dating.21: Liebesorganisation und Verabredungskulturen [1. Aufl.] 9783839406113

Der Band spürt der medial gelenkten Verabredungskultur unserer Zeit nach, legt ihre kultur- und medienhistorischen Urspr

159 42 2MB

German Pages 250 [252] Year 2015

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Table of contents :
Cover dating.21
Inhalt
Vorrede
»Zeigt mir, wen ich begehren soll«. Begegnung und Internet
Nah und Fern. Zur kulturellen Logik digitaler ›Begegnungen‹
Begegnungen als Vergegnungen. Die Urbanisierung des elektronischen Netzes
Liebeskommunikation in Datenlandschaften
Wer ich bin und was ich kann. Liebes- und Arbeitssuche als netzbasierter Kompetenzdiskurs
Doppelte Verführung. Über Formen der Liebe, Formen der Begegnung – und über die Unmöglichkeit, etwas über das Netz und die Liebe sagen zu können
Ver-Mittlung und Diskretheit. Sex versus Gender – oder weshalb auch im Web 2.0 (n.n) kein Verhältnis zu haben ist
Verabredung mit Unbekannten. Zur sozialen Funktion von Dating-Shows im Fernsehen
»Ich treffe dich… « Die Verabredung als künstlerische Form und eine damit verbundene Politik der Sichtbarkeit
Der »tag« ist das Bild. »Ich«-Sharing im kollektiven Universum der visualisierten Schlagworte
Die Taktik der Vereinnahmung. Zur Architektur von Dating-Interfaces
Taktik und Taktung. Eine Diskursanalyse politischer Online-Proteste
Wem gehören die Beziehungen im Netz? Über Individualisierung, Ökonomie und Herrschaft im Web 2.0
Zu den Autor/-innen
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dating.21: Liebesorganisation und Verabredungskulturen [1. Aufl.]
 9783839406113

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Marc Ries, Hildegard Fraueneder, Karin Mairitsch (Hg.) dating.21

Marc Ries, Hildegard Fraueneder, Karin Mairitsch (Hg.) dating.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen

Gefördert aus Mitteln des österreichischen Impulsprogrammes Fhplus im Rahmen des Forschungsprojektes »Kompetenznetzwerk Mediengestaltung« und aus Mitteln des Studienganges MultiMediaArt an der Fachhochschule Salzburg. http://www.media.coop/ http://www.fh-salzburg.ac.at/ Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, nach einem Entwurf von Hans Renzler Lektorat: Gabor Karsay Satz: Christine Jüchter und Birgit Klöpfer, Paderborn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-611-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorrede KARIN MAIRITSCH 7

»Zeigt mir, wen ich begehren soll«. Begegnung und Internet MARC RIES 11

Nah und Fern. Zur kulturellen Logik digitaler ›Begegnungen‹ WOLFGANG MÜLLER-FUNK 25

Begegnungen als Vergegnungen. Die Urbanisierung des elektronischen Netzes MARTINA LÖW, SERGEJ STOETZER 47

Liebeskommunikation in Datenlandschaften LUTZ ELLRICH, CHRISTIANE FUNKEN 67

Wer ich bin und was ich kann. Liebes- und Arbeitssuche als netzbasierter Kompetenzdiskurs WOLFGANG KELLNER 99

Doppelte Verführung. Über Formen der Liebe, Formen der Begegnung – und über die Unmöglichkeit, etwas über das Netz und die Liebe sagen zu können CHRISTIAN EIGNER, MICHAELA RITTER 117

Ver-Mittlung und Diskretheit. Sex versus Gender – oder weshalb auch im Web 2.0 (n.n) kein Verhältnis zu haben ist SUSANNE LUMMERDING 125

Verabredung mit Unbekannten. Zur sozialen Funktion von Dating-Shows im Fernsehen VRÄÄTH ÖHNER 141

»Ich treffe dich… « Die Verabredung als künstlerische Form und eine damit verbundene Politik der Sichtbarkeit HILDEGARD FRAUENENDER 151

Der »tag« ist das Bild. »Ich«-Sharing im kollektiven Universum der visualisierten Schlagworte BIRGIT RICHARD, ALEXANDER RUHL 173

Die Taktik der Vereinnahmung. Zur Architektur von Dating-Interfaces PATRICK KRANZLMÜLLER 193

Taktik und Taktung. Eine Diskursanalyse politischer Online-Proteste OLIVER MARCHART, STEPHAN ADOLPHS, MARION HAMM 207

Wem gehören die Beziehungen im Netz? Über Individualisierung, Ökonomie und Herrschaft im Web 2.0 ROLAND ALTON-SCHEIDL, THOMAS BARTH 225

Zu den Autor/-innen 243

VORREDE KARIN MAIRITSCH Seltsam geht jeder Begegnung ein ursächlich spontanes Moment nach innen gekehrter Bezogenheit voraus.

Als ich dem Themenvorschlag *DATING* begegnete (es war im Gang zur Cafeteria, übermittelt durch einen Kollegen und gewidmet dem alljährlich stattfindenden Symposium und Festival Basics1), stellte sich dieses Moment nach innen gekehrter Bezogenheit ein, vergleichbar mit dem Gespür einer Wissensnomadin oder dem funktionalen Instinkt einer Suchenden oder dem intuitiven Überlebenswillen von Entscheidungsträger/ -innen oder dem Innehalten vor stürmischem Denken. Es begründete die nachfolgende Zustimmung. Es begründet den Griff nach dem Buch? Das (später) gewachsene Interesse, also die ernst zu nehmende (thematische) Begegnung im Zuge der Vorbereitungen für Basics, die jetzt so prägnant in Buch gefasst auf Lesen wartet, ließ mich das Moment vergessen, wie wir häufig vergessen (vorausgesetzt wir waren uns jemals gewahr), warum wir jenes Buch kauften oder diese Entscheidung trafen

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Basics. Medien | Kunst | Gesellschaft ist das Festival für aktuelle Kunstprojekte und theoretische Reflexionen, das sich mit der Schnittmenge neuer künstlerischer, medientechnologischer und gesellschaftlicher Perspektiven auseinandersetzt. Das vorrangige Leitmotiv der Veranstalter/-innen (ARGEkultur, Galerie 5020, subnet und MultiMediaArt/Fachhochschule Salzburg) ist nicht die technische Innovation, die Aufmerksamkeit gilt vielmehr der intensiven Wechselwirkung diskursiver und künstlerischer Arbeiten, ein Symposium ist daher integraler Bestandteil des Festivals. Basics fand 2004 zum ersten Mal statt und thematisierte Grundlagen, Strukturen und künstlerische Perspektiven der Neuen Selbstverständlichkeiten, die uns umgeben. 2005 waren »Zeit und Beschleunigung« thematischer Mittelpunkt des Festivals, 2006 war es dem Phänomen »Suchen und Finden« gewidmet. Mehr dazu unter: http://www.basics-festival.net/. Für den Studiengang MultiMediaArt an der Fachhochschule Salzburg ist Basics integraler Bestandteil der Forschungsleistung. 7

KARIN MAIRITSCH

oder jene Beziehung lebten (und uns eher erinnern, wie der Inhalt des Buches fesselte und welche Konsequenzen die Entscheidung mit sich brachte oder wie die Beziehung war). Und erst jetzt, nachdem ich ernsthaft vor die Aufgabe gestellt bin, einleitende Worte für die vorliegende Publikation zu schreiben, erinnere ich mich. Und ich erinnere mich, weil ich der Frage meines Zugangs zu *DATING* nachging, weil alles irgendwo seinen Anfang nahm, was für einen Abschied (und das Loslassen von Gedanken in die Öffentlichkeit ist ein Abschied) von Bedeutung ist. Ich bin also nicht diejenige, die das Thema oder den Titel gefunden hat und Ihnen jetzt eine Defintion gibt, ebenso wenig wie ich diejenige bin, die die Inhalte im Detail festgelegt oder koordiniert oder verfasst hat und Ihnen jetzt einen Überblick verschafft. In meiner Funktion als Studiengangsleiterin MultiMediaArt habe ich dem *DATING* Raum und Realisation ermöglicht. Und wäre jetzt nicht dieses Thema (*DATING*, noch dazu *21*) zur Disposition, dann wäre es ein denkbar einfacher Sachverhalt: Um eine Publikation (zum Beispiel) zu realisieren, braucht es eben Autor/-innen UND Manager/-innen. Mit einem Satz gelöst. Und gleichzeitig verursacht die Kontextualisierung *DATING.21* eine andere Dimension: Als Manager/-in soll die Funktion Primat haben und Handeln instrumentalisierend, also zweckdienlich sein. Demnach sind Verkaufszahlen oder außergewöhnliche wissenschaftliche Ansätze und deren Erfolg in der Community übliche Messkriterien für die Legitimierung a posteriori. Auch Dates sind nicht absichtslos, aber vielleicht – und das werden die nachfolgenden Ausführungen thematisieren – nicht gleichermaßen offensichtlich zweckdienlich oder anders zweckdienlich. Und weil im vorliegenden Falle der Zweck nicht a priori dienlich oder explizit war (das heißt: nicht zu erwarten war, dass wir einen Bestseller produzieren würden) und weil ich ihn zum Zeitpunkt meiner Entscheidung (Sie erinnern sich: am Gang. Im Grunde in einem Zwischenraum und in Bewegung von Einem zum Anderem und in nur einem Moment der Spontaneität, mich verlassend auf eine Referenz) schon gar nicht einschätzen konnte, musste die Begegnung mit dem Themenvorschlag als spontanes Moment nach innen gekehrter Bezogenheit eine Begegnung der besonderen Art gewesen sein, musste wohl eine reizvolle, wenn nicht erotische Komponente der anonymisierenden Unwissenheit zum Trotz (oder gerade deswegen?) mit eingeflossen sein, die mich zu wenig expliziten Entscheidungsgrundlagen verleiten ließ. Also im Grunde eine VORSTELLUNG, die fast genauso anonym, emotional und mit derselben Imaginationskraft wie ein Date im virtuellen Raum mit Unbekannten funktionierte. Ein Date mit der VORSTELLUNG von Erfolg, ein Date mit der VORSTELLUNG eines Themas, dessen Erkenntnisse irgendwann faszinieren, die

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VORREDE

Gedanken anregen, Wissen erweitern könnten, ein DATE, in dem ich mir zusammenfassend Sie als Leser/-innen in unterschiedlichen Identitäten (als Wissensbegierige, als Käufer/-innen, als Datingspezialist/-innen, als virtuell Partner/-innensuchende etc.) vorstellte und mich selbst in unterschiedlichen Identitäten dazugesellte. Gewiss beginnt auch Ihre Auseinandersetzung mit Vorstellungen. Und Sie begeben sich auf eine Reise. Ich darf Ihnen versichern, dass mit der vorliegenden Publikation mehr als ein Date gelungen ist. Für dieses Gelingen gilt mein besonderer Dank Hildegard Fraueneder und Marc Ries.

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»Z E I G T M I R , W E N I C H B E G E H R E N S O L L «. BEGEGNUNG UND INTERNET MARC RIES Je größer und unübersichtlicher das Kollektiv, die Welt, je anonymer und partikularisierter der Einzelne, umso mehr bedarf es Techniken des Sichtbarmachens der Anderen und Techniken der Verabredung mit Anderen. Anders gesagt: Je massiver der Zwang zur Individualisierung (individere) im globalen Feld, um so dringlicher werden raffinierte Strategien der Teilung (dividere), des sich Sich-Mitteilens und des SichTreffens, werden subjektive wie politische Strategien temporärer Entindividuierung und Exteriorisierung, mit denen das Gemeinsame, das Zusammen wichtiger wird als das Alleinsein, die »konstruierte Selbstverwirklichung« (Axel Honneth). In dieser Bewegung übernimmt das Internet als Kollektivtechnik, also als eine Technik, die Kollektivbildungen unterstützt, den Entwurf eines weltumspannenden relationalen Raumes, der über unterschiedliche konnektive Techniken gegenseitige Wahrnehmung und Begegnung ermöglicht. Das Denken dieses relationalen Raumes steht dem Verständnis einer physisch-geographisch bestimmten Objektwelt entgegen bzw. geht davon aus, dass sich der ausgedehnte Behälterraum durch symbolische, mediale Raumtechniken zusehends auflöst und als Erfahrungsraum sekundär wird, während der sozio-mediale Raum für die Individuen progessiv anwächst und eine Vielzahl auch neuer und notwendiger Beziehungen ermöglicht. Für Datingnetze ist zu beobachten, dass die Sehnsucht nach Kontakt auch eine nach der realen, der körperlichen Begegnung, der tatsächlichen Sichtbarkeit, Wahrnehmbarkeit und Austauschbarkeit mit dem Anderen ist. Die Zeichen und Informationen haben die Dinglichkeit der Waren überformt und ersetzt, nun sind es wiederum die Körper der sich verabredenden Menschen, die die Information, das Zeichen überwinden und in den Genuss des »Realen« kommen wollen. Ich werde im Folgenden in zwei Schritten das Verhältnis von Verabredung und Netz umkreisen, zunächst in einer kulturtheoretischen und ökonomischen Perspektive, sodann in einer Befragung der Medientech-

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nik »Internet«. In einer Vielzahl aktueller Studien zu diesem Verhältnis nimmt eine genau Darstellung der »Eigenlogik« des Netzes eine eher karge, periphere Rolle ein. Die Versuche, den Anderen zu »meinem Anderen« (Barthes) zu machen, sind nicht nur gesellschaftlichem Wandel unterworfen sind, sondern auch den Induktionen der in diesem Wandel »eigenmächtig« handelnden Medien, namentlich dem Internet. »Zeigt mir, wen ich begehren soll«, ist heute auch ein Dienst von Netzen.1

1. Die neue psycho-ästhetische Medialität der Verabredungskulturen der Gegenwart gründet in dem historischen Verständnis der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaftsform als einer expansiven Kultur der Verabredung und Begegnung mit Fremden, Anderen. Die Politiken der bürgerlichen Gesellschaft haben seit dem 17. Jahrhundert mit Humanismus und Aufklärung die Beziehungen zwischen den Ethnien, den Geschlechtern und Klassen sukzessive egalisiert, sie in Wahlbeziehungen überführt, also sie von Prinzipien der Gleichheit und Gemeinschaft aus versucht zu demokratisieren. Dieserart werden völlig neue Sichtbarkeiten und Kontaktnahmen auf und zu den jeweils Anderen möglich, die Wahrnehmung ist nun weniger ständegesellschaftlich als von subjektivem Interesse, von Neugierde und Begehren geleitet. Die Verabredungsmodalitäten selbst werden umfassend säkularisiert. Die Orte der Begegnung mit Gott und weltlicher Herrschaft werden um Orte der Begegnung der Menschen untereinander und mit dem gesellschaftlichen Geschehen ergänzt und in der Folge substituiert. Die auf diese Weise implementierte Kultur der Öffentlichkeit war und ist stets auch eine der Verabredung mit dem unbekannten Anderen, dem Andersdenkenden. Das vielleicht zentrale Movens dieser Multiplikation und Diversifikation an Begegnungen ist das nunmehr ubiquitär etablierte Existenzmodell der Individualisierung, also das Entlassen des Einzelnen in »eine Einsamkeit der Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Selbstgefährdung von Leben und Lieben« (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 13). Das aus Hierarchien und Tradi1

Titel und Motiv meines Textes entnehme ich dem mit »Induktion« gekennzeichneten Kapitel aus dem stets wundersam klugen Buch von Roland Barthes (1984): Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 149f. Barthes spricht dort von der »Gefühlsansteckung«, die »von den anderen, der Sprache, Büchern, Freunden aus[geht]: keine Liebe ist originell (Die Massenkultur ist eine Wunschvorzeigemaschine: hier ist das, was Sie interessieren wird, sagt sie, so als ob sie erriete, dass die Menschen unfähig sind, von allein darauf zu kommen, wen sie begehren).« 12

BEGEGNUNG UND INTERNET

tionen entbundene Individuum ist aufgefordert, seine sozialen Gefüge völlig autonom, in hoher Eigenleistung und in Abgrenzung und Anerkennung von Alteritäten zu organisieren. Wenngleich selbstbewusst und um einen inneren Kern kreisend, so doch in exzessiver Weise nach außen, in ein Außen geworfen, werden die für die eigene Position, das eigene Leben notwendigen Beziehungen organisiert. Es bleibt jedoch uneindeutig, ob diese Deregulierung und Exteriorisierung im Feld der Individuierung nun nicht auch die Zwangssuche nach neuen Motiven und Objekten des Zusammenkommens und Zusammenlebens provoziert hat. Medien haben in dieser neuen Kultur der Sichtbarmachung, der Konfrontation mit und der Suche nach dem Anderem eine prägende und prägnante Rolle gespielt. Der Briefverkehr, die Zeitungen, dann das Kino, das Telefon, Fernsehen und Internet, sie alle haben Begegnungen induziert, sie ermöglicht, vervielfältigt und verfeinert. Sie haben nicht nur die Wunschbilder eines bestimmten Anderen mitentworfen, sondern auch den unerwarteten, ungedachten und vielleicht auch unerwünschten Anderen mitgenommen und vorgeführt. Die Verabredung, die ich absichtsvoll mit dem Aufschlagen einer Zeitung oder dem Einschalten eines Radios eingehe, ist stets auch eine mit fremder Fremdheit, deren Wahrnehmung und Kenntnis von mir erwartet wird. Zunächst machen sich diese medialen Konnektionen als symbolische Begegnungen erfahrbar, in der Folge werden sie aber auch Instrumentarium für das leiblich-soziale Begegnen. In der historischen Perspektive ist es unklar, ob die Medien die selbstbestimmte Suche und den Umgang mit dem Anderen nur rahmen und verstärken oder aber bereits Indiz dafür sind, dass hier auch eine neue »Not« sich bemerkbar macht. Die Angst, in der Anonymität der modernen Gefüge, im Getriebe der Arbeit und Verwaltung zu »verschwinden«, unsichtbar zu werden, verlangt nach neuen Techniken der Kommunikation und der Verabredung, die zugleich neue Bedürfnisse, Entlastungen und Abhängigkeiten entstehen lassen.

Die Ware und ihre Käufer Dass die Menschen als Individuen »frei« zirkulieren und ihre Kontakte ebenso frei wählen können, ist wohl auch im Zusammenhang damit zu sehen, dass die Waren der neuen Ökonomie zu Beginn der Industrialisierung aus der Logik des Kapitals heraus frei zu zirkulieren beginnen. Die kapitalistische Ökonomie hat die Verabredung für ihre Zwecke und mit den ihr eigenen Widersprüchlichkeiten konzeptualisiert. Die Produktion produziert nicht nur eine Ware für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt

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für die Ware.2 Die Produktion produziert daher gleichermaßen die Konsumtion, indem sie die Weise, die Modalität der Konsumtion bestimmt. Diese Weise ist heute und modern gesprochen das »Display«. Von den Schaufenstern der Passagen über die Werbung in den Medien bis hin zur Internetseite von Ebay werden die Waren ausgestellt, sind sie auf der Suche nach ihren Käufern bzw. erzeugen allererst ein Bedürfnis für sich, erzeugen ein Konsumenten-Subjekt. Die Ware verabredet sich mannigfaltig mit den Konsumenten. Die Verabredung ist Teil ihrer Produktion. Das Display inszeniert die Ware und evoziert damit ein Bedürfnis nach ihr. Das heißt, die Ware verabredet sich nicht mit einem bereits existierenden Käufer, sondern diesen Käufer stellt sie idealiter über ihre Inszenierung erst her. Diese Struktur der Verabredung: sich mit jemandem verabreden, den man nicht kennt, also sich verabreden mit dem Unbekannten, auch mit dem Zufall, diese Logik der Begegnung soll in der Folge systematisiert und auf die mediale Begegnung übertragen werden. Marx hat hierzu in den »Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie« die maßgeblichen Spuren gelegt; ich möchte sie wiederaufnehmen und mit dem Netz – als einer besonderen Produktionsform – parallelisieren. Auf diese Weise soll dem m.E. allzu raschen, kritischen Verweis auf die »Kommodifizierung des Selbstseins« (Illouz 2006: 160) der Nutzer von Datingseiten in der Verschränkung von Netz- und Marktlogik eine andere Perspektive gegenübergestellt werden. Das Beziehungsmodell der Moderne ist für uns wesentlich eines, das sich »in« Gesellschaft manifestiert, sich also gesellschaftlich aktualisiert, in einem selbstgewählten sozialen Außen ereignet, das die Geschlechter zusammenführt, sie zusammenkommen lässt an für das Ereignis vorausbestimmten Orten, sozialen Räumen, mit denen die Individuen sich darstellen, zeigen, aufeinander zu sich bewegen und begegnen, daher also: gesellschaftliche Induktion der Individuen als Liebende.3 In der Gesellschaft des Netzes, im Medial-Sozialen des Internet evolvieren sichanbietende, suchende, wählende, also begehrende Individuen, als solche werden sie vom Sozialen des Netzes angesteckt, hervorgerufen.4

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Kurzfassung der bekannten und in der Folge auch zitierten Feststellung aus den »Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie« von Karl Marx. »Das geliebte Wesen wird begehrt, weil ein anderer oder andere dem Subjekt gezeigt haben, daß es begehrenswert ist: so spezifisch es auch sein mag, entzündet sich das liebende Verlangen doch durch Induktion.« (Barthes 1984: 149) Wolfgang Müller-Funk hat in seinem Beitrag »Nah und Fern. Zur kulturellen Logik digitaler ›Begegnungen‹« das »Dazwischentreten« des möglicherweise ersten Mediums der Begegnung zu der These verdichtet, dass 14

BEGEGNUNG UND INTERNET

Das Netz produziert das In-Beziehung-Setzen von Individuen in seinen medialen Formen. Wesentlich ist, dass diese Beziehungstechniken von Anbeginn an die Faszinationen für das Netz begleiteten. Von den frühen Adventure-Games der MUDs und MOOs über die MessagingBoards, Chatrooms, Mailing-Listen bis hin zu Weblogs, P2P-Techniken und Avatarwelten offeriert das Netz die vielfältigsten Verabredungs- und Begegnungsszenarien. Die Datingmaschinen sind also nur ein Sonderfall dieser sozialen Logik, der Produktion von Verhältnissen im Internet.5 Diese Produktion folgt einer dreifachen Bewegung: Sie stellt den Gegenstand für die Begegnung her: Adressen, Orte im Netz, an denen die Anwesenheit von Suchenden konfiguriert wird. Sie legt die Modalitäten fest, die Weisen, wie diese aufeinander zugehen können, sich gegenseitig wahrnehmen und miteinander ins Gespräch kommen können. Und sie bewirkt selber, ja mehr noch, sie ruft allererst ein aus dem medialen Gefüge geborenes Begehren nach dem oder der Anderen hervor.6 Dieser letzte wesentliche Punkt hat sein Korrelat in der Konsumtion, also im Gebrauch, im Verwenden des Netzes. Dieser Gebrauch produziert gleichfalls, er setzt die Beziehungssuche, das Sich-an-andere-anschließen-Wollen, »ideal […], als innerliches Bild, als Bedürfnis, als Trieb und als Zweck« (Marx 1974: 13). Die »Identität von Produktion und Konsumtion« ist, so Marx, die Voraussetzung für die Ausbildung eines »Subjektes für die Ware«. Die Individuen werden in ihren Netzakten nicht nur überformt von einer Marktlogik, die Verdinglichung impliziert, und einer Psychologie, die Eigenschaften objektiviert. Zuallererst werden sie ihre Begehrnisse in eine besondere Modalität der Suche einlassen, die sich in dem Wunsch manifestiert, das Netz möge diese Suche selbst anleiten. Sie folgen nunmehr einem medial gelenkten Begehren, das nicht abzutrennen ist von der Eigenlogik des Mediums. Die Individuen werden zu Subjekten derjenigen Beziehungsformen, die das Netz aus sich selbst heraus produziert. Die Wahrnehmung einer möglichen Vielfalt an Beziehungsanbahnungen im Netz lässt erst ein Begehren nach genau diesen Weisen der Begegnung entstehen bzw. erzeugt ein Subjekt, das diesem Begehren folgt. Das Netz »produziert daher Gegenstand der Konsumtion, Weise der Konsum-

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»von einer Erfindung der modernen romantischen Liebe aus dem Geist des Briefes« auszugehen ist. Simmel hat »das Verhältnis« als »das am reinsten soziologische Wort, das es gibt«, ausgewiesen. Der Begriff meint »absolut nichts Substantielles oder Individuelles, sondern eine bloße Beziehungsform« (Simmel 1992: 710). Zu diesen drei Punkten vgl. Marx 1974: 14. 15

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tion, Trieb der Konsumtion« (Marx 1974: 14), es schafft sich ein beziehungsfähiges Publikum.7 Marx hat diese Überlegungen, vielleicht überraschend, entlang der Produktion/Konsumtion von Kunst ausgeführt: »Der Kunstgegenstand – und jedes andere Produkt – schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.« (Marx 1974: 14)

Der Sinn für die Vorhandenheit eines Werks und sein Genuss werden also wesentlich von diesem Werk, diesem Gegenstand selber angeleitet, ja, diese erschaffen allererst jene Wahrnehmung, jenes Verstehen und Genießen, das sie für diese ihre Vorhandenheit und ihren Telos auch notwendig brauchen. Sie wollen gesehen und gekauft werden und in der Verabredung als (waren-)ästhetische Begegnung kreieren sie ihr Publikum und ihren Käufer mit. Béla Balázs hat diese Dynamik für die Entwicklung des Kinos untersucht und auf die neue »optische Kultur« verwiesen, die mit den Kino-Subjekten sich etablierte: »Wir wissen es gar nicht mehr, wie anders wir in diesen Jahrzehnten sehen gelernt haben. Wie wir optisch assoziieren, optisch denken gelernt haben, wie geläufig uns optische Abkürzungen, optische Metaphern, optische Symbole, optische Begriffe geworden sind.« (Balázs 1979: 210)

Im Folgenden werden die Beziehungskräfte des Internet im Zusammenhang mit den Datingtechniken herausgearbeitet.

2. Das Internet war in seinem Ursprung als essentiell stabil vorausgesetzt. Das Netz sollte nicht als hierarchische Informationsstruktur mit Zentrum und Peripherien arbeiten, sondern die Verbindungsmenge war aufgeteilt auf die als Netz zusammengeschlossenen Rechner. Diese sollten untereinander völlig gleichwertig, als gleiche kommunizieren, sich austauschen. Wenn also das Netz an einer Stelle ausfiel, musste es den Rechnern gelingen, sich eigenständig einen anderen Weg zu suchen, ihre 7

In seinem Beitrag »Wer ich bin und was ich kann. Liebes und Arbeitssuche als netzbasierter Kompetenzdiskurs« hat Wolfgang Kellner diese Struktur auf die Herausbildung eines »Portfoliomenschen« im »emotionalen Kapitalismus« übertragen. 16

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Kommunikation aufrechtzuerhalten, indem die Wege, die Verhältnisse zwischen den Rechnern neu gelegt wurden. Die Übertragung der Daten war – im Gegensatz zur Radio- und Fernsehübertragung – als egalitäre Struktur aller Rechner definiert. Dass dieses innovative »Verhalten« jedoch von der militärischen Logik, die das Netz in Auftrag gab, in der Folge als unsicher und unzuverlässig abgelehnt wurde, folgt dem Systemzwang der Institution, eine absolute Kontrolle über ihre Verhältnisse ausüben zu müssen. Tatsächlich war die Stabilität des Netzes nur über seine prinzipielle Deregulierung und Unkontrollierbarkeit zu haben. »Das« Netz gab es nie, stets nur einen offenen Verbund an Rechnern, die gemeinsam das Netz ausbildeten, es bereits in seiner technischen Struktur als relationalen Raum definierten. Als die ersten Protokolle, das TCP und das IP, entworfen waren, zirkulierten die digitalen Daten zwischen den Rechnern beliebig hin und her. Nicht nur konnten einzelne Datenpakete zum Zwecke der Kommunikation verschickt werden, es war auch möglich, Datenwelten zu generieren, die, auf einem Server angelegt, von den angeschlossenen Rechnern »besucht« werden konnten. Diese Datenwelten können auch als spezifische Netzterritorien oder Orte im Virtuellen der Rechner eingesehen werden. Dritte Orte, Orte zwischen den Rechnern, Orte in den Rechnern. Die User dieser Rechner können an diesen Orten sich über die dort angelegten Daten informieren, sie weiter verwenden oder aber in diesen Datenwelten eine temporäre Existenz annehmen und dort über Schrift, später über Bilder und Avatare, miteinander sich austauschen. Diese Orte, sie werden unterschiedlich benannt: Homepages, Websites, Domains. Klar ist, dass ein jeder Ort einen Aufenthalt ermöglicht, eine Bewegung »an« ihm, mit den in ihm angelegten Daten.

Dritte Orte Diese Entwicklung des Internet macht aufmerksam auf die von ihm etablierte relationale Territorialität, auf soziale Ortsgründungen. Tatsächlich ist das Netz auch eine Menge von Adressen, also von adressierbaren Daten, die als »domains«, also – im Vergleich zur puren Übertragung – als Reterritorialisierung beschreibbar sind. Die Daten befinden sich auf Festplatten von Servern, deren eigener Standort für das Nutzen der Seiten allerdings unerheblich ist. Die Adressierung ist eine Anrufung der Daten auf das je individuelle Interface.8 Auf meinem Rechner versam8

Zur Figur der »Anrufung« im Feld der Kunst siehe den Beitrag von Hildegard Fraueneder »›Ich treffe dich…‹ Die Verabredung als künstlerische Form und eine damit verbundene Politik der Sichtbarkeit«. 17

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meln sich die Orte und von hier aus nehme ich teil an ihnen. Das Internet ist eine nach oben hin offene Menge an Adressen, an Orten. Das Netz selber ist der Ort all dieser Orte. Das heißt, die Summe aller aktuell arbeitenden Server bildet einen Ort aus, der Millionen von individuellen Orten enthält. Man kann das Internet heute grob einteilen in jene Orte, die ausschließlich auf Sichtbarkeit angelegt sind, also auf die Präsentation von Daten, Informationen – und in solche, die auf Teilnahme, auf ein Zusammenspiel hin entworfen sind und die eine verkörpernde Sichtbarkeit, eine Repräsentation, ein Double-Sein des einzelnen Users innerhalb des Ortes, der Seite erwarten. Diese Transfigurationen können unterschiedliche Gestalt annehmen, vom Nickname im Chatforum über die Profile auf Datingseiten bis hin zum Avatar in Spielen. Eine DatingPlattform ist gleichfalls ein solcher Ort, an dem sich Menschen transfigurativ versammeln – um sich kennenzulernen. Die vielleicht wichtigste Erfahrung, die an diesen Netz-Orten möglich ist, ist die der Teilung, des Teilens. Das Medium an sich ist auf Teilen angelegt. Das deutsche Wort »teilen« umschließt zwei völlig konträre Bedeutungen, die jedoch strikt aufeinander verweisen. Für ein Verständnis der Datenstruktur – als numerische und übertragene – ist dies von Vorteil. Aber auch für das Wissen um die großen Veränderungen im sozialen und politischen Gefüge der Gegenwart. Das Lateinische, Englische und Französische sollen zunächst die Unterschiede herausarbeiten helfen. Teilen meint zweierlei, einmal dividere/diviser/divide, zum anderen participere/partager/share. Das Digitale ist das Ergebnis einer Operation der Teilung eines körperlich oder medialen Ganzen in die numerischen Werte 0 und 1. Diese Aufteilung und Trennung in zweiwertige Partikel, Bits, ermöglicht die Erzeugung einer numerischen Materie, die – gemäß ihrem Status als techno-symbolisches Äquivalent – alle anderen Körper-, Bild-, Ton-, Schrift-Materien aufnehmen und also vergleichbar und ineinander konvertierbar machen kann. Dieses Teilen als Partialisieren dominiert und überformt auch die Anwesenheit eines Users im Netz, seine Verwendung/Konsumtion von Social Software. Er muss sich, um teilnehmen zu können, in ein Geteiltwerden einlassen, sei es indem ein Profil mit Teilmengen seiner Persönlichkeit erstellt wird, sei es, dass er in einem Chatroom nur als schriftliche – als semiotisch partialisierte – Person aktiv sein kann, sei es, dass er als Avatar vielleicht bunt und exzessiv ein Auftreten haben kann, doch eben nur als Erscheinung und Animation einer rein bildlichen Figur. Dennoch ist die Partialisierung die Voraussetzung dafür, dass der User partizipieren kann, dass er sich anderen mitteilen, mit ihnen eine Gemeinsamkeit teilen kann, dass er sich ihnen assoziieren und teilnehmen kann an einer Gemeinschaft. Ohne Division keine Assoziation, ohne Partialisierung keine Partizipation. Man

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kann diese doppelgesichtige Teilung auch als sozialer Effekt eines techno-imaginären Gegen-Willens zur Individualisierung begreifen, also als Relativieren des Ungeteilt-Seins, als temporären Verzicht auf den »Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz« (Beck/BeckGernsheim 1990: 15), denn Schematisierungen und strikte Vereinheitlichungen ermöglichen ja erst eine in sich stabile und kohärente Identität. Diesen Teilungsprozess werde ich nun auf der semantischen Ebene der Datings präzisieren. Zunächst werden über die Profile Eigenschaften und Präferenzen der Anwerber und Anwerberinnen als autonome Raster objektiviert. Auf der Basis dieser Parzellierung des Individuums erfolgt das matching, also die automatisierte Auswahl und das In-BeziehungSetzen von möglichen Partnerinnen, Partnern. Dann beginnt die Teilnahme. Ich teile mich mit, zunächst in Form eines Textes, einer Korrespondenz mit Mails, also medial als »freie« Schrift (die der standardisierten Textualität der Profile entgegengesetzt ist). Dann als Telefongespräch, wo ich nun bereits wesentlich körpernahe, wenngleich auch nur teilsinnlich, mit meiner Stimme der Stimme des Anderen begegne und mich sprachlich austausche. Dann, und darauf läuft ja jeder Dating-Akt hinaus, indem ich mich verabrede, indem ich also die Bereitschaft habe, mich der Teilnahme nun auch körperlich oder »holistisch« zu stellen und mein Geteiltsein wieder aufzuheben. Damit ermöglicht das InternetDating eine Aufhebung des in den technischen Medien scheinbar universell angelegten Verbots des noli me tangere. Gerade die körperliche Berührung ist ja das erhoffte Ziel der elektronischen Kontaktnahme. Die Anwesenheit »im« Datingnetz selbst ist stets eine subsidiäre, ist eine, die auf eine Fragmentierung der Userin, des Users aufbaut: er/sie ist stets nur partial sinnlich »dort«, als Text, als Foto, vielleicht als Film, jedenfalls als inszenierte Transfiguration. Stets nur ein Teil von einem Selbst kann sich zeigen. Dennoch nimmt dieser Teil dann Anteil an dem, was vor Ort passiert, ja, er teil sich Anderen, die gleichfalls nur als Teile anwesend sind, so mit. Das bedeutet, das, was passiert, ist eine Inszenierung und ein Tausch von Teilen, ein Austausch von Ansichten. Und genau diese Ansichten vermögen das besondere mediale Begehren hervorzurufen und über dieses die medialen Subjekte selbst zu formieren. Es ist offensichtlich, dass der letzte Akt in diesem Prozess, der Prozess der Wiederverkörperlichung, nur über die ursprüngliche Teilung möglich ist. Und zugleich wird es so sein, dass ich die Andere, den Anderen und ihr, sein doppeltes – technisch-semiotisches – Geteiltsein auch nach dem »wirklichen« Treffen stets als ein solches wahren werde. Nicht sollen, wie bei Platon im »Symposion« imaginiert, die Teile wieder zueinander finden, um »aus zweien eins zu machen«, um eine romantische Ganzheit zu bilden, sondern diese sollen Teile bleiben, sollen ein jeder für sich an-

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erkannt sein: Eine adifferente Beziehungskultur auf der Basis einer indifferenten Technik. Adifferenz meint, dass es keine Symmetrien und keine Aufhebung der Unterschiede in einem Gemeinsamen gibt, sondern die Teile als solche, als singuläre Bestand haben und fortwirken. Mit der über das Teilen herbeigeführten temporären Entindividuierung wird, so die Vermutung, eine Beziehungskultur verfeinert, die vom Verzicht auf die einzig mögliche Partnerschaft, auf die totalitäre Liebe eines ganzen Menschen getragen wird. Sie wird weniger die Selbstbestimmung in der Beziehung als den Selbstwandel propagieren, das heißt, das SichEinlassen auf die ganz notwendigen Verwandlungen, die ein Mensch in der Zeit durchlebt. Das Begehren wird ein partiales bleiben, eines, das den Augenblick über das Kontinuum, die Vielheit über die Einheit, die Ansicht über die Aufsicht, das Relationale über das Differente, das Transfigurative über das Identitäre, das Mögliche über die Bedingung stellt.9 Es ist unverständlich, warum die Kritik am Dating an dieser Vielschichtigkeit der medialen Begegnungen vorbei sieht. Der rationalisierte Modus der Partnerwahl, die nach psychologischer Standardisierung evaluierte »eigenschaftsorientierte Objektwahrnehmung«, sind sie wirklich nur ein Phänome der Online-Begegnung?10 Kann die »unerwartete Epiphanie« nicht auch beim Anschauen von Fotos, beim völlig regelfreien Schreiben von Mails, beim Telefonieren sich ereignen? Und vielleicht stellt sich ja die erwünschte »Interesselosigkeit« gerade mit einer »Ökonomie der Fülle« ein?11

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Lutz Ellrich und Christiane Funken haben in ihrem Beitrag »Liebeskommunikation in Datenlandschaften« das auf den Datingseiten etablierte Möglichkeitsfeld mit der »normalistischen Struktur« der Daten in Beziehung gesetzt und hervorgehoben, dass »der kühle, aber keineswegs böse Blick auf den Markt voller Rivalen, Konkurrenten und Solidargenossen mit der Lust an der menschlichen Wahl- und Handlungsfreiheit auf sehr produktive Weise verknüpft« wird. Auch Vrääth Öhner referiert in seinem Beitrag »Verabredung mit Unbekannten« auf die »flexibel-normalistische« Funktion von Dating-Serien im Fernsehen und verweist auf die von ihnen geförderte »Akkumulation von Selbst-Adjustierungswissen«. 10 Susanne Lummerding verweist auf die Fragwürdigkeit einer Trennung von »virtuellen« und »realen« Kontakten und hebt die für beide notwendige Voraussetzung einer »Unkalkulierbarkeit« der Subjekte, ihre »stets vorläufigen Subjektpositionen« hervor. Siehe den Beitrag »Ver-Mittlung und Diskretheit. Sex versus Gender – oder weshalb auch im Web 2.0 (n.n) kein Verhältnis zu haben ist«. 11 Zu all diesen Punkten siehe Illouz 2006: 134. 20

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Eigentlich steht die Kritik von Eva Illouz an der Ökonomie der Fülle, also an dem Überangebot an Partnerinnen und Partnern, dem an den einschlägigen Orten die Einzelnen ausgesetzt sind, in eigentümlicher Diskrepanz zu jener zu Beginn des 20. Jh. von ihr untersuchten Einführung des Rendez-vous, das in der konsumistischen Außenwelt und an »modernen« Orten wie Auto, Kino, Tanz und Restaurant vor allem einer ebensolchen Ökonomie zuarbeitete: »Indem die Verabredung aus den engen häuslichen Grenzen in die öffentliche und anonyme Sphäre der Vergnügungen verschoben wurde, erweiterte das Rendez-vous den Pool verfügbarer männlicher Partner.« (Illouz 2003: 70) Vielleicht haben ja gerade die öffentlichen Versammlungen der Geschlechter in Kinos, Tanzstätten und eben heute in Datingforen – die ja allesamt eine »öffentliche Inszenierung des privaten Selbst« (Illouz) vorsehen – genau jene geschlechtliche Begegnungsvielfalt und -gleichheit für die Wahrnehmung ermöglicht, die im »all men are equal« ja schon seit langem etabliert war, dessen Konsequenzen vor allem für die Wahlbiographie der Frauen von den Männern allerdings zumeist ignoriert wurden.12 Und vielleicht impliziert ja die Erfahrung von Fülle, dass es gerade den einen, die eine »Richtige« gar nicht geben kann? Jedenfalls ist das Internet eine mächtige Kultur des Teilens, eine Kultur des Sich-Partialisierens in körperlicher, ästhetischer und semiotischer Weise. Und des Partizipierens in unterschiedlichen Formen, vom einfachen Nehmen und Geben in Filesharing-/P2P-Systemen, vom Lesen von Blogs und Anschauen von Pornoseiten (und also auch dem vermutlich direkten körperlichen Reagieren), bis zum intensiven und möglicherweise hoch-spezialisierten Austausch in Mailing-Listen oder aber auch in flickr und in Parallelwelten, wie etwa Second Live.13 Dass sich über dieser Primärökonomie eine zweite versucht zu etablieren, ist ein Effekt der Epoche, nicht des Mediums. Man zahlt zumeist in Dating»börsen«, um andere zu treffen. Beziehungsweise um einen Dienst in Anspruch zu nehmen, der Erfolg verspricht. Und Illouz hat sicherlich Recht zu betonen, dass sich die »Kommodifizierung des Selbst« 12 Vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1990: 23. Vgl. hierzu auch die Studie von Evelina Bühler-Ilieva (2006). 13 Zum Prinzip des Tauschs und der Partizipation in den Kollektivierungen, die die Fotowelt von flickr vor allem im Kontext von Jugendkulturen anbietet und hervorruft, siehe den Beitrag von Birgit Richard und Alexander Ruhl: »Der ›tag‹ ist das Bild. ›Ich‹-Sharing im kollektiven Universum der visualisierten Schlagworte« in diesem Band. Hier finden sich auch wesentliche Überlegungen zum Status des Bildes in den sozialen Netzwerken, zum Authentizitätsversprechen des Amateurfotos als »Ekstase des Gewöhnlichen«. 21

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in Allianz mit der Psychologie als autoritäre Machttechnik einem »emotionalen Kapitalismus« andient. Doch dieser »Service« hat nur sekundäre Bedeutung. Das Geld ist nun mal »der Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand, zwischen dem Leben und dem Lebensmittel des Menschen« (Marx 2004: 131). Diese »alllgemeine Hure […] verkuppelt Unmöglichkeiten« bzw. alle jene Partikel, die sonst vielleicht nie zueinandergefunden hätten. Das Internet als eine in der Gegenwart primäre Produktivkraft für das Beziehungsgeschehen der Menschen agiert zwischen Verdinglichung und Selbstbestimmung gemäß dem Prinzip der Teilung, der gewollten Teilung. Dating-Maschinen bringen das auf den Punkt: Es geht um eine partielle Anwesenheit, um ein Sich-Mitteilen und Austauschen, dann um eine Wiederversinnlichung der Körper mit dem Ziel, das eigene Leben mit jemand Anderem – teils – zu teilen, den Anderen, in der wunderschönen Formulierung von Roland Barthes, zu »meinem Anderen« zu machen. Das mediale Begehren, das sich im Teilen und in der Fülle artikuliert, wird im Realen nachwirken und vermutlich verhindern, dass die Andere, der Andere im Wunschbild holistischer Wahrnehmung fixiert werden. Jeder Einzelne bleibt eine unkalkulierbare Menge an – teils erkennbaren und kommunizierbaren, teils unerkennbaren und verschwiegenen – Teilen, Singularitäten. Teilen. Tauschen. Im Französischen nennt sich eine bestimmte Praxis der Liebe l’échangisme. Also Praxis des Teilens, Partnertausch, sich sexuell mitteilen, gleich wem. Diese Zugabe betont besonders das Englische swinger, hier wird die Andersartigkeit betont, das Umschwingen, das in eine andere denn konventionell vorgesehene Richtung sich schwingen. Ende der 90er Jahre trifft Michel Houellebecq eine traurige Aussicht: »Ich bin jedoch nicht allzu optimistisch: Der Partnertausch scheint mir nur geringe Überlebenschancen zu haben, die heutige Zeit eignet sich dazu nicht mehr.« (Houellebecq 2003: XV/XVII) Vielleicht weil die Körper sich »verschoben« haben. Das Textuelle, das Fotografische, die virtuellen Repräsentationen dienen ihnen heute im Netz der Anbahnung, der Begegnung, dem Tausch – und dieser Tausch ist zweifellos in seiner Struktur libertinär. Libertinäre Orte.

L i t e r at u r Balázs, Béla (1979): »Zur Kunstphilosophie des Films«. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam, S. 204–226. Barthes, Roland (1984): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1977]. 22

BEGEGNUNG UND INTERNET

Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bühler-Ilieva, Evelina (2006): Einen Mausklick von mir entfernt, Marburg: Textum Verlag. Houellebecq, Michel (2003): »Cléopatre 2000«, deutsche Übersetzung Uli Wittmann. In: Thomas Ruff, Nudes, München: Schirmer/Mosel, S. XV/XVII. Illouz, Eva (2003): Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Campus [1997]. Illouz, Eva (2006): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. AdornoVorlesungen 2004, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marx, Karl (2004): »Ökonomisch-philosophische Manuskripte«. In: Karl Marx, Friederich Engels, Studienausgabe Band II. Politische Ökonomie, Berlin: Aufbau [1844], S. 38–135. Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz [1857–1858]. Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1908].

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NAH

FERN. ZUR KULTURELLEN LOGIK D I G I T A L E R ›B E G E G N U N G E N ‹ UND

WOLFGANG MÜLLER-FUNK Allein das Bild ist ein geheimnisvoller Betrug der Ferne 1

P aa r e u n d P a s sa n te n Ich glaube, es war am 5. Juni 1996, um cirka 18 Uhr im Rahmen der Eröffnung der von Brigitte Felderer kuratierten Ausstellung Wunschmaschine Welterfindung (Felderer 1996: 1–6), als ich zum ersten Mal, zusammen mit Freunden und Kolleg/-innen eine virtuelle, digital vermittelte intime Begegnung zweier Menschen vorgeführt bekam: eine Person, in meiner Erinnerung war es die Frau, befand sich real in der Kunsthalle am Karlsplatz, die andere, der Mann, am Ars Electronica Center in Linz. Beide Person ›existierten‹ zwiefach, als leibliche Personen und jeweils, reziprok, in digitaler Punktation auf dem Bildschirm. Es war ein ganz spezifisches Datum festgelegt, um die virtuelle Begegnung, die einen imaginären Raum erotischer Selbst- und Fremdbezüglichkeit eröffnete, zu realisieren. Mit diesem Verdopplungseffekt spielt auch Igor Bauersimas und Réjane Desvignes Theaterstück Boulevard Sevastopol (Akademietheater, Wien, Spielzeit 2006/07). Die russische Studentin Anna, die zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts in einer Art von digitaler Peepshow im Internet posiert, hat im Netz Zed kennengelernt, von dem sie nicht weiß, dass er mit Lev, dem Sohn ihres obskuren und erpresserischen Vermieters, identisch ist. Das Spiel, das die beiden spielen, funktioniert durch die Mixtur aus Anwesenheit und Abwesenheit:

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Ludwig Klages 1921/1951: 92 25

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»Anna: Zed, ich seh dich. Du bist es doch. Du bist seit fünf Minuten da. Ich kann dich sehen. Du wolltest schauen, was die von mir wollen, gib’s zu, du wolltest zuschauen. Du bist zu spät gekommen. Die Show ist vorbei. Warum sagst du nichts?«

Der virtuelle ›Spielraum‹ wird zum Ort der Obsessionen, Anna operiert als deren Statthalterin, Erzählerin und Regisseurin. Während sie ihrem anonymen, aber im Gegensatz zu Kino und Theater unsichtbar anwesenden Publikum bestimmte pornographische Szenen vorführt, erotische Anweisungen erteilt und erzählt, befindet sie sich zugleich in einem intimen Rapport mit Zed alias Lev: »Du bist auch ein wenig pervers, dass du dir das anhörst von mir. Ich dachte, ich hätte eine Beziehung mit dir. Machst du’s dir gerade? Du machst es dir wohl gerade.« Ausschließliche Basis ihrer Kommunikation ist der Computer, ihr pornographisches Spiel ist ganz auf telematische Kommunikation abgestimmt: »Wir haben uns noch nie gesehen«, sagte Lev, der sich als digitaler Ekstatiker der Fernliebe zu erkennen gibt: »Du bist so schön, wenn ich nicht da bin.« Ausgerechnet am Silvesterabend wollen die beiden ein persönliches Treffen arrangieren, was nicht ohne Schwierigkeiten zu bewerkstelligen ist, wie Anna betont: »Vergiss nicht, ich weiß noch immer nicht, wer du bist. Nicht hundertprozentig.« (Bauersima/Desvignes 2005: 7–9) In das Stück, das die spielerischen und ästhetischen Möglichkeiten der neuen Medien auslotet, ist gleichsam deren kommunikationsästhetische Matrix eingeschrieben. Es handelt sich um eine Szene, wie sie für die Verschränkung von Avantgarde und neuen Medien und die damit einhergehenden hypertrophen Phantasien eigentümlich ist. Avantgarde bedeutet in diesem Zusammenhang zunächst die Erprobung neuer medialer Theorien und Praxen im Hinblick auf die ästhetischen und kommunikativen Möglichkeiten. (Klinger/Müller-Funk 2004: 249–252) Der ironische Plot des Stücks besteht nicht zuletzt darin, zu zeigen, wie rasant die Umschlagszeit von avantgardistischer Vorführung – die erste Szene im Museum – in kommerzielle Banalität – die zweite Szene im Netzalltag des anonym genutzten Personalcomputers – ist. Im ersten Beispiel sind – im Unterschied zur Versteckkomödie im zweiten Fall – zwei Rahmenbedingungen von entscheidender Bedeutung: dass sich nämlich das räumlich entfernte Paar zuvor viele Male ›real‹ begegnet war. Es verfremdete gleichsam seine eigene ›reale‹, das heißt leibliche Befindlichkeit des Begegnens, spielte mediale Möglichkeiten im Hinblick auf deren psychoästhetische Eigenlogik durch, erprobte den erotischen Reiz der Fernliebe. Anders liegt der Fall im zweiten Beispiel. Der Mann bringt es auf den Punkt: »Du bist so schön, wenn ich nicht da bin.« In Bauersimas und Desvignes Komödie über digitale Zeiten ist die Fernliebe noch immens gesteigert: dadurch, dass die Beziehung aus26

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schließlich auf die Fernliebe beschränkt bleibt und das Publikum nicht aus der Anonymität heraustritt. Die mit Peinlichkeit und Scham gepaarte Wahrnehmung, dass ich, äußerlich entblößt, betrachtet werde, ist mit der Gewissheit eines Gesehen-Werdens verbunden, das nicht sichtbar wird. Die Intimität wird dadurch phantasmatisch verstärkt und zugleich ermäßigt. Das virtuelle Medium wirkt wie eine Maske, die verhindert, dass ich den Blick automatisch zu Boden richte, weil ich mich schäme, und zwar nicht, weil ich etwas nicht sehen will, sondern weil ich nicht gesehen werden möchte. Die äußerliche Entblößung korrespondiert mit der Maske der zynischen Überlegenheit, die Anna, die Stripperin und Sexanimateurin auf dem digitalen Bildschirm, zelebriert, ohne dass sie dabei das Gefühl hätte, sich ›wirklich‹ auszuziehen, zu prostituieren: weil leibliche Nähe ausgeschlossen ist. Die unsichtbare Grenze ist keine, die sich auf dem Bildschirm befindet, weil dieser selbst die Grenze markiert. Entscheidende Spielregel bleibt, dass diese virtuelle Begegnung unter Einschluss dessen vonstatten ging, das ansonsten ausgeschlossen ist: das Publikum, der Blick des oder der Dritten, des oder der Anderen. (Žižek 1997) Was sich der sexuell erregte Mensch herbeiphantasiert, wird zum Zentrum des digitalen Spiels. Persönliche oder gar intime Begegnungen sind zunächst dadurch charakterisiert, dass sie diese/-n Dritte/-n ›real‹ ausschließen, obschon die Phantasie einer potentiellen Betrachtungsinstanz, eines anstößigen Blickes von außen im Vollzug gerade des realen oder auch imaginierten Geschlechtsaktes stimulierend wirken mag. Der oder die Dritte ist zunächst das strukturell störende Element, das durch Intimität ausgeschlossen wird. (Freud 1994: 72) »Die geschlossene Gemeinschaft ist das Paar.« (Lévinas 1991: 34) Die Phantasie des/der Dritten wird in der geschilderten Museumsszene manifeste Realität: durch die Anwesenheit anderer, an der Zweier-Kommunikation Nicht-Beteiligter, und durch die Tatsache, dass sich der Bildschirm des Computers an einem öffentlichen Ort, in einer Kunstausstellung befand. Der symbolische Ort, das Feld, bewirkt den Unterschied zwischen Kunst und ›Leben‹. Besonders dieser Umstand macht die neue Form der Begegnung, wie sie eben der Computer, dieses Universalmedium, ermöglicht, zu einem ästhetischen Phänomen. (Pfeiffer 1999: 19–34) Man könnte in diesem Zusammenhang von einer virtuell ermöglichten Entgrenzung sprechen. Um das kontrastiv zu verdeutlichen, erwähne ich noch eine dritte ›reale‹ Szene, die sich vermutlich nicht nur auf einer wilden Silvesterpartie der späten 70er Jahre zugetragen haben mag: in der Mitte ein kopulierendes Paar, kreisförmig darum herum, bekifft und besoffen, gruppiert ein Publikum, Freundinnen und Freunde, die das Geschehen kom-

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mentieren und beklatschen. Eine eher krude, um nicht zu sagen regressive und wenig sublime Szene. Ganz offenkundig handelt es sich trotz des Publikums, das hier von beiden Akteuren als eine reale und wohl auch entgrenzend-stimulierende Instanz erfahren wurde, um kein ästhetisches Ereignis, weil ihm trotz Publikum und Inszenierung ein entscheidendes Moment fehlt: der öffentliche Raum und die damit verbundenen Verfremdungseffekte. Es ist ein non-virtuelles, gleichwohl inszeniertes Ereignis im Rahmen einer privaten Gruppe, Teil von deren libidinöser Entladungs- und Enthemmungsdynamik, die auf der Entgrenzung einer ansonsten verschlossenen und exklusiven Intimität beruht. Immerhin führt uns der Vergleich der beiden einprägsamen Szenen die mediale Bedingtheit von Begegnungen vor Augen. Sie schließt die Frage ein, ob eine leibferne Kommunikation überhaupt als Begegnung im Sinne etwa der Phänomenologie Husserls und Merleau-Pontys angesehen werden kann und was Medialität überhaupt bedeutet. (Bernhard Waldenfels 1990) Insbesondere die erste (aber auch die zweite) Szene führt die Anziehungskraft der neuen Medien im Hinblick gerade auf intime und persönliche Kommunikation vor. In ihr geht es vor allem um das Phantasma der Omnipräsenz – ich bin da, auch wenn ich nicht anwesend bin –, ferner um eine merkwürdige Verkoppelung des Erotischen mit der strukturellen Eigenlogik der medialen Maschinerie des Computers: Auch wenn wir die großen Meisterwerke und Programmschriften der erotischen Literatur – de Sade, Goethe, Stendhal, Lawrence, Miller, Klages – nicht kennen, wissen wir aus eigener Erfahrung von dem Widerspiel von Entgegenkommen und Entzug. Der Nietzsche-Schüler Ludwig Klages, der dem George-Kreis angehörte, formuliert diese innere Konstellation so: »Zur Nähe gehört als ihr Gegenpol die wesenhaft niemals erreichbare Ferne. Jeder Augenaufschlag, anheimgegeben auch nur der Weite des Raums, verheißt und verlockt; allein, zu was er verlockt, das fänden wir nicht, wenn wir uns aufmachten und ›in die Weite‹ strebten: der Horizont flieht vor uns zurück […].« (Klages 1921/1951: 91f.)

Dass wir uns, ganz generell gesprochen, treffen, hat zur Voraussetzung, dass wir uns in einem Zustand der Distanz zueinander befinden. Um die Lust an der Begegnung aufrechtzuerhalten, bedarf es der zumindest zeitweiligen Entfernung. Bei einer längerfristigen Absenz wird eine Beziehung, die man heutzutage auch als eine nicht abreißende Kette von Begegnungen und Kontakten interpretieren kann, brüchig; ihr droht, bei allzu langer örtlicher Absenz, die Implosion. Ein Medium wie der Computer scheint diesem doppelten Bedürfnis individualisierter Menschen in einer hypermodernen Gesellschaft strukturell entgegenzukommen, indem er den Grad der Verbindlichkeit der 28

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digitalen Maschinerie überlässt. Das Paar der ersten Szene verfremdet seine persönliche Beziehung, distanziert sie durch das Dazwischentreten des Bildschirms und durch ein Publikum, das halb real, halb irreal blieb (wie im Fall der Fernsehzuschauer, Radiozuhörer oder Romanleser). Sie führt uns eine Beziehung vor, wie sie in einem bestimmten Milieu üblich geworden ist. Zumindest utopisch denkbar wird, dass die rein mediale Begegnung – so wenigstens das Phantasma und die mit ihr einhergehende technologische Utopie – die leibhaftige substituieren, ersetzen könnte. So wie wir nicht mehr ins Restaurant gehen müssen und die Pizza digital bestellen können, so wie wir nicht mehr durch reale Straßenlabyrinthe irren, sondern uns in den Verzweigungen des künstlichen Raums des Computers verlieren, so könnten wir uns auch erotisch nur mehr auf Bildschirmen ›begegnen‹, was immerhin die physische, nicht aber die psychische Unversehrtheit unserer realen Körper garantieren würde. Eine im Zeitalter von Aids für manche Menschen vielleicht verlockende Alternative. Wir sollten indes nicht vergessen, dass solche in Installationen und Manifesten formulierten Ideen, wie alles, was die klassischen Avantgarden hervorgebracht haben, einen starken rhetorischen Überhang haben. Sie sind ästhetische Manifestationen in Laboratorien, in denen die Dimensionen neuer Techniken symbolisch bis an die Grenze des Möglichen erprobt werden. Sie verhalten sich zur alltäglichen Kulturpraxis wie die extravaganten Models der internationalen Modeschauen in Paris, Mailand oder Barcelona zum Bekleidungsalltag des westlichen Menschen unter den Bedingungen einer kapitalistischen Hypermoderne. Diese formulieren und präsentieren wirksame Botschaften, aber das Bekleidungsprogramm wird als eine große Show mit Publikum interpretiert. Der Laufsteg bleibt eine Bühne, die einen Trennungsstrich zum Publikum markiert.

E i n i g e p e d an t i sc he B e g r i f f s b e st i m m u n g e n Wenn wir uns die Frage vornehmen, wie und inwieweit verschiedene Medien, historisch und aktuell, die Bedingung der Möglichkeit des Treffens, der Begegnung, der Kontaktnahme generieren, sind zunächst einmal drei Fragen zu klären: – Welcher Typus von Medientheorie ist für unser Thema einschlägig? – Was ist überhaupt ein Medium? – Was ist Kommunikation, etwa im Unterschied zu Information oder ästhetischer Expression?

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Höchst provisorisch und idealtypisch vereinfacht lassen sich, im Hinblick auf unsere Frage, drei Typen von Medientheorien unterscheiden. Die erste Sorte möchte ich als technische Theorien bezeichnen: In ihnen geht es um den technischen Aufbau, die maschinelle Logik des jeweiligen digitalen »Gestells« (Heidegger), um die technischen Möglichkeiten, um all die Finessen, über die die meisten Nutzer dieser Gerätschaften, von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, nicht sonderlich viel wissen. Diese technischen Eigenarten fallen für den Benutzer meist störend ins Gewicht, insofern nämlich, als er oder sie die Erfahrung macht, dass sie – ähnlich wie beim Fortbewegungsmedium Auto – eigentlich über die technischen Eigenarten des Computers und seiner Programme mehr Bescheid wissen müssten. Wir sind nämlich mittlerweile daran gewöhnt, uns technischer Instrumente zu bedienen, deren Funktionsweise wir nicht kennen – von der Waschmaschine bis zum Auto. Wir wollen womöglich gar nicht wissen, wie sie funktionieren, wir möchten lediglich, dass sie funktionieren. Ein zweiter Typus von Medientheorien konzentriert sich auf die jeweiligen Zeichensysteme oder, um mit Charles Peirce zu sprechen, insbesondere auf symbolische (Sprache), ikonographische (Bild) und indexikalische (Spur). Technische Medien, handwerkliche wie maschinelle, funktionieren nämlich nur, weil es solche externalisierten Zeichensysteme gibt. Sie ermöglichen, was schon in der Eingangsszene beschrieben worden ist: die Anwesenheit des Abwesenden. Alle technischen Informations- und Kommunikationsmittel, die handwerklichen Werkzeuge ebenso wie die modernsten Maschinerien, sind nicht denkbar ohne fixierbare, explizite semiotische Systeme. Eine dritte Version von Medientheorien konzentriert sich auf das Verhältnis von Mensch und Medien. Dabei geht es – gegen kulturkonservative, auch linke Kulturtheorien, die die Medien als äußeres Verhängnis und als Produzenten von Entfremdung sehen – z.B. darum, das Zusammenspiel und die Gegenläufigkeit von menschlichen Wahrnehmungsmodi und diversen Funktionsweisen von Medien zu analysieren, wie auch die Frage, inwieweit Medien den Zusammenhang Kultur und Gesellschaften modellieren und modifizieren, welcher Typus von Kultur welcher Medien bedarf und wie Medien die Kulturen und ihre Bewohnerschaft verändern. Man kann derartige Gerätschaften als Verlängerungen von Hand und Fuß, aber auch von Auge und Ohr verstehen (McLuhan). Moderne anonyme und großräumige Gesellschaften funktionieren nur dank dieser Wirkungen von technischen Medien. Sie vermehren die Möglichkeiten von Kommunikation auf eine bis dahin nie da gewesene Weise, womöglich aber unter Preisgabe von Momenten, die histo-

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risch für Kommunikationsprozesse entscheidend waren: Formen der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Harold Innis, ein Vorläufer von McLuhan, hat in diesem Zusammenhang den raum- und den zeitüberwindenden Aspekt von Medialität unterschieden: Medien lassen fast ohne Zeitverschiebung Kommunikation mit räumlich entfernten Menschen zu (Telefon, Computer), es gibt aber auch Medien, die uns zeitlich entfernte Menschen vergegenwärtigen (Speichermedien). Im Hinblick auf das Phänomen der Kommunikation fehlt dieser Begegnung mit verstorbenen Menschen (Photos, Filme, Video, schriftliches Material) aber ein entscheidendes Moment, das für Kommunikation unabdingbar ist: durch leibliche Präsenz vermittelte Interaktivität. (Innis 1997: 95–119) Offenkundig ist es der dritte kulturwissenschaftlich und anthropologisch orientierte Ansatz, der für die Frage nach den Veränderungen von Phänomenen wie Begegnung, Treffen und Kontakt maßgeblich ist, während die anderen beiden Theorie-Typen demgegenüber von untergeordneter Bedeutung sind. Die zweite Frage bezieht sich darauf, was eigentlich ein Medium ist. Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Es gibt Theoretiker, die den Begriff des Mediums extrem weit fassen, und darin zum Beispiel ein Phänomen sehen, das Dinge und Menschen in Erscheinung bringt. (Seitter 2002: 19–32) Umstritten ist auch die Frage, ob gesprochene Sprache ein mediales Substrat darstellt so wie die Schrift oder das Bild. Das Moment der Externalisierung und Auskristallisierung (Speicherung) scheint der flüchtigen Sprache abzugehen. Das legt eine Bestimmung von Medium nahe, die dieses durch die zeitliche und räumliche Trennung von Mensch und Botschaft charakterisiert sieht. Im Tonfilm, auf dem Tonband und mittlerweile auch auf dem Computer wird die gesprochene Sprache gespeichert. Im Held der westlichen Welt des irischen Dramatikers Synge etwa spricht der Tote per Tonband auf seiner eigenen Beerdigung – eine interessante Frage übrigens, warum diese Praxis nicht gesellschaftlicher Alltag geworden ist, die »lieben Toten« durch den gespeicherten Ton noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Immerhin werden hier Spuren der Verstörung sichtbar, die in die Erfahrungen des modernen Menschen mit den technisch reproduzierten Bildern, Tönen oder Worten eingegraben sind. Wir wollen uns hier auf Medien konzentrieren, die vor allem den kommunikativen Aspekt betreffen. In der Koppelung zweier etymologischer Bedeutungen möchte ich vorschlagen, Medien als ein oft als neutral und unscheinbar wahrgenommenes Dazwischentreten, als einen sichtbaren oder unsichtbaren Zwischenraum, der andere Menschen in Erscheinung bringt, zu beschreiben. Medien sind ein vertracktes Thema, weil einzelne, nicht alle mediale Systeme, Techniken und Apparaturen

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grundsätzlich verschiedenen medialen Funktionen – Kommunikation, Repräsentation, Information, Erinnerung, ästhetische Expression – dienen können. Die letzte pedantische Klärung gilt demnach der Unterscheidung von Kommunikation und Information. Zunächst einmal ist unter den Bedingungen moderner Gesellschaften sinnfällig, dass beides vornehmlich in einer von den jeweiligen Personen, den sogenannten Sendern und den sogenannten Empfängern, unabhängigen Weise vonstatten geht. In Kürzel formatiert, lässt sich dies als S-B-S (Subjekt-BotschaftSubjekt) beschreiben. Kommunikation ist, in Abweichung vom klassischen Subjekt-Objekt-Schema, eine Subjekt-Subjekt-Relation mit der feinen Bestimmung, dass diese intersubjektive Kommunikation stets eine vermittelte ist: durch ein Zeichensystem und – oftmals – auch durch das Dazwischentreten von Zeichenmaschinen. Im Hinblick darauf möchte ich zunächst Information, Kommunikation und ästhetische Expression unterscheiden: – Bei der Information steht die Nachricht im Fokus (Telefonbücher, Lexika, Datenbanken). – Verweist die Nachricht auf das Subjekt, steht das jeweils sendende Subjekt im Vordergrund, ist die Nachricht rückbezüglich, dann ist offenkundig Kommunikation gegeben. Es interessiert mich an der Nachricht – durch Brief, E-Mail oder Telefonat – der Umstand, dass A. (mich) liebt und begehrt nur deshalb, weil ich in einem persönlichen Verhältnis zu ihr/ihm stehe. Als bloße »Information« ist diese »Tatsache« unter Umständen völlig ohne Bedeutung. Insofern die oben genannten Medien immer auch Kommunikation generieren, übersteigen sie die bloße Informationsfunktion. Koppelungen von Information und Kommunikation wären: Geschäft, Zusammenarbeit, Dialog. Auch das Dating verkoppelt die Nachricht (Vereinbarung des Ortes und des Zeitpunkts des Treffens) mit einem kommunikativen, persönlichen, intimen Anliegen. – Im Falle ästhetisch-expressiver Medien wie Film, Theater, Ausstellung, Konzert, Roman handelt es sich weder um eine primäre Form der Information noch um eine der direkten Kommunikation. Solche Medien eignen sich nicht sonderlich für Dating (die Begegnung mit dem Autor/der Autorin wird nur selten ›real‹) und man benützt sie auch nicht als einen Informationspool. Die Prozesse der Information und Kommunikation sind – in einem beinahe Hegel’schen Sinn – aufgehoben in einem Akt der Integration und symbolischen Partizipation. Ästhetisch-expressive Medien sind – semiotisch betrachtet und auf unterschiedliche Weise – »faule« symbolische Maschinerien (Umberto Eco). In ihnen liegt der Fokus nicht auf dem Ab32

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sender, nicht allein auf der Botschaft, sondern auf dem Empfänger. Kunst ist rezeptionsorientiert. Das Sender-Empfänger-Modell stellt in vielerlei Hinsicht eine grobe Vereinfachung und schlechte Abstraktion dar, es macht Modifikationen erforderlich, die ich hier ganz summarisch auflisten möchte: – Es gilt – nicht nur im Hinblick auf das vieldiskutierte Phänomen medial gesteuerter Interaktivität –, die schlichte Vorstellung zu korrigieren, wonach das eine Element des medialen Aktes ein aktiver Sender, das andere ein passiver Empfänger ist. Auch in nicht-interaktiven Situationen, in interaktiven medialen Konstellationen wechseln bekanntlich die Funktionen permanent (Telefon, elektronische Nachricht, Brief), gibt es auch in scheinbar medialen Einbahnstraßen (Publikum) ein aktives Moment (das Publikum als Autor/-in). – Kodierung und Dekodierung befinden sich nicht in einem Spiegelverhältnis. Keine Sendinstanz kann die Empfangsinstanz dahingehend kontrollieren, dass sie dieser die Dekodierung vorschreibt. Die Möglichkeit, den eigenen Code durchzusetzen, nimmt mit zunehmendem technischen Einsatz und der damit verbundenen Distanz ab. – Botschaften bringen fast zwangsläufig manipulative, technische, rezeptionsbedingte Verzerrungen mit sich. – Insbesondere öffentliche Botschaften gehen mit Verstellungen einher. Die mediale Maske ist vom Bewerbungsschreiben bis zum Fernsehauftritt relevant. Solche Formen der Medialität haben bereits Renaissanceautoren wie Castiglione und Gracian beschrieben. Zum klugen und richtigen Verhalten in Gesellschaft gehören ganz bestimmte Formen der Höflichkeit, ritualisierte Formen des Entgegenkommens, Strategien des Sagens und des Unterlassens, Formen der Selbstpräsentation. – Botschaften und die an ihnen Beteiligten unterliegen kulturellen Konventionen und Konnotationen (Rituale). Um sie dekodieren zu können, muss man die in einer Kultur zumeist latenten und selbstverständlichen Narrative und symbolischen Formen kennen. – Durch technische Medien vermittelte Formen der Kommunikation führen zur Entstehung imaginärer Räume, bringen damit aber auch die Figur des/der Dritten ins Spiel (das gilt für die konventionellen Liebesbriefwechsel ebenso wie für moderne Formen des Dating und des elektronischen Nachrichten-Verkehrs). – In die Prozesse solcher Formen von medialer Übertragung ist diskursiv-institutionalisierte Macht im Sinne Foucaults eingeschrieben 33

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(Wer fragt wegen eines Treffens an, wer kommt zu Wort, wer bekommt einen Termin? Wer hat Zugang? Wer legt die Spielregeln fest?).

