite erklärt werden. In der ersten kosmologischen Antinomie (KrV B 454 ff.) setzt Kant der rationalistischen These, daß die Welt einen Anfang habe, weil aus endlichen Substanzen zusammengesetzt, die empiristische Antithese Vgl. MSI (Sectio I (De notione mundi generatim, § 1), wo ein »dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem« festgestellt wird.

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entgegen, daß die Welt in unbestimmt weiten Sinneserscheinungen ohne Anfang sei. Durch diesen Gegensatz zwischen dem rationalistischen Weltbegriff als metaphysischen (der unsichtbaren immateriellen Monaden) und dem empiristischen (der unbestimmt verschwimmenden Erscheinungen) ergeben sich aber zwei völlig verschiedene, bloß äquivoke Weltbegriffe, die in überhaupt keiner Beziehung mehr zueinander stehen können, auch nicht in einer antinomischen. Dagegen haben wir Menschen doch einen einheitlichen, wenn auch komplexen, Weltbegriff, der sich zwar auf Sinneserfahrungen stützt, aber doch zugleich immer auf die Welt als Objekt der Vernunft bezogen ist, mit dem Bewußtsein, eine substantielle Realität zu sein, was wir auch aus den Klassikern der Tradition, wie Augustinus, entnehmen können. Zur Frage der Kausalität der Welterscheinungen erweisen sich für Kant Natur und Freiheit als gänzlich widerstreitende Erklärungen, die er in der dritten Antinomie darlegt (KrV B 472 f.), wo die These (rationalistisch) für die Naturkausalität, im Geschehen der abfolgenden Reihen der Erscheinungen einen Anfang aus einem spontanen Prinzip der Freiheit fordert, die Antithese hingegen (empiristisch) jeden Anfang aus einem solchen Prinzip der Freiheit abweist, da alles vielmehr nur nach Gesetzen der Erscheinungen des Naturgeschehens erfolgt. Anders als bei Kant sind bei Augustinus Natur und Freiheit harmonisch aufeinander zugeordnet, wobei die Begriffe bei beiden Denkern sehr verschieden sind. Bei Kant ist ›Natur‹ nur ›der Inbegriff der Erscheinungen‹6 und ›Kausalität‹ lediglich die Gesetzmäßigkeit in der Abfolge der Erscheinungen (vgl. KrV B 233 ff.: Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität.) Sie könnte nur durch den Eintritt einer rationalen Tätigkeit Gottes durchbrochen werden, die als Akt der Freiheit allem Naturgeschehen entgegengesetzt ist. Ganz anders bei Klassikern der Tradition, wie Augustinus. Hier bedeutet ›Natur‹ das Gesamt der Erfahrungsdinge, der unbelebten wie besonders der belebten, mit den ihnen immanenten Materie- und Form-, Bewegungs-, Zweckursachen. Die Ursachen sind mehr als Gesetzmäßigkeit. Gerade wenn es Gesetzmäßigkeiten in den Naturabläufen gibt, stellt sich umso mehr die Frage nach ihrer Ursache. Was eine Vernunftursache aus Freiheit betrifft, so findet sie sich 6 Vgl. KrV A 114: »Bedenkt man aber, daß diese Natur an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, mithin kein Ding an sich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts sei« usw.

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auch bei Augustinus, aber in realistischer, substantieller Bedeutung, wonach sie einerseits in den geistigen Geschöpfen liegt, wie auch im Menschen, andererseits im transzendenten Schöpfergott, über den immanenten, irrationalen Naturursachen in Pflanzen und Tieren. Diese letzteren werden bei Kant überhaupt übergangen. In der ›dritten Kritik‹ schreibt Kant bekanntlich die Finalität in der Natur nur der menschlichen Betrachtungsweise zu, ›als ob‹ sie der Natur zukäme (vgl. dort vor allem die Paragraphen74 und 75). e.

Freiheit

Hinsichtlich der Freiheit haben wir bei Augustinus gesehen, daß sie sich als eine Eigenschaft des Willens erweist. Wie daher der Wille auf das Gute als Objekt gerichtet ist, so bezieht sich auch die Freiheit selber auf das Gute. Sie begründet sich aus diesem Bezug und vollendet sich in der Erfüllung des Guten. Dieses liegt aber in der rationalen Natur des Menschen, mit der Vorordnung der Vernunft vor dem Trieb, den sie beherrschen soll. Im sittlich guten, geordneten Menschen steht die Freiheit nicht in Gegensatz zu seiner Natur, wie oben zu Augustinus dargelegt. Kant hingegen begreift die Freiheit nicht aus dem Bezug des Willens zum Guten als Objekt, sondern aus der Selbstbestimmung des Willens durch die praktische Vernunft. Seine Freiheitslehre 7 umreißt die Freiheit negativ als Unabhängigkeit der Willensakte von äußeren und inneren Faktoren (Trieben, Begierden), sowie positiv aus der Bestimmtheit des Wollens durch die praktische Vernunft, als sittliches Faktum.

7 Vgl. die Hauptgesichtspunkte in der Kritik der praktischen Vernunft, bes. Vorrede (KpV A 3–28), sowie Erster Teil, 1. Buch, 8. Hauptstück: Kritische Beleuchtung der Analytik der praktischen Vernunft (KpV A 159–191).

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Einleitung

Die Philosophie Kants ist in einem eminenten Sinne eine Praktische Philosophie. Alle drei kritischen Hauptwerke zielen auf die praktische Philosophie und vollenden sich in ihr, so daß in ihnen der Primat der praktischen Vernunft (KpV A 215 ff.) deutlich zum Ausdruck kommt. 1 Das Sollen und das Böse als Themen der Philosophie Kants beziehen sich, wie man leicht erraten kann, auf einen gemeinsamen Nenner – auf die Freiheit des menschlichen Willens. Bekannterweise bildet der Begriff der Freiheit, »so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist […] den Schlußstein […] der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft« (KpV A 4). Die erste Hälfte des gerade zitierten Satzes läßt sich durch eine andere Variante ersetzen: die Wirklichkeit der Freiheit wird durch ein ›kategorisches Sollen‹ (GMS BA 111 = AA 4,454) erwiesen. Der Versuch, den Begriff der Freiheit auf dem theoretischen Weg zu beweisen, scheiterte in der Kritik der reinen Vernunft. Kant kommt zu dem Schluß, daß man in theoretischer Hinsicht lediglich die Nichtunmöglichkeit der Freiheit Vgl. z. B. John R. Silber: Die metaphysische Bedeutung des höchsten Guts, 549: »In allen drei Kritiken wird der moralische Gebrauch der Vernunft als primär anerkannt, denn nur in diesem Gebrauch findet die Vernunft Befriedigung für alle ihre Interessen.« Der Primat des Praktischen gilt bereits für die erste Kritik, wie u. a. Otfried Höffe hervorhebt: Kants Kritik der reinen Vernunft, 23: »Letztlich will Kant aber nicht vorempirische Voraussetzungen der Empirie, sondern die Möglichkeit von Moral und Moraltheologie mit ihren Fragen nach Seele, Freiheit und Gott ausloten. […] Wer die Kritik nur als Theorie der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft, vielleicht zusätzlich noch als allgemeine Erkenntnistheorie liest, dem entgeht die Pointe: Nicht erst in seiner Moraltheorie, sondern schon in seiner Theorie des Wissens philosophiert Kant in praktischer, genauer: moralischer Absicht. Wer das Werk bis zum letzten Teil, der ›Methodenlehre‹, liest, erfährt, was schon im Motto und der zweiten Vorrede anklingt: Die Kritik als ganze ist eine im emphatischen Sinn praktische Philosophie.«

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Das Sollen und das Böse als Themen der Philosophie Kants

behaupten könne. 2 Die Freiheit bleibt eine transzendentale Idee, das heißt eine Idee zwar, auf die sich die Vernunft notwendigerweise bezieht, aber sie bleibt doch nur eine problematische Idee, die nicht auf die Gegenstände der Erfahrung anwendbar ist. In seiner praktischen Philosophie findet Kant den Schlüssel, der ihm die Tür zur Wirklichkeit der Freiheit letztendlich eröffnet: das unbedingt geltende moralische Gesetz, ein unbedingtes Sollen. Die Realität der Freiheit ›offenbaret sich‹ uns durch das moralische Gesetz. Das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi der Freiheit und die Freiheit bildet die ratio essendi des moralischen Gesetzes (vgl. KpV A 5), sodaß beide aufeinander ›wechselweise‹ verweisen (vgl. KpV A 52). Das Bewußtsein dieses unmittelbar auftretenden, kategorisch geltenden Sollens nennt Kant ›das einzige Faktum der reinen Vernunft‹ (KpV A 56). Das faktisch auftretende moralische Bewußtsein bildet den archimedischen Punkt, von dem aus Kant seine ganze Konzeption der Praktischen Philosophie entwickelt. Im Ausgang vom Sittengesetz bestimmt er auch die Begriffe des Guten und des Bösen, die er als ›die alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft‹ (KpV A 101) bezeichnet. Die ›Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit‹ (KpV A 100) nennt Kant auch Gegenstand der praktischen Vernunft. Nicht die Begriffe des Guten und des Bösen bestimmen das moralische Gesetz, sondern umgekehrt. 3 Aus dem Sittengesetz heraus bestimmen sich das Gute und das Böse. Wenn das Gesetz den Willen unmittelbar bestimmt, ist die ihm gemäße Handlung ›an sich selbst gut‹ (KpV A 109) und der Wille – Die Auflösung der dritten Antinomie endet mit einem vorerst negativen Resultat, in dem Kant festhält, er habe weder die Wirklichkeit (»als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten«) noch die Möglichkeit (»weil wir überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Kausalität, aus bloßen Begriffen a priori, die Möglichkeit erkennen können«; vgl. KrV B 585 f.) der Freiheit dartun wollen (KrV B 586): »Daß nun diese Antinomie auf einem bloßen Scheine beruhe, und, daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten«. Noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bekennt Kant sein Unwissen darüber, »wie Freiheit möglich sei« (GMS BA 120 = AA 4,459). Ebenso unbegreiflich stellt sich die unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs dar. Am Ende der Grundlegung (BA 128 = AA 4,463) steht aber ein Satz, der für die gesamte praktische Philosophie Gültigkeit beanspruchen kann: ›wir begreifen‹ alleine die ›Unbegreiflichkeit‹ des objektiv geltenden moralischen Gesetzes. 3 Kant nennt diese Reihenfolge ›das Paradoxon der Methode‹ (KpV A 110): »daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach so gar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.« 2

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als die oberste Bedingung alles Guten – schlechterdings gut. Und da die Vernunft zu einem gegebenen Bedingten stets die absolute, unbedingte Totalität des Gegenstandes sucht, gelangt sie zum Begriff des höchsten Guts (KpV A 194). Im höchsten Gut wird nochmals das oberste und das vollendete Gut unterschieden: unter dem obersten höchsten Gut versteht Kant die Tugend (›als die Würdigkeit glücklich zu sein‹) und unter dem vollendeten höchsten Gut Tugend mit Glückseligkeit vereint, die in genauer Proportion zur Sittlichkeit steht (vgl. KpV A 198 ff.). Merkwürdigerweise behandelt somit Kant in der zweiten Kritik alleine das Gute unter dem Begriff des höchsten Guts (vgl. dazu KpV A 198 ff.). Der Begriff des Bösen wird neben dem Begriff des Guten lediglich als einer von den zwei Gegenständen oder Objekten der praktischen Vernunft eingeführt. Eine ausführliche Charakterisierung wurde von Kant ohne Begründung stillschweigend unterlassen. Erst fünf Jahre später macht Kant das Böse in der Religionsschrift zum eigentlichen Thema der Untersuchung, vor allem im ersten Buch. Man kann die Religionsschrift, in der verschiedene Themen angesprochen werden, auf unterschiedliche Art lesen und interpretieren. Ihre inhaltliche Kontinuität mit der kritischen Philosophie zu zeigen, stellt die Absicht dieses Beitrags dar. Die Religionsschrift setzt die kritische Philosophie voraus und führt sie fort. Kant selbst hat die Religionsschrift in den Gesamtentwurf seiner Philosophie eingegliedert. In einem Brief vom 4. Mai 1793 schreibt er an Carl Friedrich Stäudlin (AA 11,429): »Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon seit mehr als 20 Jahren jährlich ein Collegium gelesen habe). – Mit beikommender Schrift: Religion innerhalb den Grenzen etc. habe die dritte Abtheilung meines Plans zu vollführen gesucht, in welcher Arbeit mich Gewissenhaftigkeit und wahre Hochachtung für die christliche Religion, dabei aber auch der Grundsatz einer geziemenden Freimüthigkeit geleitet hat, nichts zu verheimlichen, sondern, wie ich die mögliche Vereinigung der letzteren mit der reinsten praktischen Vernunft einzusehen glaube, offen darzulegen.« Die Religionsschrift (A 1793, B 1794) ist die erste große Schrift, die nach der Vollendung des ›kritischen Geschäfts‹, also nach den drei Kritiken (Kritik der reinen Vernunft A 1781, B 1787; Kritik der prakti250

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schen Vernunft 1788; Kritik der Urteilskraft 1790) erschienen ist. Inhaltlich steht die Schrift in einem klaren sachlichen Zusammenhang mit dem Projekt der kritischen Philosophie. Vor allem die Thematik des Bösen stellt eine konsequente Fortführung der denkerischen Bemühung um das Problem der Freiheit dar. In der Kritik der praktischen Vernunft konnte Kant das Böse offenbar noch nicht befriedigend fassen. Erst mit der Bestimmung des ›radikal Bösen in der menschlichen Natur‹ wird die Lücke geschlossen, die die Kritik der praktischen Vernunft hinterlassen hat. So läßt sich die Religionschrift in dieser Hinsicht als ›Kants letzter Schritt im Denken der Freiheit‹ deuten. 4 Die Behandlung des Bösen ergibt sich konsequenterweise aus der zentralen Freiheitsproblematik, die somit zu einem gewissen Abschluß gebracht wird. Ebenso soll gezeigt werden, daß sich Kant bereits vor seinen kritischen Werken zur praktischen Philosophie mit der Problematik des Bösen beschäftigt hat. Dies soll ein Vergleich mit der Vorlesungsnachschrift zur praktischen Philosophie deutlich machen, die Paul Menzer unter dem Titel Eine Vorlesung Kants über Ethik im Jahre 1924 veröffentlicht hat.

2.

Das Sollen

Die explizite Rede vom Sollen finden wir an unterschiedlichsten Stellen des Kantischen Werks, die Zahl der Stellen hält sich jedoch in überschaubarem Ausmaß. Von der Sache her gelesen, gehört das Sollen zum neuralgischsten Punkt der praktischen Philosophie Kants. Denn überall dort, wo von der Pflicht 5 und in einem höheren Maße wo vom Sittengesetz (Moralgesetz; objektiv praktisches Gesetz etc.) die Rede ist, da ist ein Sollen, genauer gesagt, ein kategorisches Sollen gemeint. 6

Vgl. Norbert Fischer: Das ›radicale Böse‹ in der menschlichen Natur. Kants letzter Schritt im Denken der Freiheit. 5 Der Begriff der Pflicht wird hier gemieden, da er in der Interpretationsgeschichte zu vielen Mißverständnissen führte und zugegebenermaßen auch zu einem falschen Verständnis verführen kann. Um solche Mißinterpretationen zu vermeiden, soll allem voran auf die behandelte Sache Bezug genommen werden, nicht so sehr auf die Wortwahl. 6 Nicht berücksichtigt wird hier das Sollen im Sinne der ästhetischen Urteilskraft. Vgl. dazu z. B. § 19 in der Analytik des Schönen in der Kritik der Urteilskraft. 4

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2.1. Sollen als Nötigung – Kennzeichen unserer menschlichen Verfassung (als Glieder zweier Welten) Schon etwa in der vorkritischen Schrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral aus dem Jahre 1764 wird »jedes Sollen« als »eine Nothwendigkeit der Handlung« bestimmt, in der ich etwas entweder als ein Mittel zu einem anderen Zweck, oder in der ich etwas unmittelbar als einen Zweck tun soll (UDG A 96 = AA 2,298). Die Vorwegnahme der hypothetischen und der kategorischen Imperative ist unübersehbar. Laut der Kritik der praktischen Vernunft (KpV A 37 f.) sind die hypothetischen Imperative bedingt, sie bestimmen den Willen ›nur in Ansehung einer begehrten Wirkung‹ und gelten somit als Vorschriften der Geschicklichkeit. Die kategorischen Imperative dagegen bestimmen den Willen schlechthin und verdienen alleine die Bezeichnung eines praktischen Gesetzes. Kant zeigt sich überdies in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze überzeugt, eine oberste Regel der Verbindlichkeit müsse eine Handlung unmittelbar notwendig gebieten können und daß »eine solche unmittelbare oberste Regel aller Verbindlichkeit schlechterdings unerweislich sein müsse« (UDG A 97 = AA 2,299). Das Sollen drückt eine Nötigung des Willens aus, die uns die Beschaffenheit unseres endlichen Wesens vor Augen führt. Eines Wesens, das zwei Welten bewohnt: die Sinnenwelt und die intelligible Welt. Dementsprechend besitzt der Mensch einen doppelten Charakter, einen empirischen und einen intelligiblen. So kann man laut Kant »die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Ding an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt« (KrV B 566). Die Charakterisierung des Sollens in der Kritik der reinen Vernunft scheint vorerst nur eine Anzeige der Freiheit abzugeben: 7 die Vernunft formuliert für unser Verhalten ununterbrochen Imperative, 8 die uns erahnen lassen, daß wir der Naturkausalität nicht völlig unterliegen (KrV B 575): »Daß diese Vernunft nun Kausalität 7 In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft wird die Angelegenheit des Freiheitsaufweises problematischer – einige Formulierungen scheinen direkt auf die Kritik der praktischen Vernunft zu deuten. Die Widersprüche innerhalb des Textes sind jedoch zu groß, als daß eine eindeutige Interpretation möglich wäre. 8 Imperative sind zwar wie die Maximen ›praktische Grundsätze‹, gelten jedoch im Unterschied von Maximen, die nur subjektiv gültig sind, objektiv. Weil sie objektiv

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habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben.« Und wenig später heißt es, daß, wenn Vernunft Kausalität in Ansehung der Erscheinungen haben kann, »so ist sie ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer empirischen Reihe von Wirkungen zuerst anfängt« (KrV B 580). 9 Kant hebt deutlich hervor, daß wir im Sollen solche Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen vorfinden, ›die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt‹ (KrV B 575). Die Naturgründe können nur ein bedingtes Wollen hervorrufen, niemals jedoch ein Sollen, das sich auf eine andere Kausalität beziehen muß als auf die Kausalität der Natur. Das Sollen drückt eine mögliche Handlung aus, die die Vernunft mit ihrer spontanen Kausalität fordert. Fragt man also nach einer Handlung aus Freiheit, muß man die Handlung der Vernunft nach beurteilen und nicht der Zeit nach. Denn in der Zeit betrachtet, sind alle Handlungen lediglich Erscheinungen und unterliegen als solche den kausalen Abläufen in der Natur. Genau diese Unterscheidung nimmt Kant in der Religionsschrift wieder auf, wenn es um den Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur geht. Bei einer ›bösen Handlung‹ müssen wir, um sie richtig zu verstehen, nach dem ›Vernunftursprung‹ fragen und nicht nach dem ›Zeitursprung‹ (RGV B 40 ff. = AA 6,39–41). Denn wenn wir eine Handlung in der Zeit betrachten, können wir immer einen ›Grund‹ angeben, der diese konkrete Handlung verursacht hat. Es entsteht also eine Kausalreihe, der die jeweilige Handlung unterliegt. Auf diesem Weg kommen wir lediglich zu einer bedingten Handlung, die den naturkausalen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Eine Handlung aus Freiheit ist jedoch für Kant eine solche, die diesen empirischen Gesetzmäßigkeiten (was die Ursache und nicht die Wirkung der Handlung angeht) nicht unterliegt. Wir müssen die Handlung unter dem Aspekt der praktischen Vernunft betrachten, sodaß kein weiterer Grund anzugeben ist als die praktischvernünftige Verfassung des freien Willens. Denn »freie Akte können nicht aus der Zeitreihe resultieren, sondern müssen Akte sein, die et-

gelten, das heißt als ›für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens gültig erkannt‹ werden, können sie für den Willen ein Sollen ausdrücken. Vgl. dazu KpV A 35 ff. 9 Es handelt sich eigentlich um die Definition der transzendentalen Freiheit in KrV B 474. A

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was – das Gute oder Böse – in die Zeit hinein setzen«. 10 Kant kann aus systematischen Gründen keinen weiteren Grund für eine freie Handlung nennen, denn das würde bedeuten, eine freie Handlung hätte ihre letzte Ursache nicht in der Freiheit, sondern die Freiheit wäre wiederum von einem weiteren Grund abhängig, ergo gäbe es keine wirkliche freie Tat. Deshalb kann Kant im Hinblick auf eine böse Handlung sagen – und dies gilt genauso für eine gute Handlung (RGV B 42 = AA 6,41): »Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen sind: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden.«

Imperative sind laut Kant Formeln, die »das Verhältniß objectiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjectiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens« ausdrücken (GMS BA 39 = AA 4,414). 11 Sollen kann es nur deshalb geben, weil ich als bedürftiges, endliches, jedoch vernünftiges und freies Wesen noch keine Heiligkeit des Willens besitze. Ich bin als Mitglied zweier Welten einem Sollen ausgesetzt, da ich noch nicht dem moralischen Gesetz entspreche und oft wie Herkules am Scheidewege mehr Hang zeige, ›der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben‹ (MST A 2 f. = AA 6,379): »Der moralische Imperativ verkündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht auf vernünftige Wesen überhaupt (deren es etwa auch heilige geben könnte), sondern auf Menschen als vernünftige Naturwesen geht, die dazu unheilig genug sind, daß sie die Lust wohl anwandeln kann das moralische Gesetz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerkennen, doch zu übertreten und, selbst wenn sie Vgl. Bernd Dörflinger: Kant über das Böse, 99. Vgl. auch GMS BA 37 = AA 4,413: »Die Vorstellung eines objectiven Princips, sofern es für einen Willen nöthigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Imperativ. //Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt.« Fast wortgleich auch in KpV A 36: »Diese [praktische] Regel ist aber für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist, ein Imperativ, d. i. eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objektive Nöthigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird«. 10 11

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es befolgen, es dennoch ungern (mit Widerstand ihrer Neigung) zu thun, als worin der Zwang eigentlich besteht.«

Auf den Hang, wider des besseren Wissens das Moralgesetz zu übertreten, wird weiter unten Bezug genommen.

2.2. Wie das Sollen ins Denken kommt – moralisch relevante Situationen In der Kritik der praktischen Vernunft erfährt der Begriff des Sollens gegenüber der ersten Kritik – aber auch gegenüber der Grundlegung – eine Erweiterung. Es drückt nicht mehr nur unsere Situation der doppelten Natur aus, indem sie uns die Idee der Freiheit annehmbar macht, sondern mutiert nun zum für Kant endgültigen praktischen Beweis für die Freiheit des Willens. Die faktische Gegebenheit des unbedingt geltenden Sollens steht von da an im Mittelpunkt und von ihr wird die ganze praktische Philosophie von der Sache her aufgerollt. Das unbedingte Sollen bezeugt nun für Kant die Wirklichkeit der Freiheit. Philosophiegeschichtlich könnte man die Darstellung des Auftretens eines unbedingt geltenden Sollens bei Kant als teilweise von Rousseau 12 inspiriert und von Levinas fortgeführt und ergänzt charakterisieren. Wie schon erwähnt, geht Kant von der Faktizität des moralischen Bewußtseins aus. Um verdeutlichen zu können, was er unter dem faktischen Auftreten eines Moralgesetzes versteht, schildert Kant ›moralisch relevante Situationen‹, 13 in die der Mensch unvermittelt gerät. Das vielleicht berühmteste Beispiel finden wir in der Kritik der praktischen Vernunft (es ließen sich jedoch aus der oft grausamen Geschichte des Mit Rousseau teilt Kant die Überzeugung, daß sowohl die Freiheit des menschlichen Willens als auch das Gewissen eine erfahrbare Evidenz der menschlichen Existenz darstellt und zwar bei jedem Menschen. Vgl. dazu u. a. Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, 40 ff. oder Dieter Sturma: Jean-Jacques Rousseau, 88–102. 13 Über ›moralisch relevante Situationen‹, die Kant schildert (und die der grundsätzlichen Problematik des ethischen Anspruchs des Anderen bei Emmanuel Levinas nahestehen), um die Entstehung des Bewußtseins eines unbedingt geltenden moralischen Gesetzes zu erläutern, spricht Norbert Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 155, 176, 223. Zu Levinas vergleiche Totalité et Infini, 24 und Ethique et Infini, 83 f. Von einer ›moralisch-praktisch relevanten Situation‹ ist ebenfalls bei Bernd Dörflinger die Rede: Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants, 218. 12

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20. Jahrhunderts genug erschütternde Beispiele anführen): Im § 6, quasi als eine Hinführung auf das ›Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft‹, geht Kant der Frage nach, womit die Erkenntnis des ›unbedingt-Praktischen‹ anhebe. Den Anfang bildet die Erfahrung eines moralischen Bewußtseins. Kant schildert aufgrund von zwei Beispielen, daß wir uns in bestimmten ›moralisch relevanten Situationen‹ des moralischen Gesetzes unmittelbar bewußt werden. In dem bekannten Beispiel einer ›moralisch relevanten Situation‹ wird ein Mensch von einem Fürsten genötigt, unter Androhung der Todesstrafe ein falsches Zeugnis gegen einen schuldlosen Mann abzulegen, den der Fürst vernichten will. Ob der Betroffene dem Druck des Fürsten widersteht, bleibt unausgemacht, er muß jedoch einräumen, daß es ihm möglich ist, da er sich zugleich bewußt wird, daß er soll, daß er einen freien Willen besitzt (vgl. KpV A 54). Indem ich etwas in einer konkreten Situation tun soll, wird mir zugleich bewußt, daß ich es kann. Das Bewußtsein eines Sollensanspruches, sprich eines Moralgesetzes, führt zur Erfahrung der eigenen Freiheit. Das faktisch auftretende Bewußtsein des Sittengesetzes nennt Kant das ›einzige Faktum der reinen Vernunft‹ (KpV A 56), das als das fundamentum inconcussum der praktischen Philosophie Kants gelten kann. Dieses Faktum ist kein empirisches, läßt sich »nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln«, es drängt sich uns »für sich selbst« auf, es ist »ursprünglich gesetzgebend« und »unleugbar« (KpV 56 f.; vgl. auch KpV A 72; A 74; A 81). Die fundamentale Bedeutung der konkreten moralischen Erfahrung des Bewußtseins eines Sollensanspruches bringt das Denken Kants in die Nähe der ethischen Philosophie von Emmanuel Levinas. Die Erfahrung des moralischen Bewußtseins ist eine besondere Erfahrung, eine andere Erfahrung als zum Beispiel diejenige, die unsere Erkenntnis anstößt. Deshalb betont Kant, daß das einzige Faktum der reinen Vernunft zwar ›gegeben‹ ist, aber kein empirisches Faktum darstellt. Mit Levinas, der in seinem Ethikdenken auf dieselbe ›banale‹ Erfahrung des moralischen Bewußtseins rekurriert (vgl. TI 24), kann man sagen, es handele sich um eine absolute Erfahrung (»expérience absolue«; vgl. TI 37) oder auch um ›Erfahrung ohne Begriffe‹ (»expérience sans concept«; vgl. TI 74). Die Charakterisierung der Begegnung mit einem anderen Menschen (vor allem im Antlitz) bei Levinas könnte eine Ergänzung der kantischen Position darstellen. Bei Levinas wird allem voran die Rolle des Anderen beim Zustandekommen des mora256

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lischen Bewußtseins in ein helles Licht getaucht. Dagegen bleibt die Anwesenheit des Anderen bei Kant unterbelichtet. So gesehen könnte die Philosophie des Anderen von Levinas ein neues Licht auf die Position Kants werfen. Die Beispiele der moralisch relevanten Situationen, die Kant in seinem kritischen Werk verwendet, deuten darauf hin, daß sich die Vernunft aufgrund ihrer Autonomie zwar das sittliche Gesetz selber aufgibt, aber immer angesichts der anderen Menschen. In der Grundlegung kommt es zu einem denkwürdigen Moment. Obwohl der kategorische Imperativ seiner Definition nach unbedingt (also grundlos) gilt, findet Kant doch einen ›Grund‹ des möglichen kategorischen Imperativs: 14 den Menschen als Zweck an sich selbst: Das Dasein des Menschen hat als Zweck an sich selbst einen absoluten Wert; in diesem Sinne ist der Mensch Person, die ›Gegenstand der Achtung‹ ist (GMS BA 64 f. = AA 4,428). Den Grund eines obersten praktischen Prinzips formuliert Kant folgendermaßen (GMS BA 66 = AA 4,429): »die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip«. Und dann nennt Kant seine berühmte (sog. zweite) 15 Definition des kategorischen Imperativs (GMS BA 66 f. = AA 4,429): »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« 16 Der ethische Imperativ richtet sich immer an mich. Ich soll den Anderen als Zweck an sich selbst achten, als Person respektieren. 17 Ich selbst bin in einer ethischen Situation zwar auch Zweck an Vgl. dazu Norbert Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 172 f. Die erste (später verfaßte) lautet (KpV A 54): »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« 16 Vgl. dazu auch KpV A 155 f.: »Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst.« 17 Im Motiv der Achtung finden wir einen weiteren Hinweis, der den anderen Menschen in der Frage nach der Quelle der Moralität ebenfalls ins Spiel bringt. Auch wenn Kant meistens über die Achtung für das Gesetz spricht, sind in der Achtung die anderen Menschen als Personen mitgemeint: »Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur 14 15

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sich selbst, jedoch in einem anderen Sinne: als ›Subjekt des moralischen Gesetzes‹ (vgl. KpV A 156). Der Mensch ist Endzweck als Zweck an sich selbst und er hat einen Endzweck, er soll eine ethische Welt zu verwirklichen suchen.

3.

Das Böse

Wie schon angedeutet worden ist, ergibt sich die Thematisierung des Bösen aus der konsequenten Behandlung der Problematik, die der Begriff der Freiheit mit sich bringt, der wiederum auf das moralische Gesetz hinweist. Die Rede vom Bösen (wie vom Guten) setzt die Freiheit des Willens als auch die Gegebenheit des moralischen Gesetzes voraus. Das Böse und das Gute sind Angelegenheiten des menschlichen Willens, der eben beides hervorbringen kann. Kant präsentiert seine Ansichten über das Böse in der Religionsschrift unter den bekannten Stichworten des ›radikalen Bösen‹ 18 und des ›Hanges zum Bösen‹ in der menschlichen Natur. Bereits bei seiner Erstveröffentlichung stieß die These vom radikalen Bösen auf einen heftigen Widerstand. 19 Es erhebt sich die Frage, auf welchem Weg Kant zu seinen Thesen kommt. Ähnlich wie beim Phänomen des Auftretens eines moralischen Bewußtseins kombiniert Kant methodologisch den phänomenologischen mit seinem transzendentalen Zugang. Er geht von den Phänomenen aus und sucht zu ihnen zugleich einen erkenntnisgesicherten Zugang, Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt« (GMS BA 17 Fn = AA 4,401 Fn). In der Kritik der praktischen Vernunft erklärt Kant klipp und klar: »Achtung geht jederzeit nur auf Personen« (KpV A 135). Festhalten läßt sich jedenfalls an der Einsicht, daß Achtung fürs Gesetz und Achtung für die Person des anderen Menschen nicht voneinander getrennt werden kann, oder anders gewendet, Achtung fürs moralische Gesetz ist ohne Achtung gegenüber dem Anderen undenkbar. 18 Die Wortwahl ›radikal‹ spielt auf das lateinische Wort radix an. Kant will damit sagen, daß der Hang zum Bösen in der menschlichen Natur ›verwurzelt ist‹. Vgl. dazu RGV B 27 = AA 6,32. 19 Goethe hat sich in seinem Brief an Herder vom 7. 6. 1793 über Kants These abschätzig geäußert: »Dagegen hat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.« Vgl. J. W. Goethe: Italien – Im Schatten der Revolution, 676. Herder sprach über ›philosophische Satansdogmatik‹ und über ›philosophische Diaboliade‹. Vgl. dazu Axel Ridder: Die Freiheit und das radikal Böse als intelligibles moralisches Verhältnis, 20.

