Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne: Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien 9783205793465, 9783205795117, 9783205795827


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Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne: Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien
 9783205793465, 9783205795117, 9783205795827

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Wissenschaft , Macht und Kultur in der modernen Geschichte Herausgegeben von Mitchell G. Ash und Carola Sachse Band 5

Sophie Ledebur

Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in ­Wien

2015 Böhl au V er l ag W ­ ien Köln W eim a r

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, der K ­ ulturabteilung der Stadt Wien sowie der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung : Patientenakten © WStLA , M. Abt. 209 , Otto-Wagner-Spital ( Baumgartner Höhe , Steinhof ), A11 ; A13

© 2015 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H & Co. KG , ­Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1 , A-1010 ­Wien , www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat : Gabriele Fernbach , Wien Umschlaggestaltung : Michael Haderer , ­Wien Satz : Carolin Noack , ­Wien Druck und Bindung : BALTO print , Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79511-7

Inhalt 1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Insel der Unseligen. . . . . . . . . . 1.2 Das Wissen in der Praxis. . . . . . . . . 1.3 Untersuchungszeitraum und Kapitelfolge.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof. . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1 Die ­Wiener Institutionen zur Versorgung psychisch Kranker während des 19. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.2 Die Reform des „Irrenwesens“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.3 Zählen und Bauen. Gefährlichkeit und Erblichkeit. Zur Frage der steigenden Anzahl psychisch Kranker. . . . . . . . . . 49 2.4 Psychiatrische Polytechnik: Die Gründung einer ‚modernen‘ Anstalt.. 61 3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Von der äusseren und inneren Ordnung: „Die Zukunft der Irrenpflege liegt in der Specialisierung der Anstalten“. . . . . . . . . 3.2 „Die Beschäftigung der Geisteskranken ist ein wichtiger therapeutischer Faktor“.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 „Der Irrenwärter bildet einen Theil des Arzneiapparates“: Die Bedeutung der Pflege für die ‚moderne Psychiatrie‘. . . . . . . 3.4 Medizinisch-administrative Ambivalenzen: Die Aufgabenbereiche der Mediziner. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 „Man sagt daher nicht mit Unrecht, dass bei der Behandlung der Geisteskranken die Anstalt selbst eine Medizin darstellt“: Zum Alltag zwischen Überfüllung und mangelndem Ansehen der Anstaltspsychiatrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Epistemische Räume: Verbindungen zwischen (Anstalts-)Psychiatrie und Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Weder gesund noch krank: Die weitreichenden Folgen einer neuen Kategorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Forderungen nach neuen Formen institutioneller Versorgung und der Einführung der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“..

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3.6.3 Exkurs: Der biopolitische Zugriff auf die „minderwertigen Psychopathen“: Der Ruf nach „sichernden Maßnahmen“ und die in diesem Zusammenhang gestellten, eugenisch motivierten Forderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Konstituierung der Grenze. Materialität und Medialität von Krankenakten in der Anstaltspsychiatrie. . . . . . . . . 4.1 Zu den Akten. Quellenmaterial und historische Analyse. 4.2 Zum Aufzeichnen psychiatrischer Beobachtungen und ihrer strukturellen Bedeutung im Aufnahmeverfahren. . 4.3 Das Deckblatt der Krankenakte: Materielle Informationsspeicherung und Kodierung. . . . . . . . . 4.4 Die „Kranken-Geschichte“. . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Exkurs: Die Archivierung der Krankenakten: Produkte eines administrativen Vorgangs oder Sammeln psychiatrischer Verdatungen?. . . . . . . . . .

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5. Wissen in Bedrängnis? Zu den Veränderungen in der Anstaltspsychiatrie während des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit. . . . . . . . . 175 5.1 Öffentlich-rechtliche Erwartungen an die Psychiatrie. Die Entmündigungsordnung von 1916. . . . . . . . . . . . . . . . 176 5.2 Kriegsbedingte strukturelle Veränderungen und Versorgungskrise am Steinhof. . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5.3 „Der Weltkrieg, der Kriegsausgang und die Psychiatrie“: Der Umgang mit der schwierigen Versorgungslage, die administrativen Änderungen am Steinhof und die Hoffnungen auf einen Neubeginn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Forderung nach Reformen im „Roten ­Wien“. . . . . 6.2 Alkoholismus als „der wunde Punkt der Irrenpflege“. 6.3 Der Ausbau der offenen Fürsorge. . . . . . . . . . . 6.4 Arbeitstherapie oder „Zimmer-Industrie“: Professionalisierung der Beschäftigungstherapie?. . . 6.5 Fürsorge oder medizinische Behandlung? Der institutionelle Fokus auf die Epilepsie. . . . . .

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7. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Quellen- und Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Publizierte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung 1.1 Die Insel der Unseligen „Da liegt sie , die Gartenstadt der Irrsinnigen , Zufluchtsort an dem Wahnsinn der Welt Gescheiterter , Heimstätte der Narren und Propheten. Goldregen leuchtet über weißem Kies , Kastanien haben festlich leuchtende Knospen angesteckt , und Lerchengeschmetter prasselt nieder aus blauen Lüften. Friedlich im Frühling und blau gebettet ist die Stadt mit dem lächelnden Antlitz und dem vergrämten Herzen. Die Häuser sind alle gleich gebaut und heißen ‚Pavillon‘ , haben römische Ziffern an der Innenseite und fest verschlossene Pforten.“ – Joseph Roth , Kaffeehaus-Frühling. Ein ­Wien-Lesebuch