Begegnen Was ist eine Begegnung? Ist eine Begegnung als Phänomen zwischenmenschlichen Interagierens an einen realen Ort, an meine leibliche Präsenz und an die nicht-technisch-reproduzierte Stimme und an mein Gesicht gebunden? Das ist eine Frage der Definition. Das Wort Kontakt hat etymologisch mit dem Wort tangere zu tun, was Berührung bedeutet. Kontakt aufnehmen, heißt eigentlich wechselseitige »Berührung«. Die Frage, ob die gesprochene, technisch nicht gespeicherte, körperlich nicht externalisierte und materialisierte Sprache ein Medium darstellt, hängt ganz ursächlich mit der Differenz zwischen körperlicher Begegnung und technischer Kommunikation zusammen. Die sogenannte Körpersprache oder das Parfum besitzen ganz zweifelsohne über ihre sinnliche Dimension hinaus eine semiotische Komponente, die technisch nicht leicht übermittelbar ist: Der Bildschirm ist keine Haut und er absorbiert sämtliche Düfte. Anders die Schrift und in gewisser Weise auch das gesprochene Wort. Denn historisch ist es die Schrift, die die Anwesenheit des Abwesenden gewährleistet; das kann der räumlich-örtlich entfernte wie der zeitlich entfernte Mensch, der Tote, der seine Schrift/-en hinterlassen hat, sein. Sie stellt – das gilt übrigens auch für piktographische und ikonographische Zeichensysteme – eine mediale Revolution ohnegleichen dar, indem sie die Kommunikationsmöglichkeiten auf bislang ungeahnte Weise vermehrt und die kulturelle Kohäsion riesiger Menschengruppen ermöglicht. Die technische Kommunikation öffnet Zeit und/oder Raum (Innis), der Preis, der dafür zu entrichten ist, heißt: Abstraktion und Reduktion. Positiv gesprochen bedeutet sie die Emanzipation von unmittelbarer sozialer Kontrolle durch traditionelle Kleingruppen. Wir können also die persönliche Begegnung und die technisch vermittelte Kommunikation voneinander unterscheiden. Schriftliche (Brief), moderne (Telephon) und neue Medien (E-Mail, interaktive Web-Seiten, Chatrooms) haben also zwei Seiten, zum einen substituieren sie körpernahe Begegnung, machen Begegnung tendenziell überflüssig, zum anderen aber ermöglichen sie erst körperbezogene Begegnungen von Angesicht zu Angesicht. Diese Differenz ist konstitutiv für das Thema des Treffens und Begegnens. Denn in ihr wird deutlich, was die Präsenz des Anderen im Sinne der Philosophie von Emmanuel Lévinas bedeutet: die 34

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Emanation des Anderen, seine Realpräsenz mittels Stimme und Antlitz. Dabei ist entscheidend, dass ich angeschaut und angesprochen werde, dass der Andere hinter der medialen Maske irritierend, überraschend, beglückend, bestürzend zum Vorschein tritt. Überdeutlich kommt in der persönlichen Begegnung zum Vorschein, wie hyperkomplex und stets interaktiv Kommunikation ist und wie unbeholfen z.B. der technisch versierteste digitale Transfer sich demgegenüber ausnimmt. Er verhält sich zur direkten leiblichen Kommunikation wie ein technisches selbstbewegliches Fortbewegungsmittel zur menschlichen Eigenbewegung. Gesten, Atmosphäre des Ortes, Geruch, körperliche Aura, Übertragungsformen, wie sie nur durch die leibliche Anwesenheit realisierbar sind, werden in dieser Begegnung ausgeschieden. In einer Zeit, in der technische Kommunikation leicht und ubiquitär verfügbar ist, wird die persönliche Kommunikation zur kostbaren Ressource. Insofern perpetuieren die digitalen Medien jenes Phänomen, das man mit Luhmann als romantische Liebe (Luhmann 1982: 21–39, 49–56) bezeichnen kann, eine Liebe, die auf Medien und Medialität angewiesen ist und die genau von dem Spannungsverhältnis imaginärer, durch die technische Kommunikation geöffneter Räume und der realen leiblichen Begegnung lebt, von dem Widerspiel unbedingter Abwesenheit und plötzlich einfallender Gegenwärtigkeit. Die technische Kommunikation bereitet die reale Begegnung vor. Ohne Verabredung kein date, kein Treffen. In das englische Wort ist mit dem Datum auch schon das zeitliche Moment eingeschrieben. Es ist übrigens gar nicht so einfach, sich zu treffen – ich meine nicht nur wegen der heutigen aberwitzigen Zeitökonomie. Um sich zu treffen, bedarf es exakter Zeit- und Ortsangaben; anonyme Großgesellschaften sind nur möglich dank effizienter und perfekt funktionierender Medien und Zeitmaschinen. Dass sich einander wildfremde Menschen, die an unterschiedlichen Orten wohnen, treffen können, dass sie anonym zur gleichen Zeit an Radio- und Fernsehsendungen oder Gesprächen im »Plauderzimmer« (chat room) partizipieren, hat mit der Erfindung der modernen, Heidegger würde sagen, der vulgären Zeit zu tun, genauer mit der Globalisierung der Zeit. Dass sich Menschen, unabhängig welches Medium sie verwenden, treffen können, setzt die kulturelle Existenz messbarer, »zur Strecke gebrachter Zeit« (Sonnemann 1987: 279–298) voraus, ferner auch, dass die Uhren in größeren Räumen überall gleich gehen oder berechenbar voneinander abweichen, wie das am Höhepunkt des Eisenbahnzeitalters, das viel zur chronologischen Homogenisierung beigetragen hat, eingetreten ist. Für eine möglichst störungsfreie und benutzerfreundliche Koordination des Eisenbahnverkehrs war die Vereinheitlichung eine unabdingbare Voraussetzung. Nicht nur in die Zeitung,

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sondern in viele andere Medien (siehe etwa die Zeitdiktatur in Radio und Fernsehen) ist – mittelbar oder ganz unmittelbar – eine Uhr eingebaut. Vor der Erfindung der objektiven Zeit muss man sich, um Menschen zu treffen, an Orte begeben, wo man vermutet, dass sie sich – verlässlich oder regelmäßig – aufhalten: Orte des Tausches (Markt), Orte des Heiligen (sakrale Orte), Orte des Essens und Übernachtens, Orte der Feste. Nachrichtenbörsen, Begegnungsstätten. (Müller-Funk 2000) Heute können wir Begegnungen und Treffen, private, ökonomische, politische, medial selbst organisieren, koordinieren und dabei auch die Zeit für die eigenen Zwecke und Befindlichkeiten einsetzen. Die digital Interagierenden haben in ihrer Sozialisation gelernt, mit Zeit und Ort auch strategisch umzugehen: wer es mit dem Treffen zu eilig hat, verrät sein/ihr augenscheinliches Begehren, was dem Gegenüber die Möglichkeit temporären Entzugs gibt. So sind also in der medial formatierten Begegnung auch jene Zeit- und Machtkonstellation, die eine reale Begegnung vorbereiten, mit dem erotischen Dispositiv verschränkt, das durch Zugriff und Entzug charakterisiert werden kann. Denn der – subjektive – Wert eines Dinges bzw. eines Menschen liegt nicht zuletzt in dem Widerstand, den er mir entgegensetzt, ihn auch nur zeitweilig zu erlangen. (Simmel 1902/1989) »Realpräsenz« hat ihren Preis.

H i s t o r i s c h e T i e f e n d i m e n si o n . D e r k l a s s i s c h e u n d d e r r o m an t i s c he L i e b e s b r i e f Der mediale Cocktail unserer Tage vermehrt die Kommunikationsmöglichkeiten; er raffiniert das Spiel von Nähe und Ferne. Im Hinblick auf die neuen Medien, die in mancherlei Hinsicht nur fortsetzen, was durch die mediale Revolution des 20. Jahrhunderts (Telephon, Radio, Fernsehen, Film) bewirkt worden ist, kommt es zur Entkoppelung der territorialen von den symbolischen und imaginären Räumen. Zwar verschwindet der ›reale‹ Raum nicht vollständig, aber er wird zugleich zur Metapher für symbolische Verbindungen und für den Ort individueller oder kollektiver Phantasmen. Die Zwischenräume, dieses irrlichternde Feld von Erwartungen, Missverständnissen, Wünschen und Begierden, wachsen mit zunehmender Abstraktion und Absenz Dieser Zwiespalt ist höchst riskant: Als der junge Lyriker Baudelaire, der mit seinem weiblichen Idol über lange Zeit in einem vermittelten Verhältnis gestanden hatte – mittels Brief und gewidmetem Gedicht –, endlich ans Ziel seiner Wünsche kam, der körperlich-innigen sexuellen Vereinigung mit der bis dahin bildhaft entfernten Geliebten, der Muse seiner Fleurs du Mal, da bedeutete das vermeintli36

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che größtmögliche erotische Glück nach all den romantischen Überhitzungen, die im medialen Zwischenraum entstanden waren, die vielleicht größte Enttäuschung seines Lebens. Ich bin kein Hegelianer, aber es ließe sich doch behaupten: Erst durch die Medialisierung und ihren strukturellen Platonismus kommt das komplexe Spannungsverhältnis, wie es dem Erotischen zugrunde liegt, auf den Begriff. Zumindest aber wird es ausgebreitet, gestaltet, inszeniert, externalisiert, und zwar gerade deshalb, weil die mediale Kommunikation nicht die reale leibliche Präsenz zweier Gegenüber zu substituieren vermag. Ich glaube nicht, dass Baudelaires Enttäuschung viel mit der Person Madame Sabatiers, ihren emotionalen, intellektuellen und erotischen Eigenschaften zu tun hatte; wahrscheinlich hätte es keine Frau der Welt gegeben, die die angestauten Wünsche und Begehrnisse dieses Mannes hätte zufriedenstellen können. Die Enttäuschung war struktureller, d.h. medial bewirkter Natur: Sie bezog sich auf die schiefe Relation von Virtualität und ›Realität‹. Oder in romantischer Diktion auf die Differenz der fernen Gottheit und der allzu nahen, fassbaren Leiblichkeit einer (von vielen) Geliebten: »Und schließlich […] warst Du vor ein paar Tagen eine Gottheit, und das ist so bequem und so schön, so unantastbar. Jetzt bist Du Frau.« (Baudelaire 1857/1975: 28) Ein weiteres historisches Beispiel mag diese Asymmetrie verdeutlichen: der Liebesbrief, wie er um 1800 zum guten Ton der Gesellschaft gehörte. Er war comme il faut. Festgelegt waren bereits der Code und damit auch die Geschlechterkonstruktionen, für den Mann wie für die Frau. Handbücher mit einschlägigen Regeln und Musterbriefen legen fest, wie Mann oder Frau zu schreiben haben. (Anton [1995], Claus [1993]) Schon für den empfindsamen Brief ist es entscheidend, sich als emotional überschwänglicher Mensch zu zeigen. Der Lyriker und Dramatiker Klopstock und seine spätere Frau Meta Moller haben sich im virtuellen Raum der schriftlichen Kommunikation über ein Jahr einen regelrechten symbolischen emotionalen Schlagabtausch geliefert, eine Überbietungsaktion, einen Potlatsch der Gefühle. Nicht unwichtig hinzuzufügen, dass sie sich während dieses Briefwechsels nur ein- oder zweimal real begegnet sind, und das in einem behüteten familiären Umfeld, das einigermaßen ungeeignet für die Bekundung von Leidenschaft ist. Ein befremdliches und zugleich vertrautes Phänomen ist übrigens auch der augenscheinliche Voyeurismus in dieser medialisierten Liebeskultur: Die Briefe sind zwar süße Geheimnisse individualisierter Seelen, aber sie werden wie ein Prunkstück vorgezeigt: Eine Frau erhöht ihr gesellschaftliches Kapital, ihr Ansehen, wenn sie einen literarisch begabten Anbeter und Heiratskandidaten vorzuweisen hat. Es gibt also in diesem Zeitalter demonstrierter Empfindsamkeit ein hohes Maß an Inszenierung, das

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heißt immer auch an Verstellung – es handelt sich um ein Spiel des Alsob. Auf diese Differenz wird peinlich geachtet, und sie einzuebnen wäre ein Zeichen von schlechtem Geschmack. Diesen verkörpert etwa die jüngere romantische Generation, wenn sie sich von den galanten Damen des späten Rokoko Zurechtweisung einhandelt. Der Brief ist nicht bloß ein passives Mittel, ein Werkzeug der Liebe, sondern durch sein Dazwischentreten verändert sich die Liebe. Die Differenz zwischen brieflicher und leibhaftiger Begegnung konstituiert moderne Befindlichkeiten der Liebe: So lässt sich von einer Erfindung der modernen romantischen Liebe aus dem Geist des Briefes sprechen. Die Empfindsamkeit spielt noch mit den Gefühlen, will ihren erotischen Konsequenzen aus dem Weg gehen, so wie die Modeschriftstellerin Sophie Mereau, die sich plötzlich einem jungen stürmischen Anbeter gegenübersieht, der nicht nur virtuos mit dem Medium des Briefes umzugehen versteht – er entzieht sich, bringt einen Dritten, seinen Bruder, ins Spiel, berichtet von anderen Frauen, die der Angebeteten ähneln usw. –, sondern als logische Konsequenz ihrer und seiner leidenschaftlichen Offenbarungen den Vollzug der Liebe einfordert: Die geschlechtliche Liebe rechtfertigt sich durch die Intensität der gegenwärtigen Leidenschaft. Demgegenüber argumentiert die ältere, übrigens damals literarisch viel prominentere Frau, dass es sich um ein galantes Spiel handelt, gerade weil das Medium des Briefes im Spiel ist. Dieser Spielcharakter überträgt sich übrigens auch auf die inszenierten Begegnungen. Es ist vielleicht nicht unwichtig zu erwähnen, dass die beiden sich – anders als Klopstock und Moller in der ersten Phase ihres Briefwechsels – regelmäßig in diversen Salons treffen. Insofern besitzt der Brief als Medium betrachtet einen symbolischen Überschuss, er hat nicht so sehr die Funktion, ein Treffen zu arrangieren, vielmehr bildet er die verlässliche, im Schriftlichen verankerte Manifestation des innigen Verhältnisses. So werden in den Briefen nicht nur Treffen vereinbart, sondern gemeinsam erlebte gesellschaftliche Abende kommentiert und rezensiert. Nur durch die Verschriftlichung existiert die schöne, in bedeutsame Worte gefasste Liebe. Diese doppelbödige Struktur verschwindet, nachdem die beiden ein Paar geworden sind – nach einer langen Zeit der Irrungen und Wirrungen und dank der ersten Scheidung im Herzogtum Weimar, die übrigens von Herder durchgeführt wurde, der Scheidung Mereaus von ihrem Mann, dem Hofbibliothekar. Es war der Triumph einer neuen Subjektivität (Brentano) über eine ältere Form der Selbstpräsentation, in der das Imaginäre, das im Zwischenraum Angesammelte, nicht aus dem Bereich poetischer Verschriftlichung entweichen sollte – der Sprachkörper sollte als Substitut und poetisch überhöhter Ersatz des realen, der sexuellen Begegnung offener,

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ungeschützter Leiber dienen. Demgegenüber nutzt der romantische Briefschreiber das Potential des Mediums Brief im Sinne seiner eigenen erotischen Wünsche gründlich aus. (Müller-Funk 2005: 89–109) Die elektronisch verfertigte Botschaft, das E-Mail, zeichnet sich durch eine ungleich höhere Geschwindigkeit aus, auch wenn man in Rechnung stellen muss, dass der Briefverkehr anno 1800 dank eines personalintensiven Briefträgerwesens schneller funktionierte als in heutiger Zeit. Medial erprobte und nach virtueller Liebe lüsterne Menschen unserer Tage können sich heutzutage binnen weniger Stunden einen solchen vermeintlich zweisamen imaginären Raum erschaffen. Sie haben die Wahl, die Begegnung als virtuelles Spiel zu betrachten, das auf den durch das Medium geschaffenen Raum beschränkt bleibt, oder es als Vorspiel einer möglichen intimen Beziehung anzusehen. Vielleicht liegt der Reiz auch darin, dass das eine Frage der Entscheidung ist, die mit der Eigendynamik des virtuellen Begegnens, das zugleich ein Nicht-Begegnen ist, einhergeht: Love.at Premium Mitglied werden & Mitgliedschaft verlängern Als Premium-Mitglied haben Sie folgende Vorteile: – Sie erhalten eine persönliche Love.at Mailadresse und können somit anonym Kontakt zu beliebig vielen anderen Mitgliedern aufnehmen – Sie können Profilbilder in Großansicht betrachten – Es stehen Ihnen weitere Suchfunktionen zur Verfügung – Wir senden Ihnen auf Wunsch passende Userprofile auch per SMS zu (www.love.at 2006).

Bei dieser scheinbar entspannten Kommunikation (»Wow, ab zur Registrierung …«) werden bestimmte Merkmale der Hypermoderne sichtbar: Nicht selten verbindet sich dabei eigentlich Unvereinbares miteinander: der Wunsch nach Unverbindlichkeit und Unabhängigkeit mit dem Wunsch nach Intensität, die Gleichförmigkeit der Maschinerie und des Verfahrens mit der Sehnsucht nach Exklusivität, die Ambivalenz von Nähe und Ferne, Fernliebe und entflammter Körperlichkeit. Zugleich aber wird, und das ist gerade an jenen Webseiten sichtbar, in denen es auch um das sogenannte seriöse Anbahnen und nicht nur um sexuelle Gelegenheitsbekanntschaften geht, ein ganz anderes Moment sichtbar, das scheinbar der romantischen Selbst- und Fremdaufladung zu widersprechen scheint: die Zunahme an strategischem Kalkül, an Rationalität und Distanz. Ich vermute, dass das allen Medien seit der Schrift strukturell eigentümlich ist. In seiner »Philosophie des Geldes« (Simmel 1902/1989: 591–723) hat Simmel das am Beispiel des Mediums Geld veranschau39

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licht. Auf Grund von dessen Eigenart, dem Begehren einen versachlichten und gesellschaftlich akzeptierten Ausdruck zu verleihen, verbindet Geld das Unmögliche: Subjektivität und Objektivität. Kalkül, Abstraktion, Intellektualität, »Kommunismus« (d.h. Egalität im Einsatz des betreffenden Mediums) sind für ihn strukturelle Konsequenzen, die sich mit modernen Medien wie dem Geld verbinden. Sie sind strukturell, weil sie nicht an spezifische Eigenschaften einzelner Menschen, nicht an ideologische Strömungen oder kulturelle Moden geknüpft sind. Ich wage die These, dass es zwischen dem Tauschmedium Geld und all jenen Kommunikations- und Informationsmedien, die uns heute im Hinblick auf die Begegnung von Menschen beschäftigen, einen inneren Zusammenhang gibt. (Müller-Funk 2007) Sie haben gemeinsam, dass sie große anonyme Menschenmassen, direkt wie indirekt, komprimieren und kohärieren. Es ist vor allem das Dazwischen, das auf merkwürdige Weise sowohl rational-strategisches Kalkül konstituiert als auch einen imaginären Raum des Irrationalen, des Begehrens schafft. Simmel spricht in diesem Zusammenhang von der »Greifbarkeit des Abstraktesten« (Simmel 1902/1989: 137). Neue Medien sind also nicht nur funktionstüchtig im Hinblick auf die Ermöglichung von Begegnung, sie modellieren vielmehr die Spielformen und die Umgangsweisen der daran Beteiligten.

S u b st i t u t i o n u n d m e d i a l e r P l a tz w e c h s e l In einschlägigen Diskursen über alte und neue Medien spielt das Phänomen der Substitution eine entscheidende Rolle. Das damit oft einhergehende Verschwinden medialer Maschinen und Werkzeuge gibt es vergleichbar im Bereich der Produktion, im Übergang von der Handarbeit über die Manufaktur zur industriellen und postindustriellen Fabrikationsweise. Maschinen sind nicht bloß sterblich, wie Dietmar Kamper einmal formuliert hat (Kamper 1996: 223–229), sie veralten. Beispiele hierfür wären die Schreibmaschine, das Telegramm, das Tonband, oder – um sehr personalintensive vormoderne Techniken zu erwähnen – die Flaschenpost, die, wie der Leser von Christoph Ransmayrs Nordpol-Roman nachlesen kann, noch bei der ersten und einzigen österreichischen Nordpolexpedition von Payr und Weyprecht eine Rolle gespielt hat (Ransmayr 1984/1987), die Brieftauben oder das Lauffeuer, das eben nicht bloß eine Metapher, sondern eine längst entschwundene historische Wirklichkeit darstellt: dass eine wichtige Information, z.B. die Siegesmeldung beim Krieg, durch eine Stafette von sich abwechselnden Läufern transportiert wird (ein Überbleibsel dieser Technik ist übrigens der Transport des olympischen Feuers). Was übrigens zu schreiben bliebe, ist

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nicht nur die Geschichte der verschwundenen Kommunikations- und Informationsmedien, sondern auch die Geschichte vergangener Zukünfte und Utopien, die nie Wirklichkeit geworden sind, weil eben die Substitutionsthese bestenfalls halbwahr ist. Die Funktionen, die die ehemals mächtigen Informations- und Nachrichtenmedien erfüllten, sind nicht verschwunden. Auch in einer durch und durch medialisierten Gesellschaft spielen das Gerücht und der gute Ruf, ein übrigens sehr ungreifbares und interessantes, aber vordergründig nur anachronistisches Phänomen, beim Erfolg von Büchern oder Veranstaltungen wie bei der Karriere von Menschen noch immer eine maßgebliche Rolle. In gewisser Weise sind die alten Medien, vor allem die mit ihnen einhergehenden Modi von Kommunikation und Information – noch einmal mit Hegel gesprochen – in anderen ›aufgehoben‹ (McLuhan): die Tastatur der Schreibmaschine zum Beispiel im Computer, das Tafelbild im Fernsehbild, der Bildschirm des Fernsehens wiederum im PC, der Brief im elektronisch versandten Brief, der E-Mail, die Annonce im Dating, die Peepshow in digitalen pornographischen Präsentationsformen usw. Dabei geht die Schaffung visueller »Authentizität« mit der Produktion von Ferne einher: Das wahrnehmungsgerecht Präsentierte, scheinbar Greifbare rückt zugleich in die Ferne, die eine täuschende Nähe ist. Einige, aber keineswegs alle älteren Medien und Formen der Nachrichtenübermittlung, der Kommunikation und der ästhetischen Expression sind verschwunden. Andere wechseln im Gefolge medialen Wandels ihren Ort und ihre Funktion. Sie unterliegen einer Ausdifferenzierung: Im Zeitalter des digitalen Briefes kann das Telefonieren etwa vom Festnetz eine private Note bekommen: Man schreibt lieber mit elektronischer Post, anstatt sich auf die Begegnung der Stimmen einzulassen; ein womöglich handgeschriebener Brief, sofern er nicht von einem älteren Menschen stammt, wird gar zu einem Luxus; und wer darauf Wert legt, dass jemand wirklich zu Besuch, zu einem Treffen, zu einer Veranstaltung kommt, der verschickt eine Einladung. Angesichts der billigeren und schnelleren Möglichkeit des freilich überbordenden digitalen Briefverkehrs enthält der auf postalischem Wege versandte Brief eine ›verschwiegene‹ Zusatzinformation: Du stehst auf meiner speziellen persönlichen Liste, ich lege auf Dein Kommen besonderen Wert. Unterstrichen wird dies gerne auch damit, dass Mann oder Frau auf die betreffende Einladung ein paar Worte mit Namen kritzeln. Bei den entsprechenden Möglichkeiten der Kontaktnahme von Personen, die sich bislang nicht kennen, sich aber übereinander informieren, liegt die Sachlage ein wenig anders. Die elektronische Vor-Begegnung enthält auch die Botschaft, dass es etwas Gemeinsames zwischen den

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potentiellen Liebespartnern gibt, nämlich dass sie sich des gleichen Mediums bedienen und die konventionellere Methode von Annoncen und Heiratsanzeigen vermeiden. Die Hauptfiguren in Bauersimas Stück norway.today, Julie und August, haben sich durch digitale Kontaktaufnahme kennengelernt. Was sie suchten, war nicht das Begehren, das stets gemeinsam sein muss, wenn es sich nicht ins Tragische oder Komische wenden soll, was sie suchen, ist die digitale Variante von Kleists Suizid – einen Partner für einen Tod: »Hallo ich bin Julie. […] Meine Nachricht ist […] nur für die Leute bestimmt, die sich umbringen wollen. Ich bitte deshalb diejenigen, welche nicht die Absicht haben, das Leben sein zu lassen, mir keine weitere Beachtung zu schenken und diesen Chatroom kurz mal zu verlassen.« (Bauersima [2003], 11)

In der Differenz der unterschiedlichen medialen Verwendungen und Nutzungen kommt eine Divergenz von Lebensstilen und von Konzepten des Selbst zum Tragen. So ist die digitale Begegnungsanbahnung ein zeitgemäßer Mittelweg zwischen der alten Annonce und dem nicht selten riskanten, oder anödenden ›Aufriss‹ in Lokalen und Diskotheken, in dem es kein strukturiertes Dazwischen gibt, keinen Schutz, keine mediale Maske. Das Dazwischen-Treten des Mediums erlaubt die Koppelung des Unmöglichen: die persönliche Geste mit einem emotional unterkühlten Duktus der Sprache. Beide sind direkter Ausfluss einer spezifischen Medialität, wie sie die unverbindliche Form des digitalen Mediums erst möglich macht. (Karl Markus Gauss [2007]) Im Zeitalter reproduzierter Information, Kommunikation und Kunst ist also mit einer Luxurierung der persönlichen Begegnung zu rechnen, insbesondere dann, wenn die neuen Medien den Glanz und die Aura des Neuen verloren haben und kulturelle Alltagsrealität geworden sind. Dann wird auch der Machtfaktor sichtbar, der mit der Substituierung realer durch technisch vermittelte Kommunikation einhergeht: Wie in Franz Kafkas kurzem Prosatext über den kaiserlichen Boten wird der Zugang zu persönlicher Begegnung nur wenigen Sterblichen zuteil, er ist exklusiv, ein knappes Gut. Das gilt vor allem im geschäftlich-politischen Feld. Im privaten Bereich häuft sich das Bedauern der medial Kommunizierenden, dass sie sich schon so lange nicht getroffen haben, nicht im emphatischen Sinn begegnet sind. Warum die leibliche Begegnung also nicht verschwinden dürfte und der einsame Solitär/die einsame Solitärin, der/die auch noch die Pizza per Mausklick bestellt und sein/ihr erotisches Begehren virtuell stillt, Utopie oder Dystopie bleiben wird, lässt sich insbesondere für eine konstruktivistisch verfahrende Kulturwissenschaft gar nicht so einfach beantworten. Vermutlich stärkt die Differenz, die durch die Medien gesetzt wird, 42

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jene Grenzdimension, die in der Phänomenologie mit dem Begriff der realen Lebenswelt umschrieben ist und die vermutlich jene Intimität generiert, ohne die Begegnung letztendlich nicht möglich ist. Diese Realität hat mit Tast- und Geruchssinn, mit unbeobachteter Interaktion, mit Haut, mit der Körpernähe der gesprochenen Sprache und mit dem Selbstbezug des Leiblichen in der Begegnung des Anderen zu tun. Kommunikation und Information beruhen auf einem sozialen Tatbestand, ohne den beide überhaupt nicht denkbar sind und der seit David Hume in der Philosophie eher am Rand behandelt worden ist: Vertrauen und Anerkennung. Genau das ist es, was die Politik beschwört, die sich dem Bürger vor allem durch moderne Massenmedien mitteilt. Aber auch diese bedürfen eines Grenzwertes von Vertrauen, um zu funktionieren. Man muss glauben, dass ihre Nachrichten verlässlich und richtig sind, dass sie stimmen. Vertrauensbruch erzeugt zumeist dass Ende der Kommunikation und führt zur Implosion des Nachrichtenmediums. Persönliches Vertrauen hingegen ist vornehmlich nur in der direkten Kommunikation zu erwerben. Daher heißt es auch in der Worthülsensprache von Politik und Medien, dass zwei Partner sich in Verhandlungen näher gekommen sind und dass das verlorene Vertrauenskapital wieder aufgebaut werden muss. Oder vorsichtiger formuliert: Vertrauen ist nur in realer Kommunikation durchspielbar. Deshalb greifen die Mächtigen dieser Welt nicht nur zum Telephon und beschäftigen ihre Bürokratien mit E-Mail-Verkehr, sondern treffen sich leibhaftig. Zudem scheinen persönliche Begegnungen geeignet, etwaige Missverständnisse im Hinblick auf den Kontext der jeweiligen Kommunikation auszuräumen. Wenn es entscheidend wird, dann suchen wir das Heil in der persönlichen Begegnung. Man kann dies auch kulturgeschichtlich und -anthropologisch erklären. Peter Sloterdijk hat vor vielen Jahren davon gesprochen, dass der Mensch zwar konzeptuell ein Kopernikaner geworden, leiblich aber ein Ptolemäer geblieben ist (Sloterdijk 1987). Diese prinzipielle Differenz scheint mir einschlägig für jedwede ambitionierte Theorie der Medien. Sloterdijks These ließe sich als eine Art von historischem Rückstand interpretieren, der irgendwann einmal obsolet geworden sein könnte. Aber diesen Zwiespalt könnte man auch – und diesen Befund würde ich vorziehen – dahingehend verstehen, dass unsere Leiblichkeit uns auf die persönliche Kommunikation und das Leben in Kleingruppen fixiert, auch wenn wir mit Zigtausenden von Menschen auf die ein oder andere Art und Weise in Kontakt treten. Dieser Bestand markiert Grenzen technischer Kommunikation gerade im Hinblick auf wichtige und elementare Aspekte der Lebenspraxis: Lebensgemeinschaften, Studium, Arbeit und Produktion, Politik. Das Funktionieren mittelbarer Kommunikation basiert nicht zuletzt auf der Erfahrung gelungener unmittelbarer Kommuni-

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kation. Als Sekundärphänomen tritt überdies – das zeigt das Beispiel des Datings sehr anschaulich – Hunger nach Realität mit exhibitionistischen Tendenzen zutage. Heutige Menschen sehen sich nicht nur mit der Frage konfrontiert, mit wem sie sich wo treffen und was sie mit ihnen zu welchem Zweck gemeinsam tun wollen. Hier kommt noch einmal Simmels intellektueller Mensch ins Spiel, der strategisch, in langen Zweckreihen denkt und für den sich heute das Problem stellt, welches Medium für welchen Zweck das angemessene ist. Auf diesen Benutzer-Typus, der auch das Irrationale rational betreibt, sind heutige elektronische Kontaktbörsen ausgelegt: Mit Love.at und KroneHit jetzt Flirten im TV! Jetzt gibt es für unsere User eine Dating-Möglichkeit der Extraklasse. Love.at holt Sie in Kooperation mit KroneHit Charts zum Flirten ins Fernsehen… Wir suchen ein Pärchen, das sich auf Love.at kennengelernt hat, und das sein erstes Date »in Natura« gerne vor laufender Kamera bei einem hochkarätigen Disko Event bestreiten würde. … Sie können sich als VIP Gäste in einer stilvollen Lounge bei guten Getränken das erste Mal tief in die Augen schauen. Über den Abend verteilt werden sie immer wieder gefilmt und können am Ende des Dates ein Resümee vor der Kamera abgeben. Damit Sie an Ihrem großen Abend auch perfekt gestylt sind, werden die Moderatoren von KroneHit am Tag des Dates mit Ihnen shoppen, zum Friseur und zum Stylisten gehen, auch hier von einem Kamerateam begleitet. (www.love.at, 2006)

L i t e r at u r Anton, Annette C. (1995): Authentizität als Funktion, Stuttgart. Baudelaire, Charles (1975): Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden. In: Friedhelm Kemp und Claude Pichois (Hg.), Bd. 3: Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen, München: Hanser. Bauersima, Igor (2003): norway.today, Frankfurt a.M.: Fischer. Bauersima, Igor/Desvignes, Réjane (2005): Boulevard Sevastopol, Wien Burgtheater 2005/2006 (Programmheft)/Frankfurt a.M.: Fischer. Castiglione, Baldassare (1996): Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance [1528]. Aus dem Italienischen von Albert Wesselski, Berlin: Wagenbach. Claus, Elke (1993): Liebeskunst. Untersuchungen zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert, Stuttgart.

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BEGEGNUNGEN ALS VERGEGNUNGEN. DIE URBANISIERUNG D E S E L E K T R O N I SC H E N N E T Z E S MARTINA LÖW/SERGEJ STOETZER »Die Stadt ist ein Ort der Vergegnungen«, schreibt Zygmunt Bauman (1995: 235). Urbaner Raum ist so organisiert, dass jenseits von Verabredungen Begegnungen vermieden werden können. Unter Bedingungen permanenten Zusammentreffens fremder Menschen wird der immer involvierte Andere wahrgenommen, ohne dass sich Interesse füreinander entfaltet. Obwohl man um seine Existenz weiß, wird räumlich und sozial eine Kultur entwickelt, die die Begegnung zur Vergegnung gerinnen lässt. Städte sind für Bauman maßgeschneiderte Bühnen für das Spiel der Flaneure. Es werden Orte geschaffen, die den Besuchern/-innen das Vergnügen des Schauens bereiten: »Der Fremde im Spiel des Flaneurs ist nur der Anblick des Fremden.« (Bauman 1995: 259) Hans-Paul Bahrdt definiert deshalb »Öffentlichkeit« über jenes stilisierende Handeln jedes Einzelnen, das zwei Aufgaben gleichzeitig erfüllen soll: »einerseits zu verhüllen, was der nur beschränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt vorenthalten werden soll, andererseits ihr all das, was für sie bestimmt ist, deutlich genug zu zeigen, damit auch im flüchtigen Kontakt ein Arrangement gelingt.« (Bahrdt 1961: 43)

Die Flüchtigkeit der Begegnungen, gepflegte Distanz, Anonymität und Unpersönlichkeit sind auch für Bahrdt die Merkmale urbaner Kommunikation: »Nach der Uhrzeit darf man fragen. Ein Mann darf einen anderen Mann, der gerade raucht, um Feuer bitten. Auch nach dem Weg darf man sich erkundigen. Aber man erkennt den Menschen vom Lande sofort daran, daß er bei dieser Gelegenheit gleich erzählt, wen er zu besuchen gedenkt und warum er sich nicht auskennt.« (Bahrdt 1961: 42)

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Diese distanzierte, meist nur visuelle Form der städtischen Vergegnungen greift auch Henning Bech (1995) auf, wenn er das Zusammentreffen von Städter/-innen als Wahrnehmung von Oberflächen beschreibt. Es gehe nicht »um die andere Person als umfassendes menschliches Wesen, sondern um ihre oberflächliche Erscheinung oder eines Teiles davon« (Bech 1995: 11). Im Unterschied zu Bauman, dem die von ihm als »Telecity« bezeichnete visuelle Kultur zu keimfrei und letztlich fremdenfeindlich erscheint, kann Bech dieser anonymen urbanen Kultur lustvolle Seiten abgewinnen, z.B. in dem in der Schwulenkultur entwickelten Spiel der Blicke, dem cruising. »Manchmal beschränkt sich das cruising lediglich auf ein Spiel der Augen, ist sozusagen stationär. Oft gerät es aber auch in Bewegung, wenn Blicken Beine wachsen, auf denen sie herumwandern können.« (Bech 1995: 12) Die Freude an Oberflächen ist für Bech Teil einer urbanen Sexualität. Städte, so kann man aus den Überlegungen der drei Theoretiker schlussfolgern, etablieren neben einer Kultur der Verabredungen auch eine Kultur der Vergegnungen. Verabreden wird im deutschen Wörterbuch mit »Zeit und Ort für eine Zusammenkunft festlegen« (Wahrig 1997) erläutert. Verabreden muss sich, wer sich nicht selbstverständlich begegnet. Verabreden kann sich, wer den Ort der Verabredung bestimmen kann. Damit ist »verabreden« in zweifacher Weise räumlich gebunden. Es ist ein dominant städtisches Phänomen, weil es eine Organisationsform des sozialen Miteinanders unter Bedingungen von Dichte, Größe und Anonymität ist, und es ist ein ortsgebundener Vorgang, weil alle Betroffenen an einem – sorgfältig gewählten, keineswegs beliebigen1 – Ort zusammenkommen wollen. Orte werden als meeting places substanzieller Teil einer Verabredung. Daneben existiert eine für Städte ebenso grundlegende kommunikative Praxis der Reserviertheit, um die es im Folgenden gehen wird. Die Großstadt als »Gebilde von höchster Unpersönlichkeit« (Simmel 1984, orig. 1903: 232) organisiert Anonymität (und die darin liegenden Optionen von Freiheit) nicht als Vereinzelung, sondern als visuelle Kultur der gemäßigten, distanzierten Begegnung/ Vergegnung. 1

Der Ort für die erste Verabredung will gut gewählt werden. Es gehört zu den gesellschaftlichen Konventionen, dass dieser Ort in der Anfangszeit einer gemischtgeschlechtlichen Beziehung von Männern gewählt wird. Die Frauen nutzen die Chance der Interpretation: Der Partner erstrahlt im Szenelokal, im Traditionsrestaurant, in der Sternegastronomie in jeweils anderem Licht. Es gilt als unschicklich, sich gleich zu Beginn nach Hause zu verabreden. Der Ort soll öffentlich sein, um die Normalität der Begegnung einander Fremder zu bestätigen, aber auch die Möglichkeiten von Intimität zu begrenzen. 48

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Man muss weder den kritischen Stimmen lauschen, die das Internet als »grellste Oberflächenerscheinung« thematisieren (vgl. dazu Diefenbach 1997: 71), noch den Fantasien revolutionärer, freiwilliger Communitybildung unter einander Fremden lauschen (zur ausführlichen Analyse vgl. Lummerding 2005), um zu erkennen, dass die urbane Kultur der Vergegnung in den virtuellen Räumen einen Klon generiert hat. Die urbane Be- und Vergegnungskultur dient, so unsere These, als Modell für den Aufbau der Netzkultur. Dies zeigt sich, so werden wir argumentieren, erstens darin, dass sich Communitybildung wesentlich an der Leitmetapher der Stadt orientiert, zweitens darin, dass in der stark visuell geprägten Netzkultur (Spielkultur hier diskutiert an der digitalen Stadt, Chat) über den Avatar die Oberflächenbetrachtung fortgeschrieben wird mit der Option des »Tieferblickens« durch das Aufrufen des Profils und drittens existiert gerade in der Option des Internets, Räume menschenleer betrachten und Stadtverwaltungen ohne Interaktion organisieren zu können, ein Angebot zur Zuspitzung urbaner Vergegnungskultur: Der »Andere« kann dabei zugunsten der Begegnung mit dem »reinen« Raum aus dem Bild genommen werden. Gerd Held (2005) kann überzeugend darlegen, dass die Moderne zwei grundlegend verschiedene räumliche Strukturen etabliert hat, die er – im Rückgriff auf Fernand Braudel (1985) – als Territorium und Großstadt identifiziert. (Groß-)Städte folgen dem Raummuster des Einschlusses und der Heterogenität im Unterschied zu Territorien/territorial verfassten Nationalstaaten, die räumlich als Ausschluss organisiert werden: »Während der Staat auf dem territorialen Ausschlussprinzip beruhte, und die Abgrenzung eines Binnenraums die Möglichkeit der relativen Homogenisierung eröffnete, kennt die Stadt im Prinzip keine Grenze als Trennungsmechanismus. Sie ist im Wesen offen. Sie bezieht ihre Stabilität aus dem Mechanismus der relativen Dichte, die die Elemente in einem besonderen Zustand gegenseitiger Haftung und Übertragung versetzt. Die Raumstruktur wird sozusagen als Häufung von Kontaktflächen gebildet.« (Held 2005: 230)

Das elektronische Netz, das als technologische Innovation im Feld des Räumlichen diskursiviert wurde (vgl. ausführlich Ellrich 2002; Becker 2004; Schroer 2006: 254ff.), wählte Einschluss und Offenheit als Prinzip. Dem Vorbild »Stadt« folgend wird urbane Kultur zum Organisationsprinzip.

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Communitybildung im Zeichen der Stadt Auf der Basis einer Online-Ethnografie kann Winfried Marotzki (2003) empirisch herleiten, dass virtuelle Gemeinschaften im Kern anhand von wenigen Merkmalen definiert werden können, wovon das zentrale ist, dass virtuelle Gemeinschaften in ihrer Begegnungskultur der Leitmetapher der Stadt folgen oder typische städtisch-räumliche Phänomene wählen (Wohngemeinschaft, Bibliothek, Quartier etc.). Das Portal www.webchat.de gibt hier einen guten Überblick über die deutschsprachige Chat-»Landschaft« (differenziert nach Themenschwerpunkten, regionalspezifischen Angeboten, auch Statistik über die Anzahl online gewesener Chatter der letzten Tage und aktueller Stand etc.).

Abbildung 1: Virtuelle Community als städtische Wohngemeinschaft: www.zimmerfrei.de (Zugriff 22.11.2006, Bildschirmfoto) Im Versuch der virtuellen Gemeinschaftsbildung und damit der Etablierung von regelmäßigen, auf Dauer abzielenden Begegnungen greifen die Akteure ungebrochen auf städtische Motive – dem Modell der europäischen Stadt folgend als Ort vielfältiger Be-/Vergegnungen verstanden (Simmel 1903; Park/Burgess/McKenzie 1925; Wirth 1938; Bahrdt 1961) – zurück. Aufbauend auf dem Prinzip einer räumlichen Strukturierung im Rückgriff auf klar eingeführte räumliche Formen folgen weitere Strukturierungen, die die »Gestalt« und die Nutzungs- sowie Interaktionsmög50

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lichkeiten ausrichten. Unter dem Signum der Stadt-Metapher wird beispielsweise häufig ein an öffentlichen Nahverkehr angelehntes Navigationssystem benutzt (in Abbildung 1 ebenso exemplarisch: der Wohnungsgrundriss). Daran schließen die Möglichkeiten der Mitglieder einer virtuellen Gemeinschaft an, miteinander in Kontakt zu treten, was Marotzki als Kommunikationsstruktur bezeichnet. Sie ist es, die im elektronischen Netz vor allem technischer Natur ist (chat, mail, board oder Forum etc.) und in den Möglichkeiten technischer Realisierbarkeit soziale Kommunikation strukturiert. Ein Chat setzt zur Partizipation die gleichzeitige Anwesenheit der Kommunikationspartner/-innen in der virtuellen Community voraus, zeitunabhängig dagegen funktionieren E-Mail und Foren. Insbesondere dann, wenn die Mitglieder der virtuellen Gemeinschaft in unterschiedlichen Zeitzonen agieren, wirkt die Kommunikationsstruktur selektiv. Die virtuelle Begegnung wird durch ein hochkomplexes Regelwerk organisiert, durch das u.a. auch der Zugang bestimmt wird – je nach Art der Gruppe wird so vor dem Hintergrund prinzipieller Offenheit lokal eine unterschiedlich stark ausgeprägte Exklusivität erreicht (z.B. Selbsthilfe- oder therapeutische Gemeinschaften) sowie ein Gratifikationssystem (Anreize zur aktiven Teilnahme; Versuch der Bindung an die Gemeinschaft) und ein Sanktionssystem mit dem Ziel, die virtuelle Gemeinschaft (oder Teile von ihr) vor Missbrauch und Störungen zu schützen. Die soziografische Struktur wird durch dieses Regelwerk auch hervorgerufen, indem eine Hierarchisierung sozialer Positionen durch unterschiedliche Kompetenzen, Aktivitäten, Rechte und Pflichten oder Anerkennung innerhalb der Gemeinschaft erzeugt wird. Die Informationsstruktur einer Gemeinschaft, also die Frage, wer wen wie mit Informationen versorgt, kann ebenfalls unterschiedliche Komplexitätsgrade erreichen, von einfachen Linksammlungen bis hin zu komplexen Datenbanken oder räumlichen Ausformungen der Darbietung von Informationen (»Presseraum«). Die Netzgemeinschaft legt großen Wert auf die Präsentation gewählter »Identitäten«, welche angefangen von der Wahl des Nicknames bis hin zu Geschlecht, Alter, Bildern, Hobbys und weiteren privaten Angaben entworfen werden können. Sie werden als Profile in den virtuellen Be- und Vergegnungsräumen individuell gespeichert und sind für Mitglieder der Community einsehbar. Diese Identitätskonstruktionen sind, so zeigt z.B. auch Eva Illouz (2006), sprachliche und visuelle Konstruktionen. Wie in den Vergegnungen der Stadt so richtet sich auch hier das Interesse nicht auf die Breite der möglichen menschlichen Befindlichkeiten

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(schwitzende Handflächen, ein beschleunigter Herzschlag, das Erröten der Wangen […], Tränen, Stottern, vgl. Illouz 2006: 115), sondern auf die Präsentation der Oberfläche. Dazu gehört bei der Präsentation von Fotografien – so Illouz – auch, dass physische Konventionalität, eine Orientierung an Schönheit und Fitness, die typische bildliche Darstellung und die erfolgreichste Präsentation einer Persönlichkeit darstellt. Die Präsentationsstruktur der Gemeinschaft wird abgerundet durch individuelle private Homepages, Blogs bzw. halböffentliche oder geschlossene Kommunikationsbereiche, die sich nicht selten wiederum am Bild der Stadt orientieren, wenn z.B. Wohnungen oder Zimmer als private Nischen in Abgrenzung zu einem öffentlichen, urbanen Raum lesbar werden. Die Inszenierung eines Einblicks in das Private (Homepage, Blog, Chat) suggeriert, dass in einer Kultur der Vergegnungen urbaner Umwelt nun doch Begegnung im privaten setting organisiert werden kann. Obwohl das Web unentrinnbar visuell dominiert bleibt, dient die Einführung der Differenzierung von privat und öffentlich, entsprechend den Konstitutionsprinzipien der modernen, urbanen Gesellschaft (vgl. Bahrdt 1961; aber auch Hausen 1976; Terlinden 1990), dazu, den Anschein privater, authentischer Kommunikation jenseits der visuellen Oberflächen zu erwecken. Die Suggestion von wahrer und gespielter Kommunikation entlang dem Muster privat-öffentlich wiederholt sich als Ordnungsmuster in der Netzkultur. Die Präsentationen im Netz werden nicht nur entlang des Musters öffentlich/oberflächlich-privat/(scheinbar) intim, sondern auch in der Raumstruktur »Einschluss« organisiert.2 Einschluss stellt stets die Frage 2

Zu sagen, das Netz basiere in seiner Basiskonzeption auf Einschluss, bedeutet nicht (wie bei der Stadt auch), dass sich nicht Ausschlüsse beobachten lassen. Das relationale Netzwerk ist nicht ortlos, sondern über seine physikalisch-technische Struktur in Form von Infrastruktureinrichtungen, deren geografische Lage angebbar ist, »geerdet«. Die Infrastruktureinrichtungen, die das Datennetz erst ermöglichen, sind somit über ihren Standort in räumliche wie juristische Strukturen des Realraumes integriert. Die technische Infrastruktur ist unterschiedlichen nationalen Rechts- und Kontrollsystemen unterworfen, mit der Konsequenz, dass sich die Einflussbereiche, typischerweise national organisierte Rechtsnormen, in diese virtuellen Räume einlagern. Beobachtet werden kann dies an unterschiedlichsten Arten von Zensurbestrebungen (vgl. dazu die Jahresberichte der »Reporter ohne Grenzen« www.reporter-ohne-grenzen.de oder Stegeman 2004). Hierzu zählen Bemühungen, die unerwünschten Informationen aus dem Kommunikationsstrom herauszufiltern und so ein Territorium (z.B. die VR China oder den Iran) von regierungskritischen Kommunikationsinhalten freizuhalten. Im Braudel’schen Sinne (1985) sind auch hier Stadt und Staat räumliche Strukturen, die nicht getrennt, sondern konkurrent existieren. 52

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nach politischer Partizipation. Diese kann in virtuellen Gemeinschaften unterschiedliche Grade von einfachen Vorschlägen bis hin zu komplexen Simulationen demokratischer Repräsentationen erlangen (vgl. die Konzeption der Partizipationsstruktur bei Marotzki 2003), ist für Communitybildung im Netz aber hochrelevant und entscheidet in der Konsequenz, inwieweit die Gemeinschaft durch ihre Mitglieder wandelbar ist. Das letzte Strukturmerkmal im Sinne Marotzkis (2003) ist das Verhältnis online-offline, das Möglichkeiten der Kontaktaufnahme außerhalb der virtuellen Gemeinschaft vorsieht, indem Nachrichten an Mobilfunktelefone oder externe Mailadressen verschickt werden können, eine geografische Angabe bei den Identitätsprofilen der Mitglieder vorgesehen ist oder in der Datingkultur von der Internetkommunikation zum leiblich gebundenen Treffen gewechselt wird. Auch Serviceangebote kommerzieller Anbieter, die ortsbezogene realweltliche Dienstleistungen offerieren, gehören zu diesem Strukturmerkmal (Sparkassen oder Banken, Einkaufsmöglichkeiten) und dienen der Finanzierung der Community. Mit diesem Strukturmerkmal vergleichbar ist das Wissen um die Möglichkeit, die Stadt verlassen zu können. Zusammenfassend bedeutet dies: Virtuelle Gemeinschaften rekurrieren raumstrukturell auf das Einschlussprinzip der Stadt und realisieren diese Struktur dominant über die Stadt als Leitmetapher. Sie reproduzieren in den Kommunikationsstrukturen eine spezifisch urbane Kultur der Vergegnung/Begegnungen einander Fremder, die von Dominanz, Anonymität, Inszenierung und Visualität geprägt ist. Deutungsmuster wie privat-öffentlich werden eingeführt, um Kommunikation auszudifferenzieren, ohne die Lust an der Oberfläche visueller Präsentation zu verlassen. Um gerade den urbanen Charakter des Zusammenkommens hervorzuheben, wird viel Energie darauf verwendet, die virtuelle Stadt realitätsnah zu präsentieren, z.B. über die Konstruktion urbaner Infrastruktur wie Verkehrsmittel als Navigationsmetapher. Insbesondere dann, so werden wir im Folgenden genauer ausführen, wenn kommunikative und partizipative Elemente integriert sind und die Leitmetapher »Stadt« nicht nur aufgeführt, sondern auch konsequent umgesetzt ist, handelt es sich um die Herausbildung digitaler Städte zur Organisation von Begegnungen.

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S t a d t al s v i r tuel l er O r t d e r Ver- und Begegnung »Wir alle sind Spieler. Der städtische Flaneur ist der reisende Spieler. […] Sein Spiel ist es, andere zum Spielen zu bringen, sie als Spieler zu sehen, aus der Welt ein Spiel zu machen. Und dieses Spiel, das er die Welt spielen läßt, steht ganz unter seiner Kontrolle.« (Bauman 1995: 257)

Der Vergegnungsflaneur Bauman’scher Lesart spielt mit den Oberflächen und braucht andere Spieler, um sich an den Oberflächen zu erfreuen. Baumans Stadtbeschreibung klingt (von ihm unbeabsichtigt) wie eine Darstellung der Begegnung virtueller Avatare im Netz. Internet-Rollenspiele, an denen Hunderte von Spielern und Spielerinnen gleichzeitig teilnehmen, erfreuen sich großer Beliebtheit und sind meist im Bereich des Fantasy-Genres angesiedelt (Massively Multiplayer Online RolePlaying Game, MMORPG). Die Spieler/-innen können zwischen verschiedenen Charakteren wählen und im Laufe des Spiels diesen weitere Eigenschaften (z.B. durch Erfahrungen, die im Laufe des Spiels gewonnen werden) hinzufügen oder seltene und nützliche Gegenstände sammeln. Digitale Städte werden im Internet zwar auch als Forschungsfeld zu neuen Formen politischer Partizipation und technischer Realisierbarkeit, zur Analyse von virtuellen Vergemeinschaftungsformen auf der Basis elektronischer Fernkommunikation oder als ästhetisches Experimentierfeld genutzt (für Fallstudien vgl. van den Besselaar/Koizumi 2005), erreichen aber den größten Verbreitungsgrad als Simulation städtischen Zusammenlebens im Spiel (vgl. die Spiele »The Sims 2«, »The Urbz« von Electronic Arts). Die Nutzer und Nutzerinnen begegnen sich dabei mittels eines virtuellen Alter Ego, eines Avatars, der in der Regel aus vorgegebenen visuellen Darstellungen gewählt wird, aber weder dem Geschlecht noch dem Alter oder gar Aussehen des/der realen Nutzers/-in entsprechen muss. Über diese digitale Repräsentation können die Nutzer/-innen digitaler Städte miteinander in Kontakt treten. Gegenstand des gemeinsamen Kontaktes ist es häufig, die räumlichen Anordnungen der digitalen Welt auszubauen und zu verändern: Der Kauf und die Nutzung virtueller Grundstücke ist möglich, die sich nach Belieben mit Schneelandschaften, Palästen oder auch schwebenden Häusern versehen lassen. Erworben werden können die virtuellen Grundstücke von ebenfalls virtuellen Developern, die Gärten, Hügel und Flüsse anlegen sowie die Vegetation verteilen (vgl. das Online-Spiel »Second Life«, das bereits mehr als 14.000 deutsche Bewohner verzeichnet; Kuri 2006) und an speziellen Orten auf die strikte Einhaltung der Gestaltungsregeln achten. Die Nutzung von Bibliotheksdiensten im Rahmen einer visuell simulierten digi54

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talen Bibliothek ist denkbar, bei der die Nutzer/-innen ihr virtuelles Erscheinungsbild nach berühmten Schriftstellern/-innen oder Forschern/-innen wählen und private Rückzugsbereiche im öffentlichen, virtuellen Raum der Bibliothek finden, um über die zusammengetragenen Informationen zu diskutieren. Die Darstellung der Bibliothek orientiert sich wiederum an der dreidimensionalen Darstellung, die aus First-Person-Games bekannt ist. (Christoffel/Schmitt 2002) Menschen begegnen, ja verabreden sich im Netz, um Städte in ihren räumlichen und sozialen Komponenten aufzubauen. Ihre Begegnung ist als Vergegnung rein visuell wahrnehmbarer Avatare organisiert, etabliert aber auch eine Kultur des Blickens hinter die Kulisse. Im eigenen Profil, den Angaben zur eigenen Person im virtuellen Raum, wird festgehalten, wer sich dieses angesehen hat, für Dritte werden die Anzahl der Abrufe insgesamt angezeigt (ähnlich einem pagecounter für Webseiten). Ruft also Person A das Profil von Person B ab (weil in einem Chat/Forum interessante Aussagen von ihr/ihm stammen oder weil eine Suchanfrage die Person aufgrund der vermuteten Übereinstimmung auswählt), so erfährt Person B, dass »sie«, also ihre virtuelle Repräsentation in Bild und Text, angesehen wurde und von wem – und kann »zurückblicken«: Sie lässt sich das Profil der Person, die den Blickkontakt zunächst hergestellt hat, anzeigen. Wie im wirklichen Leben können virtuelle Blicke so auch Kontaktbereitschaft und Interesse vermitteln, aber auch missverstanden werden: Nicht jeder Blick ist gleich eine Einladung zur Kontaktaufnahme. Anders als in der realen Welt kann der virtuelle Blick wesentlich mehr Details verraten, eben das hinterlegte Profil, den gewählten Namen und sämtliche in der virtuellen Welt zur eigenen Person gemachten Angaben eingeschlossen. Gleichzeitig fehlt jedoch die Körpersprache, die hilft, den Wahrheitsgrad zu überprüfen (zu Online-Dating und Körpern im Netz vgl. auch Rötzer 2003; Funken 2005; Kaiser 2006).3

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Die Möglichkeit detaillierter Information (vorab) machen auch Dating- und Flirt-Plattformen im virtuellen Raum für viele interessant. Filter sorgen dafür, dass Menschen, die »inkompatible«, also entgegengesetzte Einstellungen und Hobbys angeben oder über ein nicht gewünschtes realweltliches Aussehen verfügen (z.B. die 3 Bs: Brille, Bart, Bauch) einander nicht begegnen. Der Übergang in die »Wirklichkeit«, also die (urbane) Realität kann abgesichert werden, indem ähnliche Kontrollformen aus der Onlinein die Offline-Welt übertragen werden. Kommerzielle Anbieter versprechen, die Authentizität online gemachter Angaben vor einem ersten Treffen »in real life« zu überprüfen – Vorbestrafte hätten so keine Chance einer Kontaktaufnahme über virtuelle Begegnungsräume, so die Eigenwerbung der Dienstleister (vgl. kritisch Winsemann 2005; zum sorglosen Umgang 55

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Die Ästhetik der Vergegnung (wie wirkt seine/ihre Präsentation?) durchziehen hierarchische Dimensionen und hierarchisierende Praktiken. Die Grenzen zwischen Online-Spielen des Fantasy-Genres und fantasievoller Gestaltung privater Homepages sind dabei fließend. In der südkoreanischen Online-Gemeinde Cyworld können ohne technische Kenntnisse auch komplexe Homepages als private Wohnzimmer eingerichtet werden. »Extras« wie Animationen oder Musik müssen bezahlt werden. Die Homepage selbst und der Aufenthalt in Cyworld sind kostenlos. Dennoch werden große Summen in virtuelle Parallelwelten investiert, um symbolischen Distinktionsgewinn zu erzielen. In Cyworld werden täglich etwa $160.000 durch die 14 Millionen Mitglieder (Kuri 2006) umgesetzt. Auch der Aufwand und die Zeit, die im Online-Rollenspiel eingesetzt werden müssen, können als Ressource unterschiedlich investiert werden. Wer nur über wenig (freie) Zeit, aber genügend ökonomisches Kapital verfügt, kann schneller zu einer begehrten Spielfigur (das heißt, einem Account zu diesem Spielcharakter des jeweiligen Rollenspiels) oder wichtigen items gelangen. Der Markt, der hier entsteht, verwischt die Grenzen zwischen »realer« Ökonomie, in der mit dem Verkauf der Computerspiele und dem Unterhalt der Spieleserver Geld verdient wird, und einer »virtuellen« Ökonomie, bei der für Gegenstände oder soziale Positionen, die nur in Computersimulationen (Spiele, VR-Welten) existieren, »echtes« Geld geboten wird. Die Geschäftsmodelle der Betreiber von Online-Spielewelten sehen neben dem Verkauf der Software ein monatliches Abonnement (in der Regel 10 bis 15 Euro) vor, um am Spielgeschehen teilnehmen zu können. Den realweltlichen Handel mit Gegenständen, die nur in den jeweiligen Spielwelten verwendbar sind, haben sie jedoch nicht vorgesehen – und sehen die Umsätze auf diesem stark prosperierenden Markt als Gewinneinbrüche an: Die Abonnement-Modelle setzen auf Zeit, die für das Spiel und die Absolvierung von Aufgaben darin vorgesehen sind. Wenn die zum erfolgreichen Absolvieren des Spiels benötigten Gegenstände, Kenntnisse oder Fertigkeiten einfach durch Geldeinsatz erworben werden können, muss konsequenterweise wesentlich weniger Zeit auf dem Spieleserver bezahlt werden. Dieser sekundäre Markt wurde von den Spieler/-innen selbst kreiert und inzwischen werden die begehrten virtuellen items professionell erspielt. In »virtuellen sweatshops« in Niedriglohnländern arbeiten Spieler/-innen (der FAZ vom 22. Oktober 2006 zufolge nicht selten Kinder), die 10 Stunden und mehr am Tag Online-Rollenspiele spielen und die erspielten Fähigkeiten oder Gegenstände anschließend online versteigern oder zum Kauf anbieten. Mehrere hundert Euros mit Informationen und dem Abgleich realer/virtueller Identität vgl. Roth 2006). 56

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für seltene items und bis zu tausend Dollar für einen kompletten Account werden derzeit bezahlt. (Vgl. Lober/Weber 2005; Thompson 2005) »Virtual item trading« als Loslösung ökonomischer Aspekte von materiellen Gütern wirft Fragen nach Rechten an virtuellen Gegenständen (Eigentum oder Nutzungserlaubnis) sowie nach dem Status eines Kaufvertrags über jene Gegenstände auf: Nach deutschem Recht sind virtuelle Gegenstände keine Sachen im Sinne von körperlichen Gegenständen, sondern abgrenzbare Teile eines Spiels, also eines Computerprogramms. Was zwischen den Spielern/-innen beim Verkauf von virtuellen items abgeschlossen wird, ist dennoch eine Art Kaufvertrag – aber nicht über eine Sache, sondern über einen nichtkörperlichen Gegenstand, genauer gesagt über die »Möglichkeit der Nutzung eines virtuellen Items in einem bestimmten Spiel« (Lober/Weber 2005: 180). Trotz der investierten Zeit und Mühe, eine Spielfigur »aufzubauen«, das heißt, mit gewinnbringenden Fähigkeiten basierend auf Erfahrungen und nützlichen Gegenständen auszustatten, können die Spieler/-innen selbst keine Urheberrechte an den erspielten Gegenständen geltend machen – die Hersteller jedoch auch nicht. (Lober/Weber 2005) Edward Castronova (2003) weist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen realen und virtuellen Welten hin, der Auswirkungen auf die Frage ihrer Steuerbarkeit hat. In virtuellen Welten können bestehende Güter ohne größeren Aufwand modifiziert, nachproduziert oder eingezogen sowie neue items bereitgestellt werden. Die Anpassung der angebotenen Güter an die Nachfrage ist also weitgehend kostenneutral. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur realen Ökonomie, der den Spieleherstellern im virtuellen Raum eine Marktmacht verleiht, die im realweltlichen bezogen auf materielle Güter in der Form nicht erreichbar ist. Gleichzeitig vermag das Beispiel der gekauften Identitäten nicht nur die Zuspitzung der Inszenierungskultur urbaner Konstellationen vor Augen führen, sondern auch die Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Netzwerkkultur.

D a s V e r sc hw i n d e n d e s A n d e r e n Im Unterschied zu den digitalen Städten, wie sie beschrieben wurden, dienen digitale Stadtmodelle der präzisen Simulation einer realen Stadt zu Planungs-, Werbe- oder Marketingzwecken oder der Ausbildung von Sicherheitskräften und werden weitgehend automatisiert erstellt: Mit großem technischem Aufwand werden komplexe Fassaden historischer Gebäude in ihrer geometrischen Struktur digitalisiert sowie die geografische Lage des Gebäudes erfasst. Digitale Stadtmodelle werden in fünf

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Detaillierungsgraden (Level of Detail, LOD) erstellt, bei denen die Auflösung von fünf Metern bis auf wenige Zentimeter ansteigt. Die Lage eines Fensters in einem städtischen Gebäude kann in der höchsten Auflösung mit einer Lagegenauigkeit von etwa 20 cm angegeben werden. Solche hochpräzisen digitalen Modelle werden vor allem zur Darstellung von Innenräumen und in der Architektur verwendet, etwa wenn ein Gebäude vor der Erstellung bereits virtuell besichtigt werden soll. Einfachere Auflösungen reichen für stadtplanerische oder ökologische Zwecke, etwa zur Abschätzung der innerstädtischen Luftzirkulation. (Vgl. Brenner/Kolbe 2005) Für Berlin existiert eine kommerzielle Version eines digitalen Stadtmodells, mit der sich virtuelle Spaziergänge oder auch Flüge durch die Innenstadt simulieren lassen. Auch der Verlauf der Berliner Mauer mit Todesstreifen kann eingeblendet werden und veranschaulicht so, wo sich im Modell erfasste Gebäude und ehemaliger Mauerverlauf überlagern – was als Mahnmal in der Realität nicht umsetzbar wäre. Hier begegnet man nicht dem Anderen, den man nicht kennen möchte, sondern den Räumen. Der Flaneur kann sich auf die Oberflächen der gebauten Umwelt konzentrieren – und zwar der einer real existierenden Stadt. Wer nicht den Reiz der Vergegnung liebt, wer die urbane Kultur nicht wie Bech als sexualisierte Form zu interpretieren vermag, der findet in virtuellen Räumen ein weiteres Angebot: das Alleinsein im Raum.

Abbildung 2: Individueller, virtueller Besuch einer Kirche – Alleinsein im sakralen Raum (www.churchoffools.com; Zugriff 24.11.2006, Bildschirmfoto)

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Das satirische Webmagazin »ship of fools«, das sich als Diskursplattform versteht und die Printausgabe des »magazine of Christian unrest« weiterführt, bot vom 11. Mai 2004 für vier Monate – gesponsort von der Methodistischen Kirche Englands – einen experimentellen virtuellen Kirchenbesuch an, der sich großer Beliebtheit erfreute. Aufgrund von Störungen (›ketzerisches‹ Auftreten virtuell Anwesender) wurde das Angebot zunächst geschlossen und ist seit Dezember 2004 wieder online – allerdings nur noch für individuelle Besuche des virtuellen Gotteshauses. Eine sakrale Atmosphäre wird durch Glockengeläut, Musik oder Lobgesänge (mit Texteinblendung zum Mitsingen) simuliert. Eine einfachere Variante, den Anderen zu umgehen, ist der Aufenthalt in einer virtuellen Welt über die Imagination. Die Simulationen nutzen dazu dreidimensionale Darstellungen, die möglichst realitätsnah wirken sollen, aber gegenüber komplexen VR-Installationen keine umfassende optische, akustische oder haptische Sinnestäuschung ermöglichen. First-PersonGames zeigen dabei das Spielgeschehen aus der perspektivischen Sicht der handelnden Person in einer künstlichen Welt (weiterführend: Taylor 2003). Unterhaltung ist ein wichtiges Anwendungsfeld für virtuelle Realitäten, seit die erforderliche Technik auch für den privaten Bereich erschwinglich geworden ist und Datenhelme für Computerspiele in ITFachzeitschriften getestet werden. (Jahn/Kuhlmann 2004) Was simuliert oder der visuellen Realität hinzugefügt wird, hängt vom Anwendungskontext ab: Für Kampfsimulationen können dies Radarbilder und Navigations- oder Zielerfassungssysteme sein oder für Touristen/-innen Attraktionen in Städten oder virtuell rekonstruierte Orte, die »in Realität« längst verfallen sind (z.B. Tempel oder Synagogen; vgl. z.B. Palm 2001, 2002; Frey 2004). Verdrängung des »Anderen« aus der Raumkonstitution ist in diesen Simulationen ein Spezialfall, den die dicht besiedelte Stadt nie bieten kann. Im Netz angebotene »Reisen« fokussieren notwendig die symbolisch hoch aufgeladenen Orte. Die Reise ist ziel- und interessengerichtet. Die virtuelle Pilgerreise z.B. ist der besonders ausdrucksstarke Spezialfall des Aufsuchens besonderer Orte. Mit dem Begriff »virtuelle Pilgerreise« werden Internetangebote bezeichnet, die eine Simulation einer Pilgerreise ermöglichen. Während Mekka nur für gläubige Muslime zugängig ist, kann jede(r) dessen symbolische Repräsentation im Netz »betreten«. Das Entzünden von Kerzen an heiligen Orten ist in vielen Religionen eine sakrale Handlung. Im Netz können unter www.gratefulness.org/candles Kerzen angezündet werden und die Atmosphäre der Besinnung kann nachgestellt werden. Die Kerzen können mit dem eigenen Namen und einer Botschaft versehen werden, die öffentlich einsehbar sind und per

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E-Mail kann man Freunden und Bekannten den Link zur eigenen Kerze schicken. Auch virtuelle Kerzen brennen nicht ewig, nach 2 Tagen erlischt das Licht. Das elektronische Netz eröffnet die Chance des Flanierens jenseits der Massen. Vergegnung wird auf die Spitze getrieben und damit Konzentration auf den Raum ermöglicht, allerdings auch hier nur auf die Repräsentation desselben. Die Einsamkeit der Perspektive verkehrt sich, wenn nicht der/die Bürger/-in den Ort sucht, sondern die Institution den/die Bürger/-in. Die virtuelle Selbstdarstellung von realweltlichen Städten im World Wide Web nimmt seit Mitte der 1990er Jahre stark zu. Während heute jede Großstadt in der Bundesrepublik Deutschland die Begegnung der Stadt mit ihren Bürgern/-innen über einen Internetauftritt organisiert, waren 1990 noch weniger als ein Drittel dieser Großstädte über einen Domainnamen erreichbar. (Vgl. Floeting 2004) Die Imagearbeit in Broschüren und Werbeprospekten wird heute um interaktive Angebote, die Stadtinformationssysteme, erweitert. Die Interaktivität bezieht sich dabei sowohl auf Recherchemöglichkeiten (beispielsweise nach Kindertagesstätten, Schulen oder kulturellen Veranstaltungen) als auch auf E-Mail-Kommunikation bei Verwaltungsvorgängen. Holger Floeting weist jedoch darauf hin, dass die Kommunikation noch häufig von Medienbrüchen gekennzeichnet ist, wenn z.B. Formulare online abgerufen werden können, aber dann als Papierausdruck wieder eingereicht werden müssen. (Floeting 2004: 82f.) Weitere Möglichkeiten der Interaktivität berühren vor allem Bereiche wie Kulturangebote (Kartenreservierung und Buchung online) oder touristische Aspekte wie die Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten, interaktive Stadtpläne, Anreisemöglichkeiten oder virtuelle Führungen zu den Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Stadt. Auf kommerzieller Seite werden »elektronische Märkte« installiert, die von einfachen Branchenverzeichnissen bis hin zu aufwendigen Versuchen, ortsbezogene Dienstleistungen zu vermitteln (Umgebungssuche, z.B. nach Wohnraum) reichen. Durch den Grad der Interaktivität werden die Möglichkeiten der Navigation und somit auch die Begegnungsmöglichkeiten in der virtuellen Stadt vorstrukturiert. Eine »Virtualisierung« von Verwaltungsvorgängen allein macht diese weder transparenter noch leichter zugänglich. Trotz aller Interaktivität und zunehmender Komplementarität von On- und Offline-Medien folgen Stadtdarstellungen im Internet immer noch traditionellen »top-down«-Begegnungen. Nur gelegentlich sind Foren oder Gästebücher vorgesehen, in denen virtuelle Besucher/-innen ihre Eindrücke und Meinungen publizieren können. Zweifelsohne ist der leichtere Zugang zu Informationen über und von Institutionen der städtischen Verwaltung zu kulturellen, sportlichen oder touris-

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tischen Attraktionen, zu Bildungsinstitutionen oder karitativen Einrichtungen über das Medium Internet für viele Bürger/-innen von Vorteil. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Zugang zum Internet soziodemografisch und regional ungleichmäßig verteilt ist. So sind zwar über die Hälfte der Bundesbürger online, diejenigen, die das Internet jedoch nicht nutzen, sind mehrheitlich weiblichen Geschlechts und verfügen über eine formal geringe Bildung und ein niedriges Einkommen (ausführlich: [N]onliner Atlas 2006). Bislang werden die kommunikativen Möglichkeiten kaum ausgeschöpft. Die virtuelle Präsenz der Städte konzentriert sich auf Selbstdarstellung und somit ebenfalls auf visuelle Inszenierung. Daneben ist die virtuelle Stadtverwaltung noch (zu) stark von einem rein technischen Leitbild der ›telematischen Stadt‹ beschränkt. Die Begegnung, die Akteure aus Politik und Verwaltung für die Bürger und Bürgerinnen organisieren, folgt keiner sozialen Idee von Kommunikation, sondern von technischer Machbarkeit und Rationalisierung. (Vgl. Ries 2006; Floeting 2004: 89; Aurigi 2000: 40ff.)

V e r - u n d B e g e g n u n g i m C y b e r sp a c e Die Möglichkeit des Alleinseins mit dem Raum ist ebenso wie die Kommunikation zwischen Menschen eine nicht-intendierte Konsequenz der Etablierung elektronischer Kommunikationsnetze. Der inzwischen fast 30 Jahre alte technische »Unterbau« des Internets (das Kommunikationsprotokoll) hat nie eine Begegnung von Menschen zum Ziel gehabt, sondern sollte (militärische) Nachrichtenkommunikation unter allen Umständen aufrechterhalten. Sämtliche multimedialen Erweiterungen, angefangen vom @-Zeichen der E-Mail-Kommunikation über WWW-Seiten bis zur digitalen Stadt mit Dating- und Flirt-Angeboten oder virtuellen Rotlichtvierteln sind nachträglich »aufgesetzte« Erweiterungen des technischen Artefakts, die städtischen Vorbildern folgen. Die Möglichkeiten der über Symbole oder visuelle Abbildungen vermittelten Begegnung mussten erst hinzugefügt werden und sind noch keinesfalls selbstverständlich. In der alltäglichen Nutzung, in der Webseiten höchstens Informationen zeigen, wie viele Andere noch diese Seite zeitgleich abrufen, ohne dass diese miteinander in Kontakt treten können, ist die Vergegnung bereits strukturell angelegt und in Form eines technischen Artefaktes manifestiert. Übertragen auf eine realweltliche Stadt entspräche das dem Besuch einer Touristenattraktion, Sehenswürdigkeit oder eines öffentlichen Platzes in der Gewissheit, dass auch andere anwesend

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sein müssten – ohne jedoch die Möglichkeit, einander wahrzunehmen oder gar zu kommunizieren. Unter diesen Bedingungen reproduzieren Strategien im Netz die urbane Form von Raumerfahrung und Begegnungs-/Vergegnungskultur. Computer oder internationale Datennetzwerke wie das Internet sind heutzutage weder aus der modernen industriellen Produktion noch aus Kommunikationskulturen mehr wegzudenken. Die durch sie erzeugten virtuellen Räume substituieren jedoch nicht die Alltagswelt, sondern die moderne Gesellschaft ist durch eine Konvergenz realweltlicher und virtueller Räume gekennzeichnet. Daniela Ahrens (2003) zufolge steht das Internet zum realen Raum weder in einem Ausschließungs- noch in einem Konkurrenzverhältnis, sondern vielmehr werden über wechselseitige Kopplungsverhältnisse neue soziale Realitäten produziert. Dabei reproduzieren jene weiten Bereiche des Netzes, die sich am Stadtleitbild orientieren, auch deren Vergegnungskultur. Sie wird gepflegt, entfaltet und neu verankert. Zusammenfassend kann man feststellen, dass in der scheinbar dematerialisierten Welt des Cyberspace der Stadt eine hohe Bedeutung zukommt und soziale Prozesse, seien es Kommunikationsstile, Oberflächenlust und Inszenierungsqualitäten von einem Raum auf den anderen übertragen werden. Auch der »Raum der Ströme« ist urban. Die Stadt ist nicht nur raumstrukturell Vorbild, sondern auch die privilegierte Konzeption, um das Netz nach ihrem Vorbild aufzubauen. Die virtuelle Gemeinschaft denkt sich als städtische Gemeinschaft, im Spiel versucht man die eigene Stadt zu entwickeln; die Stadt im Netz dient als Forschungsplattform und Städte reproduzieren sich selbst als digitale Stadt. Insofern ist die Urbanisierung der Gesellschaft nicht nur eine Diagnose für die sogenannte reale Umgebung, sondern auch für die digitale Welt. Mit der Urbanität reproduziert das Netz auch jene komplizierte Art des Lebens, in der ein wesentlicher Aspekt des Handelns darin besteht, Menschen, die man trifft, nicht zu begegnen.

L i t e r at u r Ahrens, Daniela (2003): »Die Ausbildung hybrider Raumstrukturen am Beispiel technosozialer Zusatzräume«. In: Christiane Funken/Martina Löw (Hg.), Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien, Opladen: Leske + Budrich, S. 173–190.