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sucht sie erkenntniskritisch zu sichern, 20 soweit es möglich erscheint. Im Zusammenhang der Frage nach dem Bösen wird zunächst eine wirkliche böse Tat in den Augenschein genommen, um jedoch unvermittelt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer konkreten bösen Handlung zu fragen (RGV B 42 = AA 6,40): »wenn wir dem Ursprunge des Bösen nachforschen, wir anfänglich noch nicht den Hang dazu […] in Anschlag bringen, sondern nur das wirkliche Böse gegebener Handlungen, nach seiner innern Möglichkeit und dem, was zur Ausübung derselben in der Willkür zusammenkommen muß, in Betrachtung ziehen.« Ausgehend von einer konkreten bösen Tat sucht Kant nach »einer in dem Subject allgemein liegenden Maxime aller besondern moralisch-bösen Maximen« (RGV B 6 = AA 6,20). Er ist offensichtlich der Meinung, alle einzelnen bösen Handlungen, die konkreten Maximen entspringen, lassen sich auf eine einzige Maxime zurückführen. Der Grund des Bösen muß »in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht« (RGV BA 7 = AA 6,21) liegen. Der Mensch macht sich offensichtlich nicht nur unterschiedliche praktische Regeln für sein Verhalten, indem er seine Freiheit gebraucht, er kann sich sogar laut Kant eine Regel für den Gebrauch der Freiheit als sol-

Einige Interpreten bedauern, daß sich Kant bei bestimmten Phänomenen auf die Erfahrung beruft, anstatt eine Begründung zu liefern. Gerold Prauss hält die Berufung auf ein unmittelbar bewußtes Moralgesetz für eine Verzweiflungstat Kants, nachdem der Versuch einer Deduktion gescheitert ist. Vgl. Kant über Freiheit, 67 f.: »Dieses fundamentale Scheitern aber vermochte ihn am Ende zu einem Schritt, der letztlich nur noch als Verzweiflungstat von Kant zu werten ist, nämlich sich selbst zu überreden, es sei zwar nicht ein allgemeines, wohl aber ein besonderes Gesetz der Freiheit aufzuweisen, eben ihr Moralgesetz, ›dessen wir uns unmittelbar bewußt werden‹. […] Obwohl mit seinem Namen unlösbar verbunden, steht gerade diese Formel [›Du kannst, denn du sollst‹] keineswegs für eine Konzeption der Praktischen Philosophie, die Kant etwa von vornherein anstrebt und demgemäß auch sozusagen aus freien Stücken vollendet. Vielmehr entschließt er sich zu dieser Konzeption erst ganz zuletzt und notgedrungen, nachdem ihm sämtliche Versuche, einen Weg zu jener Deduktion zu finden, fehlgeschlagen sind. Es kann sich dabei denn auch höchstens um eine Art Notlösung handeln, von welcher zudem noch zweifelhaft bleibt, ob sie überhaupt als Lösung anzusehen ist und nicht vielmehr als Ausdruck bloßer Not.« Im Hinblick auf das Problem des Bösen findet Margot Fleischer die Berufung auf die Erfahrung bedenklich. Vgl. Margot Fleischer: Mensch und Unbedingtes im Denken Kants, 295: »Es wird sich zeigen: Zur Begründung des Bösen in seiner bezeichneten Allgemeinheit, Notwendigkeit, Unbedingtheit kommt Kant nicht ohne Erfahrung aus. Das mag als solches schon bedenklich sein. Bedenklicher noch wird es, wenn die in Anspruch genommene Erfahrung Brüche zeigt.«

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cher bilden. Ernst Tugendhat hält diese Ansicht für eine der tiefsten Einsichten der moralischen Philosophie Kants. 21 Nach den Kriterien der kritischen praktischen Philosophie besteht eine gute Handlung in einer völligen Kongruenz zum unbedingten Sittengesetz. Eine böse Handlung meint diejenige Handlung, in der ich trotz eines besseren Wissens gegen das Moralgesetz verstoße. Den Grund für das Böse findet Kant weder in der Sinnlichkeit noch in der Vernunft, sondern in der ›Umkehrung der Triebfedern‹ 22 der Moralität und der Selbstliebe. Die sinnlichen Neigungen sind nämlich »an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen« (RGV B 69 = AA 6,58) und haben als solche ›keine gerade Beziehung‹ auf das Böse. In der Vernunft ist der Grund des Bösen ebenfalls nicht zu finden, denn in einem solchen Fall würde sich die Vernunft als eine moralisch-gesetzgebende in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu sich selbst befinden. Der Mensch ist nach Kant dadurch böse, daß er zwar das moralische Gesetz neben dem der Selbstliebe in seine Maxime aufnimmt, »da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern, als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte« (RGV B 34 = AA6,36). Die Eigenliebe ist uns laut Kant gegeben und an sich unproblematisch, das Böse entsteht erst in der Überordnung über das Moralgesetz. »Als Prinzip aller unserer Maximen« ist die Selbstliebe »die Quelle alles Bösen« (RGV B 50 f. = AA 6,45). 23 Wie Kant nach der Totalität der Bedingungen des Guten als des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft fragt, so läßt sich die Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, 125: »Daß alles Wollen überhaupt vor allem Wollen von dem oder jenem ein Wollen ist, wie ich mich selbst verstehen will, scheint mir eine der tiefsten Einsichten der Kantischen Moralphilosophie zu sein.« 22 Unter einer Triebfeder versteht Kant einen ›subjektiven Bestimmungsgrund des Willens‹ (KpV A 127). 23 Vgl. auch KpV A 131: »Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Princip macht, Eigendünkel heißen kann.« 21

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Bestimmung des ›Hanges zum Bösen‹ und des ›radikalen Bösen‹ als ein Versuch Kants lesen, die Totalität der Bedingungen des Bösen zu fassen. Der ›Hang zum Bösen‹ als der ›formale Grund aller gesetzwidrigen Tat‹ (RGV B 25 = AA 6,31) würde also im Denken Kants in systematischer Hinsicht das Pendant zum Ideal des höchsten Guts spielen. Das im Menschen verwurzelte Böse hindert zwar einerseits den Menschen in seiner sittlichen Bestimmung, ist andererseits jedoch eine notwendige Voraussetzung dafür, um überhaupt von Sittlichkeit des Menschen sprechen zu können. Denn ein guter Wille kann sich zu seinem Gutsein nur dann selbst bestimmen – und nichts anderes bedeutet Freiheit – wenn er sich in seiner Bestimmung auch verfehlen kann. Das Böse, in der Kantischen Fassung als ›das radikale Böse in der menschlichen Natur‹, wird zum permanenten Hindernis auf dem Weg der Vervollkommnung des Willens, zum Hindernis in der Realisierung und ›Beförderung‹ des Höchsten Guts. Kant ist geradezu gezwungen, das Böse als Angelegenheit des Willens in seiner ›Radikalität‹, in seiner Verwurzelung zu fassen, denn nur dann wird die menschliche Freiheit ernst genommen. Freiheit bedeutet einen unaufhörlichen Kampf um die Tugend, ein ständiges Ringen um die Entsprechung des Willens zum moralischen Gesetz. Kants Thesen über den Hang zum Bösen und über das radikale Böse stellen nur auf den ersten Blick einen ›Paukenschlag‹ dar. 24 Es stimmt, daß sich in den veröffentlichten Schriften Kants nur sehr wenige Stellen zum Phänomen des Bösen finden. Andererseits ergibt sich die Behandlung des Bösen, wie schon erwähnt, aus dem konsequenten Durchdenken des Problems der Freiheit, die als Möglichkeit zur guten oder aber zur bösen Handlung verstanden werden muß. Abgesehen davon trägt Kant mit seinen Thesen der faktischen Wirklichkeit des Menschen Rechnung. Überraschenderweise finden wir in den Vorlesungsnachschriften zur praktischen Philosophie, die von Kant noch vor der Veröffentlichung des ersten kritischen Werks zur praktischen Philosophie der Grundlegung der Metaphysik der Sitten im Jahre 1785 gehalten wurden, öfters die Rede über Böses. Kant überlegt bereits in

Schon Josef Bohatec (Die Religionsphilosophie Kants, 83 ff.) attestiert dem vorkritischen Kant einen »herbe[n] Ernst, mit dem er das Wesen des Unsittlichen beurteilt«, indem Kant die Sünde z. B. nicht bloß als einen Mangel am Guten ansieht, sondern als eine Beraubung, als eine reale Entgegensetzung. 24

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diesen Vorlesungen zur Ethik um die Mitte der 1770er Jahre, 25 wie eine böse Handlung zustandekommt und wie sie zu charakterisieren ist. Eine böse Handlung kann nicht aus der Natur heraus geschehen, sondern lediglich aus der Freiheit (AA 27.1, 295; Ethik-Menzer 80): »Allein alles moralische Böse entspringt aus Freyheit, denn sonst wäre es ja kein moralisch Böse, und so sehr vielen Hang die Natur auch dazu hat, so entspringen doch die bösen Handlungen aus Freyheit«. 26 Kant unterscheidet z. B. zwischen der ›Schwäche der menschlichen Natur‹, »sofern ihr der Grad der moralischen Bonität fehlt, der nötig ist, die Handlung dem moralischen Gesetz adäquat zu machen« und der ›Gebrechlichkeit der menschlichen Natur‹, »in so fern in ihr nicht nur ein Mangel an der Moralischen Bonitaet ist, sondern auch gar die größten principia und Triebfedern zu bösen Handlungen«. 27 In der Religionsschrift nimmt Kant diese Unterscheidung wieder auf, jedoch unter veränderten inhaltlichen Vorzeichen. Unter Schwäche und Gebrechlichkeit als der ersten Stufe der Beschaffenheit des menschlichen Willens wird folgendes verstanden: ich nehme zwar das Gute in meine Maxime auf, meine subjektive Motivation ist jedoch nicht stark genug, sie auch zu befolgen. Auf der zweiten Stufe, der Unlauterkeit ›des menschlichen Herzens‹, ist zwar der Wille fähig, die dem Moralgesetz gemäße Maxime auch zu befolgen, die Maxime wird jedoch als nicht ›rein moralisch‹ angesehen. Das Sittengesetz stellt in diesem Fall nicht die alleinige Triebfeder des Willens dar. Die dritte und letzte Stufe wird von Kant als Bösartigkeit, Verderbtheit und Verkehrtheit des menschlichen Herzens charakterisiert. Der Mensch nimmt das Moralgesetz in seine Maxime auf, ist auch fähig sie zu befolgen, ordnet jedoch mit Absicht die Befolgung der sittlichen Maximen den nichtmoralischen Maximen unter (vgl. RGV B 21 ff. = AA 6, 29 f.). Alle drei Stufen der

Zur komplizierten Problematik der Datierung und den Schwierigkeiten einer Edition der Nachschriften von Kants Vorlesungen zur Moralphilosophie vgl. Clemens Schwaiger: Die Vorlesungsnachschriften zu Kants praktischer Philosophie in der AkademieAusgabe. Viele fast wörtliche Übereinstimmungen mit der Ethik-Menzer finden sich in der Nachschrift Moral-Kaehler (Immanuel Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie, hg. von Werner Stark) und in der Moralphilosophie Collins. So richtet sich die Schreibweise der angeführten Stellen nach der Akademie-Ausgabe. Zusätzlich wird die entsprechende Parallelstelle aus der Nachschrift von Menzer genannt. 26 Der Begriff ›Hang‹ wird hier anders als in der Religionsschrift der Natur zugeschrieben, die an dieser Stelle als Gegenbegriff zu Freiheit zu verstehen ist. 27 AA 27.1., 293; Ethik-Menzer 78. 25

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Beschaffenheit des Willens ergeben sich aus dem Hang zum Bösen, der mit der menschlichen Natur ›verwebt‹ ist (vgl. RGV B 23 = AA 6,30). Worin liegt nach den Vorlesungen zur praktischen Philosophie die böse Tat? Kant sieht bereits hier ein, daß es sich bei einer bösen Handlung um ein Triebfederproblem des Willens handelt im Sinne der Konkurrenz zwischen den Triebfedern des Verstandes und der Sinnlichkeit: »Allein die Pravität oder Bösartigkeit der Handlung besteht nicht in der dijudication; es liegt also nicht an dem Verstande, sondern beruht auf der Triebfeder des Willens. […] Die Unsittlichkeit [der Handlung] besteht also nicht in dem Mangel des Verstandes, sondern in der pravität des Willens oder des Hertzens. Die pravität des Willens ist aber, wenn die bewegende Kraft des Verstandes überwogen wird [von der Sinnlichkeit].« 28 Diese Einsicht behält ihre Richtigkeit bis zur Religionsschrift, auch wenn an dieser Stelle noch kein Wort über eine ›Umkehrung der Triebfeder‹ der Moral und der Selbstliebe fällt. Der Mensch wird nach der Ethik-Menzer nicht dadurch böse, daß er »die sittliche Ordnung der Triebfedern« umkehrt und die Befolgung des moralischen Gesetzes nur unter der Bedingung der Befriedigung der Maxime der Selbstliebe erfolgt (RGV B 34 = AA 6,36). Der menschliche Wille wird eher so vorgestellt, als ob er von zwei verschiedenen Vorstellungen affiziert wird und je nachdem, welche überwiegt, fällt die Handlung gut oder böse aus. Kant sieht aber bereits hier, daß die entscheidende Crux beim sittlichen Verhalten nicht so sehr in dem verstandesmäßigen Urteil über die Gutheit einer möglichen Handlung liegt, sondern in der subjektiven Motivation, diese als gut eingesehene Handlung zu vollziehen: »Urtheilen kann der Verstand freilich; aber einem Urtheil eine bewegende Kraft zu geben, ist nicht seine function eine Triebfeder, den Willen zur Ausübung der Handlung zu bewegen, kann er nicht abgeben.« 29 Auch wenn sich die Ausführungen Kants in den Vorlesungsnachschriften zur Ethik gegenüber der ausgearbeiteten kritischen Praktischen Philosophie in etlichen Punkten als unausgereift und vage ausnehmen, sind nichtsdestotrotz die Fragen und die Sache selbst – in unserem Zusammenhang das moralische Böse – bereits vorhanden. Obwohl das Problem des Bösen in den veröffentlichten Schriften weitgehend ausgespart bleibt, hat sich Kant mit ihm doch früher ausein28 29

AA 27.2.2,1278; Ethik-Menzer 54 f. AA 27.2.2, 1277; Ethik-Menzer 54. A

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andergesetzt, als die Schriften vermuten lassen. In der Ethik-Menzer unterscheidet Kant zwischen den ›viehischen‹ und den ›teuflischen‹ Lastern. Die teuflischen Laster Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude besitzen einen Grad der Bosheit, die »den Grad der menschlichen Natur überschreitet«. 30 Diese drei Laster sind deshalb als teuflisch zu bezeichnen, »weil sie eine unmittelbare Neigung zum Bösen anzeigen«. Kant nimmt es als eine offensichtliche Tatsache an, daß der Mensch eine mittelbare Neigung zum Bösen hat, die er als eben ›menschlich und natürlich‹ charakterisiert. Wie später in der Religionsschrift, in der die Unmöglichkeit des teuflischen Willens 31 behauptet wird, kommt auch hier Kant zum Schluß zu der nicht weiter begründeten Einsicht: »Es ist aber zu glauben, daß in der Natur der menschlichen Seele eine unmittelbare Neigung zum Bösen nicht stattfinde, sondern daß solches nur indirecte böse seiy.« 32 Kants Ausführungen zur Frage nach der ›Neigung zum Bösen‹ können sich gewisser Widersprüchlichkeit nicht entziehen. Einerseits spricht Kant über die teuflischen Laster, die aus einer unmittelbaren Neigung zum Bösen herrühren. Diese Laster übersteigen den dem Menschen möglichen Grad an Bosheit. Andererseits hält Kant daran fest, die Laster als das wahre Böse haben ihren Ursprung in der Freiheit, d. h. der Mensch müßte dieser Laster grundsätzlich fähig sein. Kants Schlußeinsicht lautet aber, einer unmittelbaren Neigung zum Bösen ist der Mensch nicht fähig. Dies mag zutreffend sein, nur ist damit Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude leider nicht aus der Welt zu schaffen. Der Text der Vorlesung wirft die Frage auf, ob sich die ›Neigung zum Bösen‹ ansatzweise im Sinne des späteren ›Hanges zum Bösen‹ lesen läßt. Gegen eine allzu große Parallelität wird man Vorsicht anmelden müssen. Kant spricht zwar über die NeiAA 27.1.,440; Ethik-Menzer, 54. Vgl. RGV B 35 f. = AA 6,37: »Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist also nicht sowohl Bosheit, wenn man dieses Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung (subjektives Princip der Maximen), das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch)«. 32 Vgl. AA 27.1,440 f.; Ethik-Menzer 278. Obwohl sich Kant im Gegensatz zu einigen der sog. Humanisten keine Illusionen über die faktische Verfassung des Menschen macht (Kant spricht z. B. davon, daß der Mensch ›so böse‹ ist, daß obwohl er weiß, daß es Gott gibt, er so lebe, als gäbe es ihn nicht [AA 27.1.,311; Ethik-Menzer 107]), hält er daran fest, daß es in jedem Menschen einen unzerstörbaren Kern des Guten gibt. Auch in dem größten Bösewicht ist noch ›ein Kern des guten Willens‹ (AA 27.1.,418; EthikMenzer 249) zu finden und jeder Lasterhafte besitze noch Verstand, ›das Böse einzusehen‹ und hat noch moralisches Gefühl (AA 27.1.,465; Ethik-Menzer 311). 30 31

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gung zum Bösen, die dem Menschen natürlich ist und die durch die Tugend überwunden werden muß, aber es ist auch die Rede über ›böse Neigungen‹, die als Hindernisse auf dem Weg der Tugendhaftigkeit anzusehen sind. 33 Es bleibt unausgemacht, wie die besagte ›Neigung zum Bösen‹ aufzufassen ist. Ist sie alleine in der Freiheit anzusiedeln oder mehr den sinnlichen Neigungen zuzuschreiben? Wie soll die Natürlichkeit der mittelbaren Neigung zum Bösen verstanden werden? Solche Fragen werden nicht beantwortet. Wie bestimmt Kant nun den Hang zum Bösen in der menschlichen Natur in der Religionsschrift? Zuerst sollte man sich in Erinnerung rufen, was unter der ›Natur des Menschen‹ zu verstehen ist. Denn der Naturbegriff wird in der Kantischen Philosophie in unterschiedlichsten Bedeutungen verwendet. In unserem Zusammenhang des moralisch Bösen handelt es sich um den ›subjektiven Grund des Gebrauchs der Freiheit überhaupt‹ (vgl. RGV BA 6 = AA 6,21). An einer anderen Stelle faßt sie Kant in einer weiteren Präzisierung als den ›ersten subjektiven Grund der Annehmung der Maximen‹ (RGV B 14 = AA 6,25). Und in dieser Natur des Menschen ist der Hang – verstanden als »die Prädisposition zum Begehren eines Genusses« 34 – verwurzelt, oder verwebt, wie Kant sagt. Der Hang zum moralisch Bösen besteht somit im »subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze« (RGV B 21 = AA 6,29). Der Mensch ist sich des moralischen Gesetzes bewußt und hat ›doch die (gelegenheitliche) Abweichung vom demselben in seine Maxime aufgenommen‹ (RGV B 26 f. = AA 6,32). Der Hang zum Bösen gehört zwar allgemein zum Menschen, zum ›Charakter seiner Gattung‹, stellt jedoch laut Kant keine Naturanlage dar (wie die Anlage zum Guten, die Anlage zur Persönlichkeit). Denn dieser Hang muß als von uns selbst zugezogen vorgestellt werden, er muß uns zugerechnet werden können. Er wird zwar als angeboren betrachtet, aber nur in dem Sinne, »als es vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit […] zum Grunde gelegt wird, und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden, vorgestellt wird: nicht daß die Geburt eben die Ur-

Vgl. AA 27.1.,463; Ethik-Menzer 308. Vgl. RGV B 20 Fn = AA 6,28 Fn: »Hang ist eigentlich nur die Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subject die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt.«

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sache davon sei« (RGV B 8 = AA 6,22). 35 Kant spricht in dieser Hinsicht über eine Tat vor der Zeit, von einer intelligiblen Tat, die alleine durch Vernunft erkannt, nicht als in der Zeit gegebene angesehen werden kann (vgl. RGV B 26 = AA 6,31). So gesehen bildet der Hang zum Bösen ›den formalen Grund aller gesetzwidrigen Tat‹ (RGV B 25 = AA 6,31). Der Ursprung dieses Hanges zum Bösen bleibt uns jedoch unerforschlich, wir finden keinen begreiflichen Grund, wie und ›woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne‹ (B 47 = AA 6,43). Hier gilt das Wort, das in der Grundlegung auf das Moralgesetz gemünzt war: wir begreifen alleine seine Unbegreiflichkeit. Sowohl die konkrete böse Handlung als auch der jeder konkreten bösen Tat vorhergehende (oder besser der sich in jeder konkreten Tat zeigende) Hang zum Bösen geschieht aus einer Freiheit, die als grundlos gedacht werden muß. Zur Definition von Freiheit gehört die Tatsache, daß eben sie es ist, die als Grund einer Handlung gilt. Könnten wir einen weiteren Grund für unsere Taten aus der Freiheit heraus angeben, stellte die Freiheit keine ›absolute Spontaneität der Ursachen‹, kein Vermögen »eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen« (KrV B 474) dar, sondern wäre eine bedingte Ursache, die selbst wiederum in einer Kausalreihe stehen würde. Vielleicht läßt uns die Abgründigkeit des durch Menschen entfesselten Bösen deshalb so sehr erschaudern, da wir keinen letztlichen begreifbaren oder erklärlichen Grund für dieses Böse finden können. So gesehen gibt es auf das Problem des Bösen ›nur‹ eine praktische Antwort: was läßt sich gegen das Böse tun? Auch wenn der Hang zum Bösen im Menschen als unausrottbar vorgestellt wird und der Mensch ihn nicht abstreifen kann, vertritt Kant die Meinung, daß der Mensch ›Keime des Guten‹ in sich trägt, die unzerstörbar sind. Wir haben eine ›ursprüngliche moralische Anlage in uns‹ (RGV B 57 = AA 6,49), eine ursprüngliche, anerschaffene Anlage zum Guten (z. B. RGV B 60 = AA 6,50). Man ist versucht, auch diese Ansicht für einen uneingestandenen und subkutan wirkenden Rest an tradierter christlicher Theologie zu halten. Kants Behauptung von den unzerstörbaren Keimen des Guten fügen sich jedoch konKant wendet sich entschieden gegen die Vorstellung der ›Erbschuld‹, die er unter »allen Vorstellungsarten, von der Verbreitung und Fortsetzung desselben [des moralischen Bösen] durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen« als die ›unschicklichste‹ (RGV B 41 f. = AA 6,40) bezeichnet.

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sistent in das System der kritischen Philosophie ein, denn Kant leitet sie erneut vom Fundament seiner praktischen Philosophie ab – vom faktisch auftretenden Moralgesetz (RGV B 50 = AA 6,45): »Denn, ungeachtet jenes Abfalls [vom Guten], erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden […] folglich müssen wir es auch können«. 36 Kants Theorie vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur läßt sich konsistent aus seiner eigenen kritischen Philosophie verstehen. Alle religionsphilosophischen und theologischen (vor allem die christliche Theologie betreffenden) Anspielungen muß man als eine Illustration lesen, indem Kant zeigen möchte, wie seine Gedanken mit der christlichen Vorstellung konvenieren. Man soll jedoch nicht den Fehler begehen, die überlieferte Theologie als Ausgangspunkt für die Überlegungen Kants zu halten, über die er nachträglich einen philosophischen Mantel ausgebreitet hat. Kant entwickelt seine kritische Ethikkonzeption, auf der die Religionsschrift aufbaut und sie weiterführt, als ein eigenständiges philosophisches Konzept, sieht sich aber darüber hinaus in Übereinstimmung mit dem Ideal der moralischen Vorstellung der christlichen Tradition. Es wurde sowohl auf die Kontinuität der Thesen über das radikal Böse mit der kritischen Philosophie hingewiesen als auch durch den Vergleich mit den Nachschriften der Vorlesungen zur praktischen Philosophie der Eindruck korrigiert, Kant verfällt auf das Thema des Bösen erst sehr spät und ›nur‹ als Tribut an die christliche Theologie. Kant ist der Meinung, daß der wahre Charakter der christlichen Religion – nämlich ihr moralischer Kern – genau diejenige Vorstellung ist, die seinem Konzept der Moral am besten entspricht. Ob Kants Auffassung der christlichen Religion im Ganzen ihrem Wesen gerecht wird, stellt eine weiterführende Frage dar.

Vgl. auch RGV B 60 = AA 6,50: »Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können.« Ähnliches gilt auch für das höchste Gut. Aus dem gegebenen Moralgesetz folgt (KpV A 225): »wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen.«

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Immanuel Kants Theorie des radikal Bösen, 1 die er in seiner Religionsschrift von 1793 entwickelt, gehört zu den umstrittensten Lehrstücken seiner praktischen Philosophie. Sie steht offensichtlich in der Tradition der christlich-theologischen Lehre von der Ur- und Erbsünde. 2 Die gängige Kritik richtet sich einerseits gegen den (scheinbar noch allzu) christlichen Hintergrund der Theorie; sie reibt sich andererseits an ihrer scheinbar mangelnden Konsistenz. Meine erste These wird sein: Kants Theorie des radikal Bösen im Menschen verrät keineswegs das Projekt der Aufklärung; sie übersetzt vielmehr die theologische Lehre in eine säkulare philosophische Anthropologie. Und seine Theorie, so meine zweite These, läßt sich als in sich völlig konsistent erweisen. 3

1.

Die christliche Erbsündenlehre

Vorweg sei in aller Kürze an die christlich-theologische Lehre von der Erbsünde erinnert. Das Alte Testament berichtet im Buch Genesis vom Ursprungszustand des Menschen, vom Sündenfall des ersten Menschenpaars und vom Verlust des Paradieses. Es betont in verschiedenen seiner Schriften die generelle Sündhaftigkeit des Menschen und den 1 Vgl. Maximilian Forschner: Immanuel Kants ›Hang zum Bösen‹ und Thomas von Aquins ›Gesetz des Zunders‹. Über säkulare Aufklärungsanthropologie und christliche Erbsündenlehre. Ders.: Über die verschiedenen Bedeutungen des ›Hangs zum Bösen‹. Ich danke Konstantinos Sargentis (University of Crete) für Anregungen und kritische Diskussion. 2 Er nennt den Hang zum Bösen im Sinne einer intelligiblen Tat explizit peccatum originarium (RGV B 25 = AA 6,31). 3 Ich folge dem hermeneutischen Grundsatz, daß ein philosophischer Text aus sich selbst heraus verständlich sein muß. Eine mögliche Entwicklung von Kants Theorie im Rahmen seines Gesamtwerkes bleibt deshalb unberücksichtigt.

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allgemeinen Hang zur Sünde, aber es kennt keine Erbsündenlehre. Den Ursprung für die Entwicklung einer solchen Lehre bietet erst der Apostel Paulus in einem Passus seines Briefs an die Römer (Röm 5,8–21). Dieser Abschnitt enthält den Gedanken, daß das fundamentale Sündersein und der Tod aller auf Adam allein zurückgeht, 4 läßt aber offen, »in welcher Weise die Sündigkeit der einzelnen Menschen mit der Adamssünde verknüpft ist.« 5 Eine falsche Vulgata-Übersetzung 6 begründet den Gedanken, in Adam hätten alle Menschen gesündigt, eine Formel, die in der christlichen Dogmatik bis in die frühe Neuzeit kanonisch gewirkt hat, und die auf seine Weise auch noch Kant in seiner Religionsschrift verwendet (vgl. RGV B 45 = AA 6,42). Der wichtigste spätantike Autor für die theologische Entwicklung der christlichen Erbsündenlehre im Anschluß an Paulus ist Augustinus von Hippo. Er unterstreicht nicht nur den Strafcharakter der Erbsünde, sondern zeichnet auch für die biologischen und sexuellen Konnotationen des Begriffs verantwortlich. Das Konzil von Karthago (418 n. Chr.), das zweite Konzil von Orange (529 n. Chr.) und das Konzil von Trient (1546 n. Chr.) betonen im Blick auf die Einheit der Menschen als Gattung und die Abstammung aller Menschen von Adam den Kollektiv- und Vererbungscharakter von Sündhaftigkeit und Schuld, aus der der einzelne Mensch durch die Erlösungstat Christi in der Taufe gnadenhaft gelöst und befreit wird. Die Auseinandersetzung zwischen Katholizismus und reformierter Theologie im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit betraf nicht den generellen Sünderstatus der Unerlösten und den Erbcharakter dieser Sündhaftigkeit und Schuld, sondern die Frage, »wie die Tragweite der Erbsünde zu verstehen«, 7 d. h. wie stark die ursprünglich gute und begnadete Natur des Menschen durch sie ver-

Vers 5,19 lautet: »Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen in den Zustand der Sünde versetzt worden waren, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten gemacht werden.« Dazu Otto Kuss: Sünde und Tod, Erbtod und Erbsünde, 241–275; vgl. ferner Michael Schmaus: Der Glaube der Kirche, 387; 389. 5 Michael Schmaus: Der Glaube der Kirche, 391. 6 Vgl. Röm 5,12: ¥y3 † p€nte@ `marton. Vulgata: »in quo omnes peccaverunt«.Die richtige Übersetzung wurde erst durch Humanisten der frühen Neuzeit getroffen; sie lautet: »deshalb, weil alle gesündigt haben«. 7 Michael Schmaus: Der Glaube der Kirche, 398. 4

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dorben und wie stark die mögliche oder notwendige Mitwirkung des Menschen bei seiner Rückkehr ins Heil zu denken sei. Wir werden sehen: Der die gesamte Gattung betreffende Charakter der Erbsünde findet bei Kant sein philosophisches Echo in der Betonung der Allgemeinheit des Hangs des Menschen zum Bösen ebenso wie in der Bestimmung der Pflicht zur Gründung einer Tugendgemeinschaft (einer »Kirche«) als Gattungspflicht, »als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen« (vgl. RGV B 135 f. = AA 6,97 f.). Die Frage nach der Gnadenhaftigkeit oder dem Leistungscharakter des Gesinnungswandels und siegreichen Kampfes gegen den Hang zum Bösen beantwortet Kant unter praktisch-pragmatischer Rücksicht durch die (»pelagianische«) Betonung dessen, was »in unserer Hand ist«, nämlich die durch uns, durch jeden Einzelnen zu leistende Revolution der Denkungsart und Reform der Sinnesart und die der Gattung aufgetragene Errichtung einer wahren sichtbaren Kirche. Die christliche Tradition betont die Einheit der Sünde in der Wurzel und die durch sie begründete Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit jedes Einzelnen, einschließlich der Neugeborenen und kleinen Kinder. Doch sie betont auch den wesentlich kollektiv-korporativen Charakter dieser Sündhaftigkeit, nämlich dies, daß diese Ur- und Erbsünde nicht auf einer persönlichen Entscheidung jedes Einzelnen beruht, daß es sich also nicht um eine freiwillige und verantwortliche Tat handelt, sondern, im Sinne einer kollektiven Straffolge, um einen Zustand der Sündhaftigkeit, der im Nichterlösten jeder persönlichen Zielsetzung, Entscheidung und Handlung vorausliegt und diese sündhaft macht. Kant verabschiedet den Gedanken einer (wie auch immer) vererbten, die Menschheit als Gattung betreffenden korporativen Sündhaftigkeit und kollektiven Schuld;8 er verankert das Prinzip des (moralisch) Bösen ebenso wie des (moralisch) Guten substantiell in der Freiheit jedes Einzelnen, 9 dies freilich so, daß auch die Sozialität des 8 RGV B 41 = AA 6,40: »Wie nun aber auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen immer beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen die unschicklichste: es sich als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen«. 9 Über den weiteren Zusammenhang der Theodizeethematik und des Bösen bzw. des Übels informiert Susan Neiman: Evil in Modern Thought, 4: »If Enlightenment is the courage to think for oneself, it’s also the courage to assume responsibility for the world into which one is thrown.«

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Menschen als Voraussetzung der Bösartigkeit ebenso wie der Tugendhaftigkeit des Menschen mit Nachdruck zur Sprache und zur Geltung kommt.

2.

Die Anlagen der menschlichen Natur

Was den Theologen der frühen Neuzeit das Konzept der natura pura, der Gedanke einer menschlichen Natur jenseits von übernatürlicher Begnadung und vererbter Sündhaftigkeit war, ist für Kant seine Lehre von den Anlagen der menschlichen Natur. Er nimmt die stoische Theorie der natürlichen Neigungen auf und modifiziert sie im Sinne seiner spezifischen Aufklärungsanthropologie. Mit der Stoa und gegen Rousseaus anthropologische These vom ursprünglichen homme solitaire sieht Kant die menschliche Natur in der Anlage für »die Thierheit des Menschen, als eines lebenden« Wesens mit ihrem Prinzip mechanischer Selbstliebe auf Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Brutpflege und Gesellschaft bezogen (RGV B 15 = AA 6,26). Der Mensch ist von Natur kein Einzelgänger; und ›mechanisch‹ ist diese Selbstliebe, weil die ihr entspringenden Verhaltensimpulse und Verhaltensweisen ganz in der instinktiven Triebausstattung, der Wahrnehmung, der unwillentlichen Wahrnehmungserinnerung und Wahrnehmungsassoziation und den entsprechenden Empfindungen gründen. In der zweiten Anlage des Menschen, der für »die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen Wesens« bringt Kant genuin neuzeitliche Gesichtspunkte zur Geltung. Er weist Rousseaus weitgehende Denunzierung des Prinzips dieser Anlage, der »vergleichenden Selbstliebe« zurück; er spricht der durch Vernunft vermittelten Neigung des Menschen, »sich in der Meinung anderer einen Werth zu verschaffen« (RGV B 17 = AA 6,27) gegen Rousseau ihren kulturanthropologischen Sinn zu. Ohne diese natürliche Neigung würde der Mensch die Möglichkeiten seiner Lebensweise auf Dauer unterbieten und keinen Impuls zur Entwicklung jener Potentiale des Handelns und Erlebens des Lebens entwickeln, die ihn essentiell über das Tierreich hinausheben. Doch gegen Hobbes will Kant dieser Anlage ihre natürliche Unschuld zurückgeben. Der mit ihr verbundene Wetteifer, so Kant, schließt »an sich die Wechselliebe nicht aus«; und die natürliche Neigung, sich in der Meinung Anderer einen Wert zu A

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verschaffen, sucht »ursprünglich bloß den der Gleichheit« (ebd.). 10 Der Mensch ist nicht von Natur der Feind des Menschen. Aus den Händen der Natur, darin ist Kant gegen Hobbes mit Rousseau sich einig, geht der Mensch als ein im vormoralischen Sinne gutes, als unschuldiges Wesen hervor. Und mit der Sprachfähigkeit und Geselligkeit, die beide zu seinen natürlichen Anlagen gehören, ist die Suche nach Anerkennung und ein Wetteifer um sie verbunden. Rousseau sucht im status socialis jedoch die natürliche Wechselliebe ohne Konkurrenz, ja mit dem Ziel der Transparenz, der Identifikation und Verschmelzung; 11 für Kant hingegen ist der Mensch ein gesellig-ungeselliges Wesen, 12 dessen natürliches Bestreben auf Wahrung der Selbständigkeit und (im Verein mit der dritten Anlage) auf gegenseitige Anerkennung nach Gesichtspunkten der Gleichheit gerichtet ist. Die dritte Anlage, jene für die Persönlichkeit, entspricht der stoischen Theorie der natürlichen zielhaften Ausrichtung des Menschen auf eine Lebensweise, in der der Mensch nur noch sein Vernünftigsein absolut liebt und die naturgemäßen Güter des Lebens nur noch bedingterweise erstrebt. 13 Mit ihr distanziert Kant sich völlig von Hobbes; und inwieweit sich bei Rousseau Äquivalentes findet, scheint zweifelhaft zu sein. Die Stoa dagegen ist hier eindeutig. Kant buchstabiert allerdings diese Anlage nicht in stoischer Begrifflichkeit, obgleich er mit dieser von seiner Cicero- und Seneca-Lektüre her vertraut ist,

Sharon Anderson-Gold (Unnecessary Evil. History and Moral Progress in the Philosophy of Immanuel Kant, 36) sieht zu Recht bei Kant »a strong connection between evil and our social condition«; sie hat auch Recht, wenn sie den Grund des Hangs zum Bösen mit dem Prinzip der vergleichenden Selbstliebe in enge Verbindung bringt (ebd.), doch sie hat nicht Recht, wenn sie die der vergleichenden Selbstliebe immanente Neigung, sich in den Augen Anderer einen Wert zu verschaffen, bereits zur korrupten Form der Selbstliebe rechnet (ebd.): »This desire clearly springs from our rational-moral nature, but also from a reason, that measures and compares. In its corrupt form this desire becomes an inclination, ›to acquire worth in the opinion of others‹.« Zustimmen kann man ihr hingegen wieder, wenn sie erklärt (39): »This propensity to evil is identified with the principle of self-love not insofar as the self is an animal being with physical needs but insofar as the self is a social being that seeks the recognition of others yet refuses to acknowledge the intrinsic value of others.« 11 Vgl. dazu Maximilian Forschner: Rousseau, 148 ff.; Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. 12 Vgl. dazu vor allem IaG A 392–394 = AA 8,20–22. 13 Vgl. dazu Maximilian Forschner: Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung. 10

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und zwar deshalb, weil er mit dieser Anlage nicht, wie die Stoa, eine Glückstheorie verbunden sehen wollte. Unter Anlagen versteht Kant das, was Natur im Wesentlichen an Vorgaben leistet und leisten muß, damit ein natürliches Wesen ein Mensch im Vollsinn des Wortes sein kann (vgl. RGV B 19 = AA, 6,28). Und ein Mensch im Vollsinn des Wortes kann ein solches Wesen für Kant nur sein, wenn es in der Lage ist, allein nach Gesichtspunkten und Motiven der Vernunft und des Vernünftigseins sein Verhalten zu bestimmen, in Kants Worten, wenn es »die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür« (RGV B 18 = AA 6,27). besitzt. Von dieser Anlage, die den Menschen erst eigentlich zu einem moralitätsfähigen Wesen (im Kantischen Sinn) macht, wissen wir nur durch das moralische Gesetz. Wäre dieses Gesetz nicht im allgemeinen sittlichen Bewußtsein gegeben, so würden wir uns eine solche Anlage auch nicht zuschreiben und zuschreiben können. Die Anlagen sind ursprüngliche, das Wesen des Menschen konstituierende Anlagen zum Guten. Darin weiß Kant sich mit der Stoa einig. Sie gipfeln in der Anlage zur Persönlichkeit; und sie geben der Persönlichkeit, die ihr Verhalten allein nach Gesichtspunkten der Vernunft bestimmt, in grobem Umriß die Inhalte vor, die es im Handeln in der Welt zu verfolgen gilt. Denn den Kanon der Beurteilung der Anlagen zur Tierheit und zur Menschheit mit ihren natürlichen Zielen im Blick auf »die Bestimmung des Menschen« liefert für Kant die Anlage zur Persönlichkeit. Doch Kant verbindet mit dieser Theorie der Anlagen zum Guten eine Lehre vom Hang zum Bösen; und das ist nun ganz unstoisch, sondern entspricht im Ansatz, wenngleich nicht in der Art der Interpretation, der anthropologischen Tradition des Christentums.