‚Am Steinhof ‘ war lange Zeit der bloße , nur wenigen geläufige Ortsname einer Anhöhe oberhalb W ­ iens ohne weitere Bedeutung. Bald nachdem 1907 dort die vielen Pavillons der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt errichtet worden waren , geriet der Name zu einer im Volksmund weiterlebenden Chiffre für das geistig Abnorme , Kranke oder auch Närrische. Insbesondere für Literaten und Künstler stand der Steinhof auch für die Ambivalenz im Umgang mit den seelisch Kranken : Der Ort faszinierte und ängstigte zugleich. Joseph Roths konzises Bild der „Insel der Unseligen“ umfasst , abhängig von der Perspektive , sowohl den Charakter jener Institution als rettende Insel als auch den eines von der Umwelt hermetisch abgeschlossenen Ortes.1 Die ambivalente Faszination der Anstalt Am Steinhof lebt auch in anderen literarischen Texten fort , wie etwa in Robert Musils unvollendetem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ und in Thomas Bernhards „Wittgensteins Neffe“. Auch bildende Künstler befassten sich immer wieder mit Ort und Insassen : Oskar Kokoschka porträtierte den nur wenige Jahre nach der Eröffnung der Anstalt dort internierten Schriftsteller Ludwig von Janikowski , und Erwin Dom Osen fertigte Bilder von Patienten für den psychiatrischen Unterricht an.2 Die ästhetische Dimension ist noch auf andere Weise unabdingbar mit dem Steinhof verknüpft. Dabei sticht vor allem die he1 2

Roth 2001 , 133 f. Die mannigfaltigen und wechselseitigen Beeinflussungen von Psychiatrie und bildender Kunst stehen im Zentrum des Forschungsprogramms „Madness and Modernity. Architecture , Art and Mental Illness in Vienna and the Habsburg Empire , 1890–1914“. Daraus hervorgegangene Arbeiten werden der Übersicht halber an den relevanten Stellen der vorliegenden Studie benannt. Zuletzt erschienen : Blackshaw , Wieber 2012. Für die Wellcome Collection wurde 2009 eine Ausstellung kuratiert und 2010 auch im ­Wien-Museum gezeigt : Vgl. Blackshaw , Topp 2010.

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1. Einleitung

rausragende Baukunst ins Auge : Otto Wagner , führender Vertreter der modernen ­Wiener Architektur , plante die gesamte Anlage und die am oberen Ende des Anstaltsgeländes gelegene , in Form eines Zentralbaus errichtete Kirche mit ihrer weithin sichtbaren goldenen Kuppel. Obwohl sie die Gemüter von Künstlern und Bevölkerung so nachhaltig beschäftigte und die Anstalt in der Geschichte der Psychiatrie eine herausragende Rolle spielt – bei ihrer Eröffnung 1907 war sie die größte und modernste Institution für psychisch Kranke in Europa – , wurde sie zwar kunst- und architekturhistorisch eingehend erforscht , überraschenderweise in wissenschaftshistorischer Perspektive dagegen vernachlässigt. Für die ersten Jahrzehnte ihres Bestehens ist diese Lücke besonders auffallend. Mit ihnen befasst sich daher die vorliegende Studie.3 Doch besteht nicht nur ein Forschungsdesiderat zur ­Wiener Psychiatriegeschichte an sich. Vielmehr ist es genau jene in Literatur und Kunst um die Wende zum 20. Jahrhundert vielfach und sehr unterschiedlich anklingende Spezifik der am Rande der wachsenden Großstadt ­Wien gelegenen Anstalt , die ein solches Vorhaben nahelegt.4 Bereits die Architektur der Anlage und ihrer Pavillons macht den Einfluss einer gestalterischen und auch segregierenden Moderne nach außen hin deutlich sichtbar.5 Die Rede von der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ war sowohl bei der Gründung der Institution als auch bei deren weiterer Führung in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens ein zentraler Bezugspunkt aller Beteiligten.6 Dies lässt nach dem Verhältnis von ästhetischer Konzeption und der Praxis der seitens der Medizin propagierten neuartigen Form der Versorgung psychisch Kranker fragen. 3

Ein Überblick zu deren institutioneller Entwicklung wurde anlässlich des hundertjährigen Bestehens von ihrem langjährigen Leiter vorgelegt : Gabriel 2007. Zu den inhumanen Geschehnissen Am Steinhof zur Zeit des Nationalsozialismus : Baumgartner 1992 , 127–148 ; Gross 2000 ; Mende 2000 ; Horn , Malina 2001 ; Dahl 2004 ; Gabriel , Neugebauer 2002 , 2002 , 2005. 4 Vgl. Schorske 1980 ; Beller 2001. 5 Vgl. Baumann 1992 , Neuausgabe 2005 und im Besonderen die als „Die Suche nach Ordnung“ betitelte Einleitung : 11–37 ; zur Undatierbarkeit des Forschungsfeldes : ebd., 14 f. Im Gegensatz dazu benennt Jacques Le Rider für die „­Wiener Moderne“ den Zeitraum von 1890 bis 1910. Sowohl politische als auch soziale und kulturelle Veränderungen kulminierten in einer auffallenden Gleichzeitigkeit innerhalb der Jahrzehnte vor und nach 1900. Die besondere zeitliche Dichte der Entwicklungen in der „­Wiener Moderne“ erklärt sich vor dem Hintergrund der damaligen sozialen und kulturellen Situation der österreichisch-ungarischen Monarchie beziehungsweise durch einen Verspätungseffekt , der sich dann mit einer ausgeprägten Modernisierung verbindet , durch die der Rückstand nahezu aufgeholt wird : Le Rider 1990 , hier : 15 f. Ein Überblick zu dem seit 1975 zunehmenden Interesse an der ­Wiener Moderne und der daraus erwachsenen Literatur , welche interessanterweise vorwiegend außerhalb des deutschen Sprachgebietes erarbeitet wurde : ebd., 9 f. 6 Mit dem Terminus ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ folge ich der zeitgenössischen Begrifflichkeit. Vgl. dazu auch : Fangerau , Nolte 2006.