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D A T EN L A N D S C H A F T E N

LUTZ ELLRICH/CHRISTIANE FUNKEN Unter den zahlreichen neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, die die Computertechnik eröffnet, zählt die Anbahnung von Liebesbeziehungen per Internet zu den umstrittensten. Zwischen »Love Offline« und »Love Online« (Ben-Ze’ev 2004) liegen – wie man glauben könnte – Welten. Verfechter und Gegner der Dating-Praxis kämpfen mit Argumenten, welche die reichlich erlahmte Debatte um das Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit neu aufleben lassen und mit überraschenden Facetten versehen. Einerseits stehen die Dating-Foren im Verdacht, Entfremdung und »Selbstverdinglichung« (Honneth 2005: 105; Illouz 2006: 124, 147) des modernen Menschen auf die Spitze zu treiben, und andererseits gelten sie als Arenen, in denen die zeitaufwändige und psychisch strapaziöse Suche nach einem geeigneten Partner weit erfolgreicher und effizienter gestaltet werden kann, als dies mit den herkömmlichen Mitteln möglich war. (Vgl. Orr 2004; Bühler-Ilieva 2006)

I. Sichtweisen und Befunde Das zentrale Problem, an dem sich die Geister scheiden, liegt offenbar darin, dass im Umgang mit den verschiedenen Spielarten1 des InternetDatings sowohl die strategische Anlage der Partnerwahl als auch die kommerziellen Aspekte des Geschehens (jetzt selbst für unreflektierte Akteure) in einer Deutlichkeit hervortreten, die bislang nur durch entlarvende Hintergrundanalysen professioneller Psychologen und Soziologen mit extremen Aufklärungsabsichten oder zynischen Beobachterperspektiven zu gewinnen war. Dieser Umstand versetzt aber eher die wissenschaftlichen und politischen Beobachter in Unruhe als die unmittelbar betroffenen Individuen. Sie haben – wenn überhaupt – andere, viel konkretere Ansprüche und Sorgen. 1

Dass es sich um ein äußerst heterogenes Feld und eine breite Angebotspalette handelt, darf auch bei dem Versuch, einige generelle Aussagen zu machen, nicht außer Acht gelassen werden. 67

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Erste empirische Untersuchungen legen folgende Diagnose nahe: Die Nutzer und Nutzerinnen (und dies gilt für die arglosen ebenso wie für die abgebrühten) sind sich durchaus im Klaren über das erhöhte Risiko, das mit den computerbasierten Methoden der Partnersuche verbunden ist. Man bemerkt das angestiegene Gefahrenpotential und sieht zugleich – darin liegt der entscheidende Anreiz – das erweiterte Spektrum an Chancen. Die Vor- und Nachteile des Datings werden aber von den Betroffenen zumeist nicht mit dem strukturellen Eigensinn von Liebeskommunikationen oder mit paradoxalen Effekten strategischer Einstellungsmuster2 in Verbindung gebracht, sondern erstens auf die (Fehl-)Leistungen spezieller Suchprogramme3 und zweitens auf die drastisch reduzierte Form der medialen Kontaktaufnahme bezogen.4 Zu Gunsten einer derartigen Reduktion spricht zunächst einmal der Umstand, dass sie zu einer extrem niedrigen Zugangsschwelle führt, die auch von schüchternen und unattraktiven Personen leicht überwunden werden kann. Zudem stimuliert das Anonymität gewährende Setting die Nutzer/-innen zur Preisgabe von Informationen und Selbstdeutungen, die unter den Bedingungen des alltäglichen ›Real Life‹ in Frühphasen des Kennenlernens kaum offen geäußert würden.5 Diese Enthemmung kann ein starkes Gefühl der Befreiung auslösen und die Investition von Gefühlen und Erwartungen beträchtlich stimulieren. Andererseits weckt die Distanz und Körperlosigkeit des Internet-Kontakts aber auch leicht Bedenken und Skepsis. Die Frage, ob man vom Anderen getäuscht wird oder gar in die Fallen der Selbsttäuschungen gerät und allzu bereit ist, sich in wohligen Illusionen zu wiegen, kommt fast unweigerlich auf und lässt sich nicht befriedigend beantworten – schon gar nicht durch gründliche bzw. abgründige Spekulationen; sie lässt sich allenfalls durch ein Treffen im ›wirklichen Leben‹ beseitigen oder durch forcierten rhetorischen Online-Aufwand in eine 2 3

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Auf diese beiden Deutungen kommen wir noch im Detail zu sprechen. Hier steht die Eignung bestimmter Profile für den Datenabgleich zur Diskussion. Wichtig ist die Trennschärfe und Signifikanz der einzelnen Bestimmungen innerhalb des jeweiligen Profils; denn von diesen Größen hängt es ab, ob die Suche eine ›kundengemäße‹ Trefferquote liefert oder nicht. Vgl. die Präsentation des Forschungsstandes bei Schonfield (1998), Döring (2003), Ben-Ze’ev (2004) und Bühler-Ilieva (2006). Aufschlussreich sind auch die methodisch allerdings recht unbekümmerten Studien von Orr (2004). Diese Auswirkung der Anonymität ist allerdings nicht überraschend. Schon Georg Simmel hat darauf hingewiesen, dass (z.B. auf Zugreisen) die Bereitschaft besteht, Fremden gegenüber weit weniger diskret zu sein als gegenüber Partnern, Freunden und Bekannten. 68

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mehr oder weniger penetrante Begleiterscheinung verwandeln, die unter günstigen Umständen ignoriert werden kann. Eine solche Steigerung des kommunikativen Einsatzes banalisiert freilich nicht allein den Zweifel als Dauergast, sie senkt zugleich auch die verschwenderische Lust, den Anderen mit Vertrauensvorschüssen zu locken. So verstricken sich die Beteiligten Schritt für Schritt in diffuse Beziehungen, deren Relevanz und Tragfähigkeit sich trotz hoher Kontaktdichte nicht feststellen lässt.6 Plötzlich erzeugt die Online-Verbindung eine Art chronischen Stress, der von den Akteuren dann als Belastung erlebt und zu jenen Gefahren der Dating-Praxis gerechnet wird, denen man nur durch ein energisches und zielorientiertes Handeln ausweichen kann.7 Dazu ist es erforderlich, die Stufen der Kontaktrealisierung hinreichend zügig zu passieren und das Datenfeld der medialen Annäherung Zone um Zone bis zur direkten Begegnung zu durchschreiten, ohne der Fantasie mehr Nahrung als nötig zu bieten8: zunächst Austausch von Texten und Fotografien, sodann Telefongespräche und schließlich Verabredung zum Offline-Date.9 Dass auch bei diesem Vorgehen Enttäuschungen nicht ausbleiben können, liegt auf der Hand. Die wortreichen Klagen der Betroffenen, denen die einschlägige Forschung gerne ihr Ohr leiht (vgl. Illouz 2005: 142ff.), haben mittlerweile in einer reichhaltigen Ratgeberliteratur zum gedeihlichen Umgang mit dem Begegnungsfrust Resonanz gefunden. Den Angaben über die Schwierigkeiten und Desaster der Dating-Praxis steht allerdings eine Reihe von Erfolgsmeldungen gegenüber. Aus Internetkontakten sind of6

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Döring spricht in diesem Zusammenhang von »Rahmungskonflikten«, »Rahmungsdifferenzen« und »Beziehungen mit unklarem Status« (2003: 250, 256). Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass in vielen Fällen diese gleichsam ›schwelenden‹ Beziehungen im Netz über Monate und Jahre aufrechterhalten werden. Teils handelt es sich dabei um Parallelbeziehungen von Personen, die verheiratet sind oder in relativ festen Beziehungen leben und hier eine romantische Kompensation ihrer Alltagswelt betreiben, teils um Kontaktspiele, die gerade durch die zeitlich gedehnte und im Virtuellen bleibende Form eine hohe narzisstische Befriedigung gewähren. Das Problem, welches mit der Produktion überschüssiger Fantasien einhergeht, ist spätestens seit der Romantik (vgl. Lenz 1998; Bierhoff/Grau 1999; Ellrich 2000; Illouz 2003) ausgiebig diskutiert worden. Die wohl geistreichsten Kommentare im 20. Jahrhundert haben Ernst Bloch mit seiner Bestimmung der »Aporien der Verwirklichung« (1959: 217ff.) und Jacques Lacan mit seiner Theorie des Begehrens (1975: 165ff.) geliefert. Dieser ›Chat-typische‹ Transformationsprozess lässt sich mit dem Begriff des »erfolgreichen Scheiterns« charakterisieren, der in der Netzwerktheorie verwendet wird, um die Verwandlung von Netzwerken in Organisationen zu bezeichnen. Vgl. Funken (2003: 291). 69

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fenbar reibungslos zahlreiche passende Partnerschaften mit günstigen Stabilitätswerten hervorgegangen. Die Bilanz, die Gelingen und Scheitern, Erwartung und Enttäuschung ins rechte Verhältnis zu setzen sucht, scheint mindestens ausgeglichen zu sein. Aber angesichts der Bewegung, die in der Dating-Szene herrscht, käme ein abschließendes Urteil, das sich auf die derzeit gesammelten Bekundungen von Betroffenen stützt und geradewegs Prognosen stellt, wohl zu früh. Tiefen-Interviews mit den Nutzern von Dating-Foren sowie die Auswertung vorhandener Statistiken über Erfolge bzw. Misserfolge der neuen Begegnungsformen und Kontaktmöglichkeiten sind wichtige Forschungsaufgaben und die laufenden Studien verdienen angemessene Unterstützung. Empirische Bestandsaufnahmen sind aber nur dann wirklich ergiebig, wenn sie in einen theoretischen Rahmen eingebettet werden, der die gesamtgesellschaftliche Situation, in der die Dating-Praxis sich etabliert hat, berücksichtigt.10 Weithin besteht unter Sozialwissenschaftlern Konsens darüber, dass wir es heute mit einer »strukturverändernden Medialisierung« des sozialen Feldes zu tun haben. Gemeint ist damit »ein grundsätzlicher Wandel der Sozialintegration moderner Gesellschaften […], in dessen Verlauf die klassischen, norm- und wertsetzenden sowie Zugehörigkeit definierenden Institutionen (Schule, Religion, Armee, Parteien, soziokulturelles Milieu) im Zuge der funktionalen Differenzierung und Individualisierung an Bedeutung verlieren und durch sinn(re)produzierende Medien überformt werden«. (Imhof 2003: 407)

Vor dem Hintergrund dieser plausiblen Annahme stellt sich nun folgende Frage: In welchem Sinne verändert die computerbasierte Medialisierung der Liebeskommunikation unsere Vorstellungen und Diskurse über Partnersuche und Beziehungspflege, über das Gefühl der Liebe generell und seine körperliche ›Realisierung‹ in der Sexualität? Zu den auffälligsten Merkmalen des Online-Datings gehört es, dass hier die üblichen Verlaufsformen des Kennenlernens bzw. der Erregung 10 Eine solche Verknüpfung von Empirie und Theorie ist auch deshalb unverzichtbar, weil die erhobenen Daten stets aus einem theoretischen Vorverständnis heraus interpretiert werden. Dies gilt insbesondere für Themenbereiche, deren Brisanz und Strittigkeit unmittelbar ersichtlich ist. So dürften die Bereiche Liebe, Sexualität, Partnerschaft, Beziehung, Ehe etc. und ihre komplexen kommunikativen und körperlichen Aspekte zu den heikelsten, mit subjektiven Vorurteilen und Deutungen geradezu getränkten Beständen der Forschung gehören. Zu Recht bemerkt Döring (2003: 236f.) daher auch, »dass die bisherige Forschung [über Liebesbeziehungen] nicht selten implizit normativ ist« und die »Internet-Liebesbeziehung von vorne herein als eine Art Defizit-Liebe erscheinen« lässt. 70

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von (erotisch konnotierter) Aufmerksamkeit regelrecht auf den Kopf gestellt werden: »Wo Anziehung normalerweise dem Wissen vom anderen vorausgeht, geht [im Netz] Wissen der Anziehung oder zumindest der physischen Präsenz und Verkörperung romantischer Interaktionen voraus.« (Illouz 2006: 120)11 Im Kontext umfassender gesellschaftstheoretischer Analysen (man denke z.B. an die Systemtheorie und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule) lassen sich Überlegungen anstrengen, welche auf die Diagnose hinauslaufen, dass gerade diese Verkehrung weder ein funktionales Äquivalent zur gängigen Signalisierung sexuell grundierter Bindungsbedürfnisse oder -interessen bereitstellt noch eine reizvolle, das Liebesspiel sinnvoll erweiternde Alternative zu den notorischen Anbahnungswegen bietet. Beide theoretischen Perspektiven machen in höchst unterschiedlicher Weise darauf aufmerksam, dass mit der zunächst recht harmlos erscheinenden Umdisposition einer üblichen Praxis Probleme erzeugt werden, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Die Akteure geraten nämlich, ohne dass sie es bemerken, in Fallen und paradoxe Konstellationen, die ihre erklärten Absichten untergraben. Aus systemtheoretischer Sicht wird mit dem Aufschub der Wahrnehmung (körperlicher Eigenschaften des Anderen) der Liebeskommunikation eine Last aufgebürdet, die sie nur dann tragen kann, wenn zusätzliche Stützkonstruktionen verfügbar sind. Die Nachdrücklichkeit, mit der diese Bedenken von Seiten der Systemtheorie vorgetragen werden, mag für manche ihrer Liebhaber und Verächter überraschend sein. Aber es ist kein Wunder, wenn eine Theorie, die Kommunikationen und eben nicht Handlungen zu den Letztelementen der Gesellschaft erklärt, besondere Sensibilität für Lagen und Situationen entwickelt, in denen betroffene Individuen dazu neigen, die Leistungsmöglichkeiten von Kommunikation zu überschätzen und das Vertrauen in den textuellen oder verbalen Austausch zu überziehen. Aus der Warte des Theoriedesigns, dessen sich Forscher im Umkreis der Frankfurter Schule bedienen, kommen selbstverständlich ganz andere Probleme in den Blick. Hier werden verschiedene Modi des kommunika11 Döring (2003: 244f.) fasst die Erfahrungen der »Beteiligten« mit der Formel »Kennenlernen von innen nach außen (anstatt von außen nach innen)« zusammen. Diese Version des Kennenlernens ist allerdings nicht völlig neu. Brieffreundschaften über Kontinente oder die Mauern geschlossener Anstalten hinweg sind bekannte, wenn auch wenig erforschte Phänomene. – Dieses Vorschalten von symbolisch vermitteltem Wissen betrifft im Netz auch und gerade die Zuschreibung des Geschlechts (vgl. Funken 1999: 96), dessen Identifikation zwar als Startdifferenz benutzt wird, aber erst im Laufe des kommunikativen Prozesses den Status einer fraglosen Bestimmung gewinnt. 71

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tiven Handelns unter Rekurs auf die ihm inhärenten Geltungsdimensionen interpretiert. Wählt man diesen Ansatz, so zeigt sich, dass der Vollzug des Internet-Datings den Akteuren eine textuelle Selbstvergegenständlichung abverlangt, die zwangläufig jener Logik von Liebe, Anerkennung und Respekt zuwiderläuft, deren Bewahrung und Pflege die Voraussetzung zur Ausbildung gelungener Ich-Identitäten bildet. Wir möchten im Folgenden zunächst diese beiden Krisenszenarien näher erläutern, um dann eine alternative Sicht zu präsentieren, die sich auf flexibel-normalistische Konzepte des Umgangs mit Standardisierungs- und Verdatungsprozessen bezieht.

I I . D i e sy s t e m th e o r e t i s c h e W ar n u n g v o r w a h r n e h m u n g sf r e i e r K o m m u n i k a ti o n In einem Aufsatz mit dem unterkühlten Titel »Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen«, der zum ersten Mal 1989 erschienen ist, hat Niklas Luhmann zu bestimmen versucht, welche Effekte die »Differenz von Bewußtsein und Körper« unter Bedingungen der Moderne auf dem Feld der Liebe zeitigt. Wird nämlich Liebe als ein »Medium« aufgefasst, (mithin als eine Menge lose gekoppelter Elemente, in die sich unterschiedlichste Formen – im Sinne fester Kopplungen – eindrücken können12), so ist zu beobachten, wie sich die »Liebe, bevor man liebt, […] mit einer Art träumerischer Ungenauigkeit (Musil) einstellt, in der die Ereignisse sich noch beliebig verbinden können«. Liebe ist demnach ein Medium »sowohl für Wahrnehmung als auch für Kommunikation […]; es steht für die Einprägung von konkreten Erfahrungen bereit, die sich mehr oder weniger gesucht, mehr oder weniger zufällig ergeben mögen« (1995: 194). Dies bedeutet zwar, dass man (zumindest seit der Neuzeit) zunächst einmal lernt, die Liebe zu lieben, ehe man sich in eine 12 Neben diesem auf Fritz Heider zurückgehenden Begriff des Mediums verwendet Luhmann noch ein zweites Medien-Konzept, das soziale Errungenschaften bezeichnet, die Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches überführen. Eine besondere Rolle spielen sog. »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien« (Luhmann 1975: 170ff.), die später auch als »Erfolgsmedien« (1997: 202ff.) bestimmt werden. Liebe gilt neben anderen Medien wie Macht, Geld, Wahrheit etc. als Einrichtung, die die Wahrscheinlichkeit der Annahme einer Kommunikation entschieden steigert. »Die Maxime der Handlungswahl«, die für die Liebe charakteristisch ist, lautet: »Wie erlebt mich Alter? Oder: Wer kann ich sein, daß mein Handeln die Erlebnisselektionen Alters bestätigt. Und nicht etwa: Wie handelt Alter, was hat Alter getan, wie befriedigt mich Alter?« (1975: 178). 72

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konkrete Person verliebt13; es bedeutet jedoch nicht, dass es für die beteiligten Individuen belang- und folgenlos ist, ob das für Anbahnung, Aufnahme und Pflege von Beziehungen »Entscheidende in die Kommunikation« oder in die Körperwahrnehmung »verlagert wird« (1995: 196). Um Bedeutung und Relevanz dieser Option sowie die Folgen fehlerhafter Gewichtungen zu ermessen, ist es nötig, die soziale Funktion der Liebe und des Liebesdiskurses, die weit über die Sicherung der biologischen Reproduktion des Kollektivs hinausgeht, in ihrer historischen Dimension zu bestimmen. Luhmann geht von zwei Thesen aus: 1. wird in modernen hochkomplexen Sozialgefügen das Medium Liebe weit »stärker« als zuvor »beansprucht und darum ausdifferenziert«, und 2. gewinnt deshalb »das Verhältnis von Liebe und Sexualität einen veränderten Sinn« (1969: 1f.). Im Zuge der Entstehung moderner Gesellschaften und der bürgerlichen Revolution etablieren sich einerseits funktional spezifische Teilsysteme und andererseits treten die Individuen grundsätzlich als freie, selbstbewusste, sich wechselseitig anerkennende Subjekte hervor.14 Die Institution der Ehe wird jetzt zum Schauplatz einer doppelten ›Inanspruchnahme‹: Sie untersteht unverzichtbaren gesellschaftlichen Erfordernissen und wird zugleich als interaktiver Raum entworfen, in dem sich die Autonomie und Authentizität des Einzelnen zur Geltung bringen soll und darf. Die »Liebesheirat« ist eine ambitionierte Antwort auf diese Spannung. »Sie ist ›formal frei‹ institutionalisiert wie Arbeit, Vertrag und Organisation.«15 Daraus folgt aber auch, dass die Praxis der freien Partnerwahl, die sich in erster Linie nach dem Affektsturm der Liebe 13 Dies hat Luhmann in einem frühen Manuskript, das als Keimzelle des Buches Liebe als Passion (1982) anzusehen ist, erläutert: »Nur wenn man sich auf Grund des Liebens von Liebe verliebt, ist zu erwarten, daß das sich damit bildende System Liebe als Kommunikationsmedium verwendet – unter anderem deshalb, weil nur so die Gefühlslage als Einheit empfunden und das Selektionsbewußtsein latent bleiben oder wieder verdrängt werden kann« (1969: 24). Wir kommen darauf zurück. 14 Diesen Prozess haben Hegel, Durkheim und Weber beschrieben und als eines der charakteristischen Merkmale der Modernisierung herausgestellt. 15 Schon Kants radikale Bestimmung der Ehe als Vertrag der beiden Partner über den »wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« (Kant 1797: § 24; 1956: 390) bringt den Aspekt der formalen subjektiven Freiheit, der jetzt auch hier greift, mit aller denkbaren Drastik zum Ausdruck. Hegel bestimmt dagegen mit energischen Formulierungen die Liebe als Grundlage der Ehe und hebt die darin liegende soziale Notwendigkeit der sittlichen Abfederung einer tendenziell an egoistische Profitinteressen ausgerichteten bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft hervor (1821: § 161–169; 1968: 176–183). 73

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richtet und finanzielle und schichtenspezifische Selektionskriterien verpönt, durch entsprechende Rahmenbedingungen auch ermöglicht werden muss.16 »Nur durch hohe Kontaktmobilität« lässt sich sicherstellen, dass »Partner, die Intimbeziehungen bilden können, zueinander finden« (1969: 20). Zudem sind »generalisierte Suchmuster«, zum Beispiel »die publizierten Idole der Liebe« und »vor allem äußerliche Anhaltspunkte wie körperliche Schönheit oder Attraktivität« unverzichtbar (1969: 21). Dass man sich unverhohlen solcher Strategien bedient, um das unverwechselbare und einzigartige Gegenstück zur eigenen Person zu finden, macht das Konzept einer rein gefühlsbasierten Partnerwahl von vornherein zu einer paradoxen und fragilen Angelegenheit. Wenn man die Liebe als jenen ausgezeichneten Affekt betrachtet, der seine Entscheidung über den richtigen Partner ganz ohne externe Veranlassung und fremde Einflüsse trifft, dann muss der kalkulierte Einsatz von Schemata des Suchens und Findens destruktive Auswirkungen auf das euphorische Gefühl haben. Diese ruinösen Konsequenzen werden jedoch – wie Luhmann im Kielwasser des romantischen Diskurses behauptet – durch die selbstreflexive Struktur der Liebe vermieden: Die alles übergreifende Liebe zur Liebe stiftet eine vorgängige Einheit, die keine Eifersucht auf etwas Drittes und Rivalisierendes zulässt. Jede eingeübte Anstrengung, jede Berechnung und sorgfältig geplante Investition gehört in eine Reihe von Aktivitäten, die die Konstitution der Liebe gar nicht berühren.17 Solange das Gefühl zu einer konkreten Person in der basalen Liebe zur Liebe wurzelt, ist es durch strategische Vorspiele nicht zu erschüttern. Denn die Selbstbezüglichkeit der Liebe sorgt ja dafür, dass »das Selektionsbewußtsein«, in dem alle Vorkehrungen, Anleitungen und regelgeleiteten Maßnahmen der liebeshungrigen Probanden gespeichert sind, »latent bleiben oder wieder verdrängt werden kann« (1969: 24). Diese Latentisierung oder Verdrängung ist nach Luhmann funktional notwendig. Wäre nämlich den Akteuren durchgängig bewusst, dass ihr Vorgehen eminent strategisch ist und die Wahl letztlich dem Zufall gehorcht, so fiele das Gefühl für den Anderen in sich zusammen. Davor bewahrt nicht Gott, sondern allein die Liebe zur Liebe die modernen Menschen. 16 Welche Probleme die Schaffung der notwendigen praktischen Voraussetzungen für freie Partnerwahl im 18. und frühen 19. Jahrhundert aufwarf, davon zeugen die Briefe Hölderlins und Kleists. Die Chancen, geeignete Partner überhaupt kennenzulernen, waren gering und tragische Fixierungen keine Seltenheit. 17 Ist die Wahl einmal getroffen, die Entscheidung gefallen, so gilt jede Finte und Intrige, mit der man die geliebte Person sich zu eigen macht, ohnehin als erlaubt, wenn nicht sogar als geboten. 74

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Ob diese kühne und zweifelsohne faszinierende These haltbar ist, bleibe dahingestellt.18 Vielleicht reicht es im Rahmen der systemtheoretischen Erklärungsversuche schon aus, im vermeintlichen Latentisierungspotential der Liebe ein Indiz für ihre enorme Robustheit und Irritationsresistenz zu sehen und es aus ihrer unverzichtbaren sozialen Funktion herzuleiten. Dass die Liebe trotz vorhandener Verzichtspraktiken, andersartiger Beglückungen und alternativer Konzepte der Euphorieproduktion »als gesamtgesellschaftlicher Mechanismus« nicht zu »ersetzen« ist (1969: 10), hebt Luhmann ja eigens hervor. Komplexe Gesellschaften sind außer Stande, das erreichte Niveau der Differenzierung und Temporalisierung ihrer Operationen zu halten, wenn sie darauf verzichten, die Individuen, ohne die auch autopoietische Systeme nicht laufen können, mit entsprechenden Sinngrundlagen zu versehen. Liebe leistet hier den entscheidenden Beitrag. Denn sie »vermittelt eine doppelte Sinnbestätigung: In ihr findet man, wie oft bemerkt, eine unbedingte Bestätigung des eigenen Selbst, der personalen Identität. Hier, und vielleicht nur hier, fühlt man sich als der akzeptiert, der man ist – ohne Vorbehalte und Befristung, ohne Rücksicht auf Status und ohne Rücksicht auf Leistung.« (1969: 8)19

Die Effekte solch einer Form der Deckung und Stabilisierung lassen sich schwerlich bestreiten: Kinder sind ohne liebevolle Zuwendung nicht überlebensfähig und auch »für Erwachsene gelingt […] ein Ausgleich von Schicksalsschlägen, ein Aushalten einer problemreichen und fluktuierenden Umwelt besser und anstrengungsloser, wenn Intimbeziehungen feste Haltepunkte bieten und Gelegenheit, auszudrücken und Bestätigung zu finden, daß man gerade in diesen Schwierigkeiten und trotz aller Veränderungen derselbe bleibt«. (1969: 10)

Damit die Liebe ihre Aufgabe erfüllen kann, benötigt sie freilich eine Art von »Gewißheitsverankerung«. Moderne Gesellschaften konfrontieren nämlich die Individuen mit vielgestaltigen Zumutungen und Belastungen, die die Liebe nur kompensieren kann, wenn sie den Akteuren Zugang zu einer Ressource verschafft, die durch ihre Evidenz (oder durch 18 Eine Gegenposition hat Roland Barthes in seinem grandiosen Buch Fragmente einer Sprache der Liebe bezogen: »unter dem Druck der Liebe, […] aufgrund einer Perversion, die strenggenommen Perversion der Liebesbeziehung ist, liebt das Subjekt die Liebe, nicht das Objekt« (1988: 85). 19 Vgl. die ähnliche Bestimmung bei Beck: »Angesichts der Relativierung und Auflösung aller Verbindlichkeit gewinnt Liebe den Status des letzten Ortes unbezweifelbarer Sicherheit« (1990: 254f.). 75

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den Anschein von Evidenz) unmittelbar überzeugt und die höchste »Intensität des Bezugs zum anderen gewährleiste[t]«. Aus naheliegenden Gründen wird hier die körperliche Seite der Liebe ins Spiel gebracht. Denn gerade sie erweckt am ehesten den Eindruck der Unhintergehbarkeit und erhält deshalb – trotz erheblichen Widerstandes von vielen Seiten – in der Moderne jenen bemerkenswerten Sonderstatus, der sie als fundierende Instanz ausweist: mit anderen Worten: »Sexualität gewinnt für die Liebe eine Basisfunktion« (1969: 25). Aber auch Evidenzen müssen, so steht zu vermuten, hervorgebracht und Fundamente gelegt werden. Zumindest benötigen sie semantischen Flankenschutz.20 Wenn der Aufbau von Kultur es unumgänglich macht, der Sexualität (oder dem ›Natürlichen‹ in Gestalt der Sexualität) eine Schlüsselstellung zu geben, so hat die Kultur auch dafür Sorge zu tragen, dass diese Position ausgefüllt wird und dem Kult der Liebe genügend Energien zufließen. Weil auf die »natürliche Sexualität«21 allein als Motiv zur »Einleitung einer Liebesbeziehung« kein absoluter Verlass ist, müssen »zusätzliche Erregungsquellen« angezapft werden. Heute findet man, wie Luhmann notiert, »in weitem Umfange kommerziell organisierte Erregungen, die, durch Schrift, Bild, Ton oder Aktionsgelegenheiten vermittelt, den Vorteil haben, besser isolierbar und mit der Lebensführung im übrigen besser synchronisierbar zu sein« (1969: 32).22 20 Vgl. zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik insbes. Luhmann (1980ff.) 21 Deren Freisetzung von sozialer Disziplinierung und Repression war bekanntlich das Programm der Jugendrevolten Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Gerade von der ›Natürlichkeit‹ des Gefühls versprach man sich auch stimulierende Nebeneffekte für die politische Emanzipation, soweit nicht die enthemmte Ausübung der Sexualität, die oft zu Lasten der Frauen ging, selbst schon als ein politisches Ereignis gefeiert wurde. Die Prozesse der Desillusionierung setzten allerdings bereits früh (z.B. mit den Manson-Morden und dem merklichen Übergang von ›weichen‹ zu ›harten‹ Drogen in den Frontszenen) ein. Foucaults Abrechnung mit dem Projekt der sexuellen Emanzipation (1977) lieferte dazu nur die diskursive Ratifizierung. 22 Eine alternative Erklärung liefert Giddens. Während bei Luhmann die Sexualität konsumistisch unterfüttert werden muss, stimuliert nach Giddens die freigesetzte Sexualität den Konsum: »Die herausragende Bedeutung der Sexualität kann […] im Sinne einer Bewegung interpretiert werden, die aus der kapitalistischen Ordnung, die abhängig ist von Arbeit, Disziplin und Selbstverleugnung, heraus zu einer Ordnung führt, die das Konsumverhalten und damit den Hedonismus fördert« (Giddens 1993: 191); vgl. hierzu auch die Analyse des Verhältnisses von Kapitalismus und sexuell eingefärbtem Hedonismus bei Bell (1976) und Illouz (2003). 76

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All diese systemtheoretisch inspirierten Bestimmungen, die auch vor der Darbietung von Trivialitäten nicht zurückscheuen, bilden nur die Folie, auf der die These Profil gewinnen soll, dass die spätmoderne Gesellschaft bestimmte Praktiken forciert und Diskurse begünstigt, welche die Leistung der sexuell fundierten Liebe schmälern und auf diese Weise soziale Erosionsprozesse auslösen können.23 Was Luhmann hierbei im Auge hat, sind Phänomene, deren Auftreten andere Autoren als Indizien der kommunikativen Verflüssigung moderner Orientierungsmuster interpretiert haben: Da »soziale Normen, Werte und Vorbilder keinen Allgemeingültigkeitsanspruch mehr haben« (Döring 2003: 236), wird immer öfter die Gelegenheit ergriffen, konkrete Lebenspraktiken unter den direkt Betroffenen auszuhandeln.24 In besonderem Maße geraten intime Beziehungen in diesen kommunikativen Sog. Es kommt zur Entstehung eines »Beziehungsdauerdiskurses, der virtuell alle Dimensionen des Zusammenlebens einbezieht« (Meuser 1998: 217). Der romantische Liebescode, der bei all seinen Huldigungen an die Kraft der Sprache auch den »Inkommunikabilitäten« im Liebesgeschehen einen gebührenden Platz einräumte (Luhmann 1995: 198) und zu verstehen gab, dass die Liebe »sich auf Evidenzen [gründet], die sich nicht mitteilen und nicht verifizieren lassen« (Luhmann 1995: 198), wird jetzt verdrängt durch das Konzept der »Partnerschaft«, das die explizite Thematisierung und Diskussion aller anstehenden Probleme empfiehlt. An die Stelle der Leidenschaftsrhetorik tritt »die Semantik der Therapie. Von Genuß, von Sinnlichkeit, von Verzückung ist genauso wenig die Rede wie von Hingabe, Lust und Überwältigung. Stattdessen nur noch Arbeit, Sprechgebote und Kommunikationspflichten. Nichts darf ungesagt bleiben in diesem therapeutischen Offenbarungsmilieu.« (Meuser 1998: 229)

Damit ist aber nach Luhmann gar nichts gewonnen, sondern nur die Tür zum Ruin der Paarbeziehung aufgestoßen: Jede »Aussprache« (1995: 201), die einen inhaltlichen Konsens anstrebt, reißt die Abgründe auf, die in jeder Kommunikation zwischen möglichen oder wirklichen Intimpartnern ebenso lauern wie im moralischen Diskurs, der die Sprecher in ach23 Damit variiert Luhmann, ohne es zu erwähnen, Überlegungen von Sigmund Freud, die ebenfalls der gesellschaftlichen Schwächung der Sexualität als paradoxer Form kultureller Selbstdestruktion galten. 24 Vgl. u.a. die Befunde und Thesen von Beck (1986), Beck/Beck-Gernsheim (1990) und Giddens (1993), z.B. folgende lakonische Formulierung: »Leitende Normen verblassen, büßen ihre verhaltensprägende Kraft ein« (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 15). 77

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tenswerte und verächtliche Personen differenziert und mit hoher Wahrscheinlichkeit polemogene Konsequenzen hat. Die Auffassung, Gespräche seien ein probates Mittel zur erfolgreichen Aushandlung von gemeinsamen Lebensformen, resultiert in Luhmanns Augen aus einer Fehlinterpretation der empirisch nachweisbaren kommunikativen Aktivitäten. Zwar suchen Liebende »die Kommunikation – aber eigentlich nicht um der Kommunikation willen, sondern um einander beim Kommunizieren beobachten zu können. […] Das Thema ist nur ein Vorwand.« (1995: 201). Die zur Führung einer gedeihlichen Beziehung erforderlichen inhaltlichen Konsense werden gerade nicht durch argumentativ gehaltvolle Verhandlungen und aufwändige intersubjektive Deutungsarbeit erzielt, sondern im Vorhinein kontrafaktisch unterstellt25 und durch »kommunikationsfreie Wahrnehmung« (1995: 199) gestützt. Gegen das modische Programm, das Feld der Liebe in ein Spiel- und Schlachtfeld der Kommunikation zu verwandeln, bringt Luhmann daher »die Unmittelbarkeit des Beobachtens« in Stellung, die sich »im Körper-zu-Körper-Verhalten« manifestiert (1995: 203). Betrachtet man die neuen Dating-Praktiken im Lichte dieser systemtheoretischen Beschreibung von Liebe und Liebescodierung, so erscheint die computerbasierte Umkehrung der üblichen Anbahnung von Paarbeziehungen als problematisch, weil sie den Faktor der körperlichen Wahrnehmung unter das Gesetz der Nachträglichkeit zwingt und kommunikativen Beiträgen Leistungen abverlangt, die diese nur selten erbringen können. Eine Überlastung bzw. Überforderung der Kommunikation würde aber im Endeffekt dazu führen, dass das »Selektionsbewusstsein« 25 Untersuchungen von Hahn (1983) und Eckert/Hahn/Wolf (1989) über junge Ehen bestätigen diese These Luhmanns. Vgl. dazu auch Loenhoff (1998: 206) und Landfester (2004). Hinter den Bedenken gegenüber einer alles durchdringenden, an Dialog und kommunikativer Verständigung orientierten Reflexion mögen grundsätzliche Erwägungen über die Probleme sozialer Transparenz stehen. Schelsky legt in diesem Punkt die Karten auf den Tisch: »[…] in den Bereich des kritischen und planenden Bewußtseins des einzelnen Menschen und der Gesellschaft gezogen und der mehr oder minder offenen Diskussion ausgeliefert, verlieren diese [gemeint sind: auf Tradition beruhende] Verhaltensweisen ihre sinnvolle und für Mensch und Gesellschaft gleich nützliche Funktion, die sie nur unterhalb der, wenn nicht Bewußtseins-, so doch wenigstens der Wort- und Diskussionsschwelle auszuüben imstande waren. Ihre Bewußtmachung und deren Popularisierung hat allerdings, anstatt zum freien und beherrschten Leben zu führen, nur neue und weit schwerer greifbare und zu ertragende Notstände, Unsicherheiten und Krankheiten des menschlichen und sozialen Verhaltens geschaffen, als Enge und Schranken der Tradition sie verursachten« (1955: 8). 78

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nicht mehr latent gehalten werden kann. Und dies wiederum hätte gravierende Folgen: Liebe und Paarbeziehung würden – um auf Ulrich Becks bereits erwähnte Formulierung zurückzugreifen – »den Status des letzten Ortes unbezweifelbarer Sicherheit« (1990: 224) verlieren.

I I I . D i e K r i ti sc he T he o r i e d e r D a ti n g - P r a x i s Es wird niemanden erstaunen, dass die Überlegungen zur »Internetvermittelten Partnersuche«, die im Umkreis der Frankfurter Schule angestellt wurden (vgl. Honneth 2005: 105f.; Illouz 2006: 115ff.) ganz andere Krisenszenarien entwerfen. Hier bedient man sich nicht der »Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation« (Luhmann 1995: 199) als Erkenntnis-leitender Denkfigur, sondern trennt zwischen verschiedenen Typen des kommunikativen Handelns. Strategische und dissimulative Kommunikationsweisen, in denen eine »instrumentelle Behandlung des Anderen« vorliegt (Honneth 2005: 25), werden (mit mündlichen bzw. schriftlichen) Sprechakten kontrastiert, die an der Herbeiführung von wechselseitigem Verständnis interessiert sind und Akteure voraussetzen, deren Ich-Identität aus intersubjektiven Anerkennungsprozessen hervorgegangen ist. Eine gelungene »individuelle Selbstbeziehung« beruht, wie Honneth im Anschluss an Mead, Habermas und Winnicott zu zeigen versucht, auf einer Art der Bejahung, die »von uns verlangt, unsere Wünsche und Absichten als artikulationsbedürftigen Teil unseres eigenen Selbst zu verstehen«. Wenn wir hingegen »beginnen, diese vorauslaufende Selbstbejahung (wieder) zu vergessen, indem wir unsere psychischen Empfindungen nur noch als entweder zu beobachtende oder herzustellende Gegenstände begreifen«, dann entsteht »eine Tendenz zur Selbstverdinglichung« (2005: 104). Spätmoderne Gesellschaften weisen Charakteristika auf, die einer solchen Haltung Vorschub leisten. Ähnlich wie Boltanski/Chiapello in ihrer bahnbrechenden Studie über den ›neuen Geist des Kapitalismus‹ (2003) vertritt Honneth die These, »dass sich […] der vor einem halben Jahrhundert allmählich herangewachsene Individualismus der Selbstverwirklichung durch Instrumentalisierung, Standardisierung und Fiktionalisierung inzwischen in ein emotional weitgehend erkaltetes Anspruchssystem verkehrt hat, unter dessen Folgen die Subjekte heute eher leiden als zu prosperieren scheinen«. (2002b: 154)

Die »Selbstverdinglichung« ist in diesem Zusammenhang als eine besonders gravierende Form des Leidens zu betrachten, weil die Betroffenen sie nicht als Pathologie erkennen. Das Problem bleibt für die Akteure selbst unsichtbar und muss deshalb als extrem folgenreich eingeschätzt 79

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werden. »Alle institutionellen Einrichtungen, die die Individuen latent dazu zwingen, bestimmte Empfindungen bloß vorzutäuschen oder abschlußhaft zu fixieren, fördern die Bereitschaft zur Ausbildung selbstverdinglichender Einstellungen.« (2005: 104f.) Dass Honneth neben der neuerdings üblichen Form beruflicher Bewerbungsgespräche26, in denen sich Konzepte des Ich-Marketings bewähren, auch das Internet-Dating als markantes Beispiel anführt, hat folgende Gründe: »Hier zwingt die Art der standardisierten Kontaktaufnahme die jeweiligen Benutzer zunächst dazu, ihre Eigenschaften in dafür vorgesehene, skalierte Rubriken einzutragen, während sie nach der Feststellung von sich hinreichend überlappenden Eigenschaften dann als elektronisch ausgewählte Paare dazu angehalten werden, über ihre Gefühle sich wechselseitig im schnellen Zeittakt von E-Mail-Nachrichten zu informieren. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, wie auf diesem Weg eine Form der Selbstbeziehung gefördert wird, in der die eigenen Wünsche und Absichten nicht mehr im Lichte persönlicher Begegnungen artikuliert, sondern nur noch erfaßt und gleichsam vermarktet werden müssen.« (2005: 105f.)

Die beiden zentralen Gegenstände, an denen sich die Kritik des InternetDatings entzündet, sind die Standardisierung27 und die Vermarktung von Gefühlen bzw. Gefühlsbekundungen. Schon mit der Erstellung des sog. »Profils«, das den ausgewählten Diensten die erforderlichen Informationen für die Suche eines passenden Partners zur Verfügung stellt, begibt sich das Subjekt in eine verfängliche Situation, deren eigentümlich zwanghafte Struktur Eva Illouz mit den Begriffen »Selbstbeobachtung«, »Selbstklassifikation« und »Selbstrepräsentation« zu erläutern versucht (2006: 116ff.). Auffällig an dieser Art der zweckgerichteten Verwendung einer neuen und vielversprechenden Kommunikationstechnologie ist der reduktionistische Einsatz, der im Kontext der Dating-Praxis gepflegt wird.28 Statt die computertechnischen Mittel so zu verwenden, dass ein 26 »Anstatt über bereits erworbene Qualifikationen zu berichten«, sind die Kandidaten jetzt gehalten, ihr »zukünftiges Arbeitsengagement möglichst überzeugend und effektvoll zu inszenieren« (Honneth 2005: 105). 27 Honneth hat bei seiner Kritik eine für die Gegenwartsgesellschaft typische Paradoxie vor Augen: »insgesamt lässt sich […] von einer gewissen Tendenz sprechen, standardisierten Mustern der Identitätsfindung zu folgen, um doch eigentlich experimentell den eigenen Persönlichkeitskern zu entdecken« (2002b: 152). Die ›klassische‹ Kritik an Prozessen der Standardisierung und Stereotypisierung, die Ähnlichkeit zur Signatur von Kultur machen, tragen Horkheimer/Adorno (1947/1969: 128ff.) vor. 28 Dass die kreativen Gestaltungsmöglichkeiten, die die Computertechnik grundsätzlich bietet, tatsächlich weit weniger, als man wünschen und er80

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»flexibleres, offenes und multiples Selbst« in Erscheinung tritt, greift man auf »psychologische Selbsttechnologien« (2006: 121) zurück, die allen wohlgemeinten Entwürfen postmoderner Identitätsmodi Hohn sprechen; und das derzeit avancierteste Medium – der Computer – erweist sich als ausgesprochen hilfreich dabei, all jene Utopien, die sich auf seine verhaltensprägenden Wirkungspotenziale verlassen haben, zu entkräften. Im Umgang mit dem Internet lernen die Subjekte offenbar nicht ohne weiteres, dass sie nur als »eine Multiplizität von zu spielenden Rollen« ganz zu sich selbst kommen, sondern sie nutzen (zumindest in der Dating-Praxis) die bereitgestellten Instrumentarien, um ein eigenes »Kernselbst« freizulegen, »das sich über eine Vielzahl von Repräsentationen einfangen läßt (Fragebogen, Photo, E-Mail etc.)«.29 Das »Internetselbst« lässt sich daher – wie Illouz polemisch formuliert – als Produkt einer erfolgreichen »Wiederbelebung des alten cartesianischen Dualismus zwischen Körper und Geist« (2006: 122) interpretieren. Als Fazit dieser Analyse ist festzuhalten, dass die Suche nach einem fixierbaren »Kernselbst«, das sich nur als dualistisches Gebilde erfassen und auf der Basis standardisierter Kontaktmuster30 kommunizieren lässt, letztlich zur Verkehrung von Selbstentwürfen in Selbstzwänge führt. Damit gelangen Honneth und Illouz bei ihren Analysen der aktuellen Internet-Dating-Szene zu Ergebnissen, die verblüffende Übereinstimmungen mit einer frühen Studie von Habermas über Heiratsannoncen aus dem Jahre 1956 aufweisen.31 Dort hatte Habermas behauptet, dass Menschen, die den »Heiratsmarkt« der Tageszeitungen oder Wochenendwarten könnte, genutzt werden, lässt sich auch in anderen Zusammenhängen feststellen. Vgl. dazu Funken (2004: 207f.). 29 Damit erheben sich auch Zweifel an der generellen These, dass elektronische Kommunikationstechniken als Trainingsfeld für postmoderne Persönlichkeiten dienen. Ob man durch die ausgiebige Nutzung ›des‹ Computers tatsächlich Praktiken einer neuen Intimkultur erlernt, mit deren Hilfe die »Logik der Expressivität« an die »Logik der Wahl« gekoppelt werden kann, ist eine offene Frage. Vgl. zu dieser Annahme Reckwitz (2006: 553). 30 In welchem Sinne auch noch Abweichungen einem vorgegebenen Programm folgen, versucht Illouz durch den Vergleich von textlicher Information im Fragebogen und Foto aufzuzeigen: »Während ein erfolgreiches psychologisches Profil verlangt, sich von der homogenen Masse des ›Ich bin lustig und spaßig‹ zu unterscheiden, verlangt das photographische Profil demgegenüber eine Übereinstimmung mit den etablierten Richtlinien für Schönheit und Fitness. Im Netz sind folglich diejenigen am erfolgreichsten, die sich über ihre sprachliche Originalität und ihre physische Konventionalität auszeichnen« (2006: 125). 31 Einen guten Überblick über neuere Entwicklungen im Bereich des »dating advertisement« gibt Jagger (1998). 81

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Magazine betreten und »einen vorgedruckten Fragebogen« ausfüllen, sich »einem System vergleichbarer und das heißt meßbarer Leistungen« ausliefern, in dem »die Person(en) grundsätzlich auswechselbar« sind (1956: 997). Man wirbt um einen gleichgesinnten Partner mit »Selbstdarstellungen«, die »hochgradig stereotyp und stark ideologisch« ausfallen. Die Subjekte ziehen als »Masken (ihrer) selbst […] in den Kreislauf der großen Börse ein« und gerinnen »zu Dingen unter Dinglichkeiten« (1956: 998).32 »Unübersehbar klafft der Widerspruch zwischen der vom geltenden Liebesideal zugespielten und zugemuteten Rolle auf der einen und der rationalisierten Praxis der Heiratsbörse auf der anderen Seite« (1956: 999). Aber trotz dieser deutlichen Unvereinbarkeit wählen die meisten ›Interessenten‹ Muster aus, die eine Kombination aus Romantik und Geschäft bieten. Wahrscheinlich ist es gerade die Kommerzialisierung der Gefühle, die zum Aufbau erstaunlich robuster Illusionen führt. Das Enttäuschungsrisiko wiegt angesichts der vorteilhaften Aussichten, die die Inserate bieten, offenbar gering. Und eine der verlockendsten Möglichkeiten besteht darin, sich auf dem Wege der standardisierten Kontaktanzeige »bei der Partnerwahl von der verantwortlichen Initiative […] zu befreien« (1956: 1004). Die gewählte marktgerechte Anbahnungsstrategie entpuppt sich demnach bei genauerer Betrachtung als Versuch, ein heikles, aber wesentliches Element jedes ernsthaften Liebesspiels auszuschalten. Wer so vorgeht, erleichtert sich vielleicht den Weg zum Anderen, verbaut sich aber zugleich die Glückspotenziale, die die Liebe unter günstigen Bedingungen entbinden kann. Mit dem vorwurfsvollen Hinweis auf die Entlastungsfunktion solcher Verfahren trifft Habermas nicht nur den entscheidenden Punkt des Problems, er kommt auch den Überlegungen konservativer Soziologen recht nahe. Während der kritische Theoretiker den Rückgriff auf Annoncen, Schablonen und Klischees als Ausweichmanöver beschreibt, in dem sich letztlich die Angst vor einer verantwortlichen Wahl des Intim- und Lebenspartners bekundet, üben die soziologischen ›Abklärer‹ Luhmann und 32 An einer anderen Stelle spricht Habermas mit sichtlicher Lust am Paradox von der »Verschleierung eines offenen Antagonismus des Heiratsmarktes, der die ›Persönlichkeitswerte‹ des Einzelnen behauptet, um gleichzeitig die Person auf ihre dinglichen und verdinglichten Attribute zu reduzieren« (1956: 1000). Diese Reduktion werde besonders deutlich an den Fotos, die dem »Heiratsbrief« an den unbekannten Partner beigefügt sind und die im Abbild verdoppelten Körper in »Phantome« verwandeln: »Das Foto […] tut ein Letztes, um den abstrakten Marktmechanismus mit dem Ideal der schicksalhaft einzigen Liebesbegegnung zu verfärben; von ihm geht nämlich die normierende Kraft aus, die das Einzigartige standardisiert, aber noch in seiner Standardisierung das Einzigartige verspricht« (1956: 1003). 82

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Schelsky Nachsicht mit den gestressten Subjekten.33 Luhmann vertritt – wie bereits erwähnt – die These, dass der Einsatz standardisierter Suchprogramme, soweit sie das ›Finden‹ eines geeigneten Partners nicht als puren Zufallstreffer oder als Ergebnis einer strategischen Wahl diskreditieren, die beachtlichen Risiken der Kommunikation mindert. Luhmanns Lehrer Schelsky wird in seinem Bestseller über die »Soziologie der Sexualität« noch deutlicher: »Nichts hat den Menschen im Verhältnis zu seinen Trieben mehr überfordert als das Ansinnen, unmittelbar Person und Individualität sein zu wollen.« Um diese Zumutung zu entschärfen, sind »Standardisierung und Konventionalisierung« bzw. »die soziale Durchformung des geschlechtlichen Verhaltens« auch in der modernen Gesellschaft sinnvoll und unverzichtbar (1955: 127).34 Die Bestimmung pathologischer oder heilsamer Effekte von Verhaltensstandardisierungen und medialen Distanzierungstechniken ist – wie die vorgeführten Argumentationen zeigen – eine schwierige Aufgabe, die wohl nur erfolgreich bewältigt werden kann, wenn man die AnalysePerspektive und die Leitbegriffe ändert. Ehe wir hierzu (in Abschnitt IV) einen Vorschlag machen, ist aber noch kurz das Problem der Kommerzialisierung von Gefühlen anzusprechen, das bei Habermas, Honneth und Illouz stets mit der Genese von Standardisierungsformen des Geschlechterkontakts in Zusammenhang gebracht wird. Eine besonders negative Einschätzung erfährt die Kombination von Geschäft und Romantik, als deren Höhe- und vielleicht Wendepunkt die aktuellen Gestalten der Selbstvermarktung in den »romantischen Netzen« der virtuellen Realität gelten. (Illouz 2006: 115) Bekanntlich befreit das romantische Liebeskonzept die Partnerwahl von traditionellen Vorgaben bzw. Zuteilungsmechanismen und feiert Gefühle, die im Angesicht des einzigen und richtigen Anderen jäh aufkeimen, als außeralltägliche Ereignisse. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass die Meinung vorherrscht, die romantische Liebe nähre einen antiökonomischen Impuls und stelle sich mit extremer Entschiedenheit gegen die Sphäre der kapitalistischen Warenproduktion, des Marktes und des Konsums. Darüber hinaus scheint sich der radikale Entwurf personaler Zweisamkeit, die eine affektive Vereinigung zur alleinigen Basis hat, 33 »Soziologische Aufklärung«, so der Titel von Luhmanns sechsbändiger Essay-Sammlung (1969–1995) wird ausdrücklich als »Abklärung« verstanden. 34 Martin Heidegger hat sich diese Hinweise anscheinend zu Herzen genommen und einen Standard-Liebesbrief (heute im Literaturarchiv zu Marbach verwahrt) an seine zahlreichen Gespiel/-innen geschickt. Die libidinöse Wirkungskraft des Jargons der Eigentlichkeit dürfte darunter kaum gelitten haben. 83

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von Beginn an von einem bestimmten bedenklichen Aspekt des modernen Individualismus zu distanzieren. Im Individualismus verbergen sich nämlich ideologische Kräfte, die die Selbständigkeit des Einzelnen direkt mit dem wirtschaftlich und politisch formierten Ganzen koppeln35 und die leidenschaftliche Ich-Du-Beziehung des Paares marginalisieren. Diese Sicht prägt sogar noch die heutigen Ausläufer des romantischen Liebescodes.36 Nicht zufällig hat daher Ulrich Beck auch die ›ganz normale chaotische Liebe‹ in den Zeiten der Spätmoderne als »Gegenindividualisierung« charakterisiert, mit deren Hilfe sich die Individuen vor der »anomischen Kehrseite« des bürgerlichen Individualismus37 »retten« können (1990: 253, vgl. 239). Die Lust- und Passionskomponente der Liebe führt aber nicht generell zu einer antikommerziellen Einstellung. Mit der kulthaften Pflege der Außeralltäglichkeit ist keine grundsätzliche Negation des Konsums von Gütern verbunden, die sich als Zeichen einer hohen Gefühlsbindung verwenden lassen. (Vgl. Campbell 1987; Illouz 2003; Honneth 2003) Die heute viel diskutierte Entsachlichung des postfordistischen Kapitalismus und die weiträumige emotionale Aufladung der ökonomischen Sphäre (vgl. Boltanski/Chiapello 2003; Neckel 2005) nimmt durch die »Passionierung der Liebe« (Luhmann 1982) zumindest teilweise ihren Anfang. Auf Waren, die marktförmig distribuiert und feilgeboten werden, fällt nicht ohne Unterschied der Schatten ihrer Genese. Dass sie Arbeitsprozessen entspringen, die durch Profitmaximierung und ungerechte Löhne geprägt sind, wird irrelevant, wenn sie in den Kreislauf einer anderen 35 Das heißt: Familie, Peergroup und andere Kleingruppen-Bindungen werden im Prinzip nicht mehr als subjekt-konstitutive Faktoren betrachtet. Individuen erhalten gleichsam unmittelbar Zugang zu den ausdifferenzierten Funktionssystemen und sind dann im Wesentlichen auf sich allein und ihre Leistungs- und Anpassungsfähigkeit gestellt. 36 Im sog. Modell der ›Companionship‹ ist dem romantischen Code freilich inzwischen ein starker Konkurrent erwachsen. Im Rahmen dieses Modells werden die »Risiken der Kommunikation« eher gering eingeschätzt und auch die »Konsensfiktionen«, von denen oben bereits die Rede war, gelten als prinzipiell vermeidbar. 37 »Individualisierung bedeutet Marktabhängigkeit in allen Dimensionen der Lebensführung. Die entstehenden Existenzformen sind der vereinzelte, sich seiner selbst nicht bewusste Massenmarkt und Massenkonsum für pauschal entworfene Wohnungen, Wohnungseinrichtungen, tägliche Gebrauchsartikel, über Massenmedien lancierte und adoptierte Meinungen, Gewohnheiten, Einstellungen, Lebensstile. M.a.W., Individualisierungen liefern die Menschen an Außensteuerung und -standardisierung aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten« (Beck 1986: 212). 84

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›Ökonomie‹ eintreten, die sich nicht durch Kälte, Disziplin und Rationalität auszeichnet. Konsumgüter, die im Liebesspiel eine Funktion übernehmen, signalisieren nicht Berechenbarkeit und Dinghaftigkeit, sondern dienen als Symbole der Wertschätzung. Die Höhe des Kaufpreises wird praktisch zu einem Gradmesser des Gefühls und Akte finanzieller Verschwendung, gar Verschuldung geraten zu Sinnbildern einer zügel- und maßlosen Gefühlsinvestition. Waren erhalten eine Aura38, die den Zustand des erreichten Glücks zur Anschauung bringt. Dies gilt zum Beispiel für teure Geschenke (Schmuck, Kleidungsstücke, Blumen), gemeinsame Ausflüge und Reisen, aufwendig zelebrierte Theater- und Museumsbesuche etc. Selbst die Personen als Ganze geraten in den Konsumsog. Indem sie sich bereitwillig in besondere, seltene Waren verwandeln, möchten sie an der Aura der käuflichen Dinge teilhaben, ohne dem Nimbus der Liebe zu schaden. Vor dem Hintergrund dieser Skizze wirkt jede Kritik der neuen Dating-Praxis, die mit den Begriffen Konsumismus und Kommerzialisierung unbeschwert hantiert, merkwürdig naiv. Illouz, die selbst eine beachtliche Analyse des Zusammenhangs zwischen Romantik und Konsum vorgelegt hat, versucht die entscheidende Differenz zwischen der romantischen Liebe im Hochkapitalismus und der Partnerbörsen-Romantik im gegenwärtigen ›Turbokapitalismus‹ (vgl. Agger 2004) herauszuarbeiten: »Der Konsumkapitalismus hat die romantische Liebe eher verstärkt als zerstört. […] Gerade weil das so war, konnte man nicht einfach davon ausgehen, daß die Sphäre der Waren die Empfindungen degradiere.« Die heutige »Situation« im Bereich des Online-Datings »ist qualitativ anders. Die romantischen Beziehungen werden nicht nur im Rahmen von Märkten organisiert, sie sind selbst zu Fließbandprodukten geworden, bestimmt zu schnellem, effizientem, billigem und reichlichem Konsum. Als Konsequenz daraus wird das Vokabular der Emotionen mittlerweile fast allein vom Markt diktiert« (Illouz 2006: 135). Ob diese Argumentation mit all ihren deterministischen Untertönen (»bestimmt«, »diktiert« etc.) stichhaltig ist, möchten wir hier nicht vorschnell entscheiden. Denn es ist wichtiger, sich – über das bereits Gesagte hinaus – noch mehr Klarheit darüber zu verschaffen, warum die Standardisierung und Kommerzialisierung von Liebeskommunikation für die Akteure derart attraktiv sind. Ein vordringliches Motiv, gerade diese beiden Zurichtungen der Liebe zu akzeptieren, dürfte darin liegen, dass sie die Kontrollierbarkeit von 38 Dass der Fetischcharakter der Waren, den Marx analysierte, nicht nur darin besteht, die Produktion des Mehrwerts zu verdecken, sondern auch auf dem Feld der Partnersuche und Liebeswerbung eine zentrale Rolle spielt, haben Balzac, Proust und nicht zuletzt Benjamin im Detail aufgezeigt. 85

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Gefühlen suggerieren und den einzelnen förmlich ermächtigen, das Irrationale und Unverfügbare, das der Liebe anhaftet39, in den Griff zu bekommen. Freilich sollte man eines nicht verkennen: Die berechnende, kalkulierende und manipulative Haltung zum Gefühl der Liebe und zur Sprache der Liebe ist keine blanke Illusion, die per se und dann auch noch rasch scheitern muss. In gewissem Umfang – das belegen die Fakten, auf die sich zum Beispiel Arlie Hochschilds eindrucksvolle Studie (1990) bezieht – ist das Herz käuflich und das Gefühl ein Produkt diskursiver Praktiken, in denen historisch variable Codes zur Anwendung gelangen. (Vgl. Foucault 1977; Luhmann 1982). Beck-Gernsheim hat das Spannungsfeld, in dem Liebe und Liebeskommunikation angesiedelt sind, treffend umrissen: »Einerseits sind Gefühle […] ein ›bewußtes Konstrukt‹, ein Produkt inneren Aushandelns, d.h. zum Teil vom Kopf gesteuert.« Andererseits sind Gefühle »irrational und deshalb gefährlich. Sie sind die großen Verführer, die unsere Wahrnehmung verzerren, uns täuschen.« (1990: 9)40

IV. Daten und Optionen Wenn es zutrifft, dass nicht allein auf dem Feld der Liebe und Paarbildung, sondern auch in anderen Lebensbereichen die handlungsorientierende Kraft von Normen und Werten im Schwinden begriffen ist, dann sind die Individuen mit einer Situation konfrontiert, die sie als Chance zur kreativen Selbstentfaltung oder als Gefahr der Überforderung deuten können. Dass die avancierten Kommunikationsmedien bei der Bewältigung der vorliegenden Probleme eine entscheidende Rolle spielen, steht außer Frage. Manche (z.B. Habermas) betrachten sie als öffentlich zugängliche Arenen, in denen neue, zeitgerechtere Normen vorgeschlagen, diskutiert und in Geltung gesetzt werden können. Andere (z.B. Luhmann) halten diese Lösung für hoffnungslos ›alt-europäisch‹ und unangemessen; sie weisen den Medien vielmehr die Aufgabe zu, die Gesellschaft mit einem Fundus an Themen auszustatten, aus dem in jeder Lebenslage Sinnelemente zu entnehmen sind, die erfolgreiche Anschlusskommunikationen gewährleisten. Während dort Normen und Werte als unverzichtbare Orientierungsmarken des Handelns gelten, erscheinen sie hier als Regulationsmechanismen, die sich den Veränderungen in einer extrem dynamischen Gesellschaft nicht genügend anpassen können und 39 Die Maßlosigkeit und Unvernünftigkeit der Liebe ist bekanntlich eines der großen Themen der antiken und frühneuzeitlichen Tragödie. 40 Vgl. hierzu auch die vorzüglichen Überblicksartikel von Neckel (2005, 2006). 86

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daher teils durch elastischere Richtgrößen, teils durch latente Strukturen (etwa die oben schon erwähnten Konsensfiktionen) ersetzt werden müssen. Es gibt freilich noch andere Möglichkeiten41: An die Stelle der Normen und Werte können nämlich auch medial präsentierte Datenlandschaften treten, in denen sich die einzelnen Akteure frei positionieren. Nicht länger dienen explizite Vorschriften, nach denen man sich zu richten hat, als Bezugspunkte des Handelns, sondern soziale Mit- oder Nachschriften, aus denen sich Informationen über das Verhalten der Anderen entnehmen lassen, die durch eigene Erfahrungen und Anschauungen nicht gewonnen werden können. Das in den Medien dargebotene Material, das durch eine ständig auf den aktuellsten Stand gebrachte Selbstbeobachtung der Gesellschaft gewonnen wird, erzeugt – trotz der zumeist suggestiven Präsentation – keine Verhaltenszwänge, stellt keine Forderungen, sondern ist ein Angebot, aus dem jedes Individuum frei wählen kann. Zu den hervorstechendsten Merkmalen der medial zugänglich gemachten Informationen gehört ihre sogenannte ›normalistische‹ Struktur. So ergibt etwa die statistische Aufbereitung der Daten in den unterschiedlichsten Bereichen eine stets wiederkehrende Art der Verteilung: Bestimmte Verhaltensweisen und Meinungen treten gehäuft auf und andere eher selten. Man spricht in diesem Zusammenhang von der ›Normalverteilung‹, die sich durch ›Gauß-Kurven‹ bzw. ›Glockenkurven‹ mit hohen Werten im mittleren Bereich und geringeren Werten in den beiden Randzonen veranschaulichen lässt. Orientierungsbedürftige Subjekte können nun mit den gelieferten Daten auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten umgehen: Einerseits können sie das homogene Datenfeld durch scharfe Schnitte unterteilen und so das Normale vom Anormalen, Abweichenden, Krankhaften etc. abtrennen – Jürgen Link bezeichnet diese Einstellung als »proto-normalistisch« (1996: 75ff.) –; andererseits können sie sich auf die kontinuierliche Anordnung der Daten, die keine Anhaltspunkte für deutliche Grenzziehungen liefert, als angemessene Repräsentation der Verhältnisse einlassen und je nach Situation und Zeitpunkt eine für sie günstige Position im Datenfeld anstreben bzw. einnehmen. Letztere Haltung wird »flexibel normalistisch« genannt und hat sich in den letzten Jahren für zahlreiche Individuen als eine attraktive Form des Umgangs mit den eigenen Orientierungsbedürfnissen erwiesen. Besonders anziehend an der flexibel normalistischen Einstellung ist die durch sie ermöglichte Kombination von individueller Wahlfreiheit und der gleichzeitig gewährten

41 Vgl. hierzu im Detail Link (1996), Funken (2001) sowie Ellrich (2001, 2007). 87

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sozialen Einbettung oder gar Eingliederung in das Bestehende.42 Der Einzelne hat den Eindruck, dass er sich in einem Feld hinreichend verlässlicher medialer Informationen43 über die Wahlentscheidungen aller anderen Akteure souverän bewegen kann und nach Bedarf Halte- oder Zielpunkte findet. Diesem zwanglosen Umgang mit Datenmaterial, das in übersichtlichen Kurven, Diagrammen, Schemata, Schaubildern etc. eine zumeist leicht handhabbare Gestaltung findet, korrespondiert auch eine legere Beziehung zu Standardisierungen, Mustern, Fragebögen, Profil-Schablonen etc. Von Vorlagen dieser Art geht keine bezwingende Kraft auf die Subjekte aus. Sie werden daher auch nicht als Gebilde interpretiert, die einen latenten oder manifesten Anspruch erheben, dem man sich unbedingt beugen müsste. Statt die Akteure auf bestimmte Optionen festzulegen, eröffnen sie vielmehr einen Raum von Möglichkeiten, der durchquert werden kann, ohne dass die explorativen Schritte von hemmenden Gefühlen der Angst oder Ohnmacht begleitet sind. Jede Bestimmung und Fixierung innerhalb eines verdateten Feldes trägt den Index der sachlichen, zeitlichen und sozialen Revidierbarkeit und verliert deshalb auch nie seinen letztlich provisorischen Charakter. Aus der Warte dieser flexibel-normalistischen Weltsicht, die sich zunehmend verbreitet und immer mehr Zuspruch findet, erscheinen die klischeehaften Züge der Dating-Praxis nicht als alarmierende Signale menschlicher Selbstverfehlung, sondern eher als mehr oder minder nützliche Handwerkszeuge im Rahmen von Probehandlungen, die zumeist eine sinnvolle Ergänzung der Partnersuche im ›Real Life‹ darstellen und nur selten als deren vollständiges Substitut betrachtet werden. In Anbetracht 42 Eine vergleichbare Diagnose zur optionalistisch verfassten Gegenwartskultur hat Reckwitz (2006: 441–628, insbes. 544ff.) abgegeben. So behauptet er z.B., dass es »seit den 1970 und 80er Jahren« zu einer »Transformation der leitenden konsumatorischen Praktiken von einem normalistischen zu einem individualistischen Konsum« (2006: 557) gekommen ist. Übersetzt man diese Diagnose in die Terminologie, die Jürgen Link (1996) vorgeschlagen hat, so handelt es sich dabei um die Transformation von einer primär am Durchschnitt qua Normalität orientierten proto-normalistischen Massenkultur (der Angestellten) zu einer flexibel-normalistischen Haltung in der Spät- oder Postmoderne. 43 Es handelt sich dabei 1. um statistisch aufbereitete Informationen über die ganze Bandbreite des erfassbaren Verhaltens, 2. um populäre Gameshows, Talkshows, Reality Soaps etc., also um Formate, die Experimentier-Räume zur Verfügung stellen, in denen darüber diskutiert und jeweils ad hoc entschieden wird, was derzeit akzeptabel und inakzeptabel ist, und 3. um die mediale Darbietung spektakulärer Einzelfälle, die bei den Zuschauern einerseits Angst schüren, andererseits (durch die deutlich markierte statistische Seltenheit) auch wieder beruhigend wirken. 88

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der vorhandenen Orientierungsprobleme auf dem Feld von Liebe und Partnerschaft bietet sich das Internet-Dating nicht zuletzt auch als ein geeignetes Gefühls- und Reaktions-Training an. Hier wird der kühle, aber keineswegs böse Blick auf den Markt voller Rivalen, Konkurrenten und Solidargenossen mit der Lust an der menschlichen Wahl- und Handlungsfreiheit auf sehr produktive Weise verknüpft.

V . D i e v e r m e i n t l i c he E n t p r i v i le g i e r u n g d e s Kö r p e r s i m N e t z Auch in einer weiteren Hinsicht zerstreuen sich bei näherer Betrachtung und verändertem Blickwinkel die starken Bedenken, die von Seiten der Systemtheorie und der Kritischen Theorie der Gesellschaft vorgetragen werden. Beide Ansätze warnen ja (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) vor einer unangemessenen Vernachlässigung bzw. falschen Gewichtung des Körpers.44 Luhmann beanstandet (wie oben dargelegt) die spätmoderne Unterschätzung der kommunikationsfreien Wahrnehmung in Liebesdiskursen und Anbahnungspraktiken. Und Illouz zeigt, dass »die Vorstellungskraft im Internet« – im Unterschied zur körperzentrierten »romantische[n] Vorstellungskraft« – sich in einer Weise entfaltet, die den Körper virtualisiert und damit »die Wahrnehmung ihres existentiellen Hintergrunds« beraubt. Das vertextete Wissen, mit dem die Subjekte einander im Netz umgarnen, ist »entbettet und losgelöst von kontextueller und praktischer Kenntnis der anderen Person« (2006: 154). Man lässt sich zu dieser Ausdünnung oder gar Auslöschung des Körpers verleiten, weil man glaubt auf diesem Wege dem eigenen Selbst »einen scheinbar vollständigeren Ausdruck« zu geben (2006: 114)45 und auch 44 Eine Inhaltsanalyse von Kontaktanzeigen aus dem Jahre 1995 hat ergeben: »that the body is central to identity für both men and women«. Darüber hinaus ist deutlich geworden, »that traditional gendered stereotypes may now be changing as men and women deal with a context of a novel set of conditions« (Jagger 1998: 795). 45 Damit fügt sich die Internet-Nutzung – wie es auf den ersten Blick scheint – in das abendländische Projekt der Unterwerfung des Körpers unter den Geist ein. Dass gerade auch die diskursive Transzendierung der körperlichen Liebe ein wesentlicher Teil unserer platonisch-christlich geprägten Kultur (gewesen) ist, hat insbesondere Foucault herausgearbeitet: »Die Sexualität ist für unsere Kultur nur als gesprochene von entscheidender Bedeutung« (Foucault 1977: 176). Aus diesem Grunde musste, seiner Ansicht nach, auch das 68er-Projekt der freien körperlichen Liebe ebenso scheitern wie ähnlich radikale Versuche, die okzidentale Tradition durch erotischen 89

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vom Internet-Partner ein besseres, annähernd authentisches Bild zu gewinnen. In Wahrheit aber arbeitet man – wie Illouz darlegt – an der Fragmentierung der subjektiven Identität und weicht einer Begegnung mit dem Anderen, die das Prädikat »holistisch« (2006: 155) verdient, aus. Bemerkenswert und problematisch an dieser Diagnose ist der generalisierende Zugriff: Einzelne Aspekte von Internet-Nutzungen werden zunächst als Indizien für das gesamte Feld des Internet-Einsatzes gedeutet und sodann – unter Rekurs auf die zweifellos großartigen Wahrnehmungs- und Körpertheorien von Merleau-Ponty und Husserl – als mögliche Quellen von Pathologien ausgemacht. Am Ende ergibt sich das Bild einer fatalen ›libidinösen Beziehung‹ von Hyperrealität und »Hyperrationalität« (2006: 168), die dem Menschen als leib-seelischer Einheit nur schaden kann. Die Dating-Praxis, in deren Verlauf die reale Konfrontation mit dem Körper des Anderen verzögert und (unterschiedlich lange) aufgeschoben wird, gilt als handgreifliches Indiz für unterschwellige Effekte der Computertechnik insgesamt. Empirische Studien zu den diversen Formen der Repräsentation des Körpers in den virtuellen Welten (Chats, MUDs, MOOs, digitale Kunstperformances etc.) belegen freilich, dass Illouz’ einfache Beschreibung und Bewertung der Sache nicht gerecht wird.46 Von einer ›Auslöschung‹ oder Überwindung des Körpers kann – im strengen Sinne – keine Rede sein. Die ›klassischen‹ KI-Fantasien, die durch Bücher von Marvin Minsky und Hans Moravec viel Verbreitung fanden und jüngst noch einmal in der Variante von Ray Kurzweil für Aufregung sorgten, haben keinen deutlichen Niederschlag in den konkreten Netzoperationen gefunden. Ein anderer Eindruck herrscht vor: Die mediale Distanzierung des Körpers ist derart offensichtlich, dass sie gerade dadurch die Aufmerksamkeit der ›Aktionismus‹ zu brechen. Man darf bei derartigen Feststellungen aber nicht den Wandel der sozialen Funktion des Körpers außer Acht lassen. Denn die gravierende Veränderung der Kontroll- und Ordnungsformen in der Moderne hat dazu beigetragen, den Körper zur individuellen Verwendung und Gestaltung weitgehend freizugeben. Vgl. zu diesem Prozess u.a. Bette (1987) und Ellrich (1997). 46 Um tragfähige Aussagen über gesamtgesellschaftliche Trends zu gewinnen, muss man die ohnehin schon vielfältigen Formen des Internet-Datings in den Kontext weiterer Internet-Anwendungen stellen. Die meisten Besucher von Dating-Foren nutzen nämlich auch andere Kommunikations- und Spielmöglichkeiten, die das Netz bietet. Zudem interessieren sie sich für ausgefallene Offline-Praktiken der Partnersuche. Das gilt natürlich nicht für Personen, die sich selbst als körperlich unattraktiv einschätzen und daher zum Beispiel Speed-Dating-Dienste im ›Real Life‹ (vgl. Wittel 2006: 179f.) eher meiden; es sei denn, sie werden als Crash-Kurse zur radikalen Schüchternheitstherapie betrachtet. 90

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Nutzer und Nutzerinnen weckt und förmlich nach einer spezifischen Art der ›Wartung‹ verlangt. Zuweilen stößt man auch auf merkwürdige Kompensationsphänomene. So werden im Netz erstaunlich oft traditionelle Signale für körpergebundene Geschlechtsmarkierungen, die im ›Real Life‹ bereits ins Wanken oder aus der Mode gekommen sind, eingefordert und akzeptiert. (Vgl. Funken 2004: 208) Grundsätzlich sind zwei Typen der Körper-Thematisierung im Kontext der Computertechnik zu unterscheiden. Diese beiden Typen lassen sich mit den Begriffen »digitaler Körper« und »Körperkonstruktion« charakterisieren. Der Ausdruck »digitaler Körper« (vgl. Funken 2005: 218ff.) bezeichnet den Fokus medialer Experimente, die eine substantialistische Note aufweisen. Hier wird die Computertechnik zum Einsatz gebracht, um zu leibgrundierten Eigenheiten vorzustoßen (Ekelschwellen, vegetative Vorgänge, Schmerzgrenzen, Formen der Panik und der Euphorie etc.), die den Akteuren einen Zugang zur Wahrheit des Körpers verschaffen sollen. Der Kontrollverlust, die Erfahrung der Unverfügbarkeit, das Erlebnis, schlagartig oder kaum merklich aus einer aktiven Position in eine passive Lage zu geraten, sind dabei nicht nur einkalkuliert, sondern entscheidende Aspekte der Versuchsanordnung.47 Mit Blick auf das ›Wesen‹ körperlicher Nähe zu anderen Personen, also auf intime Beziehungen und Phänomene wie partnerschaftliche Liebe oder geteiltes Glück, erteilt gerade der virtuose und bis ins Detail geplante Umgang mit dem Computer eine fast überdeutliche Lehre: Die letzten Wahrheiten und tiefsten Gefühle unterliegen nicht unserer noch so technisch gestützten Verfügungsmacht, sie fallen uns entweder zu oder bleiben uns versagt.48 Der Ausdruck »Körperkonstruktion« (vgl. Funken 2005: 226ff.) indiziert hingegen einen subjektivistischen, inszenatorischen Bias. Der Körper wird hier als Zeichenkörper in Regie genommen.49 Er ist Gegenstand eines theatralischen Spiels mit Gemeinplätzen aus dem Fundus des Alltagswissens, dem Reverenz erwiesen wird. Der Reiz liegt nicht in der möglichen Demontage, sondern in der Wiederholung des realweltlich Gültigen und Unhintergehbaren auf einer ›höheren‹ digitalen Ebene. So 47 Ein erhellendes Beispiel liefert das digitale Kunstwerk der Kanadierin Char Davis, das den User/-innen die Möglichkeit verschafft, in eine virtuelle Umgebung buchstäblich ›einzutauchen‹ und die Erfahrung ›virtueller Körperlichkeit‹ als Ausgangspunkt für eine neue Begegnung mit dem eigenen ›realen Körper‹ zu nutzen. (Vgl. Funken 2005: 222ff.) 48 Damit korrespondiert das Konzept des »digitalen Körpers« mit Einsichten einer Theorie des Glücks in der Moderne, wie sie Dieter Thomä (2003) entworfen hat. 49 Man arbeitet mit Emoticons, Akronymen oder auch Körpermetaphern, die Habitus, Mimik, körperliche Befindlichkeiten und Reaktionen simulieren. 91

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wird – zumindest dem Anschein nach – der Grad an Verfügung gesteigert. Dass der Körper im alltäglichen Kampf-Spiel der Geschlechter einen kaum entbehrlichen Zündstoff liefert, der die Gefühle zu entflammen vermag, diese triviale Weisheit bleibt auch – Donna Haraways »Manifesto for Cyborgs« zum Trotz – bei den Netzakteuren gegenwärtig. Wollte man sie in die Sprache der Kommunikationssoziologie übersetzen, würde sich das zum Beispiel folgendermaßen anhören: »Ein nicht unwesentliches Charakteristikum von Intimbeziehungen liegt in der Verdichtung sozialer Wirklichkeit durch Zugang zur Körpersphäre des anderen und dem damit verbundenen Integrationspotential. […] Die verbreitete Meinung, dass erst der Körper Authentizität beglaubigt, zeigt sich vor allem da, wo gesprochene Sprache versagt, sich der Blick abwendet oder Schweigen an die Stelle von verbalen Veranstaltungen tritt.« (Loenhoff 1998: 207)

Diese sozial fundierende Körperlichkeit wird im Netz gar nicht bestritten; sie wird hingegen aufgegriffen und in der virtuellen Welt re-konstruiert, wobei unterschiedliche Wege zur Auswahl stehen: Erstens kann man sich wie ein ›flexibler Normalist‹ verhalten und aufmerksam beobachten, wie die übrigen Akteure bei ihrer Selbstpräsentation im Netz vorgehen. Mit Blick auf ein Feld hochinformativer Daten lässt sich das eigene Körperbild dann so entwerfen, dass es nach eigenem Belieben im dicht besetzten Mittelbereich oder in den beiden schwächer frequentierten Randzonen positioniert ist. Die flexibel-normalistische Haltung verknüpft mimetische und optionalistische Elemente, impliziert aber nicht die Vorstellung, etwas völlig Neues erschaffen zu können. Alle möglichen, frei wählbaren Varianten stellen nur Positionsverschiebungen innerhalb einer homogenen, kontinuierlichen Anordnung der Daten dar. Zweitens kann man die Transformation des Körpers in Zeichen als einen kreativen gestalterischen Akt betrachten, der sich auf keine, wie auch immer gearteten (weit verbreiteten oder außergewöhnlichen) Vorgaben bezieht. Der virtuelle Körper ist hier der Stoff, bei dessen Bearbeitung sich die Souveränität des Subjekts dadurch bekundet, dass es ihm eine bislang unbekannte Form zu geben vermag, der man sich erst nachträglich mit den unzulänglichen, aber pragmatisch ergiebigen Mitteln des Vergleichs oder dem altbewährten Schema von Identität und Differenz anzunähern sucht. Auf den beiden geschilderten Wegen machen die Akteure (die flexiblen Normalisten ebenso wie die Innovationsgläubigen), die sich im Übrigen auf kaum einen gemeinsamen Nenner bringen lassen dürften, ein und dieselbe Erfahrung: Die mediale Distanzierung bringt den Körper nicht zum Verschwinden, im Gegenteil, sie macht ihn interessant und promo92

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viert ihn zu einem Phänomen, das durch die Vielzahl der informationstechnischen Perspektiven, unter denen er sich darzubieten vermag, an Bedeutung gewinnt.