3.

Der Hang zum Bösen

Der Hang zum Bösen macht aus den ursprünglich guten Anlagen für die Tierheit und Menschheit Dispositionen zu Lastern der Natur und Kultur; und er gibt unserer Willkür die Tendenz, in ihren Maximen die Ordnung der Triebfedern der Selbstliebe und der Achtung vor dem Gesetz zu verkehren. Kant betont mit Nachdruck, daß die Laster und die Disposition für sie »nicht aus jener Anlage als Wurzel« (RGV A

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B 16 f. = AA 6,26), daß sie »nicht aus der Natur als ihrer Wurzel von selbst entsprießen« (RGV B 17 = AA 6,27), daß wir vielmehr für sie, als Gattung und als Einzelne, selbst verantwortlich sind. Dieser Hang zum Bösen gehört dementsprechend nicht zum Wesen des Menschen; man wäre auch im Vollsinn des Wortes Mensch, wenn man ihn nicht hätte; er ist so gesehen ein zufälliges Merkmal; doch er ist empirisch-allgemein und mit der Natur des Menschen so verwoben, daß er als Gattungsmerkmal zu gelten hat, daß mit ihm der Einzelne »zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt« (RGV B 8 = AA 6,21). Kant spricht in diesem Sinn davon, daß er natürlich, ja angeboren sei und meint damit, daß diese Tendenz zur Verkehrung der Ordnung der Triebfedern in unseren Maximen bereits »vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit […] zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird« (RGV B 8 = AA 6,22), »daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen« (RGV B 15 = AA 6,25) und daß »er nicht ausgerottet werden kann« (RGV B 26 = AA 6,31). Kants Formulierungen machen deutlich: Die Rede vom »Hang zum Bösen«, der allen Menschen eignet, ist keine schlichte empirische Aussage, sondern ein wohlbegründetes anthropologisches Interpretament. Es ist kein Grund, einen Menschen davon auszunehmen, weil alle Erfahrung dafür spricht, daß Menschen vom Beginn des Gebrauchs ihrer Freiheit an die Tendenz haben, zumindest in Konfliktsituationen eher der Neigung als der Pflicht zu folgen; und es ist kein Grund, einen Menschen davon auszunehmen, weil wir in pragmatischer Hinsicht gut daran tun, ja nach dem »Urtheile der Vernunft« genötigt sind, in unserem Selbstverhältnis und in unserem Verhältnis mit anderen Menschen mit diesem Hang zu rechnen und uns entsprechend zu verhalten. Daß der Mensch einen »angeborenen« Hang zum Bösen hat, ist für Kant also einerseits eine Aussage, die sich empirischer Generalisierung verdankt und mit empirischen Erklärungen und Beurteilungen verbunden ist; es ist andererseits eine Aussage, die in praktisch-pragmatischer Hinsicht getroffen wird; und beides zusammen ist gemeint, wenn Kant diese Aussage als Ergebnis der »anthropologischen Nachforschung« verstanden wissen möchte (RGV B 15 = AA 6,25). Das zuletzt Gesagte macht deutlich, daß Kant aus verschiedenen Perspektiven von diesem Hang zum Bösen spricht; und es sollte auch deutlich machen, daß in der Nichtbeachtung der jeweiligen Perspektive und des Wechsels der Perspektiven die Schwierigkeiten einer kon274

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sistenten Interpretation von Kants Aussagen zu diesem Hang liegen. 14 Kant spricht einerseits vom Laster und von der Tugend »an sich in der Idee der Vernunft« und von der Beurteilung des Menschen »auf der Wage der reinen Vernunft (vor einem göttlichen Gericht)«; und er spricht andererseits vom »Menschen in der Erscheinung, d. i. wie ihn uns die Erfahrung kennen läßt« und wie er »nach empirischem Maßstabe (von einem menschlichen Richter) beurtheilt« wird (RGV B 13 Fn = AA 6,25 Fn). Kant spricht einerseits vom Erfassen des »Dasein[s] dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur durch Erfahrungsbeweise« und er spricht andererseits von der apriorischen Entwicklung des Begriffs des Bösen, »sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist« (RGV B 32 f. = AA 6,35). Er spricht einerseits von der Betrachtungsweise einer jeden bösen Handlung, »wenn man den Vernunftursprung derselben sucht« (RGV B 42 = AA 6,41); er spricht andererseits von der Ableitung einer Handlung »von irgendeinem vorhergehenden Zustande […], wenn die böse Handlung als Begebenheit in der Welt auf ihre Naturursache bezogen wird« (RGV B 40 = AA 6,39 f.). Er erklärt (RGV B 60 = AA 6,50 f.): »Der Satz vom angeborenen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch: denn die Vorschriften derselben enthalten eben dieselben Pflichten und bleiben auch in derselben Kraft, ob ein angeborener Hang zur Übertretung in uns sei, oder nicht. In der moralischen Ascetik aber will dieser Satz mehr, aber doch nicht mehr sagen als: wir können in der sittlichen Ausbildung der anerschaffenen moralischen Anlage zum Guten nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen, sondern müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der Man wird Kants Anliegen und seiner methodologischen Raffinesse nicht gerecht, wenn man die Verschiedenheit der Perspektiven und der ihnen entsprechenden Aussagen zugunsten einer Perspektive und der entsprechenden Aussage korrigieren möchte. Diese Intention sehe ich in der Interpretation von Kants Lehre durch Henry E. Allison: Kant’s theory of freedom (chap. 8 und 9), 146: »It argues that in spite of Kant’s tendency to present it as an empirical generalization, this doctrine is best understood as a postulate of morally practical reason.« Die gegenteilige Intention vertritt Heiner F. Klemme Die Freiheit der Willkür und die Herrschaft des Bösen. Kants Lehre vom radikalen Bösen zwischen Moral, Religion und Recht, 125–151, nach dem eine »strikt moralphilosophische Interpretation« von Kants Aussagen zum radikal Bösen zu keinem widerspruchsfreien Ergebnis führt. Mit der Betonung des religionsphilosophischen Kontexts (mit dem Konzept einer Tugendgemeinschaft) von Kants Lehre ist Klemme zweifellos im Recht.

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ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben«.

3.1 Die apriorische Sicht »Im Urtheile der Vernunft« werden die Fragen »nach der rigoristischen Entscheidungsart« beantwortet (RGV B 10 = AA 6,23); 15 da gilt die »für die Moral wichtige[n] Bemerkung: die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat« (RGV B 11 = AA 6,23 f.). Im apriorischen Blick auf die Einheit und Spontaneität des Subjekts, die Einheit der Vernunft und die Einheit des Gesetzes ist die Gesinnung, d. h. die Maxime der Maximen der Person und damit die Person selbst entweder gut oder böse (RGV B 6 = AA 6,20): Im Urteil der Vernunft läßt »sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen«. Dieser allgemeine subjektive Grund als Hang zum Bösen hat die Form einer Maxime der Maximen, ist also von uns selbst angenommen und zu verantworten, ist unsere eigene intelligible Tat, die jeder in die Sinne fallenden Tat zugrundeliegt, »bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar« (RGV B 26 = AA 6,31). Im rein Intelligiblen macht in praktischer Hinsicht die Differenz zwischen Disposition und Akt keinen Sinn; dem Titel des zweiten Abschnitts des ›ersten Stücks‹ : II. Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur (RGV B 20 = AA 6,28) folgt konsequentermaßen der dritte Abschnitt mit dem Titel: III. Der Mensch ist von Natur böse (RGV B 26 = AA 6,32). Im »Urtheile der Vernunft« sind Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit nur verschiedene Erscheinungsformen der Dominanz des Hangs zum Bösen, des »unvorsätzlichen« Selbstbetrugs oder des bewußten (und selbstwidersprüchlichen) Eigendünkels im Blick auf Als derzeit klarste und argumentativ überzeugendste Darstellung von Kants Theorie des Bösen unter diesem Gesichtspunkt nenne ich die Arbeit von Jochen Bojanowski: Kants Theorie der Freiheit, bes. 262–286.

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die subjektive Einstellung der Person zum moralischen Gesetz und dem Bewußtsein der objektiven Forderung des moralischen Gesetzes an sie. 16 Im »Urtheil der Vernunft« ist die Perversion der Anlagen zum Guten durch den Hang zum Bösen möglich, weil sie wirklich ist, aber auch unerklärlich, weil sie in jedem Fall eine intelligible Freiheitstat ist. 17 Doch ebenso möglich (und als Freiheitstat unerklärlich) muß die moralische ›Wiedergeburt‹, d. h. die Revolution der schlechten in eine gute Gesinnung sein, weil sie uns durch das moralische Gesetz bedingungslos geboten ist. 18 Wenn Kant davon spricht, daß der Hang zum Bösen »unvertilgbar« aber überwindbar ist, so heißt dies im »Urtheile der Vernunft«, daß wir mit ihm als »Feind in uns« immer rechnen müssen, daß wir uns aber seiner entäußern, daß wir uns von ihm distanzieren, daß wir uns zu ihm in ein freies Verhältnis setzen können. 19 Im »Urtheil der Vernunft« spielt der Hang zum Bösen für die »moralische Dogmatik« denn auch keine Rolle; d. h. bezüglich jeder Pflicht ist jede mündige Person jederzeit so zu beurteilen, daß sie ihr entsprechend unmittelbar zu handeln befähigt ist. Und »eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre« (RGV B 42 = AA 6,41). Eine jede Handlung eines verantwortlichen Menschen muß in dieser Perspektive »immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden« (ebd.). Und genau dies tun wir und meinen wir, wenn wir jemandem »im Urtheil der Vernunft« sein Tun moralisch oder rechtlich »zurechnen«.

Sie markieren sämtlich einen »subjektiven Vorbehalt gegen die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes«; so treffend Bettina Stangneth: Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹, 62. 17 MST A 2 f. Fn = AA 6,380 Fn: »Das Phänomen nun: daß der Mensch auf diesem Scheidewege […] mehr Hang zeigt der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben, zu erklären ist unmöglich: weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir aber die Willkür nicht als frei denken würden.« 18 Daß transzendentale, im Empirischen sich auswirkende Freiheit kein unsinniger Gedanke ist, hat Kant im Antinomienkapitel der KrV geklärt. 19 Christoph Schulte (radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, 116) hat Recht, wenn er meint, Kant erweise sich »trotz seines Beharrens auf der Allgemeinheit des radikalen Bösen als moralphilosophischer ›Pelagianer‹«. 16

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3.2 Die empirische Sicht In der empirischen Perspektive der Betrachtung und Beurteilung des Menschen, in der Perspektive des »menschlichen Richters« und in der Perspektive der Aszetik im Blick auf die sittliche Bildung des Menschen stellen sich die Dinge anders dar. In empirisch erklärender Perspektive bedeutet zunächst dieser Hang zum Bösen »nichts weiter, als daß, wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen seinem Zeitanfange nach einlassen wollen, wir bei jeder vorsetzlichen Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unsers Lebens bis zurück in diejenige, wo der Vernunftgebrauch noch nicht entwickelt war, mithin bis zu einem Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen, welcher darum angeboren heißt, die Quelle des Bösen verfolgen müßten« (RGV B 46 = AA 6,42 f.). Hier hätte ›Hang‹ die Bedeutung nicht einer eigenverantwortlichen Disposition, sondern einer naturalen »Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subject die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt«, so wie in Kants Beispiel »rohe Menschen«, die noch keine Erfahrung mit Alkoholischem gemacht haben, eine Prädisposition zur Abhängigkeit von berauschenden Getränken haben (RGV B 20 Fn = AA 6,28 Fn.). Von einem solchen »Hang zum Bösen« gilt Kants eigenartiger Satz, »daß er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf« (RGV B 21 = AA 6,29). Das heißt wohl: Was in rein theoretischer Erklärungsperspektive eine plausible Annahme sein mag, darf in der reinen Vernunftperspektive moralischer Beurteilung keinen argumentativen Platz beanspruchen, da in ihrem Horizont Böses seinem Begriff nach nicht auf Natur (oder Gesellschaft) zurückführbar, sondern nur als Wirkung einer Kausalität aus Freiheit zu denken ist. In empirisch beurteilender Perspektive ist nicht der apriorische Grundsatz der »rein intellektuellen« Beurteilung leitend, nach dem die Maxime der Maximen und damit die Person jederzeit entweder gut oder böse ist. Und in empirisch beurteilender Perspektive unterstellen wir nicht allenthalben einen Hang zum Bösen vor allem Gebrauch der Freiheit. In empirischer Beurteilung gehen wir selbstverständlich von der moralischen Unschuld des Säuglings und Kleinkindes, von der moralischen »Indifferenz vor aller Ausbildung« aus (RGV B 39 Fn = AA 6,39 Fn). Und im Blick auf die in die Sinne fallenden Handlungen der Menschen stellen wir in der Regel »ein Positives der Mischung, 278

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theils gut, theils böse zu sein« fest (ebd.). Die »Beurtheilung der Moralität des Menschen in der Erscheinung« (ebd.) muß sich ohnehin an der grundsätzlich feststellbaren äußeren Rechtheit des Handelns orientieren. Die einen Menschen jeweils leitende Maxime der Maximen, seine Gesinnung sowie ihre Stärke oder Schwäche läßt sich, weil im Noumenalen situiert, wofür Phänomenales nur ein Zeichen und Hinweis ist, durch Fremd- und Selbstbeobachtung und durch Interpretation der Beobachtungsdaten niemals eindeutig und endgültig klären. Der »Reinigkeit der moralischen Absicht«, der »Lauterkeit der Gesinnung« und der unüberwindbaren Stärke der guten Maximenordnung kann ein Mensch weder bei sich selbst noch bei einem anderen jemals völlig gewiss sein. Die »Tiefe des Herzens« ist dem Menschen »unerforschlich« (RGV B 26 = AA 6,51). Schon in der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant gesagt (KrV B 579 Fn): »Die eigentliche Moralität der Handlungen […] bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit … zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.« 20

In empirisch beurteilender Perspektive stellen die Stufen der Gebrechlichkeit, der Unlauterkeit und der Bösartigkeit des Herzens wesentliche Unterscheidungen dar. In ihr erscheint es möglich, daß die Gesinnung bereits gut und »das Fleisch noch schwach«, und daß die Unlauterkeit des Herzens dem Menschen (vielleicht sogar schuldlos) 21 nicht bewußt ist. Einzig die »mit Bewußtsein böse Handlung« ist ein einigermaßen sicheres Indiz für das Vorliegen einer verdorbenen Gesinnung. Die moralische Aszetik, der es um die sittliche Ausbildung »des Menschen in der Erscheinung« im Blick auf seinen empirischen und intelligiblen Charakter geht, muß die reine Vernunftperspektive mit der empirisch erklärenden und empirisch beurteilenden Perspektive in praktischpragmatischer Absicht verbinden. Sie muß mit der »Idee der MenschVgl. dazu MST B 25 = AA 6,392; RGV B 36 ff. = AA 6,38 f. Diese Möglichkeit ergibt sich, wenn Menschen, wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (BA 26 = AA 4,407) erklärt, auch »bei der schärfsten Selbstprüfung« nicht völlig sicher sein können, »daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung« der Moralität vorliegt.

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heit« und dem Gedanken der Erhabenheit der moralischen Bestimmung des Menschen (vgl. RGV B 59 = AA 6,50) die Anlage zur Persönlichkeit und mit ihr die Gesinnung des Menschen ansprechen, um das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz zu stärken und ihn zu einer (nachhaltigen) Revolution der Gesinnung zu motivieren; sie muß andererseits die Sinnesart des Menschen, d. h. die Art, den Zusammenhang und die Kraft seiner Neigungen nach erfahrungsgestützten Klugheitsregeln über Gewöhnungs- und Belehrungsprozesse in und mit der Zeit so formen, daß sie sich dem Gesetz der Vernunft fügen, seine Befolgung im Handeln unterstützen, ihr jedenfalls möglichst wenig Hindernisse entgegensetzen. 22 Die Form der Nötigung und des »Selbstzwangs« wird Moralität allerdings auch beim Menschen mit bestem empirischem Charakter in Situationen des Konflikts zwischen Pflicht und Neigung immer haben.

4.

Die Überwindung des Hangs zum Bösen

Kants Anthropologie geht davon aus, daß jeder Mensch ›von Natur‹ mit Anlagen zum Guten ebenso wie mit einem selbstverschuldeten Hang zum Bösen versehen ist. Sie unterstellt ferner, daß der Mensch, als Mensch unter Menschen, von Natur der Unüberwindlichkeit des Verderbens seiner sittlichen Anlage ausgeliefert ist. Mechanische und vergleichende Selbstliebe des Einzelnen pervertieren ›natürlicherweise‹ zur Selbstsucht, wenn sie sich der Selbstsucht Einzelner oder Gruppen gegenübersehen; die mechanische schon durch das bloße Beispiel, die vergleichende aufgrund der ihr entspringenden Neigung, »keinem Marcus Willaschek (Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, 163) hat sicher Recht, wenn er meint, daß ein guter intelligibler Charakter sich in einem »durchgängig »legalen« empirischen Charakter« manifestiert. Doch ich denke nicht, daß er Recht hat, wenn er meint, daß das Ideal eines »durchgängig »legalen« empirischen Charakters« mit dem Vorliegen eines »radikal guten« intelligiblen Charakters zusammenfällt und daß »die »allmählige Reform« einfach darin (besteht), von nun an überhaupt keine gesetzwidrigen Handlungen mehr zu vollziehen« (ebd. 162). Letzteres ist sicher ein Bestandteil der Reform; doch diese besteht auch in einer schrittweisen Disziplinierung und Kultivierung der Neigungen und in einer kontinuierlichen Stärkung des moralischen Gefühls der Achtung vor dem Gesetz. Ferner ist es sehr wohl denkbar, daß jemand (etwa im Blick auf himmlischen Lohn und Strafe) sich aller gesetzwidrigen Handlungen enthält und gleichwohl (nach Kant) keinen guten intelligiblen Charakter besitzt.

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über sich Überlegenheit zu verstatten, mit einer beständigen Besorgniß verbunden, daß Andere darnach streben möchten; woraus nachgerade (sc. wenn diese Sorge durch Fakten und Indizien wohlbegründet ist M. F.) die ungerechte Begierde entspringt, sie sich über Andere zu erwerben« (RGV B 17 = AA 6,27). Der Einzelne unter vielen braucht einen politisch-bürgerlichen Rechtszustand, um angesichts der Gefahr eines Kampfes aller gegen alle rechtlichen Halt und Schutz zu gewinnen. Die Idee des Rechts wird ergänzt und vollendet durch die Idee der Moralität. Wie einer Rechtsgemeinschaft, so bedarf der Einzelne auch einer Tugendgemeinschaft, einer moralisch-bürgerlichen Gemeinschaft, um sich in ihrem integrierenden, haltgebenden, korrigierenden und schützenden Rahmen als moralisches Wesen zu entwickeln und zu erhalten. Zwar kann man die Position der Moralität nur selbst beziehen, aber niemand hat die Chance, sie im Leben auch nur annähernd zu verwirklichen, wenn er nicht von einer in moralischen Dingen einmütigen, erfahrbaren, öffentlichen Gemeinschaft getragen ist. Und für die Verwirklichung des höchsten Guts auf Erden kann man nicht erfolgreich als isoliertes moralisches Wesen arbeiten. Die Verwirklichung von Moralität und moralisch akzeptablen Zuständen auf Erden ist für Kant ganz wesentlich eine Gemeinschaftsaufgabe. 23 Ein derartiges öffentlich-moralisches Gemeinwesen nennt er, im Unterschied zu einem politisch-bürgerlichen Gemeinwesen, eine Kirche. Eine Kirche dient der Ermöglichung und Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Gutes: der Würdigkeit, glücklich zu sein, und der Entsprechung von Würdigkeit und Glückseligkeit im Leben. Die Errichtung und Ausbreitung einer Kirche ist ein Gebot der Vernunft: Wie den rechtlichen, so gilt es auch den moralischen Naturzustand zu verlassen (RGV B 131 f. = AA 6,94). Gleichwohl unterscheidet sich das Gebot in rechtlicher von dem in moralischer Hinsicht. Die Verwirklichung der Rechtsidee geschieht auf Erden sinnvollerweise im Plural, in Form vieler Staaten und (nicht der Auflösung sondern) der

Es erstaunt, daß der von Kant thematisierte Zusammenhang des Bösen mit der Sozialität des Menschen und der Zusammenhang sittlicher Regeneration und Bildung mit einer Tugendgemeinschaft (Kirche) erst in neueren Publikationen zur gebührenden Geltung gebracht wird. Noch in den 90er Jahren, etwa in der Studie von Gordon E. Michalson (Fallen freedom. Kant on radical evil and moral regeneration) fällt dieser Zusammenhang völlig aus dem Blickfeld.

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Föderation der Einzelstaaten zu einer weltumspannenden Rechtsgemeinschaft. Die Idee der Moralität beansprucht und verbindet alle Menschen dagegen in gleicher und unmittelbarer Weise. Entsprechend impliziert die Idee einer (wahren) Kirche ihrem Wesen und Ziel nach unmittelbare Universalität. Ihre Werte und Normen übersteigen alle staatlichen Gesetze und Grenzen. Sie ist auf die volle, unterschiedslose, direkte Mitgliedschaft aller Menschen ausgerichtet. Kant unterscheidet die unsichtbare Kirche im Sinne einer Platonischen Vernunftidee von der (wahren) sichtbaren Kirche als einer erfahrbaren, öffentlichen Vereinigung von Menschen zu einer moralischen Gemeinschaft, die dieser Idee entspricht (vgl. RGV B 142 = AA, 101). Die Errichtung einer (sichtbaren) Kirche ist eine moralische Pflicht, allerdings nicht eine vom einzelnen allein erfüllbare und zu erfüllende, sondern eine Gattungspflicht. 24 Das Ideal hat unmittelbar ein Ganzes aller Menschen als »allgemeine Republik nach Tugendgesetzen« zum Inhalt (RGV B 136 = AA 6,98) und unterscheidet sich darin wesentlich von einer politischen Gemeinschaft. Die Vernunftidee der wahren Kirche ist die von Gott als dem moralischen Weltherrscher und den Menschen als Volk Gottes unter moralischen, in der vernünftigen Freiheit jedes Einzelnen gründenden Gesetzen (RGV B 136 = AA 6,98 f.). Die sichtbare Kirche bedarf der öffentlichen und durch öffentliche Diskussion bewährten (moralischen) Gesetze und Lehren, die die Gemeinschaft konstituieren, erhalten und das Leben aller Mitglieder moralisch orientieren und regulieren. Und sie bedarf einer Obrigkeit, die sich als Diener der Gesetze und Verwalter der Geschäfte des unsichtbaren Oberhaupts versteht und als solche verstanden werden kann (RGV B 142 = AA 6,101). Moralisch gesehen vermag nur der reine Religionsglaube eine wahre sichtbare Kirche zu gründen; doch ›natürlicherweise‹, so Kant, geht leider der Kirchenglaube dem reinen Religionsglauben vorher (vgl. RGV B 152 = AA 6,106). Es ist, wie Kant sich (zunächst vorsichtig) ausdrückt, »eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran schuld, daß auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn allein zu

Vgl. RGV B 135 = AA, 97: »Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt.«

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gründen« (RGV B 145 = AA 6,102 f.). Was besagt dies? Menschen, so ist Kant zu verstehen, neigen nun einmal nicht dazu, sich allein um der Verwirklichung einer abstrakten Vernunftidee willen zu einer Gemeinschaft moralisch Gleichgesinnter zusammenzuschließen. Sie binden und klammern sich an Sinnliches und Historisches. Sich moralisch verstehende und durch das Verständnis von Moralität als göttliches Gebot geprägte menschliche Gemeinschaften entstehen, wie man weiß, durch die Initiativ-, Führungs- und Weisungskraft ungewöhnlich charismatischer Persönlichkeiten und durch die gemeinschaftsstiftende Kraft einer verbindenden, kontinuierlich erinnerten Ursprungsgeschichte. Und sie treten nicht in die Welt als rein über die Idee gemeinschaftlicher Verwirklichung der Moralität konstituierte Gemeinschaften. Die Menschen neigen, durch das Beispiel irdischer Herrscher verführt, ganz allgemein zu der Annahme, daß verwirklichte Moralität nicht alles sein kann, was ein Gott von ihnen zu leisten verlangt. Sie suchen nach einem besonderen Gottesdienst, der in Handlungen des Rituals, des Gebetes, des Kultes, des Opfers besteht, in Handlungen, die für sich genommen mit Moralität nichts zu tun haben. Und sie verlangen nach einer besonderen göttlich-herrscherlichen Anordnung dieses besonderen Dienstes. Weder die von Gott legitimierte Autorität einer Gründungsfigur, noch die Authentizität ihrer besonderen Weisungen lassen sich durch reine Vernunft erfassen. Dafür muß immer die Erfahrung einer die Vernunft übersteigenden besonderen Offenbarung in Anspruch genommen werden. Somit geht die Gründung einer jeden sichtbaren Kirche de facto von einer überragenden, sich in ihrem Wissens- und Weisungsanspruch über das durch allgemeine Vernunft Begründbare überhebende Persönlichkeit und einem historischen Offenbarungsglauben aus (RGV B 145 ff. = AA 6,102 ff.) und bildet sich »natürlicherweise« in einen historisch-statutarischen Kirchenglauben fort. Insofern ein solcher Kirchenglauben »dogmatisch« einem anthropomorphen Gottesbild anhängt, den Glauben an Historisches für allgemein verbindlich erklärt und einen statutarischen Gesetzesgehorsam pflegt, somit »unlautere Religionsideen« gegen die »Zumuthung der Selbstbesserung« aufbietet und eine »Religion der Gunstbewerbung (des bloßen Cultus)« (RGV B 61 = AA 6,51) an die Stelle einer »Religion des guten Lebenswandels« setzt (RGV B 269 = AA 6,175), handelt es sich für Kant um einen Ausdruck des Hangs des Menschen zum Bösen, der moralisch destruktives und gesellschaftlich dissoziierendes A

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Konfliktpotential enthält, 25 und den es durch eine Revolution der religiösen Gesinnung, eine Reform der kirchlichen Institutionen und, auf der Basis einer »erweiterten Denkungsart«, durch eine rein moralische Interpretation ihrer Symbole im Sinne einer einzigen wahren sichtbaren Kirche zu überwinden gilt.