1.1 Die Insel der Unseligen

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Ein Jahr nach der Eröffnung der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof umriss der maßgeblich an der Planung des Neubaus beteiligte Oberinspektionsrat des Niederösterreichischen Landesausschusses , Fedor Gerényi , auf dem in ­Wien tagenden internationalen „Kongress für Irrenpflege“ die Wirkung der Macht der Anstaltspsychiatrie folgendermaßen : „Es gibt kaum ein Gebiet der öffentlichen Verwaltung , welches mit der Irrenpflege nicht wenigstens indirekt in Zusammenhang gebracht werden könnte. Die Irrenanstalten stellen sozusagen ein Spiegelbild der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Staates dar , für welchen sie bestehen. Ein aufmerksames Studium der Krankenbewegung in den Irrenanstalten , der Krankheitsursachen , der Aufnahme- und Entlassungsumstände wird den Organen der öffentlichen Verwaltung manchen Aufschluss über die Zustände ihre Gebiete erteilen , den sie in gleich zuverlässiger Weise anderswo kaum erlangen könnten.“7

Diese Aussage ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstens galt zu diesem Zeitpunkt der Terminus „Irrenpflege“ bereits als überholt : Die traditionelle Diktion der verantwortlichen Planer scheint nicht ganz vereinbar zu sein mit dem Modernitätsanspruch der Anstaltskonzeption. Wir haben es hier mit einer Übergangszeit zu tun. Denn zugleich umschloss zweitens das zeitgenössische Selbstverständnis der Psychiatrie etwas ausgesprochen Modernes , nämlich die Möglichkeit , für die Verwaltung eines Landes relevante Informationen über den Gesundheitszustand der Bevölkerung erlangen zu können. Dies ist aber nicht nur als rhetorische Bedeutungszuschreibung des eigenen Aufgabenbereiches zu lesen , welcher weit über die eigentliche Tätigkeit in der Institution hinausreichen wollte. Gerényis Figur des „Spiegelbilds“ lässt zugleich auch etwas viel Merkwürdigeres erahnen. Versteht man dieses Wort buchstäblich , wäre die Anstalt nicht nur ein Spiegelbild der Gesellschaft , sondern auch die Gesellschaft umgekehrt ein Spiegelbild der Anstalt. Diese vielleicht unbewusst eingebrachte Vorstellung erinnert an das eingangs zitierte Bild Joseph Roths vom Steinhof als einer „Insel“: Eine Insel ist nichts ohne das sie umgebende Meer und das Festland ; das Festland wäre keines ohne das Meer. Auch bei Roth geht es implizit um wechselseitige Spiegelungen. Die beteiligten Planer stellten sich die imposante , am Stadtrand von ­Wien gelegene Anstalt nämlich selbst als ein Gegenmodell zur brüchigen Welt außerhalb ihrer Mauern vor. Die Innenwelt der Institution Am Steinhof folgte Idealen der Klarheit , Heilsamkeit und Naturverbundenheit und implizierte damit eine Kritik an der chaotischen , überbevölkerten modernen

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Gerényi 1908 /  09 , 398.

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1. Einleitung

Metropole.8 Angesichts der überragenden Wirkung der architektonischen und technischen Gesamtkonzeption der Anlage , ihrer Pavillons und der Kirche stellt sich sowohl die dringliche Frage nach den Vorgängen im Inneren jenes angeblichen Gegenmodells als auch nach etwaigen Wechselwirkungen mit ihrer nur scheinbar klar abgegrenzten „Außenwelt“. Das dritte Moment , worauf mit diesem Zitat aufmerksam gemacht wird , ist die Tatsache , dass die Institution ein Brennpunkt vieler Fragen der Gesundheitspolitik war , an welcher – und dies ist nun der zentrale Punkt – weniger ein akademisches Wissen erforscht und angewandt wurde , als praktische Strategien und Kompetenzen erst ausgehandelt werden mussten. Die vorliegende Studie folgt der Entwicklung der Institution Am Steinhof aus dem Blickwinkel einer Geschichte des Wissens und richtet den Fokus auf die psychiatrische Praxis.

1.2 Das Wissen in der Praxis Die 1907 eröffnete psychiatrische Anstalt schloss konzeptuell an eine lange Tradition spezifischer Versorgung für psychisch Kranke an. Hinsichtlich der Funktionen bestand jedoch zwischen dem Steinhof und seiner Vorgängereinrichtung ein wesentlicher Unterschied. Die bislang innerhalb einer Institution vereinten Aufgabenbereiche der Psychiatrie , wie Forschung , Lehre und stationäre Betreuung , wurden mit dem Neubau der am Stadtrand gelegenen und nun alleinig für die längerfristige Versorgung zuständigen Anstalt voneinander geschieden.9 Diese funktionelle wie auch räumliche Trennung von der Klinik bedingte die Existenz zweier zwar nicht unverbundener , aber dennoch voneinander weitgehend unabhängiger Ausrichtungen innerhalb einer Disziplin. Die Anstaltspsychiatrie geriet in der Folge zu einem von der klinischen Forschung gänzlich entfernten Ort des Agierens und bildete einen eigenständigen – nun in das Blickfeld des Interesses rückenden – Handlungs- und Wissensraum. Was verbirgt sich hinter der Einrichtung einer so imposanten Anstalt , welche nun jenseits der Klinik den vergleichsweise wesentlich prestigeärmeren Anteil psychiatrischer Aufgaben innehatte , und worin bestand das Selbstverständnis ihrer Planer und Protagonisten ? Der hier im Besonderen interessierende Aspekt der Geschichte dieser vorwiegend der Versorgung psychisch Kranker verpflichteten Institution richtet sich nun weni8

Vgl. Topp , Blackshaw 2010 , 33. Otto Wagner hegte ein intensives Interesse an den Auswirkungen großstädtischer Erfahrungen : vgl. Wagner 1911. 9 Vgl. grundlegend zur Geschichte der klinischen Psychiatrie : Engstrom 2003a.