VI. Vorläufige Nachgedanken Sollten unsere (in den Abschnitten IV und V vorgetragenen) Überlegungen stichhaltig sein, so besteht wenig Anlass, die Anbahnung und Entfaltung von Paarbeziehungen im Internet unter Generalverdacht zu stellen. Weder zeigt die Verwendung von standardisierten Fragebögen und der Einsatz von Daten-Ensembles zur Selbstprofilierung schon eine Tendenz zur Verdinglichung der eigenen Person bzw. des gesuchten Partners an, noch kann aus der Internet-bedingten Privilegierung von Worten und Zeichen gegenüber den unmittelbaren Anschauungen im direkten Faceto-Face-Kontakt auf die Destruktion elementarer körperlicher Voraussetzungen zur Erfüllung menschlicher Liebeswünsche geschlossen werden. Die gewöhnlichen Krisen und Enttäuschungen, die Paarbeziehungen begleiten, und die »allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens«, über die Sigmund Freud schon 1912 im Interesse seiner Leser/-innen Auskunft erteilte, lassen sich durch das Internet-Dating und andere Formen computerbasierter Begegnungsformen kaum steigern oder radikalisieren. Freilich sollte man sich auch keine allzu rasche Verbesserung der Lage durch kommunikationstechnische Errungenschaften erwarten. Mit den Chancen steigen bekanntlich die Gefahren. Aber immerhin birgt die Liebe zur Gefahr auch Chancen für komplexere Lösungen, von denen wir heute vielleicht nur träumen können.

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WER ICH LIEBES-

BIN UND WAS ICH KANN.

ARBEITSSUCHE ALS NETZBASIERTER KOMPETENZDISKURS UND

WOLFGANG KELLNER Einleitung Zwei so unterschiedliche aber gleichermaßen existenzielle Aktivitäten wie die Liebessuche und die Arbeitssuche zu vergleichen, erscheint zunächst als Provokation – als Angriff auf den Gefühlskosmos der Liebe einerseits, auf den Sachkosmos der Arbeit andererseits, insgesamt als eine verdächtige Vermischung oder Vertauschung von Emotion und Ratio. Aber gerade zwei sehr avancierte Formen der Liebes- und Arbeitssuche verweisen in durchaus fragwürdiger Weise aufeinander, nämlich die netzbasierte Liebes- und Arbeitssuche, also die Suche über spezifische Internetplattformen: Es geht um so genannte Dating-Plattformen in der Beziehungswelt und es geht um digitale Kompetenz-Portfolios, sogenannte ePortfolios, in der Arbeitswelt. Gegenübergestellt werden in diesem Beitrag Instrumente und Methoden der Lern- und Kompetenzforschung Erfahrungen und Ergebnissen aus soziologischen Daten und Analysen über die Nutzung von Dating-Plattformen – vor allem aus Analysen der Soziologin Eva Illouz. Sie diagnostiziert einen ambivalenten Aufstieg der Gefühle im Kapitalismus in zwei Entwicklungen, die auch konstitutiv geworden sind für die Arbeits- und Liebessuche: einerseits in der Erfolgsgeschichte kommunikativer Ethiken in Management- und Kompetenzdiskursen, andererseits in der Durchsetzung von Leitbildern für psychische Gesundheit bzw. für psychisches Leiden, die am Narrativ der therapeutischen Selbstverwirklichung orientiert sind. Worin liegt nun die augenfälligste Gemeinsamkeit der Liebes- und Arbeitssuche im Netz? In beiden Bereichen geht es um die Erstellung spezifischer Persönlichkeitsprofile – genauer: um schriftliche Selbstbeschreibungen von persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Das erscheint auf den ersten Blick nicht so neu, denn traditionelle Formen sowohl des Liebesbriefs als 99

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auch der schriftlichen Bewerbung am Arbeitsmarkt sind Formen schriftlicher Selbstbeschreibung. Aber geht es heute und vor allem im Netz nicht um spezifisch neuartige Formen und Inhalte der schriftlichen Selbstbeschreibung? Sind sie doch sowohl von Besonderheiten der Netzkommunikation (Schnelligkeit, Verdichtung, Pointierung, Codierungen, Vielfalt der Adressierungen usw.) als auch von neueren gesellschaftlichen Entwicklungen im Liebesleben und auf den Arbeitsmarkt bestimmt. Da die Selbstbeschreibungen auf eine positive Resonanz bei kaum oder nicht bekannten potenziellen Partnern oder Arbeitgebern zielen, sind gewisse Standardisierungen notwendig. Gemeinhin wurde der Liebessuche ein eher geringes Maß an Standardisierung, der Arbeitssuche ein relativ hohes Maß an Standardisierung zugeschrieben. Gemäß der romantischen Idee der Liebe stand am Beginn einer Liebesgeschichte das zufällige und/oder schicksalhafte persönliche Zusammentreffen. Am Beginn der Arbeitssuche standen Zeugnisse und Zertifikate, standardisierte Bewerbungsschreiben und Lebensläufe – und schließlich das Bewerbungsgespräch. Gleichwohl fanden Soziologie und Forschungen zur betrieblichen Personalauswahl seit je auch viele Belege für das Gegenteil: Liebessuche ist in viel höherem Maße standardisiert als gemeinhin (romantisch) angenommen, Personalentscheidungen fallen in viel höherem Maße zufällig und weniger standardisiert aus, als gemeinhin (rational) angenommen wird. Aber haben wir es bei der Liebes- und Arbeitssuche im Netz nicht mit neuartigen Standardisierungen zu tun? Für die schriftlichen Selbstbeschreibungen in beiden Feldern existieren auf den ersten Blick wenig verbindliche Vorgaben. Aber in beiden Feldern geht es verstärkt und in neuartiger Weise um Beschreibung persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten. Bei der Liebessuche versteht sich das mehr oder weniger von selbst. Auf dem Arbeitsmarkt stellt der hohe Stellenwert persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten eine neuere Entwicklung dar: Kennzeichnungen hierfür sind personale Kompetenz, kommunikative Kompetenz, Soft Skills usw. Personalisten berichten, dass Fachkompetenz inzwischen schlicht vorausgesetzt werde (und ja auch vergleichsweise leichter nachweisbar sei über Zeugnisse und Zertifikate), entscheidend für die Personalentscheidungen würden aber zunehmend eben die kommunikativen und personalen Kompetenzen usw. Damit kommen bei der Beschreibung persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten sehr komplexe Ansprüche ins Spiel: Es geht um Fähigkeiten der Selbsteinschätzung und Selbstbewertung, und damit um ein hohes Maß an Selbstreflexion – eigentlich um eine spezifische Selbstreflexion: Selbsteinschätzung und Selbstbewertung im Bereich persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten erzwingen nämlich ein hohes Maß an emotionaler Selbstreflexion bzw. eine Art emotionaler Kompetenz. So gilt für beide Bereiche: Das Persönliche

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wird vertieft, ausgelotet, aufgeklärt (erweitert und/oder neu konstruiert) usw. und gleichzeitig marktförmiger. Die beiden folgenden Kapitel über die Selbstbeschreibungen bahnen zuerst historische Entwicklungslinien zu den Suchpraktiken, um dann bestimmende Elemente derselben zu beschreiben – wobei die historischen Markierungen Diskurse des Personalmanagements und der Weiterbildung sowie wirkungsmächtige Leitbilder von Selbstverwirklichung befragen.

Selbstbeschreibungen bei der n e t z b a s i e r t e n A r b e i ts s u c h e Als besonders leistungsfähiges Instrument zur Erstellung von Selbstbeschreibungen für die Arbeitssuche gelten Kompetenz-Portfolios, vorzugsweise in digitaler Form als so genannte ePortfolios – sie boomen im Bildungs- und Bewerbungsbereich. Kompetenz-Portfolios sind eine Art persönliche Sammelmappe und Dokumentation mit systematisch geordneten Kompetenzbelegen und -nachweisen. Sie sollen vor allem eine Grundlage bilden für die Erstellung von Bewerbungen für den Arbeitsmarkt. Digitale Portfolios bzw. ePortfolios verlegen diese Mappe gewissermaßen auf eine Internetplattform – und werden dabei den besonderen Ansprüchen der Portfolio-Erstellung und -Nutzung in geradezu idealer Weise gerecht, denn ein Kompetenz-Portfolio soll laufend überarbeitet werden können (gleichsam die Innenansicht der Life-Long-LearningAnsprüche und/oder -Zumutungen) und die (vorzugsweise) digitalen Bewerbungsschreiben sollten sich leicht und vielfältig (für die jeweiligen Bewerbungsziele) aus Textbausteinen des Portfolios zusammenstellen lassen. Darüber hinaus können auf den Portfolio-Plattformen eine Vielzahl von Anleitungen, Leitfäden, Fragebögen, Checklisten usw. genutzt werden. Dass wir von Kompetenz-Portfolios und nicht von Bildungsoder Qualifikations-Portfolios sprechen, hat mit der Durchsetzung und Konjunktur des Kompetenzen-Vokabulars im Bildungsbereich und in der Arbeitswelt zu tun. Aber die Kompetenzorientierung hat sich nicht nur in den Bereichen Bildung und Arbeit durchgesetzt, sondern: »Der Kompetenzbegriff hat den betrieblichen wie den privaten Alltag erobert« – Mit diesem programmatischen Satz eröffnen John Erpenbeck und Lutz von Rosenstiel ihr 2003 erschienenes »Handbuch Kompetenzmessung« (Erpenbeck/von Rosenstiel 2003: IX). Zur Bestimmung und Abgrenzung formuliert Rolf Arnold im 2001 erschienenen »Wörterbuch Erwachsenenpädagogik«:

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»Kompetenz bezeichnet das Handlungsvermögen der Person. Während der Begriff Qualifikation Fähigkeiten zur Bewältigung konkreter (in der Regel beruflicher) Anforderungssituationen bezeichnet, d.h. deutlich verwendungsorientiert ist, ist der Kompetenzbegriff subjektorientiert. Er ist zudem ganzheitlicher ausgerichtet: Kompetenz umfasst nicht nur inhaltliches bzw. fachliches Wissen und Können, sondern auch außerfachliche und überfachliche Fähigkeiten, die häufig mit Begriffen wie Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Personalkompetenz oder auch Schlüsselqualifikationen umschrieben werden.« (Arnold 2001a: 176)

Der Weg zur Dominanz des Kompetenzbegriffs führt über wechselnde Neubewertungen des jeweiligen Stellenwerts des Subjekts, der Sache und/oder der Ökonomie. Folgende Vorteile der Kompetenz- gegenüber der Qualifikationsorientierung macht Arnold u.a. geltend: Kompetenz beinhaltet Selbstorganisationsfähigkeit, wohingegen Qualifikation auf die Erfüllung vorgegebener Zwecke gerichtet ist, also fremdorganisiert ist. Kompetenz ist subjektbezogen, wohingegen sich Qualifikation auf die Erfüllung konkreter Nachfragen bzw. Anforderungen beschränkt, also objektbezogen ist. Kompetenz bezieht sich auf die ganze Person, verfolgt also einen ganzheitlichen Anspruch, wohingegen sich Qualifikation auf unmittelbar tätigkeitsbezogene Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten verengt. Kompetenz umfasst die Vielfalt prinzipiell unbegrenzter individueller Handlungsdispositionen, wohingegen Qualifikation sich auf die Elemente individueller Fähigkeiten bezieht, die rechtsförmig zertifiziert werden können. Kompetenz nähert sich dem klassischen Bildungsideal auf eine neue, zeitgemäße Weise, während Qualifikation mit ihrer Orientierung auf verwertbare Fähigkeiten und Fertigkeiten vom klassischen Bildungsideal (Humboldts »proportionierlicher Ausbildung aller Kräfte«) abrückt. (Vgl. Erpenbeck/Heyse 2004: XVI) Diese Beschreibung verweist gleichzeitig auf ein inzwischen mehr oder weniger verbindliches Grundmodell für die Unterscheidung von Kompetenzen bzw. Kompetenzfeldern oder Grundkompetenzen: Alle gängigen Kompetenzmodelle differenzieren – mit Akzentverschiebungen – zwischen den vier oben genannten Kompetenzbereichen. Erpenbeck und Heyse bestimmen Kompetenzen sehr pointiert als »Selbstorganisationsdispositionen des Individuums« (Erpenbeck/Heyse 1999: 157) – und unterscheiden daran anknüpfend die Dispositionen, die für die jeweiligen Kompetenzen stehen: die Disposition, geistig selbstorganisiert zu handeln (Fachkompetenzen); die Disposition, instrumentell selbstorganisiert zu handeln (Methodenkompetenzen); die Disposition, kommunikativ und kooperativ selbstorganisiert zu handeln (Sozialkompetenzen); die Disposition, reflexiv selbstorganisiert zu handeln (personale Kompetenzen) und die Disposition, gesamtheitlich selbstorganisiert zu handeln (Hand102

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lungskometenzen). In den nachfolgenden Publikationen haben Erpenbeck und Heyse ihr Modell etwas modifiziert – und unterscheiden nun zwischen Fach- und Methodenkompetenz (als einer Grundkompetenz), sozial-kommunikativer Kompetenz, personaler Kompetenz und Aktivitätsund Handlungskompetenz. Die etwas formalistische Aufzählung soll vor allem den breiten, ganzheitlichen »Zugriff« der aktuellen Kompetenzorientierungen deutlich machen, also die Bezugnahme auf eigentlich alle Handlungsfelder der Individuen – auf geistige und instrumentelle Handlungen, auf kommunikative und reflexive Handlungen. Das heißt: Die Subjektorientierung der Kompetenzdiskurse bedeutet auch, dass in immer umfassenderer Weise Subjekte zu Objekten der arbeitsbezogenen Kompetenzdiskurse werden: »ganzheitlich«, wie es so unschuldig heißt. Das hat aber auch damit zu tun, dass das Handlungsfeld Arbeit/Beruf zunehmend unbestimmter und offener wird. So muss sich ein zeitgemäßes Kompetenzmodell, so Erpenbeck und von Rosenstiel, vor allem auf das Problemlösen unter Bedingungen von Komplexität, Chaos und Selbstorganisation beziehen. Die subjektiven Aspekte, also insbesondere kommunikatives und reflexives Handlungsvermögen, treten in Analyse- und Bewertungssettings immer stärker in den Vordergrund. Es sollte nun deutlich geworden sein, was die Beschreibung persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten im Hinblick auf den Arbeitsmarkt leisten soll. Es geht darum, die Eigenschaften und Fähigkeiten im Raster der vier Grundkompetenzen zu erfassen – insbesondere in den Bereichen der personalen und sozial-kommunikativen. Bei der Intention, Kompetenzen möglichst umfassend und »tief« zu erfassen, gewinnen zunehmend auch Prozesse des informellen Kompetenzerwerbs erhöhte Aufmerksamkeit – also jener Kompetenzerwerb, der sich gleichsam hinter dem Rücken der Subjekte ereignet, durch Learning by Doing etc. Befunde aus der Lernforschung zeigen, dass sich das Lernen Erwachsener bis zu 80% als informelles Lernen ereignet. Die erhöhte Aufmerksamkeit für personale und sozial-kommunikative Kompetenzen sowie für den informellen Kompetenzerwerb stellt Arbeitssuchende und Personalisten vor ein methodisches Problem: Wie können diese für Kompetenz- bzw. Persönlichkeitsprofile adäquat erfasst und beschrieben werden? Im Sinne der geforderten Selbstorganisation vor allem mit Instrumenten zur Selbstanalyse (Fragebögen, Checklisten usw.), darüber hinaus aber fast immer auch mit Begleit- und Beratungsangeboten. Beispiel für ein ePortfolio, bei dem die meisten der oben genannten Dimensionen zum Tragen kommen, ist jenes für Studierende der Pennsylvania State University (http://portfolio.psu.edu) eine umfassende Netzplattform für die Selbstverwaltung der eigenen Kompetenzen mit Fragebögen, Checklisten, Anleitungen, Beispielen, Begleitangeboten,

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Möglichkeiten der partiellen Öffnung für Lehrende oder mögliche Arbeitgeber, Anleitungen zur Herstellung von filmischen Selbstpräsentationen. Aber auch bei noch so ausgeklügelten Verfahren der Ermittlung und Beschreibung von Kompetenzen bleibt eine konstitutive Unbestimmtheit, die schon bei der oben genannten Definition von Kompetenzen als Selbstorganisationsdispositionen anklingt: Für die Disposition ist keine direkte Beobachtung möglich. Für diese Voraussetzung formuliert der Konstruktivist Siegfried J. Schmied eine auf den ersten Blick paradox erscheinende Definition, nämlich: Kompetenz als Einheit der Differenz von Disposition und Performanz in Selbst- und Fremdbeobachtungssettings. (Vgl. Schmidt 2005: 172f.) Die unbeobachtbaren Kompetenzen sind »nur anhand der tatsächlichen Performanz, also der Anwendung und des Gebrauchs von Kompetenz aufzuklären« (Schmidt 2005: 162). Kompetenz in der Gegenwart kann »nur in Form von unspezifischem Vertrauen in zukünftige Performanzen eines für kompetent gehaltenen Aktanten bestätigt werden. Anders gesagt, der Erklärungsmodus von Kompetenz ist Virtualität, ist ›vorweggenommener Zustimmungsvorschuss‹ (Jünger).« (Ebd.: 172)

Kompetenz ist also vor allem ein Art Versprechen. Um nach diesen abstrakten Fragestellungen den Realitätsgehalt der Kompetenz- und Portfolioorientierungen einmal mehr geltend zu machen, soll noch auf ein sehr ambivalentes Konstrukt des Managementdenkers Charles Handy verwiesen werden: auf den Portfoliomenschen. In seinem Bestseller »Beyond Certainty« (1995) bemerkt Handy unter der Kapitelüberschrift »Die künftige Arbeitskultur« Folgendes: »Für Portfoliomenschen nimmt das Wort Karriere eine neue Bedeutung an. Portfolioleute legen ihre Arbeitsbelege in Aktenhefter, wie Architekten oder Journalisten es tun, und verkaufen ihre Dienste durch Beispiele ihrer Produkte. Es wird Zeiten geben, wo ein Produkt das ganze Portfolio ausmachen kann. […] Aber wenn andere Verantwortungen wie Elternschaft unsere Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchen und unsere Kräfte und Interessen expandieren, werden unsere Portfolios sich mehr und mehr diversifizieren. […] Manager unserer eigenen Aktiva – das ist es, was immer mehr von uns werden.« (Handy 1996: 38)

Aus dem Umstand, dass die Arbeits- und Lebenswelt von Frauen implizit seit je ein Naheverhältnis zu den Ambivalenzen eines Portfoliolebens aufweist, schließt Handy auf eine Art künftige Leitfunktion: »In gewissem Sinne wird diese neue Klasse [der Portfolioleute, W.K.] von Frauen für Frauen und aus Frauen gemacht. Das überrascht nicht besonders.

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Frauen sind des öfteren weniger am Innenleben von Organisationen interessiert, und wenn, dann auch nur, weil sie dort lange Zeit nicht willkommen waren. Frauen mussten außerdem gezwungenermaßen ein außerordentlich flexibles Leben führen, in dem sie Portfolios von Arbeit, Familie und Gemeinde zu jonglieren hatten.« (Ebd.: 39)

Handy resümiert kompromisslos: »Für mich sieht es wie Gewissheit aus, dass wir eines Tages alle unsere Portfolios brauchen, Männer und Frauen, Insider und Außenseiter. […] Das Portfolioleben wird nicht jedem gefallen. Es maximiert Freiheit auf Kosten von Sicherheit: ein Tausch aus alter Zeit. […] Tatsache ist, dass das Portfolioleben zum Guten oder Schlechten für die meisten das Leben der Zukunft sein wird.« (Ebd.: 40)

Selbstbeschreibungen bei d e r n e t z b as i e r t e n P ar tn e r s u c h e »Romantische Netze« ist die Kapitelüberschrift, unter der die Soziologin Eva Illouz von der Hebräischen Universität in Jerusalem Erfahrungen mit netzbasierter Partnersuche, insbesondere in den USA, befragt. Die suggestive Überschrift exponiert bereits das entscheidende Spannungsfeld »Romantik und Internet«, der Titel des Buches signalisiert die gesellschaftstheoretische Perspektive: »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus«1. Illouz diagnostiziert eine ambivalente Karriere der Gefühle im Kapitalismus, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann: insbesondere mit einer spezifischen Kommunikationsorientierung innerhalb der Managementdiskurse (»Die kommunikative Ethik als Geist des Unternehmens«) und mit neuen Leitbildern von psychischer Gesundheit bzw. von psychischem Leid (»Das Narrativ der Selbstverwirklichung«). Es kann auch von einer Psychologisierung der Management- und der 1

Schon in der 1997 in den USA erschienenen Studie »Consuming the Romantic Utopia« – deutsche Übersetzung unter dem Titel »Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus« (Illouz 2003) – behandelt Illouz das ambivalente Verhältnis zwischen Gefühlen und Kapitalismus und zeigt u.a., wie der Konsumkapitalismus zentrale Erfahrungen der romantischen Liebe eher verstärkt als zerstört hat. Den Beginn dieser Entwicklung identifiziert sie bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, »als Restaurants, Kinosäle, Tanzstätten und das Auto zu denjenigen Lokalitäten wurden, an denen sich in aller Öffentlichkeit die intime Anbahnung privater Liebesbeziehungen vollzog« (Honneth 2003: XI). 105

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Identitätsdiskurse gesprochen werden – oder allgemeiner: von einer Psychologisierung oder Therapeutisierung der Kultur. Weniger formelhaft ausgedrückt: Analysiert wird der »Einfluss der Psychologie auf die gewöhnlichen kulturellen Bezugssysteme von Männern und Frauen der Mittelschicht« (Illouz 2006: 169). Auf einen zentralen Begriff von Illouz bezogen, heißt das: Wandel der »gewöhnlichen kulturellen Bezugssysteme« ist gleichbedeutend mit der Durchsetzung eines neuen kulturellen Narrativs2. Ein zentraler Effekt dieses Narrativs ist die Herausbildung dessen, was Illouz emotionalen Kapitalismus nennt. »Der emotionale Kapitalismus ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen, um so jene breite Bewegung hervorzubringen, die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben – vor allem das der Mittelschichten – der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft.« (Ebd.: 13)

Die »stärkere Gewichtung der Emotionen in der Geschichte von Kapitalismus und Moderne [lässt, W.K.] die konventionelle Trennung zwischen einer emotionsfreien öffentlichen und einer mit Emotionen gesättigten privaten Sphäre zerfallen […]« (ebd.: 12). Und so werden in zunehmendem Maße »Frauen und Männer der Mittelschicht im Laufe des 20. Jahrhunderts dazu angehalten […], sich sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Familie auf intensive Weise ihren Emotionen zuzuwenden, und zwar indem sie in beiden Bereichen ähnliche Techniken verwenden, um das Selbst und seine Beziehungen zu anderen in den Vordergrund zu rücken«. (Ebd.)

Um die Entwicklung des emotionalen Kapitalismus, die gleichsam den Weg zu den digitalen Persönlichkeitsprofilen bereitete, auch historisch in Ansätzen zu verdeutlichen, sollen im Folgenden einige Datierungen von Illouz zur Psychologisierung bzw. Therapeutisierung der Kultur angeführt werden: 1909 hielt Freud an der Clark University fünf Vorlesungen vor gemischtem Publikum, die so genannten Clark Lectures – und eröff2

Narrativ, ein Begriff der Literaturtheorie, ist als soziologischer Begriff im deutschsprachigen Raum (noch) unüblich. Für Wolfgang Müller-Funk, der in »Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung« den Versuch unternimmt, den Begriff für kulturwissenschaftliche Fragstellungen nutzbar zu machen, ist ein Narrativ »in das, was wir ›Leben‹ nennen, stets schon eingeschrieben. Wir können uns nicht aussuchen, ob wir erzählen wollen oder nicht, wenigstens nicht im Bereich des alltäglich vollzogenen Lebens« (Müller-Funk 2002: 29). 106

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nete das Einfließen Freud’scher Ideen in die amerikanischen Institutionen und die amerikanische Populärkultur. »Weil sich die Psychoanalyse in der einmaligen Situation befand, die spezialisierten Gebiete der Psychologie, der Neurologie, der Psychiatrie und der Medien einerseits sowie der hohen und der niedrigen Kultur andererseits zu überbrücken, konnte sie in alle Poren der amerikanischen Kultur eindringen, in besonders auffälliger Weise in Filme und in die Ratgeberliteratur.« (Ebd.: 20) »Die vielen Stränge der klinischen Psychologie […] haben das formuliert, was ich einen neuen emotionalen Stil nennen möchte, nämlich den therapeutischen emotionalen Stil, der die kulturelle Landschaft Amerikas im 20. Jahrhundert maßgeblich beherrschen sollte.« (Ebd.: 15)

Ein andere historische Markierung bilden für Illouz die HawthorneExperimente von Elton Mayo (1880–1949), durchgeführt von 1924 bis 1927 in der Fabrik von Western Electric in Hawthorne. Sie konzentrierten sich »in historisch beispielloser Weise auf die emotionalen Transaktionen als solche und konstatierten, dass sich die Produktivität erhöht, wenn in den Arbeitsbeziehungen auf die Gefühle der Arbeiter eingegangen wird. […] Nur selten ist der therapeutische Zug der Mayoschen Interventionen in die Unternehmenswelt bemerkt worden. So hatte zum Beispiel die von Mayo ersonnene InterviewMethode alle Eigenschaften […] eines therapeutischen Gesprächs.« (Ebd.: 25, Hervorhebung von Illouz)3

Eine weitere historische Markierung für die Herausbildung einer »kommunikativen Ethik als Geist des Unternehmens« bilden die ManagementKlassiker von Dale Carnegie (1888–1955), die bis heute Bestseller sind4 3

4

»Elton Mayo hat die Management-Theorien revolutioniert, weil er in dem Augenblick, in dem er die moralische Sprache des Selbst in die leidenschaftslose Terminologie der wissenschaftlichen Psychologie übersetzen konnte, die bis dahin vorherrschende, von Ingenieuren ausgehende Rhetorik der Rationalität durch ein neues Vokabular ›menschlicher Beziehungen‹ (human relations) ersetzte.« (Illouz 2006: 28) Wie Carnegies Arbeiten heute in der Managementliteratur kommentiert werden, soll folgendes Beispiel illustrieren: »Carnegie war der erste Superstar im Ratgebergenre. Kaum jemand wird behaupten wollen, dass seine Ideen besonders tiefschürfend oder innovativ waren, aber sie entsprachen den Bedürfnissen der Menschen. Was ›Sorge dich nicht – lebe!‹ [sein bekanntester Bestseller, W.K.] speziell für die Wirtschaft bieten kann, sind einfache, aber effektive Rezepte für den Verkauf, eine Mischung aus Bin107

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– z.B.: »How to Win Friends and Influence People« von 1937 (dt. 1938: »Wie man Freunde gewinnt«). Carnegie listet sechs Marketing-Grundgebote auf: »1. ein echtes Interesse für andere Menschen entwickeln 2. lächeln 3. sich daran erinnern, dass jeder gerne seinen eigenen Namen hört 4. sich als guter Zuhörer erweisen und andere ermuntern, über sich zu reden 5. die Begrifflichkeiten aufgreifen, die das Gegenüber benützt 6. dem Gesprächspartner aufrichtig das Gefühl geben, wichtig zu sein« (Handelsblatt 2005: 31f.)

Illouz bemerkt dazu: »Die Ratgeberliteratur für erfolgreiches Management macht Erfolg von der Fähigkeit abhängig, sich selbst gleichsam von außen zu sehen, um auf diese Weise die eigene Wirkung auf andere zu kontrollieren. Diese neue Gewandtheit im Umgang mit der eigenen Erscheinung impliziert allerdings nicht einen kalten oder zynischen Zugang zu anderen. Im Gegenteil: Das reflexive Meadsche Selbst ist aufgefordert, die Fähigkeit zur Empathie und Sympathie zu entwickeln.« (Illouz 2006: 35)

Eine Schlüsselstellung kommt der folgenden historischen Markierung zu: der so genannten Humanistischen Psychologie mit ihren Gründungsvätern und Hauptexponenten Carl Rogers (1902–1987) und Abraham Maslow (1908–1970). Maslows Theorie basiert »auf dem einfachen Gedanken einer Selbstverwirklichungstendenz, die sich als eine in jeder Lebensform gegenwärtige Motivation zur möglichst vollständigen Entfaltung ihrer Potentiale definieren lässt« (ebd.: 71). Diese Theorie stellte die wohl wirkungsmächtigste »Grundlegung« des Narrativs der Selbstverwirklichung dar. In Maslow »Motivation and Personality« von 1954 bildet diese Selbstverwirklichungstendenz die Spitze seiner bis heute überaus populären Bedürfnispyramide, die folgende fünfstufige hierarchische Ordnung der menschlichen Bedürfnisse formuliert: 1. Körperliche Grundbedürfnisse 2. Sicherheit 3. Soziale Beziehungen 4. Soziale Anerkennung 5. Selbstverwirklichung senweisheit und professionellem Know-how, das den Menschen hilft, die vorwärts kommen wollen und erkannt haben, dass sie dazu als Erstes sich selbst richtig verkaufen müssen.« (Handelsblatt 2005: 32) 108

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Einen historischen Einschnitt jüngeren Datums markiert der Begriff der emotionalen Intelligenz von Daniel Goleman – u.a. in seinem Bestseller von 1995: »Emotional Intelligence. Why it can matter more than IQ.« Ein Buch, das »amerikanische Unternehmen im Sturm erobern konnte« (Illouz 2006: 99) – die aber durchaus darauf vorbereitet waren: »Gelang es dem Buch fast im Alleingang und über Nacht, den Begriff der emotionalen Intelligenz zu einem wesentlichen Bestandteil der amerikanischen Kultur zu machen, so nur deswegen, weil die klinische Psychologie die Idee, emotionale Kompetenz sei eine zentrale Eigenschaft des reifen Selbst, schon erfolgreich verbreitet hatte.« (Ebd.: 99)5

Und dieser hier nachgezeichnete Entwicklungsprozess, »der aus dem Selbst eine emotionale und öffentliche Angelegenheit macht«, findet nun für Illouz »in den Datingbörsen im Internet seinen stärksten Ausdruck« (ebd.: 13). Es handelt sich um eine Technologie, »die ein öffentliches emotionales Selbst voraussetzt und zur Darstellung bringt, mehr noch, die das öffentliche emotionale Selbst den privaten Interaktionen vorausgehen lässt und sie konstituiert« (ebd.). Für ihre Analysen des Datings bezieht sich Illouz auf eigene Forschungen in den USA und in Israel sowie auf Daten aus den USA – und auf die beiden amerikanischen DatingBörsen www.match.com und www.eHarmony.com. Was kennzeichnet nun die Selbstbeschreibungen auf Datingplattformen? »Solche Prozesse der Selbstpräsentation und der Suche nach einem Partner hängen ganz und gar vom psychologischen Diskurs ab, und zwar in drei Hinsichten: Zum einen wird das Selbst konstruiert, indem es in einheitliche Kategorien des Geschmacks, der Meinung, der Persönlichkeit und des Temperaments aufgeteilt wird, so dass es anderen unter Bezug auf die Idee und Ideologie psychologischer und emotionaler Kompatibilität begegnen kann. Diese Begegnung verlangt ein hohes Maß an Introspektion und das Vermögen, das eigene psychologische Profil und das des anderen zu artikulieren. Zum zweiten bringt das Erstellen eines Profils das Internet, wie auch andere psychologischkulturelle Formen (Talkshows, Selbsthilfegruppen), dazu, das private Selbst in einen öffentlichen Auftritt zu verwandeln. […]. Schließlich trägt das Internet, wie das psychologische Weltbild insgesamt, zu einer Textualisierung der Subjektivität bei […], das heißt zu einer Art des Selbstzugangs, die das Selbst mit

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Zu den ökonomischen Erfolgen durch die Berücksichtigung emotionaler Intelligenz/Kompetenz zitiert Illouz aus einer Analyse zur Personalauswahl des Kosmetikunternehmens L’Oréal: »Verkaufspersonal, das auf der Basis emotionaler Kompetenz ausgewählt wurde, hatte 63% mehr Umsätze im ersten Jahr als anderes Personal.« (Illouz 2006: 101) 109

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Hilfe visueller Mittel der Repräsentation und Sprache externalisiert und objektiviert.« (Ebd.: 119)

Im Hinblick auf die sprachliche Seite der Profile, deren Uniformität und Standardisierung, identifiziert Illouz auch die am häufigsten vorkommenden Adjektiva, nämlich »aufgeschlossen« und »offen« – also: Ich bin offen und aufgeschlossen. Veränderungsbereitschaft wird signalisiert – vergleichbar der Schlüsselkompetenz »Lernbereitschaft« (lebenslanges Lernen!) bei den Kompetenzprofilen. Datingplattformen verstehen sich teilweise auch explizit als Lernorte: So heißt es bei »eHarmony.com«: »Unser Persönlichkeitsprofil […] hilft dir, mehr über dich und deinen idealen Partner zu lernen […].« (Ebd.: 117) Aber darüber hinaus werden auch Formen von einer Art Lernbegleitung angeboten: Telefon-Coachings, Beratungen, Begleitmaterialien und Ratgeber – z.B. im Hinblick auf den Umgang mit dem eventuellen Foto-Schock beim Erhalt des ersten Fotos oder dem Stimmen-Schock beim ersten Telefonat usw. Diese häufig auftretenden »Pannen« hängen mit einer Art zeitlichen Umkehrung zusammen, denn bei der Dating-Anbahnung gehen »die kognitiven Kenntnisse über einen anderen zeitlich und der Wichtigkeit nach den Empfindungen voraus« (ebd.: 135). Die Ideologie der Spontaneität als konstitutives Element der romantischen Liebe scheint da endgültig verabschiedet. Ebenso ergeht es der zur romantischen Liebe gehörenden Idee der Exklusivität, denn: »Wenn das Internet […] einen Geist hat, dann den der Fülle und Auswechselbarkeit.« (Ebd.: 135) Dies führt leicht zu einer Art Überhang an Strategie: »Konnte das konventionelle kapitalistische Subjekt noch zwischen ›Strategie‹ und reiner ›Emotion‹ hin und her pendeln, liegt das kulturelle Hauptproblem in der Internet- und Psychologieära darin […], dass ihm dieses Hin und Her zwischen Strategie und Emotion nicht länger behagt. Die Akteure scheinen, häufig gegen ihren Willen, im Strategischen stecken zu bleiben. Das Internet kann als schlagendes Beispiel für diesen Punkt herangezogen werden. Das Problem ist nicht so sehr, dass die Internettechnologie das persönliche und emotionale Leben verarmen lässt, sondern dass sie ungekannte Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Beziehungsbildung schafft, denen gleichwohl die emotionalen und körperlichen Ressourcen fehlen, die bislang zur Aufrechterhaltung solcher Kontakte und Beziehungen gedient haben.« (Ebd.: 163f.)

Wenn Illouz nun eine Art Verrat der Emotionalität durch standardisierte psychologische Kategorien, durch die Textualisierung von Subjektivität, durch Strategie usw. beim Dating diagnostiziert, ist zu fragen, worin für sie dann gleichsam die Natur der Emotionalität liegt. »Situativ« und »indexikalisch« sind dabei ihre zentralen Adjektiva, denn: 110

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»Ihrer Natur nach sind Emotionen situativ und indexikalisch; sie verweisen darauf, wie das Selbst innerhalb einer bestimmten Interaktion positioniert ist, so dass es sich mit ihrer Hilfe auf beschleunigte Weise genau dieser Position vergewissern kann.« (Ebd.: 61) »Die therapeutische Kommunikation verleiht den Emotionen eine prozedurale Qualität, durch die sie ihre Indexikalität verlieren, mithin ihre Fähigkeit, uns schnell und unreflektiert im Netz unserer alltäglichen Beziehungen zu orientieren. Das Erfinden von Prozeduren, die dazu dienen, Emotionen zu bewältigen und sie durch angemessene und standardisierte Sprechmuster zu ersetzen, impliziert, dass sie zunehmend von konkreten und partikularen Handlungssituationen und Beziehungen abgekoppelt werden. Voraussetzung der ›Kommunikation‹ ist, paradox genug, die Aufhebung der eigenen emotionalen Verwobenheit mit einer sozialen Beziehung. Zu kommunizieren heißt, mich aus meiner Position in einer konkreten und besonderen Beziehung zu lösen, um die Position eines abstrakten Sprechers anzunehmen, der seine Autonomie oder Sichtweise verteidigt. In letzter Konsequenz heißt Kommunikation, die emotionale Kette aufzuheben oder aufzulösen, die uns an andere bindet.« (Ebd.: 62f., Hervorhebungen von Illouz)

In diesem Zusammenhang bezieht sich Illouz auch auf die Theorie der Verdinglichung bzw. Selbstverdinglichung von Georg Lukács (1885– 1971), die von Verdinglichung spricht, »wenn eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine ›gespenstische Gegenständlichkeit‹ erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt«. (Zit. n. Illouz 2006: 125)

Auch der Sozialphilosoph Axel Honneth befragt im Kontext einer kritischen Anknüpfung an den Verdinglichungsbegriff bei Lukács nach Graden der Selbstverdinglichung bei »funktionalen Präsentationen des Selbst« (vgl. Honneth 2005: 104) und bezieht sich dabei sowohl auf die netzbasierte Partnersuche als auch auf aktuelle Formen der Bewerbung: »[…] zwar wird man sagen müssen, dass in allem sozialen Handeln stets auch eine Bezugnahme auf die eigenen Wünsche und Absichten erforderlich ist, aber es lassen sich durchaus institutionalisierte Felder von Praktiken ausmachen, die funktional auf die Präsentation des eigenen Selbst zugeschnitten sind – Bewerbungsgespräche, bestimmte Dienstleistungen oder organisierte Partnervermittlungen sind hier nur die zunächst ins Auge springenden Beispiele.« (Honneth 2005: 104)

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Für seine verdinglichungskritische Bewertung dieser Phänomene öffnet Honneth dann ein sehr instruktives Spannungsfeld: »Der Charakter derartiger Institutionen, die vom Einzelnen verlangen, sich selber öffentlich darzustellen, kann in hohem Maß variieren; das entsprechende Spektrum dürfte von Einrichtungen, die noch Raum für experimentelle Selbsterkundungen lassen, bis zu institutionellen Arrangements reichen, die den Betroffenen nur noch zur Simulierung bestimmter Absichten anhalten. Meine Vermutung ist nun, dass die Tendenz zur personalen Selbstverdinglichung zunimmt, je stärker die Subjekte in Institutionen der Selbstpräsentation einbezogen sind, die den zuletzt genannten Charakter besitzen: Alle institutionellen Einrichtungen, die die Individuen latent dazu zwingen, bestimmte Empfindungen bloß vorzutäuschen oder abschlusshaft zu fixieren, fördern die Bereitschaft zur Ausbildung selbstverdinglichender Einstellungen.« (Ebd.: 104f.)

Die internetvermittelte Partnersuche und Bewerbungsgespräche ordnet er innerhalb des Spannungsfeldes zwischen experimentellen Selbsterkundungen und personalen Selbstverdinglichungen eindeutig der personalen Selbstverdinglichung zu. Im Abschlusskapitel wird u.a. gefragt, ob die Momente von Selbstaufklärung und Selbstentwicklung innerhalb der Prozesse der Selbstbeschreibungen in beiden Bereichen nicht doch höher zu veranschlagen sind.

A m b i v al e n z d e s e m o ti o n al e n K a p i tal i sm u s Im Folgenden soll die Frage nach den Ambivalenzen des emotionalen Kapitalismus theoretisch etwas vertieft und empirisch etwas ausgeweitet werden. Theoretisch vertieft mit der Frage »Können wir vor dem Hintergrund eines emotionalen Kapitalismus auch von emotionalem Kapital sprechen?« Illouz selbst verwendet die Kategorie und bezieht sich dabei auf die Kapitaltheorie des Soziologen Pierre Bourdieu – und seine Unterscheidung zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. (Vgl. Bourdieu 1997: 49–79) Emotionales Kapital ist für Illouz eine Form des kulturellen Kapitals – genauer: des inkorporierten kulturellen Kapitals, das Bourdieu abgrenzt vom objektivierten und institutionellen kulturellen Kapital. »Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ›Person‹, zum Habitus geworden ist; aus ›Haben‹ ist ›Sein‹ geworden.« (Bourdieu 1997: 56)6 6

Zur gleichsam schicksalhaften Ungleichverteilung von kulturellem Kapital bemerkt Bourdieu sehr prägnant: »[Die] Akkumulation kulturellen Kapitals [findet] von frühester Kindheit an […] ohne Verzögerung und Zeitverlust 112

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»Im gleichen Sinne, in dem kulturelle Felder durch kulturelle Kompetenz strukturiert sind – durch das Vermögen also, mit kulturellen Gütern auf eine Weise umzugehen, die Vertrautheit mit den von den Oberschichten sanktionierten Gütern der Hochkultur verrät –, sind emotionale Felder durch emotionale Kompetenz reguliert, durch das Vermögen, einen von Psychologen gepriesenen und definierten emotionalen Stil zur Geltung zu bringen. Wie die kulturelle Kompetenz lässt sich die emotionale Kompetenz in soziale Vorteile übersetzen, etwa in berufliche Aufstiegschancen oder soziales Kapital. […] Mehr noch als die traditionellen Formen des kulturellen Kapitals – etwa die Weinprobe oder die Vertrautheit mit Hochkultur – scheint das emotionale Kapital die am wenigsten reflexiven Züge des Habitus zu mobilisieren. Es existiert in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus und ist der am stärksten körpergebundene Teil des inkorporierten Kulturkapitals.« (Illouz 2006: 97f.)

Fragen wir nun im Sinne einer empirischen Erweiterung, wo sich emotionales Kapital bezogen auf Bourdieus Bestimmungen (gleichsam »vor« den Selbstbeschreibungen im Netz und mit mehr Gewinn) »bezahlt macht«, so stoßen wir beispielsweise auf den Netzwerkkapitalismus, wie er von Luc Boltanski und Ève Chiapello im bereits zum Klassiker avancierten Werk »Der neue Geist des Kapitalismus« beschrieben wird (Boltanski/Chiapello 2003).7 »Ist das kulturelle Kapital wesentlich als Statussignal, so ist der emotionale Stil wesentlich für die Frage, wie man in Netzwerke gelangt, seien sie nun mächtig oder nicht, und das aufbaut, was die Soziologie soziales Kapital nennt, wesentlich also für die Art, in der persönliche Beziehungen in Kapital umgewandelt werden, etwa in Karriereschübe oder eine Mehrung des Reichtums.« (Illouz 2006: 103)

Fragen wir nun nach einem zentralen Akteur des Netzwerkkapitalismus, so begegnet uns der »Projektemacher«. Dieser ist indirekt eine zentrale Figur der Depressionsstudie des französischen Soziologen Alain Ehren-

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nur in Familien [statt], die über ein so starkes Kulturkapital verfügen, dass die gesamte Zeit der Sozialisation zugleich eine Zeit der Akkumulation ist.« (Bourdieu 1997: 58) Boltanski und Chiapello vergleichen in ihrer Studie Management-Literatur der 60er und der 90er Jahre und diagnostizieren bzw. prognostizieren einen »projektbasierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts«. Der »neue Geist des Kapitalismus« wird bestimmt durch Flexibilität, Mobilität, Kreativität und Eigenverantwortung. Ein Brennpunkt der Studie ist, dass diese Eigenschaften insbesondere von den »revolutionären« Intellektuellen und Künstlern von 1968 eingeklagt und protegiert wurden – und schließlich zum Motor des »neuen Kapitalismus« geworden sind. 113

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berg (deutsch 2004 unter dem Titel »Das erschöpfte Selbst« erschienen). Ehrenberg fragt vor dem Hintergrund seiner Forschungsergebnisse nach den heute wirksamsten Normen bzw. Depressionsursachen – und resümiert: »Es geht nun weniger um Gehorsam als um Entscheidung und persönliche Initiative. Die Person wird nicht länger durch eine äußere Ordnung […] bewegt, sie muss sich auf ihre inneren Antriebe stützen, auf ihre geistigen Fähigkeiten zurückgreifen. Die Begriffe Projekt, Motivation, Kommunikation bezeichnen heute die neuen Normen. Sie sind in unseren Alltag eingegangen, sie sind eine Gewohnheit geworden. An die uns anzupassen wir […] mehr oder weniger gut gelernt haben.« (Ehrenberg 2004: 8)

Der Projektemacher im Netzwerkkapitalismus beherrscht idealerweise die Regeln des emotionalen Kapitalismus – oder droht eben depressiv zu werden. Darüber hinaus hat »Projekt« – nicht nur als Metapher – längst Eingang gefunden in die Liebeswelt: wenn der Projektcharakter der Beziehungen und der Partnersuche sichtbar wird. Mit den »zukunftsweisenden« Projekt- und Netzwerkmenschen korrespondiert ein dritter Typus, nämlich der oben behandelte »Portfoliomensch«. Lassen sich die genannten Kommunikations- und Verwandlungsvirtuosen von Skeptikern gegenüber dieser Diagnose in statistisch vermeintlich wenig relevante Sonderbereiche der Arbeitwelt drängen, so gelingt das nicht für korrespondierende Phänomene in der Konsumwelt. Der Medientheoretiker Norbert Bolz beschreibt, in seinem »konsumistischen Manifest« (Bolz 2002) ein »Dreistufenmodell des Konsums«, das die oben genannten Veränderungsversprechen (»Offenheit« und »Aufgeschlossenheit« in den Profilen des Datings; »lebenslanges Lernen« und »Mobilität« in den Bewerbungsprofilen) auch beim Wandel der Kundenwünsche diagnostiziert: »Früher ging es um klar artikulierte Bedürfnisse, und der Kunde forderte: Befriedige mich! […] Als alle Bedürfnisse auf Dauer befriedigt waren, forderte der Kunde: Verführe mich! Damit öffnete sich die Welt der Wunschökonomie, die der kapitalistischen Wirtschaft scheinbar eine Unendlichkeitsgarantie ausstellt – denn wo sollte die Wunschspirale enden? […] Heute wird der Kunde von Metapräferenzen […] bestimmt und fordert: Verführe mich! Die Marke wird hier zum Medium der Transformation des Kunden. ›The customer is the product!‹ Wie bei Erziehung und Therapie geht es hier um people processing. Das Gelingenskriterium ist nicht einfach nur Anschlusskommunikation, sondern eben die Veränderung von Menschen.« (Bolz 2002: 98f., Hervorhebungen von Bolz)

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Im Hinblick auf den Veränderungswunsch bemerkt Bolz – nicht ohne Zynismus: »Der Wunsch ›Verändere mich!‹ führt dabei natürlich nicht zu einer wirklichen Veränderung; es geht […] nur darum, das Anderssein zu schmecken. Mit anderen Worten: Man kann sich zwar nicht ändern, aber umerzählen und ein neues ›Make-up der Identität‹ auflegen. Es ist deshalb die wesentliche Aufgabe des Marketing und der Werbung, Formulierungshilfen bei der Eigenkonstruktion von Geschichte zu geben, mit denen sich dann Individuen identifizieren können.« (Ebd.: 102)

Übertragen wir die skizzierten Diagnosen auf die angeleiteten Selbstbeschreibungen der Liebe- und Arbeitsuchenden, so können wir in zwei Richtungen kritisch fragen: Sind die Selbstbeschreibungen bloß Formulierungshilfen für das Umerzählen der eigenen Geschichte im Sinne von »Man kann sich zwar nicht ändern, aber umerzählen« (Bolz) oder sind sie vielmehr Ausdruck dramatischer personaler Selbstverdinglichung? Oder wir können gleichsam affirmativ fragen: Konstituieren die ProfilErstellungen nicht gleichzeitig Räume des Lernens, des Erkenntnisgewinns, des Naivitätsverlustes … der produktiven Selbstveränderung? Denn, um aussagekräftige Selbstbeschreibungen für die Suchpraktiken zu erstellen, »muss das Selbst einen enormen Prozess reflexiver Selbstbeobachtung und Selbstklassifizierung sowie eine bewusste Artikulation eigener Vorlieben und Meinungen durchlaufen« (Illouz 2006: 117). Und Evaluationen im Bewerbungsbereich (vgl. Kellner 2005: 207–222) sowie Erfahrungsberichte aus der netzbasierten Partnersuche zeigen, dass für viele der Suchenden die »geforderten« Selbstbeschreibungen äußerst produktive Selbsterkundungen darstellen – und vielfältige Prozesse der Selbstfindung und Selbsterfindung generieren. Die Bewertung der beiden Suchpraktiken muss in der Schwebe bleiben – zwischen experimenteller Selbsterkundung und personaler Selbstverdinglichung.

L i t e r at u r Arnold, Rolf (2001a): »Kompetenz«. In: Rolf Arnold/Sigrid Nolda/ Ekkehard Nuissl (Hg.), Wörterbuch Erwachsenenpädagogik, Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt. Arnold, Rolf (2001b): »Qualifikation«. In: Rolf Arnold/Sigrid Nolda/ Ekkehard Nuissl (Hg.), Wörterbuch Erwachsenenpädagogik, Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt. Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest, München: Wilhelm Fink Verlag. 115

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Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: VSA-Verlag. Bourdieu, Pierre (1997): »Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital« In: Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur 1, Hamburg: VSAVerlag, S. 49–79. Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus. Erpenbeck, John/Heyse, Volker (1999): Die Kompetenzbiographie. Strategien der Kompetenzentwicklung durch selbstorganisiertes Lernen und multimediale Kommunikation, Münster/New York/Berlin: Waxmann. Erpenbeck, John/von Rosenstiel, Lutz (2003) (Hg.): Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis, Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Handelsblatt (2005) (Hg.): Handelsblatt Management Bibliothek, Band 3: Die bedeutendsten Management-Vordenker, Frankfurt/New York: Campus. Handy, Charles (1996): Ohne Gewähr. Abschied von der Sicherheit – Mit dem Risiko leben lernen, München: Goldmann. Heyse, Volker/Erpenbeck, John: Kompetenztraining (2004): 64 Informations- und Trainingsprogramme, Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Honneth, Axel (2005): Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a.M.: Campus. Honneth, Axel (2003): »Vorwort«. In: Eva Illouz, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Campus, S. VII–XXI. Illouz, Eva (2003): Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Campus. Illouz, Eva (2006): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kellner, Wolfgang (2005): »Freiwilligenarbeit, Erwachsenenbildung und das informelle Lernen. Das Kompetenz-Portfolio des Rings Österreichischer Bildungswerke«. In: Klaus Künzel (Hg.), Internationales Jahrbuch für Erwachsenenbildung/International Yearbook of Adult Education, Band 31/32, Informelles Lernen – Selbstbildung und soziale Praxis, Köln/Wien: Böhlau, S. 207–222. Müller-Funk, Wolfgang (2002): Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien/New York: Springer. Schmidt, Siegfried J. (2005): Lernen, Wissen, Kompetenz, Kultur. Vorschläge zur Bestimmung von vier Unbekannten, Heidelberg: CarlAuer Verlag.

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D OPPEL TE V E R F Ü H R U N G . Ü B E R F O R M E N D E R L IEBE , F O R MEN DER BEGEGNUNG – UND ÜBER DIE UNMÖGLICHKEIT, ETW AS ÜBER D A S N ETZ UND DIE L IEBE SAG EN Z U K ÖN N E N

CHRISTIAN EIGNER/MICHAELA RITTER V o r sp an n – E i n F e l d u n m ö g l i c h vorzudenkender Möglichkeiten Das Internet IST nicht. Es hat keine konkrete Form oder Bestimmung; egal, wie man es auch angeht: Als das Web Mitte der 90er Jahre populär zu werden begann, wurde die Verlinkungslogik zu seinem Hauptkriterium erklärt. Wenig später war dieses Kriterium der Mediencharakter, d.h. die Option, mit Hilfe des Internets völlig neue Info-Kanäle und Portale bauen zu können. Und nur einige Monate danach mutierte das Netz zur »Social Software«, mit der – etwa in Form von Online-Communitys – auf radikal neue Weise miteinander gelernt und entwickelt werden sollte. Was aber dennoch erst ein Anfang war. Denn das Bestimmungsspiel ging zügig weiter. Zum nächsten »big thing« wurden zuerst die Weblogs – und dann die Weblogs, die das Netz selber schreiben würde. Bis schließlich doch wieder alles anders war und dank Podcasts die Senderqualitäten des Internets in den Vordergrund traten; gleichsam als Vorboten des Web 2.0, mit dem – angeblich – alles erst wirklich losgehen wird. Genau diese Vieldeutigkeit macht allerdings den Reiz des Internets aus. Es lässt sich keine endgültige oder finale Beschreibung von ihm liefern; konsequent entzieht es sich dieser Finalisierung und damit dem »Verfügbar-Sein«, das hinter jeder Finalisierungsphantasie steckt. Worin das Netz der Liebe – und freilich nicht nur der – gleicht: Auch diese wandelt regelmäßig ihre Gestalt und weicht zurück, wenn man sie vermessen und dingfest machen will, um ihren IST-Zustand zu erfassen. Einmal erscheint sie als geistige Kraft, dann als körperliche, um 117

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ein drittes Mal wiederum eine soziale Struktur zu sein; interessanterweise nämlich auch dann, wenn wirklich von Liebe, d.h. von der Liebe zwischen und innerhalb der Geschlechter, die Rede ist. Was aber nicht einfach auf eine Begriffsschlamperei oder auf gravierende Missverständnisse zurückzuführen ist, sondern darauf, dass es für die so redenden Menschen einfach keinen Sinn machen würde, etwas anderes als »Liebe« zu bezeichnen als das, was sie eben so nennen. Auch wenn es sich dabei für den einen um ganz andere Gefühle handelt als für den anderen. Da hilft es dann auch nichts, wahre von falscher Liebe zu unterscheiden oder die Ursachen für solche Differenzen in falsch entwickelten Psychen und postsexuellen Körpern oder dergleichen zu suchen. Letztlich muss man sich damit abfinden, dass zwei Menschen ernsthaft und in tiefster Überzeugung gemeinsam über Liebe reden, aber jeweils ganz andere Gefühlsgefüge meinen können. Was in weiterer Folge dafür sorgt, dass die Liebe stets etwas Subversives und Provokantes an sich hat: Mit ihrer Uneindeutigkeit stellt sie alles immer wieder in Frage; die gesellschaftlichen Entwürfe des Zusammenlebens ebenso wie seine Gegenentwürfe, die ja stets irgendeine Eindeutigkeit voraussetzen. Die Liebe entzieht sich der stabilen Zuordnung – und damit der Kommodifizierung, mithin dem Umbau in eine leicht handhabbare, genormte Ware, die sich streamlinen und im Idealfall sogar algorithmisch verwalten lässt. Was aber – und selbst hier geht die Uneindeutigkeit weiter – so auch nicht ganz stimmt. Die Liebe verschließt sich diesem Waren-Dasein nicht ganz, wären doch viele Paare nicht solche, wenn von ihnen nicht Lieben im Stile von »Sei genau so und so zu mir, oder ich verlasse Dich« gewissermaßen getauscht würden. Von dem her passen die Liebe und das Netz wunderbar zusammen; als zwei Unbestimmbare, die in ihrer Wandelbarkeit und Beweglichkeit mehr mit dem Diskurs, der über sie geführt wird, spielen als dieser mit ihnen. Treffen deshalb Liebe und Netz aufeinander, passiert weniger die große »Neuformierung« des einen durch den anderen, als sich nun vielmehr zwei im Duett jeder Bestimmung entziehen: Die beiden verschwinden jetzt gemeinsam, konkret in einem Feld der unmöglich vorzudenkenden Möglichkeiten, die vom »perfect match« auf der Dating-Site bis hin zum Streit, der mit einem kleinen E-Mail beginnt und in realiter fortgesetzt wird, reichen können. Zu einem »IST« – »so IST die Liebe im Netz«! – verdichtet sich das Zusammenspiel der beiden dementsprechend nur im ausgewählten Augenblick, im Kairos, der jedoch weniger auf der Ebene der Theorie als vielmehr in der Lebenspraxis zu Hause ist. Das heißt in der Begegnung zweier Menschen, die mit der Lektüre eines Dating-Seiten-Profils begonnen hat und im Gespräch an der Bar in die nächste Runde geht: Hier

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entwickeln Netz wie Liebe mit einem Mal eine geradezu unfassbare Bedeutungsdichte und Eindeutigkeit, die von klaren Kausalitäten (»Das Netz, das hat man wohl für uns beide gemacht!«) und fundamentaler Bestimmtheit (»Dass wir beide uns gefunden haben!«) nur so strotzt. Was aber auch bedeutet, dass eine konkrete Bestimmung von Netz wie Liebe wie ihrem Zusammenspiel nur in der Verführung erreicht werden kann; genauer gesagt im Sich-verführen-Lassen von diesem Duett, das aber nur ein Anfang ist und zu einer zweiten Verführung führen muss, die man dann selber praktiziert. Womit eine doppelte Verführung im Raum steht, deren Bedingtheit es genauer anzusehen gilt.

Formen der Liebe In »Das Unbehagen in der Kultur« reißt Freud eher nebenher ein neues Denkfeld auf. Er spricht davon, dass in der modernen (Massen-)Gesellschaft ein guter Teil der sexuellen Energien nicht mehr zur Verfügung steht, weil diese für Identifizierungsprozesse aufgewendet werden müssen. Tatsächlich sind Identifikation und Identität Dauerthemen von Moderne wie Postmoderne; auch vor dem Hintergrund der Frage, wie Gesellschaften funktionieren können, wenn die Identifizierungen der Menschen miteinander oder mit den gesellschaftlichen Institutionen enden. De facto ist aber gerade in der Postmoderne das Gegenteil der Fall. Denn nicht nur binden sich nach wie vor die meisten Menschen durch Formen der Identifizierung an die Sozietät, der sie angehören: Überhaupt – und das hatte Freud im »Unbehagen« noch nicht einmal angedacht – ist die »Identifizierung mit« zum zentralen zwischenmenschlichen Bindeglied geworden. Für unzählige Menschen ist heute auch die Liebe ein identifikatorischer Prozess, das heißt ein Verstehen-Versuchen des Anderen und ein Verstanden-werden-Wollen durch diesen, wobei sich das Verstehen um zentrale eigene und fremde Lebenskonzepte und Ziele dreht. »Wir sind ein Gespräch« ist das unausgesprochene Motto dieses Liebens, das damit – psychoanalytisch gesprochen – in der Welt des Symbolischen oder Sekundären angesiedelt ist; in der Sphäre des Bewusstseins, das sich im Bewusstsein des Anderen finden, sich mit diesem eben identifizieren will. Fast so etwas wie eine Gegenwelt dazu ist jene Liebe, die stattdessen im Primärprozesshaften, also in den Trieben, ihren Anfang nimmt. Das Fundament des »Aufeinander-Einlassens« ist hier nicht die »Identifikation mit«, sondern ein Stück Archaik; und zwar jenes noch seltsam unstrukturierte Sexuelle, von dem der Schweizer Psychoanalytiker Fritz

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Morgenthaler spricht und das wir als Drängen erleben. Dieses wird durch den oder die Andere angesprochen, aber letztlich erst durch das Sekundäre und seine symbolischen Ordnungen in eine konkrete Form der Begegnung und des Aufeinander-Einlassens gebracht. Die Liebe, um die es hier geht, ist deshalb eine Art »Kreisbewegung«. Denn durch die Formgebung im Symbolischen, die aus dem Sexuellen die Sexualität oder auch einfach ein (erotisches, kraftvolles) Gespräch oder Tun macht, wird das Primärprozesshafte gleichsam »angeheizt«, worauf »neues Sexuelles« wieder zu Sexualität transformiert werden kann. Vom Primärprozess zum Sekundärprozess und wieder zurück ist die »Logik« dieser Leidenschaft, die verstanden hat, dass sich mit Gesprächen das Sexuelle immer wieder neu ankurbeln lässt – und die aus diesem Grund nicht spricht, um Identitäten zu erforschen und Identifizierungen herzustellen, sondern um ihr Grundfeuer am Leben zu erhalten. Wieder eine andere Liebe ist jene, die auch auf dem Archaischen und seinen Kräften beruht, aber die symbolischen Ordnungen lediglich dazu nutzt, um das Sexuelle zur Sexualität zu machen, die sich auch nur als Sexualität im engeren Sinne realisiert. Wie es ebenfalls eine ganz eigene Form des Liebens ist, die ein anderer Psychoanalytiker, Otto Kernberg, ins Spiel bringt, wenn er die Liebe in eine Definition zu pressen versucht. Demnach ist Liebe ein Zusammenspiel aus erotischem Begehren, reifer Idealisierung des Anderen und einigem mehr, was dafür sorgt, dass zum Anderen eine – leidenschaftliche – Objektbeziehung besteht, in der die Liebesimpulse die aggressiven Impulse überlagern und in der auch die »Über-Ich-Besetzung« stimmt; in der sich also das Paar für die gleichen Werte begeistern kann. Die Liste dieser Liebesformen ließe sich noch problemlos weiter verlängern – womit sich jedoch nichts gewinnen ließe, was nicht jetzt schon gewonnen ist. Denn dass es nicht gerade einfach ist, dem oder der Richtigen zu begegnen, der oder die auf die gleiche Weise liebt, machen auch schon diese vier Beispiele klar.

Formen der Begegnung Mehr noch: Es lässt sich auch schon erahnen, dass das Einander-Begegnen in einem buchstäblichen Sinne zum Problem wird. Wer nämlich aus seinen Triebstrukturen heraus liebt (ohne sich dabei naiv auf Sexualität zu reduzieren), wird – zumindest mit zunehmender Lebens- und Liebeserfahrung – wissen, dass ihn oder sie ein Profil, das eine Dating-Datenbank auswirft, relativ kalt lassen wird. Die primärprozessbasierte Liebe braucht klarerweise den direkten Anspruch, den rät-

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selhaften »Donnerschlag«, der mitunter binnen Sekunden erfolgt, wenn einander die Richtigen begegnet sind, und von dem sich nur sagen lässt, dass er wahrscheinlich irgendwas mit einem (unbewussten) »Gespräch« der beteiligten Primärprozesse zu tun hat. Oder vielleicht auch mit etwas ganz anderem; etwa damit, dass die psychischen Tiefenstrukturen nicht, wie Lacan meinte, durch Sprache geprägt sind, sondern – wie die moderne Hirnforschung nahelegt – durch Bilder und bildhaft verarbeitete Szenerien, denen das Objekt des Begehrens auf den ersten Blick hin entsprochen hat und erst dadurch zum Objekt des Begehrens wurde. Wie auch immer: Die Leidenschaft braucht – sofern sie nicht Projektion ist, aber das ist wieder ein anderes Thema – die Präsenz, die direkte Begegnung, das »Aufeinander-Prallen« von Unbewusstem, das aller symbolischen Ordnung vorläuft. Der identifikatorisch Liebende bedarf hingegen weniger des Gesprächs der Körper als des Gesprächs der Worte. Der Fluss der Information oder des Wissens und mithin die Zeit dominiert hier über den Ort und den Raum, der für den leidenschaftlich Liebenden das primäre Feld der Begegnung darstellt. Wer sich mit dem oder der Anderen identifizieren will, muss die Parameter abklären, an denen eine Identifikation andocken kann; die Wünsche, die Träume, die Ziele, die Werte, die Krisenbewältigungsstrategien und vieles mehr. »Ich bin Du, Du bist ich«: Die Kernmetapher identifikatorischen Liebens klingt nach einem Roman und benötigt auch einen solchen, um existieren zu können; nämlich einen Roman, den man schreibt, indem man die Lebenserzählungen zweier Personen abgleicht und miteinander vereint. Vor diesem Hintergrund müsste das Netz mit seinen Dating-Seiten eigentlich die Heimat der identifikatorisch Liebenden sein. Ja, das Netz – so könnte man vermuten – fördert diese Art des Liebens sogar; ganz so, wie es auch schon andere Dinge befördert und zur Mode gemacht hat. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn abgesehen davon, dass man sich nur in einer naiven, weit hinter Freud zurückfallenden Theorie des Menschen (und der Medien) aussuchen kann, wie man liebt, ist selbst die identifikatorische Liebe in einer Welt der Profile nur bedingt gut aufgehoben. Profile lügen nämlich nur allzu oft – nicht nur dahingehend, dass jemand »Liebe« in der Rubrik »Beziehungswunsch« ankreuzt, obwohl es doch ihr oder ihm um Sex geht (wobei dieses gängige Verschleierungsspiel auf Dating-Seiten wahrscheinlich weniger oft vorkommt als im »echten« Leben, weil kein Grund dazu besteht, sich nicht als SexSuchender zu outen). Die Lüge von Profilen besteht vielmehr darin, dass nicht wenige Menschen sich selbst nicht kennen – und sich z.B. für identifikatorisch Liebende halten, denen es um gemeinsame Werte und Ideen

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geht, wo sie doch in Wirklichkeit den Impulsen des Primärprozesses folgen, noch dazu am liebsten ohne die »Wiederauflade-Funktion« der symbolischen Ordnungen zu nutzen. Und sogar für den Fall, dass man bezüglich seiner »Liebesausrichtung« keinem Irrtum aufsitzt, bleibt noch immer das Unbewusste und Verdrängte ein Problem, das in keinem Profil aufscheint und aufscheinen kann. Insofern ist das Netz keineswegs die ideale Heimat des identifikatorisch Liebenden, wie schon so manche(r) enttäuscht feststellen musste, nachdem der »perfect match« zunehmend zu therapeutischer Arbeit mutierte, in der man ihr oder ihm schonend näherbrachte, dass bei genauerer Betrachtung die Ähnlichkeit mit dem Profil nur begrenzt ist. Umgekehrt ist das Netz aber auch für den Raum- bzw. Orts-abhängigen leidenschaftlich Liebenden nicht völlig irrelevant – auch wenn ihn das Profil seines Gegenübers nur mäßig anspricht, er aber eben doch das Gespräch schätzt, das sich – per E-Mail, Telefon, SMS oder wie auch immer – ergeben hat. Denn es gehört zu den Eigenheiten des Primärprozesses, dass der »Donnerschlag« manchmal erst nach Jahren passiert, d.h. bezüglich eines Menschen, den man schon eine halbe Dekade lang gekannt und auf einer symbolischen Ebene auch verehrt hat, und den man nun plötzlich doch leidenschaftlich zu lieben beginnt. Möglicherweise weil er oder sie sich verwandelt hat, oder weil man selbst ein anderer geworden ist. Eventuell gerade durch die Gespräche, die man miteinander geführt hat und die dem Sexuellen neue Bilder gegeben haben; Bilder, auf die man förmlich anspringt und die man nun auch noch im vertrauten Anderen realisiert findet. Der/die Richtige kann dann doch die/der – ursprünglich – Falsche sein; die Prozessualität der Liebe mach das problemlos möglich. Es gibt also nicht die »richtige Begegnung«; wenn einander zwei identifikatorisch Liebende im Netz finden, ist das gut, zwangsläufig notwendig ist das aber nicht. Wie die beiden am Ende vielleicht ohnedies nicht deshalb zusammengekommen sind, »weil es so gut matchte« – sondern weil sie für sich längst etwas ganz anderes begriffen haben. Und zwar, dass Liebesbeziehungen stets asymmetrische Beziehungen sind: Selbst wenn man zwar die Kernberg’schen Kriterien der Liebe erfüllt und einander erotisch begehrt, sich sexuell miteinander identifiziert, ähnliche Über-Ich-Strukturen aufweist und jeweils eine Objektbeziehung zueinander hat, in der das Libidinöse gegenüber der Aggression die Überhand hat, so werden die Werte des einen nie völlig identisch mit den Werten des anderen sein. Wie bei aller sexueller Identifizierung wohl Abweichungen bezüglich der sexuellen Phantasien und ihres Ausagierens bestehen werden. Symmetrie

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DOPPELTE VERFÜHRUNG

existiert nicht; sie ist stets eine Illusion, ohne die man nicht auskommt, die aber doch mit zunehmender Erfahrung schwächer ausfallen kann. Was dann dazu führt, dass sich schließlich ein identifikatorisch Liebender und eine leidenschaftlich Liebende aufeinander einlassen, weil sowieso eine Asymmetrie so gut wie die andere ist. In jeder Hinsicht ist die/der Richtige immer der/die Falsche, und die Kunst des Liebens besteht vielleicht darin, darum zu wissen – und genau daraus etwas zu machen.

F a z i t – D a s N e tz u n d s e i n e B e g e g n u n g e n So besehen mutet es nur auf den ersten Blick hin naiv und lächerlich an, wenn auf einem tendenziell fünfseitigen Dating-Profil lediglich zweierlei Kästchen angekreuzt sind, nämlich jenes, in dem »Ich bin eine Frau« steht, und das, das »Ich suche einen Mann« beinhaltet. Aus der Phantasie des »perfect match« wird hier eine Aussage zur Liebes-Asymmetrie, die pointiert eine Beziehungsrealität auf den Punkt bringt, mit der immer zu rechnen ist; egal wo, wie und weshalb man einander begegnet. So besehen verweisen solche »nackten« Profile auf etwas ganz Fundamentales, und zwar darauf, dass es nicht nur keine richtige Begegnung gibt, wie vorhin festgestellt wurde: Angesichts der Asymmetrie der Liebe ist vielmehr die Begegnung per se gleichgültig, weil es letztlich nicht wirklich wichtig sein kann, wie und was Liebende zusammenkommen lässt, wenn sich doch sogar so unterschiedliche »Systeme« wie die identifikatorische und die leidenschaftliche Liebe vertragen. Spätestens an diesem Punkt wird klar, weshalb das Netz für die Liebe keine formative Kraft sein kann: Weil es das Feld des Erstkontakts, der Begegnung ist, diese aber in der Liebe eine seltsam indifferente Rolle spielt: Vielleicht zählt sie etwas für das, was zwischen zwei Menschen entsteht, vielleicht aber auch nicht, und vielleicht ist es völlig belanglos, wann und wie zwei Menschen einander begegnen. Gerade das macht aber das Netz erst recht für die Liebe interessant. Weil sich dieses ja vergleichbar indifferent verhält: Möglicherweise passiert gar nichts, nachdem man auf ein Profil reagiert hat, möglicherweise kommt es aber auch zu einem – realen oder virtuellen – Gespräch. Und möglicherweise spielt sich alles Wichtige gleichsam »hinter« dem Netz, also zeitlich später und in einem ganz anderen Kontext, ab. Insofern passen die beiden perfekt zueinander, eben in dieser Unbestimmtheit, in der Bestimmung oder Konkretheit nur punktuell – dann, wenn zwei Menschen Liebe realisieren – passiert. Konkretheit oder Ein-

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CHRISTIAN EIGNER/MICHAELA RITTER

deutigkeit lässt sich folglich nur in der Verführung erfahren, die noch dazu eine doppelte sein muss: Die eine besteht darin, sich vom Duett Liebe/Netz verführen zu lassen, was ein Dating-Spiel ergeben kann. Die andere macht hingegen aus, dieses Spiel dann auch zu Ende zu führen, also den- oder diejenige, auf deren Profil man sich eingelassen hat, zu etwas zu verleiten, das über das Profil und den Erstkontakt hinausgeht. Was dabei dann herauskommt ist ein IST, IST das Netz, IST die Liebe, wie es auch das Zusammenspiel der beiden, deren Date, IST. Am Ende geht es also um Verführung. Weil diese das ist, was bleibt, wenn alle Regeln, Algorithmen und damit quasi- oder volltechnischen Lösungen und Steuerungssysteme versagen. Es geht um eine neue Verführungskultur, die uns Dating-Systeme bescheren. Und darum, dass wir dieser bereits verfallen, während wir uns von den Begriffen Date und Begegnung auf die eigenartigsten Terrains locken – verführen! – lassen.