Kants Aussagen sind hier eindeutig (RGV B 196 = AA 6,131): »– diese Geschichte des Christenthums (welche, sofern es auf einem Geschichtsglauben errichtet werden sollte, auch nicht anders ausfallen konnte), wenn man sie als ein Gemälde unter einem Bild faßt, könnte wohl den Ausruf rechtfertigen: tantum religio potuit suadere malorum! wenn nicht aus der Stiftung desselben immer noch deutlich genug hervorleuchtete, daß seine wahre erste Absicht keine andre als die gewesen sei, einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitenden Meinungen geben kann, einzuführen, alles jenes Gewühl aber, wodurch das menschliche Geschlecht zerrüttet ward und noch entzweiet wird, bloß davon herrühre, daß durch einen schlimmen Hang der menschlichen Natur (Hvh. M. F.), was beim Anfange zur Introduction des letztern dienen sollte, nämlich die an den alten Geschichtsglauben gewöhnte Nation durch ihre eigene Vorurtheile für die neue zu gewinnen, in der Folge zum Fundament einer allgemeinen Weltreligion gemacht worden.«

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›Glaubenslehren sind Gnadenbezeigungen‹ Ansätze zur Gnadenlehre in der Philosophie Immanuel Kants Norbert Fischer (Eichstätt)

Kant ist als ›Philosoph der Freiheit‹ bekannt und anerkannt, nicht aber als ›Lehrer der Gnade‹. 1 Schon seine Fragen: »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?«, in denen sich alles Vernunftinteresse vereinige, weisen jedoch auf die Endlichkeit des Fragenden. 2 Wer sein Leben als Gabe empfängt und als Aufgabe übernimmt, die seine Kräfte fordert und überfordert, findet sich angeregt, den Blick mit Dank und Hoffnung auf ein »Reich der Gnaden« zu lenken. 3 Zudem lassen schon Rezeptivität und Spontaneität, die nach Kant ›Doctor gratiae‹ ist ein Titel für Augustinus, der dessen Freiheitslehre verdeckt. Treffender wird Augustinus als ›doctor caritatis‹ bezeichnet, da er Lehrer der Freiheit und der Gnade ist. Ansätze zu Kants Gnadenlehre auch bei Reiner Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie; Rudolf Langthaler: Kants Ethik als ›System der Zwecke‹. Zu Kant als ›Lehrer der Freiheit‹ vgl. schon dessen Vorlesung zur Moralphilosophie (Collins); AA 27,471: »Die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist die moralische Vollkommenheit, sofern sie durch die Freyheit des Menschen bewerkstelliget wird, wodurch alsdann der Mensch der größten Glückseeligkeit fähig ist. Gott hätte die Menschen schon so vollkommen machen, und zudem die Glückseeligkeit ausgetheilt haben können; allein alsdann wäre es nicht aus dem innern principio der Welt entsprungen. Das innere Principium der Welt ist aber die Freyheit. Die Bestimmung des Menschen ist also die größte Vollkommenheit durch seine Freyheit zu erlangen.« 2 KrV B 833; vgl. 832; vgl. weiterhin Log A 25 = AA 9,25; zur Hervorhebung der sich in diesen Fragen zeigenden ›Endlichkeit‹ vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (1929); GA 3, 205–208; 214–218. 3 KrV B 840: »Leibniz nannte die Welt, so fern man darin nur auf die vernünftigen Wesen und ihren Zusammenhang nach moralischen Gesetzen unter der Regierung des höchsten Guts Acht hat, das Reich der Gnaden und unterschied es vom Reiche der Natur, da sie zwar unter moralischen Gesetzen stehen, aber keine andere Erfolge ihres Verhaltens erwarten, als nach dem Laufe der Natur unserer Sinnenwelt. Sich also im Reiche der Gnaden zu sehen, wo alle Glückseligkeit auf uns wartet, außer so fern wir unsern Antheil an derselben durch die Unwürdigkeit, glücklich zu sein, nicht selbst einschränken, ist eine praktisch nothwendige Idee der Vernunft.« Die genannte Anregung kann im Sinn von Augustins ›excitatio‹ verstanden werden (conf. 1,1): »tu excitas, ut laudare te delectet«. 1

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für die endliche Erkenntniskraft des Menschen Möglichkeitsbedingungen der objektiven Erkenntnis sind, an das Verhältnis von Freiheit und Gnade denken. 4 Endliche Vernunftwesen, die Glückseligkeit erstreben, ohne Allgenugsamkeit zu besitzen (die mehr ist als Genügsamkeit), sind von Natur aus »offen und Empfänger«. 5 Kant sagt (KpV A 49): »Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem«. 6 Daß endliche Freiheitswesen nicht ihre eigenen Herren sind, erklärt Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft. 7 Sofern uns die »eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) […], selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen« bleibt, sind wir auf Gott als den ›Herzenskündiger‹ verwiesen, zudem auf ihn als ›gütigen Regierer‹ und ›gerechten Richter‹. 8 Allerdings hat Kant zwischen 1776 und 1778 eine These notiert, an der er später festgehalten hat. Sie lautet (Reflexion 7174; AA 19,264): »Ein Gütiger Richter ist contradictio in adiecto.« Wegen der »höchsten Immutabilität Gottes«, also aus theologischen Motiven, hat er fromme Redeweisen von der Art, »Gott könne wieder gnädig werden, wenn er vorher erzürnet war«

Vgl. dazu KrV B 74 f.; zum Thema vgl. auch Norbert Fischer: Kants Philosophie und der Gottesglaube der biblischen Offenbarung. Vorüberlegungen zum gründlichen Bedenken des Themas. 5 Vgl. Rilke: SO II 5, V. 12–14: »Aber wann, in welchem aller Leben,/ sind wir endlich offen und Empfänger.« Die Vernunft stellt uns in einen unendlichen Horizont von Fragen, die wir endlichen Wesen nicht beantworten können. 6 KpV A 45; zur ›Allgenugsamkeit‹ Gottes z. B. BDG A 180–187 = AA 2,151–154; zu Augustinus vgl. z. B. ep. 186,5: »sufficientia nostra ex deo est« (dazu 2 Kor 3,5). Endliche Freiheitswesen können sich ›genügsam‹ einschränken; vgl. Franz Kafka: Der Hungerkünstler. Gottes ›Allgenugsamkeit‹ ist dagegen nicht aus Einschränkungen, sondern aus seiner ›plenitudo‹ zu verstehen, aus der unüberbietbaren Fülle inneren Reichtums (vgl. conf. 13,5). 7 Die von manchen bei Kant gesuchte ›Grundlegung‹ der Moraltheorie (vgl. Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie,10) geht bei Kant mit einer ›Inversion der Aktivität‹ einher; vgl. dazu z. B. MAA 140–230. 8 Vgl. Metaphysik Pölitz (PM 323; AA 28.1,338): »Gott als Gesetzgeber ist heilig, als Regierer gütig, als Richter gerecht. Diese drei Begriffe sind von einander unterschieden; sie sind nicht identisch, ob sie gleich verknüpft sind. Der göttliche Wille ist heilig, weil er mit dem moralischen Gesetze völlig übereinstimmt.« 4

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›Glaubenslehren sind Gnadenbezeigungen‹

– oder ganz allgemein die Aussagen: »Gott ist gnädig, barmherzig, langmüthig« – für »Anthropomorphismen« gehalten. 9 In den Vorlesungen über die philosophische Religionslehre heißt es demgemäß (PR 82; AA 28.2,2,1039; aus den Jahren 1783/84): »Gott ist und bleibet aber immer derselbe, gleich gnädig und gleich gerecht.« Die ›anthropomorphistische‹ Redeweise behält für Kant indessen ihr begrenztes Recht (Reflexion 6036; AA 18,429): »Gott ist unveranderlich, weil er gar nicht in der Zeit ist. Er fangt also nicht eine Handlung an oder hört mit einer auf. Wenn in dem Menschen was anhebt, was Gott unmittelbar beygemessen wird, so muß der Mensch die Ursache der Veranderten relation seyn. Er wird ein besserer Mensch, und Gott wird gnädig. Er ist fleißiger, und Gott steht ihm bey. In Gott ist immer dasselbe princip und actus.« 10 Da Kant schon mit der Betonung der Endlichkeit der vernünftigen Freiheitswesen, die wir sind, eine Voraussetzung der Annahme erfüllt, daß wir der Gnade bedürftig sein könnten, erstaunt es nicht, daß die Kritik der praktischen Vernunft wirkliche Ansätze zu einer Gnadenlehre enthält. Ebenso wenig überrascht aber die Tatsache, daß Kant später scharfe negativ-kritische Angriffe gegen Formen von GnadenVgl. Religionslehre Pölitz (PR 82; AA 28.2,2,1039); vgl. Reflexion 6317; AA 18,631. Die Reflexion stammt aus den Jahren 1780–89; zu ihr paßt eine explizite Bezugnahme Kants aus dem Jahr 1795 auf Augustinus; vgl. Zum ewigen Frieden; sie bezieht sich auf die schöpferische Vorsehung (›providentia conditrix‹), die Kant mit Bezug auf Augustinus so charakterisiert (ZeF BA 48 Fn; AA 8,361 Fn): »semel iussit, semper parent«. Kant schreibt Augustinus damit ein Vorsehungsverständnis zu, mit dem er selbst sympathisiert, indem er sagt, daß Gott einmal und zugleich und immerfort alles wolle, was er will (conf. 12,18: »semel et simul et semper velle omnia quae vult«; auch dieses Zitat steht übrigens im Zusammenhang der ›Zeit‹-Problematik, auf deren Bearbeitung durch Augustinus Kant schon früh Bezug genommen hatte; vgl. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral aus dem Jahr 1764. Bei den Überlegungen, wie die Methode der Metaphysik von der Methode der Mathematik zu unterscheiden sei, weist Kant auf Augustins Wort vom Beginn der Zeituntersuchung (UDG A 79 = AA 2,283): »Augustinus sagte: Ich weiß wohl, was die Zeit sei, aber wenn mich jemand frägt, weiß ichs nicht« (das ist eine fast wörtliche Übersetzung von conf. 11,17: »si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio«). Eine weitere Bezugnahme steht im Hintergrund einer Fußnote der Religionsschrift (RGV B 69 Fn = AA 6,58 f. Fn): »jener Kirchenvater«, den Kant hier meint, ist wohl Augustinus; diesem spricht er folgendes Wort zu: ›Virtutes paganorum splendida vitia‹ ; das Wort paßt zu civ. 19,25: »proinde virtutes, quas habere sibi videtur, per quas imperat corpori et vitiis, ad quodlibet adipiscendum vel tenendum rettulerit nisi ad deum, etiam ipsae vitia sunt potius quam virtutes.« Kant deutet das Wort in einem zustimmungsfähigen Sinne, zwar nicht als »glänzende Laster«, aber doch als »glänzende Armseligkeiten«.

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lehren vorträgt, die der Annahme der Freiheit den Boden entziehen. 11 Die ›Gnadenlehre‹, die durch die Verkündigung des Apostels Paulus 12 und die Erarbeitung einer ›doctrina christiana‹ im Werk Augustins systematischen Einfluß auf die christliche Theologie erlangt hatte, wurde zu Beginn der Neuzeit von Theologen der Reformation so zugespitzt, daß die Freiheit und Verantwortung der Menschen, an die Jesus in der Aufforderung zur ›Umkehr‹ nach den Berichten der Evangelien eindrucksvoll appelliert, nicht nur keine Rolle mehr spielten, sondern explizit bestritten wurden, beispielsweise in Martin Luthers Schrift De servo arbitrio. 13 Der These, Rechtfertigung und Heil der Menschen würden allein durch Gottes Gnade bewirkt, kann eigentlich kein Denkender zustimmen – und schon gar nicht der ›Philosoph der Freiheit‹. 14 11 Für den Sinn gottesdienstlichen Kults hatte Kant wenig Sinn; vgl. RGV B 311 = AA 6,200: »Daß aber Gott mit der Celebrirung dieser Feierlichkeit besondere Gnaden verbunden habe, zu rühmen und den Satz, daß sie, die doch bloß eine kirchliche Handlung ist, doch noch dazu ein Gnadenmittel sei, unter die Glaubensartikel aufzunehmen, ist ein Wahn der Religion, der nicht anders als dem Geiste derselben gerade entgegen wirken kann.« Augustins Verhältnis zur Musik im Kult ist kultivierter, differenzierter und sachgemäßer, vgl. conf. 10,49 f.; dazu SwL LXXIV. 12 Zum Desiderat der »›Entlutherisierung‹ des Paulus« vgl. Karl Lehmann; Eduard Lohse: Paulus, Lehrer der Kirche, bes. 22; 42 f. Die Paulinischen Briefe sind keine systematischen Abhandlungen, sondern Zuspitzungen der Botschaft Jesu auf konkrete Situationen der christlichen Gemeinden, die Adressaten der Briefe waren. Vgl. z. B. die hochproblematische Stelle Röm 9,14 ff., die besser nicht im Sinne der ›doppelten Prädestination‹ ausgelegt wird. Würde sie so verstanden, wären ›moralische Appelle‹, die Paulus vorträgt, sinnwidrig. Die Aufgabe der ›Entlutherisierung‹ des Paulus drängt sich auch im Sinne Augustins auf (vgl. Simpl. 1,1,11: »his verbis videtur non recte intellegentibus velut auferre liberum arbitrium«) und womöglich sogar auch der tieferen Intentionen Luthers auf. 13 Zu Luthers Diatribe gegen Erasmus von Rotterdam vgl. dessen abgewogenes Resümee; zitiert von Wilfried Härle (LDStA 1: Einleitung, XXIVf.). Wie die Hgg. (LDStA 1,V) Luthers Sieg über Erasmus erklären können, bleibt unklar. Luther bestreitet schon in der Einleitung zum »Summarium huius Epistole« (Römerbrief-Vorlesung von 1515/ 16) die Freiheit endlicher Wesen; er zielt aber mit Recht gegen menschliche Überheblichkeit (vgl. WA 56,157). 14 Vernunft und Freiheit hält auch Kant für Gaben; skurrile Übersteigerungen der Gnadenlehre geißelt er gleichwohl scharf; vgl. SF A XXIIIff. = AA 7,10: »Die Prüfung der Candidaten zu geistlichen Ämtern ward nun einer Glaubenscommission anvertraut, der ein Schema Examinationis nach pietistischem Zuschnitte zum Grunde lag, welche gewissenhafte Candidaten der Theologie zu Schaaren von geistlichen Ämtern verscheuchte und die Juristenfacultät übervölkerte […]. – Um einen kleinen Begriff vom Geiste dieser Commission zu geben: so ward nach der Forderung einer vor der Begnadigung nothwendig vorhergehenden Zerknirschung noch ein tiefer reuiger Gram (maeror ani-

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Obwohl es Augustinisten gibt, die einen monokausalen Monotheismus im Anschluß an Luthers ›sola gratia‹-Lehre vertreten, steht fest, daß Augustinus noch in seinen letzten Schriften auch für die Entscheidungsfreiheit argumentiert und sie verteidigt hat. 15 Deshalb werden Kants Ansätze zur Gnadenlehre im folgenden zur Klärung zuweilen nebenbei auch auf etablierte Formen der Gnadenlehre bezogen, mi) erfordert und von diesem nun gefragt, ob ihn der Mensch sich auch selbst geben könne. Quod negandum ac pernegandum, war die Antwort; der reuvolle Sünder muß sich diese Reue besonders vom Himmel erbitten. – Nun fällt ja in die Augen: daß den, welcher um Reue (über seine Übertretung) noch bitten muß, seine That wirklich nicht reuet; welches eben so widersprechend aussieht, als wenn es vom Gebet heißt: es müsse, wenn es erhörlich sein soll, im Glauben geschehen. Denn wenn der Beter den Glauben hat, so braucht er nicht darum zu bitten: hat er ihn aber nicht, so kann er nicht erhörlich bitten.« Dazu vgl. Volker Henning Drecoll: ›Ungerechte Gnadenlehre‹. Zeitgenössische Anfragen an Augustin und ihr Einfluß auf seine Gnadenlehre, 34 f., der heutigentags unbekümmert in die Fußstapfen der von Kant lächerlich gemachten Kommission zu treten scheint. 15 Volker Henning Drecoll (Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, 249) sagt, »die Willensentscheidung, die dem Glauben und gerechtem Handeln zugrundeliegt«, basiere für Augustinus »selbst auf Erwählung […], so daß eine ›prinzipielle‹ Unabhängigkeit nicht gegeben ist« Er mag sich auf antipelagianische Polemiken stützen können, deren Maßlosigkeit das klare Urteil der Kombattanten verwirrt hat, verzeichnet aber Augustins Hauptintention. Vgl. Ders.: ›Ungerechte Gnadenlehre‹. Zeitgenössische Anfragen an Augustin und ihr Einfluß auf seine Gnadenlehre, bes. 39. Drecoll verformt den ›Monotheismus‹ zum Substanzmonismus, der dem biblischen Glauben widerstreitet, wie er sich in Schöpfungslehre und Gottesbeziehung ausdrückt. Er relativiert den allgemeinen Heilswillen Gottes und betreibt eine falsche ›Lutherisierung‹ Augustins. Sogar Röm 9,14 ff. hat womöglich nur die Funktion, Anklagen gegen Gott und die menschliche Neigung zur Selbstrühmung zurückzuweisen. Anklage Gottes und Selbstrühmung waren indessen auch für Kant inakzeptabel. Nötig ist also sowohl eine Entlutherisierung der Paulus-Exegese wie der Augustinus-Exegese. Diese war eigentlich schon geleistet; vgl. Heinrich Barth: Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins, 87 ff.; Barth erklärt Augustins Schwankungen durch die ›innere Steigerung‹ des Freiheitsbegriffs (85): »Im ›liberum arbitrium‹ – dies sollten die freiheitsstolzen Menschen bedenken – tönt die ›libertas‹ erst an; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.« Hinzugefügt sei, daß Luther weniger als systematischer Theologe gelesen werden sollte, sondern mehr als Prediger gegen den Stolz einer falsch verstandenen Werkgerechtigkeit. Die Nachsicht, die Luther gebühren mag, kann Drecoll nicht zuteil werden, da er Gott zum unerträglichen Despoten stilisiert, was nur dazu führen kann, daß »gewissenhafte Candidaten der Theologie zu Schaaren von geistlichen Ämtern verscheucht[e]« werden (s. o.). Beachtenswert ist dagegen Katharina Bracht: Securitas libertatis. Augustins Entdeckung der radikalen Entscheidungsfreiheit als Ursprung des Bösen. Zur Kritik der starren Dogmatik von Drecolls Augustinus-Deutung vgl. auch Norbert Fischer: Schöpfungslehre und Christologie in Augustins ›Confessiones‹. Zu systematischen Grundlagen der Fragen nach Einheit und Vielheit im Denken Augustins. A

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zum Beispiel im Blick auf Paulus, Augustinus und Martin Luther. In den hitzigen antipelagianischen Polemiken hat Augustinus die Bedeutung der göttlichen ›Gnade‹ für den Weg der Menschen zum Heil teilweise so übersteigert, daß für ›Freiheit‹ wenig Platz blieb. Doch hat er an der Freiheit bis zum Ende seines Denkwegs festgehalten, auch damit der Glaube vernünftig bleiben und weiter der Maßgabe des »audiam, ut intelligam« entsprechen konnte. 16 Unverrückbar bleibt die These aus De libero arbitrio gültig, daß ohne die Annahme des freien Willens als »prima causa peccandi« überhaupt keine Tat als ›böse‹ bezeichnet werden kann. 17 Noch als Bischof benannte er den freien Willen als Gut, sogar in der Exegese des Römerbriefs, trotz der Passagen, die der Willensfreiheit zu widersprechen und sie auszuschließen schienen. 18 Im Zenit seiner Bischofszeit hat er sich zudem kritisch mit einer Position befaßt, die man heute als ›postulatorischen Atheismus‹ bezeichnen könnte, und scharf argumentierend betont, daß die Annahme der freien Willensentscheidung innerhalb der Glaubenslehre unabdingbar bleibt. 19 Wie Augustinus von der Freiheitslehre zur Gnadenlehre ge16 Vgl. conf. 11,5; Augustinus spricht sowohl gegen das protestantische ›sola gratia‹, als auch gegen das ›sola fide‹ (vgl. vera rel. 8: »sic enim creditur et docetur, quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem«); ebenso gegen das ›sola scriptura‹ ; vgl. seine Gewohnheit, nichtchristliche Texte zustimmend zu zitieren; vgl. z. B. seine Hochschätzung u. a. Platons, gelegentlich Ciceros und Senecas. 17 Vgl. lib. arb. 3,49; ep. 246,2. ›Schlecht‹ und ›böse‹ sind scharf zu unterscheiden: ohne Befähigung endlicher Wesen zu Verantwortung ergibt sich ein monokausaler Monotheismus, der insinuiert, Gott verursache alles allein. Wäre das Wort, Gott habe ›Gefäße des Zornes‹ und ›des Erbarmens‹ geschaffen (Röm 9,22 f.), systematisch gemeint (nicht nur paränetisch, was uns hindern soll, uns selbst zu rühmen oder mit Gott zu rechten), so gilt (SwL VIII): »Ein Richter, der alles beherrschte und vorherbestimmt hätte, wäre ein Unding, dem gleichsam verborgen wäre, daß er urteilend über das richtet, was er selbst angerichtet hat. Die Annahme eines tyrannisch-selbstischen Gottes und die widersprüchliche Art, sein Verhältnis zu den Menschen zu charakterisieren, läßt sich dem Autor der Confessiones nicht anlasten.« – Zwar konnten die Pelagianer an Thesen des ersten Buches von De libero arbitrio anknüpfen; diese Thesen begann Augustinus im dritten Buch dieses Werkes jedoch mit guten Gründen zu relativieren. 18 Vgl. Simpl.1,2,21: »liberum voluntatis arbitrium plurimum valet«; zwar hat das Vermögen des endlichen Willens Grenzen, bleibt aber anerkannt. Die Vereindeutigungen Drecolls führen in die Irre; ebenso die Thesen Kurt Flaschs: vgl. Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo: De diversis quaestionibus ad Simplicianum, z. B. 19: Kant hätte Flaschs Annahme, ein Mensch könne schlechtweg »Herr seiner Handlungen« sein, nicht zugestimmt. 19 Luther beruft sich zwar keck auf Augustinus (LDStA 1,300), verfehlt aber dessen

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langte und an beiden Lehren festhielt, so stellte sich Kant mit der Freiheitslehre nicht prinzipiell in einen Gegensatz zur Gnadenlehre, sondern trug sogar positive Ansätze zu ihr vor, allerdings auch kritische Maßgaben. Eine hermeneutische Regel, die verstehen erlaubt, wie sich eine Gnadenlehre mit der Freiheitsphilosophie verknüpfen läßt, bietet ein Text Kants, dessen Kernaussage lautet (Reflexion 8089; AA 19,632): »Alle Glaubensbekentnisse müssen so gefodert werden, daß volle Aufrichtigkeit damit verbunden werden kan […]. Glaubenslehren sind […] Gnadenbezeigungen, die man gern annimmt und die nicht aufgedrungen werden.« Ebenso wie Augustinus vor der Ausarbeitung der Gnadenlehre zunächst eine Freiheitslehre entwickelt hatte, so setzen auch Kants Überlegungen zur Möglichkeit der Gnadenlehre die vorausgegangene Erarbeitung der Freiheitslehre voraus. Zur Erläuterung dieser Möglichkeit fährt Kant in der genannten Reflexion fort (ebd.): »Des Gewissens zu schonen, ist das erste, worauf der Lehrer zu sehen hat, denn wenn dieses abgehärtet ist, worauf will man Religion [sonst] gründen? – Setzt: Gott hätte nicht allein, wie er es wirklich that, dem Hiob seine Vermessenheit in Beurtheilung seiner Weltregierung vaterlich verwiesen, sondern ihm dagegen auferlegt, fernerhin die Gerechtigkeit, in allem was ihm wiederfahren, zu preisen: was wäre geworden? Er hätte die Worte gebraucht, aber das Herz wäre niemals dabey gewesen, weil er […] es nicht mit dem Bewustseyn seiner Rechtschaffenheit in Vergleichung gegen andere vereinigen konnte. Gott hätte also einen Heuchler aus einem ehrlichen Manne gemacht.« 20

In dieser Reflexion aus seinem Nachlaß, die in den Kontext der Religionsphilosophie und der Metaphysik der Sitten gehört, spricht Kant in Dankbarkeit von ›Glaubenslehren‹, sofern sie den freien Willen nicht verderben, sondern mit ihm vereinbar sind. Gegen eine kirchliche Intentionen (LDStA 1,484) und begünstigt so den ›postulatorischen Atheismus‹ ; vgl. Friedrich Nietzsche (Za II; KSA 4,110): »Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter.« Vgl. Luther (DcST 17): »Non ›potest homo naturaliter velle deum esse deum‹«; vgl. Nicolai Hartmann: Ethik (198–206, aber auch 808–810); Teleologisches Denken (passim); dazu Norbert Fischer: Epigenesis des Sinnes. Nicolai Hartmanns Destruktion einer allgemeinen Weltteleologie und das Problem einer philosophischen Theologie; Ders.: Schöpfungslehre und Christologie in Augustins ›Confessiones‹. 20 Vgl. auch Aus dem Nachlaß der Metaphysik der Sitten (AA 23,543). Weiteres Gewicht erhält die Stelle, wenn man Kants Äußerung zu Hiob im Brief an Johann Caspar Lavater beachtet (vgl. AA 10,176). A

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Praxis der Gnadenverwaltung, die der Freiheit keinen Platz läßt, betont er (Reflexion 8089; AA 19,633): »Der Priester welcher sich als einen göttlichen Geschäftträger ansieht der mit dem Ansehen bekleidet ist allein Gnaden auszutheilen u. zu entziehen ist ein Pfaffe.« Weil Kants Bemerkungen zur Gnadenlehre auf den ersten Blick zwiespältig sind, bedürfte es umfangreicher Untersuchungen seiner Stellungnahmen vor dem Hintergrund einer Reflexion der Hauptlehren der christlichen Theologie, die er im Kern positiv aufgegriffen, durchdacht und ausgelegt hat. Kants Beziehung zur christlichen Gnadenlehre 21 wird im folgenden in drei Schritten untersucht: Zunächst wird seine Annahme der Freiheit als Vorbedingung der Gnadenlehre erwiesen; sodann werden Ansätze zur Gnadenlehre genannt, wie er sie im Kontext seiner eigenen Fragen entfaltet; zuletzt wird erwogen, inwiefern zur Freiheit befähigte endliche Wesen der Gnade bedürfen. Obwohl die Arten von Kausalität in Natur, Freiheit und Gnade verschiedenartig sind, gehören Genuines Verständnis christlicher Dogmen bedarf stets neuer Aneignung. Der Vorwurf, daß dieses Verständnis verloren gegangen sei, trifft nicht nur säkular-verflachende Auffassungen christlicher Glaubenssätze, sondern auch fachtheologische, die von extrinsezistischen Auffassungen von Offenbarung und Gnade bestimmt sind. Gemeinsame Symbola fidei, die auch Ungebildeten zugänglich sein sollen und nicht ständiger Umformung ausgesetzt sind, haben eine notwendige Funktion, können aber zu Verfestigungen führen, die ihren ursprünglichen Sinn verdecken. Als Beispiel für ein Mißverständnis auf hohem Niveau sei eine Dissertation genannt, die an ein deutungsbedürftiges Wort Kants aus dem Opus postumum anknüpft, nämlich Gerhard Schwarz: Est deus in nobis. Die Identität von Gott und reiner praktischer Vernunft in Immanuel Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹. Das Titelzitat stammt aus OP; AA 22,130. Der unmittelbare Kontext lautet bei Kant (OP; AA 22,129 f.): »Das Subject des categorischen Imperativs in mir ist ein Gegenstand dem Gehorsam geleistet zu werden verdient: ein Gegenstand der Anbetung (adoration) Dieses ist ein identischer Satz Die Eigenschaft eines moralischen Wesens das über die Natur des Menschen categorisch gebieten kann ist die Gottlichkeit desselben Seine Gesetze müssen gleich als göttliche Gebote befolgt werden. – Ob Religion ohne Voraussetzung des Daseyns Gottes möglich ist. est Deus in nobis.« Wer Kants Wort »est deus in nobis« zitiert, muß den Kontext bei Kant bedenken und die Tatsache, daß Kant explizit und pointiert (wie wenige andere) die Transzendenz Gottes betont, zum Beispiel RGV BA IXf. = AA 6,6: »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« Zu beachten wäre weiterhin, daß Augustinus durch die Einsicht in die Transzendenz Gottes nicht zur Bestreitung seiner Immanenz geführt wird (vgl. z. B. an. quant. 77): »quo nihil sit secretius, nihil praesentius, qui difficile invenitur, ubi sit, difficilius, ubi non sit«. 21

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alle zum menschlichen Sein und erweisen dieses Sein als vielfältig auszulegende Wirklichkeit. 22

1.

Selbstsein und Freiheit als grundlegende Vorbedingungen der Gnadenlehre

Bevor Kant die Frage bedacht hat, ob und inwiefern Menschen der Gnade bedürftig seien, hat er um die Freiheit des Willens gerungen. 23 Da auch für Augustinus anfangs die Frage nach der Willensfreiheit im Vordergrund stand, ist es angebracht, ihn vor allem als ›doctor caritatis‹ zu verstehen, nicht in einseitiger, die Freiheitslehre verdeckender Auslegung als ›doctor gratiae‹. 24 Nach dem ersten Buch von Augustins De libero arbitrio ist der freie Wille ›allein durch sich selbst‹ fähig, das Gut des guten Willens hervorzubringen (»sola […] voluntas per se ipsam«): Der gute Wille sei ein so großes Gut, das nur gewollt werden müsse, um besessen zu werden. 25 Gerecht werde der Wille durch die Befolgung eines formalen Moralprinzips, das uns auffordert, so zu handeln, daß alles möglichst vollkommen geordnet sei (lib. arb.,15): »iustum est, ut omnia sint ordinatissima«. 26 Als Folge gerechten Handelns nennt Man kann mit Kant von der ›metaphysischen Naturanlage der menschlichen Vernunft‹ sprechen (KrV B 20–22). Kausalität der Natur wäre eine nichtursprüngliche Kausalität, bei der die Ursache stets wieder verursacht ist; Kausalität aus Freiheit eine ursprüngliche Kausalität, bei der die Ursache für das Verursachte verantwortlich ist; Kausalität aus Gnade eine ursprüngliche Kausalität, die sich zudem auf freie Wesen richtet, die wegen ihrer Endlichkeit der Hilfe bedürftig sind. 23 Das geschieht im Ausgang vom ›dritten Widerstreit‹ der ›Antinomie der reinen Vernunft‹ ; bes. KrV 472–479; 490–504; 566–586; dazu vgl. Maximilian Forschner: Zur Antinomie der dynamischen Ideen, bes. 298–307. 24 Wegen der für die spätere Gnadenlehre prägenden Kraft des Werks Augustins werden seine Ansätze, die nicht zur Leugnung der Freiheit führten, im folgenden sozusagen als Hintergrundfolie ins Spiel gebracht (dazu vgl. ASS). 25 Vgl. lib. arb. 1,26; es heißt dort von der ›bona voluntas‹ weiter: »sit tam magnum bonum, velle solum opus est, ut habeatur«. Im ersten Buch von De libero arbitrio sieht er das Vermögen des Willens bis zur Autarkie gesteigert, welche Behauptung man Kant nicht anlasten kann (lib. arb. 1,25): »quid ergo causae est cur dubitandum putemus, etiamsi numquam antea sapientes fuimus, voluntate nos tamen laudabilem et beatam vitam, voluntate turpem ac miseram mereri ac degere?« Immerhin ist zu beachten, daß Augustinus in den Retractationes auf diese Stelle kritisch – unter Hinweis auf den Gebrauch solcher Stellen durch die Pelagianer – Bezug nimmt (retr. 1,9,3) 26 Augustinus betont im ersten Buch von De libero arbitrio allerdings auch schon die 22

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Augustinus den bestens geordneten Menschen (›homo ordinatissimus‹), der rechtschaffen und in Würde lebt (Ziel ist: »recte honesteque vivere«). 27 Über diesen Zustand hinaus sieht er zunächst nichts Besseres (»melius nihil«); er erklärt den guten Willen vorderhand sogar zum höchsten vollendeten Gut, sofern er im ersten Überschwang meint, daß wir kraft unseres Willens nicht nur ein lobenswertes, sondern auch ein glückseliges Leben führen könnten, in dem wir unsere höchsten Ziele autark erreicht hätten. 28 Augustinus hat am Ende der Ausarbeitung von De libero arbitrio aber gesehen, daß die hochfliegenden Hoffnungen nicht allein kraft menschlicher Willensstärke zu verwirklichen sind, und die Schuld dafür vorerst der Sünde Adams angelastet, also einem ›peccatum originarium‹, womit er einen Weg einschlägt, den analog schon Platon und später auch Kant verfolgt haben. 29 Platon hatte als Motiv für die Wahl dieser Lösung die Absicht benannt, Gott als guten Schöpfer der Menschenwelt von Schuld für das offenkundige Schlechte und Böse in der Welt freizuhalten, so daß zu gelten hätte (Politeia 617c): je@ ⁄nafflto@‡ a§tffla loumffnou. Wer alles Gute nur Gott, den Menschen aber nur das Tun des Vorläufigkeit (›interim‹) seiner Aussagen zum Rang des guten Willens (lib. arb. 1,27): »interim melius nihil habet«. 27 Die Unzulänglichkeit dieser Lösung tritt schon im ersten Buch hervor: z. B. darin, daß einerseits die Tötung eines Vergewaltigers für erlaubt gilt, wenn auch nicht in einem ernsteren und geheimeren Sinn. Mit unserem Vermögen des »recte honesteque vivere« ist es also unter den konkreten Umständen des menschlichen Lebens nicht weit her. 28 Diese Unterscheidung entspricht Kants Entfaltung der »Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut« mit der Unterscheidung von ›oberstem‹ und ›höchstem vollendetem Gut‹ ; KpV A 198 f. Kant spricht Menschen keine Autarkie (Selbstgenugsamkeit) zu, verlangt aber Autokratie (FM A 106 = AA 20,295): »Die Freyheit, von welcher der Anfang muß gemacht werden, weil wir von diesem Übersinnlichen der Weltwesen allein die Gesetze, unter dem Namen der moralischen, a priori, mithin dogmatisch, aber nur in praktischer Absicht, nach welcher der Endzweck allein möglich ist, erkennen, nach denen also die Autonomie der reinen praktischen Vernunft zugleich als Autokratie, d. i. als Vermögen angenommen wird, diesen, was die formale Bedingung desselben, die Sittlichkeit, betrifft, unter allen Hindernissen, welche die Einflüsse der Natur auf uns, als Sinnenwesen, verüben mögen, doch als zugleich intelligible Wesen, noch hier im Erdenleben zu erreichen, d. i. der Glaube an die Tugend, als das Prinzip in uns, zum höchsten Gut zu gelangen.« 29 Kant spricht vom ›peccatum originarium‹ als dem ›formalen Grund der bösen Tat‹ ; vgl. RGV B 25 = AA 6,31. Dazu im vorliegenden Band die Beiträge von Jakub Sirovátka und Maximilian Forschner; vgl. Norbert Fischer: Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen Zurechnung in der praktischen Philosophie Kants.