1.2 Das Wissen in der Praxis

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ger auf ein Wissen , welches explizit einer etablierten wissenschaftlichen Disziplin zuzuordnen ist.10 Vielmehr fokussiere ich in der vorliegenden Studie die Aufmerksamkeit auf grundlegende Strukturen der Systematisierung und die Organisation der sozialen und institutionellen Praktiken – denn auf diesen basieren sowohl die Kohärenz der Diskurse als auch die legitime Ausübung von Wissen und Macht , welche nicht notwendigerweise an den institutionellen Pforten endete.11 Die Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof erweisen sich als ein Ort , an dem ein an die institutionelle Versorgung gebundenes Alltagswissen , ein implizites Handlungswissen , ein auf ‚Erfahrung‘ basierendes Behandlungswissen , ein Wissen um Vorstellungen geistiger Gesundheit und Krankheit inklusive aller ihrer vielfältigen Übergangs- und Grauzonen und nicht zuletzt ein Verwaltungswissen angewandt , verändert und auch in andere Bereiche weiter transferiert wurde.12 Viele dieser in der psychiatrischen Praxis angewandten Wissensformen beruhten maßgeblich auf der Vorannahme der therapeutischen Wirksamkeit der bloßen Internierungen. Das nicht nur in der versorgenden , sondern auch in der klinischen Psychiatrie um 1900 besonders ausgeprägte Spannungsverhältnis zwischen Heilanspruch und therapeutischer Effektivität ,13 die Institution an sich und die zwischen gesunden und psychisch kranken Menschen errichtete Anstaltsmauer verweisen auf die Notwendigkeit einer kulturhistorisch ausgerichteten Analyse , die die Möglichkeit der Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft grundsätzlich hinterfragt.14 Für die Wissenschaften im Allgemeinen gilt die Vorstellung einer klaren Abgrenzbarkeit dieser Felder beziehungsweise die Verteidigung einer solchen als ein spezifisches Charakteristikum. Aber die Gesellschaftsgeschichte bildet nicht nur den Kontext , sondern ist selbst integraler Bestandteil der Wissensgeschichte.15 Das Fehlen einer klaren Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit war jedoch vollkommen evident und wurde im zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs auch keineswegs geleugnet. Jene Unbestimmtheit bot – bloß scheinbar gegenteilig – manch Experten vielmehr die ar10 Vgl. Sarasin 2011. 11 Vgl. allg. zur Bedeutung der praktischen Vernunft : Lenoir 1992 , 146 f. ; in Anlehnung an Michel Foucault : ebd., 225. 12 Wissensgeschichte ist weder ein klar definiertes noch ein abgegrenztes Arbeitsgebiet. Die Notwendigkeit , den Pluralismus von Wissensformen hervorzuheben , begründet sich gegenüber der Priorität , die das gegenwärtige Forschungs- und Bildungssystem dem wissenschaftlichen Wissen zukommen lässt. Vgl. Gugerli , Hagner , Hampe , Orland , Sarasin , Tanner 2005. 13 Engstrom 1997 , 165. 14 Die Schwelle zur Anstalt als einem Ort des Übergangs , eines zu analysierenden „Da-zwischen“, an welchem zwei voneinander abgegrenzte Räume aufeinandertreffen und eine ganz eigene Wirkmächtigkeit entfalten , ist ein zentraler Aspekt bei : Brink 2010. 15 Lipphardt , Patel 2008 , 453.

14

1. Einleitung

gumentative Basis zur Durchsetzung von Forderungen , welche auf zukünftige , wenn nicht gar utopische Erfolge zielten.16 Die Einrichtung der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof und des ihr angeschlossenen Sanatoriums war ganz dieser Logik verpflichtet. Die um die Jahrhundertwende seitens der Bevölkerung vielfach bestehende Skepsis gegenüber psychiatrischen Verwahrungs- und Versorgungseinrichtungen wurde strategisch gewendet. Mit der neuen Institution sollten die Bedeutungsansprüche der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ auf charakteristische Weise mittels zukünftiger Lösungsangebote begründet und hinaus in die Gesellschaft getragen werden. Seitens der Wissenssoziologie ist auf spezifische Kompetenzen aufmerksam gemacht worden , welche weniger auf vorgegebenen Regeln und Gebrauchsanweisungen , sondern vielmehr auf Erfahrung und Könnerschaft basieren. Jenes praktische Wissen setzt oft dort ein , wo theoretische Einsichten nicht ausreichend weiterhelfen oder aber in nicht eindeutigen Zusammenhängen und unvorhersehbaren Verflechtungen gehandelt beziehungsweise Unbestimmtheiten oder gar Widersprüche berücksichtigt werden müssen. Kompetenzen wie diese haben mit dem eigenständigen Erfassen einer Situation , mit Umsicht und Geschicklichkeit , aber auch mit Einblick und Urteilskraft zu tun. Im Gegensatz dazu imponiert das theoretische Wissen als ein objektiviertes Wissen , welches durch Regeln und Symbole auf Dauer gestellt , explizit gemacht , in Texte und Daten gefasst , reproduziert , gespeichert und in den Wissenschaften beglaubigt ist. Beide Arten des Wissens , das praktische und das theoretisch-methodische , sind jedoch eng miteinander verbunden. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die Rede , dass sich Praktiker ‚auf eine bestimmte Sache verstehen‘ und sie die ‚Kunst des Handelns‘ beherrschen.17 Eben jene Argumente und somit Grundlagen des Handelns , wie beispielsweise die erst in ihrer Ausübung zu erlangende ‚psychiatrische Erfahrung‘ oder auch die nicht näher definierte und scheinbar selbstverständliche ‚Heilkunst‘ werden in der ( A nstalts- )Psychiatrie vielfach wie selbstverständlich benannt.18 Jenes Wissen versteckt sich , mit Michael Polanyi gesprochen , in der Praxis , die uns mehr wissen lässt als wir zu sagen wissen.19 16 Vgl. beispielsweise zur schwierigen Entscheidung zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit sowie der Klassifizierung der psychischen Erkrankungen im Allgemeinen : Stransky 1914 , 2 f. Dies biete nach Stransky jedoch keinen Grund für einen „wissenschaftlichen Pessimismus“. Vgl. allg. : Roelcke 2002 , 110 f. ; Ders., 1999. Vgl. zum weiten Thema von Norm und Normalität in Theorie und Praxis : Wolters , Beyer , Lohff 2013. 17 Hörning 2001 ; vgl. allg. : Certeau 1988. 18 Die einfachen Anführungszeichen dienen im Weiteren zur Hervorhebung der Spezifika des Wissens in der Praxis. 19 Grundlegend dazu : Polanyi 1985 , hier : 14. Eines seiner zentralen Beispiele ist die ‚Kunst‘ der medizinischen Diagnostik , bei der geschicktes Prüfen und sorgfältige Beobachtung , Theorie und Praxis untrennbar miteinander verknüpft sind : ebd., 16.