L i t e r at u r Freud, Sigmund (1999): »Das Unbehagen in der Kultur«. In: Gesammelte Werke, Bd. XIV, Werke aus den Jahren 1925–1931, Frankfurt: Fischer Verlag, S. 419ff. Kernberg, Otto F./Hartmann, Hans-Peter (2006): Narzissmus. Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, Stuttgart/New York: Schattauer, vgl. S. 626ff. Lacan, Jacques (1996): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, 4. Auflage, Weinheim/Berlin: Quadriga Verlag.

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SEX WEB

V E R -M I T T L U N G U N D D I SK R E T H E I T . V E R S U S G EN D E R – O D E R W ES H A L B A U C H 2.0 ( N . N ) K E I N V E R H Ä L T N I S Z U H A B E N

IM IST

SUSANNE LUMMERDING Wenn sich Sinn und Zweck von Online-Dating-Plattformen wie auch von Social Networking unter den aktuellen Bedingungen des sogenannten Web 2.0 in erster Linie in Vermittlung, Verabredung und Kommunikation benennen lassen, so sind als implizite Voraussetzungen dafür Identifikation und Zuordnung hervorzuheben. Die damit aufgeworfene Frage, was bzw. wer dabei auf welcher Basis vermittelt wird bzw. worüber sich Akteure/Gegenstände der Vermittlung/Verabredung definieren lassen, mag einen ersten Hinweis auf zentrale Problemfelder bieten und verlangt zudem nach einer Überprüfung gängiger Annahmen über die Spezifität »Social Software«-gestützter Online-Verabredungen, der Unterschiede gegenüber herkömmlichen Verabredungskulturen und der daran jeweils geknüpften Erwartungshaltungen. Das Kommunikationsnetz, um das es im Fall von Online Dating wie auch von Social Networking geht, zeichnet sich zunächst, wie jedes andere Netz, notwendigerweise durch die Herstellung von Knotenpunkten aus, durch eine Benennung eines Wer/Was/Worüber. Diese könnte man – über die technische Ebene von Internet-Protokollen (TCP/IP) bzw. Cookies hinausgehend – mit Jacques Lacan auch als Stepppunkte, points de capiton, die Knotenbildung auch als Vernähung/suture bezeichnen. Denn zum Zweck der Verabredung ebenso wie für die Erlangung einer Zugehörigkeit zu einer virtuellen Gemeinschaft oder für die Zuordnung zu einem spezifischen Themenfeld ist die Herstellung einer temporären Identitätsposition derer, die auf dieser Basis in einem bestimmten Moment kommunizieren, sowie der Gegenstände der Kommunikation bzw. auch der Kriterien der Zuordnung erforderlich. Das für die Gewährleistung von Auffindbarkeit im Netz notwendige Vereinfachen von Information, das mit einer Kategorisierung durch Beschlagworten bzw. mit einer verstärkten Stereotypisierung einhergeht, mag in der beobachtbaren Dimension als Spezifikum elektronischer Kommunikationsstrukturen und entsprechender technischer Rahmenbe125

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dingungen gelten.1 Das Erfordernis der temporären Fixierung von Bedeutung bzw. Identifikation als solches jedoch, das zum Beispiel in die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen auf Dating-Plattformen und Online-Communitys bzw. auch von »Tag Clouds« (Clustern von Schlüsselwörtern) im »Social Bookmarking« mündet2, die Zuordnung, Auffindbarkeit und Kontaktaufnahme befördern sollen, ist ein Erfordernis, das jeglicher Herstellung von Bedeutung zugrunde liegt – als Struktur einer unausgesetzten, stets temporären Knotenbildung (als phantasmatische Fixierung von Bedeutung). Diese Notwendigkeit konterkariert zum Einen das Proklamieren technisch ermöglichter, ›fluider‹, ›flottierender‹ Identitäten, die nicht länger durch körperliche, soziale, kulturelle oder andere Grenzen limitiert wären. Zum Anderen kann die genannte Vereinfachung und Stereotypisierung als ein Aspekt einer Antwort auf genau jenes, zugleich als Bedrohungsszenario wirkende Proklamieren von Fluidität und Grenzauflösung gelesen werden. Zuordnung eher denn Austausch bestimmt ›Gemeinschaft‹, wie die Beispiele unterschiedlichster, auf »Dating«, »Friends« oder »Business« gerichteter Online-Plattformen zeigen.3 Das sogenannte »Folksonomy«Prinzip, auf dem Online-›Gemeinschaften‹ wie etwa auch die Foto-Community Flickr4 aufbauen, stellt Zugehörigkeit über kollaboratives Indexieren und Kategorisieren von Inhalten im Netz her (üblicherweise durch das Setzen von »Tags« (Schlüsselwörtern), also über das Schaffen von Kriterien, nach denen die Inhalte von anderen Benutzer/-innen gefunden werden können. Die Erstellung möglichst klar definierter und prägnanter Persönlichkeitsprofile zielt auf eine möglichst hohe Trefferquote ähnlich charakterisierter »Friends«. (Business-Networking-Plattformen werden etwa explizit als »Personensuchmaschinen« beworben und Plattformen wie FaceBook setzen eine spezifische Zugehörigkeit – in diesem Fall die zu einer bestimmten US-amerikanischen Universität bereits als Vorbedingung voraus.) Bevor Kommunikation/Austausch stattfinden kann, wird demnach allererst eine Zuordnung vorgenommen. Wie also lässt sich die Kommunikation, die Verabredung, um die es hier gehen soll, definieren, und wie lässt sich das Verhältnis, auf das diese fokussiert, beschreiben? Wenn Verhältnis, Ins-Verhältnis-Setzen, Beziehung notwendig Identitätskonstruktionen, Knotenpunkte zu implizieren scheint, die in ein Verhältnis, eine Beziehung treten können, so sind diese zugleich als über genau dieses Verhältnis zu anderen Knotenpunk1 2 3 4

Als signifikant mag hier das Thema der Ars Electronica 06 in Linz gelten: »Simplicity«. Siehe zum Beispiel http://del.icio.us; oder www.digg.com. Siehe etwa MySpace, FaceBook oder LinkedID und OpenBC. http://flickr.com. 126

VER-MITTLUNG UND DISKRETHEIT

ten konstituierte zu verstehen. Diese Bedingtheit wiederum steht in engem Zusammenhang mit der Logik sexueller Differenzierung. Denn Identitätkonstruktionen bzw. Subjektpositionen können nicht anders denn als sexuierte in Erscheinung treten. Wenn nun – spätestens seit den frühen achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – davon auszugehen ist, dass ›Geschlecht‹ (sex) nicht als apriorische Substanz gedacht werden kann und Geschlechtszugehörigkeiten (gender) in nicht-abschließbaren Prozessen diskursiver Praktiken unaufhörlich konstruiert und innerhalb hegemonialer Relationen neu verhandelt werden, so ist der Begriff der Sexuierung dahingehend zu präzisieren, dass es sich dabei keinesfalls um einen Rekurs auf eine vermeintliche ›Eigentlichkeit‹ oder ›Unmittelbarkeit‹ (z.B. auf ›Natur‹ oder ›Substanz‹) handeln kann, die einer ›Uneigentlichkeit‹ oder ›Mittelbarkeit‹ gegenüberzustellen wäre. Vielmehr handelt es sich um eine Logik einer Verhältnisstruktur, die die Grundlage liefert, von Existenz sprechen zu können.  Die Relevanz dieser Überlegung zeigt sich besonders deutlich angesichts eines gesteigerten Bedürfnisses nach ›Echtheit‹ bzw. ›Authentizität‹, das sich parallel zu bzw. als Reaktion auf die im Zuge aktueller Technologieentwicklungen perpetuierte Rede von umfassender Mediatisierung und Virtualisierung beobachten lässt, sei es in Form einer ›nackten Wahrheit ungeschminkter Realität‹ oder ›Originalität‹ in Diskussionen um die Beweiskraft medialer Dokumentation, oder im Postulieren einer ›prä-diskursiven‹, ›prä-kulturellen‹ oder ›prä-kolonialen‹ ›Identität‹ oder ›Natur‹ als Basis für eine politische Artikulation. Die Vorstellung von Vermitteltheit ist also gängigerweise eng verknüpft mit der Annahme eines Gegenpols – einer ›Eigentlichkeit‹, die ohne kulturelle bzw. mediale Vermittlung gegeben und potentiell ›unvermittelt‹ zugänglich wäre, und somit unterstellt, dass es ›Etwas‹ gäbe, was zu vermitteln wäre. Auch Verabredung im Netz unterstellt nicht nur definierbare OnlineIdentitäten, sondern auch entsprechende Referenzgrößen ›dahinter‹, also Subjekte, unabhängig davon, ob die Verabredung auf eine Begegnung im ›Realraum‹ abzielt oder auf den virtuellen Raum beschränkt bleibt. Hinsichtlich einer Analyse des Zusammenhangs zwischen den involvierten je spezifisch sexuierten Subjektpositionen und der dichotomen Konstruktion von ›Vermitteltheit‹ versus ›Unmittelbarkeit‹ ist zunächst die Frage nach der Funktion dieser dichotomen Konstruktion zu stellen. Denn ihre anhaltende Wirksamkeit auch und gerade in web-basierten Kontexten, in denen bevorzugt die Befreiung von jeglichen im ›Realraum‹ wirksamen Begrenzungen proklamiert wird, bedarf einer Erklä-

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rung. Das Versprechen einer solchen Befreiung von ›realen‹ Limits wird zugleich zunehmend mit einer expliziten Rückkoppelung an den ›Realraum‹ verbunden, wie Online-Spiele wie Second Life oder Entropia Universe zeigen, die etwa mit »echter Cash Economy« werben5 bzw. deren ›virtuelle‹ Finanztransaktionen in ›reale‹ Wirtschaftsstrukturen hineinwirken, so wie umgekehrt Großkonzerne diese ›virtuellen Welten‹ als wirtschaftlich interessantes Aktionsfeld nutzen.6 Das Festhalten an traditionellen Orientierungsmustern ist zudem immer schon untrennbar mit jeglicher Form der Mediatisierung bzw. Virtualisierung verknüpft.7 Genderstereotype stellen dabei eine der bewährtesten und daher auch resistentesten Referenzpunkte dar – entgegen allen Proklamationen umfassender Grenzüberschreitungen. Dahinter steht die Annahme einer nicht hintergehbaren ›Eigentlichkeit‹ oder ›Unmittelbarkeit‹, auf deren Basis die Kategorie ›Geschlecht‹ diverse andere Naturalisierungen stützen soll. Um die unverminderte Persistenz der Vorstellung einer der Vermittlung vorgängigen Substanz/Essenz erklären zu können, erweist sich allerdings eine – wiewohl zu Beginn der neunziger Jahre bahnbrechende – Kritik an der dichotomen Gegenüberstellung von Gender und Geschlecht, wie sie unter anderen von Judith Butler formuliert wurde, genauso wenig als ausreichend wie die Kritik an der Gegenüberstellung von ›Simulation‹ und ›Realität‹ (Vermitteltheit/Unmittelbarkeit). Demgegenüber ist die in politischer Hinsicht zentrale Frage nach der Funktion dieser Vorstellung auf einer anderen Ebene anzusetzen, auf deren Basis der Begriff des Politischen selbst neu zu präzisieren ist – auf der Ebene der Voraussetzungen, nicht der Effekte. Denn was in der oben genannten Kritik essentialistischer Erklärungsmodelle unberücksichtigt bleibt, ist eine Analyse, worauf sich die ›Notwendigkeit‹ und Unumgänglichkeit einer (›sexuellen‹) Differenzierung bzw. einer ›sexuell‹ differenzierten Subjektposition als solcher strukturell gründet. Genau dieser Ansatz soll im Folgenden als ein in politischer Hinsicht entscheidender deutlich gemacht werden. Ausgehend von der Frage nach der Funktion sexueller Differenzierung werde ich eine Redefinition von ›Geschlecht‹ (sex) vorschlagen, die Geschlecht als nicht-substantielle, nicht-essentielle, sondern sprachlich 5

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www.entropiauniverse.com/. Verschränkungen zwischen virtuellem Raum und Realraum hinsichtlich des Marktes an virtuellen »Items« wie magischen Schwertern etc., die nicht nur in der Spielwelt, sondern z.B. auch über Ebay gehandelt werden, gibt es auch in anderen Spielen wie etwa Ultima oder Everquest. www.secondlife.com Dies gilt für historische Beispiele der Einführung jeweils neuer Medien und Technologien in gleicher Weise. 128

VER-MITTLUNG UND DISKRETHEIT

bedingte Voraussetzung symbolisch-materieller Effekte – also soziosymbolischer Konstruktionen wie etwa Geschlechtszugehörigheiten (gender) – definiert. Auf dieser Basis soll nicht nur eine weiter gehende Essentialismuskritik formuliert werden, als Ansätze wie jener von Butler dies vermögen. Darüber hinaus soll vor allem eine logisch-analytisch begründbare Argumentation einer Anfechtbarkeit jeglicher Realitäts- und Identitätskonstruktion entwickelt werden, die über Verweise auf eine Konstruiertheit hinausgehend das diesen inhärente Moment der Unmöglichkeit als Moment des Politischen operabel macht. Was mit der Frage nach der Beschaffenheit von ›Realität‹ und ›Identität‹ zur Debatte steht, ist also nicht bloß die Definition eines Subjekts der Verabredung, sondern vor allem die Definition eines Subjekts des Politischen, insofern als gerade dieses Moment der Unmöglichkeit jedweder legitimierender Garantie eines ›authentischen‹ Referenten Verantwortung impliziert. Was bedeutet dies für eine Konzeption von Verhältnis und Diskretheit?  Wenn Lacan betont, dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt,8 so ist damit die logische Konsequenz jener Unmöglichkeit von Kohärenz und ›prädiskursiver‹ Referenz angesprochen, die Sexuierung, also eine sprachlich bedingte Differenzierung allererst erforderlich macht, um ein Subjekt bzw. genauer gesagt eine Subjektposition, also ›Existenz‹ zu ermöglichen. In seinem Seminar »Une lettre d’amour« beschreibt Lacan sexuelle Differenzierung in Form propositionaler Formeln9 – einer mathematisierten Ausdrucksweise, die als eine von verschiedenen Varianten seines Versuchs gelesen werden kann, mittels einer Formalisierung von spezifischen gesellschaftlich-kulturellen Konnotationen zu abstrahieren, um Sexuierung bzw. Differenzierung entgegen jeglicher biologistischer Erklärung als »resultierend aus einer logischen Forderung im Sprechen« zu argumentieren. (Lacan 1986: 14)

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Lacan 1986: 39, 87f., 94f. Jacques Lacan, Eine Lettre d’amour (13.3.1973), In: Lacan 1986: 85–96. Ich gebe Lacans Schema hier ohne die üblicherweise mitabgebildeten Begrenzungslinien wieder. Siehe dazu Anmerkung 14. 129

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In zwei Spalten stehen im oberen Teil der Grafik je zwei einander scheinbar widersprechende Propositionen: Auf der rechten Seite lauten diese »Es gibt kein x, für das die Funktion Φ nicht gilt« (oben) und: »Für nicht-alle x gilt die Funktion Φ« (unten); und auf der linken Seite: »Es gibt ein x, für das die Funktion Φ nicht gilt« (oben) und »Für alle x gilt die Funktion Φ« (unten). Die »Funktion Φ« ist hier eine Bezeichnungsvariante jener Funktion, für die Lacan im Lauf der Jahre unterschiedliche Bezeichnungen findet – von »Phallus« bzw. »phallischer Funktion«, über das »Objekt klein a« bis zum Konzept des »Blicks«. Es sind dies Versuche, eine fundamentale Unmöglichkeit zu markieren: die Unmöglichkeit, das Verfehlen der Sprache sprachlich zu erfassen – was unter anderem bedeutet, dass es keine Metasprache geben kann. Schon am Konzept des Phallus wird – ungeachtet aller angezeigter Kritik an chauvinistischen Untertönen – klar, dass es als kritisches Weiterdenken Freud’scher Theorie keinerlei Objekt bezeichnet, sondern, im Gegenteil, einen leeren Signifikanten, der als solcher gerade die Negation der Erwartung markiert, dass es eine jeder Differenzierung vorgängige, quasi ›vollständige‹ und ›kohärente‹ Identität gebe bzw. geben könnte. Wovon hier also die Rede ist, ist nicht ›Etwas‹, sondern eine Unmöglichkeit: die Unmöglichkeit einer Schließung bzw. Vervollständigung oder Fixierung von Bedeutung. Daraus ergibt sich ein erster Hinweis in Bezug auf die Frage nach der Funktion von Sexuierung bzw. der Notwendigkeit von Differenzierung, die hier als Voraussetzung für die Formulierung eines Existenzurteils verständlich wird. Als existent kann Lacan zufolge nur behauptet werden, was sich – genauer: indem es sich – auf der Ebene des Symbolischen einschreibt – also bezeichnet wird. Der Signifikant erzeugt das Signifikat im Prozess des Signifizierens und die differentielle Funktion des Signifikanten verhindert, dass er jemals mit seiner Lokalisierung in einem Signifikat zusammenfallen und Bedeutung somit geschlossen bzw. fixiert werden könnte. Jedes Signifikat erhält in der Verkettung zugleich Signifikantenstatus, womit eine fortlaufende Bewegung – ein »Übereine-spezifische-Bedeutung-hinaus-Weisen« – angezeigt ist.10 Diese Unmöglichkeit einer Schließung im Sinn eines ›Vollendens‹ oder ›Abschließens‹ von Bedeutung bezeichnet Lacan als das »Reale«11 – als eine der drei Dimensionen von Sprache, unterschieden vom »Symbolischen« und vom »Imaginären« – das also keineswegs mit ›Realität‹ gleichzusetzen ist, sondern, ganz im Gegenteil, die unaufhörliche Re-Artikulation immer neuer Realitätskonstruktionen allererst notwendig macht. Genau 10 Siehe dazu Lacan [1966] 1975: [493–528] 15–55; Lacan 1987; oder Lacan 1986; vgl. zum Folgenden auch Lummerding 2005: 97–180. 11 Lacan [1964] 1987: 175f.; sowie: Lacan 1988: 55–98, 68f., 83ff.; vgl. dazu Lummerding 2005: 100ff., 124ff., 136–148, 151–181, 259–275. 130

VER-MITTLUNG UND DISKRETHEIT

in diesem Sinn – aufgrund der Unmöglichkeit einer Totalität – ist der Prozess der Herstellung von Bedeutung konstitutiv. Damit bildet die Unmöglichkeit einer Schließung von Bedeutung auch die Grundlage für das Moment des Politischen. Dieses wäre somit der Dimension des Realen zuzuordnen und mit Claude Lefort und Ernesto Laclau von »Politik« zu unterscheiden, die der Dimension des Symbolischen zuzuordnen wäre. Während das Politische (le politique) in diesem Sinn eine Konfrontation mit dem Moment radikaler Inkohärenz bedeutet, bezeichnet Politik (la politique) die je spezifischen Einschreibungen im Symbolischen als Versuche, mit dieser Inkohärenz zurande zu kommen und sie vorübergehend zu verdecken.12 Was damit angezeigt wird, ist die Unverfügbarkeit eines außersprachlichen Referenten – das heißt: die Unverfügbarkeit jedweder Garantie für eine Legitimierung je spezifischer Realitätskonstruktionen außerhalb ihrer Artikulation.  Was also könnte unter diesen Voraussetzungen in ein Verhältnis treten – und vor allem auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen? Ich will im Folgenden erläutern, inwiefern eine auf Lacans Konzeption sexueller Differenzierung rekurrierende Re-Definition von Geschlecht (als der Ebene des Realen zugehörig) geeignet ist, um zu begründen, weshalb das Moment des Politischen nicht determiniert, was sich auf der Ebene des Soziosymbolischen, also auf der Ebene der Politik einschreibt, sondern vielmehr den Grund darstellt, weshalb sich das, was sich auf dieser Ebene einschreibt und damit als ›Realität‹ hergestellt wird, niemals etwas anderes sein kann als das vorläufige Resultat hegemonialer Auseinandersetzungen – und genau aus diesem Grund nicht nur keine kohärente Identität bzw. kein Verhältnis kohärenter Identitäten (Entitäten) repräsentieren kann, sondern genau aus diesem Grund vor allem anfechtbar ist. Trotz Lacans Bezeichnung der beiden Formelpaare als »weibliche« bzw. »männliche« Position ist zum konstruktiven Weiterdenken – letztendlich auch gegen Lacan – zunächst auf seine Betonung zu verweisen, dass beide Positionen allen Sprechwesen (parlètres) ungeachtet anatomischer oder anderer Zuschreibungen zur Verfügung stehen, um als Subjekte – also als signifikant – in Erscheinung zu treten, das heißt: zu exis12 Vgl. Lefort 1986; Laclau 1990; Eine vergleichbare Unterscheidung trifft Jacques Rancière, wenn er Politik mit le gouvernement bzw. la police und das Politische mit l’émancipation benennt (Jacques Rancière, Aux bords du politique, 1990), oder Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, wenn sie das Politische vom Sozialen unterscheiden (Laclau/Mouffe 1991). Vgl. dazu auch Lummerding 2005: 98ff., 148–164; sowie Stavrakakis 1999: 71–98. 131

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tieren. (Angeschrieben sind auf beiden Seiten x, nicht etwa zwei unterschiedliche Kategorien wie etwa x und y). Vor allem aber ist hier nicht die Anzahl der Optionen (also zwei) wichtig für die Aussage, sondern – wie ich behaupte – der Hinweis, dass Differenzierung per se als Voraussetzung für Existenz notwendig ist – ohne damit Form oder Anzahl je spezifischer Einschreibungen festzulegen. Wesentlich an der Formalisierung ist, dass es sich hier nicht um eine deskriptive Unterscheidung – auf der Basis etwaiger jeweils geteilter Eigenschaften oder einer vorgängigen Substanz – handelt, sondern um eine Unterscheidung in Form zweier unterschiedlicher Argumente im Verhältnis zu einer Funktion (Φ). Dabei verweist die Widersprüchlichkeit der beiden Argumente auf das notwendige Scheitern beider Positionen hinsichtlich der Formulierung eines Existenzurteils bzw. hinsichtlich der Herstellung einer kohärenten Identität. Es handelt sich nur um zwei unterschiedliche Modi des Scheiterns, die sich wohlgemerkt weder symmetrisch noch komplementär zueinander verhalten – also auch zusammen kein ›Ganzes‹ ergeben: Der auf beiden Seiten über die Behauptung einer Totalität formulierte Universalanspruch (»Für alle x gilt …« bzw.: »Es gibt kein x, für das … nicht gilt«) wird auf der von Lacan als »weiblich« titulierten rechten Seite durch den Hinweis auf das Fehlen einer Grenze (»Nicht-alle«) als unmöglich bzw. ein Existenzurteil als unentscheidbar ausgewiesen. Die absolute Gesamtheit einer unendlichen Progression ist per definitionem undenkbar – insofern formuliert Lacan als Konsequenz: »Die Frau existiert nicht« (als universale Kategorie bzw. Garantie der Phantasie eines kohärenten Subjekts). Auf der anderen Seite hingegen wird über die Behauptung einer Grenze bzw. einer Ausnahme (»Es gibt ein x, für das die Funktion Φ nicht gilt«) ein Existenzurteil bzw. eine Totalität scheinbar formulierbar, aber eben nur unter der Voraussetzung einer behaupteten Ausnahme, also einer Täuschung – durch die Setzung eines fiktiven ›Außen‹, das als Grenze fungiert, die zur Formulierung einer ›Totalität‹, eines ›Alle‹ notwendig ist. Wichtig ist an dieser Stelle zum einen der Hinweis darauf, dass die oben genannte ›Täuschung‹ keine intentionale ist, sondern unumgänglicher Teil der Konstruktion eines Phantasmas – des Phantasmas einer potentiell möglichen Totalität bzw. Kohärenz, auf nur dessen Grundlage die Formulierung eines Existenzurteils erfolgen kann – als phantasmatisches. Zum anderen möchte ich – über Lacan, aber auch über Joan Copjec13 hinausgehend – den Blick darauf lenken, dass die propositionalen Formeln der Sexuierung in erster Linie insofern interessant sind, als 13 Vgl. Copjec 1994: 201–236. Zu meiner Kritik an Joan Copjec siehe ausführlicher: Lummerding 2005: 137–148; und Lummerding 2007a; sowie Lummerding 2007b. 132

VER-MITTLUNG UND DISKRETHEIT

sie nicht nur verdeutlichen, dass sich jeder Anspruch einer positiven, also eindeutigen sexuellen Identität einem Phantasma verdankt, sondern insofern sie darüber hinaus gerade nicht als zwei klar getrennte Felder sexueller Zuordnungen zu lesen sind, sondern vielmehr als Beschreibung der für jedwede Herstellung von Identität bzw. Bedeutung (also Realität) notwendigen Konstruktion einer Alterität. Nur über die Konstruktion der ›Andersheit‹ eines ›Anderen‹ kann ›Etwas‹ als existent argumentiert werden. Das heißt, die Unmöglichkeit einer Schließung bzw. Fixierung von Bedeutung (die Funktion Φ) weist nicht nur jedes Existenzurteil bzw. jede Konstruktion von Identität als notwendig phantasmatische aus, sondern bedeutet auch den Grund, weshalb jede Übersetzung in eine ›Binarität‹, in gegensätzliche symbolische Einschreibungen, scheitern muss, insofern Binarität zwei erschöpfende Totalitäten implizieren würde, was per definitionem unmöglich (somit also auch ein Verhältnis zwischen diskreten Totalitäten unmöglich) ist, wie der untere Teil in Lacans Grafik signalisiert.14 Hier wird deutlich, dass aber auch jede andere, beliebig angenommene Anzahl möglicher Positionen als Idee das gleiche Problem birgt, nämlich die Unterstellung von Totalität bzw. der Vorstellung eines Verhältnisses diskreter Identitätspositionen.

14 Vgl. Lacan [1972–73] 1986: 87f. Der Signifikant des Subjekts des Mangels/›Der Mann‹ kann ein Verhältnis nur zum Objekt a (Ursache des Begehrens) haben, während ›Die Frau‹ ein Verhältnis nur mit der Funktion Φ und mit dem Signifikanten des Mangels im Anderen haben kann, was bedeutet, dass beide ›Parts‹ also nicht als diskrete in ein Verhältnis treten können. Das Problem vor allem an diesem Teil der Grafik liegt, ähnlich wie in anderen Beispielen Lacans für eine Visualisierung seiner Thesen, m.E. darin, dass diese qua ihrer Darstellungsform zu schließen drohen, was die theoretische Ebene gerade zu öffnen versucht. Meine Entscheidung, die Grafik ohne die üblicherweise gesetzten Begrenzungslinien wiederzugeben, soll diesem Effekt zumindest im Ansatz entgegenwirken. 133

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Diese Überlegungen zum Prozess der Subjektkonstituierung bzw. Sexuierung als notwendig scheiternde Konstruktion von Identität und damit auch von ›Verhältnis‹ benennen eine andere Form des Scheiterns als etwa jene von Butler beschriebene. Butler spricht von einem Scheitern hinsichtlich nicht erfasster Partikularitäten bzw. vom Diskurs ausgeschlossener Identitäten – womit sie die Möglichkeit eines ›Gelingens‹ nicht ausschließt.15 Hier hingegen ist nicht die Rede von einem spezifischen – prädiskursiven? – Objekt, das von der Sprache nicht erfasst würde, sondern von einem Widerspruch, in den die Sprache mit sich selbst fällt. (Vgl. Copjec 1994: 206) Es handelt sich also nicht wie bei Butler um eine unvollständige oder instabile Bedeutung, sondern um die grundsätzliche Unmöglichkeit, Bedeutung zu vervollständigen bzw. zu fixieren. Der entscheidende Aspekt, den Butler ausblendet, ist die Produktivität dieses ›Scheiterns‹, von dem hier die Rede ist – päziser: die einzig verfügbare Form der Produktivität. Während Butler also ausschließlich auf der Ebene des Soziosymbolischen (der Politik) argumentiert und keine Erklärung für die Einschreibung von Differenz im Symbolischen bieten kann, soll hier genau deren Voraussetzung auf der Ebene des Realen (des Politischen) argumentiert werden. Nur die analytische Unterscheidung der beiden Ebenen ermöglicht ein Verständnis, weshalb sich (Sexuierung) Geschlecht auf sozio-kultureller Ebene notwendig (als Verfehlen) einschreiben muss, um ein Subjekt zu konstituieren. Geschlecht (bzw. das Moment der Sexuierung) kann in diesem Sinn also nicht mit den symbolischen Einschreibungen (d.h. Differenzkonstruktionen) – also etwa mit Genderkonstruktionen – gleichgesetzt werden, sondern ist als deren sprachlich-logische Voraussetzung auf der Ebene des Realen zu verstehen. Um diese sprachlich-logische Voraussetzung als denkmögliche zu benennen (um also die nicht-repräsentierbare Unmöglichkeit zu repräsentieren) will ich den Terminus ›Geschlecht‹ ver-wenden, um genau diesen Begriff, ›Geschlecht‹, auf radikalere Weise zu ent-substanzialisieren, als Butler dies versucht, indem sie den Begriff mit einem Signifikanten, also mit einer Einschreibung im Symbolischen verbindet. Im Gegensatz dazu will ich ›Geschlecht‹ mit Joan Copjec als Antinomie der Bedeutung definieren: als das, wofür je spezifische Bedeutung nicht steht, sondern nur einsteht – nämlich für die sprachlich bedingte Unmöglichkeit ihrer Schließung bzw. Fixierung. (Vgl. Copjec 1994: 201–236) Wenn Butler Gender (»Geschlechtsidentität«) auf den Verlust eines spezifischen Objektbezugs zurückführt, der nicht betrauert werden darf,

15 Vgl. dazu vor allem Butler 1997. 134

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sondern melancholisch verworfen wird,16 argumentiert sie lediglich auf der Ebene des Soziosymbolischen (der Politik), nicht auf jener des Realen (des Politischen). Ihre Rede vom »Verlust« bzw. der »Verwerfung« »leidenschaftlicher Bindungen« setzt also ›Etwas‹ voraus, was vermeintlich verloren wurde – und demnach wiederzugewinnen wäre. Dies ermöglicht zwar die Beobachtung der Effektivität von Normen, aber nicht die Analyse der Voraussetzungen für die Etablierung von Normen. Im Unterschied zu Butler17 erachte ich daher nicht zuletzt unter einem politischen Gesichtspunkt die Neudefinition einer Unterscheidung zwischen ›Geschlecht‹ (sex) und ›sexueller Einschreibung‹ (gender) im Sinn einer analytischen Unterscheidung zwischen der Ebene des Realen und jener des Symbolischen als unverzichtbar. Denn eine Subsumtion eines Begriffs unter den anderen lässt die Dimension des Realen unberücksichtigt und greift damit theoretisch wie politisch zu kurz. Um die Auffassung ›sexueller‹ Differenz als binären Gegensatz positiv definierter Entitäten – wie auch einen heterosexistischen Standpunkt, der diese Binarität betont und festschreibt – in Frage zu stellen, bedarf es zum Einen einer entsprechenden Argumentation der Unmöglichkeit einer Vorgängigkeit; und zum Anderen einer Entkoppelung der privilegierten Assoziierung einer spezifischen Differenzkonstruktion (gender – als nur einer spezifischen Form der Einschreibung dieser Unmöglichkeit neben unzähligen anderen) mit dieser konstitutiven Unmöglichkeit selbst – nicht zuletzt, um jene spezifische Einschreibung ebenso wie alle anderen (also jegliche Bedeutungskonstruktion) als anfechtbar auszuweisen. Um die phantasmatischen Grundlagen von Subjekt und Realität auszuweisen und das Moment des Realen – die Unmöglichkeit von Schließung/von Kohärenz – in seiner konstitutiven Funktion für die je immer temporäre Herstellung von ›Subjekt‹ bzw., präziser, einer Subjektposition deutlich zu machen, bietet sich gleichzeitig gerade der Terminus Geschlecht als paradigmatischer, traditionell essentialistisch konnotierter Begriff an. Er bietet sich an, um in der Ver-wendung gerade daran die absolute Unverfügbarkeit jedweder Vorgängigkeit festzumachen und um 16 Vgl. Butler, Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung. In: Butler (1997/2001), 125–141, 151–156. Butler rekurriert hier vor allem auf Freuds Beschreibung der für die Ausbildung der ›Geschlechtszugehörigkeit‹ wesentlichen Identifizierungen als zum Teil durch Verbote erzeugte, die den Verlust und die Verwerfung ›bestimmter sexueller Verhaftungen‹ verlangen. (S. Freud, Das Ich und das Es (1923), Trauer und Melancholie (1915) und Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905)). 17 – und unter umgekehrten Vorzeichen auch zu Joan Copjec, wie ich an anderer Stelle detailliert ausgeführt habe. Siehe dazu Lummerding 2005: 137–148; sowie Lummerding 2007. 135

SUSANNE LUMMERDING

radikal zu verdeutlichen, dass es sich gerade hierbei nicht um ›Etwas‹ handelt, sondern um eine Unmöglichkeit – die jedoch als Möglichkeitsbedingung begreifbar macht, weshalb Differenzkonstruktionen allererst notwendig werden – und weshalb sie anfechtbar sind. Diese Konzeption von Geschlecht erlaubt, jegliche soziosymbolische (Differenz-)Konstruktion – also nicht nur Genderkonstruktionen – als je nur spezifischen ›Platzhalter‹ zu begreifen, der in erster Linie die Funktion hat, diese Unmöglichkeit zu verdecken, und daher mangels einer ›legitimierenden‹ Instanz (eines ›großen Anderen‹) oder einer ›Vorgängigkeit‹ anfechtbar ist.  In diesem Sinn impliziert Geschlecht die sprachlich bedingte Notwendigkeit einer Differenz als solcher, die als inhärentes Verfehlen das Subjekt auf der noumenalen und nicht auf der phänomenalen Ebene konstituiert – und somit keine notwendige Form der Einschreibung von Differenz im Soziosymbolischen impliziert bzw. je spezifisch rechtfertigt. Das bedeutet, dass keine Identitäts- bzw. Realitätskonstruktion und keine soziosymbolische ›Norm‹ gegenüber einer beliebigen anderen eine privilegierte Legitimität beanspruchen kann – etwa unter Berufung auf Kategorien wie ›Natur‹ oder eine vorgängige ›Substanz‹. Denn jede Realitätskonstruktion kann stets nur das jeweils vorläufige Ergebnis von (Re-)Artikulationen innerhalb hegemonialer Relationen sein und bezieht ihre hegemoniale Position ausschließlich aus ebendiesen Relationen, innerhalb derer sie generiert wird. Die jeweilige Identitätsposition ist also Folge, nicht Voraussetzung eines Ins-Verhältnis-Setzens. »Es gibt kein (Geschlechts-)Verhältnis« meint also, es gibt kein Verhältnis zwischen diskreten Subjekten – weder offline noch online – insofern unterschiedliche, wesentlich prozesshafte Subjektpositionen als Signifikanten niemals mit einem spezifischen Signifikat deckungsgleich sein können, sondern sich allererst über vielschichtige Verhältnisse zu anderen Signifikanten unausgesetzt konstitutieren. Die Frage ist also weniger, was in ein Verhältnis womit tritt, sondern was sich über diesen Prozess herstellt bzw. als existent in Erscheinung tritt. Versicherungsstrategien als Versuche der Herstellung von Unhintergehbarkeiten als Existenzgarantie – sei es in Form verlässlicher, unanfechtbarer Identitäten, sei es in Form von ›Gemeinschaft‹ und Zugehörigkeit und damit immer auch von Grenzen und Ausschlüssen, sei es in Form einer Meta-Position – müssen wiederum unaufhörlich erneuert werden – gerade weil die Herstellung einer gesicherten Bedeutung, ebenso wie die einer kohärenten Identität oder ›Gemeinschaft‹, als geschlossene Totalität per definitionem unmöglich ist – als Phantasma gleichwohl aber eine konstituierende Funktion erfüllt.

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VER-MITTLUNG UND DISKRETHEIT

Damit ist zugleich auch die Voraussetzung formuliert, das Subjekt als ein politisches zu begreifen – d.h. nicht als souveränes (definiert durch eine kohärente Identität), sondern als radikal unkalkulierbares. Genau diese Unkalkulierbarkeit bildet die Voraussetzung für die Einnahme spezifischer, bedingter und stets vorläufiger Subjektpositionen. (Vgl. Lummerding 2005: 97–148) Und gerade das Fehlen einer ›Garantie‹ als Voraussetzung für Neu-Artikulationen impliziert Verantwortung. Verantwortung meint, dass jede Artikulation bzw. jede Setzung als Entscheidung gerade in dem Sinn politisch ist, als sie sich eben nicht auf einen äußeren Referenten bzw. eine vorgängige oder übergeordnete Instanz berufen kann, sondern eine Verhandlungsposition innerhalb eines bestimmten Kontextes im Verhältnis zu anderen Interessen und Kräften darstellt – und somit grundsätzlich zur Debatte steht. Verantwortung resultiert also daraus, dass die Notwendigkeit einer unausgesetzten Re-Artikulation Determinierung ausschließt. Dies gilt für das Agieren in ›virtuellen‹ Kontakten ebenso wie in ›realen‹, insofern die Vorstellung einer Loslösbarkeit bzw. Trennung beider Bereiche dem nämlichen Phantasma von ›Totalität‹ unterliegt, das Identität als diskret, also klar abgrenzbar und kohärent imaginiert. Im Kontext elektronischer Kommunikation bzw. von Online-Plattformen wird also zuweilen nur deutlicher, was in analoger, angesichtiger Kommunikation effizienter verdeckbar ist, weil herkömmliche Angesichtigkeit die Illusion von Kohärenz und Authentizität augenscheinlich überzeugender herstellen kann und Versicherungsstrategien weniger augenfällig als solche in Erscheinung treten. Nur weil das Phantasma einer potentiell kohärenten Identität generell ein für die Behauptung von Existenz notwendiger Faktor ist, kann die Behauptung vorgeblich technisch ermöglichter Grenzenlosigkeit zum Bedrohungsszenario werden. Auch die in diesem Kontext generierten Identitätskonstruktionen sind daher dem Anspruch auf Kohärenz und Authentizität ausgesetzt, insofern sie als mit dem Kalkül der Konstruiertheit spielend gerade deshalb auch jenen Anspruch weder aufheben noch effektiv bedienen können. Dies mag auch der Grund sein, weshalb Verabredungen leichter dort zustandekommen, wo sie (und damit die Erstellung prägnanter Identitätskonstrukte) gerade nicht explizit Thema sind: nicht via Dating-Plattformen, sondern via Message Boards.18 Hier wie da gibt es keine Garantie – nicht etwa aufgrund etwaiger ›Täuschungsmanöver‹ wie Rollenwechsel oder Gender-Switching, das nur ›aufzudecken‹ wäre, um ›dahinter‹ eine ›Authentizität‹ zu finden, und auch nicht aufgrund vorgeblich technologi18 Auch wenn neuere Message Boards bereits Optionen bieten, um Persönlichkeitsprofile zu erstellen und zu posten, so steht dies keineswegs im Zentrum der Kommunikation. Für diesen Hinweis danke ich Mela Mikes. 137

SUSANNE LUMMERDING

scher Determiniertheiten – der Grund dafür ist nicht auf der Ebene des Soziosymbolischen zu suchen, sondern auf jener des Realen, also in einer Artikulationslogik, die als Unmöglichkeit einer Schließung auch ›Verhältnis‹ im Sinn einer diskreten Anordnung verunmöglicht. Dies bedeutet nicht, dass es keine Kommunikation gibt, sondern dass auch diese ohne Garantie ist, insofern sie auf einer fundamentalen Unmöglichkeit basiert – und auf genau diese angewiesen ist.

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VER-MITTLUNG UND DISKRETHEIT

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ZUR

VERABREDUNG MIT UNBEKANNTEN. S O Z I A L E N F U N K T I O N V O N D A T I N G -S H O W S IM FERNSEHEN VRÄÄTH ÖHNER

Eine Frau hat die Wahl zwischen drei Männern (oder umgekehrt: ein Mann zwischen drei Frauen), die sie nicht kennt. Ort der Begegnung ist eine Bühne in einem Fernsehstudio, was unter anderem bedeutet, dass auch ein Moderator sowie Publikum (vor der Kamera ebenso wie vor den Bildschirmen) anwesend sind. Es geht um zukünftige Partnerschaft und erschwerend kommt hinzu, dass die Frau bis zuletzt nicht wissen wird, wie die Kandidaten aussehen. Um sich wenigstens ein ungefähres Bild davon machen zu können, wer am besten zu ihr passt, stellt sie den Kandidaten Fragen wie diese: »Würden wir uns zufällig über den Weg laufen, wie würdest du mich ansprechen?« Aus der Summe der Antworten entstehen rudimentäre Persönlichkeitsprofile, die von einer Frauenstimme aus dem Off zusammengefasst und wiedergegeben werden. Und über all dem schwebt von Anfang bis Ende die Frage: Für wen wird sie sich entscheiden? Es war ein harmloses Vergnügen, das die Dating-Show Herzblatt über einen Zeitraum von beinahe zwanzig Jahren (von 1987 bis 2006) im Programm der öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ORF allen Anwesenden bereitete. Sowohl denen, die sich gefunden hatten – sie wurden mit einer kurzen Reise belohnt, über deren Verlauf sie während der nächsten Sendung berichten durften –, als auch denen, die leer ausgegangen waren: Immerhin waren sie als Kandidaten im Fernsehen aufgetreten. Die jeweiligen Moderatoren1 freuten sich zusammen mit der Produktionsfirma2 und den beiden Sendern über die schöne Einschaltquote im Vorabendprogramm, während dem Publikum einmal mehr die Gelegen1

2

Rudi Carrell (1987–1993), Rainhard Fendrich (1993–1997), Hera Lind (1997–1998), Christian Clerici (1998–1999), Pierre Geisensetter (1999– 2001), Jörg Pilawa (2001–2004) und Alexander Mazza (2005–2006). Grundy Light Entertainment, der weltweit größte Fernsehproduzenten mit jährlich 15.000 Programmstunden in 30 Ländern. 141

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heit gegeben wurde, jenem geregelten Auf- und Abbau von Spannung beizuwohnen, wie er für Unterhaltungssendungen insgesamt typisch ist. So viel Harmlosigkeit könnte leicht zu dem Schluss verleiten, eine Sendung wie Herzblatt lohne keine weitere Aufmerksamkeit. Und tatsächlich waren es andere Formate, die in diesen zwanzig Jahren im Unterhaltungsbereich von sich reden machten: Talk-, Geständnis-, Schrei- und Schimpfshows, die das Nachmittagsprogramm nicht nur der Privatsender dominierten, oder Casting-Shows vom Typ Big Brother und Deutschland sucht den Superstar, die das Angebotsspektrum zur Primetime erweiterten. Shows, die, so verschieden sie auch sein mögen, ebenso viele Anlässe darstellten zur Reflexion über den gegenwärtigen Stand der Fernsehkultur im deutschsprachigen Raum. Dating-Shows im Allgemeinen und Herzblatt im Besonderen hingegen schienen niemanden sonderlich aufzuregen. Von dieser mit hoher und lang anhaltender Publikumsakzeptanz gepaarten Harmlosigkeit des Vergnügens Dating-Show ist es nur ein kleiner Schritt zu einer ersten These: Das Fernsehen mag ein Medium zur Vermittlung von allem Möglichen sein, zur Verabredung in Sachen Liebesorganisation allerdings taugt es nicht besonders.3 Alle bisher in diese Richtung unternommenen Versuche zeugen – vielleicht mit Ausnahme des nicht sonderlich weit verbreiteten Formats televisueller Kontaktanzeigen4 – von der Erfolglosigkeit des Unterfangens: In den zwanzig Jahren Herzblatt beispielsweise haben nach Auskunft der Sender genau zwei Paare geheiratet. Das ist auch wenig verwunderlich: Dass die Kandidaten sich nach der Sendung in der Regel nicht wiedersahen, gehörte zum Konzept, und wahrscheinlich hat Herzblatt auch deshalb so wenig öffentliches Aufsehen erregt, weil die Differenz zwischen Spiel und Realität bei diesem Format jederzeit klar erkennbar war – im Gegensatz zu den wenig später entstandenen Formen des »performativen Realitätsfernsehens« (Keppler 1994), die sich zumindest den Anschein gaben, existenzielle Wandlungen im Leben jener Menschen herbeizuführen, die in diesen Sendungen auftraten. 3

4

Auf der anderen Seite: Taugt das Fernsehen etwa zur Verabredung von politisch Denkenden, von Arbeit Suchenden oder von Geschäfte Machenden? Taugt das Fernsehen überhaupt zur Verabredung zwischen Menschen? Oder ist die einzige Form der Verabredung, die das Fernsehen herstellen kann, die zwischen seinen Angeboten und dem Publikum? (vgl. Öhner 1996) Derzeit nur mehr in der Form von Elizabeth T. Spiras Liebesg’schichten und Heiratssachen recht unregelmäßig im Programm des ORF zu sehen (seit 1997). Bemerkenswert im Übrigen, dass selbst hier bereits der Titel auf eine Posse von Johann Nestroy verweist. 142

SOZIALE FUNKTION VON DATING-SHOWS IM FERNSEHEN

Bei Herzblatt hingegen spielten »echte« Menschen (das heißt: keine Schauspieler) Partner Suchende auf eine Weise, wie etwa in den gegenwärtig offenbar recht erfolgreichen Gerichtssaal-Shows5 »echte« Menschen Geschädigte, Angeklagte und Zeugen spielen – nämlich so, dass man sagen muss: Die Einzigen, die in diesen Shows Anspruch auf Authentizität erheben können, sind die Moderatoren (respektive die Richter). Fernsehgeschichtlich betrachtet, gehört Herzblatt damit zwar zweifellos einer Formation an, die Francesco Casetti und Roger Odin (in Abgrenzung zum »Paläo-Fernsehen«, das ihm vorausging) als »Neo-Fernsehen« bezeichnet haben: Einer Formation, in deren Zentrum nicht mehr der Moderator und der von diesem repräsentierte Kommunikationsvertrag steht, »sondern vielmehr der Zuschauer in seiner doppelten Identität als Fernsehzuschauer vor dem Fernsehgerät und als Gast im Studio« (Casetti/Odin 2001: 316). Auf der anderen Seite: Wenn das Neo-Fernsehen sich dadurch auszeichnet, dass sein hauptsächlicher Bezugspunkt das alltägliche Leben, und wenn der Raum, den es erschafft, der Raum des sozialen Zusammenseins ist, dann wird zugleich deutlich, warum eine Sendung wie Herzblatt nicht vollständig in dieser Formation aufgehen konnte. Nicht nur gehört ein Geschehen wie die Verabredung mit Unbekannten in Sachen Partnersuche einzig als außeralltägliches dem Alltag an, auch die Abhängigkeit des mehr oder weniger großen Erfolgs der Sendung von den jeweiligen Moderatoren sowie die Inszenierung und die Sprechweise der Kandidaten, deren Sätze stets ein wenig aufgesetzt und auswendig gelernt wirkten, verweisen auf eine deutlich wahrnehmbare, hierarchische Grenze zwischen den Protagonisten der Show und den Zuschauern. Das ist bei den Herzblatt-Derivaten,6 wie sie derzeit im deutschsprachigen Raum nur noch auf MTV Central zu finden sind, anders. Dort sind die Kandidaten, was sie bei Herzblatt nie waren, nämlich – soweit 5

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Wochentags laufen gleich fünf Varianten des Formats im Nachmittagsprogramm von RTL und Sat.1: Das Strafgericht, Das Familiengericht sowie Das Jugendgericht auf RTL, Richterin Barbara Salesch und Richter Alexander Hold auf Sat.1. Gemeint sind die Sendungen Next, Date My Mom und Parental Control, die allesamt einmal nachmittags, einmal abends von MTV Central ausgestrahlt werden. Wobei von Herzblatt-Derivaten zu sprechen, in diesem Zusammenhang nicht ganz richtig ist. Wie beinahe jedes Show-Format im deutschsprachigen Fernsehen hat auch Herzblatt ein Vorbild im amerikanischen: The Dating Game, eine Show, die erstmals bereits 1965 über den Sender ABC ausgestrahlt wurde. The Dating Game blieb, nachdem ABC die Show 1973 abgesetzt hatte, als lizenzierte Version bis 1999 im Programm amerikanischer Sender. 143

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das in einer Fernsehshow überhaupt möglich ist – weit gehend sie selbst. Es gibt keine Moderatoren mehr, die zwischen dem Spielgeschehen und den Zuschauern vor den Bildschirmen vermitteln, das Studio wurde durch private Umgebungen ersetzt und insgesamt scheinen die Kandidaten mehr Spaß miteinander zu haben als jedes mögliche Publikum, das dem Geschehen denn auch nicht mehr unmittelbar beiwohnt. Selbst die Wand, die einst die Kandidaten voneinander trennte und vielleicht einmal zusätzlich eine pädagogische Funktion erfüllt haben mag (gutes Aussehen ist nicht so wichtig), wurde – mit der Ausnahme von Date My Mom, wo die Mutter der Bewerber an deren Stelle tritt – aufgegeben: Was zählt, ist nicht mehr die Vermittlung durch das Wort, sondern der erste optische sowie der zweite gesamtpersönliche Eindruck. Bei Next sieht das dann beispielsweise so aus, dass der Kandidatin ein Angebot von fünf Anwärtern zur Verfügung steht, die in einer Art Tourbus darauf warten, an die Reihe zu kommen. Das Spiel sieht vor, dass die Anwärter möglichst viel Zeit mit der Kandidatin verbringen, während diese ihre Auswahl in Unkenntnis der noch bestehenden Möglichkeiten treffen muss: Versteht sie sich bereits mit dem ersten Bewerber gut, wird sie keine Gelegenheit mehr haben, die anderen vier kennen zu lernen. Schöpft sie umgekehrt alle Möglichkeiten aus, ist es ihr nicht gestattet, auf einen Anwärter zurückzukommen, den sie bereits abgelehnt hat. Wie bei Herzblatt geht es auch bei Next darum, eine Entscheidung auf der Basis unvollständiger Informationen zu treffen. Allerdings sind die Informationen bei Next nicht im selben Maß unvollständig wie bei Herzblatt. Immerhin lernt die Kandidatin die Bewerber ja persönlich kennen – wenn auch oftmals nicht allzu lange: Bereits geringfügige Abweichungen vom stets implizit bleibenden Vorstellungsbild der Kandidatin können den Prozess gegenseitiger Annäherung abrupt unterbrechen. Auf diese Weise beginnt das mit jeder Entscheidung verbundene Risiko sich dem Risiko zu nähern, das auch bei der Partnerwahl im Alltag besteht: Schließlich kann man nie wissen, ob es nicht irgendwo jemand anderen gibt, der noch besser zu einem passt. Erscheint Herzblatt im Vergleich mit seinen Derivaten als die öffentlich-rechtliche Variante des Neo-Fernsehens, so deshalb, weil der Raum des sozialen Zusammenseins bei Herzblatt noch auf einer Bühne repräsentiert wurde, während die Bühne bei Next, Date My Mom oder Parental Control sich vom Raum des sozialen Zusammenseins nicht mehr zuverlässig unterscheiden lässt. Wie bei den thematisch ähnlich gelagerten Doku-Soaps vom Typ Bauer sucht Frau7 auch, gewinnt man bei letztgenannten den Eindruck, dass das Geschehen sich in außerordentli-

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Seit 2005 zwei Staffeln auf RTL, drei Staffeln auf ATV+. 144

SOZIALE FUNKTION VON DATING-SHOWS IM FERNSEHEN

cher Nähe zum Alltag der Beteiligten abspielt: Für die Auswahl entscheidend ist offenbar, wie »normal« die Kandidaten und Anwärter vor der Kamera zu agieren, das heißt ihre Individualität im Rahmen flexibler Normalitätsgrenzen zum Ausdruck zu bringen verstehen. Aus deren Perspektive betrachtet, gleicht die Teilnahme an der Show denn auch dem Besuch eines in der Stadt gerade angesagten Clubs: Hier wie dort gilt es, sich zu bewähren und die Konkurrenz durch die Betonung jenes individuellen Unterschieds, der den Unterschied macht, aus dem Feld zu schlagen. Selbstverständlich bedeutet größere Nähe zum Alltag nicht, dass bei den Herzblatt-Derivaten die Grenze zwischen fiktionaler und realer Realität eingezogen oder auch nur geschwächt wird – die Shows wären sonst nicht mehr als solche zu erkennen –, wohl aber, dass die Bestimmung der Individualität der Spielenden mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Waren bei Herzblatt die individuellen Unterschiede durch den Kommunikationsvertrag zwischen Sender und Publikum geregelt – eine Regelung, die nicht zuletzt in der Unterdrückung der »Wahrheitszeichen« Stottern, Flüstern, Sich-Versprechen zum Ausdruck kam, die von der Existenz eines erotischen Kommunikationskanals künden (vgl. Schneider 1994) – und wurden die Kandidaten dadurch in die Lage versetzt, ihre Individualität zu spielen, so ist es heute umgekehrt das Spiel, das die Individualität der Spielenden enthüllt. Den Höhepunkt der Spannung markiert zwar nach wie vor der Augenblick der Entscheidung, beinahe ebenso wichtig ist allerdings das Sich-Einlassen der Kandidaten auf Situationen, die sich ihrer Kontrolle entziehen: Zumeist handelt es sich dabei um eine im Alltag des jeweiligen anderen fest verankerte, gleichwohl nicht unbedingt alltägliche Tätigkeit wie die Honigernte, die Malerei mit dem Körper oder auch die Entspannung bei der Akupunktur. Gehen auf der einen Seite die Bewerber bei der Ausführung solcher Tätigkeiten das Risiko ein, mehr von ihrer Persönlichkeit preiszugeben, als ihnen lieb ist, beginnt auf der anderen Seite der aus solchem Geschehen zu ziehende Unterhaltungswert für das Publikum sich immer mehr dem Unterhaltungswert des Sportfernsehens anzunähern: Wie Niklas Luhmann ausgeführt hat, dienen Sportsendungen im Fernsehen primär der Unterhaltung, »weil sie die Spannung auf der Grenze von kontrollierter und nichtkontrollierter Körperlichkeit stabilisieren« (Luhmann 1996: 110f.). Die Information darüber, wer gewonnen hat, ist beim Fernsehsport daher ebenso Nebensache wie bei den Dating-Shows: Für das Publikum zählt, dem ereignishaften Umschlag von Beherrschung in Nichtbeherrschung (der auch ausbleiben kann) beigewohnt zu haben, von dem sich auf keine andere Weise als durch Zuschauen Kenntnis gewinnen lässt.

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Wesentliche Unterschiede bleiben freilich bestehen: Spielformen, die den Kandidaten das Sich-Einlassen auf ihnen nicht oder wenig vertraute Situationen abverlangen, aktivieren psychosoziale Alltagskompetenzen wie die abwägende Einsicht in den Unterschied von Fremd- und Selbstwahrnehmung oder die richtige Interpretation von Signalen, die allesamt notwendige Voraussetzungen von gelingenden »Koppelungsmanövern« darstellen (vgl. Friedrich 2001). Das Ergebnis dieser Koppelungsmanöver ist dabei nur insofern von Interesse, als es die während der Sendung ständig mitlaufende Frage beantwortet, welche Individualisierungstypen wohl am besten zueinander passen. Im Grunde aber sind die Spielformen der Herzblatt-Derivate – wie im Übrigen die auf dem »Alltäglichen« basierenden Spielformen des Neo-Fernsehens insgesamt – in erster Linie darauf ausgerichtet, Eigenschaften von Personen zu visualisieren und zur Akkumulation von »Selbst-Adjustierungswissen« auf beiden Seiten des Bildschirms beizutragen. Auf diese Weise erfüllen sie zugleich eine wichtige soziale Funktion für jene Kultur der Gegenwart, die Jürgen Link als »flexibel-normalistisch« bezeichnet hat: Es handelt sich dabei um eine Kultur, in der die Herstellung von Individualität nicht mehr durch normative Vorgaben und tradierte Werte gestützt wird, sondern von jedem Einzelnen auf der Basis eines Entscheidungsspielraums geleistet werden muss, der zwischen den Polen »normal« und »nicht-normal« aufgespannt ist.8 Weil die Normalitätsgrenzen zudem fließend und den Dynamiken gesellschaftlicher Entwicklung gegenüber offen sind, nähert die Normalbiographie des modernen Subjekts sich, so Link, immer mehr der stochastischen Bewegung eines »Kügelchens« auf- und abwärts durch ein Normalverteilungen erzeugendes »Galtonsieb« an: »Kügelchen fallen durch siebartige Verzweigungen abwärts, wobei sie zeitweilig wieder hochschnellen können, um erneut zu fallen usw. Begreift man die stochastische Bewegung eines solchen Kügelchens als ›Geschichte eines Subjekts‹, so erhält man den narrativen Grundtyp der (nicht) normalen Fahrt.« (Link 1999: 57)

Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung, die den Spielformen der Unterhaltung im Allgemeinen und dem Ge- und Misslingen von Koppelungsmanövern im Rahmen von Dating-Shows im Besonderen bei der Akkumulation von »Selbst-Adjustierungswissen« zukommt, gar nicht hoch genug einzuschätzen: Wie Niklas Luhmann ausgeführt hat, »ermög8

Zu Rolle und Funktion von Medien im Kontext normalistischer Selbstentwürfe vgl. die Ausführungen von Lutz Ellrich und Christiane Funken in diesem Band. 146

SOZIALE FUNKTION VON DATING-SHOWS IM FERNSEHEN

licht Unterhaltung eine Selbstverortung in der dargestellten Welt« (Luhmann 1996: 115), und zwar auf eine Weise, die niemanden auf eine bestimmte Identität festlegt. Verstanden als nicht konsenspflichtiges Angebot, als Einladung zu einer (nicht) normalen Fahrt und als experimentelle Verschiebung von Normalitätsgrenzen liefert Unterhaltung genügend Anhaltspunkte für jene Arbeit an der eigenen Identität, die in den »bürgerlichen« Schichten des 18. Jahrhunderts begonnen hat und die heute unvermeidlich geworden ist. Man könnte es auch so sagen: Unterhaltung produziert massenhaftes Unterscheidungsvermögen – allerdings mit der von Jürgen Link entlehnten Einschränkung, dass dieses Unterscheidungsvermögen sich ausschließlich auf normalistische Identifizierungsmuster beschränkt (für »utopische« Entwürfe ist im Schema der Unterhaltung kein Platz). Mit Blick auf die soziale Funktion von Dating-Shows kann denn auch die Frage geklärt werden, was diese den anderen Unterhaltungsformaten des Fernsehens voraushaben: Es ist dies, das wurde bereits ausgeführt, die größere Nähe zum Alltag der Zuschauer vor dem Bildschirm. Die vergleichsweise hohe Spannung und die Vielfalt von Applikationsvorlagen für Subjektivierungsentwürfe, die Spielfilme und Fernsehserien durch die Thematisierung von Erotik und gefährlichen Abenteuern erzeugen, sind offenbar nur um den Preis einer relativ großen Distanz zum Alltag der Zuschauer zu haben. Die spezifische Differenz, die DatingShows von anderen Unterhaltungsformaten unterscheidet, wäre demnach der Tausch von Spannung und Vielfalt gegen Nähe: Was sie an Intensität und narrativem Formenreichtum verlieren, gewinnen sie an sozialer Nähe. Dass die auf diese Weise erzeugte Nähe gegenwärtig nicht mehr auszureichen scheint, um genügend Publikumsinteresse zu binden, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Am Beginn dieser Ausführungen war davon die Rede, dass das Fernsehen nicht zur Verabredung in Sachen Liebesorganisation taugt. Der wichtigste Grund dafür ist zugleich der offensichtlichste, nämlich die »Unterbrechung der Reziprozität sozialer Beziehungen durch das Fernsehen« (Friedrich 2001: 103). Dass diese Unterbrechung von Kommunikationsprozessen als zentraler Bestandteil der Freizeitgestaltung akzeptiert wurde, hat, John Hartley zufolge, eine tief greifende Transformation innerhalb der materiellen Kultur zur Voraussetzung, die sich als »langfristige Bewegung von Behausungen hin zum Zuhause« beschreiben lässt: »Eine Behausung ist eine häusliche Wohnstätte jedweder Art, vom Elendsviertel zum Slum, von der Mietskaserne zum Hochhaus, in der Stadt oder auf dem Land. Aber ein Zuhause ist ein ganz besonderer Ort. Es wurde als Einzelfamilien-Einheit ersonnen, durch physische Grenzen von seinen Nachbarn abge147

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trennt – zumindest durch Mauern, aber idealerweise durch Raum in Form eines Gartens oder Hofs. Es wurde entworfen, um genau einer Familie Platz zu bieten, am besten einem verheirateten Paar und seinen Kindern, eventuell mit kleinen Abweichungen, wie z.B. einer Oma im Hinterzimmer. Die interne Topographie ›produzierte‹ die Familienfunktionen, und das mit besonderem Nachdruck darauf, Sex, Hygiene und Leben auseinanderzuhalten.« (Hartley 2001: 271)

Die Pointe dieser Überlegungen zielt natürlich darauf, dass das Fernsehen zugleich Produkt und Produzent dieser Bewegung von Behausungen hin zum Zuhause ist. Wie Hartley schreibt, »gäbe es ohne Kühlschrank kein Fernsehen« (263) und umgekehrt: Ohne Fernsehen, das die »Ideologie der Häuslichkeit« durch ein Angebot an Vergnügungen sicherstellt, die denen auf der Straße, im Wirtshaus oder im Kino ebenbürtig, wenn nicht überlegen sind, gäbe es keine Investition von Kapital in Gegenstände wie Kühlschränke, welche die Aktivität am Ort des Zuhauses unterstützen. Und so, als ob diese Transformation der materiellen Kultur die These von Lorenz Engell, nach der »die tätige Reue fürs Fernsehen Fernsehen heißt« (Engell 1996: 151) zugleich bestätigen und modifizieren würde, scheint der Übergang vom Paläo- zum Neo-Fernsehen nicht zuletzt auf Probleme zu antworten, die durch dieselbe Transformation erzeugt wurden: Wer kann schon ermessen, welchen Anteil die Ideologie der Häuslichkeit an der stetigen Zunahme von Singlehaushalten hält? Das Vordringen des Neo-Fernsehens in Bereiche, die dem PaläoFernsehen verwehrt waren – wobei der Raum des sozialen Zusammenseins bis in die Privatsphäre der Zuschauer ausgedehnt und die wichtigsten Rituale des täglichen Lebens aufgenommen wurden –, zeugt jedenfalls davon, dass jene Anomie und Isolation des Lebens der Kernfamilie, die so oft dem Konto des Fernsehens allein gutgeschrieben wurden, vom Fernsehen aufgegriffen und zu mehr oder weniger unterhaltsamen Formaten verarbeitet werden können. Dass es ausgerechnet eine Wand war, die bei Herzblatt die Kandidaten voneinander trennte und dem Publikum den minimalen Vorsprung visueller Erkenntnis einräumte, ist in diesem Zusammenhang von symbolischer Bedeutung gerade deshalb, weil diese sich am Ende jeder Runde öffnete. Was danach kam – die vom Sender organisierte Reise für das neue Paar – gehörte noch zum Spiel, ohne aber ausschließlich dessen Regeln zu gehorchen. Wenn nun das Neo-Fernsehen sich mehr für die Reise, denn für das Spiel interessiert, könnte man dann nicht behaupten, dass die Formate, die es produziert, an der Öffnung jener Wand arbeiten, die das Paläo-Fernsehen durch die Tabuisierung so vieler Bereiche des alltäglichen Lebens errichtet hat? Und wäre eine mögliche Konsequenz dieser Behauptung nicht die, dass Dating im Fernsehen weniger Partnersuche oder -vermittlung meint, als vielmehr 148

SOZIALE FUNKTION VON DATING-SHOWS IM FERNSEHEN

die Verabredung des Publikums mit – im Sinn von Prominenz – Unbekannten?

Literatur Casetti, Francesco/Odin, Roger (2001): »Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Ein semio-pragmatischer Ansatz«. In: Ralf Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK, S. 311–333. Engell, Lorenz (1996): »Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung«. Montage/AV 5/1, S. 129–153. Friedrich, Peter (2001): »Von Spielleitern als Testleitern, Unfällen und Gesichtern in Fernsehshows – Verhaltensmikroskopie als Unterhaltungskunst«. In: Rolf Parr/Matthias Thiele (Hg.), Gottschalk, Kerner & Co. Funktionen der Telefigur ›Spielleiter‹ zwischen Exzeptionalität und Normalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 102–131. Hartley, John (2001): »Die Behausung des Fernsehens. Ein Film, ein Kühlschrank und Sozialdemokratie«. In: Ralf Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK, S. 253– 280. Keppler, Angela (1994): Wirklicher als die Wirklichkeit? Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung, Frankfurt a.M.: Fischer. Link, Jürgen (1999): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag. Öhner, Vrääth (1996): »Fernsehen 4: Eros«. Meteor Nr. 5, S. 53–58. Schneider, Manfred (1994): Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

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»I C H

TREFFE

DIE VERABREDUNG

D I C H …«

A L S K Ü N S T L ER I S C H E

FORM

UND EINE DAMIT VERBUNDENE

POLITIK

DER

SICHTBARKEIT

HILDEGARD FRAUENEDER Den Besucher/-innen der John Gibson Gallery wurde 1971 in einem Aushang mitgeteilt, dass sich zwischen 27. März und 24. April der Künstler Vito Acconci jede Nacht für eine Stunde zwischen 1 Uhr und 2 Uhr nachts am Ende des Pier 17, einer einsamen Stelle zwischen West Street und Park Place, aufhalten würde. Diese Mitteilung war verbunden mit der Einladung an alle, sich dort mit ihm zu treffen, um jeweils ein ganz persönliches Geheimnis von ihm erzählt zu bekommen. »Ich versuchte also gewissermaßen, dem Betrachter eine Information über mich zuzuspielen, die er eventuell für ›Blackmail‹ ausnützen könnte. Mit anderen Worten, wenn ich einem Betrachter etwas anvertraue, das nicht weitergesagt werden soll, so kann der Betreffende seinerseits etwas von mir verlangen, damit er schweigt. Wir schließen also eine Art Handel, einen Vertrag miteinander ab: Du redest nicht, wenn ich etwas für dich tue. So bedeuten diese Stücke für mich, daß ich Kunst als Anlaß der Begegnung, des menschlichen Kontakts zu verstehen begann. Ich treffe Dich,…« (Acconci 1981: 64)

Vito Acconci hat in seinen darauf folgenden Arbeiten unterschiedlichste Begegnungsformen und Kontaktmodalitäten durchgespielt und dafür jeweils andere Strategien der ›Ansprache‹ gewählt. Während seiner Performance »Seedbed« (1972), bei der er unter einem neu eingezogenen Holzfußboden liegend vermittelt über die Schrittgeräusche der Besucher/-innen sich sexuell stimulierte, trat er mit den für ihn unsichtbaren Personen nur hörbar in Kontakt – masturbierend und seine sexuellen Phantasien artikulierend füllte seine Stimme den Galerieraum. Diese frühen Arbeiten sind als programmatische Einleitung angeführt, insofern dieser Text nicht nur davon handeln wird, ob und wie in der zeitgenössischen Kunst die Verabredung zweier Menschen zu einer romantischen Begegnung, einer Beziehungsanbahnung mit dem Ziel ei151

HILDEGARD FRAUENEDER

ner dauerhaften Verbindung thematisiert wird, sondern auch mitbedenken wird, dass Kunst an sich und die mit ihr verbundenen Rituale als Begegnungsszenario, das in seiner häufigsten Form als vermitteltes immer auf Verabredung beruht, gesehen werden kann. Die künstlerischen Thematisierungen und Nutzungen von Medientechnologien, die das Kommunikationsverhalten in seinen radikalen Veränderungen in Bezug auf das Verständnis, was ein Kunstwerk ist, vorangetrieben und dargestellt haben, wurden in den vergangenen Jahren in einer Reihe von Publikationen1 umfassend aufgearbeitet: für den Kontext der Verabredung von Interesse sind die von 1968–1983 von Ray Johnson organisierten »Meetings«2, aber auch die Mail Art der New York Correspondence School, die Satelliten-Performances der 70er Jahre eines Nam June Paik bis hin zu den Netzprojekten seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – ihnen allen gemeinsam ist auch die Idee eines kollektiven Kunstwerkes, an dessen Realisierung aber nicht immer nur Künstler/-innen beteiligt waren. Es gab bereits in den späten 50er und frühen 60er Jahren Projekte, bei denen die Rezipient/-innen die Gestalt des Werkes nachhaltig mitbestimmten und die damit die Geschichte der so genannten partizipativen und auch interaktiven Kunstwerke einleiteten. Trotz der Ungenauigkeit der Bezeichnung ›interaktiv‹ scheint eine Einigung darüber gegeben zu sein, dass damit die aus Happeningzusammenhängen entwickelten Partizipationsmodelle bezeichnet werden, wie sie für technische Environments adaptiert und neu gestaltet werden konnten, so auch Nam June Paiks Um-Nutzung des Mediums Fernsehen für die Arbeiten »Participation TV« (1963–1966). Bei der Ausstellung »Exposition of Music – Electronic Television« 1963 in Wuppertal konnten die Besucher/-innen bei zwei der insgesamt zwölf im Raum verteilten und modifizierten TV-Monitore direkt in die Fernsehsignale (mittels Fußschalter und Mikrophon) eingreifen, wobei sich die abendlichen Öffnungszeiten der Ausstellung nach der Sendezeit des damals einzigen deutschen Fernsehkanals ARD3 richten mussten. (Daniels 2004: 40)

1

2

3

www.medienkunstnetz.de bzw. die beiden von Dieter Daniels und Rudolf Frieling herausgegebenen Publikationen bieten dafür einen ersten Überblick. Von den über 50 Meetings seien hier die so genannten ›Nothings‹ erwähnt – von einem berichtet Alison Knowles: »Wir hatten uns alle an die Wände gelehnt und schauten uns eine Zeit lang an. Er kam zu mir rüber und fragte mich, ob ich mich bitte an die gegenüberliegende Wand lehnen könne, was ich tat.« (zit. bei Olesen 2006: 257) Das ZDF nahm erst kurz nach dieser Ausstellung am 1. April 1963 seinen Betrieb auf. (Daniels 2004: 41) 152

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Genutzt wurden aber auch Techniken, bei denen eine Partizipation nicht an die Anwesenheit der Besucher/-innen gekoppelt war. So ließ Max Neuhaus für »Public Supply I« (1966) eingehende Telefonanrufe aus einem New Yorker Stadtgebiet live per Radio wieder zurück in genau dieses Gebiet übertragen.4 (Kwastek 2004: 18f.) Verbindet ein Telefon zwei (oder mehrere) Stimmen miteinander, so spricht die Stimme im Radio potentiell alle an, die sich innerhalb der Sendefrequenz aufhalten. Die Technik ermöglicht mittels Übertragung eine ideelle Örtlichkeit, an der Abwesendes anwesend wird, als Übertragung in und an die Sprache. Ein weiteres, wenig bekanntes »Übertragungs-Projekt« stammt von Peter Weibel: In einer Zeitungsanzeige rief er die Leser/-innen auf, ihn anzurufen und mitzuteilen, was sie sich von ihm wünschen, so zum Beispiel ein bestimmtes Verhalten, eine Tätigkeit, insgesamt also ihn zu dirigieren und »eine lebendige menschliche Plastik nach der künstlerischen Regie des Publikums entstehen« zu lassen – das Video »Monodrom« wurde 1974 im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt.5

V e r sp r e c he n Vito Acconci verwies in beiden Arbeiten, so konträr sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, auf den Zusammenhang von Sprache und Adressierung, insbesondere auf die gesprochene Sprache als adressierende (An-)Sprache. (Allerkamp 2005: 10) Eine Adresse stellt im Allgemeinen die Verbindung von ›Anrufer‹ und ›Angerufenem‹ her; Anruf und Adresse sind im Wesentlichen Figuren, die ansprechen, auffordern, Kontakte und damit mögliche Beziehungen herstellen. Beziehungen wiederum haben Anteil an jeder Verbindung, deren Grundlage die Vermittlung ist. Mit diesen Begriffen sind sowohl Haupteigenschaften der heutigen Medien in einer vernetzten Gesellschaft als auch der Liebesorganisation im Allgemeinen beschreibbar. Alle diese Figuren sind auch ästhetische Paradigmen, die in diesem Text für die Auseinandersetzung mit den Verabredungsmodalitäten in den künstlerischen Arbeiten hilfreich scheinen. In ihren neueren Studien hat die Literaturwissenschaftlerin Andrea Allerkamp die Figur der Anrufung auf die Bedeutung für die bildenden 4

5

Während Neuhaus bei diesem Projekt die live eingehenden Anrufe von zehn Leitungen noch selber mischte und somit die Position eines Moderators einnahm, delegierte er diese Funktion bei »Radio Net« 1977 an eine elektronische Automatik. (Vgl. Föllmer 2004: 82) Über www.index-dvd.at ist eine neu erschienene Edition dieser und anderer Arbeiten mit einem beigelegten Booklet zu beziehen. 153

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Künste hin zwar angesprochen, aber nicht explizit in diesem Feld weiter verfolgt. Eine auf die künstlerische Arbeit übertragene Disposition der Anrufung als vermittelnde Figur der Übertragung wird in den genannten Aktionen Acconcis erkennbar – in »Seedbed« entfällt weitestgehend der Eindruck des Vermittelten, vor allem auch, da der Stimme die Illusion der Unmittelbarkeit anhaftet, auch wenn sie hier gerade nicht den Anschein erweckt, sich aus sich selbst zu erzeugen, da sie auf ein Stimuliert-Werden durch das Publikum angewiesen ist. Die Vermittlungsinstanz – die verschriftlichte Kontaktanzeige bei »Untitled Piece for Pier 17« – fällt bei »Seedbed« der sichtbaren Abwesenheit und der fühl- und hörbaren Anwesenheit des Künstlers zu und verbleibt somit im Imaginären. Doch in beiden Aktionen ist der Anruf auch ein Aufruf – im ersten Fall in einem höchst profanen Stil (ich treffe dich am Ende des Piers), im zweiten jedoch als Stimme, die auch »über sich selbst spricht und damit Zugang zu einer äußersten Intimität verspricht« (Allerkamp 2004: 13) und zu ebensolcher intimer Entäußerung aufruft. Beide Aktionen Acconcis sind offen in ihrer Adressierung, nicht gerichtet und positionieren sich dennoch zumeist entlang einer offensichtlichen Geschlechterdifferenz, die auf einer heterosexuellen Matrix aufbaut. Amelia Jones beschrieb die Performances, in denen Acconci »jammert und stöhnt oder sich selbst zu einem keuchenden sexuellen Höhepunkt bringt« als Anordnung, in der der Künstler »in Relation zu seinem (oft nackten) Körper eine effeminierte Hysterie spielt« (Jones 2004: 249). Zwar werden dadurch heroische Konzeptionen von Männlichkeit subvertiert, aber gleichzeitig werden mythische Konstruktionen der männlich gesetzten Künstlersubjektivität mit hervorgebracht, auch mittels eines (aufdringlichen) Masochismus. Die Gleichsetzung des fremden, da hier jeder Sichtbarkeit entzogenen »Triebobjekts Stimme« mit Weiblichkeit entspricht einer kulturgeschichtlichen Trope, die bis zu Homers Erzählung der Begegnung Odysseus’ mit dem verführerischen Sirenengesang zurückreicht. Dass jedoch der Held dieser Verführung nicht erlegen war, ist nach Adorno/Horkheimer darauf zurückzuführen, dass er die Klänge »zum bloßen Gegenstand der Kontemplation neutralisiert, zur Kunst herabwürdigt« (zit. bei Allerkamp 2004: 23). Diese Überlegung führt mich zu einem weiteren Aspekt, der in diesem Text immer wieder gestreift werden wird, nämlich der Frage danach, was geschieht, wenn Kunst nicht bloß ›Wirklichkeit berührt‹, vielmehr dann kontrovers diskutiert und umstritten erscheint, wenn sie sich in direktester Weise mit dem sozialpolitischen Feld auseinandersetzt und dabei immer in Gefahr gerät, dieses zu neutralisieren und »zu Kunst herabzuwürdigen«. Fokussiert der von Nicolas Bourriaud eingeführte Begriff

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der »Relationalen Kunst« ein Denken, das sich den Künsten in ihrer Beziehung zu sozialen Phänomenen widmet, wird in der Verschaltung beziehungsweise Gleichsetzung einer sozialen oder politischen Handlung zu beziehungsweise mit einem künstlerischen Akt dieses »In-BeziehungSetzen« zumeist unsichtbar, wenn nicht gar unterlaufen.