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Schlechten und Bösen zuspricht, spricht dogmatisch überformt, verfehlt indessen Gottes Liebe und die Aufgabe des Menschen. 30 Ebenso verfehlt ist das unbedachte Gerede der Theologen, die Gott ›finstere Seiten‹ zusprechen. Zu erwägen bleibt ein bisher wenig beachteter, in eine andere Richtung führender Ansatz, den Augustinus in den Retractationes am Ende des Rückblicks auf De libero arbitrio vorgelegt hat. Daß wir von Gott nur Bestes denken dürfen, bleibt unbestritten, da Gott sonst nicht Gott wäre. Wer nicht an die Güte Gottes glaubt, vertritt kein anderes Gottesbild, sondern den Atheismus, der sich insofern als echte Möglichkeit und Gefahr der Deutung menschlichen Lebens erweist. In den Retractationes (wie schon in De libero arbitrio) nennt Augustinus Zweifel an Gottes Allmacht und Gerechtigkeit irrsinnig, obwohl unsere miserable Situation sie wecken können. 31 Aus der Kalamität, zu der allzu optimistische Aussagen in De libero arbitrio geführt hatten, rettet Augustinus sich in den Retractationes mit der Erwägung, daß der Schöpfer selbst dann zu loben sei, wenn Unwissenheit und Schwäche zur ursprünglichen Menschennatur gehörten. 32 Solches Lob führt sogar mißliebige Einschränkungen unserer Kräfte auf Gottes Weisheit zurück. Gnädig zeigt sich Gott nach der Hl. Schrift ursprünglich durch den allgemeinen Heilswillen, der zwar auch im Schöpfungsmythos von Platons Timaios vorausgesetzt ist, 33 in Augustins neutestamentlich inspirierter Exegese der alttestamentlichen Genesis aber verstärkt hervortritt. Schon im Alten Testament, das den Menschen als ›Bild und Gleichnis Gottes‹ bezeichnet, von dem Gott am Ende sagt, es sei sehr gut (Gen 1,26–31), kommen Liebe und Güte Gottes zum Ausdruck. Ihre Hauptschwäche ist, daß sie der Güte Gottes nicht gerecht werden, sofern Gott hier gleichsam eifersüchtig darüber wacht, daß er allein alles Gute bewirkt. Solch einem Gott kann niemand mit Dank und Liebe begegnen, zumal alles Leiden, das es in der Welt allzu bedrückend gibt, auf ihn zurückfällt: die Ausübung der Kausalität der Geschöpfe, die keine Chance haben, Gutes hervorzubringen, ginge folglich ganz auf die Rechnung Gottes. 31 Vgl. lib. arb. 3,51; retr. 1,9,5: »de omnipotentia dei et iustitia dubitare dementis est«. 32 Vgl. retr. 1.9,6: »quamvis ignorantia et difficultas etiamsi essent hominis primordia naturalia, nec sic culpandus sed laudandus deus esset.« Vgl. die unten zitierte Passage zur unerforschlichen Weisheit Gottes (KpV A 266). 33 Laut Platons Timaios will der Vater des Ganzen, indem er schafft, daß das Geschaffene ihm möglichst ähnlich sei: er schafft den Kosmos deshalb als ›werdenden‹ (34b: je@ ¥smeno@) und als ›wahrnehmbaren Gott‹ (92c: je@ a§sjht@). Vgl. dazu Norbert Fischer: Die Ursprungsphilosophie in Platons ›Timaios‹. 30

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Obwohl Kant sich zunächst weigert, »pathologische Liebe« zu Gott als Forderung oder gar nur als Möglichkeit zu akzeptieren, 34 da Gott kein Gegenstand der Sinne sei, führt auch ihn sein Denkweg schließlich dazu, von der Liebe Gottes zu den Menschen zu sprechen, deren wir durch den Besitz der Vernunft versichert seien; durch die Liebe Gottes sieht er für uns den Zugang zu einer auch affektiven Liebe zu Gott gebahnt, den wir mit Vernunft beschreiten können. 35 Geschöpfe, die nicht nur Naturwesen, sondern auch Freiheitswesen sind, die sich aufgefordert sehen, das oberste Gute (›guten Willen‹) hervorzubringen, und sich durch ihren Seinsvollzug der Heiligkeit Gottes nähern sollen und können, kann man von vornherein Vgl. KpV A 148: »Hiemit stimmt aber die Möglichkeit eines solchen Gebots als: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst ganz wohl zusammen. Denn es fordert doch als Gebot Achtung für ein Gesetz, das Liebe befiehlt, und überläßt es nicht der beliebigen Wahl, sich diese zum Princip zu machen. Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologische Liebe) ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne.« Der pathologischen Liebe entspräche eher der folgende Imperativ, der sich nach dem »Princip der eigenen Glückseligkeit« richtet (KpV A 147 Fn): »Liebe dich selbst über alles, Gott aber und deinen Nächsten um dein selbst willen.« Aus dieser Kritik der pathologischen Liebe resultiert zunächst der klare Vorrang der ›praktischen Liebe Gottes‹ gegenüber der ›mystischen‹ Liebe; vgl. Praktische Philosophie Powalski (AA 27,181): »Die Liebe in wahrem Verstande genommen und betrachtet, ist eine Pflicht. Diejenige aber, die man sich in Ansehung des höhern Verstandes als ein Gefühl zu erwekken sucht, ist eine mystische Liebe. Die mystische Liebe ist nicht aus Pflicht, sondern aus einer Empfindung. Sie sezt immer eine Empfindung Gottes zum voraus, daß er ein Gegenstand unsrer Empfindungen und Gefühle werde. Die Liebe Gottes aber ist die Liebe aus Pflicht, wenn wir Gott gerne gefällig zu seyn suchten, auf die Art ist sie liebenswürdig in unsern Augen, und denn ist die Liebe practisch. Menschen sind nicht zufrieden, wenn man sie aus Pflicht liebet, denn die Liebe aus Empfindungen hat mehr an sich, was das ganze Herz einnimmt, und hat auch mehr Triebfedern als die Liebe aus Pflicht. Gott ist aber kein Gegenstand der Empfindung und Anschauung. Die mystische Liebe nähert sich dem Fanatismus, die practische Liebe aber gehöret zum wahren Gottes Dienste.« 35 Kant sperrt sich in folgender Stelle zwar gegen die Annahme, es sei denkerisch notwendig, Christus im Sinne der Idiomenkommunikation als Mittler anzunehmen (vgl. conf. 10,67–70; dazu als Hintergrund auch 10,6); die Notwendigkeit einer gnadenhaften Ergänzung bestreitet er nicht; ebenso wenig die Bedeutung des Beispiels als der »Darstellung des guten Princips« und der »Nachfolge für Jedermann« (vgl. RGV B 112 f. = AA 6,81 f.). Er bestreitet also zunächst den Satz (RGV B 176 f. = AA 6,120: »Man muß glauben, daß es einmal einen Menschen, der durch seine Heiligkeit und Verdienst sowohl für sich (in Ansehung seiner Pflicht) als auch für alle andre (und deren Ermangelung in Ansehung ihrer Pflicht) genug gethan, gegeben habe (wovon uns die Vernunft nichts sagt), um zu hoffen, daß wir selbst in einem guten Lebenswandel, doch nur kraft jenes Glaubens selig werden können«. 34

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begnadet nennen. Sofern wir »durch die Vernunft« der Liebe Gottes versichert sind, erfahren wir uns von Natur als Wesen, die als Empfänger von Liebe und Gnade mit Dank und Liebe antworten können. Indem uns in der Gabe, die Dank und Liebe bei uns weckt, Vernunft und Freiheit verliehen sind, fordert sie, daß unsere geschaffene freie Vernunft zunächst dem Willen des Schöpfers »mit allen Kräften der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels nachstreben« muß, um hoffen zu können, »daß die (uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe desselben zur Menschheit, sofern sie seinem Willen nach allem ihrem Vermögen nachstrebt, in Rücksicht auf die redliche Gesinnung den Mangel der That, auf welche Art es auch sei, ergänzen werde.« 36 Kant sieht die Möglichkeit, daß die Freiheit endlicher Wesen am Ende ergänzungsbedürftig sei, aber nicht als Mangel in der Liebe Gottes, sondern als deren integratives Moment. Sofern Kant die Vernunft und die Freiheit von Geschöpfen als Zeichen der Liebe Gottes auslegt, sind auch die einschränkenden Ausführungsbedingungen, unter denen sich spontane Vollzüge endlicher Freiheitswesen denken lassen, als Beiwerk der Liebe und Güte Gottes zu verstehen. Zu den Bedingungen, unter denen geschaffene Wesen, die nicht selbst Grund ihres Daseins und ihrer Seinsverfassung sind, dennoch frei sein können, zählt an erster Stelle die Autonomie des vernünftigen Willens, der nicht einem ›fremden Antrieb‹ aus Neigung oder Furcht gehorcht,37 aber ebenso wenig mit Notwendigkeit stets dem unbedingt gebietenden Vernunftgesetz folgt. 38 Die Schöpfung bliebe nämlich leblos, solange es in ihr keine Wesen mit der Möglichkeit selbst errungenen Selbstseins gibt, auf die es dem Schöpfer nach Kant vor allem angekommen ist. Denn das »Verhalten der Menschen« würde, wenn alle den Sinn des Ganzen klar überblicken könnten, »in RGV B 176 = AA 6,120. Obwohl Kant die Notwendigkeit eines Mittlers bestritten hatte, gesteht er doch die Notwendigkeit göttlichen Beistands im Blick auf das höchste Ziel. Die Aufgabe, Kants Motive für diese Unterscheidung zu klären, hat besondere Schwierigkeiten, bei denen auch der allgemeine Heilswillen Gottes zu bedenken ist, der nicht von historisch Kontingentem abhängig sein darf und auf alle Geschöpfe zielen muß. 37 Z. B. KpV A 58 f.; vgl. dazu auch GMS BA 94 = AA 4,444. 38 Die hier gemeinte Freiheit muß also in dreifachem Sinn gedacht werden: als Freiheit von der Naturkausalität (die also als Folie hinter der Freiheit endlicher Wesen steht), als Freiheit für das Sittengesetz (das also keine von außen aufgedrungene Wirklichkeit ist) und als Freiheit zwischen gut und böse (als Freiheit der Wahl unter den Bedingungen des inneren Streits, der Versuchung). 36

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einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde« (KpV A 265). Selbstsein endlicher Freiheitswesen ist also nur aus einer Situation »des Streits« heraus möglich, »den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch allmählig moralische Stärke der Seele zu erwerben ist« (KpV A 264 f.). Bei der Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit eigentlichen Selbstseins endlicher Freiheitswesen sieht Kant, daß zu ihnen Versuchung und innerer Streit gehört, die Augustinus ›tentatio‹ genannt hatte (conf. 10, 39–64), die notwendig mit dem Mangel verbunden sind, daß wir nicht wissen, wie wir das gesollte Ideal ins Werk setzen können, zugleich mit dem Unvermögen, es unverzüglich und im geforderten Sinne zu verwirklichen. Eben diese von Kant genannten Bedingungen für die Möglichkeit des höchsten Guts bei endlichen Wesen, nämlich Nichtwissen und Unvermögen, hatte Augustinus als ›ignorantia‹ und ›difficultas‹ bezeichnet. 39 Könnten endliche Wesen das vollendete Gut nicht nur befördern (was freie endliche Wesen nach Kant wirklich können), sondern es aus Freiheit auch verwirklichen (wozu endliche Wesen nach Kant nicht fähig sind), so würden sie diese Möglichkeit, da sie alle glückselig sein wollen, von Natur aus notwendiger Weise wählen. Damit aber würde das Gut des guten Willens verfehlt, sofern dieses Gut nur aus Güte (›gratis‹) erstrebt werden kann, ohne auf Lohn zu schielen. Ebenso wäre die Grundlage des höchsten Gutes verfehlt, das den guten Willen voraussetzt. 40 So versteht sich, daß Kant am Ende der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft Gott sogar seinen Dank für die faktischen Einschränkungen unserer Freiheit ausspricht, die unsere Glücksuche empfindlich stören und bei endlichen Freiheitswesen – wie noch zu zeigen

Bei Augustinus führen ›ignorantia‹ und ›difficultas‹ (z. B. lib. arb. 3,52–70; aber auch retr. 1,9,6) zu ›dolor‹ und ›labor‹ (z. B. conf. 10,39), bei Kant führen sie zu ›Arbeit und Mühseligkeiten‹ ; vgl.; IaG A 393 f. = AA 8,21 f. 40 Das Ideal des ›gratis colere‹ erwähnt Augustinus häufig (z. B. conf. 8,10; 10,32: »absit, domine, absit a corde servi tui, qui confitetur tibi, absit, ut, quocumque gaudio gaudeam, beatum me putem. est enim gaudium, quod non datur impiis, sed eis, qui te gratis colunt, quorum gaudium tu ipse es«; zu ›gratis diligere‹ vgl. z. B. civ. 1,9. Stellen zu ›befördern‹ und ›verwirklichen‹ ; vgl. dazu auch Reiner Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, z. B. 88. 39

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sein wird – das Angewiesensein auf göttliche Gnade nach sich ziehen. Kant erklärt (KpV A 266): »Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ.«

Das Ziel eigentlichen Selbstseins setzt bei endlichen Wesen die Annahme voraus, daß ihre Mühen und Anstrengungen nicht sinnlos sind, daß nicht bloß gegebene (über)natürliche Kräfte oder Vollzüge wirken, die wie im Marionettenspiel von einer fremden Freiheit gesteuert wären. Solche Fremdsteuerung führt zudem zur Würdelosigkeit der Vollzüge: beim Marionettenspieler, weil er danach zu trachten schiene, seine Allmacht zu beweisen; bei den Marionetten, weil sie ihren Freuden und ihren Leiden trotz aller Mühen – wie Sisyphos – hilflos ausgesetzt wären.

2.

Zu Hauptansatzpunkten für eine Gnadenlehre im Rahmen der Philosophie Kants

Wer die Möglichkeit von Gnade verstehen will, muß deren Ursprung im Willen Gottes suchen, der Geschöpfen aus der Fülle seiner Güte Sein verleiht, der sie in Liebe auf sich hin schafft, auf Göttlichkeit hin, also trotz seiner unendlichen Selbstgenugsamkeit nicht allein im Sein bleibt. 41 Aus der reinen Liebe Gottes folgt, daß er, obwohl er an sich selbstgenugsam und ohne Sorge ist, doch Sorge um uns trägt, wie Augustinus sagt (conf. 11,3): »qui securus curam nostri geris«. Diese Deutung der Liebe Gottes, die Augustinus auch zum Bedenken der Trinitätslehre angeregt hat, findet sich noch in Kants Ansätzen zur Christologie und zur moralischen Anthropologie. Unsere Bereitschaft als endlicher Freiheitswesen, uns der Gnade zu öffnen, folgt nach Kant aus der Tatsache, daß wir das göttliche Ideal zwar kraft eigener Einsicht und Entscheidung erstreben sollen, aber nicht autark oder autokratisch verwirklichen können, wie die Stoiker meinten. 42 Zwar stimmt Kant 41 Vgl. conf. 13,5. Dieser Gedanke läuft auf die Vorstellung der Schöpfung als einer ›creatio de nihilo‹ hinaus, nach der die Welt etwas Anderes sein kann als Gott, also trotz Gottes ›Unendlichkeit‹ etwas Anderes ist als Gott. 42 Es soll nicht bestritten werden, daß auch die Stoiker dieses Ziel nicht ohne Selbst-

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den Zielsetzungen der Stoiker weithin zu, bestreitet aber, daß sie mit ihrer Morallehre das Ideal so rein und unnachsichtlich wie die christliche im Sinne gehabt hätten. Entscheidende Überlegungen, die Kant den Weg zur ›christlichen Moral‹ und zur prinzipiellen Zustimmung zur Gnadenlehre gebahnt haben, enthält der folgende Text, der in einer Fußnote aber fast versteckt ist und nur selten beachtet wird. Kant spricht dort zur philosophischen Grundlegung der Möglichkeit einer Gnadenlehre, ohne jedoch deren Inhalt und Umfang im einzelnen zu entfalten (KpV A 229 f. Fn): »Man hält gemeiniglich dafür, die christliche Vorschrift der Sitten habe in Ansehung ihrer Reinigkeit vor dem moralischen Begriffe der Stoiker nichts voraus; allein der Unterschied beider ist doch sehr sichtbar. Das stoische System machte das Bewußtsein der Seelenstärke zum Angel, um den sich alle sittliche Gesinnungen wenden sollten, und ob die Anhänger desselben zwar von Pflichten redeten, auch sie ganz wohl bestimmten, so setzten sie doch die Triebfeder und den eigentlichen Bestimmungsgrund des Willens in einer Erhebung der Denkungsart über die niedrige und nur durch Seelenschwäche machthabende Triebfedern der Sinne. Tugend war also bei ihnen ein gewisser Heroism des über die thierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen, der ihm selbst genug ist, andern zwar Pflichten vorträgt, selbst aber über sie erhaben und keiner Versuchung zu Übertretung des sittlichen Gesetzes unterworfen ist. Dieses alles aber konnten sie nicht thun, wenn sie sich dieses Gesetz in der Reinigkeit und Strenge, als es die Vorschrift des Evangelii thut, vorgestellt hätten. Wenn ich unter einer Idee eine Vollkommenheit verstehe, der nichts in der Erfahrung adäquat gegeben werden kann, so sind die moralischen Ideen darum nichts Überschwengliches, d. i. dergleichen, wovon wir auch nicht einmal den Begriff hinreichend bestimmen könnten, oder von dem es ungewiß ist, ob ihm überall ein Gegenstand correspondire, wie die Ideen der speculativen Vernunft, sondern dienen als Urbilder der praktischen Vollkommenheit zur unentbehrlichen Richtschnur des sittlichen Verhaltens und zugleich zum Maßstabe der Vergleichung. Wenn ich nun die christliche Moral von ihrer philosophischen Seite betrachte, so würde sie, mit den Ideen der griechischen Schulen verglichen, so erscheinen: Die Ideen der Cyniker, der Epikureer, der Stoiker und der Christen sind: die Natureinfalt, die Klugheit, die Weisheit und die Heiligkeit. In Ansehung des Weges, dazu zu gelangen, unterschieden sich die griechischen Philosophen so von einander, daß die Cyniker dazu den gemeinen Menschenverstand, die andern nur den Weg der Wissenschaft, beide also doch bloßen Gebrauch der natürlichen Kräfte dazu hinreichend fanden. Die christliche Moral, weil sie ihre Vorschrift (wie es bescheidung und Demut verfolgt haben; vgl. z. B. Mark Aurel: Selbstbetrachtungen, z. B. V,9.

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auch sein muß) so rein und unnachsichtlich einrichtet, benimmt dem Menschen das Zutrauen, wenigstens hier im Leben, ihr völlig adäquat zu sein, richtet es aber doch auch dadurch wiederum auf, daß, wenn wir so gut handeln, als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht.«

Grundlage seiner Beanstandung der stoischen Moral und seines Einklangs mit der christlichen ist die nüchterne Einschätzung der conditio humana, die er von ›Streit‹ gekennzeichnet sieht. Diesen Streit deutet er nicht nur als Last, sondern als zwar ambivalente, aber doch notwendige Bedingung der Erreichbarkeit des höchsten Ziels, der Heiligkeit endlicher Wesen. 43 Ein Stoiker wie Mark Aurel hingegen hält das Ideal nicht für ein nur asymptotisch erstrebbares Ziel, sondern für erreichbar, und zwar durch das Verdrängen sinnlicher Antriebe und durch die Mäßigung des Konkurrenzverhaltens gegenüber Anderen. 44 Dagegen bezweifelt Kant, daß Menschen es allein aus eigener Kraft verwirklichen können. 45 Autarke Selbstvergottung ist für ihn kein mögliches Ziel, weil der Weg endlicher Wesen zeitlich sein muß und das Ideal »nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus« erstrebt werden kann (KpV A 220), nämlich über die zunehmende Anerkennung der 43 Vgl. dazu auch RGV B 58 f. = AA 6,49 f.: »Das Gewicht dieser Frage muß ein jeder Mensch von der gemeinsten Fähigkeit, der vorher von der Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt, belehrt worden, der sich aber nicht bis zur Nachforschung des Begriffes der Freiheit, welcher allererst aus diesem Gesetze hervorgeht, versteigt, innigst fühlen; und selbst die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüth bis zur Begeisterung wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag.« 44 Mark Aurel erklärt (Selbstbetrachtungen III,4) als Ziel, »nur solche Vorstellungen zu haben, bei denen man […] ganz offen und ohne lange nachzudenken antworten könnte«, ohne daß Übles oder Beschämendes zutage träte. Also propagiert er die Erreichbarkeit des Ziels und nennt solche Personen »eine Art Priester und Diener der Götter«. Demgegenüber geht Augustinus davon aus, daß unser Leben ›tentatio‹ ist und bleibt (vgl. z. B. den Gesamtduktus des zehnten Buches der Confessiones, bes. conf. 10,39– 66). Dieser Linie ist später auch Kant gefolgt. 45 Überdies bleibt uns die »eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld), […], selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen« (KrV B 579 Fn). Die Reinheit der Gesinnung ist nicht erkennbar, sondern kann nur geglaubt werden. Sie darf auch nicht erkennbar sein, weil sie sonst die Reinheit der Gesinnung verdürbe. Derart erhält Kants berühmter Satz, daß er »das Wissen aufheben« mußte, »um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX), nachträglich noch einen tiefgründigeren Sinn, der auf die Notwendigkeit der Gottesbeziehung weist.

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»Menschheit, sowohl in [der] eigenen Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« (GMS BA 66 f. = AA 4,429). Weil zunächst unklar ist, wo die Stoiker nach Kant das Ideal inhaltlich verfehlen, sind Konjekturen nötig. Dazu könnte man das Ideal eines Menschen anführen, der fähig und willens wäre, sein Leben aus ›Liebe‹ zu Anderen (trotz bleibender Selbstliebe) zu opfern und preiszugeben. 46 Der Gedanke eines liebenden Menschen, der sein eigenes Leben für das Leben Anderer hingibt, ist das Grundmuster der ›Christologie‹, deren überhoher Anspruch alle zur Nachfolge ruft (z. B. Mt 10,38: »wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig«). Die ›reine und unnachsichtliche Vorschrift‹ der christlichen Moral ist nach Kant eine Forderung, die uns überfordert und demnach nur im Zusammenspiel von Freiheit und Gnade zu erfüllen ist. Bevor Kant das ›Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft‹ formuliert, skizziert er Situationen, in denen Betroffene abzuwägen haben, wofür sie ihr Leben aufs Spiel zu setzen bereit sind. Nicht riskieren werden sie es nach Kant wegen der Aussicht auf noch so starke Lusterlebnisse. Anders verhalte es sich bei Situationen, die das Bewußtsein des moralischen Gesetzes wecken und Bereitschaft fordern, notfalls das eigene Leben preiszugeben. Kant sagt (KpV A 54): »Fragt einen Menschen, »ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung [der] Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen.«

Wer immer eine Forderung als unbedingt gebietend anerkennt, muß sich eingestehen, daß er die Möglichkeit hat, ihr zu entsprechen; sofern sie ihn überfordert, weil sie sein Dasein in der Welt bedroht, ist er jedoch versucht, sich dieser schönen und schrecklichen Forderung zu entziehen. 47 In der Situation des ›Streits‹ mit sich selbst sind die Men›Liebe‹ wäre hier nicht als »pathologische Liebe« gedacht, sondern ist als Achtung der Menschheit der Menschen als »Zwecken an sich selbst« (seiner selbst und der Anderen), als »Personen«, im Sinne der »caritas« zu verstehen. 47 Vgl. Platon: Phaidon 85c/d, bes. die Hinweise auf kfflnduno@ dein@ (107c) und kfflnduno@ kal@ (114d). 46

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schen zwar in ihrer Freiheit gefordert, sind sie aber zugleich auch grundsätzlich offen und dankbar für die Hilfe zum Guten, für Gnade. Die uns endliche Menschen in unserer Glücksbedürftigkeit überfordernde Forderung ist die praktische Idee der Heiligkeit; sie ist das Urbild, dem »sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht« (KpV A 58). Angesichts solcher überfordernder Forderungen erklärt Kant, daß wir, »wenn wir so gut handeln, als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht« (KpV A 230 Fn). Die eine Grundbedingung zur Annahme der Gnadenlehre ist die Endlichkeit der zu begnadenden Wesen, die andere ist ihre Freiheit, ohne die alles zum kosmischen Marionettentheater würde (bei dem aber, wie bei erzwungenem Gotteslob, »das Herz […] niemals dabey gewesen« wäre). 48 Nach anfänglicher Reserve gegenüber der Gottesliebe (genitivus obiectivus) als Liebe zu Gott, kommt diese Möglichkeit als Antwort auf die ›Liebe Gottes‹ (genitivus subiectivus) neu in den Blick, indem Kant sagt, wir seien ihrer durch die Vernunft versichert (RGV B 176 = AA 6,120). Mit solchen Gedanken nähert er sich einem Grundmotiv Augustins, der sich, nachdem er an Gottes Liebe glauben konnte, zur Gegenliebe inspiriert sieht (»amore amoris tui facio istuc«). 49 Kant hat zuweilen, als bedrängte Personen ihn um Hilfe baten, zwar an deren Freiheit appelliert, ihnen aber auch Beistand zu leisten versucht und sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. 50 Er erkannte zwar die Kraft der Vorbilder und Beispiele an, sah aber auch, daß die Handlungen, die im Sinne Montaignes »nach Beispiel der Gewohnheit und nach Befehl der Obrigkeit […] nur aus der Erfahrung entlehnet« sind, sich »nicht aus der Vernunft moralisch beurtheilen« lassen (Moral Collins; AA 27,253). Jedoch hält Kant die »Dankbarkeit« für

Vgl. die schon zitierte Stelle (Reflexion 8089; AA 19,632). Vgl. auch PFG 240–244. Vgl. conf. 2,1; 11,1; dazu Norbert Fischer: Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins. 50 Als Beispiele Friedrich Victor Leberecht Plessing (vgl. dessen Brief an Kant vom 3. April 1784: AA 10,374–388) und Maria von Herbert (vgl. deren Briefe an Kant: AA 11,273 f. und 484–486); dazu Alois Brandstetter: Cant läßt grüßen (mit einer geistreich fingierten Antwort von Kants ›Amanuensis‹ an Maria von Herbert). 48 49

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Handlungen, die Achtung gebieten und als Beispiel geeignet sind, 51 für eine »unmittelbare Nöthigung durchs moralische Gesetz«, also für »Pflicht«, folglich nicht bloß für eine »Klugheitsmaxime, durch Bezeugung meiner Verbindlichkeit wegen der mir widerfahrenen Wohlthätigkeit den Andern zu mehrerem Wohlthun zu bewegen«. 52 Hierbei ist zu beachten, daß er solche Dankbarkeit sogar »als heilige Pflicht« begreift, »als eine solche, deren Verletzung die moralische Triebfeder zum Wohlthun in dem Grundsatze selbst vernichten kann« (MST A 127 = AA 6,455). Denn nach Kant ist »derjenige moralische Gegenstand« heilig, »in Ansehung dessen die Verbindlichkeit durch keinen ihr gemäßen Act völlig getilgt werden kann« (MST A 127 f. = AA 6,455). Unter Voraussetzung dieser Einsicht kann die Geschichte auch im engen Rahmen der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« den Charakter einer gnadenhaften Heilsgeschichte erlangen, auch wenn Kant für diese Auslegung nur zaghafte und unklare Ansätze vorgelegt hat. Zunächst ist festzuhalten, daß seine Zurückhaltung zwar dazu dient, dem Wunderglauben und dem Mystizismus den Boden zu entziehen, aber auch dazu, nicht die Liebe Gottes zu verfehlen, nicht die moralische Basis der Religion, nicht das »Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit«. 53 Im Ausgang von der »Sünde«, von der »Bösartigkeit in der menschlichen Natur«, die Strafe fordert, sieht Kant »GnaDieser Zusatz findet sich bei Kant nicht ausdrücklich; er ist aber notwendig, sofern ein Übeltäter durchaus auch seinem verbrecherischen Kompagnon dankbar sein kann, wobei diese Dankbarkeit aber gerade nicht Pflicht ist. 52 MST 127 = AA 6, 455: »Dankbarkeit ist Pflicht, d. i. nicht blos eine Klugheitsmaxime, durch Bezeugung meiner Verbindlichkeit wegen der mir widerfahrenen Wohlthätigkeit den Andern zu mehrerem Wohlthun zu bewegen (gratiarum actio est ad plus dandum invitatio); denn dabei bediene ich mich dieser blos als Mittel zu meinen anderweitigen Absichten; sondern sie ist unmittelbare Nöthigung durchs moralische Gesetz, d. i. Pflicht.« 53 Vgl. z. B. RGV B 225 f. = AA 6,151 f. Nach Kant ist es ein »ein widersinnischer Ausdruck, daß Menschen ein Reich Gottes stiften sollten«. Denn »Gott muß selbst der Urheber seines Reichs sein« (RGV B 227 = AA 6,152). Die Basis jeder Religion ist die Moral, sofern die Moral auf der Achtung jeder Person als Zweck an sich selbst gründet und sofern der Charakter der Person als Zweck an sich selbst auf die »göttliche Abkunft« der Person verweist; vgl. dazu RGV B 58 = AA 6,49 f.: »Das Gewicht dieser Frage muß ein jeder Mensch von der gemeinsten Fähigkeit, der vorher von der Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt, belehrt worden, der sich aber nicht bis zur Nachforschung des Begriffes der Freiheit, welcher allererst aus diesem Gesetze hervorgeht, versteigt, innigst fühlen; und selbst die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündi51

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de« als »die durch den Glauben an die ursprüngliche Anlage zum Guten in uns und die durch das Beispiel der Gott wohlgefälligen Menschheit an dem Sohne Gottes lebendig werdende Hoffnung der Entwikkelung dieses Guten« (SF A 60 = AA 7,43). Die von Kant gedachte – bzw. die von seinen Ansätzen her denkbare – Heilsgeschichte läßt sich ebenso im Sinne der katabatischen wie der anabatischen Christologie deuten, weil das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit zwar von Gott kommt, wir aber selbst »an der Entwickelung jener moralischen Anlage in uns selbst arbeiten« müssen (SF A 60 = AA 7,43), um uns der uns aufgegebenen Heiligkeit zu nähern. Sofern diese Anlage die »Göttlichkeit eines Ursprungs beweiset, der höher ist als alle Vernunft«, nennt Kant den Ursprung ihres Besitzes ausdrücklich »nicht Verdienst, sondern Gnade« (ebd.). Als Grund und Ziel dieser Heilsgeschichte denkt Kant also die durch Freiheit und Gnade ermöglichte Christuswerdung aller Menschen, in der ihnen am Ende der Weg zu einer ›heiligen Gemeinschaft‹ offensteht; er denkt auf einen geschichtlichen Weg zum Heil hin, der zu Sinn und Ziel der Schöpfung führt. Deren Vollendung wäre ein beständiges »Reich Gottes« (conf. 11,3): »regnum tecum perpetuum sanctae civitas tuae«. 54

3.

Die Notwendigkeit der Gnade für die Ermöglichung der Freiheit endlicher Wesen

Als Ziel der Schöpfung, sofern diese als von Gott gewolltes Werk verstanden wird, kann nur ein Höchstes gedacht werden – in modifiziertem Anschluß an Aristoteles, der das ›Sein‹ Gottes als höchste Tätigkeit denkt, die Höchstes (also nur sich selbst) zum Ziel hat, (Mp XII, 1074b33 ff.). Die entscheidende Abänderung dieses Gedankens, die bei genden Anlage muß auf das Gemüth bis zur Begeisterung wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag.« 54 Augustins Unterscheidung der ›sichtbaren‹ von der ›unsichtbaren‹ Kirche (z. B. bapt. 5,48; vgl. Norbert Fischer: Foris–intus, bes. 42 f.), findet sich modifiziert bei Kant (RGV B 142 = AA 6,101); zur Unterscheidung zwischen dem Ziel der Verwirklichung des ›Reiches Gottes auf Erden‹ und dem eschatologischen Reich Gottes, in dem wir unsere Vollendung finden und in dem auch Gott selbst in uns ruhen kann vgl. conf. 1,1 und 13,51 f. Bei Kant vgl. schon KpV A 234 ff.; vgl. Reflexion 6159 (AA 18,471) mit folgenden Unterscheidungen zum ›Reich Gottes‹ : »1. als Reich der Natur, 2. als Reich der Gnaden, 3. als Himmelreich«. A

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Augustinus wie bei Kant zu verfolgen ist (aber womöglich auf Platon zurückweist), 55 geschieht, sobald das Sein des Höchsten nicht mehr wie bei Aristoteles im bloßen Denken als selbstbezüglicher Tätigkeit Gottes gesehen wird. Nach Aristoteles bezieht sich das ›Denken des Denkens‹ nur auf sich selbst, weil Veränderung (und Beziehung zu Anderem) zu Schwächerem führe (1074b25 f.: e§@ ce…ron metabolffi). Nach Kant wird das Höchste (auch bei Gott) im guten Willen erreicht, der gut wird, indem er das Selbstsein von Anderem (anderen freien Personen) will; bei Gott tritt er als Schöpfungswille auf, der Anderem Platz läßt und dessen Dank weckt (vgl. noch einmal RGV B 176 = AA 6,120). Diesen Willen hat Augustinus als ›creatio de nihilo‹ ausgelegt, die aus der Fülle der Güte Gottes verstanden wird, in der Gott aus reiner Liebe (›gratis‹) schafft und will, daß Anderes sei. 56 Indem Kant die Welt als Frucht der Tätigkeit Gottes auslegt, denkt er sie wie Augustinus als Gut, auch im Glauben, daß Gott sie aus Liebe hervorgebracht habe, und erklärt, »daß ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde« (KU B 410 = AA 5,442). Ein oberstes Gut, ein Gut, das »ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden«, ist jedoch »allein ein guter Wille«, ein Wille, der in sich gut ist, nicht nur um eines äußeren Zieles willen (GMS BA 1 = AA 4,393). Damit ein Wille ›in sich gut‹ sein kann, muß er den Grund seines Gutseins ins sich selbst haben, muß er die reine Güte, die ihn als oberstes Gut auszeichnet, selbst in sich hervorgebracht haben. Eine Welt kann als Schöpfung Gottes nur dann gedacht werden, wenn sie auf das oberste Gut hin geschaffen ist, dessen Besitz dem allmächtigen Schöpfer ursprünglich zukommt. Das oberste Gut ist nach Kant jedoch nicht Macht oder Allmacht, sondern der gute Wille des Allgenugsamen, der nichts für sich will. Freie Wesen gehören zum Endzweck einer Welt, die als Schöpfung Gottes denkbar sein soll. Indem Kant von Gott solchen Willen annimmt, denkt er ihn als »lebendigen Gott« und versteht unter seinem Begriff »nicht bloß eine blindwirkende ewige Natur als die Wurzel der Vgl. die erwähnte positive Auslegung von Zeitlichkeit und Sinnlichkeit im Timaios 34b; 92c. Vgl. auch Clemens Schwaiger: Kants Apologie der Sinne. Die Erfindung der ›transzendentalen Ästhetik‹ im Kontext ihrer Zeit. 56 Vgl. conf. 13,5; vgl. Norbert Fischer: »Deum et animam scire cupio«. Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen, bes. 91 (mit Fn 48) mit Hinweisen zu Martin Heideggers Wort (»amo: volo, ut sis«), in dem er Augustins Liebesgedanken zusammenfaßt: Gott will also das Selbstsein freier Wesen, keine Marionetten. 55

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Dinge, sondern ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge« wäre (KrV B 660 f.). Als Endzweck können zwar nur freie Wesen gedacht werden; die Kraft dieser Wesen, Gutes hervorzubringen, muß jedoch begrenzt und auf Hilfe angewiesen sein, da glücksbedürftige Wesen ohne diese Einschränkung nicht zur Reinheit der Güte befähigt wären. Obwohl Kant abstrakt einräumt, daß endliche Freiheitswesen auf Gnade angewiesen sind, ist die Frage, wie gnadenhaftes Geschehen konkret vorgestellt werden kann, Thema seiner kritischen Überlegungen, mit denen er teils die Möglichkeit des guten Willens sichern will, der nicht durch unreine Versprechen des Gnadenerwerbs bestochen werden darf, teils wegen der Gefahr falscher Vorstellungen von Gott, der nicht auf die Ebene zeitlicher Wesen heruntergezogen werden darf. Im Blick auf die Absicht, die Möglichkeit des guten Willens nicht zu beschädigen, konnte Kant sich mit Recht auf die biblische Tradition stützen, die sich immer wieder auf Hiob berufen hat. Wer annähme, durch gewisse äußere Leistungen und Verhaltensweisen könnte ein Anspruch auf Gegenleistungen Gottes erworben werden, verdürbe die geforderte Reinheit des guten Willens. Wer den Sinn seines Tuns (auch im religiösen Kult) als Vorleistung verstünde, die Anerkennung und Belohnung Gottes verdiente, unterläge einem den Glauben vernichtenden Mißverständnis. Kaufmännischen Gebrauch von Mitteln zum Gnadenerwerb weist auch Augustinus klar zurück, sofern die Verehrung und Liebe Gottes ohne jeden Blick auf Gegenleistung zu geschehen hat. Wahre Verehrung und Gottesliebe vollziehen sich nur im ›gratis colere‹, im ›gratis diligere‹. Dieser Haltung entspricht Kant mit seiner Kritik am »statutarischen Glauben«, der eben nicht »zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen« gemacht werden darf (vgl. RGV B 255 = AA 6,168). Wer dem »statutarischen Glauben« folgt, macht aus dem Glauben entgegen dem äußeren Anschein »Afterdienst«, »Religionswahn«, also eine nur »vermeintliche Verehrung Gottes«, »wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade entgegen gehandelt wird« (RGV B 256 = AA 6,168). Allerdings kann man erwähnen, daß Kants Sinn für kirchlichen Kult – aus welchen Gründen auch immer – nicht besonders kultiviert war. 57 Wahrer ›Kult‹ dient dem ›gratis colere‹ (vgl. oben Fn 40), ist keine »kriechende Gunstbewerbung« (RGV B 268 Fn = AA 6,185 Fn), sondern soll ›excitatio‹ im höchsten Sinne sein (vgl. conf. 1,1 und 10,49 f.; dazu SwL LXXIV). 57