1.2 Das Wissen in der Praxis

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Mit diesen Überlegungen soll keineswegs die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens der noch jungen Disziplin Psychiatrie in Abrede gestellt werden. Vielmehr wird nun das Augenmerk auf die institutionelle Wirklichkeit gerichtet , welche aber nicht als „objektive Tatsache“, sondern als eine im hohen Maße von der Interaktivität ihrer sowohl persönlichen als auch materiellen Aktanten geprägte Entwicklung zu lesen ist. Verortet man fortlaufende soziale Praktiken innerhalb eines kulturellen Geflechts von Kontinuität und Diskontinuität , so erweitert sich der Ansatz des Praxisbezugs um eine Perspektive , die sowohl stabile kulturelle Vorannahmen als auch etwaige Veränderungen erfahren lässt. Kultur in diesem Sinne ist nicht ein Gebilde von tragenden und leitenden gemeinsamen Werten und Normen , sondern beinhaltet ein zu untersuchendes Wissensrepertoire , welches oft implizit eingesetzt , aber nicht einfach angewandt wird , sondern sich mit der Auseinandersetzung in der Praxis erst entfaltet.20 In Anlehnung an neuere Ansätze der Wissensgeschichte ist auf drei voneinander keineswegs unabhängige Aspekte aufmerksam zu machen. Das an der Anwendung orientierte psychiatrische Wissen ist nicht in einem statischen Sinne als reine Information zu verstehen. Es ist Grundlage für bestimmte Entscheidungen und hat dabei stets auch prozesshafte und reflexive Dimensionen inne. Es ist sowohl Ergebnis als auch Bestandteil permanent stattfindender Prozesse , und damit ständig neuen Kontextualisierungen und Reflexionen unterworfen. Dieses Wissen ist zweitens konstitutiv an Aktivierung gebunden , es bezieht sich immer wieder auf einen Handlungsbedarf und impliziert damit bestimmte Handlungspotenziale. Drittens ist , wie auch schon angedeutet , auf die unterschiedlichen Wissensformen des sowohl expliziten als auch impliziten Wissens aufmerksam zu machen. Letzteres knüpft an Erfahrungen und Routinen an und umfasst sowohl praktisches als auch lokales Wissen. Institutionen und ihre Strukturen speichern in standardisierten Verfahren , Normen und gelebten Werten damit auch in der Organisationskultur selbst ein Wissen , das einzelne Mitglieder oder auch deren Führung übertreffen kann. Damit ist es aber nicht unabhängig von bestimmten Intentionen , vielmehr wird es in Kommunikationsprozessen immer wieder aktiviert.21 Die Perspektive auf das Wissen in der Praxis birgt für das Schreiben der Geschichte einer psychiatrischen Anstalt die Schwierigkeit der nur teilweisen Erschließbarkeit dieser Art des Wissens.22 Ein früher Ansatz einer Wissensgeschichte , der Phänomenologie eines Wissens , ist der von Michel Foucault alternativ zur Wissenschafts- und 20 Vgl. dazu allg. : Hörning , Reuter 2004. 21 Collin , Horstmann 2004 , hier : 12 f. Ein Überblick der aus der Philosophie , der Wissenssoziologie , den Science Studies und der Wissenschaftsgeschichte stammenden Anregungen zu einer Wissens-Geschichte findet sich in : ebd., 11. 22 Vgl. auch zu dem Problem , der Praxis auf die Spur zu kommen : Turner 1994.