Anzeigen Am Beispiel der in den vergangenen Jahren relativ häufig präsentierten Arbeit von Tanja Ostojiü »Looking for a Husband with EU Passport« (2000–2003/05) lässt sich sehr gut zeigen, dass, auch wenn sich die Künstlerin der Techniken der Online-Suche bedient, es doch um andere Fragen und Diskurse geht und vor allem ihr ›Acting‹ weniger eine Gleichsetzung als weitaus mehr eine Bezugsetzung ist. In den Ausstellungspräsentationen wird mit großformatigen Fotografien, abfotografierten Dokumenten, beigestellten Aktenordnern mit Auszügen aus dem umfangreichen Briefverkehr mit Behörden, mit Presseberichten etc. die Geschichte vom Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung und der Ablehnung, die anschließende Partnersuche im Internet bis zur Hochzeit und der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung erzählt. Die Kontaktanzeige im Internet zeigt einen nackten, frontal ins Bild gestellten Frauenkörper, darunter eine Mailadresse. Kein sinnlich verführerischer Körper, vielmehr ein der sprachlichen Knappheit adäquater: ein in Pragmatik gegossenes Bild, das jegliches ›Mehr‹ ausspart. Auf einer formalen Ebene lassen sich Analogien zu Polizei- und Gefängnisfotos herstellen, deren Effekte geradezu über die Nacktheit noch verstärkt werden, indem ein schonungsloses ›Sich-den-Blicken-Ausliefern‹ überbetont erscheint und als prostituierendes Anbieten gelesen werden kann. In der Folge beantwortete Tanja Ostojiü über 500 Anfragen und führte eine monatelange Korrespondenz mit Klemens Golf, einem Künstler aus Deutschland. Die erste Begegnung, das erste Aufeinandertreffen wurde als öffentliche Performance vor dem Museum in Belgrad organisiert und ins Netz übertragen, ein von beiden nachbearbeitetes Video ist zumeist Teil der präsentierten Arbeit. Erst nach der erfolgten Hochzeit Anfang 2002 in Belgrad konnte Tanja Ostojiü einen vergleichsweise aussichtsreicheren Antrag auf Aufenthaltsbewilligung stellen – der von den deutschen Behörden ausgestellte Bescheid mit all den angeführten Rechten und Pflichten ist ebenso Teil der Ausstellungspräsentation wie der in Folge gestellte Antrag auf einen EU-Pass.

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Abbildung 1: Tanja Ostojiü: »ad« from the »Looking for a Husband with a EU Passport«, interactive web project, 2000–2005. Photo: Borut Krajnc, © Tanja Ostojiü

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Abbildung 2: Tanja Ostojiü: performance »CrossingOver« (first meeting with the husband), Museum of Contemporary Art Belgrade, 2000. In collaboration with K. Golf. Photo: Srÿan Veljoviü, © Tanja Ostojiü Diese Erzählung ist eingespannt zwischen politischem und privatem Dasein, entäußert sich entlang von Internationalismus und Nationalstaatlichkeit, und äußert sich als Kunst. Diesen ineinander verschachtelten Ebenen werde ich kurz nachgehen. Denn worin unterscheidet sich diese Narration von den vielen anderen, die mittels der Dokumente, wie sie sich in privaten Händen, in Behörden oder auch in Büros von NGOs befinden, in ähnlicher Weise nachzuzeichnen wären? Verdankt sich hier das »Happy End« einem privilegierten Feld, dem Kunstsystem? Unbestreitbar bietet das Kunstfeld eine Öffentlichkeit, die anderen vielfach verwehrt bleibt; aber Kunst ist immer auch in einer Gemengelage von Interessen situiert, die kontextabhängig stark variieren können. Doch eine Einschätzung, dass es sich bei »Looking for a Husband with EU Passport« um eine ausschließlich persönliche, eine private Angelegenheit handeln würde, übersieht die mit Migration einhergehenden Machtverhältnisse, die in diesem Projekt in der Darstellung einer konkreten Figuration politischer und sozialer Verhältnisse erkennbar sind. Darüber hinaus würde eine solche Argumentation einer der von Nancy Fraser dargelegten Strategien folgen, mit denen potentiell umstrittene Materien aus öffentlichen Diskursen verdrängt werden: nach Fraser ist neben der Klassifikation als ›ökonomisch‹ die Klassifikation als ›häuslich‹ dafür verantwortlich, dass mit den Mitteln der Personalisierung beziehungsweise

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Familiarisierung bestimmte Probleme als persönliche beziehungsweise häusliche Angelegenheiten definiert werden (zit.n. Wuggenig 2005: 8). Eine zunächst vergleichbare Strategie wie Tanja Ostojiü verwendete einige Jahre zuvor die heute in Frankreich lebende und aus dem Iran stammende Künstlerin Ghazel. Das bis in die Gegenwart andauernde Projekt »Wanted (Urgent)« startete sie 1997, als ihr das französische Einwanderungsbüro die Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung verweigerte. Damals produzierte sie einen Flyer mit dem Aufruf: »WANTED Woman (30 yrs. old) seeks HUSBAND«. Nach einer Aufzählung von Eigenschaften, die allesamt als unwesentlich charakterisiert waren, wird unten eine einzige Bedingung angeführt: »EEC nationality, preferably France«. Die in der Folge entstandenen Poster- und Plakatkampagnen konkretisierten sukzessive das Anliegen, denn es ging nicht darum, einen Ehemann finden zu wollen, sondern vielmehr vermittels einer Heirat an die geforderten Papiere zu kommen. Während die Textangaben immer knapper wurden und vielfach mit Kürzeln und Codewörtern operierten, fiel dem eingefügten Bild eine immer zentralere Rolle zu. Letzteres wird häufig variiert – oft ist im Sinne einer Anonymisierungsmetapher ein schwarzer Balken über die Augenpartie gelegt oder eine Bilderserie zeigt sie von mehreren Aufnahmepositionen aus usw. Diese Varianten spielen mit der doppelten Lesbarkeit von ›wanted‹ in Bezug auf ein Gesuchtes und auf ein Begehrtes und sie zitieren Formate der Veröffentlichungspraxen von Bildern gesuchter Personen. Die Künstlerin gab ihrem Projekt ab dem Zeitpunkt, als sie 2002 eine auf 10 Jahre beschränkte Aufenthaltsbewilligung für Frankreich erteilt bekam, eine spannende Wendung, indem sie seitdem ebenso in Form von Plakaten Asylanten, illegalen Immigranten und Personen ohne Dokumente die Heirat und mit dieser verbunden die für eine Legalisierung des Aufenthaltes notwendigen Dokumente anbietet.

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Abbildung 3 und 4: Ghazel, »Wanted«, 1997; Ghazel, »Wanted«, 2005 both: © Ghazel and ADAGP Die genannten Arbeiten von Ostojiü und Ghazel nahmen ihren Ausgang in einer misslichen Situation, die trotz aller Vorbehalte als persönliche Situation gelesen werden kann, doch in der Arbeit selber wendet sich das Ich zur Figur und die Authentizität der handelnden Person zum ›Acting‹;6 diese Verschiebung zeigt deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine öffentliche Inszenierung des Privatlebens handelt, obgleich die Grenzen von privat und öffentlich zur Disposition stehen. Beide Projekte setzen sich mit Migrationsproblematiken auseinander und handeln von Grenzen als spezifische Orte der Erfahrung. Geopolitische Grenzen generieren per se unterschiedliche Erfahrungen, da sie für Menschen, Waren, Bilder, Informationen etc. durch das Überschreiten oder eben das Nicht-überschreiten-Können konstituiert sind. Wesentlich festzuhalten bleibt, dass Grenzen zwangsläufig verschoben werden müssen, wenn sich ästhetische Strategien mit externen gesellschaftlichen Wirklichkeiten verknüpfen. Dabei geht es auch darum, unterschiedliche Aspekte des Verhältnisses der Kunst zum Alltag und zur Realität zu erkunden.

6

Eine vergleichbare Argumentation führt Sabeth Buchmann für die Arbeiten von Andrea Fraser an. (Buchmann 2003: 99–109) 159

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Verabreden Künstlerische Praxen, die das Wechselverhältnis zwischen profaner Realität und Kunst als ihren Schauplatz, als Ort des ›Ins-Werk-Setzens‹ beanspruchen, versuchen gerade an und mit diesem Ort kulturelle Narrative zu dekonstruieren – so auch jenes der am nachhaltigsten wirksamen Narrative in Hinsicht auf die Nicht-Existenz homosexueller Orte und Bilder im Rahmen der kanonisierten visuellen Kultur. (Vgl. Olesen 2006) Das Projekt »Dating Gil & Moti« startete 2002 in schwulen Internetforen. Die aus Israel stammenden, heute in Rotterdam lebenden Künstler begaben sich in Internetforen auf die Suche nach Liebhabern aus dem arabischen Raum und verfolgten damit die Idee einer ›politischen Vermählung‹, indem sie einen Kommunikationsraum zu schaffen beabsichtigten, der die kulturellen, religiösen und politischen Feindschaften überwinden helfen sollte gemäß dem Sprichwort, dass Liebe Brücken bauen kann. »Dating Gil & Moti« beinhaltet bereits, dass die ›Verabredung‹, das Date, immer beiden galt – die daraus entstanden Liebesaffären haben sie in ihrer Ausstellung ›Love Stories‹ 2006 in der Galerie De Praktijk in Amsterdam ›veröffentlicht‹. Ölbilder, Aquarelle, Objekte, Videos, Fotoprints, auch Kleidungsstücke, thematisieren ihre Erfahrungen und Eindrücke; angesprochen sind weiters auch die Wirkungen der Affären auf ihre Beziehung (beide sind seit 2001 verheiratet). Trotz aller Entäußerung und Zurschaustellung nimmt hier die aus den Massenmedien mittlerweile vertraute »Ausleuchtung des Intimen« eine andere Wendung: Von Beginn an stand die Frage des prozessualen Raumes im Mittelpunkt, als Raum, der individuelle Sehnsüchte ebenso markiert wie gesellschaftspolitische Machtverhältnisse, aber als solcher auch die Herausforderungen bereitstellt, die es zu queren und zu »queeren« gilt. Die Parallelisierung von geopolitischen Grenzüberschreitungen mit sexuellen »Entgrenzungen« beziehungsweise einer subversiven Körperpolitik erzeugt eine Unbestimmtheit, wem oder was genau die Überschreitung gilt, aber dies trägt wiederum viel zur Attraktivität dieses Projektes bei. Doch was bedeutet ein Ineinanderfügen dieser beiden Grenz-Passagen und wer kommt in den Genuss einer Grenzauflösung?7 Trotz dieser offenen Fragen visualisieren die künstlerischen Projekte von Gil & Moti seit Jahren und unabhängig davon, welche künstlerisch-ästhetische Bedeutung ihnen beigemessen wird, wie ein (sexuelles) Begehren geformt, aber auch wie es wahrgenommen wird, und welche Effekte diese Wahrnehmung wiederum auf das Begehren selber ausübt. 7

Ähnliche Fragen erörterte Hanna Hacker in ihrer vergleichenden Analyse der heteronormativitätskritischen mit den globalisierungskritischen Diskursen. (Hacker: 2006) 160

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Das »Dating Surveillance Project« (1998–2004) der kalifornischen Künstlerin Laurie Long zeigt bereits wesentliche Veränderungen und Wandlungen der Vorstellungen, die wir von einer romantischen Liebe, einer sexuellen Beziehung, einem Date haben. Sie organisierte BlindDates, verabredete und traf sich mit den Kandidaten in öffentlichen Räumen, wie Hotelbars, Cafés oder auch Spielhallen. Diese Treffen wurden von einer versteckten Kamera, die sie unter ihrer Jacke trug, ebenso aufgezeichnet wie auch das nach jeder Begegnung erfolgte Resümee, das sie zumeist in einem Waschraum vor einem Spiegel zog. Humorvoll und auch ironisch werden vor ebenfalls laufender Kamera die jeweiligen Geschehnisse rekapituliert; die Aufzeichnungstechnik ist der Spionage entliehen, nur nimmt hier die Künstlerin eine doppelte Position ein – sie fungiert als Spionin, ist aber auch gleichzeitig selber Teil dessen, was ausgekundschaftet wird. Die Künstlichkeit der Begegnungssituationen wurde einerseits durch die Art der Gesprächsführung, die an vielen Stellen wie ein Verhör anmutet, hervorgehoben, sie wird aber andererseits noch weitaus mehr durch die gehemmte Atmosphäre, die verbalen Peinlichkeiten, die oftmals von einem gähnenden Schweigen durchbrochen sind, betont. Die zur Präsentation dazugehörenden Fotografien dagegen zeigen Momente jener geheimnisvollen, mysteriösen Aura romantischer Begegnungen, die im Video verborgen bleibt. Obwohl diese Fotografien nichts anderes als vergrößerte Filmstandbilder sind, weisen sie eine fast gegensätzliche Atmosphäre auf. Für die Videoaufzeichnung lässt die eingesetzte Kamera das »Geschehen« quasi als antizipiert und die romantische Begegnung als Reproduktion erscheinen. Indem die technische Aufzeichnung und die körperliche Inszenierung, d.h. hier die Überwachung und die soziale Handlungsfähigkeit, als aufeinander bezogene Praktiken gezeigt sind, wird eine Komplizenschaft offenbar, die als ein Effekt der Kontrolle in die Repräsentationslogiken des Selbst bereits eingeschrieben ist. Diese Doppelung der Bildfunktion (im Bild als Bild) lässt sodann auch die Standbilder weniger als authentische Dokumente des Geschehens lesen, denn in ihrem mit höchster Suggestivkraft Ausgestattet-Sein.

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Abbildung 5 und 6: Laurie Long, Silbergelatin Prints from »Dating Surveillance Project«, each 20" x 24", 1998 und 2001. both: © Laurie Long Gilles Deleuze bezeichnet in seinen Skizzierungen der Kontrollgesellschaft anhand von Beispielen aus Bildung, Forschung und Medizin solche Veränderungen als Modulationen individueller Körper in ein »dividuelles Kontroll-Material« entlang einer binären Passform-Logik, die von Computersystemen dechiffriert wird. (Deleuze 1993: 260) Diese Logik thematisiert beispielsweise der US-amerikanische Künstler John Miller in einer aktuellen Präsentation (»Total Transparency«, Metro Pictures, New York, 2006) anhand von Online-Dating-Profilen: Sein Interesse gilt der freiwilligen Angabe von intimen Informationen, die er einerseits als Mittel der Unterhaltung und andererseits als auf eine sexuelle Erfüllung ausgerichtet interpretiert. »Die ganze Idee, eine Anzeige zur Partnersuche aufzugeben, gründet auf mindestens fünf historischen Faktoren: Gegeben müssen sein i) eine kritische, also kosmopolitische Menge von Anzeigenschaltenden und Leser/innen, ii) ein Verständnis von menschlicher Sexualität, nach dem diese als eine Art Markt anzusehen ist, iii) die relative Gleichheit (und damit Austauschbarkeit) der Partner und Mitbewerber, iv) die Fähigkeit, die Partnerwahl als eine Form des Konsums oder als Freizeitbeschäftigung zu verstehen, und v) eine dementsprechende Rationalisierung der Sexualität selbst.« (zit. bei Joseph 2006: 198)

Miller kontextualisiert die individuellen Angaben der Plattform-User/-innen mit in Auftrag gegebenen Fotografien, die seinen Eindruck der Kodierungen sowohl der individuellen Angaben als auch der physischen Räume widerspiegeln: Eine Bar, eine Küche, ein Parkhaus usf. sollen jeweils die Vorstellungen davon, welches Sexualverhalten gebilligt und welches verboten wird, anzeigen. Die Grunddatensätze, die in diese Bilder hineinmontiert sind und über Alter, Größe, Hobby usw. hinaus auch die jeweiligen sexuellen Vorlieben zum Ausdruck bringen, verstärken den Eindruck, dass es sich bei den aufgenommenen Orten und Räumen 162

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um Tatorte handelt. Anders als bei einer früheren Arbeit, für die Miller zwei konträre Anzeigeschaltungen einer Partnersuche einander gegenüberstellte, wobei erstere – die geschmackvollere – dem Anzeigenteil des New York Magazine entnommen war und mit einer im Vergleich dazu vulgär erscheinenden Interessensbekundung aus der (Porno-)Zeitschrift Screw kontrastiert wurde, liegt bei seiner aktuellen Untersuchung der Dating-Plattformen das Interesse auf der Ökonomisierung und Rationalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen und zeigt einen Befund, der sich mit den Studien von Eva Illouz deckt: Keine Partnerschaft und auch keine (romantische) Liebe entgeht ökonomischen Prinzipien. (Vgl. Illouz 2006) Dass in diesem Zusammenhang das Modell der arrangierten Ehe auch in westlichen Kulturkreisen wieder diskursfähig wird, deuteten in den vergangenen Jahren Fernsehsendungen wie »Der Bachelor« (RTL, ORF) oder auch »Dismissed« auf MTV an, obgleich hier der Unterhaltungsfaktor zumeist überwiegt.8 Für die Empfehlung zur Absetzung der Serie »Der Bachelor« im ORF führte der Publikumsrat ausschließlich das Argument der Geschlechterdiskriminierung an. Weitaus bezeichnender ist jedoch die Austauschbarkeit – die der Kandidatinnen ebenso wie die Austauschbarkeit von Beziehungen, Gefühlen oder auch Schicksalen. Hierin deckt sich das Muster dieses Sendeformats mit jenem der DatingPlattformen, wie sie John Miller oben beschreibt. Als hintergründige Arbeit, die diesen Modus der Austauschbarkeit ironisiert, ist die Fotoserie »Omiai « von Tomoko Sawada, einer jungen japanischen Künstlerin, zu sehen; bezogen auf die nach wie vor in Japan lebendige Tradition der arrangierten Ehen fertigte sie eine 30teilige Fotoserie an, in der sie selber in ebenso vielen Varianten abgebildet ist. Dafür greift sie auf den traditionellen Look von Studioaufnahmen zurück und fotografiert sich mit Selbstauslöser vor dem immer gleichen süßlich-kitschigen Hintergrund: Ob im Businesskostüm, im traditionellen Kimono oder in einen Leopardenfellmantel gehüllt – sie gibt eine Varianz von ihrem Aussehen, ihrem Stil, ihrer Persönlichkeit zu sehen, die einerseits mit dem Modus des Wählbaren spielt und andererseits sich aber über alle Vorstellungen und Regeln hinwegsetzt, die man mit einem ›verbindlichen‹ Angebot assoziiert.

8

Vgl. den Beitrag von Vrääth Öhner in diesem Band. 163

HILDEGARD FRAUENEDER

Abbildung 7 und 8: Tomoko Sawada, »OMIAI «, 2001. Farbfotografie in Folder, je 30 cm x 25 cm. © Tomoko Sawada, Courtesy MEM INC.

Kommunizieren Von der Effizienz und Struktur der ersten Kontaktaufnahme und Vernetzung im Kunstbetrieb handelt eine künstlerische Aktion der aus Österreich stammenden Künstlerin Manuela Mitterhuber, durchgeführt in der Cité in Paris. Die Cité ist ein Ateliergebäude im Zentrum von Paris, in dem sich fast durchgehend aus knapp 50 Nationen an die 350 Künstler/innen temporär – vielfach über nationale Stipendien – einmieten können. An diesem Ort organisierte Mitterhuber im Sommer 2005 das »Rendezvous Amicale Vite. Ein Raum, ein Tisch, eine Stunde und drei Minuten pro Gespräch«, für das sie den Modus eines »Speed-Datings« wählte. Die dem Aufruf (ein in die Postfächer gelegtes DIN-A4-Blatt) gefolgten Künstler/-innen wurden an einen langen schmalen Tisch gebeten und die jeweils einander Gegenübersitzenden hatten 3 Minuten Zeit, sich einander vorzustellen und Kontakt aufzunehmen, bevor sie reihum die Plätze wechseln mussten, um sich erneut und immer wieder einer unbekannten Person zuzuwenden.

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Abbildung 9: Manuela Mitterhuber, »Rendezvous Amicale Vite«, Videostills, 2005 © Manuela Mitterhuber Das im heutigen Kunstbetrieb so unabdinglich erscheinende gezielte Knüpfen von Kontakten wird hier zu einer überspitzten Darstellung eines Prinzips, das für ein sowohl ökonomisches als auch soziales Weiterkommen, für Karrieren und Anerkennungen als unerlässlich gilt. Dieser Modus der absoluten Maximierung von Zeit und Effizienz liegt auch einer neuen Form der Online-Partnersuche zu Grunde, die sich Speedmatching nennt. Hierbei werden die Zielgruppen genauestens eingekreist, die Wahlmöglichkeit wird auf 6 Partner/-innen minimiert und die Zeit des telefonischen Kontaktes streng begrenzt. Den Teilnehmer/-innen werden 4 Minuten gegeben, nach deren Ablauf die Verbindungen automatisch unterbrochen werden und man zur nächsten Person übergehen kann. Jeder dieser sechs Kontakte soll mit ›ja‹, ›nein‹ oder ›vielleicht‹ beurteilt werden. Eva Illouz verweist darauf, dass hier die Internettechnologie der Forderung nachzukommen scheint, »für sich selbst das beste (ökonomische und psychologische) Geschäft zu machen. Genauer, die psychologischen Kategorien finden Verwendung, um die romantischen Begegnungen in die konsumistische Logik der zunehmenden Spezifizierung, Definition und Verfeinerung des Geschmacks zu integrieren. Der Konsumismus wird herangezogen, um die Qualität des (romantischen) Geschäfts zu verbessern.« (Illouz 2006: 129)

Die Installation »wenn…wer…wem…applaudiert« von Peter Haas 2006 verweist in einer direkten Anspielung auf die Figur der Anrufung: sie ist ein »Bastard« aus versteckten Andeutungen, mehrdeutigen Aufforderun165

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gen und nicht sofort erkennbaren Zitaten, das Verabredung wie auch Beziehung »performt« – allerdings »heimlich in aller Öffentlichkeit«. Wie eingangs zitiert verstand Vito Acconci Kunst als Anlass der Begegnung, des menschlichen Kontakts, die er changierend in einem Sich-Zeigen/Sich-Verstecken durchspielte. Peter Haas errichtete mit einer Vorhanginstallation eine Art ›Versteck‹, in dem die Besucher/-innen nach vorgegebenen Anleitungen verschiedene Kunstwerke imaginär abrufen und diesen applaudieren sollten, wobei der Vorhang selbst eine bekannte Arbeit von Maria Eichhorn zitiert. Auch diese kritisch-ironische Darstellung einer Kommunikationskunst als Verabredungsform impliziert die Figur der Anrufung, denn auch das Zitat ist eine Anrufung, und zwar in einem Modus, der der Autorisierung und, wie Allerkamp schreibt, der Akkreditierung dient. (2005: 11) Wie die Mitspieler/-innen sich im Applaudieren den anderen Besucher/-innen nur akustisch vernehmbar zeigen, setzt hier der Künstler nicht auf einer ästhetisch wahrnehmbaren Ebene, sondern konzeptuell ›verborgen‹ das Zitat in den Raum: Denn der rote Vorhang ist zunächst nur Dekor, er ist zwar Blickfang, lädt aber nicht zum kontemplativen Betrachten ein. Er fordert im Gegenteil ein, eine andere Ebene des Bedeutens wahrzunehmen. Offensichtlich liegt hier die Rolle des Publikums – wie auch bereits bei Acconci – nicht mehr darin, aus der Distanz etwas zu betrachten, sondern aktiv an einem Geschehen teilzunehmen.

Abbildung 10: Peter Haas, »wenn…wer…wem…applaudiert«, Installationsansicht, 2006 © Galerie 5020 Galt die Einbeziehung und Aktivierung des Publikums zumeist der Verabschiedung eines tradierten Werkverständnisses, mithin dem Status des künstlerischen Objektes, wird bei Haas die produktionsästhetische mit der erfahrungsästhetischen Perspektive zusammengenommen behandelt. Der Applaus ist ein historisch kulturell herausgebildetes Ritual, das an sich eine spezifische Form der Partizipation darstellt und die Möglichkeit bereithält, den Modus der Anerkennung oder der Begeisterung selber zu bestimmen. Erst mit dem Applaus tritt das Publikum als rezipierendes in Erscheinung, das nicht nur einer Aufführung beiwohnt, vielmehr diese in 166

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ihrer ästhetischen Aussage beglaubigt, akkreditiert. In Ausstellungsräumen hat dieses Ritual abgesehen von Eröffnungen und sonstigen Veranstaltungen keine Verortung und es ist absolut unangebracht, vor einem Kunstwerk stehend diesem zu applaudieren. Solche zur Partizipation aufrufenden Anordnungen tragen jedoch immer auch das Risiko, dass bei einer unreflektierten Befolgung der Handlungsanleitungen der Weg in eine konsumistische Kunstrezeption vorgezeichnet scheint, wie es bereits in Künstlerkreisen in den 70er Jahren diskutiert worden war. (Umathum 2006: 16) Andererseits ist der Applaus explizit eine interpretierende und reflektierende Reaktion auf etwas Geschautes oder Gehörtes und insofern nimmt er hier eine ambige Position zwischen Partizipation und Distanz ein. Genau diese Logik einer für beide Seiten risikoreichen Anordnung (ähnlich risikoreich ist auch das fremden Personen anvertraute Geheimnis bei Acconci) wird hier aufgezeigt und zur Disposition gestellt.

Hervorbringen Die Kunst bedient sich nicht nur der Praktiken des Online-Datings, sie setzt sich auch in ein Verhältnis zu diesen, gleich ob sie diese Form der Kontaktvermittlung kritisiert oder affirmiert. Die Anwendung von Kontaktvermittlungen kann als Übertragung beschrieben werden, die in der Kunst zumeist provozierend eingesetzt wird, die auch den Effekt besitzt, »das Publikum auf Phänomene zu stoßen, die diesem bis dahin der Aufmerksamkeit nicht wert schienen« (Sanio 2004: 310). Obgleich alle genannten Arbeiten in einer Bezugsetzung von Kunst zu sozialen Phänomenen agieren, ging es doch in den wenigsten Fällen darum, die Partnersuche in Dating-Foren zu thematisieren oder gar zu kritisieren. In den bewusst inszenatorischen Arrangements geht es vielmehr um neue Konstellationen, die in die laufende Herstellung und Unterdrückung von Sichtbarkeit intervenieren – allerdings nicht im Sinne einer »kunstmetaphysischen Sichtbarkeit«, vielmehr in einer dem Sichtbaren spezifischen Verbindung von Seh- und Denkweisen und ihren materiellen Praktiken.9 Die kommerziellen Dating-Plattformen werben mit Millionen von Singles, die »auf dich warten«, mit denen man sich verabreden und tref-

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Das heißt auch, dass es eben nicht bloß um Sichtbarkeit geht, beispielsweise jener von mit Migration verbundenen Problemen. In der heutigen Medienkultur nimmt in Hinsicht auf Marginalisierte die Sichtbarkeit eher zu, allerdings geht dieser Prozess nicht mit einer Zunahme an politischen Rechten und Möglichkeiten einher. 167

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fen kann, und man darf erwarten, von der Masse in der Masse gefunden zu werden und umgekehrt zu finden. Das mitunter als langwierig und umständlich empfundene Abtasten von gemeinsamen Interessen, Vorlieben und Abneigungen übernimmt laut Werbestrategen der Computer. Was impliziert diese Übernahme? Das Ritual der Umwerbung, der Annäherung, der Arten und Weisen von Begegnung, die Liebe entstehen lassen, wird – zumindest am Beginn – einer Technologie anvertraut, die ein kodiertes und kodierendes Werkzeug darstellt. Der in der Werbung angepriesenen millionenhaften »Fülle« gegenüber steht die Notwendigkeit, die eigene »Marktposition« zu verbessern und das eigene Profil so anzulegen, dass es in dieser Fülle, in der Masse, Beachtung findet. Jede/-r befindet sich zugleich in der Position des Adressaten wie auch des Adressierenden. Eine Adresse fordert – wie die Anrufung auch – zu etwas auf, sie bezeichnet eine noch zu vollziehende Handlung und sie stellt stets in Beziehung. Durch den Akt der Anrufung – und vor allem in deren doppeltem Sinn von Unterwerfung und Hervorbringung – erhalten wir einen Platz im sozialen Raum. Dass die der Sprachtheorie verhafteten Figuren der Adresse und der Anrufung für Interpretationen von Verabredungsformen respektive deren Verwendung und Wendung in künstlerischen Arbeiten herangezogen werden können, zeigt Judith Butler in einer Darstellung der Anrufung als eine Anrede, die das Subjekt in seinen gesellschaftlichen Umrissen in Raum und Zeit zwar hervorbringt, aber ihr Ziel nach Anerkennung einer Autorität regelmäßig verfehlt. (Butler 2006: 59) Judith Butler setzt sich in »Haß spricht« – wie bereits in früheren Texten auch – mit der berühmten Anrufungsszene auseinander, die Althusser in »Ideologie und ideologische Staatsapparate« anführte, bei der ein Polizist einem Passanten »Hallo, sie da« zuruft und dieser (wie potentiell alle, die den Ruf ungerichtet hören) im Moment des Sichangesprochen-Fühlens eine bestimmte Identität erhält und der Ruf durch die Geste der Übernahme oder Aneignung zur Anrufung wird. (58) Butler schlägt nun vor, die Anrufung von der Sprache zu lösen10, und stellt fest, dass dieser eine von der Geste der Übernahme unabhängige Kraft zukommt, die auch bei einer Zurückweisung des Rufes wirksam bleibt. Denn das Ziel der Anrufung ist nicht deskriptiver, sondern inaugurativer Art. Dennoch bleibt der letzte Ursprung der Anrufung im Ungewissen wie auch seine Funktionsweise letztendlich unvorhersagbar ist. (59f.)

10 Auch Isolde Charim verweist darauf, dass die Anrufung nicht rein verbal ist und nur ein erweiterter Diskursbegriff der Konzeption einer Anrufung ›in und durch‹ die Praxen gerecht wird. (2002: 140) 168

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»Wenn derjenige, der die Anrede aussendet, sie nicht als Autor verfaßt, und derjenige, den sie kennzeichnet, nicht durch sie beschrieben wird, dann übersteigen die Funktionsweisen der anrufenden Macht das Subjekt, das durch sie konstituiert ist, wie umgekehrt die solchermaßen konstituierten Subjekte die Anrufung übersteigen, durch die sie gleichsam ins Leben gerufen werden.« (60)

Das System Kunst fordert Namen und adressiert die Werke an diese zurück und vice versa, es sichert in der Wiederholung der Namen – in der Wiedererkennung – die Autorschaft ebenso wie die Künstleridentität. Einen vergleichbaren Modus stellt auch Mercedes Bunz in Bezug auf das Internet fest, indem sich in den vergangenen Jahren verstärkt technische Verfahren beobachten lassen, mit denen die User, also die Subjekte sichtbar gemacht werden. Obgleich zu unterscheiden ist, in welchen Anwendungen ein User anonym bleiben oder als adressiertes und adressierbares Individuum erkennbar sein möchte, spielt doch in beiden Fällen die Figur des Subjekts eine grundlegende Rolle, die mit der Politik der Sichtbarkeit zusammenhängt. Die Bezüge der Cookie-Technologie zur Figur der Anrufung sind naheliegend, vor allem »wenn man erstens die Anrufung als Zuteilung einer Adresse, als Set-CookieFunktion begreift, zweitens die Anerkennung des Subjektstatus als Annahme des Cookies liest, aus der drittens die Wiedererkennung resultiert, der wir das personalisierte Angebot verdanken, das wir bei Amazon oder Ebay durchaus zu schätzen gelernt haben«. (Bunz 2005: 2)

Mercedes Bunz bezeichnet diese technischen Implementierungen als Akt der Zivilisierung des Netzes mit der Absicht der »Bildung von mündigen Bürgern« (6). »Zwar erlaubt die Spur, das Subjekt zu kontrollieren, doch die Gewalt ist nicht ursprünglicher Teil der Technologie, in die sich die Spur einschreibt, sie ist dem Subjekt selbst inhärent.« (6) Mit Mercedes Bunz lässt sich abschließend sagen, dass die Form des Subjektes, wie dieses im Internet erscheint, dem Medium nicht gegeben ist, und auch dem Kunstsystem nicht vorgängig ist. Viele der in diesem Text angeführten künstlerischen Arbeiten handelten nicht primär von Identitäten oder Intentionalitäten einzelner Subjekte, sondern von den Politiken, die sie bedingen und formen, mithin von Einschreibungen, von Unterwerfungen und Teilungen. Auch in Hinsicht auf temporäre und jeweils neu einzunehmende Subjektpositionen ist die Frage, in welchem Feld das Subjekt »Subjekt« ist und wovon es Subjekt ist, immer wieder neu zu stellen.

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L i t e r at u r Acconci, Vito (1981): Arbeiten in Deutschland, 1971–1981. Workshop in Zürich, Katalog, Köln/Zürich. Hier zitiert nach Flach, Sabine (2003): Körper-Szenarien. Zum Verhältnis von Körper und Bild in Videoinstallationen, München: Fink, S. 159–160. Allerkamp, Andrea (2004): »Anrufung und Übertragung«. In: Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.), Übertragung – Transfer – Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, Bielefeld: Kerber, S. 11–31. Allerkamp, Andrea (2005): Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur, Bielefeld: transcript. Buchmann, Sabeth (2003): »Es kann nicht jede/r Andrea heißen. Zu den neuen Arbeiten von Andrea Fraser«. Texte zur Kunst, Heft 52, S. 99–109. Bunz, Mercedes (2001/05): Das Subjekt und das Netz. Zu einer Politik der Sichtbarkeit. Vortrag an der Universität Lüneburg 2001. Abrufbar unter: www.mercedes-bunz.de/index.php/theorie/subjekt-undnetz/ (Stand 19.02.2007) Butler, Judith (2006): Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Originalausgabe: Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York: Routledge 1997). Charim, Isolde (2002): Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologiekritik, Wien: Passagen Verlag. Daniels, Dieter/Frieling, Rudolf (Hg.) (2004): Medien Kunst Netz. Band 1, Medienkunst im Überblick, Wien/New York: Springer. Daniels, Dieter/Frieling, Rudolf (Hg.) (2005): Medien Kunst Netz. Band 2, Thematische Schwerpunkte, Wien/New York: Springer. Deleuze, Gilles (1993): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«. In: Gilles Deleuze, Unterhandlungen. 1972–1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 254–262. Föllmer, Golo (2004): »Audio Art«. In: Dieter Daniels/Rudolf Frieling (Hg.), Medien Kunst Netz. Band 1, Medienkunst im Überblick, Wien/New York: Springer, S. 80–99. Hacker, Hanna (2006): »Ohne Queeren: keine Grenze. Historische Erzählungen von Translokalität und sexuellem Selbst«. Trans, InternetZeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 16, abrufbar unter: www.inst.at/trans/16Nr/05_6/hacker16.htm (Stand 19.02.2007) Hantelmann, Dorothea von (2006): »Formen der Teilhabe im Dispositiv der Kunst. Zu Daniel Burens Le Musée qui n’existait pas«. In: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München: Fink, S. 75–93.

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DER »TAG«

BILD. »I C H «-S H A R I N G I M K O L L E K T I V E N U N I V E R S U M DER VISUALISIERTEN SCHLAGWORTE IST DAS

BIRGIT RICHARD/ALEXANDER RUHL Einleitung Medial gelenkte und technisch organisierte Szenarien zur Zusammenkunft Gleichgesinnter im Internet als universelle Plattform für solche Begegnungsszenarien sollen hier in den Mittelpunkt gestellt werden. Dieser Artikel thematisiert und vergleicht unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme, in denen eine gemeinsame »ästhetische« Praxis in Gruppen ausgeübt wird: Das Fotosharing im Internet steht den Verwendungen in der Netz-Kunst gegenüber. Die hier angestellten Untersuchungen streifen das medienstrukturelle Phänomen nur, sie leisten keine werkimmanente Analyse des eigentlichen Bildmaterials und seines formalen Aufbaus, der Gestaltung und der Vor- und Nachbilder des Ausgestellten. Von ihren kulturhistorischen Ursprüngen ist die Netzkunst punktuell Pionier der kreativen Technikverwendung, ein Entstehungsort für Verwendungsweisen, die über die landläufige und ursprünglich angedachte Nutzung hinausgehen. Künstler und Bildprofis sind heute aber nicht mehr allein im Netz. Das kollektiv mit Inhalten bestückte »Web 2.0« und insbesondere flickr (www.flickr.com) zeigen, dass Publizieren nicht länger Privileg professioneller Bilderzeuger ist. Millionen Nutzer/-innen produzieren mit Digitalkameras oder dem Handy permanent Bilder, die fortlaufend ins Internet geladen werden und das weltweite Bilduniversum mit »neuem« visuellem Material beliefern. Mit flickr wird jeder Mensch zum Bildveröffentlicher und authentischen Bilderverteiler. Bilddistribution wird als Massenbewegung sichtbar: Im Zeiten des Web 2.0 bietet das Internet neben Wikis, Weblogs und vielen anderen Möglichkeiten eben auch das Fotosharing, den pragmatischen Umgang mit digitalem Fotomaterial: Sammeln, Sichten, zur Schau stellen, den Bildertausch und das Kom-

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mentieren der visuellen Erzeugnisse erlaubt. Es entsteht ein globales Netzwerk, dessen Besonderheit die Kommunikation über Bilder darstellt. Mit dem Web 2.0 (vgl. O’Reilly 2005) haben sich Nutzungsweisen etabliert, die zentral auf das Engagement von zahlreichen Beteiligten setzen. Die Verwendung vernetzter Computer zielt hierbei anders als in Netzkunstprojekten weniger auf den Entwurf möglichst neuer und exotischer Handlungsräume, sondern attraktive Angebote im Netz konzentrieren sich vielmehr darauf, eine »überschaubare« Anzahl an praktikablen Optionen von leicht zu erschließenden Partizipationsmöglichkeiten bereitzustellen. Sie sind daher auch für technisch weniger versierte Nutzer/ -innen unmittelbar und intuitiv zugänglich. Die Nutzungsangebote knüpfen an eingeführte Umgangsweisen an, die durch den alltäglichen Umgang mit dem Internet im Laufe der letzten Jahre zur Selbstverständlichkeit wurden, etwa im routinierten Versenden von E-Mails und der allgemeinen Informations-Recherche. Hier zeigt sich eine veränderte Verwendung von Computern: Die Bedeutung der eingesetzten Technik selbst tritt in den Hintergrund und die darüber bearbeiteten Inhalte oder der medial vermittelte Austausch untereinander können den maßgeblichen Stellenwert für sich beanspruchen. Die konsequente Anpassung der universell adaptierbaren digitalen Technologien an menschliche Interessen prägt somit die Qualität des kollektiv etablierten Internets in seiner Rolle als ermöglichende Plattform unterschiedlichster Szenarien. Der sorgfältige Zuschnitt auf die verfolgten Intentionen von Nutzer/-innen lässt die Beschäftigung mit den im Netz repräsentierten Gegenständen zur entscheidenden Größe werden, womit die Auseinandersetzung mit den Inhalten zum entscheidenden und motivierenden Element wird. (Vgl. Schönberger 2000) Unsere westliche Gesellschaftsordnung gründet maßgeblich darauf, dass Kreativität und Wissen immer klar auf ein Individuum, einen Autor oder Urheber zurückzuführen sind und in einem klar benennbaren Werk ihren Abschluss finden. (Vgl. Foucault 1988) Kollektive ästhetische Praxen werden im Allgemeinen wenig diskutiert. Nach der Skizzierung verschiedener kollektiver Phänomene der Offline-Welt, wie jugendlicher Vergemeinschaftungsformen, werden künstlerische und ausgewählte mediale Formen der Netzkultur einander gegenübergestellt. Bei den zeitgenössischen Jugendkulturen lässt sich seit einer Dekade die Transformation von »peer groups« zu größeren kollektiven Einheiten wie »Tribes« oder »Nationen« (z.B. Rave- und Rap Nation) ablesen. Die Peergroup-Formation des Nahbereichs wird erweitert und umbenannt zu Posse (etwa SWAT 1991 Berlin), Crew, Clan oder Neighbourhood (mit Einbeziehung des Raumes) wie im HipHop oder wie bei der 2step-Bewegung zum Kollektiv (bspw. Gush Collective aus dem Ruhrgebiet).

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Viele Beispiele lassen sich im HipHop nachweisen, die Mongo Klique aus Hamburg oder das Stuttgarter Kolchose Label, wobei zur Abgrenzung gerne Anleihen bei Begriffen kollektiver Organisationsformen des Sozialismus gemacht werden. Aber auch über das Netz zusammengeschlossene DJ-Kollektive (z.B. weibliche Netzwerke wie www.sistersf. com) gilt es zu erwähnen. Die kollektive Produktion soll ökonomische und lokale Beschränkungen aufbrechen, etwa mit virtuellen Studios, in denen in gemeinsamen Online-Sessions gejammt und Musik produziert werden kann. Charakterisiert sind diese kollektiven Formen in den Jugendkulturen durch einen losen momenthaften Zusammenschluss, der sich elementar über das gemeinsame Tun und gemeinsame Projekte definiert und sich immer neu formieren kann. Die Kombination von kollektiver Rezeption und Produktion findet in der gegenwärtigen Dancefloorkultur (Techno, House, 2step) statt. Der hier konstruierte kollektive Kontext ist zunächst frei von künstlerischer Urheberschaft und individueller Genialität, die als normative Kategorien des Kunstbetriebs abgelehnt werden. Diese Einstellung schlägt sich in den verwendeten Projektnamen und Pseudonymen nieder (z.B. Cybotron). Die Clubkultur durchläuft auf der Produzentenseite verschiedene Stadien: vom Ideal des anonymen Projektnamens, über den Star-DJ des Massentechno, bis zu den Produzentenkollektiven wie Crew und Collective in der Gegenwart. (Vgl. Richard 2005) Die hier kurz gestreiften gegenwärtigen kollektiven Produktionsansätze in den Jugendkulturen werden vom Prinzip der Appropriation geleitet. Enteignung, Transformation und Modulation von einzelnen Elementen der Musikgeschichte sind Leitmotive für Bearbeitungsschritte wie Remix und Sampling im HipHop und Techno. Der individuelle Werkcharakter wird aber vor allem in der Techno- und House-Szene durch den Wechsel vom Song zum Track bewusst gebrochen. Die Tracks sind Bausteine und Rohmaterial für ein im Prozess entstehendes, auf Interaktion, also Tanz, ausgerichtetes musikalisches Endlosband. Sie leben erst als Teil dieses Prozesses und sind nicht in sich abgeschlossen. Die Tracks sind eine Art von kollektivem Eigentum, weil erst die DJs sie zum Leben erwecken, wenn sie damit im Club oder Studio arbeiten. Das Teilen des musikalischen Rohmaterials zur Stilbildung ist schon seit jeher konstituierendes und Gruppen erhaltendes Mittel jugendkultureller Szenen gewesen. So zeigt sich auch in der Praxis des »bootlegging« im Bastard Pop (vgl. Richard 2004) die Aneignung ökonomisch fixierten Materials und damit seine Verwandlung in eine kollektive Ressource für die Community, die Möglichkeiten der individuellen Arbeit mit dem Rohmaterial eröffnet. Bei diesen Prozessen stehen nicht

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die Einmaligkeit des Produzierenden und sein »Werk« im Vordergrund, es ist vielmehr die Kommunikation in und mit der Gruppe.

Künstlerische Netzkollektive Kollektive Produktion und Autorenschaft werden in der digitalen medialen Struktur des Hypertexts und im Internet als grundlegend neue Bedingungen für kreatives Arbeiten diskutiert. (Landow 1992) Sie zeichnen sich aus durch das Zusammenwirken mehrerer Künstler und können sich auch in der Heterogenität der resultierenden Produkte niederschlagen. Gleichzeitig beziehen viele künstlerische Software-Arrangements auch explizit die Rezipienten als aktive Produzenten mit ein. Netzkunst lässt sich aus mehreren Gründen schlecht in den Kunstbetrieb integrieren: Sie ist immateriell und prozessual, selten ein starres Produkt. Wenn dann noch die anonyme oder kollektive Produktion in den Vordergrund gestellt wird, dann läuft dies der kunsttheoretischen Erfassung und Kategorisierung und damit der Vermarktbarkeit zuwider. Die Netzkunst, die das Internet als Plattforum für künstlerische Arbeiten nutzt, zeigt leider jetzt schon, dass sie auch nur einen punktuellen Bruch mit dem herkömmlichen Kunst- und Künstlerverständnis vollziehen kann. Protagonisten der Netzkunst wie Vuk Cosic wurden in den späten 90er Jahren des 20. Jahrhunderts (www.ljudmila.org/~vuk), trotz ihrer Versuche, die Paradigmen der individuellen Produktion zu durchbrechen, wieder Teil des Systems. (Vgl. Drühl 2006) Das Prinzip des geistigen bzw. kreativen Eigentums und auch ökonomisch bedingte Einschränkungen wie das Copyright werden im Netz durch Ansätze wie Copyleft und Plagiarism infrage gestellt. Die Netzkunst aktualisiert gerade die peripheren Praxen des Kunstbetriebes und stellt sie in den Mittelpunkt: neben dem kollektiven Arbeiten (z.B. rtmark, www.rtmark.com) sind es Appropriation und Kopie (Plagiarism), Anonymität und die Entwertung des Eigennamens, der als Plattform für viele Künstler und Nicht-Künstler fungiert (etwa Luther Blissett, www.lutherblissett.net). Damit führt sie Strategien des Surrealismus und des Situationismus weiter. Ein im Internet arbeitendes artistisches Kollektiv verbindet die individuellen Talente für ein gemeinsames Projekt. Das System Kunst kann mit den kollektiven Werken nicht umgehen, weil sie sich dem ordnenden Zugriff des Blickes und damit vor allem der kategorisierenden Sicherheit des Einordnens von Einzelkünstlern entziehen. Die Bestimmung, wer, was, wie gemacht hat, entfällt, da das Werk ständig im Fluss sein kann. Formen wie Plagiat, Kopie und ein

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Agieren unter einem Pseudonym als Verfahren der Netzkunst, gelten als Störung nicht nur der internen künstlerischen Ordnung. Die kulturelle Grammatik der westlichen Gesellschaften (Blissett/ Brünzels 1998: 25) bleibt in den virtuellen Welten wie in der Realität zwar unsichtbar, implementiert sukzessiv aber Ordnungen, die zur Selbstverständlichkeit werden und zu einer spezifischen Parzellierung des Cyberspace beitragen. (Vgl. Richard 2001) Die hier zum Tragen kommende abstrakte immaterielle Form der Machtausübung zielt in anderer Form auf Diskursverknappung. (Foucault 1974) Sie trifft insbesondere die textbasierten Strukturen des Internets, in denen ein wesentliches Prinzip der Machtausübung die Kontrolle des Namens in der Beherrschung der Adresse, der URL und ihrer Nachbarschaft ist. Deshalb sprechen im Netz, insbesondere in der Netzkunst, einzelne Personen mit vielen Namen, z.B. über unzählige E-Mail-Accounts Nechtova Nezanova, Frederic Madre, antiorp, integer und mindfukc. Sie erproben Formen einer textuellen Mailinglisten-Hydra, die sich nicht beherrschen lässt (z.B. Frederic Madre: www.pleine-peau.com, E-Mail: [email protected]). Ob es ein Konzept der multiplen Namen für eine Person oder eine Gruppe ist, bleibt unklar und verunsichert Abonnenten wie auch Moderatoren von Mailinglisten massiv. Diese künstlerischen Störungsstrategien dringen in Infokollektive wie Mailinglisten ein, die wichtige Garanten für die Teilnahme an bestimmten Online-Welten sind. Die Netzkunst, die sich als eine »Open-Source-Kunst« versteht, löst sich vom traditionellen Konstrukt des »genialisch schöpfenden Individuums«, dem Künstler. Sie ermutigt zur gemeinsamen Arbeit, stellt Material, Ergebnisse, Tools und generelle Strategien zur weiteren Bearbeitung zur Verfügung (z.B. Olia Lialina, www.teleportacia.org/olia.html). Im Internet manifestiert sich die medienspezifische künstlerische Subversion in der direkten Veränderung oder Verdopplung von Codes, in transformierten Skripts und Interfaces, wie z.B. bei den Netzkünstlern jodi.org. Die beliebten Verdopplungsstrategien der Fake-Websites basieren auf der optischen Verdopplung einer Website etwa des politischen Gegners. Die geschilderten Strategien bedeuten auf der Ebene der Kunst Sabotage von systemeigenen Elementen, die die Netzkunst zunächst zu einer nicht zu integrierenden, ästhetischen Erscheinung machen.

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Vom File- zum Life-Sharing. Kollektive Produktion in Gruppen, Szenen und Communitys Konstituierendes Merkmal für ein positiv definiertes Kollektiv ist das Moment der gleichberechtigten Partizipation, das zunächst niemanden ausschließt. Individualität und Egalität spielen hier zusammen. Das permanente Wechselspiel zwischen persönlichen Fähigkeiten und unterstützender, sinnstiftender Gemeinschaft ist entscheidend für einen kollektiven Ansatz in den verschiedenen Bereichen. Der Zugang zu Communitys ist in den meisten Fällen an bestimmte Minimalanforderungen wie eine Anmeldung gebunden. Dies ist notwendig, um die Unverbindlichkeit zu nehmen und enthält dennoch nur einen Hauch von sozialer Verpflichtung, im Unterschied zu elitären Kollektiven. Auch die Temporalität des Zusammenschlusses und das Prozessuale, die eine feste, vorbestimmte und möglicherweise einengende Struktur verhindern, sind wichtige Elemente. Merkmale für die kollektive Arbeit an einem Projekt sind das parallele simultane Agieren an einer offenen Werkstruktur und der Erhalt von Multiperspektivität, die bedingt, dass die Unterschiede nicht wieder unter ein streng umgrenztes Konzept gezwungen werden. Entscheidend ist, dass individuelle Einträge im System möglich sind und diese auch berücksichtigt werden, d.h. dass sie im Prozess sichtbar bzw. nachvollziehbar werden und dort etwas bewirken. Kollektive im Netz bevorzugen statt Produkten Projekte, die reale und virtuelle Erfahrungsräume öffnen oder die eigenen Produktionsbedingungen und ihre Kontexte befragen. Sie sind produzierende und bewegliche Einheiten, keine passiven Entitäten. Die Größe einer solchen Gemeinschaft ist ein entscheidender Faktor, je unüberschaubarer und anonymer eine Community wird, desto schwieriger wird es, gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Unter die Formel Partizipation statt Konsumption lässt sich fassen, was die artistischen und aktivistischen, kollektiven Ansätze von ihren kommerziellen Pendants unterscheidet. Anders als etwa Shopping-Gemeinschaften wie z.B. Letsbuyit.com, die reine Zweckgemeinschaften und punktuell auf ein ganz konkretes Ziel ausgerichtet sind, stellen virtuelle Kollektive eine neue soziale Form des Miteinanders dar, in dem die Kommunikationsstrukturen Teil eines übergeordneten und weiter reichenden Interessen- und Beziehungsnetzwerkes sind, das neben einer unmittelbar ersichtlichen und momentan angestrebten Funktion einer komplexeren Orientierung angehört und daher größeren Sinn- und Lebensentwürfen zuzurechnen ist.

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Die soziale Effektivität der kollektiven Formen ist somit kontextabhängig, wenngleich man selbstverständlich auch kommerziellen Angeboten nicht grundsätzlich eine gemeinschaftsbildende Funktion absprechen kann. Wichtig für das kollektive Arbeiten ist jedoch das Prinzip des Tauschs, dass das bloße Freeriding, also das Mitnehmen von allem, was zur Verfügung steht, ausschaltet. Es geht nicht darum, zu »saugen, bis die Festplatte platzt«; die Reziprozität des Austausches muss gewährleistet sein, um zu einer solidarischen Kollektivbildung zu kommen. (Vgl. Mauss 1990) Große und anonyme Strukturen hemmen den Austausch untereinander und begünstigen den reinen Konsum von Daten. Um dennoch Expansionsmöglichkeiten offenzuhalten, können innerhalb einer Plattform kleinere Einheiten gebildet werden. Diese Tendenz zeigt sich etwa bei der Fotoplattform flickr.com, um trotz der ungeheuren Fülle der eingestellten Bilder gleichartige visuelle Erfahrungen zu teilen. Kollektive können auch durch subtil »verordnete« Formen geprägt sein, die bestehende Hierarchien durch einen Anschein von Beteiligung verdecken. So kann auch die künstlerische Vorformatierung einer Community die Interaktion regeln und bestimmen, wie weit sich die Nutzer/ -innen einbringen dürfen. Es wird also ein bestimmter Rahmen vorgegeben. Diese Lenkung verhält sich, sofern sie bewusst gemacht wird, nicht grundsätzlich konträr zu Public-Domain- und Open-Source-Gedanken. So ist bei flickr.com die Rahmung durch kommerzielle Angebote eindeutig und sichtbar, sie verhindert aber nicht die individuelle Nutzung dieses Netzwerks. Zu den verwendeten »tags«, also den Fotos zugewiesenen Schlagworten, werden in den seitlichen Bereichen der Webseite entsprechende Produkte angeboten. Dies erfolgt auch bei den einzelnen »tags«: In rahmenden Frames werden zu den aufgerufenen Stichworten kommerzielle Angebote eingeblendet. Für seine kommerzielle Ausrichtung nutzt flickr.com zudem die Daten verwendeter Kameras, die wie Datum und Uhrzeit automatisch in die Bilddatei eingefügt werden. Angebote und Informationen über die käuflich zu erwerbenden Modelle werden so passend zu den Bildern dargestellt. Kommerzialität und freie Community-Entwicklung stehen hier einträchtig nebeneinander als zwei Optionen. Zudem bietet die kommerzielle Einbettung auch den Schutz vor Belästigung, da es ein Meldesystem für unerwünschte Bilder (Pornographie etc.) gibt. Auf der anderen Seite sind durch die Eigenschaften der digitalen Reproduktions-, Speicher- und Transfermedien Copyright-Probleme immer schon vorgezeichnet. Diese verschärfen sich durch Verfahren, die beim Kopieren keinen Qualitätsverlust verursachen und so die Unterscheidung Original und Kopie obsolet machen. Ein kollektives OpenSource-Modell wird sich allerdings nicht durchsetzen, solange Mono-

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polisten Autor, Werk und Copyright in Kunst, Jugendkulturen, Software und Netz zementieren. Besonders offene Software-Modelle, die Hierarchien in der Architektur von Netzwerken wie das Client-Server-System umgehen, sind sogenannte P2P (peer-to-peer)-Anwendungen wie Freenet, eMule, Gnutella oder BitTorrent, die über eigene Netzstrukturen verfügen. Indem hier alle eingebundenen Computer gleichberechtigt sind und nicht nur Dienste in Anspruch nehmen, sondern diese auch anbieten können, sind diese Netze nicht zentral abschaltbar oder zu kontrollieren. Sie befinden sich so permanent im Visier globaler Unternehmen, denn diese Filesharing-Systeme erlauben es den Nutzern, ohne zwischengeschaltete Server Daten zwischen ihren Computern auf gleicher Ebene auszutauschen. Damit ist jeder Rechner zugleich auch Server. Der Begriff P2P zeigt mit »peer« (gleichrangig, aber auch gleichaltrig), dass es sich im Ursprung um eine jugendspezifische Nische der Mediennutzung handelt, die keiner wirtschaftlichen Zweckrationalität folgt. Die kollektive Vervielfältigung von symbolischem Kapital in Form des Austausches von Musik ist in Jugendkulturen eine gängige Praxis, die nicht nur aus finanziellen Gründen Setzungen wie das Copyright unterläuft. Schon immer ist der Austausch von musikalischen Daten über verschiedene Reproduktions- und Speichermedien praktiziert worden, vom Tonband über Audiokassetten bis hin zu Napster, das nun fest in den ökonomischen Kreislauf integriert ist. Auch Fotosharing-Communitys wie flickr sind eng mit ökonomischen Interessen verflochten, daher stellt das Tauschen und Verteilen von Fotos und Videos ein neues Problem dar: Austauschfreudige User gehen ein Risiko ein, wenn sie im persönlichen Spiel mit fremdem Bildmaterial die Urheberrechte nicht beachten. Teilweise stellen sie auch gesperrte Informationen ein (z.B. Auszüge aus Tagebüchern und Videos des Amokläufers Sebastian B. alias ResistantX), um diese vor der Zensur zu bewahren und entwickeln so sozial bedeutsame »private Spiegelungstechniken«. Für die eigenen Bilderzeugnisse ist es bei flickr möglich, die Verwendungsarten durch andere Nutzer über die »Creative Commons«-Lizenzen zu benennen. So lässt sich vorab festlegen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Bild verändert oder in anderen Kontexten verwendet werden darf, also etwa ob der Urheber genannt werden muss, ob die zugebilligten Rechte auch für eine kommerzielle Nutzung gelten und die genannten Bedingungen bei Weitergabe der Inhalte erhalten bleiben sollen. Kopieren, Teilen, Verleihen und Tauschen ist ein gemeinsames Charakteristikum von Offline-Peergroups und Online-Communitys auf Software-Basis. In der künstlerischen Praxis ist dieses Prinzip nur in der Netzkunst zu finden. Die beschriebenen kollektiven Austauschprozesse sind nur dann brauchbare Ansätze oder gar ein neues Modell für eine

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gemeinsame kreative Praxis, wenn für die Mitglieder einer Community oder einer Posse/Crew/eines DJ-Kollektivs der gleichberechtigte Zugriff auf das Rohmaterial gegeben ist, die Tools zur Weiterverarbeitung gut erreichbar und bedienbar sind. Die Strukturen und Materialien müssen in der Verarbeitung individualisierbar sein, aber gleichzeitig auch einen kollektiven Arbeitsprozess erlauben.

Visueller Hypertext und die Kunst der Verschlagwortung: »social software« Bei flickr sind die permanent erzeugten Bilder Kommunikationsanlass, genutzt wird die Plattform für alle Themen der visuellen Selbstdarstellung, die Profilbildung erfolgt durch die Mitglieder selbst. Die Webseite unter www.flickr.com/, ein öffentliches Anschlagsbrett programmiert von der Firma ludicorp, bietet zunächst die Möglichkeit, Fotos der dort aktiven Personen zu betrachten. Von den Nutzenden wird dabei ein kollektives Bilduniversum geschaffen, das sich ständig, nämlich mit jedem neuen Bild, Kommentar oder zugewiesenen Schlagwort verändert; es ist prozessual und steht niemals still. Welche Bilder darin zu sehen sind, kann über unterschiedliche Zugangsweisen erschlossen werden: etwa über die Eingabe eines Stichwortes (tag) in die Suchmaske, analog zur Bildersuche mit einer Suchmaschine. Alternativ stehen unterschiedliche Links zur Verfügung, über die entweder kürzlich eingestellte Bilder bzw. solche aus einem bestimmten Zeitraum aufgerufen werden können. Wesentlich ist also die Sortierung der visuellen Informationen: Sie werden nach den häufigsten Schlagworten oder chronologisch, z.B. Bilder des Tages, des Monats (in Kalenderform), nach Autor/-innen oder auch nach dem verwendeten Kameramodell sortiert. Hinzu kommen nutzerbestimmte Ordnungen wie die eigene Favoritenliste – das Prinzip des »social bookmarking«, über das individuelle Präferenzen öffentlich gemacht werden – oder die Anordnung der eigenen Fotos in motivische Sets und in Groups, an denen mehrere User/ -innen beteiligt sein können. Die Darstellung von Groups oder Sets am Bildschirm erfolgt z.B. über automatisch generierte Slideshows (Photostream), die alle Mitglieder einer Gruppe im Moment der Darstellung vernetzen. So wird die Entstehung von kollektiven globalen Motivnetzen westlicher und fernöstlicher Kulturen innerhalb des Kreises der aktiven flickr-Nutzer/-innen sichtbar gemacht. Neben der automatisch gegebenen zeitlichen Verortung können Gebiete auf einer skalierbaren Weltkarte ausgewählt werden, in denen dort aufgenommene Bilder verzeichnet sind. Mit den raumzeitlichen Koordi181

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naten sind zunächst eher statische Bezugsgrößen benannt. Sehr viel differenzierter geben die individuell zugewiesenen Schlagworte, die sogenannten »tags«, Auskunft über zugängliche Motive. Die populärsten dieser frei wählbaren Begriffe sind auf der Website in einem Textfeld zu sehen, wobei der Schriftgrad der ca. 60 gelisteten Wörter umso größer ist, je häufiger das Schlagwort verwendet wird. Begriffe wie wedding, party, travel, friends oder family treten so aus dem Text auffallend hervor. Darüber kann man sich leicht an populäre tags oder an thematische Gruppen anschließen. Mit einem bestimmten tag versehene Fotos lassen sich zudem automatisch zu Clustern zusammenstellen: Dafür werden Bilder hinzugezogen, denen neben dem zunächst aufgerufenen Schlagwort zugleich ein weiteres zugewiesen wurde (z.B. travel und Paris). Bei flickr gibt es somit mehrere Ebenen der Verschlagwortung: »geotagging« ist die geographische Verteilung der Fotohersteller über die Welt und »chronotagging« die zeitliche, beide werden in Kombination visualisiert. Auf der Website springt zunächst die chronologische Ordnung ins Auge: Fotos der letzten sieben Tage, Fotos des Tages, Bilder, die heute vor einem Jahr eingestellt wurden usw. Neben der Verortung durch Schlagworte können die Bilder thematischen Gruppen zugeordnet sein. Diese Gruppen werden von den in diesen Themengebieten Aktiven initiiert, sodass keine begrenzte Anzahl an möglichen Gruppierungen existiert. Gruppen etablieren sich thematisch, z.B. indem etwa besonderer Wert auf die Bedeutung des Fluchtpunkts in Bildern gelegt wird oder ein bestimmtes Motiv im Vordergrund der fotografischen Produktionen oder die Form der Bearbeitung des Bildes steht (z.B. http:// flickr.com/groups/mutants/ Mutants, Mutated, Mutations: Go crazy with Photoshop). Gruppen können sich aber auch regional bezogenen Aufnahmen widmen, wenn ein bestimmtes Land, Gebiet oder eine bestimmte Stadt zum gemeinsam fokussierten Thema wird. Die Gruppen geben dabei teils bestimmte Regeln vor, wie z.B. die Group »Handsignals« (http:// flickr.com/groups/handsignals/) in ihrer Selbstcharakterisierung: »Photos showing people communicating with their hands eg hand signals, hand gestures, sign language etc.« Diese Gruppe formuliert zudem Statute der Political Correctness: »Please dont post more than 3 images per day. Dont post photos of porn or nudity. Dont post ›photoshop creations‹, real photos only please. Please dont post pictures of people smoking or holding cigarettes.« Neben diesen kollektiven Bildsammlungen können einzelne Personen Bilder zu Sets gruppieren, die unter einer bestimmten Überschrift eine Reihe von Bildern vereinen und als Ensemble präsentieren. Auf den ersten Blick erscheinen die dargebotenen Bilder zunächst als Miniaturvorschau, unabhängig davon, auf welchem Weg sie gefunden

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wurden. Um ein Bild zu betrachten, muss das Vorschaubild angeklickt werden, womit es größer und sozusagen auf seiner eigenen Seite erscheint, die nun weitere Informationen zum dargestellten Bild offenbart. Hier zeigen sich die Anhaltspunkte, die flickr zu einem sozialen Netzwerk werden lassen: Es ist nicht nur die Person, die das Bild eingestellt hat, genannt, sondern ebenso ist dokumentiert, welche Schlagworte zugewiesen wurden und welchen Gruppen das Bild gegebenenfalls zugeordnet ist. Zudem werden auf der Seite des Bildes bereits Vorschaubilder von weiteren Aufnahmen eingeblendet, die die Person ebenfalls eingestellt hat. So vorhanden, runden zusätzliche Informationen etwa über Urheberrechte, Aufnahmedatum und Ort, verwendete Kamera usw. die Bildseite ab, wie sich auch Angaben darüber finden, wie oft das Bild bereits betrachtet wurde und welche anderen Nutzer/-innen das Bild zu ihren Lieblingsaufnahmen hinzugefügt haben. Die ebenfalls auf der Seite eines Bildes von einzelnen Personen zum Bild geäußerten Kommentare bilden in ihrer Folge eine Art von Diskussion zum angezeigten Foto. Die nächste Ebene ist wertend auf zwei Weisen: Zunächst quantitativ durch die Angabe, wie viele User/-innen das Foto betrachtet haben, und dann qualitativ durch die Information darüber, wer ein Bild oder ein ganzes Set zu den persönlichen Favoriten hinzugefügt hat. Die Kategorien wie »Most interesting« erschaffen interne soziale Hierarchien: Hier werden die Fotos gezeigt, die am häufigsten aufgerufen wurden. Entscheidend ist aber, von wie vielen Personen das Foto als ein Lieblingsbild (favorite) markiert worden ist. Die Zuordnung zu Personen weist darauf hin, dass eine aktive Partizipation erst nach vorheriger Anmeldung möglich ist. Mit der Anmeldung werden nun auch Zugangsbeschränkungen realisierbar, über welche bestimmte Bilder oder Gruppen ausschließlich für ausgewählte Personen zugänglich gemacht werden können. Die im Rahmen der geschilderten Möglichkeiten geleistete Anreicherung des visuellen Materials mit maschinenlesbaren Informationen – nichts anderes ist die Verschlagwortung und Klassifizierung jedes Bildes – lassen einen visuell motivierten sozialen Hypertext entstehen, welcher die dezentrale und multiperspektivische Verdatung assoziativer Felder offenlegen kann. Jedes einzelne Bild ist so zugleich das Zentrum wie auch die Peripherie in diesem Bilduniversum unzähliger Fotos, das von den Nutzenden selbst erschaffen, aufrechterhalten, strukturiert und verändert wird. Alle Aktionen sind dabei an die aktiven Individuen zurückgebunden, sodass unzählige Anlässe zur Bildung von Gemeinschaften gegeben sind. Dabei erhalten die den einzelnen Personen zugeordneten Bilder auch die Funktion eines sozialen Kapitals, also den Wert einer Ressource, von

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der die Teilhabe an einem Netz sozialer Beziehungen abhängig ist. (Bourdieu 1983b) Darüber bietet flickr eine Kultur des Kennens und Anerkennens anderer Beteiligter. Dies beschränkt sich nicht auf die geschilderte Möglichkeit, Bilder anderer Personen als Lieblingsbilder zu definieren und Kommentare beizusteuern, sondern wird durch die Anzeige von geknüpften Kontakten auf der Profilseite einer jeden angemeldeten Person unterstützt. Die individuelle Profilseite ist somit eine ideale Bühne der Selbstinszenierung, deren Wirksamkeit gesteigert wird von der Aura des Authentischen, die fotografischen Produktionen innewohnt. (Vgl. Bourdieu 1983a) Ein Indikator, dass die Plattform auch tatsächlich in diesem Sinne als Schauplatz der Selbstaufwertung und der permanenten narzisstischen Selbstbespiegelung eingesetzt wird, ist etwa die Zahl der gefundenen Bilder beim Suchbegriff »me«, die höher ist als bei der Suche nach »Baby« – einem Motiv, das zweifellos sehr häufig fotografiert wird. (Vgl. Walker 2005) Doch auch die Qualität der eigenen Aufnahmen oder besondere Motive können im Sinne des Statuserwerbs genutzt werden, etwa wenn mit den Bildern der Zugang zu erlesenen Zirkeln in Form von geschlossenen Gruppen erlangt wird oder wenn diese zu neuen KontaktAngeboten führen. Die Community bietet somit Raum, soziales Kapital vorzuweisen, indem die Freunde und Mitgliedschaften in Gruppen offenbar werden. Der Wert dieses sozialen Netzwerks zeigt sich auch in dem Nebeneffekt, dass soziales Kapital unmittelbar in ökonomisches konvertierbar ist: Denn mittlerweile bieten Dienstleister/-innen an, gegen Geld das eigene Profil auf den Plattformen aufwerten zu lassen. Wer nur Familie und wenige Freunde vorzuweisen hat, kann nun aus einem Katalog attraktive Buddies aussuchen, die je nach Investition mehr oder weniger wohlwollende Botschaften verfassen. (Corinth 2006) Zur Dramaturgie einer solchen Aufmerksamkeitsökonomie des repräsentativen Bilderfundus gehört es dabei auch, die eigenen Bilder mit populären, Erfolg versprechenden Schlagwörtern zu versehen, was die Chance vergrößert, dass sie in den gewünschten Kontexten in Erscheinung treten werden. Die Aufmerksamkeitsdramaturgien verlangen es, populäre tags zu benutzen, die als »Buzzwords« wirken.