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Ebenso wichtig wie die Absicht, die Reinheit des guten Willens vor selbstsüchtigen Intentionen zu schützen, ist das Ansinnen, Gott nicht in einer unangemessenen Weise zu verzeitlichen. 58 Sofern Gott der Zeitbedingung nicht unterliegt, geht er nicht in der Zeit auf Zeitereignisse ein, in wankelmütiger Reaktion oder in Erhörung mehr oder weniger heftig vorgetragener Bitten. Also sagt Kant: »Gott ist und bleibet […] immer derselbe, gleich gnädig und gleich gerecht.« 59 Kant setzt zwar auf den Glauben, daß Gott gnädig ist und wir ohne seine Gnade verloren wären, verknüpft die Zuteilung der Gnade aber einerseits mit der Gerechtigkeit Gottes, denkt Gott also nicht als absolutistischen Willkürherrscher, der nach Laune großzügig oder hartherzig wäre. Andererseits sieht er die Gnadenzuteilung an den zeitlichen Vollzug menschlichen Seins und die Bemühung geknüpft, der Gnade würdig zu werden, wobei die Würdigkeit nicht dem Urteil von Menschen unterliegt, sondern nur dem Urteil Gottes als des Herzenskündigers. Gott wird nicht etwa gnädig, weil er sich durch Lobreden, äußere Buße und Schmeicheleien bestechen ließe. 60 Also wäre der Mensch Ursache der veränderten Relation: Gott werde einem Menschen gnädig, sobald dieser sich gebessert habe. Mit Worten, die der Aristoteliker Thomas von Aquin gesagt haben könnte (Reflexion 6036; AA 18,429): »In Gott ist

58 Es ist eine angemessene und eine unangemessene Beziehung Gottes zur Zeit zu unterscheiden: Gott hat eine Beziehung, indem er die Schöpfung will, indem er sie liebt und Geschöpfen Vernunft und Freiheit verleiht, indem er sie auf das ihm wohlgefällige Ideal hin schafft. Als er selbst bleibt er indessen zeitenthoben und ›ewig‹. 59 So im schon zitierten Wort aus PR 82 (AA 28.2,2,1039). Zu beachten sind auch die kritisch gegen die Gnadenlehre angeführten Argumente, vor allem gegen die Versöhnung des Menschen mit Gott durch das Opfer Christi; vgl. RGV B 296 f. = AA 6,191: »Der Begriff eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften, Vermögen und selbst zu unserer nicht völlig gereinigten, wenigstens schwachen Gesinnung, aller unserer Pflicht ein Genüge zu tun, ist transscendent und eine bloße Idee, von deren Realität uns keine Erfahrung versichern kann.« Kant verwirft auch den Gedanken des stellvertretenden Sühnetodes Jesu. 60 Vgl. MST A 175 = AA 6,484: »Von der größten Wichtigkeit aber in der Erziehung ist es, den moralischen Katechism nicht mit dem Religionskatechism vermischt vorzutragen (zu amalgamiren), noch weniger ihn auf den letzteren folgen zu lassen; sondern jederzeit den ersteren und zwar mit dem größten Fleiße und Ausführlichkeit zur klärsten Einsicht zu bringen. Denn ohne dieses wird nachher aus der Religion nichts als Heuchelei, sich aus Furcht zu Pflichten zu bekennen und eine Theilnahme an derselben, die nicht im Herzen ist, zu lügen.«

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immer dasselbe princip und actus.« 61 Der Ewige bezieht sich aber dennoch auf die sich zeitlich vollziehende Freiheit des Menschen. Die Gnade Gottes, die dem ihm wohlgefälligen Menschen zuteil wird, äußert sich nicht in einem unmittelbar dem Besserwerden folgenden Wohlergehen – und darf auch nicht aus ihm folgen, da diese Annahme auf die Deutung der Welt als kosmischen Marionettentheaters hinausliefe. Das Leiden des Gerechten, obwohl dieses Unrecht in einer Welt, die als Schöpfung Gottes geglaubt wird, der größte denkbare Skandal ist und dem Glauben den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht, gehört derart notwendig zur Möglichkeit des Sinns der Schöpfung hinzu. 62 Sie tritt nicht auf als mythische Erzählung, die zur Sprache bringt, ›was niemals ist und immer war‹, sondern als geschichtliches Ereignis, das als solches auf das Absolute weist, und zwar überall, wo sich solches Leiden ereignet, und umso mehr, je größer seine Ungerechtigkeit ist. Kant kann also vom Leiden Jesu als ›Beispiel‹ für einen jeden Menschen sprechen, sofern jeder Mensch auf Christus als das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit hin geschaffen ist. 63 An Moses Mendelssohn schrieb Kant (AA 10,69; 6. April 1766): »Zwar dencke ich vieles mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit was ich niemals den Muth haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen was ich nicht dencke.«

Vgl. Norbert Fischer (Hg.): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte; darin: Aloysius Winter: Kann man Kants Philosophie ›christlich‹ nennen?, bes. 49, mit Hinweisen auf Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, 270: »Es ist klar: Diese [facere quod in se est] oder die augustinische Gnadenlehre oder eine Kombination beider (sie fließen bei Kant häufig ineinander), kurzum, die katholische, die dezidiert nicht-reformatorische Gnadenlehre ist es, die bei diesen Umdeutungen als Ergebnis herauskommt und die auch zweifellos in der eigentlichen Linie des Kantischen Unternehmens, oder sagen wir vorsichtiger, jedenfalls der Kantischen Religionsphilosophie, liegt.« Weiterhin: Albert Raffelt: Kant als Philosoph des Protestantismus – oder des Katholizismus?, bes. 155 (vgl. dort auch Fn 49): »Man mag sich daran erinnern, daß auch Karl Barth im Kern der Kantischen Religionsphilosophie eine katholische Gnadenlehre findet: ›Diese Wege müssen alle nach Rom führen!‹« 62 Vgl. RGV B 99 f. = AA 6,74 f.; nach Platon (Politeia 361e/362a) muß der Gerechte leiden; mit Parallelen zu Jes 42,1–9; 49,1–7; 50,4–11; stets geht es um realgeschichtliche Paradigmata für wiederkehrendes Geschehen. 63 Vgl. z. B. Metaphysik der Sitten Vigilantius (aus den Jahren 1793/94; AA 27,610): dort geht es um »eine der Idee adäquate Person oder ein Ideal […], so wie uns z. E. Christus als Ideal dargestellt wird.« 61

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Anders als Luther, der den ›einfachen Sinn‹ der Schrift suchte, 64 sucht Kant, wie einstmals Augustinus, einen ›mehrfachen Schriftsinn‹. Er sagt (RGV B 115 f. = AA 6,83 f.): »Übrigens kann eine Bemühung wie die gegenwärtige, in der Schrift denjenigen Sinn zu suchen, der mit dem Heiligsten, was die Vernunft lehrt, in Harmonie steht, nicht allein für erlaubt, sie muß vielmehr für Pflicht gehalten werden, und man kann sich dabei desjenigen erinnern, was der weise Lehrer seinen Jüngern von jemanden sagte, der seinen besondern Weg ging, wobei er am Ende doch auf eben dasselbe Ziel hinaus kommen mußte: ›Wehret ihm nicht; denn wer nicht wider uns ist, der ist für uns‹.«

Indem Kant sich im Blick auf das Streben nach Heiligkeit explizit der ›christlichen Moral‹ anschließt, die zum unveräußerlichen Kern der Predigt Jesu gehört, und sich auf diesem Wege auch der Gnadenlehre öffnet, versteht er die »Glaubenslehren« als »Gnadenbezeigungen«, die er in vernünftiger Auslegung »gern annimmt«, die ihm also »nicht aufgedrungen« worden sind.

Vgl. Martin Luther: Tischreden (WA 5,45): »Weil ich jung war, da war ich gelertt, […], da gieng ich mitt allegoriis, tropologiis, analogiis umb […] nuhn hab ichs faren lassen, und diß ist meine letzte und beste kunst: Tradere scripturam simplici sensu, denn literalis sensus, der thuts, da ist leben, trost, krafft, lehr und kunst inen. Das ander ist narren werck, wie wol es hoch gleist«. Der Rang des mehrfachen Schriftsinns für wissenschaftliche Schriftexegese ist indessen wieder allgemein anerkannt. Luther war es wohl um geistliche Schriftlesung gegangen.

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Natur, Freiheit und Gnade bei Jacques Derrida Florian Bruckmann (Eichstätt / Bamberg)

Am Ende des Buches zu ›Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant‹, nachdem vieles, sehr vieles gesagt und geschrieben ist und das Gesagte und Geschriebene erst einmal gelesen, verstanden und meditiert, in seinen Folgen abgeschätzt und mit weiteren Gedankengängen in Verbindung gebracht werden muß, werden im folgenden einige Aussagen von Jacques Derrida näher betrachtet bzw. neu in den Blick genommen, auch um das hier Gesagte und Geschriebene besser zu verstehen. Dieser Perspektivwechsel verspricht, daß die untersuchten Themen – Natur, Freiheit, Gnade – und auch die Hauptprotagonisten – Augustinus und Kant – noch einmal neu und (wie bei Derrida nicht anders zu erwarten) ungewohnt und etwas anders in den Blick genommen werden können, so daß sich vielleicht die eine oder andere neue Erkenntnis ergibt bzw. einstellt oder jedenfalls das bisher Erarbeitete in seiner Eigenart leichter einzuschätzen und zu bewerten sein wird.

1.

Natur

1.1 Natur als Wesen / Substanz: Derridas Anti-metaphysik Jacques Derrida (1930–2004) sieht sich vor ganz anderen Herausforderungen als Augustinus und Kant. Diese können im folgenden nicht ausführlich dargelegt werden und trotzdem soll eine kurze ideengeschichtliche Skizze das Problemfeld erahnen lassen, auf dem sich Derrida befindet und in dem er sich in der ihm eigenen Weise verortet. Derrida übernimmt von Heidegger 1 dessen von Nietzsche inspirierte Abneigung gegen die überkommene Metaphysik und beginnt 1

Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, 123. A

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sein philosophisches Schaffen im Bewußtsein, daß sich das Abendland an einer Epochenschwelle befindet. Diese hat nach der Meinung vieler auch Auswirkungen auf das bisherige Denken, das verändert werden muß, weil es sich selber in zu viele Sackgassen befördert hat. Während Nietzsche den Tod Gottes diagnostiziert – niemand nimmt ihn noch ernst, so daß er aus dem Alltag verschwindet –, 2 klagt Heidegger das Seinsvergessen des Denkens an. 3 Diese beiden Defiziterscheinungen korrespondieren mit den politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen im Zusammenhang mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die das Lebensgefühl der Menschen ebenso umgreifend verändern wie die von Freud diagnostizierten drei Kränkungen der Menschheit: die Kopernikanische Wende – der Mensch steht mit der Erde nicht mehr im Mittelpunkt des Kosmos, sondern ist eine Randerscheinung; die darwinistische Evolutionstheorie – der Mensch ist nicht die von Gott direkt geschaffene Krone der Schöpfung, sondern das vorläufige Endprodukt einer langen, zuweilen zufälligen, planlosen und blinden Entwicklung; und schließlich die Psychoanalyse – der Mensch ist nicht Herr seiner selbst, sondern wird vom Unterbewußten her gesteuert und ist eher ein Trieb- als ein Vernunftwesen. 4 Vor diesem Hintergrund haben sich viele Philosophen des letzten Jahrhunderts (wie der Anfang dieses Textes) in Endzeitstimmung geübt und waren Zeit ihres Lebens auf der Suche nach anderen, nach neuen Möglichkeiten des Denkens, Sprechens und Begründens. Dazu gehörte auch Jacques Derrida. Er betritt 1967 mit drei Werken die philosophische Bühne 5 und wird der in diesen Werken vorgelegten sogenannten Dekonstruktion Zeit seines Lebens irgendwie treu bleiben. Die grundlegende Intuition seines Denkens der Dekonstruktion kann meines Erachtens in der Kritik des Logozentrismus gefunden werden (Grammatologie 11). Dieser ist nach Derrida zentral für das abendländische Denken und kann als die ideale Substanz einer Sache verstanden werden, die dank dieser Substanz ohne Veränderung zu jedem beliebi-

Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 125 (KSA 480–482). Martin Heidegger: Sein und Zeit, 1–27. 4 Sigmund Freud: Allgemeine Neurosenlehre (1917). 18. Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte, Studienausgabe, Bd. 1: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge, 283 f. 5 La voix et le phénomène (Die Stimme und das Phänomen), De la grammatologie (Grammatologie), L’ écriture et la différence (Die Schrift und die Differenz). 2 3

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gen Zeitpunkt in gleicher Weise wieder gedacht und erkannt werden kann. »Die absolute Idealität ist das Korrelat einer Möglichkeit endloser Wiederholungen.« 6 Dieser Idealität zeitloser Substanz entspricht nach Derrida eine Idee des Subjektes, das dieses als ewig Selbes versteht, das sich zudem durch sein Denken in absoluter Gegenwärtigkeit befindet und auch den Sinn bzw. die Wahrheit nur als gegenwärtig denken kann. 7 Das Subjekt denkt sich mit seiner ihm eigenen Stimme 8 und ist sich selber in seinem Denken gegenwärtig (Stimme 25). Derrida kennzeichnet sein Denken als »Mißtrauen gegenüber der metaphysischen Voraussetzung« (Stimme 11; vgl. 36) und sagt, daß diese Metaphysik an ihr Ende gekommen sei (Stimme 137) und man in ihr zukünftig keine reine Gegenwart mehr denken könne, sondern nur eine Gegenwart, die von der différance gekennzeichnet sei. Derrida unterbricht jede Gegenwart, indem er für das Denken aufweist, daß dieses seinen eigenen Tod vergessen hat und ihn zu überspielen versucht war. Aber nur wer Zeit denkt, wer des Subjekt zeitlich und damit der Zeit unterworfen denkt, denkt es adäquat. Wer aber das Ende des Subjektes mitbedenkt, der denkt kein rein gegenwärtiges Subjekt, sondern ein Subjekt, das von einem anderen seiner selbst her durchbrochen ist. Anfang der 90er Jahr umschreibt Derrida sein Konzept der Dekonstruktion folgendermaßen (Gespenster 109): »Das dekonstruktive Denken der Spur, der Iterabilität, der prothetischen Synthese, der Supplementarität usw. führt über diese Opposition, führt über die Ontologie hinaus, die sie voraussetzt. Es schreibt die Möglichkeit des Zurückverwiesenseins auf den anderen oder das andere ein, also die Möglichkeit der radikalen Alterität und Heterogenität, der différance, der Technizität und der Idealität im Ereignis der Präsenz selbst, in der Präsenz der Gegenwart, die es a priori von sich selbst trennt, um sie möglich zu machen [also unmöglich in ihrer Identität oder in ihrer Gleichzeitigkeit mit sich selbst].«

6 Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, 102: »Der ideale Gegenstand ist der objektivste aller Gegenstände: Unabhängig vom hic et nunc der Geschehnisse und der Akte der ihn meinenden empirischen Subjektivität kann er ins Unendliche wiederholt werden und bleibt dennoch derselbe.« 7 Grammatologie 25: »Logozentrismus, der zugleich ein Phonozentrismus ist: absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns.« 8 Stimme 108: »Die Stimme ist das Bewußtsein.« Vgl. Grammatologie 19: »Das System des ›Sich-im-Sprechen-Vernehmens‹«.

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Es würde an diesem Punkt zu weit führen, Derridas Anliegen der Dekonstruktion umfassend zu beschreiben. Trotzdem ist klar geworden, daß er sich eindrücklich gegen ein Substanz-Denken wendet, das für jedes Denk-Objekt ein zeitenthobenes Wesen annimmt, 9 das ihm zugrunde liegt und die prinzipielle Bedingung der Möglichkeit seiner Wiedererkennbarkeit ist. Mit einem Wort: Wenn Natur nicht als Schöpfung, sondern als Wesen oder Substanz verstanden wird (z. B. in Redewendungen wie: die Natur des Menschen), dann unterliegt sie der Kritik von Derrida.

1.2 Natur als idealer Ursprung Natur kommt bei Derrida nicht nur im Sinne von Wesen bzw. Substanz in den Blick, sondern auch in der Opposition Natur – Kultur. In einer langen und sehr ausführlichen Auseinandersetzung mit Jean-Jacques Rousseau (Grammatologie 244–541) dekonstruiert er dessen Gegenüberstellung von Natur und Kultur und macht deutlich, daß es sich bei dem konstruierten Naturbegriff, bei der angenommenen reinen Natur, die angeblich vor der kulturellen Überformung bzw. Verfremdung bestanden haben soll, ebenfalls um eine Konstruktion und zwar um eine kulturelle Konstruktion handelt: Der reine Naturbegriff, die sogenannte unschuldige Natur, ist ein von der Kultur her definierter und idealisierter Urzustand, den es nicht gibt (Grammatologie 420; 424; 441 ff.). Derrida bezeichnet diesen Vorgang mit dem Begriff Supplementarität: Um den Ursprung von etwas zu konstruieren, fügt man der Analyse einen Begriff hinzu und inszeniert bzw. konstruiert mit dieser Begriffshinzufügung einen Ursprung, den man sonst nicht denken könnte, den es aber auch nicht gibt. In die gleiche Richtung, also die Unterscheidung von Natur und Kultur, kann uns auch das Diktum von Kant führen, daß Kunst nur schön ist, wenn sie Kunst ist und trotzdem natürlich wirkt (KU B 179 = AA 5,306): Die folgende Äußerung Derridas kann geradezu als Gegen-Ontologie gelesen werden (Gespenster 139): »Das Gespenst kennt mehrere Zeiten. Das Eigene eines Gespenstes, wenn es das gibt, besteht darin, daß man nicht weiß, ob es, wiederkehrend, von einem ehemals Lebenden oder von einem künftig Lebenden zeugt, denn der Wiedergänger kann bereits die Wiederkehr des Gespenstes eines verheißenen Lebendigen bedeuten. Unzeitigkeit, noch einmal, und Uneinssein des Gleichzeitigen.«

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»An einem Producte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Product der bloßen Natur sei. […] Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.«

Kunst muß natürlich sein und darf nicht als verzweckte gleichsam als beherrschte und auf ein ihr fremdes Ziel ausgerichtete Natur erscheinen. Jürgen Habermas macht in seinen Überlegungen zum Diskurs der Moderne darauf aufmerksam, daß es Derrida für ein herausragendes Kennzeichen der modernen Kunsttheorie hält, daß sie ohne den Hinweis auf Gott auskäme. 10 Während die mittelalterliche und vorneuzeitliche Kunsttheorie in der Natur Zeichen für Gott suchte bzw. die Natur auf Gott hin interpretierte und als Symbol für Gott verstand, als Hinweis auf den Schöpfer, ist die Moderne von der Gottlosigkeit der Natur gekennzeichnet: 11 Natur wird – deistisch verstanden – zur bloßen Natur, ohne Hinweisfunktion auf den hinter ihr stehenden, sie aber trotzdem erhaltenden Gott.

2.

Freiheit

Für den Freiheitsbegriff bei Derrida scheinen mir die Aussagen am interessantesten zu sein, die er am 15. 7. 2002 auf einem Kolloquium zum Thema: Die kommende Demokratie – Um Jacques Derrida gehalten hat. Derridas Vortrag ist mit Das Recht des Stärkeren (Gibt es Schurkenstaaten?) betitelt und beschäftigt sich aus philosophischer Sicht mit politischen Fragen, die auf der tagespolitischen Agenda damals noch aktueller waren als heute. Vor dem Hintergrund der Politik von George W. Bush äußert Derrida Vorbehalte gegen ein starkes, souveränes Ich, das sich selbst (wenn auch politisch demokratisch legitimiert) seine Gesetze gibt und andere Staaten als Schurkenstaaten bezeichnen kann, um sie ins politische Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, 195. Schrift 21 f.: »Der Verlust dieser Gewißheit, die Abwesenheit der göttlichen Schrift, das heißt zunächst des jüdischen Gottes, der gelegentlich selbst schrieb, definiert nicht nur, und in unklarer Weise, so etwas wie die ›Modernität‹. Als Abwesenheit und Heimsuchung durch das göttliche Zeichen bestimmt sie die gesamte Ästhetik und moderne Kritik.«

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Abseits zu manövrieren. Derrida zeigt sich skeptisch gegenüber dem Konzept eines absolut autonomen Ichs (Das Recht 28) und begründet von daher seine Vorbehalte gegen die gelebte Demokratie, indem er unter Ablehnung einer Formulierung aus Platons Politeia (557b) darauf hinweist, daß zwischen »der Freiheit (eleutheria) und der Zügellosigkeit (exousia)« unterschieden werden müsse, damit es nicht zu einem zügellosen und willkürlichen Handeln komme (Das Recht 41). Derridas kritische Definition von Freiheit lautet (Das Recht 42): »Freiheit ist im Grunde die Befugnis oder Macht, zu tun, was man will: zu entscheiden, zu wählen, sich zu bestimmen, über sich selbst zu bestimmen, Herr zu sein und vor allem Herr seiner selbst (autos, ipse).«

Absolute, nur sich selbst verpflichtete, souveräne Freiheit neigt zu Zügellosigkeit und Willkür, was Derrida ablehnt, weshalb er die Freiheit (ganz im Sinne der Schlagworte der Französischen Revolution) durch Gleichheit zähmen will. 12 Allerdings wird ihm selber dieser Vorschlag suspekt, weil er in einen Diskurs mit Jean Luc Nancys L’Expérience de la liberté eintritt. Dieser denkt eine (vgl. dort 91; Das Recht 67): »Freiheit […], die ›sich nicht als Autonomie einer Subjektivität darstellen läßt, die Herrin [maîtresse] ihrer selbst und ihrer Entscheidung wäre und die sich fern aller Hemmnisse in vollkommener Unabhängigkeit entwickelte‹«.

Nancy denkt eine nicht souveräne Freiheit, er stellt »die Gesamtheit einer Philosophie oder Ontologie der Freiheit« (Das Recht 68) in Frage, weswegen Derrida zu einem anderen Konzept von Demokratie kommen muß, denn Demokratie bezeichnet die Herrschaft des Volkes und genau diese Idee von Herrschaft, Herr seiner selbst sein und sich selber Gesetze machen, zweifelt Derrida an (Das Recht 68 f.). Derrida sucht nach einem Konzept, das Freiheit nicht als eine von Anfang an zugesicherte Wesenseigenschaft denkt oder als Privileg einer kleinen Herrschaftskaste bzw. weniger westlicher Staaten, die es sich (wie die kritisierten USA) auf Kosten anderer herausnehmen können, frei zu handeln. Dies wird deutlich, weil sich Derrida an diesem Punkt von Nancy absetzt, der davon spricht, daß sich der Mensch (ganz im Sinne von Sartre) als freier erweist, indem er seine Freiheit ausübt. 13 Derrida Vgl. Das Recht 44: »Freiheit und Gleichheit sind nur so miteinander zu versöhnen, daß sie einander im Turnus abwechseln, alternieren.« 13 Vgl. Das Recht 72: »›Auf jeden Fall ist das, was fehlt, das Denken einer Freiheit, die nicht erworben wurde, sondern im Akt ihres Anfangs und ihres Neuanfangs sich er12

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lehnt diesen Gedanken ab; er hält ihn wohl für zu elitär und sieht in ihm die Gleichheit gefährdet. Wäre nur der Mensch wirklich frei, der frei handelt, dann gäbe es freie und unfreie. Nach Derrida muß sich Freiheit allerdings auf alles beziehen, was existiert (Das Recht 82), so daß nicht nur der frei ist, der frei handelt. Derrida weist hier auf die doppelte Gefahr hin, daß Gleichheit nicht von einem Gesetz verordnet werden kann, das gleich freie, souveräne Subjekte erlassen haben, weil dann die verordnete Brüderlichkeit zum Bruderkrieg werden kann (Das Recht 76), indem das Gesetz Gleichmacherei vorschreibt, 14 und es so zu einer unheilvollen Verknüpfung zwischen Gesetz, Demokratie und Volk bzw. Blutsverwandtschaft kommen kann (Das Recht 91 f.). Derrida lehnt somit ein Freiheitskonzept ab, das von frei handelnden Subjekten ausgeht, weil er die Gefahr sieht, daß sich die Demokratie und damit das freie Subjekt im Akt der Autoimmunisierung selber pervertiert und in Frage stellt, indem es in der Meinung, sich schützen zu müssen, die eigenen Grundlagen verleugnet und gleichsam auffrißt. 15 Aber was schwebt ihm vor? Nach Derrida darf Freiheit nicht konzipiert werden, ohne daß man das Phänomen der Diskontinuität bzw. Heterogenität mit einbezieht. Er macht dies am Problem des Klonens deutlich: Ein geklonter Mensch wäre nicht frei, er wäre verfügt greift.‹)« Ders.: Die ›Welt‹ der kommenden Aufklärung, 186 f.: »Darin liegt das wesenlose Wesen der Souveränität. Neben basileus und kyrion verwendet Platon all die Worte, die in der gesamten verwickelten, reichen, differentiellen Geschichte der politischen Ontotheologie des Abendlandes den Begriff Souveränität bezeichnen werden. Es ist der übermächtige Ursprung einer Vernunft, die recht gibt, die über alles Macht hat, die Ursache allen Werdens ist oder die Genese hervorruft, aber selbst nicht wird, sondern durch eine hyperbolische Ausnahmestellung dem Werden oder der Genese entzogen ist.« 14 Das Recht 80: »Die Gleichheit als Suche nach einer berechenbaren Maßeinheit ist nicht nur ein Übel oder ein Notbehelf, sondern auch die Möglichkeit, alle Arten von Kräfteunterschieden, (natürlichen oder nichtnatürlichen) Eigenschaften und Hegemonien zu neutralisieren, um zu jemand Beliebigem [quiconque], einem beliebigem Jemand [n’importe qui] der Singularität eben in ihrem Unmaß zu gelangen.« 15 Das Recht 56 f.; Ders.: Die ›Welt‹ 151 f. Als einen ähnlichen Akt der Autoimmunisierung könnte der Gedanke Augustins gesehen werden, daß die Vorsehung Gottes nur einige erwählt, wohingegen andere ohne Gnade leben müssen. Hier wird die Freiheit Gottes, sich dessen zu erbarmen, dessen er sich erbarmen will, über die mögliche Freiheit des Menschen gestellt, der nur frei ist, wenn er begnadet ist. Die Konzepte von Freiheit und Gnade geraten in einen scheinbar unlösbaren Konflikt, der nichts anderes bedeutet, als die Gleichheit aller Menschen zu negieren und das Erwählungshandeln Gottes auf wenige zu beschränken. A

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und hergestellt von anderen Menschen. Um Mensch zu sein, bedarf es aber des Zufalls der Gene, bedarf es des Unkalkulierbaren, des Unverfügten (Die ›Welt‹ 195–198). Freiheit hat demnach mit Unverfügbarkeit und Unverfügtheit zu tun und das gilt nach Derrida auch für verantwortliches Handeln, weil dieses in sich immer etwas Unkalkulierbares enthält. 16 So kann ich die Ausführungen zum Phänomen der Freiheit mit einem Zitat von Derrida beschließen, in dem (zumindest dem Gedanken nach) schon das aufleuchtet, was ich im dritten Punkt näher ausführen werde: Das Ereignis bzw. das Messianische. Derrida macht darauf aufmerksam, daß man Freiheit nur denken kann, wenn man die Offenheit für etwas oder einen bedenkt, dessen Kommen angekündigt ist, ohne daß man ihn kennt (Das Recht 206 f.): »Insofern ist die Autoimmunität kein absolutes Übel. Sie erlaubt es, sich dem anderen – das kommt oder der kommt – auszusetzen, und muß deshalb unkalkulierbar bleiben. Ohne Autoimmunität, mit absoluter Immunität, würde nichts mehr eintreffen. Man würde nicht mehr warten, man würde nichts mehr erwarten, man würde weder einander noch irgendein Ereignis erwarten. Was es hier zu denken gilt, ist etwas Unvorstellbares oder Unerkennbares: eine Freiheit, die nicht mehr die Macht eine Subjektes wäre, vielmehr eine Freiheit ohne Autonomie, eine Heteronomie ohne Knechtschaft, kurz, so etwas wie eine passive Entscheidung.«

3.

Gnade als ursprungsloses Ereignis

Die nun folgenden Überlegungen gehen von der Unterscheidung zwischen der nachfolgenden und der vorausgehenden Gnade aus, also vom Unterschied zwischen gratia subsequens et cooperans und gratia praeveniens et operans. Der Unterschied ergibt sich aus der Frage, welche Rolle der Mensch und die menschliche Freiheit im Erlösungsvorgang hat, ob der Mensch sich aktiv und aus eigener Kraft für den Glauben entscheidet, oder ob auch schon diese Entscheidung vom Heiligen Geist gewirkt und somit alleinige Tat Gottes ist. Für Augustinus ist festzuhalten, daß er in De libero arbitrio noch davon ausgeht, daß der Mensch aufgrund seines freien Willens (lib. arb. 2,3–5) 17 zum Glauben Die ›Welt‹ 194: »Eine ›Verantwortung‹ oder ›Entscheidung‹ läßt sich nicht in einem Wissen als solchem fundieren oder rechtfertigen, ohne den Sprung irgendeiner Diskontinuität oder radikalen Heterogenität zwischen beiden Bereichen.« 17 Vgl. conf. 7,5: »liberum voluntatis arbitrium causam esse, ut male faceremus«. 16

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kommt und danach mit Gottes Gnadenhilfe gute Werke vollbringt, während er spätestens seit Ad Simplicianum auch das Zum-GlaubenKommen als Gnadengabe versteht. 18 Im Rückblick kritisiert Augustinus seine eigenen Jugendschriften und rechtfertigt seinen Sinneswandel in De praedestinatione sanctorum mit Paulus (1 Kor 4,7; dazu praed. sanct. 7; vgl. auch conf. 7,21.27): »Und was hast du, das du nicht empfangen hättest?« Im folgenden geht es mir nicht darum, die innertheologischen Gründe für diesen Sinneswandel aufzuzeigen, die sich aus den Streitigkeiten zwischen Augustinus und Pelagius ergeben und in deren Folge Augustinus immer mehr zu dem Schluß kommt, daß nur Gott frei ist, während der Mensch von seiner Gnade abhängt. Mir geht es vielmehr um die Tatsache, daß Augustinus auch schon in seinen später von ihm selbst kritisierten Frühschriften nach dem Ursprung und den Gründen für die Sünde gesucht hat und diese mit Paulus bei Adam und Eva verortet: Im ersten Menschen haben alle Menschen gesündigt und damit auch ihre Freiheit, ihre Fähigkeit, zu echtem Freiheitsvollzug verloren. Von Derrida her stellt sich meiner Meinung nach die Frage, ob das Suchen nach Gründen für die idealerweise grundlose Gnade – denn was ist die Frage nach dem Ursprung des Übels anderes als die Frage nach der Selbstverschuldetheit der sündigen Existenz des Menschengeschlechts, die ja der Anlaß für Gottes Gnadenhandeln ist? – ob also das Suchen nach den Gründen für eine grundlose Gnade, die als reine Gabe hätte verstanden werden können und nicht als Gnade, die einer Sünde auf den Fuß folgt und auch noch einmal zu unterscheiden wäre von der Schöpfungsgnade, ob also das Suchen nach einem Grund für das Übel in der Welt, 19 für Sünde und Schuld und damit auch für Rechtfertigung und Gnade 20 nicht ein, vielleicht sogar das entscheidende Problem in Augustins Gnadendenken geworden ist. Mit dieser Frage will ich – wie bereits erwähnt – nicht den Wandel in Augustins Gnaden- und Sündenverständnis zwischen De libero arbitrio und Ad Simplicianum überdecken, 21 sondern der ihnen gemeinJohannes Brachtendorf: Einleitung, 34–36. Vgl. conf. 7,7: »Ubi ergo malum et unde et qua huc inrepsit? Quae radix eius et quod semen eius?« 20 Augustinus klagt selber, daß er die Frage nach dem Ursprung des Bösen zuerst nicht mit seinem Glauben an die Rechtfertigung durch Christus in Einklang bringen konnte, wodurch deutlich wird, daß diese beiden Fragen aufs engste zusammenhängen (conf. 7,7; 7,11). 21 Vgl. Wolf-Dieter Hauschild: Art. Gnade IV: Dogmengeschichtlich, 481. 18 19

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samen Grundstruktur nicht-ursprungsloser Gnade nachgehen. Um diesen Gedanken zu fassen, wird es zuerst nötig sein, Derridas Begriff des Ereignisses in den Blick zu nehmen, bevor von dorther noch einmal auf Augustinus Bezug genommen werden kann.

3.1 Nicht antizipierbar Ein Ereignis, das für Derrida seines Namens würdig ist, ist etwas, das nicht vorhergesehen werden kann, das also das teleologische Denken an sein Ende bringt. 22 Was vorhergesehen werden kann, bewegt sich noch im Denk-Horizont des Subjektes, und ist damit nicht unkalkulierbar. 23 Der Ort des Ereignisses ist dagegen der Un-Ort des Un-möglichen. 24 Um echte Unkalkulierbarkeit zu denken und damit das, was ein Ereignis erst zu einem Ereignis macht, 25 muß nach Derrida aber nicht nur gedacht werden, daß die Ankunft des Ereignisses unvorhersehbar ist, sondern auch, daß sowohl der Inhalt des Ereignisses unbekannt ist, 26 als auch daß das vorhersehende Subjekt in seiner Fähigkeit beDie ›Welt‹ 173: »Das teleologische Denken scheint stets die Ereignishaftigkeit des Kommenden zu hemmen, zu verhindern, ihr gar zu widersprechen«. Vgl. ebd., 183: »Ich kündigte bereits an, daß es für mich um die Frage gehen wird, ob es, um das Ereignis, das Kommen, die Zukunft und die Zukunft des Ereignisses zu denken, möglich und in Wahrheit notwendig sein wird, die Erfahrung des Unbedingten, das Begehren, den Gedanken und die Forderung, ja selbst das Recht [raison] und die Gerechtigkeit der Unbedingtheit von all dem abzuziehen, was sich zum System eines transzendentalen Idealismus und seiner Teleologie ordnet.« 23 Die ›Welt‹ 192: »Ein vorhergesehenes Ereignis ist bereits gegenwärtig […] und in seinem Hereinbrechen neutralisiert.« 24 Die unbedingte Universität, 73: »Daß der Performativ das Ereignis, von dem er spricht, hervorbringt, haben wir oft genug gehört. Man muß sich umgekehrt vor Augen führen, daß, wo immer es einen Performativ gibt, kein Ereignis, das dieses Namens würdig wäre, stattfinden kann. Solange das, was sich ereignet, dem Horizont des Möglichen, ja eines möglichen Performativs angehört, ereignet es sich oder geschieht es, im vollen Wortsinn, nicht.« 25 Die ›Welt‹ 198: »Die Unbedingtheit des Unberechenbaren gibt das Ereignis zu denken. Sie gibt es als Ankunft oder Kommen des anderen zu denken in Erfahrungen«. 26 Derrida bezeichnet die Unkenntnis des Inhaltes des Ereignisses als das Messianische ohne Messianismus; Das Recht 126; 152; Die ›Welt‹ 208. Gespenster 48: »Messianismus […] ohne identifizierbaren Messias« Vgl. ebd., 88 f.; 22: »[D]a wir nicht sehen, wer ›schwöre‹ (swear) befiehlt, können wir ihn oder es nicht mit voller Sicherheit identifizieren, wir sind seiner Stimme ausgeliefert. Wer sagt: ›Ich bin der Geist (le sepctre) deines Vaters‹ (›I am thy father’s spirit‹), dem kann man nur aufs Wort glauben. Die 22

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schränkt wird, das Ereignis vorherzusehen, vorauszuahnen. Das Eintreten eines Ereignisses ist ungewiß, was kommt ist ungewiß und das Subjekt, dem ein Ereignis zustößt, ist nicht Herr des Ereignisses, ist nicht Souverän. 27 Ein Ereignis kann natürlich auch keine Natur besitzen, es ist nichts, was der Ontologie oder Metaphysik unterliegt bzw. in deren Rahmen gedacht werden könnte. 28 Fast möchte man an dieser Stelle formulieren, daß das Ereignis die Natur zerstört, so wie die Gnade die Natur zerstört.