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1. Einleitung

Ideengeschichte entwickelte Begriff der diskursiven Praxis. Fragestellungen , wie beispielsweise die nach einem „Ort des Wissens“, lassen sich nach Ulrich Johannes Schneider durch Geschichtsschreibung auch nur schwer beantworten.23 Zuzustimmen ist vor allem Marietta Meiers und Jakob Tanners Warnung , dass die historische Analyse einer psychiatrischen Institution stets von einem „fremden Blick“ geleitet werde , welcher bloß der Versuch entgegenstehe , verschiedenste Sichtweisen beteiligter Akteure miteinander in Bezug zu setzen.24 Das methodische Vorgehen der Multiperspektivierung liegt der differenziert argumentierenden Studie der Schweizer Forschergruppe Meier , Bernet , Dubach und Germann zugrunde , die einen für die Psychiatriegeschichte zentralen und gleichzeitig sehr schwierigen Themenbereich , nämlich die Anwendung von Zwangsmaßnahmen , behandelt. Nicht nur mechanische Beschränkungen wie Bettgurte , Deckelbäder , Zwangsjacken , Isolierungen und nasse Einwickelungen , sondern auch die Internierung , Entmündigung und Anstaltsordnung selbst verweisen letztlich auf gesamtgesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und Tendenzen der verordneten oder erzwungenen Normalisierung.25 Hier bietet sich nun aber die besondere Chance der Perspektive auf das Wissen in der Praxis. Schon die für die vorliegende Studie herangezogenen Quellen legen nahe , Aspekte der Macht bei der Generierung und Anwendung von Wissen im Sinne Michel Foucaults zu berücksichtigen.26 Keineswegs jedoch soll ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Disziplinierung27 geschrieben werden , noch wird der in der Historiografie lange Zeit maßgeblich von Erving Goffman beeinflussten Sichtweise von „Irrenanstalten“ als Instrumenten sozialer Kontrolle gefolgt.28 Stattdessen sind Prozesse sozialer Marginalisierung und medizinische beziehungsweise institutionelle Praktiken klar zu unterscheiden und zueinander in Beziehung zu setzen.29 Studien , die beispielsweise familiäre oder kommunale Formen der Versorgung psychisch Kranker30 oder aber die Anstaltsunterbringung als therapeutisches Verfahren an sich und 23 Schneider 2003 , 220–229. Foucault skizziert keine These , sondern eine Aufgabe , die Archäologie ist ihm weder Theorie noch Methode. Hier : 222 f. 24 Meier 2005 ; Tanner 2005. 25 Meier , Bernet , Dubach , Germann 2007. 26 Vgl. Honneth 2003. 27 Ein informativer Überblick der Rezeption Foucaults und seiner These der Sozialdisziplinierung : Brieler 2003. Das Paradigma der Sozialdisziplinierung gilt als anerkannte These für die Frühe Neuzeit. Die vielzitierte und umstrittene These Foucaults der „großen Einschließung“ bezieht sich keinesfalls auf den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie. Sie gilt für das 20. Jahrhundert als widerlegt : Gijswijt-Hofstra , Oosterhuis , Vijselaar 2005. Vgl. dazu auch die Untersuchung von Krankenakten eines Tiroler Landarztes , die dieser über fünf Jahrzehnte hinweg geführt hatte : Dietrich-Daum , Taddei 2008. 28 Goffman 1972 ; vgl. dazu auch : Scheutz 2008 ; Bretschneider 2008. 29 Ein diesbezüglicher Überblick zur Psychiatriegeschichte der letzten Jahre : Engstrom 2006 , 596. 30 Melling , Forsythe 2006.

1.2 Das Wissen in der Praxis

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auch als Instrument sozial-präventiver Kontrolle untersuchen ,31 zeigen deutlich , dass die These der Sozialdisziplinierung der Komplexität sozialer Antworten auf geistige Erkrankungen nicht gerecht werden kann. Jene differenziertere Herangehensweise soll mittels jüngst formulierter Ansätze untermauert werden , die Politik als konstitutiven Bestandteil von wissenschaftlicher Praxis in allen ihren Stadien zu begreifen.32 In bescheidenem Umfang kann man bei der Gründung und Führung der Anstalt Am Steinhof die Interaktion von Politik und Wissenschaft33 nachvollziehen. Letztere ist im Rahmen der Neuausrichtung der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ insbesondere an dem sich manifestierenden Verwaltungswissen deutlich zu erkennen.34 Eben hier liegt nun auch die Stoßkraft einer Orientierung an der Praxis , der historischen Suche nach der ‚praktischen Vernunft‘ , den Rissen und Störungen , den veränderten Techniken des Umgangs und den neuen Bedeutsamkeiten der psychiatrischen Versorgung. Das praxiskonstituierende Wissen der psychiatrischen Anstalt Am Steinhof lässt sich vor allem anhand zweier archivalischer Quellen rekonstruieren. Dies sind zum einen die von der historischen Forschung bislang weitgehend uneingesehenen sogenannten Direktionsakten. Sie wurden von 1904 bis 1922 nach den jeweiligen Sachgebieten abgelegt , ab 1923 chronologisch nach der Protokollzahl geordnet und befinden sich heute im ­Wiener Stadt- und Landesarchiv.35 Zum anderen wurden für die vorliegende Arbeit personenbezogene Akten herangezogen , zu denen die Standesprotokolle , die Eingangs- beziehungsweise Abgangsbücher36 und die Krankenakten zu zählen sind.37 Der umfangreiche Bestand der Patientenakten der Am Steinhof Behandelten ist von 1918 bis 1947 erhalten. Die Ablage der in Faszikeln gesammelten Kranken31 Zu den sowohl medizinischen als auch rechtlichen und bürokratisch-ökonomischen Hintergründen der trotz wiederholter Krisen bis in die 1970er-Jahre anhaltenden relativen Stabilität des Anstaltsmodells : Brink 2010. 32 Roelcke 2010. 33 Ash 2010. 34 Mitchell G. Ash macht auf die im Englischen mögliche Unterscheidung zwischen „politics“ und „policy“ aufmerksam. Letzterer Terminus verweist auf die Hoffnung einer alles umfassenden , rationalen Ordnung der Gesellschaft , wie sie im 18. Jahrhundert unter dem Terminus „Policey“ firmierte. Ebd., 15. 35 WStLA , Mag. Abt. 209 , Serie A 1 , Allgemeines Verwaltungsprotokoll. 36 WStLA , Mag. Abt. 209 , B 5 , Standesprotokolle , Nr. 1 bis 57 ( 1907–1954 ) bzw. B 12 , Hauptstandesprotokoll des Sanatoriums Nr. 1 bis 3 ( 1907–1922 ). Die Eingangsbücher enthalten folgende Informationen : laufende Nummer des Eingangs , Tag der Aufnahme , Journal-Nummer , Name des Pfleglings , Personaldaten , Kurator beziehungsweise Kuratelsbehörde. Im Weiteren enthalten sie Abgangsnummer und -datum und Informationen darüber , ob die Patienten „geheilt“, „in häusliche Pflege“ oder „gegen Revers“ entlassen , in eine andere Institution verlegt wurden oder aber in der Anstalt verstorben waren. 37 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 11. 1. ( 1918–1927 ), A 11. 2. ( 1928–1938 ), A 11. 3. ( 1939–1947 ). Dazu sind , allerdings nicht vollständig , Indizes erhalten : ebd., B 6.1 ; B 6.2 ; B 11.1 ; B 11.2 ; B 13 ; B 14. Der Bestand der von 1939 bis 1947 reichenden Krankenakten ist in einem sehr ungeordneten Zustand und keineswegs vollzählig.