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Luther Blissett vs. miss_geschickzz: Unikat und visuelle Redundanzen Künstlerische Szenarien der experimentellen Internetnutzung sind eher einer ästhetischen Avantgarde überlassen und präsentieren sich auch oft hermetisch, d.h. es finden nur relativ wenige Personen den Zugang bzw. realisieren eine auf eine längere Dauer angelegte Nutzung. Mit der Veränderung der Erscheinung des globalen Netzes in den letzten Jahren im Zuge der Verbreitung des sogenannten Web 2.0, verlagert sich der Schwerpunkt stärker zur sogenannten »Social Software« (Bächle 2006). Dabei dominieren nicht wie bei den klassischen Massenmedien die von zentralen Informationsanbietern bereitgestellten Inhalte, sondern von herausgehobenem Interesse sind solche Beiträge, die von einzelnen Personen oder von Personengruppen zur Diskussion gestellt und wiederum von anderen kommentiert werden können, was sich vor allem in Weblogs, in Wikis und Diskussionsforen, oder eben anhand von Fotos bei flickr und Videos bei YouTube (www.youtube.com) vollzieht. Bei der Netzkunst, in künstlerischen Netzkollektiven und in vielen Formen von Online-Aktivismus überwiegt die experimentelle Nutzung, die im virtuellen Raum gegebene Freiräume ausloten soll und die mit den digitalen Technologien entstandenen Handlungs- und Darstellungsfreiräume aufzeigt. Dabei werden Störungen der vorgesehenen Nutzung provoziert und dadurch kritische Schwachstellen neuer Medien und somit deren Angreifbarkeit offengelegt. Das Ziel der Netzkunst ist die Irritation, die Erprobung von Handlungsfreiräumen, auch im Sinne eines Garfinkel’schen Krisenexperiments. (Garfinkel 1967) Die Künstler agieren oft anonym aufgrund der Illegalität der Projekte oder benutzen Pseudonyme, die aber nur eine andere Form von Künstlernamen darstellen. Für die Künstlerkollektive im Internet ist die anonyme Autorschaft aber zugleich Experimentierfeld, um eingeführte Produktionsbedingungen zu hinterfragen. (Vgl. Drühl 2006) Viele User von flickr nutzen aus medienstrukturellen Gründen ebenfalls bedeutungsgeladene oder fantasievolle Pseudonyme. Diesen durch die »Usernames« kreierten Figuren erschließt flickr neue Handlungsräume im virtuellen Raum zur Kommunikation über den engen Familienund Freundeskreis hinaus. Hier herrscht allerdings ein anderer Anspruch vor als im Künstlerkollektiv: Die Triebkraft ist vollzugsimmanent – die Freude am Zurschaustellen der fotografischen Produktionen, am Sichten der ansprechenden (und wegen der »tags« mutmaßlich interessanten) Bilder von anderen Aktiven. Ziel ist die Erzeugung eigener und das Auffinden vertrauter, »uniformer« Darstellungsweisen, die die Aufgehoben-

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heit in der Community garantieren und nicht gefährden (zum Begriff »uniform« vgl. Richard/Grünwald/Betten 2007). Bei der Analyse der kollektiven Netzstrukturen sind vor allem die Sortierungsstrategien im Netz augenfällig. Dabei wird deutlich, dass das wichtigste Kriterium, um die Bilderflut zu bewältigen, die personalisierte Anordnung ist. Im klassischen Fotoalbum begrenzte die Kapazität und Linearität der Buchseiten die analoge Bildpräsentation und deren Anordnung bzw. deren thematische Zuordnung. Das Prinzip des Digitalen macht eine Explosion der persönlichen Bilderwelt erst möglich und damit entsteht auch die Gefahr, in diesen Bildwelten zu ersticken. Strategien zum Sortieren, Ordnen und des Selektierens werden so zur zentralen medialen Kompetenz. Hierbei hilft die Plattform flickr mit den geschilderten Vorgaben zur Orientierung. In der künstlerischen Erschaffung und Anordnung eines persönlichen Fotokosmos verfährt das von Alberto Frigo im Netz präsentierte Projekt »Sobject« (www.albertofrigo.net) nach anderen Prinzipien. Der Künstler fotografiert alltäglich vollzogene Tätigkeiten, die er mit seiner rechten Hand unter Benutzung von Objekten ausführt. Die abgebildeten Objekte in der dominanten Hand des Künstlers sind Dinge, die greifbar, nicht ortsgebunden und beständig sind. Vergleichbare Dinge werden immer nur dann fotografiert, wenn sie das erste Mal im Zusammenhang mit einer bestimmten Handlung berührt werden und danach erst wieder, wenn sie in einem anderen Kontext erneut zur Hand genommen werden. Die Grenze zu einem anderen Kontext oder zu einer anderen Handlung wird dabei dadurch markiert, dass mit der dominanten Hand ein anderer Gegenstand berührt wird. Frigo erzeugt aus den Aufnahmen zunächst eine einfache chronologische Darstellung aller Bilder. Diese werden aber zudem ausgehend von den verwendeten Objekten in die nächste Ebene verlinkt, auf der dann z.B. zahlreiche Fotos zu sehen sind, die ganz unterschiedliche Einsatzszenarien eines Kugelschreibers, eines Schlüssels oder eben einer Kamera aufzeigen, wie auch die Kontexte oder Gesten, in denen ein Spielzeugauto, ein Kochtopf usw. eine immer wieder etwas andere Bedeutung erhalten. Es geht also zunächst um eine massenhafte apparatische Bilderzeugung, dann um die Bildserien und die nachträgliche formale Sortierung nach visuellen Kriterien seiner Handlungen. Die Bilder führen als Hyperlink zu ähnlichen Bildern aus den letzten drei Jahren, so dass die formale und farbliche Nähe in den Vordergrund gestellt wird. In den Aufnahmen zeigen sich Spezifika des seriellen fotografischen Arbeitens und so auch Aspekte der Normierung des Alltags durch immer wiederkehrende

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Bewegungs- und Bildereignisse, die aus einer bestimmten Perspektive dargestellt werden. Bei flickr wird eine medial beeinflusste, ungefilterte und ungeschulte Amateur- und Alltagsästhetik offenbar, die in typischen Motiven wie Landschaften, Katzen, Blumen, Babys die Illusion der Darstellung der eigenen Realität bedient. Hier ist flickr aber deutlich von anderen Netzwerken engagierter Hobbyfotograf/-innen (z.B. www.fotocommunity.de) zu unterscheiden, wo sich die Erzeugnisse stärker an der Ästhetik von kommerziellen Fotokalendern und Postkarten orientieren. Bei flickr geht es weiterhin um außergewöhnliche Varianten eines Motivs, an denen etwa die artistische Verwendung von Photoshop deutlich wird, oder aber um die skurrile Überbietung von eingeführten Motiven, wie z.B. zum tag »20 Personen betrunken in einem Whirlpool«. Die eingestellten Motive sollen dabei Zeugenschaft über das Ereignis ablegen und die Stimmung wiedergeben, sie sind narrativ und abstraktionsfrei. Es geht keinesfalls um die ästhetische Abweichung in der Gestaltung oder um eine neue Wahrnehmung und Perspektive. Bei flickr wird deutlich, dass zur Entstehung eines sozialen Netzwerks es zwingend der bestimmten ästhetischen Redundanz bedarf. Hier offenbart sich auch der größte Unterschied zu den künstlerischen Projekten im Netz, bei denen Redundanzen ausdrücklich ausgeschlossen werden sollen. Die neue Qualität von flickr stellt also die Kommunikation des eigenen Alltags mit Fremden, die ähnliche biografische Erlebnisse visuell ähnlich kommunizieren, dar. Es ist nicht etwa die Entstehung einer neuen Generation von besonders kompetenten Bilderzeugern im Sinne von ästhetischer Avantgarde zu beobachten. Das visuelle Erzeugnis ist Ausweis von Fähigkeiten, sogenannten »Skills«, und Identität: Die Fotoobjekte, die aufgenommenen Bildgegenstände charakterisieren das Subjekt und das dargestellte Selbst. Die persönliche Seite ist die Bühne der Selbstinszenierung und damit als Schauplatz der Selbstaufwertung anzusehen. Eine solche Versicherung der eigenen Präsenz und Existenz kann auch die einzige Möglichkeit der sozialen Kommunikation und Selbstvergewisserung sein (siehe oben: Sebastian B. alias ResistantX, der Amokläufer von Emsdetten). Die Selbstdarstellung wird zum übergeordneten Ziel, es geht weniger um eine gemeinsame Tätigkeit oder ein geteiltes Projekt wie in der Netzkunst oder bei den jugendkulturellen Musikstilen. Einzelne erzeugen ihre Bilder apparatisch und individuell, das gemeinsame Tun ist das Gespräch über die jeweiligen Fotos und die Hoffnung auf viele sichtbare Freunde und Lob der eingestellten Bilder.

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Die Ekstasen der Gewöhnlichen: Das »wahre« Leben bleibt unsichtbar In den Nutzungsweisen bleibt Individuelles und Lokales weitgehend erhalten und ist so bedeutungsvoll für die Identitätskonstruktion. Das heißt, die Annahme, Zeit und Raum würden im virtuellen Raum bedeutungslos (vgl. z.B. Sandbothe 1997), ist zu relativieren: Sie sind über das soziale Netzwerk überwindbar, aber spielen eine große Rolle für die eigene Positionierung (Recently added photos, Timezones). Die sozialen Netzwerke von flickr sind auf unterschiedliche Weise sortiert. Die Modi der Vernetzung sind geographisch, zeitlich, technisch (Kameratyp), thematisch (tags) und sozial (friends, community). Hinter der relativ einfach gehaltenen Oberfläche, die nur auf den ersten Blick dem Prinzip von »simplicity« (Maeda 2006) entspricht, verbergen sich viele Sortierungen der erzeugten Daten. Das eigentliche Bild ist der Impuls für die automatische Datenverarbeitung. Die persönlichen Daten werden durch das Foto selbst, das eigene Profil, die eigenen Sets, die Zuordnung zu Gruppen hergestellt. Der »flickr camera finder« zeigt die statistische Erfassung der meistbenutzten Kameramodelle (eingeteilt in Kategorien: digitale Spiegelreflexkameras, Kompaktkameras und Mobiltelefone/»popular camera phones«) Die automatisch generierten Daten geben Auskunft darüber, wie viele Fotos an einem Tag von welchem Modell erzeugt werden. Dafür werden die in den Bild-Dateien enthaltenen EXIF-Daten automatisch ausgelesen und verwendet, was bei etwa zwei Dritteln der hochgeladenen Bildern möglich ist (vgl. http://futurezone. orf.at/produkte/stories/152643/ und www.spiegel.de/netzwelt/mobil/ 0,1518,450615,00.html). Die Nutzer/-innen bieten also beim Hochladen mehr Daten zur Analyse an, als sie explizit über tags usw. bereitstellen. Das ist ein Grund, dass zunächst ungeahnte Vernetzungen möglich werden. Es entstehen also unsichtbare verwertbare Datenspuren in der Personalisierung von Daten. Die hohe Komplexität dieses Netzwerkes wird erst bei genauerer Betrachtung sichtbar. Zudem schwingt im Amateurfoto ein hohes Authentizitätsversprechen mit (vgl. Gapp 2006), die fotografische Selbstdarstellung des »Me« wird meist als eine unverfälschte Abbildung angenommen. Bei flickr wird sichtbar, dass hier die unbewusste Vermischung von Eigen- und Fremdbildern stattfindet. Anders als bei den künstlerischen Bildern gilt hier die unbewiesene authentische Individualität unhinterfragt. Dabei wird aber das Gegenteil der behaupteten »totalen« Individualität offensichtlich, in der Wiederkehr von »uniformen« Bildevents. Identität wird also über kollektive Bildschablonen ausgedrückt, da nur sie die Integra188

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tion in und den Respekt einer »community« garantieren. Scheinbar Privates wird öffentlich gemacht und damit ein Teil eines intersubjektiven Bilderfundus, es entstehen hybride Bilder aus Eigen- und FremdAnteilen. Ort der Begegnung mit etwas Fremden ist flickr jedoch nur scheinbar, denn die Suche gilt hier vor allem einem ähnlichen visuellen Empfinden und Gleichgesinnten. Die Gruppenbildung hängt von der eigenen Anschlussfähigkeit an die gerade gültigen bzw. ewig gültigen bildwürdigen Events (wie Hochzeit, Party, Urlaub) und deren eingeführten Darstellungskonventionen ab. Beim millionenfachen visuellen Overload scheint es notwendig zu sein, Strategien zu entwickeln, sich im Netzwerk bekannt zu machen und dort gesehen zu werden. Nicht alle Nutzer/-innen streben allerdings nach globaler Selbstdarstellung: Oft ist die Mitteilung an einen kleinen Kreis von Freunden und Bekannten am wichtigsten. Ziel ist es nicht, alles allen zu zeigen, sondern im Sinne der Möglichkeit des sogenannten »privacy management« (Moorstedt 2006) verschiedene Stufen der Veröffentlichung des eigenen Lebens selbst vorzunehmen. Bei flickr braucht das Visuelle für die dargestellte technische und soziale Vernetzung zwingend eine verbale Verdatung (tags = Schlagworte, Kategorien). Damit zeigt sich auch hier die kulturell festgeschriebene Unterordnung des Bildes unter Sprache und Schrift. (Vgl. Sachs-Hombach 2005) Das Bild ist somit nur Anlass zur Kommunikation und es ist damit keine Wertschätzung als eigenständiges Medium verbunden. Die Vernetzung findet über die Bildähnlichkeiten statt, also über motivische Redundanzen. Zählt bei den Künstlern der Aspekt des Außergewöhnlichen zum zentralen Inhalt, werden bei flickr die Modi der Gestaltbarkeit jenseits der verwendeten Bilder von der Plattform vorgegeben (Tags, Badges, Forum, Kommentare, Inklusion/Ausschluss). Die Darstellung der Bilder ist eingeschränkt durch die Vereinheitlichungen des Dateiformats und die Vorgaben von Größe und Auflösung. Die Einordnung der individuellen Bilder hängt von zugewiesenen Begrifflichkeiten ab, kaum von den Bilderzeugnissen selbst. Aufschlussreich ist die Beschäftigung mit dem Begriff »tag«, der einen Zwischenstatus zwischen Sprache und Bild suggeriert, wenn man ihn in seiner Verwendung an den Bereich der Graffiti anschließt. Das Bild existiert nicht ohne »tag«, also fallen »tag« und Bild in eins. So sind »tags« und Bild als Zeichen von Präsenz aufzufassen im Sinne von Lyotard (vgl. Lyotard 1986). Analog zu den Graffiti werden die tags und assoziierte Bilder zu Zeichen von Existenz im virtuellen Raum (vgl. Baudrillard 1978). Die Bilder sind austauschbar und daher nicht mehr und nicht weniger als Zeichen von Anwesenheit, die die Kommunikation anregen sollen. Das kulturelle Kapital liegt weniger in der virtuosen

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Bilderzeugung als vielmehr in der individuellen Fähigkeit zur sprachbasierten Vernetzung und Anschlussfähigkeit an das eingesetzte Zielsystem flickr. Das zeigt sich auch in der nüchternen apparatischen Bilderzeugung, die durch das schablonenartig wiederholbare Motiv oder artistische Programmeffekte der Bildverarbeitung (vgl. Sturm 1987) und nicht durch den individuellen gestalterischen Eingriff charakterisiert ist. In flickr sind also klassische technische Bilder beherbergt, die oberflächlich sind (vgl. Flusser 2000), dahinter liegen die maschinellen Datenstrukturen, keine Erkenntnisse. Es steckt ein religiöser Erlösungsgedanke im Hype um das Web 2.0. (Vgl. Lanier 2006) Man muss als Teil der »Gemeinde« einen Wikipedia-Artikel, ein Foto bei flickr oder ein Video bei YouTube beisteuern, so der neu aufgelegte Heilsgedanke der sogenannten »digerati«. Allein durch die virtuelle Beteiligung entstehe positive Qualität, dabei werden Phänomene wie die »edit wars« vergessen. Für flickr, wie auch für andere Communitys folgt daraus die Feststellung, eine Verbindung und Bestätigung der virtuellen visuellen Relationen im Real Life sei notwendig: Alles was bedeutend ist, verharrt nicht im Virtuellen (vgl. Moorstedt 2006), sonst wird es zum Mob 2.0. Dafür stellt flickr dann eine partizipative soziale Bilddatenbank mit bestimmten Interaktionsflächen zur Verfügung, für Irritationen und Störungen bleibt weiterhin die Kunst zuständig.

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ZUR

DIE TAKTIK DER VEREINNAHMUNG. A R C H I T E K T U R V O N D A T I N G -I N T E R F A C E S PATRICK KRANZLMÜLLER

Grundlage für eine netz-basierte Verabredung1 ist aufgrund der Abwesenheit der potenziellen Dating-Partner eine möglichst individuelle und unterscheidbare Selbstdarstellung. Dating-Interfaces2, d.h. Websites, die eine Suche und Kontaktaufnahme auf der Grundlage einer mehr oder weniger ausführlichen Selbstdarstellung erlauben, sind in dieser Hinsicht eindeutig limitiert. Erstens sind die Fragen und Antwortmöglichkeiten bei der Profil-Erstellung stark abstrahiert und erlauben im seltensten Fall eine persönliche und unterscheidbare Aussage. Zweitens lässt sich der visuelle Stil des Interface nicht verändern, d.h. die Selbstdarstellung beschränkt sich auf Textpassagen und die Auswahl vorgegebener Antwortmöglichkeiten. Drittens lassen sich diese Interfaces nicht mit bereits vorhandenen Orten der Selbstdarstellung verknüpfen. Wenn ich beispielsweise einen Weblog habe, ist es völlig sinnlos, die Blog-Funktion eines Dating-Interface zu benutzen. Stattdessen sollte der Weblog ins Dating-Interface integriert werden (oder umgekehrt). Es stellt sich also die Frage, welche Handlungsspielräume durch die Einschränkungen dieser Interfaces konstruiert (bzw. nicht konstruiert) werden. Ich werde mich mit der Frage beschäftigen, ob und wie sich diese virtuellen Orte der Selbstbeschreibung und Kontaktaufnahme verändern lassen, d.h. wie groß die Möglichkeit der Vereinnahmung durch den einzelnen Benutzer bzw. das Benutzer-Kollektiv ist. Es geht also darum, wie 1

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Als Verabredung bezeichne ich im Weiteren alle Möglichkeiten der netzbasierten Kontaktaufnahme auf der Grundlage einer Selbstdarstellung. Es ist in diesem Fall egal, ob der Benutzer eine Beziehung, einen Freizeitpartner oder einen geschäftlichen Kontakt sucht. Zum Beispiel Xing (ehemals OpenBC, www.xing.com), Love.at (www. love.at), Parship (www.parship.at), Academici (www.academici.net) und facebook (www.facebook.com). Davon zu unterscheiden sind Websites, die nicht primär auf Verabredung abzielen, aber dennoch die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bieten wie myspace (www.myspace.com), flickr (www.flickr.com) oder plazes (www.plazes.com). 193

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die formalen Einschränkungen des Interface im Sinne eines limitierenden Vermittlungsmediums reduziert werden können und welche Entwicklungsmöglichkeiten es für Dating-Interfaces auf der Grundlage aktueller Tendenzen im Bereich der Web-Architektur gibt. Dazu werde ich mich zunächst mit der technischen Logik von WebInterfaces auseinandersetzen, um im zweiten Teil dieses Beitrags zu beschreiben, wie die (partielle) Öffnung des Programmcodes kooperative Prozesse in Gang setzen kann und was diese Prozesse für die Distinktionsmöglichkeiten (die Möglichkeiten zur individuellen und unterscheidbaren Selbstdarstellung) der Benutzer bedeuten.

Das Interface »Die einst bedeutungslose Marketingphrase [Anm.: Web 2.0] macht heute deutlich, dass das Internet die nächste Entwicklungsstufe erreicht hat und Menschen mit Menschen verbindet und nicht mehr Menschen mit Firmen oder Menschen mit Maschinen.« (Friebe/Lobo 2006: 166)

Wie viele der kürzlich publizierten Beiträge zum Thema Web 2.0 ist auch diese Aussage etwas unscharf. Hier wird ausgeblendet, dass das Interface immer schon die Grundlage für die Mensch-Mensch-Verbindung darstellt und als Ort des Einstiegs in die programmierte künstliche Wirklichkeit (Fassler 2002) die Form und Möglichkeit der Verabredung durch den Programmcode beeinflusst. Das Dating-Interface konstruiert einen Raum der Verabredung, der sich von konventionellen Räumen der Verabredung unterscheidet und spezifischen Regeln unterworfen ist. Die Voraussetzung für diese Regeln ist der Aufbau moderner Webseiten, die aus drei voneinander relativ unabhängigen Elementen bestehen: dem inhaltlichen, dem technischen und dem visuellen Teil.

Content: der inhaltliche Teil des Interface Mit Inhalt sind die Daten gemeint, die vom Benutzer eingegeben und meistens in einer Datenbank gespeichert werden. Der Inhalt ist nicht notwendigerweise das, was ich im Browser sehe, da sich bei der Abfrage der Datenbank gewisse Routinen zwischenschalten lassen, die diesen Inhalt verändern. Weiters können auch Log-Files, die statistische Daten über Besucher und Aufenthaltsdauer enthalten, als Inhalt bezeichnet werden. Der Inhalt wird beim Aufruf der Website in eine vorgegebene Dokumentenstruktur (Template) eingebettet und mit Hilfe von Formatvorlagen (Stylesheets) endgültig dargestellt. 194

ZUR ARCHITEKTUR VON DATING-INTERFACES

Der inhaltliche Teil ist die Domäne des Benutzers und kann in allen Dating-Interfaces geändert werden. Meistens geschieht das allerdings aufgrund vorgegebener (technischer) Strukturen, die die Möglichkeiten des Benutzers stark einschränken.

Code: der technische Teil des Interface Der Programmcode ist die Schnittstelle zwischen Dateneingabe/Datenausgabe (Browser) und Datenspeicher (Datenbank). Der Code ist die Domäne des Programmierers und bestimmt die Verarbeitung und Speicherung eingegebener Daten sowie den Abruf vorhandener Daten. Der technische Teil des Interface besteht häufig aus einer Sammlung von Code-Fragmenten (sogenannte Bibliotheken oder Libraries) und kann – ganz oder teilweise – für andere Programmierer und Benutzer geöffnet werden. Ich werde später auf die Vorteile eines offenen Programmcodes zurückkommen.

Style: der visuelle Teil des Interface Als visuellen Teil des Interface bezeichne ich den Teil des Programmcodes, der für die Darstellung und Visualisierung der Inhalte verantwortlich ist. Während der technische Teil entscheidet, was dargestellt wird, ist der visuelle Teil für das wie zuständig. Der visuelle Teil kann wiederum in Templates (HTML-Dateien) und Stylesheets (Formatvorlagen) unterteilt werden. Die Templates beschreiben den strukturellen Aufbau der Daten (z.B. Überschriften, Absätze, Listen und Hyperlinks). Die Stylesheets enthalten genauere Angaben zur Visualisierung dieser Struktur und zur Darstellung des Inhalts (z.B. Layout, Schriftgröße und Farben). Beim Aufruf einer Webseite liest der Programmcode (d.h. der technische Teil) die angeforderten Daten aus der Datenbank und übergibt diese Daten an eine vorgegebene Dokumentenstruktur (Template). Mit Hilfe des Stylesheet weiß der Browser, wie er diese Struktur darstellen soll. Der visuelle Teil ist die Domäne des Designers und normalerweise ist auch dieser Teil für den Benutzer nicht veränderbar.

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Kommunikation Im Rahmen der visuellen Darstellung kodifizierter Räumlichkeiten stellt die Auszeichnungs- und Struktursprache HTML verschiedene Formen und Formate für die Dateneingabe zur Verfügung, die unter dem Begriff »Formulare« zusammengefasst werden.3 Es handelt sich dabei um einoder mehrzeilige Eingabefelder, um Radio- oder Checkboxen und um Auswahllisten. Diese Formate ermöglichen die Dateneingabe über ein Web-Interface, wobei jedes dieser Formate bestimmte, mehr oder weniger spezifische Handlungsmöglichkeiten erlaubt. Ein Radio-Button reduziert die Möglichkeiten auf ein einfaches Ja oder Nein (anklicken oder nicht). Ein mehrzeiliges Eingabefeld erlaubt die Eingabe alphanumerischer Zeichen und lässt dem Benutzer wesentlich mehr Raum zur Selbstbeschreibung. In gängigen Dating-Interfaces sind diese Eingabeformen vorgegeben – der Benutzer ist also nicht in einer Position, individuelle Formate für seine Selbstdarstellung zu definieren und die Form der Kontaktaufnahme durch andere User zu beschränken oder zu erweitern. Ein gutes Beispiel in dieser Hinsicht ist der sogenannte Spaß-Match4 auf parship.at: Ich beantworte fünf vorgegebene Fragen und schicke den Spaß-Match an einer Person meiner Wahl. Diese Person beantwortet dieselben Fragen und daraus ergibt sich eine bestimmte Form der Übereinstimmung beider Charaktere. Wie ich diese Übereinstimmung interpretiere, bleibt natürlich mir selbst überlassen. Trotzdem kann ich die 5 Fragen (die mich vielleicht nicht interessieren) nicht verändern, obwohl es – technisch gesehen – relativ einfach wäre. Die Möglichkeit der Distinktion (d.h. die Unterscheidung von anderen Benutzern) ist in diesem Fall gering, da alle Benutzer dieselben Fragen stellen und beantworten. Wie also lassen sich Interfaces dahingehend verändern, dass eine individuelle Selbstdarstellung und Kontaktaufnahme möglich ist? Die Voraussetzung dafür ist die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten für den Benutzer, d.h. der Zugang zum technischen und visuellen Teil des Interface.

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Siehe http://de.selfhtml.org/html/formulare/index.htm für eine detaillierte Auflistung aller HTML-Formulare. Der Begriff Match bezieht sich in diesem Fall auf sogenannte MatchingPunkte, d.h. mögliche Übereinstimmungen. 196

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Strategie & Taktik Grundsätzlich ist das Web-Interface durch die Voreinstellungen des Programmierers/Designers bestimmt, d.h. der Programmierer ist für den technischen Teil zuständig und der Designer für den visuellen Teil. Der Benutzer hat in diesem Fall lediglich Zugriff auf den inhaltlichen Teil und ist in seinen Handlungen auf Taktiken beschränkt: »Im Gegensatz zu den Strategien […] bezeichne ich als Taktik ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. Keine Abgrenzung einer Exteriorität liefert ihr also die Bedingung einer Autonomie. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen.« (de Certeau 1988: 89)

Da der inhaltliche Teil des Interface (der Ort des Benutzers) davon abhängt, was der technische und visuelle Teil (der Ort des Programmierers/Designers) zulassen, befindet sich der Benutzer in jedem Fall am Ort des Anderen. Seine Position ist durch das »Fehlen von Macht bestimmt« (de Certeau 1988: 90). Er kann nur Informationen eingeben, die vorgesehen sind, und kann nur Daten darstellen, die beim Aufruf des Interface aus der Datenbank ausgelesen werden. Der Programmcode determiniert die Selbstdarstellung. Im Fall von Dating-Interfaces sieht sich der Benutzer häufig mit einer Ansammlung von Multiple-Choice-Fragen konfrontiert. Das hat den Vorteil, dass die Eingabe leicht von der Hand geht. Der Nachteil ist die mangelnde Unterscheidbarkeit von anderen Benutzern (im Fall von Dating-Interfaces könnte man auch von Konkurrenten sprechen). Wenn ich zu der Frage »Lieblingsmusik« 10 Boxen mit Inhalten wie Rock, Pop, Jazz, Klassik usw. bekomme und in dieser Rubrik gerne die Namen von Musikern eintragen würde, dann ist die Einschränkung offensichtlich. Weniger klar sind die versteckten Einschränkungen, die sich aus der Abhängigkeit des Inhalts vom zugrundeliegenden Code ergeben: Kann ich HTML-Code in Textfelder eingeben (z.B. für Hyperlinks)? Wie viele Bilder kann ich uploaden und wie groß dürfen die Bilder sein? Kann ich bereits vorhandene Bilder meiner flickr-Seite darstellen oder muss ich die Bilder nochmals hochladen und evtl. sogar bearbeiten? Muss ich mir ein eigenes Login & Passwort zulegen oder kann ich meinen OpenID-Account verwenden? Kann ich vergangene Verabredungen bewerten und/oder Verabredungspartner weiterempfehlen? Kann ich das Dating-Interface in meinen vorhandenen Weblog integrieren? Kann ich den visuellen Stil der Seite verändern? Diese Liste lässt sich weiter fortführen und betrifft die verschiedensten Elemente der jeweiligen Webseiten.

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Die Taktik der Vereinnahmung, d.h. die Aneignung des Interface über die Veränderung des technischen und visuellen Teils (und damit auch die Aufhebung der Beschränkungen, die den inhaltlichen Teil betreffen), verändert diese Situation. Durch die Taktik der Vereinnahmung generiert der Benutzer einen Ort des Eigenen, der ihm strategisches Handeln ermöglicht. Die Frage ist, welche Voraussetzungen für diese Taktik gegeben sein müssen und welche Kompetenzen dafür notwendig sind.

Die Taktik der Vereinnahmung Die Vereinnahmung ist der Ausgangspunkt für eine möglichst umfassende und persönliche Selbstdarstellung. Außerdem lassen sich damit die Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme und Kommunikation verändern. Während moderne Applikationen Schnittstellen zur Verfügung stellen und technisch versierte Benutzer Komponenten zur Vereinnahmung dieser Interfaces erstellen, hinken klassische Dating-Portale dieser Entwicklung hinterher. Das Interface ist in diesem Fall kein Spielraum, sondern eine Ansammlung von Vorgaben und Einschränkungen. Diese Vorgaben lassen sich unterlaufen, wenn der Machtbereich des Benutzers erweitert wird. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass sich erfolgreiche Interfaces vermehrt dem Eingriff der Benutzer öffnen und den Benutzer als Mitarbeiter für die (Weiter-)Entwicklung der Applikation verstehen. Technisch gesehen ist das keine neue Entwicklung. Die Möglichkeit zur Einbindung der Benutzer war schon Ende der 90er Jahre gegeben, die Akzeptanz durch das Benutzer-Kollektiv war zu dieser Zeit allerdings eher bescheiden. Durch die Zunahme an partizipativen Möglichkeiten (z.B. durch den Firefox-Browser) hat das Benutzer-Kollektiv an Kompetenzen gewonnen und die Wahrnehmung im Hinblick auf WebInterfaces hat sich deutlich verändert. Wichtig für diesen Prozess ist das Schlagwort »Beta«, das bei vielen Webseiten gleich hinter dem Logo platziert wird. Für den Benutzer bedeutet das in den meisten Fällen, dass er in die Entwicklung der Applikation eingreifen kann. Manovich umfasst die in einem codebasierten Interface angelegte Möglichkeit der Veränderung mit dem Begriff der Variabilität. Gemeint ist damit, dass die technische Grundlage eines Interface (die Datenbank, der Programmcode) verschiedene Arten der visuellen Darstellung ermöglicht. (Manovich 2001: 36ff.) Auf der Grundlage dieser Variabilität kann das Interface personalisiert werden.

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»Grundsätzlich gilt: Wider die Voreinstellung! […] Kaum eine Plattform, in der nicht sofort versucht wird zu ändern, was irgendwie änderbar ist. Bestens erkennt man das gelegentlich etwas tragische Schicksal des Kampfes zwischen Voreinstellung und Selbstrepräsentationswut auf MySpace.« (Kösch 2006: 43)

Im Hinblick auf die Vereinnahmung geht es einerseits um die Erweiterung und Anpassung der Funktionalitäten (Code) und zweitens um Layout und Visualisierung (Style). Obwohl im Aufruf des Interface, d.h. in seiner Aktualisierung, Inhalt und Form als Einheit wahrgenommen werden, werden sie in der Produktion als unterschiedliche und bestenfalls unabhängige Elemente gedacht.

Vereinnahmung des visuellen Teils Die Veränderung der visuellen Darstellung bedingt den Zugriff auf die Stylesheets der Website. Dem Benutzer können außerdem die Templates zur Verfügung gestellt werden, was den Handlungsspielraum deutlich erweitert. Mittels Templates und Stylesheets kann das Aussehen des Interface im Prinzip völlig verändert werden. Manche Interfaces nutzen diese Variabilität und stellen dem Benutzer sogenannte »Themes« (eine Kombination aus Templates und Stylesheets) zur Verfügung, aus denen der Benutzer wählen kann.5 Durch die offene Layout-Struktur von myspace sind beispielsweise Webseiten entstanden, die Layouts für myspace.com zum Download anbieten.6 Der myspace-Benutzer kann innerhalb weniger Minuten das Layout für seine Seite personalisieren und anpassen. Dadurch wird der Ausgangsort (der Ort des Programmierers/Designers) immer unsichtbarer, während der Ort des Eigenen zunehmend sichtbar wird.

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Das Weblog-System Wordpress bietet eine Auswahl an Themes unter http://wordpress.org/extend/themes/ Zum Beispiel www.freelayout.com 199

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Abbildung 1 zeigt einen myspace-Account auf Basis der gegebenen Voreinstellungen. http://myspace.com/sehmaschine Abbildung 2 zeigt ein Beispiel für einen veränderten myspace-Account. Von der ursprünglichen Seite ist nichts mehr zu sehen, die Oberfläche wurde vollständig vereinnahmt. http://myspace.com/iscreamclothing (Zugriff jeweils 13.12.2006, Bildschirmfotos)

Die Vereinnahmung des technischen Teils Im vorangegangenen Beispiel wurde nur der visuelle Teil des Interface verändert. Die aufgerufenen Daten sind dieselben, lediglich die Darstellung der Daten wurde verändert. Was also tun, wenn ich neben der Darstellung auch die Daten ändern will und beispielsweise drei Fotos (statt einem) auf meiner Startseite ausgeben will? Was, wenn ich bereits einen Ort der Selbstdarstellung habe (z.B. einen Weblog) und lediglich auf die Funktionalitäten des Dating-Interface zur Kontaktaufnahme zurückgreifen will? Was kann ich tun, wenn ich das Dating-Interface nicht über meinen Browser, sondern direkt vom Desktop aus (z.B. mit Hilfe eines sogenannten Widget) bedienen will? Für die Veränderung der technischen Struktur benötigt der Benutzer Zugriff auf den Programmcode, entweder über die Offenlegung des Codes (Open Source) oder über ein API (Application Programming Interface oder Programmierschnittstelle).

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Open Source und API Bei einer »Open-Source-Applikation« mit entsprechender Lizenz7 kann der Programmcode, d.h. die nicht-kompilierte, für Menschen lesbare Version des Programmcodes, von allen eingesehen und gegebenenfalls verändert werden. Das ist nicht immer sinnvoll und notwendig – oft reicht eine Teilöffnung des Programmcodes mit Hilfe eines API. Als API (Application Programming Interface) wird eine Schnittstelle zum Programmcode definiert. Programmierer können damit die grundsätzlichen Möglichkeiten und Funktionalitäten des Web-Interface erweitern, indem sie ihren eigenen Programmcode über eine definierte Austausch-Schnittstelle mit dem Programmcode der Primäranwendung verbinden. Der Entwickler sieht also nur bestimmte Befehle (z.B. einen Befehl zur Darstellung einer bestimmten Anzahl von Bildern) die er verwenden kann, weiß allerdings nicht, wie diese Befehle aufgebaut sind. Mit diesem Wissen kann er Komponenten entwickeln, die vom Benutzer integriert werden, um das Interface zu personalisieren und nach eigenen Wünschen zu gestalten. Mit Hilfe des flickr-API (www.flickr.com/ services/api/) lassen sich beispielsweise vorhandene Fotos eines flickrAccounts in einem Weblog darstellen. Während bei traditionellen Interfaces der Benutzer zur Anwendung muss, kommt in diesem Fall die Anwendung zum Benutzer, d.h. an seinen »Ort des Eigenen« (de Certeau 1988: 85ff.), seinen Ort der Selbstbeschreibung und Distinktion. Zusammenfassend lassen sich folgende Formen der Vereinnahmung unterscheiden, die vom Grad der Integration des Benutzers bzw. der Offenheit des Programmcodes abhängen: 1. Der Benutzer kann den visuellen Teil des Interface verändern, d.h. er kann einen ästhetischen Ort des Eigenen konstruieren. In Bezug auf die Funktionalität des Interface ist er weiterhin auf den Ausgangsort beschränkt. Seine Macht im Hinblick auf die Veränderung des Interface ist limitiert. 2. Der Benutzer/Entwickler hat Zugriff auf den technischen Teil (z.B. mittels API), d.h. er kann die Funktionalität des Interface mit Hilfe von Komponenten erweitern. Diese Form der Vereinnahmung führt zur Bildung von Benutzer-Kollektiven (Communitys), wobei die meisten Benutzer passiv sind und lediglich Komponenten integrieren. Je nach Umfang des API hat der Benutzer/Entwickler Zugriff auf die wesentlichen Funktionen des Interface.

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Die Lizenz (z.B. GPL, LGPL, BSD) definiert die Rahmenbedingungen für die Verwendung und Veränderung des Programmcodes. 201

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3. Der Benutzer/Entwickler hat Zugriff auf den Programmcode (Open Source), d.h. er ist direkt an der Entwicklung beteiligt und kann die Funktionalität des Interface verändern. Quelloffenheit oder API allein ist allerdings noch keine Garantie dafür, dass externe Entwickler die Funktionalität des Interface erweitern und Benutzer tatsächlich Gebrauch von den Methoden der Personalisierung machen. Einerseits müssen die Entwickler in den Produktionsprozess integriert werden, andererseits fehlen den meisten Anwendern die grundlegenden Kompetenzen für diese Form der Vereinnahmung. Um beispielsweise den visuellen Teil eines Interface zu verändern, ist ein grundlegendes Wissen zu HTML und Stylesheets unabdingbar. Außerdem sollte man das Resultat auf verschiedenen Browsern testen und gegebenenfalls Veränderungen vornehmen. Im Hinblick auf die Integration neuer Funktionalitäten und die Anpassung des technischen Teils sind die meisten Benutzer ohnehin überfordert. Die Konstruktion einer individuellen und unterscheidbaren Online-Präsenz scheitert deshalb (zu) oft an den technischen Hürden. Abhilfe schaffen »kooperative Prozesse«, die dem Entwickler die geeigneten Rahmenbedingungen für die Mitarbeit zur Verfügung stellen und den Benutzer vom passiven Konsumenten zum aktiven Anwender werden lassen und weiters zur Bildung von Communitys führen, die für Hilfe und Support zuständig sind.

Kooperative Prozesse Wie konstruiert man Interfaces, die dem hochkomplexen Spiel von Begegnung und Verabredung entsprechen und dabei einen möglichst großen kreativen Spielraum für die Selbstdarstellung zulassen, wobei die Vereinnahmung nicht an den Kompetenzen der Benutzer scheitern sollte? Die Antwort darauf sind kooperative Prozesse, in denen der Benutzer aktiv an der Entwicklung der Applikation beteiligt ist und damit die eingeführte Trennung zwischen inhaltlichem, technischen und visuellem Teil relativiert. Als kooperativen Prozess bezeichne ich die Zusammenarbeit und den gegenseitigen Nutzen von Programmierern/Designern und Benutzern auf der Basis eines veränderbaren Programmcodes. Ausgangspunkt für die-

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sen Prozess ist die (partielle) Offenlegung des Code und die Integration einer Entwicklergemeinde durch geeignete Tools8.

Rückkopplungskreislauf kooperativer Prozesse 1. Applikationen mit offenem Quelltext oder API werden von einer größeren Entwicklergemeinde wahrgenommen und erhalten mehr Aufmerksamkeit. 2. Dadurch entstehen zusätzliche Komponenten (Themes, PlugIns, Widgets, …), die dem Benutzer zugute kommen. Im Endeffekt ist anzunehmen, dass dadurch auch mehr Benutzer die Applikation verwenden. Das wiederum führt zu mehr Feedback und ständigen Verbesserungen und Erweiterungen. 3. Während normalerweise der Benutzer zum Interface muss, kommt in dieser Situation das Interface (oder zumindest Komponenten des Interface) zum Benutzer, d.h. an seinen Ort der Selbstdarstellung. Das Interface bekommt dadurch einen stärkeren Werkzeug- oder ToolCharakter. Die partizipativen Möglichkeiten des Endnutzers steigen deutlich an, d.h. der Benutzer wird vom Besucher zum Anwender (Participant). 4. In der Auseinandersetzung mit dem Interface (z.B. der Integration neuer Komponenten) erreicht der Benutzer einen höheren Grad an Kompetenz und ist damit in der Lage, auch anderen Benutzern weiterzuhelfen. Diese Situation führt bei erfolgreichen Applikationen mit offenem Programmcode bzw. API relativ schnell zur Bildung von Communitys. 5. Der einzelne Benutzer kann als Teil der Benutzer-Community auf das Wissen und die Erfahrung anderer zurückgreifen. Die Kompetenzhürde wird in diesem Fall reduziert. Der Benutzer ist Teil eines Kollektivs, das dieselben Probleme hat und möglicherweise Lösungen für diese Probleme anbietet. 6. Der Benutzer verändert seine Wahrnehmung im Hinblick auf das Interface – es wird als flexibel und veränderbar wahrgenommen. 7. Schlussendlich kann der Entwickler eines anderen Interface mit dieser veränderten Einstellung arbeiten und den kooperativen Prozess in seine Entwicklungsstrategie implementieren.

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Zum Beispiel durch das Trac-Projektmanagementsystem, siehe http://trac. edgewall.org/ 203

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Das ist naturgemäß eine etwas verkürzte Darstellung von Open-SourceSoftware und nicht jede Applikation mit offenem Programmcode wird diese Stufen kooperativer Rückkopplungsprozesse erreichen. Trotzdem führt der erwähnte Ablauf zu zwei sich wechselseitig beeinflussenden Anwenderkreisen (Communitys). Auf der einen Seite die (verteilte) Entwickler-Community mit direktem Zugriff auf den Programmcode. Auf der anderen Seite die (verteilte) Benutzer-Community, die über zusätzliche Komponenten die Funktion und den visuellen Stil des Interface erweitert. Die Grenze zwischen diesen Gruppen wird zunehmend aufgelöst, wenn sich Benutzer an der Entwicklung der Applikation beteiligen. Letztendlich wird mittels kooperativer Prozesse die Architektur der Partizipation als Produktionsbedingung in die Software eingeschrieben.

Ein Ausblick Die netzbasierte Verabredung ist eine Angelegenheit spezifischer Interfaces, die sich derzeit nicht ins – möglicherweise vorhandene – OnlineLeben integrieren lassen. Das verhindert eine offene Weiterentwicklung dieser Plattformen und beschränkt die Distinktionsmöglichkeiten des Benutzers. Die dem Interface inhärente Variabilität kann allerdings dazu genutzt werden, den Handlungsspielraum des Benutzers zu erweitern. Wir haben gesehen, wie die (partielle) Öffnung des Programmcodes einen Prozess in Gang setzen kann, der die partizipativen Möglichkeiten des Benutzers verbessert und eine Personalisierung des Interface erlaubt.Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass sich immer mehr erfolgreiche Web-Interfaces einer größeren Entwicklergemeinde öffnen und die Integration auf anderen Webseiten erlauben. Interfaces wie plazes (www.plazes.com) oder flickr (www.flickr.com) können hier als Vorbild dienen. Im Rahmen von Dating-Interfaces ist folgendes Anwendungsszenario auf der Grundlage eines API denkbar: Der Benutzer sucht sich zunächst einen geeigneten Ort der Selbstdarstellung und Selbst-beschreibung (z.B. einen Weblog). Dieser Ort ist nicht das Dating-Interface selbst, da das Dating-Interface primär für die Suche und die Verabredung (und eben nicht für die Selbstdarstellung) konstruiert wurde. In einem zweiten Schritt integriert der Benutzer die Dating-Applikation, z.B. mit Hilfe von Komponenten auf der Basis eines API. Damit umgeht er sämtliche Beschränkungen des Dating-Interface und kann seine primäre Website (d.h. den Ort des Eigenen) jederzeit ändern oder auch wechseln. Die Öffnung des Interface erlaubt somit die Taktik der Vereinnahmung.

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Literatur Bonsiepe, Gui (1999): Interface – An Approach To Design, Maastricht: Jan van Eyck Academie. de Certeau, Michel (1988): Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Fassler, Manfred (2002): Netzwerke. Einführung in Netzstrukturen, Netzkulturen und verteilte Gesellschaftlichkeit, München: Wilhelm Fink Verlag. Flusser, Vilem (1997): Medienkultur, Frankfurt a.M.: Fischer. Flusser, Vilem (1998): Kommunikologie, Frankfurt a.M.: Fischer. Friebe, Holm/Lobo, Sascha (2006): Wir nennen es Arbeit, München: Heyne. Kösch, Sascha (2006): »Ich bin das Medium«. de:bug 107, S. 43. Levy, Pierre (1997): Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace, Mannheim: Bollman. Lister, Martin/Dovey, Jon/Giddins, Seth/Grant, Iain/Kelly, Kieran (2003): New Media: A Critical Introduction, London: Routledge. Manovich, Lev (2001): The Language of New Media, Cambridge/ Massachusetts: The MIT Press. Raskin, Jef (2001): Das intelligente Interface. Neue Ansätze für die Entwicklung interaktiver Benutzerschnittstellen, München: AddisonWesley. Wilde, Erik (1999): World Wide Web. Technische Grundlagen, Berlin: Springer-Verlag.

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EINE

TAKTIK UND TAKTUNG. DISKURSANALYSE POLITISCHER O N L I N E -P R O T E S T E

OLIVER MARCHART/STEPHAN ADOLPHS/MARION HAMM1 Politik ist nicht, wie vom Liberalismus behauptet, das konkurrenzhafte Spiel monadischer Individuen. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, und ein Individuum macht noch keine Politik. Alles politische Handeln geschieht im Gemeinsamen und produziert Kollektive. Aus der Perspektive soziologistischer Ansätze mag die Existenz sozialer »Gruppen« vorausgesetzt werden, doch aus einer diskursanalytischen Perspektive, wie sie im Folgenden eingenommen werden soll, ist jede Gruppenidentität das Resultat eines diskursiven Konstruktionsprozesses und nicht dessen Subjekt. Jedes politische Kollektiv – sei es Partei, Bewegung, Sekte oder Netzwerk – muss zuallererst aus verstreuten Elementen zusammengesetzt werden, die Teilnahme an jedem Protestereignis muss synchronisiert, d.h. Protest muss getaktet werden. Auf allgemeinster Ebene impliziert das so essentiell politische Fragen wie jene der Allianzenbildung, des Suchens nach Koalitionspartnern und der Abgrenzung des eigenen Projekts gegenüber den Projekten anderer – und genau um diese Fragen dreht sich die diskursive Arbeit der Politik. Vielleicht ließen sich diese Fragen auf ein einziges Problem herunterbrechen: Wie finden verstreute politische Elemente in einem Kollektiv zueinander? Was garantiert deren Einheit in der Verstreuung? Wie kommt es zu jenen politischen Begegnungen, in denen sich langfristige Allianzen bilden oder kurzfristige Zweckbündnisse? Wann wird der Feind meines Feindes zu meinem Freund? Und welche diskursive Logik der Verknüpfung liegt all dem zugrunde? Im Folgenden wollen wir diesem Problem nachgehen, indem wir die identitäts- und einheitsstiftende Funktion politischer Demonstrationen untersuchen. Was eine Demonstration – vulgo: Demo – vor allem Inhaltlichen demonstriert, ist gerade Einheit. Die Einheit der Demonstranten 1

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des vom Schweizer Nationalfonds geförderten Projekts »Medien des Protests – Protest als Medium«.

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nämlich. Diese Einheit mag noch so brüchig sein, die Transparente und Slogans noch so disparat, solange gemeinsam demonstriert wird, bleibt irgendein – und sei es noch so vages – Anliegen, irgendeine Forderung vorausgesetzt, auf die sich alle einigen können und die sich gegen eine äußere Instanz richtet oder an sie appelliert. Wir werden also in einem ersten Schritt versuchen, diese demonstrative Logik der Verbindung unterschiedlicher Interessen, Positionen, Identitäten und Forderungen zu einer vorübergehend gemeinsamen politischen Identität diskurstheoretisch zu beschreiben. Dabei ist es in erster Linie unerheblich, in welchem Medium die Demonstration voranschreitet. Traditionell ist dieses Medium die Straße, doch haben die neuen Medien, vor allem das Internet, eigene Demonstrationsformen entwickelt, die zum Teil an die klassische Straßendemonstration erinnern, zum Teil jedoch Möglichkeiten des elektronischen Raums nutzen, die im Straßenraum nicht gegeben sind (und Beschränkungen unterliegen, die der Straßenraum nicht kennt). Seit Mitte der 1990er experimentieren politische Aktivist/-innen mit OnlineInterventionen verschiedenster Art. Armin Medosch hat dies in seinem Überblick Politischer Aktivismus im Internet gegen staatliche Institutionen und privatwirtschaftliche Unternehmen dargestellt. (Medosch 2003; vgl. Morell 2001) Während Medosch jedoch eine mögliche politische Verfassung des Internets als »virtuelle Republik« diskutiert, sollen in einem zweiten Schritt beispielhaft zwei Online-Demonstrationen diskurstheoretisch untersucht werden, an denen ersichtlich wird, wie die Einheit einer politischen Bewegung einerseits nach innen und andererseits nach außen konstruiert wird.

I. Artikulation: Die Trennung in der Verbindung Wir gehen also von der Frage nach der spezifischen politischen Logik der Verbindung oder Verknüpfung ursprünglich unverbundener Elemente aus; ein Prozess, der als gleichbedeutend mit der diskursiven Konstruktion politischer Identität beschrieben wurde. Jener einschlägige Ansatz innerhalb der Diskurstheorie, der die Einheit in der Verstreuung aus politischer Perspektive am genauesten zu beschreiben geeignet ist, findet sich in der Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Es ist das von Laclau und Mouffe entwickelte Konzept der Artikulation, das uns den Schlüssel für das Problem des Zustandekommens politischer Artikulation bietet. Bereits in einem Glossar zu seinem 1979 erschienenen Buch Politik und Ideologie im Marxismus definiert Laclau das Konzept der Artikulation folgendermaßen:

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»Artikulation: Die spezifische Form, die ein System von Beziehungen zwischen heterogenen Elementen annimmt. Artikulation in diesem Sinne steht im Gegensatz zu Reduktion. Eine Reduktion findet immer dann statt, wenn eine Reihe von Elementen sich als notwendige Formen eines oder mehrerer anderer Elemente präsentieren: die Unterschiede werden folglich reduziert auf bloße Momente einer substantiellen Identität. Bei der Artikulation sind im Gegenteil die Unterschiede konstitutiv. Der typische Fall von Artikulation ist das Zeichen, in welchem die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat völlig arbiträr ist.« (Laclau 1981: 207)

Die Identität oder Kohärenz einer Diskursformation wird also nicht durch ein Prinzip (ein transzendentales Signifikat) gesichert, sondern allein durch den relationalen Charakter aller Momente. Aus diesem Grund konnte das theoretische Projekt Laclaus und Mouffes als radikaler Relationismus qualifiziert werden. Wie aber werden diese Relationen nun hergestellt bzw. wie wird bestimmten Relationen zu Dauer verholfen? Laclau und Mouffe beantworten diese Frage anhand der Konzepte Äquivalenz und Differenz und gehen dazu vom Beispiel eines kolonisierten Landes aus. Dort wird die Unterscheidung zwischen den Kolonialherren und den Kolonisierten durch eine Reihe von Differenzen in der Kleidung, der Sprache etc. ausgedrückt. Obwohl sie alle als Differenzen konstruiert sind, sind sie miteinander äquivalent aufgrund ihrer gemeinsamen Unterscheidung von der jeweils anderen Gruppe. Den gemeinsamen Differenzen liegt in dieser Äquivalenzkette etwas Identisches zugrunde: ein »identisches Etwas«, ein »identical something«. Dieses Gemeinsame kann keine positive Bestimmung haben oder einem Prinzip unterliegen, denn dann wäre die Bildung einer Äquivalenzkette überflüssig. Das Vereinheitlichende ist vielmehr ein ausschließlich Negatives, nämlich das, was durch die Äquivalenzkette negiert wird: »Demgemäß schafft ein Äquivalenzverhältnis, das alle positiven Bestimmungen des Kolonisators im Gegensatz zu den Kolonisierten absorbiert, kein System positiver differentieller Positionen zwischen beiden, einfach weil sie jede Positivität auflöst: der Kolonisator wird diskursiv als der Nicht-Kolonisierte konstruiert. Mit anderen Worten: die Identität ist rein negativ geworden.« (Laclau/Mouffe 1991: 184)

Diese negative Identität kann nur auf dem Umweg über eine Äquivalenzbeziehung differentieller Momente repräsentiert werden. Laclau und Mouffe bezeichnen die aus der Verknüpfung resultierende Identität als Äquivalenzkette, das alle Positivität auflösende Prinzip der Negation, das der Äquivalenzkette zugrunde liegt, als Antagonismus und die diskursive Arbeit der Verknüpfung differentieller Elemente zu einer Äquivalenzket-

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te als Artikulation.2 Der Begriff der Artikulation beschreibt also jenen Prozess, durch welchen ursprünglich unverbundene Elemente zu einer gemeinsamen politischen Identität gegenüber einem negatorischen Außen zusammenfinden. In den Cultural Studies wurde der Begriff der Artikulation von Laclau übernommen. So erklärt Stuart Hall (2000: 65): »Aber wir sprechen auch von einem verkoppelten (articulated) Lastwagen: Ein Lastwagen, bei dem das Führerhaus mit einem Anhänger verkoppelt sein kann, aber nicht muss. Die beiden Teile sind miteinander verbunden, aber durch eine bestimmte Art der Verkoppelung, die gelöst werden kann. Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist. Man muss sich fragen, unter welchen Bedingungen kann eine Verbindung hergestellt oder geschmiedet werden? Die so genannte ›Einheit‹ eines Diskurses ist in Wirklichkeit die Artikulation verschiedener, unterschiedlicher Elemente, die in sehr unterschiedlicher Weise reartikuliert werden können, weil sie keine notwendige ›Zugehörigkeit‹ haben. Die ›Einheit‹, auf die es ankommt, ist eine Verbindung zwischen diesem artikulierten Diskurs und den sozialen Kräften, mit denen er, unter bestimmten historischen Bedingungen aber nicht notwendig, verbunden werden kann.«

In seinem jüngsten Buch On Populist Reason hat Ernesto Laclau (2005) diese artikulierten bzw. zu artikulierenden Grundelemente – aus Sicht der Diskursanalyse – als Forderungen bestimmt (wie zum Beispiel Forderungen nach ›mehr Lohn‹, nach ›Existenzgeld‹, nach ›Freiheit‹ oder nach der ›Einführung der Tobin-Steuer‹). Damit verabschiedet er sich von jeder soziologistischen Annahme einer Gruppenidentität, die der Artikulation der Forderung vorausliegen würde. Vielmehr erschafft die Artikulation politischer Forderungen erst die Identität eines fordernden politischen Subjekts. Widerspricht das nicht Stuart Halls Behauptung, die Artikulation würde nicht nur diskursive Elemente (wie Forderungen) miteinander verknüpfen, sondern auch den Diskurs mit »sozialen Kräften«, die für Hall offenbar unabhängig vom Diskurs bestehen? Die Bearbeitung dieses Problems würde mehr Platz beanspruchen, als hier zu Verfügung steht. Dass auch Hall nicht umstandslos soziologistisch von prä2

Dabei ist anzumerken, dass ein Zustand totaler Äquivalenz, also eine strikte antagonistische Aufteilung des diskursiven Raums in zwei Lager, nie erreicht werden kann. Sowohl der Differenzlogik als auch der Äquivalenzlogik gelingt niemals die Naht des gesellschaftlichen Raumes. Darüber hinaus vervielfachen sich in instabilen und in demokratischen Gesellschaften die Orte des Antagonismus, da durch Negation einer jeden Position innerhalb eines differentiellen Systems ein Antagonismus entstehen kann. 210

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konstituierten Gruppen ausgeht, wird aber deutlich, wenn man das obige Zitat weiterverfolgt. So heißt es: »Eine Theorie der Artikulation ist daher zugleich eine Art und Weise zu verstehen, wie ideologische Elemente unter bestimmten Bedingungen sich in einem Diskurs verbinden, und eine Art zu fragen, wie sie in bestimmten Konjunkturen mit politischen Subjekten artikuliert oder nicht artikuliert werden. Oder anders gesagt: die Theorie der Artikulation fragt, wie eine Ideologie ihre Subjekte entdeckt und nicht wie das Subjekt die notwendigen und unvermeidlichen Gedanken denkt, die zu ihm gehören. Sie ermöglicht es uns zu denken, wie die Ideologie Menschen handlungsfähig macht und es ihnen ermöglicht, auf einsichtsvolle Weise ihre historische Situation zu begreifen, ohne diese Formen der Einsicht auf ihre sozioökonomische, Klassen- oder soziale Position zu reduzieren.« (Hall 2000: 65f.)

Worin besteht dann die Differenz zwischen Laclaus Position und jener Halls? Die Differenz besteht ganz offenbar nicht in der Sache (beide Theorien der Artikulation sind kompatibel, wenn nicht identisch), sondern in der Perspektive. Wählt Laclau eine makropolitische Perspektive, die unter Artikulation vor allem die Konstruktion der Einheit einer politischen Bewegung gegenüber einem negatorischen Außen versteht, so liegt Halls mikropolitischer Fokus gleichsam auf der Innenansicht einer Bewegung. Laclau interessiert, wenn man das so behavioristisch formulieren will, die Außenwirkung politischer Artikulation, während Hall die Innenwirkung interessiert. Noch einfacher gesagt: Laclau interessiert eher der »politische« Aspekt von Artikulation (im herkömmlichen Sinn von Politik), Hall hingegen der »kulturelle«. Statt nun beide Zugänge gegeneinander auszuspielen, wäre es wohl produktiver, in ihnen zwei Ansichten desselben Artikulationsprozesses zu vermuten. Einerseits benötigt jede politische Bewegung, um ihre Einheit vorübergehend stabilisieren zu können, einen äußeren politischen Feind, andererseits muss sie innerhalb dieses nach Außen gezogenen Horizonts kulturelle Identitätsund Bewusstseinsformen entwickeln, an denen sich ihre Mitglieder auch nach innen hin erkennen können. Im Folgenden werden wir an zwei Online-Demonstrationen beispielhaft zeigen, wie dies im Medium Internet vonstatten geht. Während die Netparade der Prekariatsbewegung die Identität ihrer Mitgliedschaft stärker über die Artikulation gemeinsamer sub-kultureller, beruflicher und politischer Einzelidentitäten verbindet, spielt dies im Fall der Lufthansa-Demo kaum eine Rolle. Hier ist es vor allem die Artikulation gegenüber einem äußeren Feind, der die Demonstranten für den Augenblick der Demo zueinander führt.

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II. Einheit nach außen: Online-Demonstration gegen die Lufthansa AG Am 20. Juni 2001 fand die erste Online-Demonstration in Deutschland statt. (Initiative Libertad! 2007) Der Aufruf im Rahmen der Kampagne deportation.class ging von der Initiative Libertad! und dem antirassistischen Netzwerk kein Mensch ist illegal (kmii) aus, das bereits seit 1997 gegen die deutsche Abschiebepraxis und das europäische Grenzregime mobilisiert hatte. Rund 13.000 Menschen beteiligten sich vor dem Webportal der Lufthansa AG an einer virtuellen Demonstration gegen die Abschiebepraxis der deutschen Fluggesellschaft. Durch wiederholtes Aufrufen der Lufthansa-Webseite in einem definierten Zeitfenster von zwei Stunden konnten die virtuellen Demonstranten den Zugriff auf die Webseite verlangsamen, für kurze Zeit gar unmöglich machen. Die Lufthansa strengte einen Prozess wegen Nötigung an, der allerdings im Oktober 2005 von der nächsthöheren Instanz kassiert wurde. Seitdem ist es rechtsgültig: Das World Wide Web ist ein politischer Raum, in dem Demonstrationen legitim sind.3 Das Konzept dieser Online-Demonstration folgte in vieler Hinsicht vertrauten Protestabläufen. Eine bekannte Protestform (Demonstration vor einer missliebigen Institution) wurde in einen anderen, einen virtuellen Raum übertragen, der sich hinsichtlich seiner Struktur vom städtischen öffentlichen Raum, in dem traditionell demonstriert wird, unterscheidet (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2005), der jedoch, wie wir sehen werden, an bekannte Strukturen angepasst werden kann. So wie Straßendemonstrationen häufig zu bestimmten, vom ›Außen‹ definierten Zeitpunkten stattfinden (als Beispiel seien die Proteste gegen die G8Gipfel genannt), so wurde auch für die Online-Demonstration ein vorgegebener Anlass gewählt: die Jahreshauptversammlung der Lufthansa Aktionäre. (Vgl. Schneider 2001) Während im Internet das Webportal der Lufthansa blockiert wurde und deren Techniker alle Hände voll zu tun 3

Schon im Vorfeld stieß die Online-Demonstration auf deutliches Interesse in bewegungsnahen wie auch in etablierten Medien. (Vgl. Libertad!-Projektwebseite) Dabei spielte sicher der im Jahr 2001 noch akute Internethype eine Rolle. Dass das Thema der Abschiebung von Migrant/-innen und Flüchtlingen aus Deutschland verstärkt auf die politische Tagesordnung gelangte, wurde seitens der Kampagne als Erfolg gewertet: »Das schmutzige Abschiebegeschäft hat die Aufmerksamkeit erfahren, die es verdient«, erklärte Kampagnensprecherin Anne Morell. »Wer Zeitung liest, weiss nun, dass die Lufthansa Menschen gegen ihren Willen ausser Landes verfrachtet und auch noch davon profitiert.« (Presseerklärung kmii 2001) 212

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hatten, die Kapazitäten der Webserver zu erweitern, intervenierten Gruppen aus dem antirassistischen Netzwerk kein mensch ist illegal in die Jahreshauptversammlung und bestimmten damit das Thema der Veranstaltung. Die Verknüpfung von physikalischem und virtuellem Raum ging bis ins Detail: So wurde die Online-Demonstration beim Ordnungsamt Köln angemeldet (vgl. Korrespondenz Ordnungsamt Köln 2001), was das Ordnungsamt freilich nicht akzeptieren mochte. (Vgl. Schwarzer 2001b) Die Protestierenden begründeten die Rechtmäßigkeit ihrer Aktion folgendermaßen: »Wenn Konzerne, die mit Abschiebungen Geld verdienen, ihre grössten Filialen im Netz aufbauen, dann muss man auch genau dort demonstrieren. Ähnlich wie bei einer Sitzblockade soll der Zugang zur Homepage der Lufthansa AG durch tausende Internetnutzer/-innen zeitweise versperrt werden. Aber das geht nur, wenn viele mitmachen.« (Libertad! Projektseite Online-Demo)

Den Demonstranten ging es also um die Konstitution einer dem Raum des E-Commerce angemessenen Öffentlichkeit, in der legal demonstriert werden kann. Eben diese Rechtmäßigkeit der Berufung auf das Demonstrationsrecht im virtuellen Raum wurde vom Justizministerium bezweifelt. (Vgl. Krempl 2001) Auf das Vorbild einer traditionellen demokratischen Öffentlichkeit verweist auch die Tatsache, dass alle virtuellen Demonstrierenden anhand der Internetprovider-Nummer erkennbar waren. Dies legt das Bild des aufrechten Bürgers, der von seinem Recht zur freien Meinungsäußerung Gebrauch macht, weitaus eher nahe als das Bild des aus dem Verborgenen heraus operierenden Guerillakämpfers. Zur Erklärung der Online-Demonstration griff man auf bekannte Bilder zurück: »Die Online-Demonstranten wollen, ähnlich wie bei einer Sitzblockade vor einem Werkstor, den Zugang der Lufthansa-Homepage verriegeln.« (Schwarzer 2001a) Der Logik des Demonstrierens folgte auch die Wahl der verwendeten Software. Diese war nicht als Hacker-Tool konzipiert, das auf einen einzigen Mausklick mit der Blockierung einer Webseite reagiert. Stattdessen setzte ihre erfolgreiche Anwendung die Zusammenkunft (Verabredung) vieler voraus. Die Software ermöglichte also nicht klandestine Sabotage, wie etwa bei den höchst wirksamen, vollautomatischen DOS-Attacken gegen Yahoo oder Microsoft geschehen, sondern die Durchführung einer öffentlichen Demonstration im Internet. In seinem Schlusswort zum Prozess im Juli 2005 betonte Andreas-Thomas Vogel von der Initiative Libertad!, dass der Zweck der Online-Demo eben nicht technisch elegante Sabotage war:

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»Denn, wenn das die Absicht der Online-Demo gewesen wäre, hätten wir uns viel Mühe sparen können. ›Technisch‹ wäre das erfolgreicher gewesen. Aber das war eben nicht die politische Absicht. Niemand sprang aus der Reihe und hackte z.B. tatsächlich den Lufthansa-Server oder entführte die LufthansaHomepage, was ja durchaus nahe liegend und auch nicht so schwer gewesen wäre. Das zeigt, wie sehr alle Demonstrierenden den Charakter und die Absicht dieser Online-Aktivität verstanden und zur eigenen Sache gemacht haben.«

Die politische Absicht sei es gewesen, »die deportation.class der Lufthansa in der Öffentlichkeit zu thematisieren und die Abschiebepraxis zu delegitimieren« (Initiative Libertad! 2007: 104). Genau wie auf der Straße die Größe einer Demonstration die Kraft der Bewegung und die Relevanz einer Forderung unterstreicht – es geht um eine zumindest symbolische gesellschaftliche Mehrheit bzw. Relevanz –, so soll auch im Netz sichtbar gemacht werden, dass die Kampagne gegen die Abschiebungen durch die Lufthansa von einer großen Anzahl von Leuten unterstützt wird. Wie stellt sich nun die diskursive Intervention der Protestierenden aus diskursanalytischer Sicht dar? Welche Differenzen wurden gegenüber dem Außen der Lufthansa hervorgehoben? Die Kampagne deportation.class operierte vor dem Hintergrund des Globalisierungsdiskurses, der spätestens Mitte der 90er Jahre dominant geworden war. (Vgl. Adolphs/Hörbe/Karakayali 1998) Die Vorstellung einer weltweiten Zirkulation von Menschen, Waren und Dienstleistungen ist ein zentrales Element dieses Diskurses. So beruhte auch das Image der Lufthansa und damit ihr »Geschäft […] nicht zuletzt auf der Fantasie einer Welt ohne Grenzen, offen für unbegrenztes Vergnügen oder Geschäftsideen aller Art« (autonome a.f.r.i.k.a.-Gruppe 2001: 113), die der kompetente Dienstleister Lufthansa den Kunden im gesamten globalen Raum ermöglicht. An diesem Punkt der Selbstdarstellung setzten die Abschiebegegner mit ihrer Imageverschmutzungskampagne an. Die Außendarstellung der Lufthansa wurde durch die Produktion einer Reihe von Differenzen, die sich alle auf den Bereich der Abschiebung bezogen, konterkariert. Zur Economy Class und Business Class kam die deportation.class, als in Reisebüros und anderen strategisch ausgewählten Orten täuschend echte, nach der Corporate Identity der Lufthansa gestylte Broschüren auftauchten, in denen Passagiere zur Buchung verbilligter Tickets eingeladen wurden. Dafür müssten diese die Präsenz unfreiwilliger »Schüblinge«, die gegebenenfalls gewaltsam zu disziplinieren wären, in Kauf nehmen. Die deportation.class Kampagne nahm bestimmte Elemente aus der Selbstdarstellung der Lufthansa auf, etwa das Produkt ›Reisen für ökonomisch und beruflich selbstbestimmte Individuen, die sich weltweit flexibel, komfortabel und sicher von A nach B bewegen wollen‹, und arti214

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kulierte in Differenz dazu Elemente wie ›unfreiwillige Rückkehr von Flüchtlingen und Migrant/-innen‹ oder ›repressive staatliche Maßnahmen‹. Nun steht der Äquivalenzkette der Lufthansa, bestehend aus der Artikulation von Elementen wie ›Fernreisen‹, ›unendliche Weite‹, ›fremde Länder‹, die ›grenzenlose Freiheit über den Wolken‹, die Äquivalenzkette ›Migration‹, ›illegale Grenzüberschreitung‹, ›Abschiebungen‹, ›internationale Rücknahmeabkommen‹ gegenüber. In der diskursiven Intervention der Kampagne werden beide Äquivalenzketten auf einer ersten Ebene demselben Signifikanten, eben der Lufthansa, zugeordnet. Die ›neuen‹ Eigenschaften der Lufthansa visualisierte die Kampagne mittels der Verfremdung von diskursivem Material, das sie der Lufthansa enteignet hatte: nämlich deren Corporate Identity, manifest in ihrem Werbematerial vom Prospekt bis zur Webseite, vom Logo bis zum Werbefeldzug. Im Kollektivsymbol (Link 1997) des Flugzeugs etwa, einem Ort, an dem Reisen und Abschiebung zusammenfallen, konnte die Kampagne die Thematik der Migration und der oft todbringenden Grenzregime mit dem dominanten liberalen Globalisierungsdiskurs verknüpfen. Diese Verknüpfung, oder in der Terminologie von Laclau/Mouffe Artikulation, wird beispielsweise an dem von der deportation.class benutzten Slogan »Wir fliegen Sie raus« deutlich. Wie eine optische Täuschung kann dieser Satz in beide Richtungen gelesen werden. ›Wir fliegen Sie raus‹ einerseits als Angebot: aus dem Alltagsstress, der alltäglichen Langeweile – oder aber als Drohung: aus dem Land, in dem Sie leben und das Sie keinesfalls verlassen möchten. Auf dieser ersten Ebene subversiver Rekodierung wird zwar schon ein System von Differenzen ausgebildet, aber dieses hat eher den Effekt eines subtilen inneren Widerspruchs als den eines antagonistischen Freund/Feind-Schemas. Dieser Widerspruch wirkt eher im Inneren des Unternehmens und trägt zur Verschmutzung des Unternehmensimages bei, ohne deshalb schon große öffentliche Wirkung zu entfalten. Erst auf einer zweiten Ebene, in diskursiver Artikulation mit dem Feld der Öffentlichkeit und Politik, entsteht die Möglichkeit zur Ausbildung eines Antagonismus und damit auch zur Konstitution der (politischen) Bewegung gegen Abschiebung, die sich mit ihren Forderungen antagonistisch gegenüber den repressiven Staatsapparaten und den an der Abschiebung beteiligten Unternehmen positioniert. Doch im Unterschied zum Prozess der Imagebildung (oder Imageverschmutzung) im Feld der Werbung, in dem es vor allem um eine positive Repräsentation der Produkte und des Unternehmens geht, ist die diskursive Strukturierung des politischen Felds weniger flexibel. Um in der Öffentlichkeit gehört zu werden, wird man sich teils der dort hegemonial gewordenen Diskurse bedienen müssen, weshalb die Kampagne sich gezwungen sah, ihre Kritik an den rela-

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tiv verfügbaren und zugleich als verbindlich angesehenen liberalen Menschen- und Bürgerrechtsdiskurs rückzubinden. In der Ausweitung der Äquivalenzketten auf das politische Feld konstruiert die Kampagne also das von ihr negierte Außen, indem sie die Artikulation von ökonomischen Dienstleistungen mit repressiven staatlichen Maßnahmen, die zu freiheitsgefährdenden bzw. freiheitsnegierenden Effekten führen, kritisiert. Die Lufthansa, so die Aussage von deportation.class, paktiere aus ökonomischem Interesse mit den repressiven Staatsapparaten, die die Abschiebungen anordnen. Damit werde sie zum Feind eines bürgerrechtlich bestimmten (liberalen) Individuums, das ökonomisch und privat seinen eigenen Interessen nachgeht. Die Abschiebegegner haben ihre Kampagne also mit dem hegemonialen liberalen Menschenrechtsdiskurs artikuliert, was es ihnen erlaubt, die Ziele ihrer Kampagne als die der gesellschaftlichen Mehrheit darzustellen. Die Kampagne lädt das Unternehmen dazu ein, seine Unternehmensidentität wieder an einem liberal-menschenrechtlichen Ideal zu orientieren und durch öffentliche Bekanntgabe der Aufgabe des Geschäftsfelds ›Abschiebung‹ die von außen herangetragene negative Identität zu reartikulieren.4 Die Strategie der Kampagne bietet der Lufthansa also die Möglichkeit, die Seiten zu wechseln, wieder zum Teil der liberalen ›Mehrheitsgesellschaft‹ zu werden, solange sie ihre Geschäfte in Übereinstimmung mit den Menschenrechten abwickelt. Diese Möglichkeit besteht aufgrund der spezifischen Beschaffenheit des politischen Feldes und des ihn dominierenden liberalen Diskurses. Der Antagonismus wurde gegenüber dem Staat und seinen repressiven Apparaten ausgebildet, die Lufthansa ist Teil dieses feindlichen Außen, solange sie ihre ökonomischen Aktivitäten den staatlichen Maßnahmen unterordnet. Arbeitet das Unternehmen jedoch nicht mehr mit den staatlichen Stellen zusammen, kann es auf die 4

Diese Artikulation der Kampagne im hegemonialen politischen Feld ermöglicht den Akteur/-innen der Kampagne, aus einer Position der ›politischen Vernunft‹ heraus den Piloten, dem Bordpersonal, den Passagieren oder sogar dem Unternehmen Lufthansa Vorschläge zu unterbreiten, die der Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte förderlich sein könnten. So werden beispielsweise Piloten auf ihr Recht der Beförderungsverweigerung unfreiwillig an Bord festgehaltener Passagiere aufmerksam gemacht. Im Februar 2001 rät der Berufsverband der Piloten seinen Mitgliedern, sich nur an Abschiebungen von Flüchtlingen zu beteiligen, wenn diese freiwillig mitfliegen. (Vereinigung Cockpit 2001) Passagieren wird erklärt, dass sie Abschiebungen verhindern können, indem sie sich schlicht weigern, Platz zu nehmen. Schließlich wird die Lufthansa AG darauf hingewiesen, dass sie rechtlich nicht dazu verpflichtet sei, Abschiebeflüge durchzuführen.

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Seite der gesellschaftlichen Kräfte und damit auf die andere Seite des Antagonismus wechseln.