3.2 Grundlos Damit ein Ereignis ein Ereignis ist, darf das Subjekt auch nicht wissen, warum es eintritt, denn wüßte das Subjekt um den Grund des Ereignisses, wäre dieses wiederum vorhersehbar. Ein Ereignis im Sinne Derridas muß grundlos sein. Dies wird deutlich, wenn er sagt, daß sogar die Gerechtigkeit grundlos gegeben werden muß, ohne vorhergehende Schuld (Gespenster 43): »Was ist diese Gerechtigkeit da, jenseits des Rechts? Kommt sie nur, um ein Unrecht wiedergutzumachen, ein Geschuldetes zurückzugeben, Recht oder Gerechtigkeit walten zu lassen? Kommt sie nur, um Gerechtigkeit zu üben, oder kommt sie im Gegenteil, um zu geben jenseits des Schuldens, der Schuld, des Verbrechens oder des Fehlers?« 29

Augustinus kann mit Paulus Rechtfertigung nur als Wiedergutmachung denken: Es muß eine Ursünde geben und auch De libero arbitrio fängt sofort mit der Frage nach dem Urheber an (1,1: »est ergo alius unabdingbar blinde Unterwerfung unter sein Geheimnis, das Geheimnis seines Ursprungs, ist der erste Akt des Gehorsams gegenüber der Verfügung.« 27 Vorwort. In: Das Recht 12: »[A]us der Erfahrung, die sich von dem affizieren läßt, der (das) kommt, also vom kommenden anderen, erweist sich ein unbedingter Verzicht auf die Souveränität als a priori erforderlich.« 28 Die ›Welt‹ 193: »Ein Ereignis oder eine Erfindung ist nur als un-mögliche möglich, das heißt nirgendwo als solche. Das phänomenologische oder ontologische ›als solches‹ vernichtet diese Erfahrung des Un-möglichen, die als solche weder jemals erscheint noch sich ankündigt.« 29 Vgl. ebd., 44: »Auf jeden Fall geht es darum, zu geben. Die Dike zu geben. Nicht darum, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sie als Gegenleistung zurückzuerstatten gemäß der Strafe, der Bezahlung oder der Buße […] Es geht hier als erstes um eine Geben ohne Rückerstattung, ohne Kalkül, ohne Zählbarkeit.« A

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auctor illius mali […]?«), der aber von jeder Schuld frei gesprochen wird, weil bei Gott keine Schuld gefunden werden darf. Von Derrida her ergibt sich hier die Anfrage, ob es notwendig ist, eine Ursünde zu denken, oder ob grundlose Gnade nicht die Gnadenhaftigkeit der Gnade, ihren Geschenkcharakter noch erhöhen würde? Augustinus sucht nach der Ursache für das Analogielose und hier liegt das Problem: Er müßte ungeschuldete Gnade denken wollen und nicht nach der vorhergehenden Schuld Ausschau halten: Erst grundlose, ungeschuldete Gnade, Gnade die unverschuldet gewährt wird, wäre in diesem Sinne reine Gnade. Derrida macht auf eine weitere Gefahr aufmerksam: Wer Gerechtigkeit als Gabe versteht, wer also theologisch gesprochen Rechtfertigung bzw. Gnade denkt, unterliegt der Gefahr, diese präsentisch zu denken und hier den Aspekt der Unterbrechung zu überspielen (Gespenster 46): »Wenn man den Zwang und die Notwendigkeit einmal anerkannt hat, die Gerechtigkeit von der Gabe her zu denken, das heißt jenseits des Rechts, des Kalküls und des Geschäfts, die Notwendigkeit also (ohne Zwang allerdings, ohne Notwendigkeit vielleicht und ohne Gesetz), die Gaben an den anderen als die Gabe dessen zu denken, was man nicht hat und was paradoxerweise gerade von daher dem anderen nur eignen kann, geht man dann nicht das Risiko ein, diese ganze Bewegung der Gerechtigkeit unter dem Zeichen der Präsenz einzuschreiben, und sei es auch der Präsenz im Sinne des Anwesens*, des Ereignisses als ins-Anwesen-Kommen, des Seins als mit sich selbst verfugter Anwesenheit, des Eigenen des anderen als Präsenz?«

Die grundlos gewährte Gabe der Gerechtigkeit – Gnade – wäre nach Derrida nicht durch Präsenz gekennzeichnet, sondern durch einen Bruch, 30 durch etwas, das sie unvorhersehbar macht, das nicht zu ihr hindenken läßt, das theologisch gesprochen mit der Umkehr bzw. der Neuschöpfung in der Taufe, durch den Tod der Taufe hindurch zu tun hat (Röm 6,1–11).

Gespenster 47: »Der notwendige Bruch (disjointure), die de-totalisierende Bedingung der Gerechtigkeit, das ist hier die Bedingung der Gegenwart (du présent) – und gleichzeitig die Bedingung der Gegenwart (du présent) und der Gegenwärtigkeit (de la présence) des Gegenwärtigen (du présent) selbst. Hier würde sich immer die Dekonstruktion als Denken der Gabe und der nicht dekonstruierbaren Gerechtigkeit ankündigen«.

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3.3 Singulär einbrechend Mit dem Punkt der Grundlosigkeit des Ereignisses, seiner Ungeschuldetheit, bin ich zur Lektüre von Marx’ Gespenstern vorangeschritten. In diesem für die Veröffentlichung erweiterten Vortrag vom 22. und 23. April 1993 setzt sich Derrida auch mit der Geschichtstheorie des Marxismus auseinander, indem er u. a. Francis Fukuyamas Buch Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? einer genauen Lektüre unterzieht (Gespenster 84 ff.). Während Marx von einer klaren Abfolge von Gesellschaftssystemen ausgeht und damit der Geschichte eine Richtung der Entwicklung zuweist, spricht sich Derrida gegen jedes teleologische Geschichtsdenken aus, 31 weil er die sukzessive Verkettung von Geschichtsereignissen kritisiert. 32 Das Ereignis, das, was aussteht und kommen soll, 33 ist nicht vorhersehbar und damit auch nicht antizipierbar, so daß die Geschichte keinem bekannten Ziel entgegeneilt. Damit wird ein echtes geschichtliches Ereignis erstens zu einem Ereignis von absoluter Singularität, 34 ohne Vorläufer und ohne Vergleichsmöglichkeit und zweitens beginnt Derrida das Moment des Messianischen ganz neu zu denken. 35 Das Messianische darf nicht mit der Vorstellung

Derrida stellt fest (Gespenster 138), daß es mit dem Untergang des gelebten Marxismus »keine Teleologie mehr gibt […] Das ist vielleicht für den Menschen die tiefste Verletzung im Körper der Geschichte«. 32 Gespenster 103: »Diese Ereignishaftigkeit ist es, die es zu denken gilt, aber sie ist es auch, die dem, was man den Begriff, wenn nicht das Denken nennt, am erfolgreichsten widersteht. Und man wird sie nicht denken können, solange man auf die einfache (ideale, mechanische oder dialektische) Opposition zwischen der realen Präsenz der realen Gegenwart oder der lebendigen Gegenwart und ihrem gespenstigem Simulakrum vertraut, auf die Opposition zwischen Wirklichem und Nichtwirklichem, und das heißt auch: solange man auf eine allgemeine Zeitlichkeit oder auf eine historische Zeitlichkeit vertraut, die aus einer sukzessiven Verkettung mit sich selbst identischer und mit sich selbst gleichzeitiger Gegenwarten besteht.« 33 Gespenster 54: »Die Heterogenität öffnet im Gegenteil, sie läßt sich öffnen vom Einbruch dessen, was hereinbricht, kommt oder als Kommendes aussteht – einzig und allein vom anderen her.« 34 Gespenster 51: »Keine différance ohne Alterität, keine Alterität ohne Singularität, keine Singularität ohne Hier-und-Jetzt.« 35 Vgl. Gespenster 58: »Gibt es nicht eine messianische Extremität, ein eschaton, dessen letztes und höchstes Ereignis (plötzlicher Einbruch, unerhörte Unterbrechung, Unzeitigkeit der unendlichen Überraschung, Heterogenität ohne Erfüllung) in jedem Augenblick den terminus ad quem einer physis ebenso übersteigen kann wie die Arbeit, die Produktion und das telos jeder Geschichte?« 31

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eines Messias gefüllt werden, weil dieser identifiziert werden könnte, so daß das Messianische an einer einzelnen Person oder der mit ihr verbundenen Vorstellung festgemacht und damit dingfest gemacht werden könnte. Wie immer spricht sich Derrida gegen das Festmachen aus und vergrößert damit die Ungewißheit bzw. die Dynamik in der Vorstellung des Messianischen. Derrida versucht das Messianische ohne Messianismus zu denken und bleibt so bei der Figur, daß Zukunft, also etwas Ausstehendes, gedacht werden muß, ohne daß Derrida dieser Zukunft einen bestimmten Inhalt geben will. 36 Der Mensch braucht einen Ausblick, braucht etwas, von dem her er das Hier und Jetzt in seiner Vorläufigkeit und Unerlöstheit kritisieren und als nicht sein sollend erkennen kann. Ein längeres Zitat soll die Verflechtung der bisher angesprochenen Motive im Denken und vor allem Schreiben Derridas vor Augen führen (Gespenster 96 f.): »In diesem Maß wird die Wirklichkeit des demokratischen Versprechens wie die des kommunistischen Versprechens immer die absolut unbestimmte messianische Hoffnung in ihrem Herzen tragen und tragen müssen, dem eschatologischen Bezug auf die Zu-kunft eines Ereignisses und einer Singularität, einer nicht antizipierbaren Andersheit. Erwartung ohne Erwartungshorizont, Erwartung dessen, was man noch nicht oder nicht mehr erwartet, vorbehaltlose Gastfreundschaft und Willkommensgruß, die der absoluten Überraschung des Ankommenden im vorhinein gewährt werden, ohne das Verlangen einer Gegenleistung oder einer Verpflichtung gemäß den Hausverträgen irgendeiner Empfangsmacht [Familie, Staat, Nation, Territorium, Boden oder Blut, Sprache, Kultur im allgemeinen, selbst Menschheit], gerechte Öffnung, die auf jedes Recht auf Eigentum verzichtet, auf jedes Recht im allgemeinen, messianische Öffnung für das, was kommt, das heißt für das Ereignis, das man nicht als solches erwarten und also auch nicht im voraus erkennen kann, für das Ereignis als das Fremde selbst, für jemanden [ihn oder sie], für den man im Eingedenken der Hoffnung immer einen Platz freihalten muß – und das ist der Ort der Spektralität oder der Gespenstigkeit selbst. Es wäre leicht, allzu leicht zu zeigen, daß eine solche vorbehaltlose Gastfreundschaft, Bedingung freilich des Ereignisses und damit der Geschichte [nichts und niemand könnte andernfalls geschehen, ankommen, eine Hypothese, die man, wohlverstanden, niemals ausschließen kann], das Unmögliche selbst ist und daß diese Bedingung der Möglichkeit auch ihre Bedingung der Unmöglichkeit ist,

Vgl. Gespenster 107: »[E]s gibt notwendigerweise Versprechen und damit Historizität als Zu-kunft. Das ist, was wir auch das Messianische ohne Messianismus nennen.«

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wie dieser seltsame Begriff eines Messianismus ohne Inhalt, eines Messianischen ohne Messianismus, der uns hier wie Blinde führt.«

Es scheint fast unmöglich, die Flut der angesprochenen Motive zu bewältigen, und das ist wohl auch Derridas Absicht. Jedenfalls wird deutlich, daß das unvorhersehbare und grundlos kommende Ereignis das Denken eines Messias bedeutet, der nicht bekannt ist und dessen Kommen nicht erwartet werden kann. Es geht Derrida um die notwendige Offenheit jeglichen Weltbezugs, um die Nicht-Abschließbarkeit und um die Wesenlosigkeit und die damit zusammenhängende Inhaltslosigkeit. All diese Motive sind dem abendländischen Denken nicht unbekannt und doch bringt sie Derrida in einen fast schwindelerregenden Zusammenhang und deckt so die inneren Konstruktionspunkte überkommenen Denkens auf. Es stellt sich von hierher ganz klar die Frage, warum Augustinus so versessen darauf ist, die Ursache der Sünde bzw. des Übels zu ergründen. Er treibt seine Ursachenforschung bis zu Adam und Eva hin (lib. arb. 3,53) und bleibt selbst dort nicht stehen, sondern fragt noch nach den Beweggründen des Teufels, sich von Gott zu entfernen (lib. arb. 3,75) 37 und findet diese in Hochmut und Neid (lib. arb. 3,76): »superbiae autem diaboli accessit malevolentissima inuidia.« Wäre es nicht spannend, neben der Ungeschuldetheit der Gnade auch die Ungeschuldetheit der Gottesverehrung zu denken, so daß der Mensch Gott etwas geben würde, was ihm selber nicht gehört, nicht eignet? Wäre es nicht spannend zu denken, daß es im umgekehrten Fall, wenn also der Mensch nicht willens ist, Gott das zu geben, was dieser ihm zuerst gegeben hat bzw. Gott das zu geben, was nur Gott gebührt, daß es also in diesem Fall nicht zu einem das ganze Menschengeschlecht betreffenden Sündenfall gekommen wäre, sondern das Staunen und die Dankbarkeit über die reine Gabetätigkeit Gottes das Erschrecken über die eigene Unfähigkeit, so zu sein wie er, überwogen hätte?

Vgl. conf. 7,21.27: »et iuste traditi sumus antiquo peccatori, praeposito mortis, quia persuasit voluntati nostrae similitudinem voluntatis suae, qua ›in veritate‹ tua ›non stetit‹.«

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3.4 Kenotisch Ein solches Denken, das nicht nach den letzten und allerletzten Ursachen sucht und auch noch meint, diese wirklich ergründen zu können, scheint mir vom christlichen Gedanken der Selbstentäußerung Gottes her angebracht. Wenn sich der göttliche Logos inkarniert und nicht daran festhält, wie Gott zu sein (Phil 2,6), dann gibt er seine Souveränität auf, dann ist er nicht jenes Ich, das die Urgründe seines Handelns erforscht, sondern sich offenhält für das oder den anderen, dessen Kommen noch aussteht. Zu meinem großen Erstaunen denkt Derrida so etwas wie Kenose, er kennt den Gedanken, daß Gott (um seiner Gottheit willen) seine Souveränität aufgibt 38 und dadurch nicht weniger Gott ist, sondern in dieser Fähigkeit zur Erniedrigung und Selbstaufgabe erst seine ganze Göttlichkeit aufscheint (Gespenster 213): »Wo freilich der Name Gottes an anderes denken ließe, etwa an eine verletzliche, leidende und teilbare, sogar sterbliche Nichtsouveränität, die imstande wäre, sich zu widersprechen oder zu bereuen (ein Gedanke, der weder unmöglich noch beispiellos ist), läge ein ganz anderer Fall vor, vielleicht der eines Gottes, der sich bis in seine Selbstheit hinein dekonstruiert.«

Vielleicht hätte sich manche abendländische Verwerfung nicht ergeben, wenn Augustinus sehr viel weniger an der exklusiven Gnadentätigkeit Gottes, an der Ungeschuldetheit der Gnade festgehalten hätte, als er dies sowieso getan hat. Ist eine ungeschuldete und eine unverschuldete Gnade – so möchte ich zum Abschluß fragen dürfen – ist eine Gnade, deren Grund man nicht kennt, nicht noch viel mehr Gnade als diejenige, deren Schuld der Mensch auf sich nimmt? Wäre eine unverschuldete Gnade nicht auch die Möglichkeit, die Inkarnation nicht als Erhebung des aus eigener Schuld zu Fall gekommenen Menschen zu denken, sondern als das Ziel der Geschichte, das auch ohne Sündenfall vorausgewußt war? Kann eine felix culpa – eine glückselige Schuld – auf einem anderen Hintergrund gedacht werden, als auf der Idee einer unverschuldeten Gnade? Lenkt die felix culpa nicht notwendig unseren Blick vom Paradies und dem Sündenfall ab, hin auf das, was kommen 38 Das Recht 158: »Wenn ein Gott, der uns retten kann, ein souveräner Gott wäre, wovor uns Gott bewahren möge, so ließe er nach einer Revolution, von der wir noch keine Vorstellung haben, einen ganz anderen Sicherheitsrat entstehen. Gewiß, nichts ist weniger gewiß als ein Gott ohne Souveränität, gewiß, nichts ist weniger gewiß als sein Kommen. Ebendarum, ebendarüber sprechen wir […].«

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soll, ohne daß schon alles da wäre, aber auch ohne die Möglichkeit, das Verheißene nicht doch zu erwarten, weil wir nicht wissen, wie es, wie Er aussehen wird? Am Anfang stand der Hinweis auf das Ende, auf die Knappheit der Zeit. Deshalb hier zum Schluß: Das Ende ist da, auch wenn es auf keinen Punkt festgelegt werden kann und wir seiner nicht habhaft werden können. Das Ende steht somit noch aus und ist doch da, in dieser seltsamen Figur des anwesend-abwesenden. Das Ende ist da, bricht jetzt an und ein, und verunmöglicht jeden weiteren Buchstaben.

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Siglenverzeichnis

I.

Siglen der Werke Augustins (354–430)

1.

Siglen der Schriften Augustins

Die Siglen der Werke Augustins folgen denjenigen des CAG (Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum (CD-ROM).Würzburg 2 2003). Acad. an. et or. an. quant. bapt. c. ep. Pel. c. Iul. c. Iul. imp. civ. conf. Cresc. div. qu. doctr. chr. en. Ps. ench. ep. ep. Rm. inch. ex. prop. Rm. Gn. litt. gr. et. lib. arb. gr. et pecc. or. lib. arb. mor. nat. b. nat. et gr. nupt. et conc. ord.

De Academicis libri tres De anima et origines libri quattuor De animae quantitate liber unus De baptismo libri septem Contra duas epistulas Pelagianorum libri quattuor Contra Iulianum libri sex Contra Iulianum opus imperfectum De civitate dei libri viginti duo Confessionum libri tredecim Ad Cresconium grammaticum partis donati libri quattuor De diversis quaestionibus octoginta tribus liber unus De doctrina christiana libri quattuor Enarrationes in Psalmos De fide spe et caritate liber unus Epistulae Epistulae ad Romanos inchoata expositio liber unus Expositio quarundam propositionum ex epistula apostoli ad Romanos De Genesi ad litteram libri duodecim De gratia et libero arbitrio liber unus De gratia Christi et de pecccato originali libri duo De libero arbitrio libri tres De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manicheorum libri duo De natura boni liber unus De natura et gratia liber unus De nuptiis et concupiscentia ad Valerium libri duo De ordine libri duo A

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Siglenverzeichnis pecc. mer. persev. praed. sanct. retr. Simpl. sol. trin. vera rel.

2. ALG BA

II. AA

BDG FM

GMS IaG KpV KrV KU Log MST OP Prol RGV

330

De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum ad Marcellinum libri tres De dono perseverantiae liber ad Prosperum et Hilarium secundus De praedestinatione sanctorum liber ad Prosperum et Hilarium primus Retractationum libri duo Ad Simplicianum libri duo Soliloquium libri duo De trinitate libri quindecim De vera religione liber unus

Siglen von Augustinus-Ausgaben, teils mit Übersetzung und Einführungen Sankt Augustinus – Der Lehrer der Gnade Bibliothèque Augustinienne

Siglen der zitierten Schriften Kants (1724–1804) nach KMR Akademie-Ausgabe; Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Bde. 1–22); von der Deutschen Akademie der Wissenschaft zu Berlin (Bd. 23); von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (ab Bd. 24); Berlin: de Gruyter 1900 ff. Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763; AA 2) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1804; AA 20) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785; AA 4) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784; AA 8) Kritik der praktischen Vernunft (1788; AA 5) Kritik der reinen Vernunft (A: 1781; B: 1787; AA 3 u. 4) Kritik der Urtheilskraft (1790; AA 5) Logik (1800; hg. von G. B. Jäsche im Auftrag Kants; AA 9) Metaphysik der Sitten. Anfangsgründe der Tugendlehre (1797; AA 6) Opus Postumum (AA 21 und 22) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783; AA 4) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (B: 1793; AA 6)

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Siglenverzeichnis Der Streit der Fakultäten (1798; AA 7) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764; AA 2) ZeF Zum ewigen Frieden (1795; AA 8) Metaphysik Pölitz (= PM) Vorlesungen über Metaphysik nach Pölitz (AA 28.2.1) Religion Pölitz (= PR) Vorlesungen über die philosophische Religionslehre nach Pölitz (AA 28.2.2) Moralphilosophie Collins Vorlesungen über Moralphilosophie nach Collins (AA 27.1) Ethik-Menzer Eine Vorlesung Kants über Ethik SF UDG

III.

Siglen zu weiteren zitierten Quellenwerken (teils kommentiert) in chronologischer Ordnung

Flasch, Kurt: Logik des Schreckens (Simpl. I,2) Augustinus: Suche nach dem wahren Leben (conf. 10) Julian von Aeclanum: Ad Turbantium (fragmenta) Petrus Lombardus: Sententiae in IV Libris distinctae Luther, Martin: De servo arbitrio Luther, Martin: Lateinisch-deutsche Studienausgabe Luther, Martin: Werke in Auswahl (Bonner Ausgabe) Luther, Martin: Weimarer Ausgabe Luther, Martin (= WA 5) Luther, Martin: Disputatio contra Scholasticam Theologiam (1517) De Gratia Dei Suárez: De Gratia Dei seu de Deo salvatore DL Suárez, Francisco: Tractatus de legibus ac Deo legislatore, in decem libros distributus, utriusque fori hominibus non minus utilis, quam necessarius DLA Erasmus: De libero arbitrio sive collatio Hyperaspistes Erasmus: Hyperaspistes Diatribae adversus Servum arbitrium Martini Lutheri Aug. Jansen: Augustinus, seu doctrina Augustini de humanae naturae sanitate, aegritudine, et medicina, adv. Pelagianos et Massilienses Das Recht Derrida, Jacques: Das Recht des Stärkeren (Gibt es Schurkenstaaten?) Die ›Welt‹ Derrida, Jacques: Die ›Welt‹ der kommenden Aufklärung Gespenster Derrida, Jacques: Marx’ Gespenter. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale Grammatologie Derrida, Jacques: De la Grammatologie (Grammatologie) Schrift Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz LdS SwL Ad Turb Sent. DSA LDStA (= StA) BoA WA Tischreden DcST

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Siglenverzeichnis Stimme

IV.

Weitere Siglen

AL APE

ASS bonum CCL CCM CSEL DASC DH

DW GA GS hSA HA KMR KSA

KuK LG MAA Mp NE PFG PL S.th.

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Derrida, Jacques: La voix et le phénomène (Die Stimme und das Phänomen)

Augustinus-Lexikon. Hg. v. Cornelius Mayer. Basel: Schwabe 1986 ff. Fischer, Norbert: Augustins Philosophie der Endlichkeit. Zur systematischen Entfaltung seines Denkens aus der Geschichte der Chorismos-Problematik Fischer, Norbert (Hg.): Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. (2 Bände) = ASS I und II. Fischer, Norbert: bonum Corpus Christianorum seu nova Patrum collectio ser. Latina. Turnhout: Brepols 1966 ff. Corpus Christianorum seu nova Patrum collectio ser. Latina. Turnhout: Brepols 1953 ff. Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum. Wien 1866 ff. Fischer, Norbert: Deum et animam scire cupio Kompendium der Glaubensbekenntnisse und Kirchlichen Lehrentscheidungen. Hg. v. Heinrich Denzinger, Peter Hünermann. Freiburg: Herder 37 1991. Meister Eckhart: Deutsche Werke Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. Frankfurt: Klostermann 1975. Gaudium et spes Fischer, Norbert: Zum heutigen Streit um Augustinus. Sein Werk als Schatz, als Bürde und als Herausforderung Goethe, Johann Wolfgang von: Hamburger Ausgabe Fischer, Norbert (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: dtv; Berlin u. a.: de Gruyter 1980. Fischer: Kant und der Katholizismus Lumen Gentium Fischer, Norbert; Hattrup, Dieter: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen Aristoteles: Metaphysik Aristoteles: Nikomachische Ethik Fischer, Norbert: Die philosophische Frage nach Gott. Ein Gang durch ihre Stationen Migne, Jacques Paul (Hg.): Patrologia latina Thomas v. Aquin: Summa theologiae

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Siglenverzeichnis TI TRE Tusc. UG WC Za

Levinas, Emmanuel: Totalité et Infini Theologische Real-Enzyklopädie Cicero: Tusculanae Diputationes Drecoll, Volker Henning: Ungerechte Gnadenlehre? Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra

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Quellen- und Literaturverzeichnis

I.

Werkausgaben und Übersetzungen der Schriften Augustinus

a)

Gesamtausgabe

Corpus Augustinianum Gissense a Cornelio Mayer editum (CD-ROM). Würzburg 2 2003.

b)

Weiterhin benutzte Ausgaben

Sancti Augustini Hipponensis Episcopi Opera Omnia. Post Lovanensium Theologorum Recensionem, […] opera et studio Monachorum ordinis Sancti Benedicti e Congregatione S. Mauri. Editio novissima, ed. J.-P. Migne. Bände 32–47 von: Patrologiae cursus completus. Series latina. Paris 1841–1849. Aurelius Augustinus: Werke in deutscher Sprache (teils auch lat.-dt.) Paderborn: Schöningh 1940 ff. Œuvres de Saint Augustin (Bibliothèque Augustinienne) Paris 2 1947ff. Sancti Augustini Opera. In: Corpus Christianorum. Series Latina. Turnhout: Brepols 1954ff. Augustinus Opera-Werke. Kritische zweisprachige Ausgabe (Lateinisch-Deutsch). Hg. v. Johannes Brachtendorf und Volker Henning Drecoll in Zusammenarbeit mit Christoph Horn und Therese Fuhrer. Paderborn: Schöningh (seit 2006).

c)

Zitierte Teilausgaben von Schriften Augustins

De libero arbitrio – Der freie Wille [Augustinus, Opera – Werke 9], eingel., übers. u. hg. v. Johannes Brachtendorf. Paderborn 2006. Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch (Übers. v. Wilhelm Thimme). Düsseldorf u. a.: Artemis & Winkler 2004 (Reihe Tusculum). Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X/Bekenntnisse 10. Eingel., übers. u. mit Anm. versehen v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2006. Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I,2. Deutsche Erstübersetzung von Walter Schäfer. Herausgegeben und erklärt von Kurt Flasch. Mainz: Dieterich 2 1995.

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Quellen- und Literaturverzeichnis Augustinus: Über Schau und Gegenwart des unsichtbaren Gottes. Texte mit Einf. u. Übers. von Erich Naab. Stuttgart: Frommann Holzboog 1998. Sankt Augustinus – Der Lehrer der Gnade, Lateinisch-deutsche Gesamtausgabe seiner anti- pelagianischen Schriften, hg. v. A. Kunzelmann und Adolar Zumkeller, Würzburg 1955 ff. (= ALG). Schriften gegen die Semipelagianer. Lateinisch-deutsch. Würzburg: AugustinusVerlag 2 1987.

II.

Ausgaben der Schriften Kants

Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Band 1–22); von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Band 23); von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (ab Band 24). Berlin: de Gruyter 1900 ff. –: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WBG 1954 ff. –: Kant im Kontext III. Komplettausgabe 2007. Werke, Briefwechsel, Nachlaß und Vorlesungen auf CD-ROM. Berlin: Karsten Worm 2 2009. –: Eine Vorlesung Kants über Ethik. Hg. von Paul Menzer. Berlin: Heise 1924. –: Vorlesung zur Moralphilosophie. Hg. von Werner Stark. Berlin/New York: de Gruyter 2004.

III.

Quellen bzw. Werke der in den Beiträgen untersuchten Autoren

Julian von Aeclanum (Julianus Aeclanensis) (386–455): Ad Turbantium (fragmenta), hg. v. Albert Bruckner, Die vier Bücher Julians an Trubantius. Ein Beitrag zur Charakteristik Julians und Augustins. In: NSGTK (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche). Berlin 1910 (Nachdruck Aalen 1973), eine verbesserte Ausgabe in: Juliani Aeclanensis operum deperditorum fragmenta, vyd. Lucas De Coninck; Maria – Josepha D’Hont. CCL 88. Turnhout 1978. Anselm von Canterbury (1033–1109): De libertate arbitrii: In: S. Anselmi Opera omnia I. Hg. v. Franciscus Salesius Schmitt OSB. Stuttgart-Bad Canstatt: Fromann Holzboog 1968. –: Monologion. In: S. Anselmi Opera omnia I. Hg. v. Franciscus Salesius Schmitt OSB. Stuttgart-Bad Canstatt: Fromann Holzboog 1968. –: Proslogion: In: S. Anselmi Opera omnia I. Hg. v. Franciscus Salesius Schmitt OSB. Stuttgart-Bad Canstatt: Fromann Holzboog 1968. Bernhard von Clairvaux (1090–1153): De gratia et libero arbitrio 47 (Opera III), ed. Jean Leclercq – Henri M. Rochais. Rom: Cistercienses 1963.

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Quellen- und Literaturverzeichnis –: Traces of Augustine’s ›De trinitate XIII‹ in Anselm’s ›Cur Deus Homo‹. In: Paul Gilbert (Hg.): Cur Deus Homo: Atti del Congresso Anselmiano Internazionale. Roma 1999, 165–178. –: The Influence of Augustine’s De trinitate on Anselm’s Monologion. In: Coloman Viola; Frederick Van Fleteren (Hg.): Saint Anselm: A Thinker for Yesterday and Today: Anselm’s Thought Viewed by Our Contemporaries. Lewiston/ NY: Edwin Mellen Press 2002, 411–443. Vanneste, Alfred: Nature et grâce dans la théologie de Baïus. In: Facultas S. Theologiæ Lovaniensis 1432–1797, Bijdragen tot haar geschiedenis, ed. Edmond J. M. van Eijl. Leuven: Leuven University Press 1977, 327–350. –: La théologie du surnaturel dans les écrits de Henri de Lubac. In: Ephemerides Theologicae Lovanienses 69/4, 1993, 273–314. –: Pour une relecture critique de l’Augustinus de Jansénius. In: Augustiniana 44, 1994, 115–136. Verbeke, Gerard: Augustin et le stoïcisme. In: Recherches Augustiniennes 1, 1958, 67–89. Verschoren, M.: The Appearence of the Concept concupiscentia in Augustine’s Early Antimanichaean Writings (388–391). In: Augustiniana 52, 2002, 199– 240. Vorgrimler Herbert: Neues Theologisches Wörterbuch. Freiburg im Breisgau: Herder 2008. Walgrave, Jan Hendrik: L’Augustinus de Jansénius. In: Jan Van Bavel; Martijn Schrama (Hgg.): Jansénius et le Jansénisme dans les Pays-Bas. Leuven: PeetersLeuven University Press 1982, 27–38. Weisheipl, James A.: Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie. Graz: Styria 1980. Wermelinger, Otto: Rom und Pelagius. Stuttgart: Anton Hiersemann 1975. Willaschek, Marcus: Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant. Stuttgart/ Weimar: Metzler 1992. Wimmer, Reiner: Kants kritische Religionsphilosophie. Berlin/New York: de Gruyter 1990. Winter, Aloysius: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. Hildesheim: Olms 2000. –: Kann man Kants Philosophie ›christlich‹ nennen? In: Fischer, Norbert (Hg.): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte. Freiburg im Breisgau: Herder 2005, 33–57. Wundt, Max: Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Enke: Stuttgart 1924. Zelzer, Michaela: Das augustinische »Opus imperfectum contra Iulianum« und seine Rezeption im Mittelalter. In: Guntram Förster; Andreas Grote, Christof Müller (Hgg.): Spiritus et Littera. Beiträge zur Augustinus-Forschung. Festschrift zum 80. Geburtstag von Cornelius Petrus Mayer OSA. Würzburg: Echter 2009, 797–810. Zenger, Erich: Jahweh, Abraham und das Heil der Völker. In: Kaspar, Walter (Hg.): Absolutheit des Christentums (Quaestiones disputatae 79). Freiburg im Breisgau: Herder 1977, 39–62.