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1. Einleitung

akten erfolgte getrennt nach Geschlecht in alphabetischer Reihenfolge. Das Austrittsdatum bestimmte die Zuordnung der Archivalien zu den Dekaden 1918 bis 1927 und , in einer separaten Reihe , 1928 bis 1937. Die Akten der Patienten des bis Ende des Jahres 1921 bestehenden Sanatoriums sind Teil des chronologisch geordneten allgemeinen Bestands. Von diesem gesondert abgelegt sind die Akten der 1922 als Teil der psychiatrischen Anstalt eröffneten Trinkerheilstätte.38 Da im Falle von Mehrfachaufnahmen eines Kranken die vorhergehenden Unterlagen in die jeweils aktuelle Dokumentation mit eingeordnet wurden , datieren manche Akten bis vor die Jahrhundertwende zurück oder enthalten auch Schriften anderer psychiatrischer Institutionen. Neben den zwei benannten , in Serie vorliegenden Archivbeständen wurden im Weiteren Personalakten aus dem Universitätsarchiv , stenografische Protokolle des Niederösterreichischen Landtages , vor allem aus der Zeit der Gründungsphase der Anstalt und , zur Analyse der Geschehnisse während des Ersten Weltkrieges die wenigen noch erhaltenen , die Institution betreffenden Akten des Kriegsarchivs ( Österreichisches Staatsarchiv ) ausgewertet. Zu den herangezogenen veröffentlichten Quellen zählen vor allem folgende zwei Zeitschriftenreihen : Das „Psychiatrische Centralblatt“ wurde ab 1871 von dem zwei Jahre zuvor begründeten „­Wiener Verein für Psychiatrie und forensische Psychologie“ herausgegeben. Im Jahre 1879 wurde diese Zeitschrift in „Jahrbücher für Psychiatrie“ und 1895 , analog zur Namenserweiterung des Vereins , in „Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie“ umbenannt.39 Die Protokolle der Sitzungen des Vereins wurden in dieser Reihe und später auch in der W ­ iener Medizinischen Wochenschrift abgedruckt. Viele der zeitgenössischen innerfachlichen Auseinandersetzungen der

Die Archivalien sind seit einigen Jahren im ­Wiener Stadt- und Landesarchiv für die historische Forschung frei zugänglich , zuvor waren sie in der Anstalt im Keller eines der Krankenpavillons gelagert. Der Bestand umfasst etwa 150 Laufmeter im Archiv ; der Patientenstand betrug in Spitzenzeiten bis zu 4. 000 Patienten. Die Einsicht in diesen Quellenbestand erforderte eine spezielle Bewilligung zur Sicherung des Datenschutzes. Albrecht Hirschmüller hat gemäß seiner Angaben 1975 in der Anstalt Am Steinhof auf einem der Dachböden die Krankenakten der Anstalt Am Brünnlfeld gesehen. Nach drei Jahren war nahezu der gesamte Bestand , angeblich im Zuge eines Wasserschadens , beschädigt und anschließend vernichtet worden : Hirschmüller 1991 , 138. Ob zu diesem Zeitpunkt der Bestand der Krankenakten vom Steinhof zurückreichend bis 1907 noch erhalten war , erwähnt der Autor leider nicht eigens. 38 Die ( gegenwärtig ) gesetzlich vorgeschriebene Aufbewahrungsfrist für Krankenakten beträgt 30 Jahre : Langer-Ostrawsky 2005 , hier : 89 f. Zur Problematik der Archivierung des Massengutes Krankenakten : Rigele 1996. 39 Die zuvor , allerdings nur zwei Jahre lang , bestehende Zeitschrift „Vierteljahresschrift für Psychiatrie in ihren Beziehungen zur Morphologie und Pathologie des Nervensystems , der physiologischen Psychologie , Statistik und gerichtlichen Medizin“ wurde bis 1870 von Theodor Meynert und Maximilian Leidesdorf herausgegeben.