III. Einheit nach innen: Die MayDay Netparade Im Jahr 2004 konnte man erstmalig am Ersten Mai online demonstrieren. Auf einer vom italienischen Kollektiv molleindustria gebauten Webseite rollten phantasievoll hergerichtete Trucks, umgeben von ordentlich aufgereihten Demonstrant/-innen und begleitet von wummernden Technosounds durch eine virtuelle Stadt. Im Aufruf hieß es: »You’re hyperwelcome to join the MayDay NetParade, a virtual demo that runs thru a heavily guarded and branded city put under siege by insurgent legions of brain+chain+temp workers and assorted anarchists, commies, queers and greens.« (Netparade 2004) Wer der Einladung folgen wollte, konnte einen persönlichen Avatar gleich einem Anziehpüppchen aus einem bereitgestellten Fundus mit Kopfbedeckungen, Haartrachten, Hautfarben, und Oberbekleidung ausstatten, ihm einen Namen geben, Wohnort und Beschäftigung sowie einen Slogan angeben und ihn, sie oder es auf die Netparade schicken. Im Jahr 2004 marschierten über 17.000 phantasievoll gestaltete Avatare mit. Die Webseite positioniert sich im Kontext einer seit 2001 wachsenden europäischen Prekariatsbewegung: »The marching avatars are digital simulacra of today’s exploited masses of neoliberalism: précaires, precari@s, precari, cognitarie, contingent knowledge and service workers.« (Netparade 2004) Diese Bewegung artikuliert sich seit 2001 in einer wachsenden Zahl von europäischen Städten durch EuroMayDay Paraden. Obwohl diese Events am gleichen Datum wie die Veranstaltungen der Gewerkschaften zum Ersten Mai durchgeführt werden, unterscheiden sie sich von diesen in Forderungen, Publikum und Artikulationsformen. Gerald Raunig beschreibt die MayDay Parade in Barcelona im Jahr 2004 folgendermaßen: »In atemberaubender Geschwindigkeit verwandelten sich die Straßenzüge, die die Demonstration passierte, in bemalte Zonen. Im Schutz der Demo wurde die Stadt in ein Meer von Zeichen getaucht: Schablonengrafittis, politische Parolen, Plakate, Aufkleber, Hinweise auf Websites, Beschriftungen von Zebrastreifen, kontextualisierende Wandmalereien, hier und da kommentiert durch performative Aktionen […] Wo traditionelle linksradikale Parteien früher ihre immergleichen Slogans uniform mit sich schleppten, tat es hier mitunter auch der Hinweis auf eine Website.« (Raunig 2004)

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Die Netparade als eine dieser Webseiten bildet einen Moment in der Formierung der Prekariatsbewegung ab. Anders als bei der OnlineDemonstration gegen die Lufthansa kommt hier der Aspekt der intern hergestellten Einheit stärker zum Tragen. Der äußere Gegner, benannt als ›Neoliberalismus‹, bleibt weitgehend abstrakt. Die Netparade formuliert keine expliziten Forderungen an ein Außen, wie es die Prekariatsbewegung in anderen Bereichen etwa mit der Forderung nach Existenzgeld durchaus tut. Es wird nicht in einen bestehenden (virtuellen) Raum interveniert, die Webseite der Netparade besetzt ihren eigenen Raum. Adressat ist die Bewegung, sind die potentiell Bewegten in all ihrer noch nicht festgelegten Vielfalt selbst. Aus diesem Grund stellen sich innere Differenzierungen umso deutlicher dar: Welche Forderungen werden also unter dem Signifikanten Prekarisierung verhandelt? Wer reiht sich ein, wer bleibt außen vor? Und welche Identitäten werden über ihre Einschreibung in eine Äquivalenzkette konstruiert? Erste Hinweise auf den Vorgang der Identitätskonstruktion nach innen geben die Accessoires für die Avatare. Zur Auswahl standen etwa Rastamütze, Baseballkappe, Motorradhelm, poppige Lockenperücke, lange oder kurze Haare in vielen Farben von pink bis grau oder Glatze. Es gab T-Shirts mit Anarchie-Zeichen oder Hanfsymbol, Jackets, Röcke, kurze oder lange Beinkleider, oder auch nackte Ober- und Unterkörper mit frei kombinierbaren männlichen oder weiblichen Merkmalen. So konnte man verschiedene differenzielle Positionen besetzen: Als Punk mit grünem Irokesen, schwarzer Lederjacke und engen Hosen. Als Büroarbeiter mit weißem Hemd und Schlips oder als Angestellte mit Rock und Bluse. Als Arbeiter im Blaumann mit gelbem Bauhelm auf dem Kopf, als männlicher oder weiblicher Nerd mit Brille und öden Farben. Als hippes Ravegirl in Regenbogenshirt und Minirock mit rosa Dreadlocks, als bärtiger Intellektueller mit Brille, als Black Block ganz in schwarz von der Hose bis zum Motorradhelm oder auch ganz nackt. Jede differenzielle Position fungiert zunächst als mit konkreter Bedeutung gefülltes, nicht per se dem Prekaritätsdiskurs zugeordnetes Moment, als bedeutungsvolles Zeichen eines bestimmten Habitus: Der Blaumannträger gehört in die Werkstatt, die Punkerin ins besetzte Haus, der Hippie auf den Ökobauernhof, der Anzugträger ins Büro, der queere Künstler ins Atelier, die pinke Lockenfee auf den Globalisierungsprotest. Alle Accessoire-Kombinationen oder Objekte verweisen mit einer Fülle von Konnotationen auf bestimmte, voneinander unterschiedene Lebensstile und politische Auffassungen, die nicht per se Bestandteil des Prekarisierungsdiskurses sind. In der Netparade formieren sie sich als flottierende Elemente zu einer Äquivalenzkette. Als solche sind sie einerseits, um sich in die Äquivalenz eines Diskurses einfügen zu können, nicht

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mehr auf ihre konkrete erste Bedeutung festgelegt. Die Äquivalenz entsteht durch Artikulierung differenzieller Positionen gegenüber einem Außen, hier der Prekarisierung: Der Blaumann wird zum Chainworker, der Schlipsträger zum Brainworker usw.: »Somit erzeugt die Äquivalenz eine zweite Bedeutung, die die erste, obwohl sie von ihr zehrt, untergräbt: die Differenzen heben sich einander gegenseitig auf.« (Laclau/Mouffe 1991: 183) Andererseits bleibt dieses Außen abstrakt und sekundär im Verhältnis zu all den identitären Differenzen, die in einem bunten Patchwork zusammenfinden, sich rekombinieren und im nächsten Moment schon wieder herauszulösen scheinen. Der Aspekt des Flottierenden charakterisiert die einzelnen Elemente hier viel stärker als im Fall der strikt antagonisierten Online-Demo gegen die Lufthansa. Dieser Aspekt kommt etwa auch darin zum Ausdruck, dass viele Teilnehmer/-innen dem Aufruf folgten, ihre Ironie zum Ausdruck zu bringen, und unterschiedlichste, differentielle und scheinbar nicht miteinander zu vereinbarende Momente kombinierten: etwa der kommunistische Punkrocker mit Irokesenhaartracht und Hammer-&-Sichel-T-Shirt, der Krawattenträger ohne Beinkleider, oder diejenigen, die nackte Busen mit Bärten oder Penissen kombinierten. Diese Kombinationen, so unerwartet sie in mancher Hinsicht sein mögen, sind dennoch nicht gänzlich abgelöst von der kulturellen und subkulturellen Lebenswelt der Demonstrierenden. Vieles entspricht tatsächlich der Realität vieler prekarisierter Arbeiter/-innen: Der gut verdienende Programmierer kann im besetzten Haus wohnen, die Putzfrau kann gleichzeitig Studentin sein (vgl. Interview 2006).5 Neben den Avataren wurden folglich auch andere habituelle Elemente der (sub-)kulturellen Lebenswelten der Protestierenden in die Äquivalenzkette des Prekarisierungsdiskurses integriert. Die Webseite als Ganze wurde als Videospiel konzipiert und bezieht sich damit auf die gaming community, und die Kombination aus Nickname, Slogan und Körperaccessoires erlaubt die Erstellung einer rudimentären, aber doch aussagekräftigen Identität, die an vornehmlich von Jugendlichen genutzte virtuelle Social-NetworkingPlattformen wie etwa myspace.com erinnert. Mit der Form der Parade – komplett mit Technosound und Trucks – schließt man an die Rave-Szene und die Reclaim the Streets Parties an, die sich seit Ende der 1990er Jahre weltweit als Protestform zur Aneignung öffentlichen Raumes verbreitet haben. 5

Die Teilnehmer/-innen wurden gebeten, einige Fragen zur Arbeitssituation (Bezahlung, Urlaub, Wochenende, gewerkschaftliche Organisierung, Typ der Arbeit, Geschlecht, Nationalität) zu beantworten, diese Statistik wurde in Form eines Kuchendiagramms visualisiert. 219

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Da die äquivalentielle Dimension der Bewegung nicht völlig verschwinden kann, ohne dass sich die Bewegung selbst auflösen würde, bleiben durchaus Reste des Imaginären herkömmlicher antagonistischer, d.h. strikt äquivalentiell konstruierter politischer Manifestationen erhalten: Obwohl zum Beispiel keine Transparente mit politischen Parolen vorgesehen sind, erinnern die ordentlichen Reihen der Avatare an die Demonstrationsformationen traditionellerer sozialer Bewegungen. Dennoch funktioniert die Formierung eines Prekariats unter dem (noch) leeren Signifikanten der Prekarisierung trotz vieler Bezugspunkte anders als die des auf die klassische Industriearbeiterschaft zurückgehenden Proletariats. Dieses konstruierte seine Einheit aufgrund einer bestimmten sozialen Lage (z.B. Facharbeiter als Norm der gewerkschaftlichen Organisierung oder die Vereinigung durch die gleiche Tätigkeit in der Fabrik, am gleichen Ort und zur gleichen Zeit). Die internationalistische Arbeiterklasse sollte den jeweiligen kulturellen Traditionen gemäß nationale Revolutionen machen bzw. am Ersten Mai in verschiedenen Ländern auf die Straße gehen. Das Prekariat dagegen setzt auf seine Vielheit: »We are a mixed bunch, a heterogeneous multitude of precarious jobs and lives. Yet we have not spawn out of fordist assembly chains, but out of dystopian retail chains and office spaces.« (Netparade 2004) Es ist gekennzeichnet durch eine globale Netzwerkproduktion, die an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Konditionen stattfindet. Durch die Globalisierung der verschiedenen Räume (ökonomisch, regulatorisch-staatlich, kulturell-medial) sind nun Menschen an voneinander weit entfernten Orten gezwungen, ihre Verbindung auf neue Weise zu konstruieren. Die Prekariatsbewegung bezieht sich auf diese neue Raum-Zeitlichkeit globaler Zusammenhänge, und die Protestform der Netzparade symbolisierte sowohl die Verstreuung als auch das Netzwerk des Prekariats. Zum EuroMayDay demonstrieren unterschiedlichste Arbeitende und Nicht-Arbeitende, aufeinander bezogen in einem fragmentierten Raum.

Fazit: Die Taktung von Protest Die mediale Verabredung im Netz zu Protesten bedeutet nicht, dass sich die Politik nun völlig ins Netz verlagert hätte. Im Gegenteil lässt sich feststellen, dass Online-Proteste dann eskalieren bzw. Verabredungen im Internet dann eingehalten werden, wenn auch die Demonstrationen auf der Straße eskalieren. Saskia Sassen stellt fest, dass die Nutzung des Internet durch kleinere Initiativen vor Ort, diesen dazu verhilft, »local politics with global span« (Sassen 2004: 649) zu praktizieren. Jede noch so kleine Aktion, sei sie auch noch so abseits der Metropolen angesiedelt,

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kann potentiell in den Kreislauf globaler Politik eingespeist werden. Dazu muss aber nicht nur ein Zugang zum Internet vorhanden sein, was für viele Initiativen abseits der Metropolen keine Selbstverständlichkeit darstellt. Ebenso wichtig ist es, dass ein diskursiver Signifikant gefunden wird, der den jeweils spezifischen lokalen Initiativen Ausdruck zu geben vermag. Innerhalb der globalen Protestbewegung beinhaltete dieser Signifikant oft nicht nur einen Gegner und Forderungen, sondern auch die Setzung eines gemeinsamen Datums (J18, MD2K, S26), an dem weltweit Proteste abgehalten wurden (vgl. Brünzels 2000), die oft zeitgleich im Internet abgebildet wurden und manchmal, wie im Fall der OnlineDemo, dort auch stattfanden.6 Unter diesem Aspekt besteht eine der wesentlichen politischen Funktionen des Kommunikationsmediums Internet darin, ein Mittel zur globalen Synchronisierung von Protesten bereitzustellen: Mit dem Internet wird die zeitgleiche Verabredung für Protestereignisse an verschiedenen physikalischen wie virtuellen Orten möglich, wobei das Protestieren sowohl im Demonstrieren auf der Straße als auch im zeitgleichen Dokumentieren desselben im Internet bestehen kann. Diese medial vermittelte globale Taktung von Protest ist seit den Demonstrationen gegen die WTO in Seattle im Jahr 1999 immer stärker zu beobachten. Die OnlineDemonstration gegen die Lufthansa machte sich diese Logik ebenfalls zunutze: Einzelpersonen, die sich weder einer Initiative vor Ort anschließen noch zur Jahreshauptversammlung der Lufthansa anreisen konnten, hatten die Möglichkeit, sich in den virtuellen Demonstrationszug einzureihen. Der Protest bleibt nicht einzelnen lokalen Initiativen überlassen, die einzelne Abschiebungen zu verhindern suchen, sondern vollzieht sich ebenso global wie die Abschiebepraktiken der Grenzregime. Selbst Organisationen, die sich traditionell nicht unbedingt innerhalb der globalen Protestbewegung verorten, versuchen sich an dieser Taktik der Synchronisierung, so etwa die US-amerikanische Gewerkschaft SEIU, die im Herbst 2006 per E-Mail zu weltweiten Solidaritätsveranstaltungen mit streikenden Reinigungsarbeitern in Texas mobilisierte. Indem OnlineDemonstrationen einen Verabredungsort im globalen Raum bereitstellen und Protest synchronisieren, bieten sie den Demonstranten die Möglichkeit, sich über Einzelaktionen vor Ort hinaus als Einheit, als globale Bewegung, als allgegenwärtige öffentliche Kraft zu artikulieren. Nicht umsonst lautet ein gerne verwendeter Slogan der globalen Protestbewegung: »We are everywhere«. 6

Die Wahl eines Datums als ein von allen akzeptierter leerer Signifikant lässt die Forderungsstruktur so unbestimmt, dass auch sehr unterschiedliche Gruppen und Initiativen ihn akzeptieren können.

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WEM GEHÖREN DIE BEZIEHUNGEN IM NETZ? ÜBER INDIVIDUALISIERUNG, ÖKONOMIE U N D H E R R S C H A F T I M W E B 2.0 ROLAND ALTON-SCHEIDL/THOMAS BARTH »Nach der Einführung der drei Buchstaben www ins Vokabular unseres Verhaltens war klar, daß unsere Beziehung zur Welt sich verändert hatte.« (de Toledo 2005: 107)

Ja, wir leben in einer Netzwerkgesellschaft (van Dijk 1999). Private und geschäftliche Beziehungen werden zunehmend medial und virtuell vermittelt. Beziehungs-Broker lesen heute aus dem Geflecht unsere Gewohnheiten ab und verkaufen Profile weiter. Mit dem Einzug des Web 2.0, wo Vermittlung, Kollaboration und Bewertung zum Standard jedes Webportals werden, müssen wir die Besitzverhältnisse hinterfragen und vielleicht neu organisieren. Zur technischen Vermittlung von Beziehungen im 21. Jahrhundert diskutieren wir hier drei Thesen, betrachten einige Fallbeispiele und werfen zu behandelnde Forschungsfragen auf. These 1 lautet, dass längst nicht alle Internetnutzer an der Bildung virtueller Beziehungsnetze teilnehmen wollen oder können. Der Organisator der ersten Blogging-Konferenz, Thomas Burg, warnt gar vor einer »Digitalen Spaltung zweiter Ordnung« (Sixtus 2006), der Theoretiker der Informationsgesellschaft Manuel Castells vor »alten Mächten«, die eine Ausschließung der von ihnen beherrschten Mehrheit im Sinn haben. (Castells 2001: 77) These 2: Die Schaffung und Pflege unserer privaten und geschäftlichen Beziehungen legen wir zunehmend in die Hände von Vermittlern – sie verwerten Daten, die wir ihnen eigentlich nicht geschenkt haben. Neue Marktplätze entstehen, die kaum reguliert sind und von Medienmogulen kontrolliert werden. Den »alten Mächten« der Herrschaftseliten sowie neuen Internet-Oligopolen müssen wir Konzepte der Selbstverwaltung der technischen Infrastruktur und somit auch unserer Beziehungsnetzwerke entgegensetzen. 225

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These 3: Die zunehmende Individualisierung (zurückgeführt unter anderem auch auf häufige Mediennutzung) öffnet dem Beziehungsleben eine andere Ebene – dies gilt zunehmend auch für Web und mobile Kommunikation. Individualisierung ist zum einen als Entsolidarisierung im Kontext heutiger Herrschaftsstrukturen zu sehen, zum anderen werden diese Strukturen durch neue Netztechnologien destabilisiert: Techniken des Sichtbarmachens der Anderen und Techniken der Verabredung mit Anderen untergraben traditionelle Hierarchien. Die zuweilen beklagte Beliebigkeit der Begegnung mit anderen Menschen, die mit offener, vernetzter Kommunikation einhergeht, lässt sich somit auch in ihren emanzipierenden Aspekten diskutieren.

Knoten und Kontrolle Auch wenn die neuen Vermittlungstechnologien des Web 2.0 einfach zu bedienen sind, müssen wir uns aktiv darauf einlassen und ihnen viel Aufmerksamkeit widmen. Mit dem Bewerten, Kommentieren und Empfehlen entsteht eine neue Kulturtechnologie des semantischen Vernetzens. Die Netzwerkkinder sind die Hoffnungsträger der Telekomunternehmen. »Für diese sind nicht mehr Gegenstände Statussymbole, sondern menschliche Kontakte«, (Nemsic 2006: 22) resümiert der CEO der Telekom-Austria-Gruppe, die mit Bandbreite und mobilen Verbindungen gute Geschäfte macht. Die jungen Nutzer verfolgen neue Strategien: Ein erfolgloser Versuch (etwa einen Kontakt aufzubauen) bedeutet kein Scheitern, sondern ist Anlass für einen neuen Anlauf. Die Erwachsenen von morgen handeln situativ mit einer ausgeprägten Lösungskompetenz, wobei nicht das Ziel selbst, sondern die Annäherung an dieses das Handeln prägt. These 1 wirft die Frage auf, ob solcherart persönliche Entfaltungsmöglichkeiten allen offen stehen oder ob die Gefahr neuer Barrieren droht. Was macht den Reiz aus, in Netzen zu leben? Camille de Toledo untersucht in seinem Buch »Goodbye Tristesse« das Lebensgefühl der 25-Jährigen, er vermutet das Erwachen einer neuen Romantik, die Askese erfordert und dem Reichtum der Netze huldigt. »Jeremy Rifkin, die engagierte Pythia des avantgardistischen Kapitalismus, verkündete in seinen Büchern die Ankunft eines neuen Menschen. Normalerweise kann ich mit solchen Voraussagen wenig anfangen, in diesem Fall muß ich jedoch zugeben, mich in einigen Facetten wiedererkannt zu haben. Ich bin ein *skeeze!* ›Die Menschen des 21. Jahrhunderts werden sich vermutlich eher als Knoten gemeinsamer Interessen verstehen [das bin ich ein

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bißchen] denn als autonome Individuen im darwinistischen Überlebenskampf des freien Wettbewerbs [das bin ich gar nicht]. Persönliche Freiheit erfährt diese erste Generation der vernetzten Wirtschaft nicht im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Eigentum und der Möglichkeit, andere auszuschließen. Freiheit definieren sie als Recht, in Netze wechselseitiger Beziehungen eingebunden zu sein [das bin ich total].‹« (de Toledo 2005: 105f.)

Andere sehen die kommende informationstechnische Flexibilität in Beziehungen weniger rosig als Rifkin und de Toledo. Castells befürchtet, die Flexibilität der menschlichen Informationsknoten könne eine befreiende, aber auch eine repressive Kraft sein, vor allem dann, wenn diejenigen, die die Regeln neu schreiben, von den »alten Mächten« bestimmt werden; denn Netzwerke würden nicht eingerichtet, um einfach nur zu kommunizieren, sondern auch um eine Position zu erringen, von der aus andere von der Kommunikation ausgeschlossen werden können. (Castells 2001: 77) Welche »alten Mächte« er hier gemeint haben mag, deutet Castells erst 400 Seiten später an, wenn er auf die technokratisch-finanziellen Eliten zu sprechen kommt, die ihre »Interessen und Praxisformen« in der Netzwerkgesellschaft verteidigen werden. (Vgl. ebd.: 471) In heftiger, aber wenig überzeugender Abgrenzung von C.W. Mills schreibt Castells: »Vielmehr leitet sich im Gegenteil die wirkliche gesellschaftliche Herrschaft aus der Tatsache her, dass die kulturellen Codes in einer Weise in die Sozialstruktur eingebettet sind, dass der Besitz dieser Codes den Zugang zur Machtstruktur eröffnet, ohne dass die Elite sich erst dazu verschwören müsste, den Zugang zu ihren Netzwerken zu versperren.« (Ebd.: 471f.)

Was Castells uns hier wirklich sagen möchte, ist wohl, dass man die machtpolitisch effektive Einbettung von kulturellen Codes in die Sozialstruktur nicht »Verschwörung« nennen darf. Womöglich entzieht sich Castells an dieser Stelle die Erkenntnis, dass sein Reflektieren von Herrschaftsmechanismen ebenfalls Teil kultureller Kodierungen ist. Diese sind wohl so in die Sozialstruktur eingebettet, dass bestimmte Teile der Machtstrukturen nur mit dem Begriff »Verschwörung« bezeichnet werden können und dieser Begriff zugleich tabuisiert wird. H.J. Krysmanski, der C.W. Mills‹ »Power Structure Research«-Analysen im deutschsprachigen Kulturraum fortsetzt, sieht sich dagegen bemüßigt, sich ausführlich mit dem Vorwurf der »Verschwörungstheorie« auseinanderzusetzen (Krysmanski 2004). Castells vermeidet diese Drehung an der Reflexionsschraube und fragt – ohne Ross und Reiter benennen zu wollen – nach organisationalen Grundlagen der Herrschaft in der Netzkultur. 227

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Herrschaft beruht demnach auf der überlegenen Organisationskapazität der Herrschaftselite. Einen Doppelmechanismus sozialer Herrschaft in unserer Gesellschaft sieht Castells erstens in der optimalen Verbindung der Herrschenden untereinander. Dies widerspricht nicht dem Netzkulturgedanken. Zweitens aber beruht Herrschaft nach Castells auf der Desorganisation der Massen, also derjenigen, deren Interessen den Belangen der Herrschenden untergeordnet werden sollen. (Castells 2001: 471) Daraus lässt sich folgern, dass mächtige Gruppen möglicherweise dafür sorgen werden, in der Gesellschaft den Willen zur Teilnahme an freien Netzen zu unterdrücken; dies geschieht grundsätzlich, indem eine entsprechende Motivation gar nicht erst entsteht, etwa weil beim Einzelnen die Angst um die ökonomische Existenz, Sorgen um Gesundheit und Arbeitsplatz die Lebenskraft und jede Kreativität aufsaugen: Der derzeit betriebene neoliberale Abbau der europäischen Sozialsysteme schafft aus dieser Perspektive auch ein soziales und kulturelles Bollwerk aus neuer Armut und Perspektivenlosigkeit; ein Prekariat, welches die Exklusivität elitärer Kommunikationsnetze stärkt. Doch ein freier Zugang zu Bildung ermöglicht heute die vermehrte Entfaltung sozialer und kultureller Freiheitsbedürfnisse, die sich durch ökonomische Deprivation nicht immer kontrollieren lassen. Nicht verwunderlich ist unter diesem Aspekt auch der Versuch, den Zugang zu freier Bildung zu erschweren, gerade seitens jener Machtgruppen und Konzerne, die sich in der Verteidigung von Herrschaftsinteressen hervortun und auch in den Netzen nach Herrschaft streben. So betreibt der Bertelsmannkonzern seit Jahren eine strategische think tank- und LobbyPolitik für die Einführung von Studiengebühren in Deutschland und wird daher zunehmend zum Ziel studentischer Proteste, so der Osnabrücker Rechtssoziologe Martin Bennhold. (Vgl. Bennhold 2006) Als letzte Verteidigungslinie kommen für die Herrschaftseliten immer die klassischen Kontrollmaßnahmen zum Einsatz: technologische, juristische, polizeiliche Kontrolle der Netze. Werden diese Maßnahmen auch im Web 2.0 greifen? Wer sich die Nutzungsbedingungen einiger Web-2.0-Dienste ansieht, erahnt ein böses Erwachen.

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Exkurs: Was sind die Merkmale des Web 2.0? Das Web erlebt eine Renaissance, bei der sich die Regeln und Geschäftsmodelle verändern. Doppelklick ist Web 1.0, Bewertungen hinzufügen und Kommentare abonnieren ist Web 2.01 (Angermeier 2005).

Abbildung 1: The huge cloud lens bubble map web2.0 (Angermeier 2005)

Anwendungen des Web 2.0 … – sind ausschließlich im Web, der PC wird austauschbar, seine Bedeutung schwindet – sind vernetzt durch eine Architektur des Mitwirkens, durch Inhalte oder kollektives Indexieren (Folksonomy) – werden mit bestehenden Komponenten und offenen Standards entwickelt (Open-Source-Prinzip) – befinden sich immerwährend im Beta-Stadium und haben keinen typischen Softwarelebenszyklus mehr – sind einfach zu bedienen 1

Der Begriff Web 2.0 wurde von Tim O’Reilly geprägt, dessen Verlag dazu nun weltweit Konferenzen veranstaltet und Publikationen herausgibt. Für das künftige Web 3.0 lernen Computer, Inhalte im Web auch zu verstehen, um aus den Informationen in solcherart semantischen Netzwerken Aktivitäten anzustoßen, etwa eine Kaufempfehlung. 229

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Web-2.0-Plattformen gestatten dem Nutzer und der Nutzerin, nach Anmeldung sofort eigene Inhalte zu veröffentlichen. Die Daten können zumeist auch in einer anderen Umgebung verwendet werden; hierbei werden Protokolle wie RSS, RDF und Atom eingesetzt, die alle auf XML basieren. Spezielle Protokolle wie FOAF (Friend of a Friend) und XFN (für soziale Netzwerke) erweitern die Funktionalität einer Seite oder erlauben es dem Benutzer, ohne zentralisierte Seiten zu interagieren und das eigene Profil »mitzunehmen«. Erfolgreiche Dienste sind Flickr.com für den Austausch von Fotos oder die Enzyklopädie Wikipedia, für die ihre Benutzer nicht nur schreiben oder Beiträge ergänzen, sondern über diese auch abstimmen, etwa um ein Prädikat wie »besonders lesenswert« zu vergeben. Das Konzept des Web 2.0 ist übertragbar auf beliebige Medien. Im Bereich Fernsehen wäre es vorstellbar, elektronische Programmführer2 nach den Prinzipien des Web 2.0 gemeinsam zu nutzen. Bei Musik und Feature haben wir heute Podcasts, die ein selektives Abonnieren von Beiträgen gestattet. Sehen wir uns nun konkret weitere Beziehungsnetzwerkdienste an und beleuchten die Eigentumsverhältnisse.

Selbstverwaltung oder Oligopolismus? In These 2 wurde die Sorge darüber formuliert, dass wir die Schaffung und Pflege unserer privaten und geschäftlichen Beziehungen zunehmend in die Hände von Vermittlern legen. Wie werden heute diese neuen Marktplätze geschaffen, die kaum reguliert sind? Wem gehören die virtuellen Beziehungen, die Menschen mit Musik, Städten und Geschäftskontakten verbinden? Sehen wir uns einige Beispiele an. Bei musicbrainz kann man keine Musik hören, aber dafür haben mehr als 200.000 Nutzer zu mehr als 4 Millionen Tracks Daten gesammelt. Mit Digital Fingerprints kann man dort sein Musikrepertoire abgleichen und so fehlende Titel ergänzen. In einem Social Contract mit den Nutzern wird festgehalten, dass die gesammelten Daten immer der Allgemeinheit zur Verfügung stehen werden. Tatsächlich gibt es ein kostenloses Serviceangebot für all jene, die Metadaten über Musik verarbeiten wollen; lediglich für kommerzielle Nutzer wird eine Gebühr für professionellen Support verlangt. Vordergründig ein völlig selbstloses Netzwerk – hinter dem zweiten Vorhang werden jedoch ökonomische Interessen sichtbar. musicbrainz wird betrieben von metabrainz, einer Non2

EPG – Electronic Program Guide; wird insbesondere von öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten angeboten, um z.B. den PVR (Personal Video Recorder) einfacher programmieren zu können. 230

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Profit-Foundation in Kalifornien, die ihre Buchhaltung und Bilanz offenlegt (8.000 USD Umsatz im Jahr 2005). Was in der Bilanz nicht aufscheint, sind die Werte der Verträge mit Softwarefirmen, die musicbrainz als Testplattform ansehen, zum Beispiel Virtuosa in der Schweiz. Mit Joi Ito ist einer der bekannten Investoren für Web-2.0-Technologien im Direktorenteam.

Abbildung 2: Tag-Cloud zum Thema Beziehungen im Netz (Alton-Scheidl 2007) Wesentlich klarer dürfte die Motivation bei Google liegen, in das Web2.0-Business einzusteigen, als es zunächst erwog, Napster zu übernehmen (New York Post 2006), das Musik im Internet aufgrund von Vereinbarungen mit den Labels in den USA, im UK und Deutschland mittlerweile legal vertrieb. Der Megadeal wurde dann jedoch im Oktober 2006 mit YouTube umgesetzt: 1,65 Milliarden Dollar waren dem Suchmaschinenbetreiber die Nutzer, deren Inhalte und Beziehungen wert. 231

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1995 ging Craig Newmark mit einem Online-Forum ins Internet, das er seither sukzessive auf alle Städte der Welt ausdehnt. Auf craigslist.org tummeln sich monatlich 10 Millionen Menschen in den Job-, Partnerund Tauschbörsen mit vielen lokalen Informationen, sodass das Time Magazine ihn 2005 zu den 100 einflussreichsten Leuten der Welt zählte. Im August 2004 kaufte eBay 25 % der Anteile, wobei Newmark in einem Interview zur selben Zeit meinte, dass er keine Anteile verkaufen oder an die Börse bringen möchte, wohl um die Nutzer zu beruhigen: »We are not planning to change our philosophy«. Schon jetzt kennt eBay seine Kunden und Verkäufer wie kein anderes Unternehmen: nicht nur deren Kaufgelüste, sondern auch deren Eigenschaften wie Verlässlichkeit, mit Selbst- und Fremdbewertung. »Der Produktmarkt ist komplett abgegrast«, meint Stephan Uhrenbacher, der das Social-Networking-Portal Qype (»Quote your personal experience«) aufbaut. (Internet World 2006) Hier soll der Dienstleistungsmarkt qualitative Informationen von den Nutzern erhalten und vermitteln. Dies ist offenbar ein lukratives Geschäftsfeld, dem bislang weniger Investoren als strategische Partner konsequent nachgehen. Im realen Leben tauschen wir unter Freunden Fotos, Musik und Videos. Dies ist auch rechtlich erlaubt, solange es sich um eine weitere private Nutzung handelt. (iRights 2006) Creative Commons bietet dazu ein modernes Regelwerk in Form von Lizenzvereinbarungen unter geltendem Urheberrecht. (Creative Commons 2006) Wer ein Werk unter bestimmten Bedingungen veröffentlichen will, kann zwischen sechs verschiedenen Lizenzen wählen, die bereits in mehr als einem Dutzend Ländern auch in deren nationale Gesetzgebung integriert sind. Viele Web2.0-Dienste wie Limewire oder der Fototauschdienst Flickr empfehlen daher den Nutzern, ihre Musik oder Fotos unter CC zu veröffentlichen. Die Marke Creative Commons ist von einer US-amerikanischen Firma registriert worden. Und im Board of Directors finden wir wieder den Investor Joi Ito, der mit Ende 2006 zum Vorsitzenden ernannt wurde. Die Firma soll 2007 in eine Stiftung überführt werden, wobei weiterhin nicht zu erwarten ist, dass die vielen Unterstützer der Idee von Creative Commons statutarische Rechte eingeräumt erhalten. Die Besetzung der Leitungsfunktionen und die Entscheidung über die Verwendung der (oftmals von den Nutzern gespendeten) Mittel wird im engsten Kreis rund um den Creative-Commons-Gründer Lawrence Lessig gefällt. Ebenso hat Wikipedia als Foundation das Direktorenteam mit besonderen Rechten ausgestattet (Wikipedia 2003), wobei eine einfache Mitgliedschaft etwa von Autoren explizit ausgeschlossen wird. Immerhin muss die Mehrheit der Direktoren von der Community gewählt werden. Gründer Jimmy Wales hat ein Firmenkonglomerat rund um die

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Wikipedia Foundation geschaffen, um Projekte wie Wikibooks oder Wikimedia voranzutreiben, aber auch die Marke Wikipedia global zu positionieren und auszubauen. Und einer amerikanischen Foundation wäre es auch gestattet, Marken- und Nutzungsrechte zu übertragen. Sicher gibt es einige Global Media Players, die daran ein Interesse hätten. Ein geschäftliches Beziehungsnetzwerk mit mehr als fünf Millionen Nutzern ist LinkedIn. Mit dem Slogan »Relationships Matter« erhält man wiederholt Einladungen, jemanden in sein Kontaktverzeichnis aufzunehmen. Dafür sieht man, mit welchen anderen Personen sich diese bereits vernetzt hat: Leute, die man dann zum Beispiel zur Geschäftsanbahnung kontaktieren kann. LinkedIn folgt dem Six-Degrees-Prinzip, wonach man jede Person auf der Welt »über maximal sechs Ecken« kennt. Hinter LinkedIn stehen zwei Venture-Capital-Firmen und dreizehn Business Angels, die vermutlich nicht nur gottergeben sind. These 2 gibt uns eine Reihe von Forschungsfragen auf, die wir hier skizzieren wollen.

Besitzverhältnisse durchleuchten Mit der geschickten Anwendung des LOW-Prinzips (»let others work«, Egger 2006) lässt sich viel Geld machen. Spätestens mit dem Verkauf der Plattform MySpace um 580 Millionen Dollar an Rupert Murdoch müsste klar sein, dass durch deren Auslieferung an Medienmonopolisten auch die Nutzer verschreckt werden. Der neue amerikanische Traum, mit einem Webservice eine bedeutende Marke aufzubauen und diese mit viel Profit zu verkaufen, ist bar jeder ursprünglichen Intention des kollektiven Handelns im Netz – wenn gemeinsam geschaffene Werte von den Gründern einer Idee privatisiert werden. Wer mit User Oriented Content langfristig Geschäfte machen will, muss transparent handeln und den Nutzerinnen ein Recht auf Kontrolle oder Teilhabe überlassen. Den neuen Internet-Oligopolen werden wir Konzepte der Selbstverwaltung der technischen und organisatorischen Infrastruktur entgegensetzen müssen, um unsere Beziehungsnetzwerke vor einer ökonomischen Durchmachtung einer kleinen Elite zu schützen. Zur Verbesserung der Transparenz kann man – ganz in der Tradition der Power Structure Research Krysmanskis – Netzwerkanalysen durchführen, die aufzeigen, wer aufgrund seiner Beziehungen wie viel Macht ausüben kann. Eine Methode ist, die Schrittweite3 zu Vorstand- und Aufsichtsratsmitgliedern zu messen. (Alton-Scheidl 2005) 3

Erwartungsgemäß haben Banken die mächtigsten Positionen im Land. Sichtbar wird durch die Analyse der Schrittweite etwa im Lebensmittelsek233

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Was passiert mit Beziehungen, die verkauft werden? In Großbritannien gehören bereits 18 % des privaten Sektors sogenannten Buyout Companies. Diese Hedgefonds und Private-Equity-Fonds verwalten zum Beispiel Kapital von Pensionsfonds und zielen auf Renditen weit jenseits von 10 %. Innerhalb von drei Jahren verkaufen sie üblicherweise eine Firma, die sie ausgeplündert haben, wieder, damit die Rechnung aufgeht. Ohne Rücksicht auf die reale ökonomische Basis eines Unternehmens wird die Eigenkapitalrendite nach der Übernahme z.B. von gesunden acht Prozent auf eine horrende Zielnorm von 20 bis 25 % erhöht. Dies ist nur durch Einsparungen bei Innovationsausgaben und den Arbeitenden zu erreichen: Die Zukunftschancen des Unternehmens werden seinem aktuellen Börsenwert geopfert. Entlassungen, Lohnsenkung, Verdichtung der Arbeit, kurzum: verschärfte Ausbeutung der arbeitenden Menschen werden von den Finanzanalysten als wertsteigernd bewertet, zehren aber die menschliche Basis des Unternehmens auf. Wenn dies dem Börsenwert nicht auf die Sprünge hilft, dann treibt die »makabre Logik dieser Primitivökonomie« der kurzfristigen Renditeoptimierung (Hickel 2006: 1478) auch kriminelle Blüten: zwielichtige Dreiecksgeschäfte, Bilanzfälschungen, Anlegerbetrug, Untreue. Nehmen wir an, ein Investor hat sich über alle moralischen Skrupel gegenüber Belegschaft und Kunden hinweggesetzt, er hat das Weihnachtsgeld gestrichen, in Ehren ergraute Mitarbeiter gefeuert, lässt die Jungen als neue Selbständige auf ihr Honorar warten, hat die Serviceleistungen reduziert, die Preise erhöht – alles mit der billigen Ausrede seiner »Verantwortung den Kapitalanlegern gegenüber«. Warum sollte dieser Investor nicht zuletzt auch seine Anleger prellen? Dass die Hedgefonds nur einen Heuschreckensprung vom mafiösen Sumpf der Wirtschaftskriminalität entfernt operieren, leugnet mittlerweile sogar die offizielle Politik nicht länger. Die große Frage, die sich vor diesem Hintergrund heute nicht nur Finanzanalysten stellen, lautet: An wen werden sie verkaufen? (NYT 2006) Und an wen werden dann Firmen verkauft, deren einzige Assets die Beziehungen ihrer Kunden sind? Unsere Beziehungen! Unter dem Druck des Kapitalmarktes wird jedes Angebot recht sein, egal ob diese weiterhin Renditen versprechen oder als Konkursmasse aufzulösen sind. tor in Österreich, dass die Spar AG wesentlich stärker vernetzt ist als die Billa AG. Würde man statt mit dem ehemaligen Finanzminister und nun mehrfachem Aufsichtsrat Hannes Androsch eine solche Analyse mit den Web-2.0-Portalen durchführen, würde wohl im Zentrum Joi Ito (Ito 2006) auftauchen. 234

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Mit Nutzergemeinschaften Kontrolle erlangen? Wie können wir die neuen Netzwerkmaschinen besser überwachen, damit sichergestellt wird, dass auch wirtschaftsethische und konsumentenrechtliche Standpunkte beachtet werden? Es scheint notwendig, hier regulierend einzugreifen und Institutionen wie die Datenschutzkommission mit neuen Aufgaben zu betrauen. Der marxistische Ansatz, dass sich die Konsumenten die Produktionsmittel zu eigen machen, ist durchaus wieder salonfähig. Selbstverwaltung wird mittlerweile als ein adäquates Instrument zur Stärkung strukturschwacher Regionen und als Methode gegen den Heuschreckenkapitalismus etwa von der Weltbank unterstützt. Stiftungen sind sicherlich kein adäquates Instrument, um Nutzer mit Mitbestimmungsrechten auszustatten. Allzu oft schleichen sich mit den kapitalkräftigen Stiftern gerade die hier zu kontrollierenden großen Medienkonzerne in weitere Machtpositionen – und mit ihnen die hinter den Konzernen stehenden Finanz- und Herrschaftseliten. In unseren Breiten spricht das Beispiel des gewaltigen Bertelsmann-Konzerns Bände, europäischer Medienmarktführer und mit seiner Tochter »Arvato« im Internetsektor hoch aktiv. Seine renommierte Bertelsmann Stiftung, Haupteignerin des Konzerns und ihrerseits unter Kontrolle des Milliardärsclans der Mohns, welcher den Medienmulti seit Generationen besitzt, macht sich schon seit Jahren Gedanken über »Ethik« in Medienwelt, Wirtschaft und Internet, allerdings strikt aus Sicht der Interessen einer neoliberal argumentierenden Herrschaftselite. (Barth 2006: 8ff.) Unter solcher Anleitung durch die »alten Mächte«, wie Castells sie nannte, kann das Ergebnis kaum mehr als eine technologisch verstärkte Ausschließung sein, eine Verstärkung der symbolischen Machtmittel des herrschenden Kapitalismus. Ein neuer Typ sozialer Kontrolle wäre so zu erwarten, der in Gestalt formalisierter und kodifizierter Prozeduren, Regeln und Programme auftritt, die bestenfalls durch konsensuelle Beteiligung der Kontrollierten flexibilisiert und zugleich stabilisiert werden soll. (Alton-Scheidl/Barth 2005: 133) Genossenschaften kommen schon eher dem Ideal nahe, den Produzierenden auch die Kontrolle über die Produktionsmittel und die Mittelverwendung in die Hand zu geben. RegisteredCommons ist ein Web-2.0Projekt, das diesen Weg geht. (Alton-Scheidl 2006) Die verwaltende Genossenschaft osAlliance.com hat neben den aktiven und passiven Mitgliedern mit variablem, aber limitiertem Stimmrecht einen Vorstand, einen Aufsichtsrat und einen kontrollierenden Genossenschaftsverband.

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Anwendbarkeit des Datenschutzgesetzes? Jede Person kann die Streichung aus einem Verzeichnis verlangen. (Datenschutzgesetz 2000) Wer dies bei einem Web-2.0-Service einfordert, kann ein Beziehungsgeflecht in der Mitte aufbrechen, quasi ein schwarzes Loch hinterlassen. Keiner der hier besprochenen Anbieter von Web2.0-Diensten bietet die Option zur Löschung aktiv an. Aktuelle Konzepte wie FOAF (Friend of a Friend, ein Projekt zur maschinenlesbaren Modellierung sozialer Netzwerke) sind bezüglich Datenschutz völlig unsensibel – Konzepte der Zugangs- und Rechteverwaltung fehlen darin. Es droht der Ausverkauf des Zugriffs auf Lebens- und Beziehungsmuster, die in der Netzökonomie zu wertvollen immateriellen Gütern werden könnten. (Rifkin 2000: 137) Kommt also nach der Metapher des gläsernen Menschen der 80er Jahre die Realität gläserner Beziehungen der nuller Jahre, deren Kontrolle in der Hand von Familienstiftungen und Privatiers liegt?

Verkuppeln im 21. Jahrhundert Die zunehmende Individualisierung, so unsere These 3, eröffnet dem Beziehungsleben eine andere Ebene. Konstatiert wird gerade bezüglich Computer- und Netzmedien oft eine mediale Individualisierung, sprich auch Vereinzelung. Selbst das Fernsehen ist jedoch ein Beispiel auch für die Zusammenkunft der Mitglieder unterschiedlicher sozialer Schichten. (Jäckel 1999) Die Überschreitung von Grenzen zwischen oben und unten delegitimiert Hierarchien. Neue Technologien der Verabredung und Begegnung, ob per Telefon oder Internet, Handy oder Web 2.0, eröffnen neue soziale Räume und schaffen Chancen auf neue soziale Freiheiten. Dabei stemmen sich die von Castells erwähnten »alten Mächte« gegen eine Befreiung von ihrer Vorherrschaft, indem sie traditionelle Werte der Familie, der Religion usw. verteidigen (lassen). Die gleichen Mächte versuchen aber auch schon heute, ihre Dominanz in den neuen Medien der Begegnung und Kommunikation zu etablieren. Die Familie als Ursprung unserer Beziehungsgeflechte, als Quell von Lebensentwürfen und Neurosen (Bräutigam et al. 2006) wird immer früher durch virtuelle Beziehungen ersetzt. Dort werden nach einem Trialand-Error-Prinzip Beziehungsformen ausprobiert, gelebt und notfalls ausgewechselt. Die Bedeutsamkeit früher Bindungserfahrungen ist in der Bindungsforschung unbestritten. (Ebd.: 34) Sie prägen lebenslang das Selbstwertgefühl, den Mut, etwas im Leben anpacken oder ändern zu können sowie mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. 236

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Laut Manuel Castells leben wir heute im post-patriarchalischen Zeitalter, wo Sexualität und Konstruktion der Identität nicht mehr notwendig im traditionellen Familienverband stattfinden. Neue Persönlichkeitsstrukturen würden in der Netzgesellschaft entstehen, die komplexer sind, unsicherer, aber dennoch fähiger, sich veränderlichen Rollen anzupassen. (Castells 2002: 255) Die so beschriebene Befreiung von der Familie konfrontiere das Ich jedoch mit »der selbst zugefügten Unterdrückung«, was in der Freiheit der offenen, vernetzten Gesellschaft zu »individuellen Angstzuständen und sozialer Gewalt« führe, bis neue Formen der geteilten Verantwortlichkeit gefunden würden (ebd.: 257). Durch die Kennzeichnung von Unterdrückung als »selbst zugefügt« und von Angstzuständen als »individuell«, scheint Castells auszudrücken, dass er den Individuen so beschriebene Probleme als nicht politisch lösbares, sondern rein individuell zu bearbeitendes Privatmalheur ans Herz legt. Es scheint hier, als hätte die soziologische Individualisierungsdiskussion den Verlust von Gemeinsamkeiten so nachhaltig betont, dass die Rede vom Ende des Sozialen und eine Soziologie ohne Gesellschaft jeden Hinweis auf das Nicht-Individuelle als nachrangig erscheinen ließen. Doch dies ist nicht eine notwendige Folge der Vernetzung, sondern könnte auch als Teil der bei These 1 und 2 angesprochenen Machtproblematik gesehen werden. Vereinzelung ist – wenn überhaupt – dann sicherlich nicht ausschließlich Folge heutiger Mediennutzung. Vielmehr steht sie im Kontext sich ändernder ökonomischer Bedingungen, die politisch als Neoliberalismus bezeichnet werden. Der Arbeitende als solidarisch in Gewerkschaften und Betriebsräten organisierter Gegenpart zum Unternehmer wird dabei zunehmend in seinen ökonomischen, rechtlichen und politischen Möglichkeiten untergraben. Im Ideal des »Arbeitskraft-Unternehmers« oder der als Unwort geehrten »Ich-AG« findet diese Tendenz ihren Höhepunkt, in schleichendem Abbau von Arbeitnehmerrechten, Tarifverträgen, Arbeitsschutz ihre politische Praxis. Auch der Kreativsektor findet sich plötzlich im Prekariat wieder, ohne soziale Absicherung. (Dörre 2006) Stark schwankende Auftragslagen, Wochenendarbeit und Konkurrenz jedes Einzelnen glaubten wir doch als Kennzeichen des Frühkapitalismus schon überwunden zu haben. Die Sozialwissenschaften müssen sich hüten, auf wohlfeile Weise einen theoretischen Zuckerguss für das soziale Desaster des Neoliberalismus zu liefern. Die Entsolidarisierung als Individualisierung zu beschönigen und sie als Folge veränderter Mediennutzung letztlich wieder dem Einzelnen und dem technischen Fortschritt zuzurechnen, kann nicht Sache unabhängiger Wissenschaft sein. Wenn Menschen stückweise die Kontrolle über ihr Leben entzogen wird, wenn ihre sozialen Rechte mit

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Füßen getreten und ihre Zukunftschancen den unverdienten Privilegien einer immer zynischer agierenden Herrschaftselite geopfert werden, dann bleibt mitunter nur der Ausweg der Gewalt. Immerhin die »soziale« Gewalt scheint selbst für Castells noch Teil gesellschaftlich lösbarer Missstände zu sein, wobei er jedoch vor dem drohenden Rückschlag der Traditionalisten warnt, etwa religiös-fundamentalistischer Gruppen. Mit der gewaltsamen Durchsetzung von Werten, die ehedem als göttlich, natürlich und ewig galten, seien diese jedoch an ihrer letzten Verteidigungslinie angekommen und dabei, ihre Legitimität in den Köpfen der Menschen zu verlieren. (Castells 2002: 257f.) Hoffen wir, dass er damit recht behält. Vielleicht sind die von Optimisten allenthalben entdeckten neuen Möglichkeiten und Freiheiten von Foren und Wikis wirklich im Sinne der Menschen nutzbar und es etablieren sich damit Umgangsformen, die von Fairness und Kollegialität geprägt sind. Wenn wir literarische Beschreibungen moderner Lebensweisen betrachten, finden wir jedoch ebenfalls pessimistische Perspektiven. Michel Houellebecqs Porträt zweier Computerexperten in seiner »Ausweitung der Kampfzone« zeichnet eher das Bild von egozentrischen Misanthropen, die unfähig sind, ihre Freiheit mit anderen zu teilen. Unerfüllbare Ansprüche an das Gegenüber, zynischer Hedonismus und im Kreisen um das eigene Ego scheiternde Sinnsuche kennzeichnen seine Figuren. Sein literarischer Weggefährte und Werbefachmann Frédéric Beigbeder zeigt in »39,90« eine individualisierte »Lösung« für die Entwurzelten und von den ökonomischen Verhältnissen gebeutelten Zeitgenossen und zugleich ein Beispiel für die Zusammenkunft der Mitglieder unterschiedlicher sozialer Schichten. Von einem Hedgefonds aufgekauft, drangsaliert Beigbeders Werbeagentur ihre Mitarbeiter. Diese rächen sich an den »wirklich« Verantwortlichen, indem sie eine alte Dame erschlagen, die als reiche Witwe ihr Vermögen einem Pensionsfonds anvertraute, der es bei besagtem Hedgefonds anlegte. Die Beliebigkeit von Beziehungen in der vernetzten, globalisierten Welt macht die Begegnung von unterschiedlichsten Menschen möglich, auch von Tätern und Opfern, Nutznießern und Ausgebeuteten von Unrechtsverhältnissen. Die Beliebigkeit der Repression von oben spiegelt sich im Roman in der Beliebigkeit des Zurückschlagens von unten. Beliebigkeit von Beziehungen im Netz kann also heißen, dass Menschen austauschbar werden, aber auch, dass diskriminierende Merkmale wie Rasse, Klasse usw. beliebig werden können. Die Zusammenkunft von Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Schichten könnte, möglicherweise unter anderen politischen und ökonomischen Herrschaftsverhältnissen, zu einer Auflockerung der gesellschaftlichen Hierarchien führen.

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Technische Medien bringen Menschen schneller zueinander und vielleicht auch weniger diskriminierend – zumindest einstweilen, bis die bereits Privilegierten das Neue erneut unter ihre Kontrolle gebracht haben. Dreh- und Angelpunkt dieser Kontrolle werden vermutlich die neuen Beziehungsagenturen sein. Wir können somit gespannt sein, wie sich die Beliebigkeit von Beziehungen im Netz auf das Verhalten der heranwachsenden Generation entwickeln wird. Beziehungen im Netz stellen sich heute dar als Heiratsvermittlung durch den Familienclan der Internet-Investoren, die es auf die Mitgift der Nutzer abgesehen haben und eine Hochzeit nach der anderen abfeiern, wobei es durchaus vorkommt, dass die (gestohlenen?) Bräute und Bräutigame – als Marken- und Nutzungsrechte – ohne Skrupel weiterverkauft werden.

Literatur Alton-Scheidl, Roland (2005): Blogeintrag über die Präsentation von FAS.research an der Fachhochschule Vorarlberg im Juni 2005, www.roland.alton.at/rolog/networks Alton-Scheidl, Roland (2006): »Kopieren – aber richtig«. Beitrag in der Ö1 Netzkolumne. http://oe1.orf.at/highlights/66019.html Alton-Scheidl, Roland und Thomas Barth (2005): »Moral Matrix Cyberspace: Vom quartären Medium zu einer neuen Medienethik«. In: Th. Barth/C. Betzer/J. Eder/K. Narjes (Hg.), Mediale Spielräume, Marburg: Schüren, S. 127–135. Alton-Scheidl, Roland (2007): Tag-Cloud zum Thema Beziehungen im Netz, CC registriert unter www.registeredcommons.org/grid/RC-01LIZ0000000229-8 Angermeier, Markus (2005): The huge cloud lens bubble map web2.0, http://kosmar.de/wp-content/web20map.png Barth, Thomas (2006): »Einleitung: Staunen über einen unsichtbaren Medienmoloch«. In: Thomas Barth (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg: Anders, S. 8–22. Bennhold, Martin (2006): »Medienriesen als interessierte Dienstleister im Bildungsbereich«. In: Thomas Barth (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg: Anders, S. 71–87. Bräutigam, Barbara/Herberhold, Martin (2006): »Familie: Das Beste und das Schlimmste, was einem passieren kann«. Ästhetik und Komunikation, Heft 134, 37. Jahrgang, S. 31ff. Castells, Manuel (2001): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie »Das Informationszeitalter«, Opladen: Leske + Budrich.

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ROLAND ALTON-SCHEIDL/THOMAS BARTH

Castells, Manuel (2002): Die Macht der Identität. Teil 2 der Trilogie »Das Informationszeitalter«, Opladen: Leske + Budrich. Creative Commons (2006): www.creativecommons.org/ Datenschutzgesetz (2000), Art. 2 § 27: Jeder Auftraggeber hat unrichtige oder entgegen den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes verarbeitete Daten richtigzustellen oder zu löschen, und zwar […] auf begründeten Antrag des Betroffenen. de Toledo, Camille (2005): Goodbye Tristesse. Bekenntnisse eines unbequemen Zeitgenossen. Leipzig: Tropen. Donath, Andreas (2006): »Google kauft YouTube für 1,65 Milliarden US-Dollar«. Auf: Golem.de, www.golem.de/0610/48270.html Dörre, Klaus (2006): »Prekarität. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts und Möglichkeiten zu ihrer Politisierung«. Kulturrisse 0406. Online http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1168344588/ 1168349006 Egger, Pepe (2006): »Die Ameisenhaufenmillionäre. YouTube, MySpace & OpenBC oder wie man mit Web-2.0-Ideen reich werden kann«. Der Standard Dossier, 21.10.2006, S. A3. Focus (2006): »Internet: Das neue Web macht Spaß und verbindet Menschen«. Focus Nr. 41/2006, S. 172ff. Hickel, Rudolf (2006): »Vom Rheinischen zum Turbo-Kapitalismus«. Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.12, 2006, S. 1470– 1479. Internet World (2006): Onlineausgabe www.internetworld.de/index. php?id=41&viewfolder=060309&viewfile=05_01_03_aktuell iRights (2006): Die Plattform iRights.info gibt exakte Auskunft über die Zulässigkeit von Kopien im Digitalen Zeitalter. Die Privatkopie ist in allen europäischen Ländern gesetzlich abgesichert, wobei mit der Leermedienabgabe die Künstlerleistung kompensiert wird. Ito (2006): http://joi.ito.com/ Jäckel, Michael (1999): »Die kleinen und die großen Unterschiede. Anmerkungen zum Zusammenhang von Mediennutzung und Individualisierung«. In: Michael Latzer et al. (Hg.), Die Zukunft der Kommunikation. Phänomene und Trends in der Informationsgesellschaft, Innsbruck: Studienverlag, S. 277ff. Krysmanski, Hans Jürgen (2004): Hirten & Wölfe: Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen, Münster: Westf. Dampfboot. Nemsic, Boris (2006): »die digitale generation«. In: .copy, Unternehmensmagazin der Telekom Austria Nr. 28, Oktober 2006, Wien: Falter Verlag, S. 22f. NYT – New York Times (2006): »The Great Buyout Bubble«. In: Der Standard, 28.11.2006, S. 5.

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INDIVIDUALISIERUNG, ÖKONOMIE UND HERRSCHAFT IM WEB 2.0

New York Post (2006) über Napster und Google, zitiert in: Der Standard, 1.2.2006, S. 14. Rifkin, Jeremy (2000): Access: Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/New York: Campus. Sixtus, Mario (2006): »Die Humanisierung des Netzes. Der Mensch kehrt sein Innerstes nach außen, falls er die Software beherrscht«. DIE ZEIT Nr 35/2005, S. 31. Im Onlinearchiv: www.zeit.de/ 2005/35/C-Humannetz van Dijk, Jan (1999): The Network Society. London: SAGE. Wikipedia Foundation (2003): Bylaws. www.wikimediafoundation.org/ bylaws.pdf Dieser Text ist Creative Commons lizensiert (CC-by-sa-2.0-at) http:// creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/at und auf RegisteredCommons. org eingetragen.

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ZU

DEN

A U T O R /- I N N E N

Stephan Adolphs, Dipl. Pol., wissenschaftlicher Mitarbeiter im SNFProjekt »Medien des Protests. Protest als Medium«, Universität Luzern. Studium der Politologie, Soziologie, Philosophie und Pädagogik in Duisburg und Frankfurt a.M. Letzte Veröffentlichungen (2007): »Materialistische Staatstheorie und Geschichte der Gouvernementalität. Nicos Poulantzas und Michel Foucault im Vergleich«, in: Joachim Hirsch/John Kanankulam/Jens Wissel (Hg.): Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx, Baden-Baden (i.E.); mit Serhat Karakayli (2007): »Die Aktivierung der Subalternen. Gegenhegemonie und passive Revolution«, in: Sonja Buckel/Andreas Fischer-Lescano (Hg.): Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden (i.E.). Roland Alton-Scheidl studierte an der TU Wien und an der Hochschule für Angewandte Kunst, war Research Fellow an der Akademie der Wissenschaften und gründete 1995 das PUBLIC VOICE Lab, das Medienund Open-Source-Projekte nun genossenschaftlich als osAlliance.com umsetzt. An der Fachhochschule Vorarlberg leitete er den Studiengang InterMedia und hat einen Bakkalaureats- und Masterstudiengang für Mediengestaltung sowie ein Kompetenznetzwerk für Mediengestaltung eingerichtet (http://fhplus.media.coop). Homepage & Blog auf www.alton.at Thomas Barth studierte an der Uni Hamburg Psychologie, Kriminologie und Medienwissenschaften, arbeitete in Medien- und Netzprojekten, lehrte Medienkultur und Ethik in Hamburg und Vorarlberg, lebt als Publizist in Hamburg. Christian Eigner ist gelernter Geisteswissenschafter und veröffentlichte – vor allem als Wissenschaftspublizist – in zahlreichen Medien u.a. in »Lettre International«. Seit Herbst 2005 ist er Ausbildungskandidat im »Arbeitskreis für Psychoanalyse Linz/Graz«. Christian Eigner und Michaela Ritter betreiben in Graz das »Büro für PerspektivenManagement« (www.perspektivenmanagement.com), das sich u.a. auf Wissenschaftskommunikation, Coaching und Beratung spezialisiert hat und über die

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ZU DEN AUTOR/-INNEN

nächsten Jahre hinweg zu einer psychotherapeutischen Praxis (Systemische Therapie/Psychoanalyse) ausgebaut werden soll. Lutz Ellrich, Prof., Dr., lehrt Medienwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Allgemeine Kommunikations- und Medientheorie, Computersoziologie und Konfliktforschung. Veröffentlichungen u.a.: Verschriebene Fremde. Frankfurt, New York 1999; »Die ›digitale Elite‹ als Impulsgeber für sozialen Wandel«, in: Andreas Ziemann (Hg.): Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz 2006, S. 141–160; »Die Überwachungstechnik als Herausforderung der kritischen Theorie und Praxis«, in: Barbara Becker/ Josef Wehner (Hg.): Kulturindustrie reviewed, Bielefeld 2006, S. 127– 142. Hildegard Fraueneder, Dr. phil., Kunsthistorikerin, lehrt an der Universität Salzburg, der Universität Mozarteum und am Studiengang MultiMediaArt der FH Salzburg. Forschungsprojekte u.a. zu Kunst und Öffentlichkeit und Heroismus und Weiblichkeit; Veröffentlichungen u.a. »Works of Memories«, in: Antifaschistisches Gedenken und Mahnen, Künstlerische Kontexte, Salzburg 2005; »Weder läßt sich der Prozess vom Resultat trennen noch das Taktile vom Sichtbaren. Rhetoriken der Hände in den Kunstdiskursen des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Beredte Hände, Die Bedeutung von Gesten, Salzburg 2004; »Wie das Wort die Bewegung mit Körpern in Verbindung bringt«, in: VALIE EXPORT. eine werkschau, Sammlung Essl 2005. Leiterin der galerie5020/IG bildender KünstlerInnen Salzburg. Christiane Funken, Prof., Dr., vertritt an der TU Berlin das Fachgebiet Kommunikations- und Medienforschung sowie Geschlechterforschung. Sie studierte Soziologie, Psychologie, Politische Wissenschaften und Pädagogik in Aachen und Köln. Promotion und Habilitation erfolgten an der RWTH Aachen. Empirische Forschungsprojekte zur Wissenschaftsund Technikforschung, Organisationssoziologie, Kommunikations- und Mediensoziologie sowie Geschlechterforschung. Hierzu sind zahlreiche (Buch-)Veröffentlichungen erschienen, z.B.: Geld statt Macht. Weibliche und männliche Karrieren im Vertrieb – eine organisationstheoretische Studie, Frankfurt a.M.: Campus 2004; mit M. Löw (Hg.): Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien, Opladen: Leske&Budrich 2003; »Der Körper im Internet«, in: K. Schroer (Hg.): Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 215–241.

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DATING.21

Marion Hamm, MA, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Medien des Protests – Protest als Medium«, Universität Luzern. Studium der neueren Geschichte und Empirischen Kulturwissenschaft in Tübingen und Birmingham. Ausgewählte Publikationen: mit Katharina Eisch (Hg.) (2001): Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse, Tübingen 2001; »A r/c tivismus in physikalischen und virtuellen Räumen«, in: Gerald Raunig (Hg.): Bildräume und Raumbilder. Repräsentationskritik in Film und Aktivismus, Wien 2004, S. 34–44; »Proteste im hybriden Kommunikationsraum: Zur Mediennutzung sozialer Bewegungen«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 19 (2006). Wolfgang Kellner, Erwachsenenbildner und Bildungsforscher beim Ring Österreichischer Bildungswerke, Studium der Pädagogik und Philosophie, Forschungsfeld: Engagementforschung, Validierung informellen Lernens, Kompetenzforschung. Publikationen: mit Genoveva Brandstetter (Hg.): Freiwilliges Engagement, Lernen und Demokratie, Wien 2000; Dies.: Freiwilliges Engagement und Erwachsenenbildung. Wege der Identifikation und Bewertung des informellen Lernens, Wien 2001; »Freiwilligenarbeit, Erwachsenenbildung und das informelle Lernen«, in: Internationales Jahrbuch der Erwachsenenbildung, Band 31/32: Informelles Lernen – Selbstbildung – Erwachsenenbildung und soziale Praxis. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 207–221. Patrick Kranzlmüller ist Designer, Programmierer und Medientheoretiker. Studium der Kommunikationswissenschaften/Theaterwissenschaft an der Universität Wien und der John Moores University for Creative Arts in Liverpool. Dissertationsprojekt zu »Kooperative Prozesse. Zur sozio-technischen Architektur der Informationsgesellschaft.« Letzte Publikation: mit Mirko Tobias Schäfer (2007): »RTFM! Teach-Yourself Culture in Open Source Software Projects«, in: Theo Hug (Hg.): Didactics of Microlearning, Berlin, New York: Waxmann. Website: www.vonautomatisch.at Martina Löw, Prof., Dr., Hochschullehrerin an der TU Darmstadt für Soziologie, zuvor TU Berlin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Sozialforschung Frankfurt a.M. Forschungsschwerpunkte: Stadt, Geschlecht, Raum. Wichtigste Veröffentlichungen: Raumsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2001; Negotiating Urban Conflicts. Interaction, Space and Control. Bielefeld: transcript 2006 (Mitherausgeberin); Die Wirklichkeit der Städte. Sonderband 16: Soziale Welt, Baden-Baden: Nomos 2005 (zusammen mit Helmuth

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ZU DEN AUTOR/-INNEN

Berking); Schlüsselwerke der Geschlechterforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005 (zusammen mit Bettina Mathes). Susanne Lummerding, Univ.-Doz. Dr. phil., Kunsthistorikerin, Kunstund Medienwissenschaftlerin. Forschungsschwerpunkte: Differenz und Hegemonie; phantasmatische Grundlagen der Herstellung von Realität und sozialer Formationen; Feministische Theorien/Gender Studies, strukturale psychoanalytische Theorie, Kunst-, Film- und Medientheorie, Cultural Studies; Aufbau der Forschungsplattform/Diskursintervention Visuelle Kultur im Feld des Politischen (internationale Kooperationen); derzeit u.a. Gastprofessorin für Gender Studies am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaften der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien; Autorin u.a. von: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005; Ausführliche Infos siehe www.uniak.ac.at/kunstgeschichte/ Karin Mairitsch, Mag. art., Studiengangsleiterin MultiMediaArt/ Fachhochschule Salzburg, lehrt auch am Studiengang Kommunikationswirtschaft/FHWien. Studium der Malerei, Bildnerischen Erziehung und Germanistik an der Akademie der Bildenden Künste und Universität Wien. Zahlreiche Projekte im Bereich Kunst, Kultur und Mediendesign. Veröffentlichungen u.a.: Karin Mairitsch/Robert Kana/Jutta Garbe (2002): http://DESIGN!. Wiener Neustadt: Redmond’s. Oliver Marchart, Dr. phil., PhD, SNF-Förderungsprofessor am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Studium der Philosophie in Wien und der politischen Theorie und Diskursanalyse in Essex. Jüngste Veröffentlichungen: Techno-Kolonialismus. Zur Theorie und imaginären Kartographie von Kultur und Medien, Wien 2004; Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005; Postfoundational Political Thought. Political Difference in Nancy, Lefort, Badiou and Laclau, Edinburgh 2007 (i.E.). Wolfgang Müller-Funk, Literatur- und Kulturtheoretiker, bis 2002 Professor an der University of Birmingham, lehrt u.a. an der Universität Wien. Zahlreiche Forschungsprojekte und Anthologien zu Kulturwissenschaft und Medientheorie. Publikationen: Die Kultur und ihre Narrative (2002/2007), Niemand zu Hause (2005), Kulturtheorie (2006).

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DATING.21

Vrääth Öhner, Dr. phil., freier Film-, Medien- und Kulturwissenschafter. Arbeitet zum Themenkomplex Medien – Geschichte – Gedächtnis und aktuell zum »Wiener Sprachspiel in Aktion« (Jubiläumsfonds der Stadt Wien). Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zu Theorie und Ästhetik von Film und Fernsehen, zu Medien- und Populärkultur. Zuletzt: »Von der Gewöhnlichkeit des Unheimlichen. Serielle Ordnungen und Ordnungen des Seriellen im Fernsehen«, in: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.): Philosophie des Fernsehens. München 2005; »Performativität und Medialität, Ereignis und Wiederholung«, in: Lutz Musner/ Heidemarie Uhl (Hg.): Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften. Wien 2006; »Perspektive 1982? 12 Anmerkungen zu Die Zweite Republik von Hugo Portisch«, in: Martin Wassermaier/ Katharina Wegan (Hg.): Rebranding Images. Wien 2006. Birgit Richard, Prof. Dr., lehrt seit 1997 Neue Medien in Theorie und Praxis an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. Forschungs- und Lehrbereich: Bildkulturen (Jugend-Kunst-Gender), Todesbilder, Audiovisuelle Mediengestaltung, Ästhetik aktueller Jugendkulturen (Jugendkulturarchiv u.a. mit Mode von Jugendkulturen an der Universität Frankfurt). Veröffentlichungen u.a.: Ich-Armeen. TäuschenTarnen-Drill (München 2006, Hg. zusammen mit Klaus NeumannBraun); Coolhunters. Jugendkulturen zwischen Medien und Markt (Frankfurt a.M. 2005, Hg. zusammen mit Klaus Neumann-Braun); Schönheit der Uniformität (Frankfurt a.M. 2005, Hg. zusammen mit Gabriele Mentges); Sheroes. Genderspiele im virtuellen Raum (Bielefeld 2004); Todesbilder. Kunst Subkultur Medien (München 1995). Kunstforum International Band 141, Herausgabe der Themen-Bände des Kunstforums International zu den Themen: Mode, Zeit, Gewalt, Transgene Kunst und Klone, Das Magische. www.birgitrichard.de Marc Ries, Kultur- und Medientheoretiker. Promotion am Institut für Philosophie der Universität Wien. Seit 1989 Lehre, Projekte und Publikationen im Feld der Medien, Kultur, Architektur und Kunst. 2000-2001 Vertretungsprofessor für Vergleichende Bildtheorie an der F.-SchillerUniversität Jena, 2006-2009 Vertretungsprofessor für Medientheorie an der Hochschule für Graphik und Buchkunst Leipzig. Veröffentlichungen u.a.: Medienkulturen, Wien: Sonderzahl 2002; Massenmedium und Medienmassen. Topologische Überlegungen zum Fernsehen. In: Andrea Jäger, Gerd Antos, Malcolm H. Dunn (Hg.): Masse Mensch. Das »Wir« – sprachlich behauptet, ästhetisch inszeniert. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2006, S. 189-198; Vom Begehren nach Hören von Ich und Welt. Der Gebrauch von Mobiltelefon und iPod. In: Ästhetik und Kommunika-

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ZU DEN AUTOR/-INNEN

tion Heft 135. Winter 2006, Thema: Mobil kommunizieren, S. 55–58. www.marcries.net Michaela Ritter, ist promovierte Betriebswirtin (Studium in Graz und Harvard) und hat sich auf Netzwerke und Organisationales Lernen spezialisiert. Sie hat eine Ausbildung zum systemischen Coach und ist als Organisationsberaterin in Graz tätig. Seit 2005 macht sie eine Ausbildung zur Systemischen Therapeutin. Michaela Ritter und Christian Eigner betreiben in Graz das »Büro für PerspektivenManagement« (www.perspektivenmanagement.com). Alexander Ruhl, Diplompädagoge, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bereich Neue Medien des Instituts für Kunstpädagogik der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. Sein Arbeitsgebiet ist die medienvermittelte Kooperation, wobei Fragen der Integration neuer Medien in gewohnte, alltägliche Praktiken den Schwerpunkt bilden und mittels ethnographischer Forschungsmethoden analysiert werden. Veröffentlichungen: »Medial vermittelte Kommunikation im Kontext interdisziplinärer Forschungskooperation«, in: Gabriele Mentges/Birgit Richard (Hg.): Uniformierungen in Bewegung. Vestimentäre Praktiken zwischen Vereinheitlichung und Maskerade (i.E.). Sergej Stoetzer, Diplompädagoge, Studium der Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit Auszeichnung (1993–2000), wissenschaftlicher Mitarbeiter zunächst am Institut für Hochschulforschung e.V. Wittenberg (2000–2001), dann am Institut für Soziologie, TU-Darmstadt. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Raum – Ort – Wahrnehmung, visuelle Methoden, digitale Medien in Forschung und Lehre, Soziologische Theorien zu Raum und Ort. Web: www.urban-images.net

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Kultur- und Medienwissenschaften Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Dezember 2007, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9

Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Performative Grundlegungen eines bürgerlichen Habitus im 18. Jahrhundert Dezember 2007, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-803-2

Marcus S. Kleiner Im Widerstreit vereint Kulturelle Globalisierung als Geschichte der Grenzen Dezember 2007, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-652-6

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts November 2007, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-420-1

Gunnar Schmidt Ästhetik des Fadens Zur Medialisierung eines Materials in der Avantgardekunst November 2007, ca. 120 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-800-1

Lars Koch (Hg.) Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960 Oktober 2007, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-615-1

Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart Oktober 2007, ca. 400 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-677-9

Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens

Lutz Hieber, Dominik Schrage (Hg.) Technische Reproduzierbarkeit Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung

November 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-706-6

Oktober 2007, ca. 190 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-714-1

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medienwissenschaften Geert Lovink

Elemente einer kritischen Internetkultur

Christoph Lischka, Andrea Sick (eds.) Machines as Agency Artistic Perspectives

Oktober 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-804-9

September 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-646-5

Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen

Jürgen Hasse Übersehene Räume Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses

Oktober 2007, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-419-5

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Heimat Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts Oktober 2007, ca. 170 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-711-0

Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 September 2007, ca. 380 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-773-8

Laura Bieger Ästhetik der Immersion Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City

August 2007, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-775-2

Tara Forrest The Politics of Imagination Benjamin, Kracauer, Kluge August 2007, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-681-6

Stephan Günzel (Hg.) Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften August 2007, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-710-3

Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.) Mr. Münsterberg und Dr. Hyde Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments August 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-640-3

September 2007, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-736-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medienwissenschaften Ramón Reichert Im Kino der Humanwissenschaften Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens August 2007, 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-647-2

Christian Bielefeldt, Udo Dahmen, Rolf Großmann (Hg.) PopMusicology Perspektiven der Popmusikwissenschaft August 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-603-8

Marc Ries, Hildegard Fraueneder, Karin Mairitsch (Hg.) dating.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen

Hans Dieter Hellige (Hg.) Mensch-Computer-Interface Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung Juli 2007, 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-564-2

Thomas Hecken Theorien der Populärkultur Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies Juni 2007, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-544-4

Meike Kröncke, Kerstin Mey, Yvonne Spielmann (Hg.) Kultureller Umbau Räume, Identitäten und Re/Präsentationen Juni 2007, 208 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-556-7

Juli 2007, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-611-3

Immacolata Amodeo Das Opernhafte Eine Studie zum »gusto melodrammatico« in Italien und Europa Juli 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-693-9

Kathrin Busch, Iris Därmann (Hg.) »pathos« Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs Juli 2007, ca. 186 Seiten, kart., ca. 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-698-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de