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Personenregister

Aalders, Gerhard Jean Daniël 93 Abälard, Peter 159 Aegidius von Rom 164 Aemilius von Benevent (Bischof) 90 Aertsen, Jan A. 146 Alexander von Hales 162 Alfaro, Juan 210 Allison, Henry E. 275 Ambrosius 99, 132, 138, 148 f. Ammonios Sakkas 137 Anderson-Gold, Sharon 272 Anicius Boethius 146 Anselm von Laon 154, 159 Anselm von Canterbury 42 f., 131 f., 134 f., 142–145 Aristoteles 135 f., 161, 163, 169, 178, 209. 212, 305 f. Asiedu, Felix Baffour Asade 131 Bacon, Francis 239 Baier, Thomas 115 Bajus 209, 211 f. Balthasar, Hans-Urs von 209 Bardenhewer, Otto 105 Barth, Ulrich 199, 201, 206 Barth, Heinrich 289 Barth, Karl 309 Baumgarten, Alexander Gottlieb 239 f. Beatrice, Pier Franco 94, 99 Bellarmin, Robert 211 Berchman, Robert M. 113 f. Berndt, Rainer 159 Bernhard von Clairvaux 159 Berrouard, Marie-François 105 Betzler, Monika 51 Bianchi, Luca 146

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Bieri, Peter (alias Pascal Mervier) 51, 53, 63 f. Blic, Jacques de 213 Blumenberg, Hans 195 Bochet, Isabelle 113 ff. Boersma, Hans 214 Boetius von Dacien / Boetius von Dazien 43, 166 Bohatec, Josef 261 Bojanowski, Jochen 276 Bonner, Gerlad 97, 149 Bourke, Vernon Joseph 135 Bracht, Katharina 289 Brachtendorf, Johannes 26, 41, 48, 51, 54, 61 f., 66, 139 f., 319 Brandstetter, Alois 18, 303 Brennecke, Hanns Christoph 120 Breuning, Wilhelm 73 ff. Brown, Peter 92 Bruckmann, Florian 46 Bruckner, Albert 90 Burns, J. Patout 111, 117, 128 Bush, George W. 315 Cajetan, Thomas 211, 216 Calvin, Johannes 170, 179, 189, 222 Capánaga, Victorino 234 Cassian, Johannes 119 Chatelain, Emile 146 Chelius, Karl Heinz 111 Cicero 11, 19, 32, 76, 98, 115, 134, 136 f., 140, 272, 290 Cipriani, Nello 93 f. Clark, Elizabeth Ann 94 Colish, Marcia 136 Corcoran, Gervase 142

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Personenregister Courcelle, Pierre 132, 221 Couto, Filipe José 71 ff. Cyprian von Karthago 99, 123, 138, 148 D’Aniello, Giovanna 43 Daley, Brian 89 Danz, Christian 44, 191, 199, 203 De Boni, Luis Alberto 146 Delaroche, Bruno 92 Delekat, Friedrich 238 f. Delius Hans-Ulrich 199 Denifle, Heinrich 146 f., 165 Deogratias (Diakon) 112 Derrida, Jacques 46 f., 311–326 Descartes, René 12, 15, 236, 245 De Soto, Domingo 212 Dewart, Joanne McWilliam 94 Dewey, John 169 Di Palma, Gaetano 92 Dierken, Jörg 192 Dierksmeier, Claus 207 f. Dihle, Albrecht 135, 196 Diogenes von Sinope 167 Diogenes Laertius 167 Dionysius Exiguus 161 Divjak, Johannes 118, 120 Dodaro, Robert 105 Dolbeau, François 149 Donati, Silvia 146 Dörflinger, Bernd 254 f. Dörr, Bernhard 72 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 63 Drecoll, Volker Henning 9, 18, 111, 118, 137, 195, 289 f. Driedo, Joannes 211 f. Durandus a S. Porciano 165 Roy, Olivier du 132 Düsing, Klaus 207 Dwyer, George Patrick 211 Ehrle, Franz 165 Eichhorn, Mathias 13, 41, 44 Eijl, Edmund J. M. van 211 Erasmus von Rotterdam 8, 13, 41, 44, 167, 169–181, 183–188, 190 f., 199, 202 f., 211, 288

Euler, Walter Andreas 23 Evodius 119, 234 Feuerbach, Ludwig 16 Fichte, Johann Gottlieb 191 Fioravanti, Gianfranco 146 Fischer, Norbert 15, 18–21, 25 f., 28, 31–34, 36, 46 ff., 240, 251, 255, 264, 286, 289, 291, 294 f., 303, 305 f., 309 Fitzgerald, Allen 78 Flasch, Kurt 11, 18, 109, 110, 128, 146, 290 Fleischer, Margot 259 Florus (Mönch) 119 Forschner, Maximilian 46 f., 268, 272, 293 f.. Förster, Guntram 42 Frankfurt, Harry 41, 51 f., 54, 63 f. Freud, Sigmund 167, 312 Fukuyama, Francis 323 Galeota, Gustavo 211 Garve, Christian 205 Gehlen, Arnold 33 Gielis, Marcel 211 Gilbert von Poitiers 154 Gilson, Etienne 134 Girard, Jean-Michel 91 Goethe, Johann Wolfgang von 9, 11, 258 Gräffe, Johann Friedrich Christoph 16 Gregor von Rimini 164 Guckes, Barbara 51 Habermas, Jürgen 315 Harder, Richard 137 Härle, Wilfried 181 f., 189 f., 288 Harnack, Adolf von 113, 120 Harrison, Geoffrey 93 Hartmann, Nicolai 19, 291 Hauschild, Wolf-Dieter 319 Haymo von Halberstadt 154, 159 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich 168 f., 171, 185, 191 Heidegger, Martin 15, 26, 46, 168, 285, 306, 311 f. Heimsoeth, Heinz 238 A

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Personenregister Heinrich von Gent 163–165 Herbert, Maria von 303 Herder, Johann Gottfried 258 Herveus Natalis OP 165 Hick, John 72 Hieronymus 141 Hilarius von Poitiers 118–122, 130, 149 Hirsch, Emanuel 191 f. Hissette, Roland 146, 161, 166 Hobbes, Thomas 271 f. Hödl, Ludwig 165 Höffe, Gottfried 248 Holl, Karl 191 Horn, Christoph 88 Hugo von St. Viktor 159, 227 Husserl, Edmund 20, 313

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Kuksewicz, Zdzislaw 146 Kuss, Otto 269

Jakob von Metz 165 Jansen, Cornelius 43, 209–212, 218– 232 Jansen, François-Xavier 211 Johannes Bonaventura 162, 165 Johannes Duns Scotus 165 John Peckham 165 Jonas, Hans 105 Julian von Aeclanum 42, 90, 92 ff., 98, 103, 117, 128, 141, 149

Lafleur, Claude 146 Lamberigts, Mathijs 90 f., 93 f., 98 Landgraf, Artur M. 159 Langthaler, Rudolf 285 Larrieu-Regnault, Jocelyne 111, 115 Lavater, Johann Caspar 291 Lehmann, Karl 288 Leibniz, Gottfried Wilhelm 39, 239 ff., 285 Leonhardt, Rochus 191 Levieils, Xavier 114 Levinas, Emmanuel 34, 255 ff. Lexutt, Athina 180 Leyser, Conrad 108, 119 Link, Christian 170, 179, 189 f. Lohfink, Gerhard 70 Lohse, Bernhard 199 Lohse, Eduard 288 Lössl, Josef 90, 118 f. Lubac, Henri de 211 f. Luis de Molina 108 Luther, Martin 8, 13, 19, 25, 41, 44 f., 48, 167, 169–180, 182–193, 199– 204, 208, 213, 222, 257, 288–291, 310

Kafka, Franz 286 Kaiser, Alfred 211 Kannengiesser, Charles 147 Kant, Immanuel 7 ff., 1 f., 15–19, 22– 32, 37–41, 44–48, 50, 65–68, 83, 88, 107, 167 ff., 171, 175 f., 185, 191 ff., 205–208, 233, 238–247, 248–294, 296–314 Kany, Roland 26 Karfíková, Lenka 42 Kasper, Clemens 118 ff. Katayanagi, Eiichi 129 Kienzler, Klaus 134 Kinzig, Wolfram 114 Kleist, Heinrich 36 Klemme, Heiner F. 275 Klima, Gyula 146 Kopp, Sebastian 118 Krebs, Engelbert 117, 125

MacCulloch, Diarmaid 175 Macken, Raymond 163 Madec, Goulven 112 Maier, Theresia 41, 128 Mandonnet, Pierre 146 f., 162 Mani 93 Mark Aurel 300 f. Martin, Gottfried 238 Marx, Karl 323 Mayer, Cornelius 129 McGrath, Alister E. 95 McHugh, Michael P. 120 Macken, Raymond 163 McKenna, Michael 145 Meister Eckhart 15, 48 Mejía, Jorge Maria 210 Melanchthon, Philipp 184 ff. Memorius (Bischof) 90 Mendelssohn, Moses 309

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Personenregister Menke, Karl-Heinz 69 Menzer, Paul 251, 262 ff. Michalson, Gordon E. 281 Miethke, Jürgen 164 Montaigne, Michel de 303 Montcheuil, Yves De 211 Morigny, Thomas von 159 Morlet, Sébastien 112 f. Müller, Gerhard Ludwig 108, Müller, Hildegund 147 Müller, Jörn 163 Murdoch, John Emery 146 Mutschelle, Sebastian 16 Mutzenbecher, Almut 111 Naab, Erich 43, 152, 159, 163 Nancy, Jean Luc 316 Neiman, Susan 270 Newald, Richard 169 f., 173, 178 Nietzsche, Friedrich 46, 277, 291, 311 f. Nocke, Franz-Josef 80 Numa Pompilius 115 O’Connell, Robert Joseph (John) 137 O’Donnell, James Joseph 138 Ogliari, Donato 119, 123, 125, 128 Orcibal, Jean 221 Origines 114, 176 f. Ott, Ludwig 69 Ovid 115, 151 Pascal, Blaise 15, 141 Patte, Daniel 138 Paulus (Apostel) 8, 11, 19, 53, 60, 71, 75 f., 98, 101, 105, 118, 138, 140 f., 146, 173, 177, 269, 288 ff., 319, 321 Peckham, John 165 Pelagius 50, 57 ff., 66, 92, 99, 106, 108, 117 ff., 128 f., 147, 170, 210, 319 Peppermüller, Rolf 159 Perl, Carl Johann 112 Pesch, Otto Hermann 77, 87 Peters, Albrecht 77, 87 Petrus Aureoli 165 Petrus Lombardus 153 f., 157, 210 Pico della Mirandola, Giovanni 175 Pietri, Charles 119

Platner, Ernst 191 Platon 19, 33–36, 40, 82, 135, 137, 195, 290, 294 f., 302, 306, 309, 316 f. Plessing, Friedrich Victor Leberecht 303 Plotin 20, 34 ff., 137 Porphyrius 112, 137 Porro, Pasquale 163, 227 f. Prauss, Gerold 255, 259, 286 Prestel, Peter 76 Prosper Tiro von Aquitanien 120 Raffelt, Albert 309 Rahner, Karl 69 f., 78, 86, 119, 125 Ramsey, Boniface 119 Refoulé, François 90 Renwart, Léon 210, 212 Ridder, Axel 258 Rieger, Hans-Martin 193 Rilke, Rainer Maria 286 Ring, Thomas Gerhard 109 ff. Robert Kilwardby OP 165 Rosenau, Hartmut 73 Rousseau, Jean-Jacques 47, 255, 271 f., 314 Sargentis, Konstantinos 268 Sartre, Jean-Paul 316 Schelkens, Karim 211 Schlette, Heinz Robert 159 Schmaus, Michael 269 Schmidt-Leukel, Perry 72 Schmitt, Franciscus Salesius 132, 134 Schmutz, Jacob 213 Schöllgen, Werner 165 Schott, Jeremy M. 114 Schulte, Christoph 277 Schwaiger, Clemens 262, 306 Schwarz, Gerhard 292 Seidl, Horst 13, 45 Seneca 290 Serapion von Thmuis 93 Siger von Brabant 43, 146 f., 162, 166 Silber, John R. 248 Simplician (Bischof) 11 Sirovátka, Jakub 13, 45, 294 A

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Personenregister Sixtus III (Papst) 118 Smalbrugge Matthias 221 Smulders, Pieter 211 Sokrates 23, 135 Speer, Andreas 146 Spinoza, Baruch de 32 Stakemeier, Eduard 209 Stangneth, Bettina 277 Stark, Werner 262 Starobinski, Jean 272 Stäudlin, Carl Friedrich 250 Stein, Markus 93 Strabo, Walahfried 154 Strawson, Peter 63 Sturma, Dieter 255 Suárez, Francisco 43, 212, 214 ff., 223 f., 231 Sweeney, Eileen 131 Tapper, Ruard 211 Tarcisius Jen van Bavel 228 Tempier, Stefan (Bischof von Paris) 43, 146 f., 153, 160, 162 f., 166 Tertullian 77, 93, 138, 148, 156 TeSelle, Eugene 138 Teske, Robert J. 164, 210 Thomas von Aquin 22, 33, 43, 146, 162–166, 210, 222, 268, 308

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Troeltsch, Ernst 208 Tugendhat, Ernst 260 Ubl, Karl 146 Vaihinger, Hans 238 Van Fleteren, Frederick 42, 133 f. Vaucanson, Jacques de 47 Verbeke, Gerard 136 Vergil 106 Verschoren, Marleen 97 Vorgrimler, Herbert 69 f. Walgrave, Jan Hendrik 209 Weisheipl, James A. 162 Wermelinger, Otto 99 Willaschek, Marcus 280 Wimmer, Reiner 285, 298 Winter, Aloysius 22, 240, 309 Wolff, Christian 239 f. Wörter, Friedrich 119 Wundt, Max 16 Wyclif, John 179, 200 Zenger, Erich 71 Zosimus (Papst) 117, 160 Zumkeller, Adolar 109, 116, 120, 122, 124–127

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Autorenverzeichnis

Brachtendorf, Johannes Geb. 1958; Prof. Dr. phil.; Studium der Philosophie, Kath. Theologie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte in Bochum, Berlin, Regensburg, Wien und Tübingen; Professuren an den Universitäten in Innsbruck und der Villanova University (USA); 2003–04 Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie in Paderborn; seit 2004 Lehrstuhl für philosophische Grundfragen der Theologie an der Universität Tübingen; Leiter des Tübinger Augustinus-Zentrums und Hauptherausgeber der lateinisch-deutschen Gesamtausgabe der Werke Augustins (Schöningh Verlag); Mitherausgeber von The Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine. Veröffentlichungen: Fichtes Lehre vom Sein. Eine kritische Darstellung der Wissenschaftslehren von 1794, 1789/99 und 1912 (1995); Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in De Trinitate (2000); (Hg.), Gott und sein Bild – Augustins ›De Trinitate‹ im Spiegel gegenwärtiger Forschung (2000); (Hg.), Prudentia und Contemplatio – Ethik und Metaphysik im Mittelalter (2002); Augustins Confessiones (2005); Augustinus, De libero arbitrio. Einleitung und Übersetzung (2006); (Hg. mit Nickel, Schade, Möllenbeck): Unendlichkeit – Philosophische, theologische und mathematisch-naturwissenschaftliche Perspektiven (2008). Hg. mit Stephan Herzberg: Einheit und Vielheit als metaphysisches Problem (2011). Zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften, Sammelbänden und Lexika.

Bruckmann, Florian Geb. 1974; Dr. theol. habil.; Studium der Katholischen Theologie in Würzburg, Jerusalem und Bonn. Promotion in Bonn (2003); Habilitation für Dogmatik in Eichstätt (2007). Seit 2003 wiss. Mitarbeiter/Assistent/Privatdozent am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seit WS 2011/12 Lehrstuhlvertretung für Fundamentaltheologie und Dogmatik in Bamberg. Buchveröffentlichungen: nwsi@ kat3 ¢pstasin. Die ersten zehn Anathematismen des fünften ökumenischen Konzils (Konstantinopel 553) als Dokument neuchalkedonischer Christologie. In: AHC 36 (2004) 1–166; 259–388. Die Schrift als Zeuge anaA

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loger Gottrede. Studien zu Lyotard, Derrida und Augustinus. (2008). Mitarbeit an Christoph Böttigheimer (Hg.): Kircheneinheit und Weltverantwortung. Festschrift für Peter Neuner (2006); Religionsfreiheit – Gastfreundschaft – Toleranz. Der Beitrag der Religionen zum europäischen Einigungsprozess (hg. mit Christoph Böttigheimer) (2009); Das Bekenntnis zu Christus im Kontext des Trinitätsglaubens (2010). Beiträge u. a.: »Gemeinde – lebendige Buchstaben«: Nach Levinas Taufe (als Namensgebung) denken. In: Maria Neubrand (Hg.), »Lebendige Gemeinde«. Beiträge aus biblischer, historischer, systematischer und praktischer Theologie. (2005, 189– 199). Gut und Gabe. Ethisch Sprechen als Geburt des Subjekts bei Emmanuel Levinas. In: Norbert Fischer/Jakub Sirovátka (Hg.): »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas (2006; 61–83). 2008: Papst Benedikt XVI. Forschungs- und Wissenschaftspreis (für die Habilitation Die Schrift als Zeuge analoger Gottrede. Studien zu Lyotard, Derrida und Augustinus).

D’Aniello, Giovanna Geb. 1977; Dr. phil., Studium an der Universität Bari und an der Freien Universität Berlin. Forschungsaufenthalte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/i. Br., an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, an der Katholischen Universität Löwen. Seit 2003 Mitredakteurin der Internationalen Zeitschrift Quaestio. Jahrbuch für die Geschichte der Metaphysik (hg. von Costantino Esposito/ Pasquale Porro); seit 2006 Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Universität Bari. Buchveröffentlichungen: Filosofia moderna (hrsg. 2006); Una ontologia dialettica. Fondamento e autocoscienza in Schleiermacher (Diss. 2007). Aufsätze (Auswahl): Algunas observaciones sobre la relación Gadamer-Schleiermacher (2003); Wandlungen in Schleiermachers Erfahrungsverständnis (2005); Das Wesen des Christentums als geschichtliche Erfahrung des Bewußtseinslebens (2006); Autocoscienza e fondamento in Friedrich Schleiermacher (2010); Von der Religion zur Theologie (und zurück). Schleiermacher als Schüler Eberhards? (2012); Francisco Suárez über die Wirksamkeit der Gnade: Einige Überlegungen im Anschluß an Augustinus (2012); L’intentio animi nella sintesi agostiniana di Cornelis Jansen (2012); ›Oneself as Another‹. The daring Inversion by Paul Ricœur (2012).

Danz, Christian Geb. 1962; Prof. Dr. theol.; 1985–1990 Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Jena; 1994 Promotion; 1999 Habilitation; 2000–2002 Vertretung der Professur für Systematische Theologie an der Universität Essen;

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seit 2002 Professor für Systematische Theologie A.B. an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien. 2004–2006 Stellvertretender Vorsitzender und seit 2006 Vorsitzender der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e. V. Mitglied der Kommission zur Herausgabe der Schriften F. W. J. Schellings der Philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Monographien: Die philosophische Christologie F. W. J. Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996; Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000; Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005; Gott und die menschliche Freiheit. Studien zum Gottesbegriff in der Neuzeit, Neukirchen-Vluyn 2005; Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, Neukirchen-Vluyn 2007; Die Deutung der Religion in der Kultur. Aufgaben und Probleme der Theologie im Zeitalter des religiösen Pluralismus, Neukirchen-Vluyn 2008; Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010. Herausgeber zahlreicher Bücher zu theologischen und religionsphilosophischen Themen.

Eichhorn, Mathias Geb. 1959; Dr. theol.; Studium der Politikwissenschaft und der ev. Theologie an der Johann-Goethe-Universität in Frankfurt am Main für das Lehramt. Promotion im Fach Politikwissenschaft in Frankfurt am Main. Lehrer an der Elisabethenschule in Frankfurt am Main in den Fächern ev. Religion, Politik und Wirtschaft, Geschichte, Philosophie und Ethik. Buch-Veröffentlichungen: Es wird regiert! Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts in den Jahren 1919–1938 (Berlin 1994); Paulus und die imperiale Theologie der Evangelien. Das Neue Testament als politischer Machtdiskurs. (Berlin 2011).

Fischer, Norbert Geb. 1947; Prof. Dr. phil.; Studium der Philosophie, Theologie und Germanistik in Mainz und Freiburg/Breisgau. Promotion (1978) und Habilitation im Fach Philosophie in Mainz (1985); Professuren für Philosophie in Mainz (1986–1989) und Trier (1989–1991); erster Lehrstuhl für Philosophie in Paderborn (1991–1995); seit 1995/96 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Buchveröffentlichungen in Auswahl: Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur speziellen Metaphysik an Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ (1979). Augustins Philosophie der Endlichkeit. Zur systematischen Entfaltung seines Denkens aus der Geschichte der Chorismos-Problematik (1987). Die philosophische Frage nach Gott. Ein Gang durch ihre Stationen (1995; Übersetzungen in mehrere Sprachen). Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas (1999; Kant-Teil von Norbert Fischer; Levi-

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nas-Teil von Dieter Hattrup). Tätigkeit als Herausgeber: Die ›Confessiones‹ von Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern (mit Cornelius Mayer; 1998; Sonderausgabe 2004). Aurelius Augustinus: Was ist Zeit? Confessiones XI/Bekenntnisse II. (2000). Freiheit und Gnade in Augustins Confessiones. Der Sprung ins lebendige Leben (mit Dieter Hattrup und Cornelius Mayer; 2003). Kants Metaphysik und Religionsphilosophie (2004). Irrwege des Lebens. Augustinus: ›Confessiones‹ I-6 (mit Dieter Hattrup; 2004). Kant und Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte (2005). Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Augustinus: ›Confessiones‹ 11–13 (mit Dieter Hattrup; 2006). Aurelius Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X/Bekenntnisse 10 (2006). »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas. (mit J. Sirovátka) (2006); Selbsterkenntnis und Gottsuche. Augustinus: ›Confessiones‹ 10 (mit Dieter Hattrup; 2007). Heidegger und christliche Tradition. Annäherung an ein schwieriges Thema (mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann; 2007); Selbsterkenntnis und Gottsuche. Augustinus: ›Confessiones‹ 10. (mit D. Hattrup) (2007); Sein und Sollen des Menschen (mit Chr. Böttigheimer/M. Gerwing) (2008); Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens I. Von den Anfängen bis zur Reformation/II. Von Descartes bis in die Gegenwart (2009); Augustinus. Ein Lehrer des Abendlandes. Einführung und Dokumente. (mit C. Dittrich/E. Naab) (2009); Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ (2010). Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants (hg. mit Maximilian Forschner; 2010). Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (hg. mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann; 2010). Zahlreiche Beiträge in Sammelbänden, Fachzeitschriften und Lexika.

Fo¨rster, Guntram Geb. 1970; Studium der katholischen Theologie an der Universität Würzburg; 2000–2007 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moraltheologie der KU Eichstätt-Ingolstadt; seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen: (Un-)Antastbarkeit der Menschenwürde? Zum Personverständnis der ›neuen Bioethiker‹. Eine Problemskizze. In: Vor der Uferwand der Endlichkeit. Sterben und Tod im Leben des Menschen. Hg. von Stefan E. Müller/ Erwin Möde (2005) 69–109; Ein universaler Heilsweg? Die Auseinandersetzung des hl. Augustinus mit Porphyrios in De civitate Dei X, in: ›Lebendige Gemeinde‹. Beiträge aus biblischer, historischer, systematischer und praktischer Theologie. Hg. von Maria Neubrand (2005) 284–313; Mitherausgeberschaft mit Christof Müller und Andreas E. J. Grote: Spiritus et Littera. Beiträge zur Augustinus-Forschung. Festschrift zum 80. Geburtstag von Cornelius Petrus Mayer OSA (2009); Mitherausgeberschaft mit C. Mayer/Chr.

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Müller: Augustinus – Schöpfung und Zeit (2012 im Druck). Vorbereitung einer Dissertation zu Augustinus: Quaestiones expositae contra paganos numero sex (= Epistula 102); freie Mitarbeit der überregionalen katholischen Zeitung »Die Tagespost«.

Forschner, Maximilian Geb. 1943; Prof. Dr. phil. Studium der katholischen Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Dillingen und an der Ludwig-Maximilians-Universität München, danach bis 1972 Studium der Philosophie, Pädagogik und Fundamentaltheologie an der LMU. Dort 1972 Promotion in Philosophie; Habilitation für Philosophie in Erlangen (1980). Von 1982–1985 Ordinarius für Philosophie an der Universität Osnabrück (Abteilung Vechta). Von 1985–2008 Inhaber des dritten Lehrstuhls für Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei Immanuel Kant (1974); Rousseau (1977); Maximilian Forschner/Alfred Schöpf/Wilhelm Vossenkuhl/Otfried Höffe (Hrsg.): Lexikon der Ethik (1977); Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System (1981, 2 1995; 2005 Sonderausgabe); Mensch und Gesellschaft. Grundbegriffe der Sozialphilosophie (1989); Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas v. Aquin, Kant (1993, 2 1994); Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung (1998); M. Forschner, H.-G. Nesselrath, B. Bäbler u. A. de Jong: Dion von Prusa, Menschliche Gemeinschaft und göttliche Ordnung: Die Borysthenes-Rede (2003); Thomas von Aquin (2006); Maximilian Forschner/ Christoph Horn/Wilhelm Vossenkuhl/Otfried Höffe (Hrsg.): Lexikon der Ethik (7. neu bearbeitete und erweiterte Aufl. 2008). Hg. mit N. Fischer: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants (2010). Schwerpunkte: Praktische Philosophie – griechische und römische Antike; Mittelalter, bes. Thomas von Aquin; europäische Aufklärung, insbes. Immanuel Kant; JeanJacques Rousseau, John Stuart Mill.

Karfı´kova´, Lenka Geb. 1963; Prof. Dr. theol.; Studium der Theologie an den Universitäten in Prag und Eichstätt. 1996 Promotion in Theologie an der KU in Eichstätt; 1999 Habilitation an der Universität in Olmütz. Dozententätigkeit an der Universität Olmütz, dort 2000–2004 Leiterin des Zentrums für patristische, mittelalterliche und Renaissance-Studien (Einrichtung der Universitäten Olmütz, Brünn und der Akademie der Wissenschaften in Prag); ab 2001 Dozentin für Mittelalterliche Philosophie an der PhF der Karlsuniversität in Prag, ab 2005 Lehrstuhl für Philosophie an der evangelischen ThF der Karlsuniversität in

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Prag. Zahlreiche Forschungsaufenthalte im Ausland (Paris, Genf, Münster, Eichstätt, Konstanz, London, Fribourg/Schweiz). Veröffentlichungen: De esse ad pulchrum esse. Schönheit in der Theologie Hugos von St. Viktor (Turnhout 1998); Grace and Will according to Augustine (im Druck, Brill); Hrsg. (mit S. Douglass, J. Zachhuber): Gregory of Nyssa: Contra Eunomium II (Leiden 2007); Hrsg. (mit M. Havrda): Nomina divina (Fribourg/Schweiz 2011); Aufsätze: Ad Ablabium, Quod non sint tres dei (in: Gregory of Nyssa: The Minor Treatises on Trinitarian Theology and Apollinarism, hrsg. V. H. Drecoll und M. Berghaus, Leiden 2011, 131–168); Die Unendlichkeit Gottes und der unendliche Weg des Menschen nach Gregor von Nyssa (in: Sacris erudiri, 40, 2001, 47–81); Theú symmachia. Zur Gnadenlehre Gregors von Nyssa (in: Byzantinoslavica, 62, 2004, 11–46); Augustins Polemik gegen Apuleius (in: Apuleius, De deo Socratis – Über den Gott des Sokrates, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von M. Baltes u. a., Darmstadt 2004, 162–189); Res significare habent. Exegese der Schrift und der Wirklichkeit nach Hugo von St. Victor (in: Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis, hrsg. P. Pokorny´ und J. Roskovec, Tübingen 2002, 310–322). Übersetzungen und Herausgebertätigkeit der Texte von Anselm von Canterbury, Hugo von St. Viktor, Thierry von Chartres, Richard von St. Viktor, Johannes Scotus Eriugena, Gregor von Nyssa, Peter Abaelard. Drei Monographien, zahlreiche Beiträge in Sammelbänden und Fachzeitschriften auf Tschechisch.

Maier, Theresia Geb. 1979; Studium der kath. Theologie in Eichstätt (1999–2004); Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für mittlere und neue Kirchengeschichte (2005–2007); seit 2007 Studium der klassischen Philologie an der Eberhard Karls-Universität Tübingen, unterrichtet seit 2010 Griechisch am Ambrosianum Tübingen. Veröffentlichungen: Forma vitae. Eine Interpretation der Ordensregel der heiligen Klara von Assisi. In: Wissenschaft und Weisheit 70 (2007), 3–61; wieder abgedruckt in: Klara von Assisi. Zwischen Bettelarmut und Beziehungsreichtum. Beiträge zur neueren deutschsprachigen Klara-Forschung, hg. von Bernd Schmies (Franziskanische Forschungen, Band 51), Münster 2011, 327–374. Redaktionelle Mitarbeit am Lehrstuhl für Phil. Grundfragen der Theologie in Eichstätt (Kant und der Katholizismus; Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens; Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants).

Naab, Erich Geb. 1953; Prof. Dr. theol. Studium der Katholischen Theologie in Eichstätt, Regensburg und Freiburg; Promotion und Habilitation für Dogmatik in Eich-

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stätt. Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Buchveröffentlichungen u. a.: Das eine große Sakrament des Lebens. Studie zum Kirchentraktat des Joseph Ernst (1804–1869) mit Berücksichtigung der Lehrentwicklung in der von ihm begründeten Schule (1985); Zur Begründung der analogia entis: Eine Erörterung (1987); Die Gegenwart Gottes in der Gnade. Universalität und Relation der Gnade nach Eichstätter Theologen im 19. Jahrhundert (2002); Tätigkeit als Herausgeber: Augustinus: Über Schau und Gegenwart des unsichtbaren Gottes. Texte mit Einführung und Übersetzung (1998); Den Glauben nicht beherrschen, doch eure Freude unterstutzen (hg. mit Christoph Böttigheimer) (2008); Augustinus. Ein Lehrer des Abendlandes. Einführung und Dokumente (hg. mit Norbert Fischer und Constanze Dittrich) (2009); Weltoffen aus Treue. Studientag zum Zweiten Vatikanischen Konzil (hg. mit Christoph Böttigheimer) (2009). Schriftleiter und Mitherausgeber des Handbuchs der Dogmengeschichte. Zahlreiche Aufsätze in Sammelbänden, Zeitschriften und Lexika u. a. zur Ekklesiologie und Gnadenlehre, zu Augustinus, Thomas von Aquin und Erich Przywara.

Seidl, Horst Geb. 1938; Prof. Dr. phil.; Studium der Alten Geschichte, der Klassischen Philologie und der Philosophie an der Universität München, a. o. Professor dort 1970–1978, Ordinarius für Antike Philosophie an der Kathol. Universität Nimwegen 1979–1988, für ›Ethik‹ an der Lateran-Universität Rom: 1988– 2004, für ›Antike Philosophie… 2004–2008. Seit der Emeritierung dort als Visiting Professor tätig. Regelmäßige Gastvorlesungen in Deutschland und China (Normal University of Shanghai). Neuere Veröffentlichungen (u. a.): Vom Dasein zum Wesen des Menschen (2001). Zum Verhältnis von Philosophie und Religion (2001). Gentechnologie in ethischer Beurteilung (2003). Heideggers Fehlinterpretation antiker Texte (2005). Realistische Metaphysik (2006). Evolution und Naturfinalität (2008). Einführung in die antike Philosophie (2010).

Sirova´tka, Jakub Geb. 1971; Dr. phil. habil.; Studium der Philosophie, Theologie und Psychologie in Eichstätt und Rom. Promotion (2004) und Habilitation in Philosophie (2012) in Eichstätt; Ak. Rat am Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Universität Eichstätt-Ingolstadt; seit 2012 Privatdozent. Buchveröffentlichungen: Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas. (2006). Tätigkeit als Herausgeber: Emmanuel Levinas: Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der praktischen Vernunft. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie (2004, 179–204); »Für das Unsichtbare sterben«. Zum

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100. Geburtstag von Emmanuel Levinas. (zusammen mit Norbert Fischer; 2006). Beiträge u. a.: Den ›Alleszermalmer‹ zermalmt? Der Streit um Kant: Joseph Weber (1753–1831), Stattlers (1728–1797) ›Anti-Kant‹ und Bischof Sailer (1751–1832). In: Norbert Fischer (Hg.): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte. (2005, 263–28); Der Primat des Praktischen. Der Vorrang des sensus moralis in der Schriftauslegung der beiden letzten Bücher der Confessiones. In: Norbert Fischer/Dieter Hattrup (Hg.), Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Confessiones 11–13 (2006, 141–153); Ethik als Anspruch der Heiligkeit. Zu Leben, Werk und Wirkung von Emmanuel Levinas. In: Norbert Fischer/Jakub Sirovátka (Hg.), »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas (2006, 9–23); Menschenrechte als das Recht des Anderen. Zur Frage der Menschenrechte in der Philosophie von Emmanuel Levinas in: Christioph Böttigheimer/Norbert Fischer/Manfred Gerwing (Hg.): Sein und Sollen des Menschen, Münster 2009, 131–142; Die gefährdete Subjektivität. Das Verhältnis Paul Ricœurs zum Denken Augustins in: Norbert Fischer (Hg.): Augustinus – ein Lehrer des Abendlandes. Spuren und Spiegelungen seines Denkens von der Frühscholastik bis in die Gegenwart II (2008) 281–292; Zum Kanon der reinen Vernunft in: Norbert Fischer (Hg.): Kants Grundlegung der kritischen Metaphysik. Einführung und Interpretationen zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ (2010), 375–390.

Van Fleteren, Frederick Geb. 1941; Prof. Dr. phil.; Full Professor an der LaSalle University (Philadelphia PA, USA); Augustine Institute. Veröffentlichungen: Intellectual Ascent in St. Augustine’s ›Dialogues of Cassiciacum‹ (1972); Authority and Reason, Faith and Understanding in the Thought of St. Augustine (1973); Confessiones VII: The Ascents at Milan (1975); Per speculum et in aenigmate. Augustine’s exegesis of 1. Corinthians 13:12 (1995); Augustine’s Principles of Exegesis, De doctrina Christiana aside (1996). Herausgebertätigkeit: Augustine: Mystic and Mystagogue (mit J. Schnaubelt/J. Reino) (1994); Proceedings of the PMR Conference, 19–20: Patristic, medieval and renaissance studies (mit K. Gersbach/J. Schnaubelt) (1997); Saint Anselm – A Thinker for Yesterday and Today (mit C. E. Viola) (2002); Martin Heidegger’s Interpretation of Saint Augustine: Sein und Zeit und Ewigkeit, editor (2005). Herausgeber der Collectanea Augustiniana; Mitherausgeber der Augustinian Studies, Augustine Encyclopedia.

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Wandmalerei unterhalb der Kapelle Sancta Sanctorum beim Lateran (Foto von Norbert Fischer, digitale Restaurierung von Oliver Motz).

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Ölgemälde von Gottlieb (Theophil) Doebler (mit Erlaubnis des Museum Stadt Königsberg in Duisburg)

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