1.3 Untersuchungszeitraum und Kapitelfolge

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deutschsprachigen Anstaltspsychiater sind in der ab 1899 von Johannes Bresler herausgegebenen „Psychiatrischen Wochenschrift“ – beziehungsweise ab 1902 „Psychia­ trisch-Neurologischen Wochenschrift“ – dokumentiert.40 Darüber hinaus wurden die in der Ersten Republik regelmäßig erschienenen „Blätter für das Wohlfahrtswesen“ und zur Recherche vieler quantitativer , grundlegender Daten die bis 1914 vom Niederösterreichischen Landtag herausgegebenen Jahresberichte der Anstalt Am Steinhof herangezogen.41

1.3 Untersuchungszeitraum und Kapitelfolge Die Psychiatrie , ihre Krankheits- und Heilkonzepte und insbesondere ihre Institutionen sind Gegenstand zahlreicher historiografischer Arbeiten. Österreichische Forschungen42 hinken hierbei im internationalen Vergleich etwas hinterher.43 Die vorliegende Studie will eine der verbleibenden Lücken schließen und am Beispiel der bedeutenden ­Wiener Institution Am Steinhof zeigen , wie sich die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ zu etablieren versuchte. Kontingenzen der lokalen universitären und politischen Machtverhältnisse spielen ebenso eine Rolle wie die Besonderheiten des Ortes , aber auch das Verständnis von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen. Die konkreten Umstände der Planung und Errichtung der monumentalen Anlage der Anstalt sollen daher ausführlich rekonstruiert werden , weil sie nicht nur eine wichtige Episode in der Geschichte der Psychiatrie – und auch der Stadt- und Kunstgeschichte – darstellen , sondern weil die lokalen Auseinandersetzungen zu einer adäquaten Betreuung der psychisch Kranken letztlich immer auch mit normativen Implikationen verbunden sind. Letztere sind gerade nicht lokal , sondern von international geführten und historisch veränderlichen Diskursen geprägt , welche implizit stets auch An40 Hintergrund des Zeitpunkts ihrer Begründung ist die „antipsychiatrische Bewegung“, auf die im Abschnitt 2. 4. ausführlich eingegangen werden soll. Vgl. dazu auch : Engstrom 2003a , 185 f. 41 Jahresberichte der niederösterreichischen Landesirrenanstalten ­Wien , Ybbs und Klosterneuburg ( ­Wien ) 1853 bis 1856. Weitere Jahresberichte sind von 1883 bis 1899 erhalten. Zudem erschienen von 1906 /  07 bis 1913 / 14 : „Die niederösterreichischen Landes-Irrenanstalten und die Fürsorge des Landes Niederösterreich für schwachsinnige Kinder“; Referent : Hermann Bielohlawek. 42 Hirschmüller 1991 ; Watzka 2004 ; vgl. zu Tirol und der , aufgrund des sogenannten Basaglia-Gesetzes ( 1978 ) früheren und im Vergleich zu Österreich und auch vielen anderen europäischen Ländern sehr unterschiedlichen Psychiatriereform in Südtirol : Dietrich-Daum , Taiani 2009 ; Grießenböck 2009 ; zu der 1891 eröffneten psychiatrischen Universitätsklinik in Innsbruck : Ralser 2010 , 149 f. 43 Umfassende Forschungsüberblicke finden sich in den Sammelrezensionen : Engstrom 2008 ; ders., 2006 ; ders., 2012. Ein guter Überblick zur Entwicklung der Psychiatriegeschichte und ihrer politischen Hintergründe : Kersting , Teppe , Walter 1993 , 27–39 ; Engstrom , Roelcke 2003.

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nahmen von einem „gesunden“, „wertvollen“ und „sozial genehmen“ menschlichen Lebens in sich tragen. Die Geschichte der Gründung und weiteren Entwicklung der „inselartigen“ Anstalt Am Steinhof kann somit entlang einer dichotomen Sichtweise „von innen“ oder „von außen“ nicht verständlich werden , der sie umgebende Raum ist ebenfalls konstitutiv : ­Wien gilt mindestens während zweier Phasen als ein Musterfall urbaner Räume in Europa. Die erste war die Wende zum 20. Jahrhundert , welche für eine Vielfalt künstlerischer wie intellektueller Impulse steht , aber auch eine von gesellschaftlichen Spannungen geprägte Epoche war und retrospektiv mit Ausstellungstiteln wie „Traum und Wirklichkeit“44 beschworen wurde. In der Person des Architekten Otto Wagner ist die Anstalt Am Steinhof in der Tat mit einem Teil dieser zwischen Naturalismus , Jugendstil und Décadence changierenden Kulturavantgarde verbunden , welche sich in der Ästhetik der Anlage im Allgemeinen bis hin zu einem eigenartig unwirklichen , exotistischen Stil der Anstaltskirche zeigt. Die zweite Epoche , in der ­Wien mit all seinen lokalen Eigenarten noch einmal exemplarisch für Gleichzeitigkeiten urbaner Lebenswelten steht , sind die 1920er-Jahre. Damals wurden die Vorstädte zum Schauplatz jenes sozialen und kulturellen Experiments , das man das „Rote ­Wien“ nannte und heute noch nennt45 und deren Kämpfe um Partizipation an Macht und Reichtum in gewisser Weise in die anstaltsinternen Geschehnisse der Anstalt hineinwirkten. Die vorliegende Studie folgt zeitlich im Wesentlichen diesen beiden Phasen. Um die Geschichte der ‚modernen Anstalts­psychiatrie‘ in ihrer ganzen Breite erfahren zu können , wird jedoch bereits in den Jahrzehnten vor der Gründung der neuen Institution angesetzt. Die Untersuchung der Entwicklung der therapeutisch-verwahrenden Anstalt erfolgt bis hin zu den aus ökonomischen Zwängen bedingten massiven Einsparungen Ende der 1920er-Jahre , welche es unmöglich machten , viele der in den Jahrzehnten zuvor etablierten Grundsätze der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ umzusetzen.46 Die 1907 gegründete Institution Am Steinhof markiert einen Bruch in der Versorgung psychisch Kranker und ist doch zugleich Teil längerer Traditionslinien. Mit dem Titel des zweiten Kapitels „Wissen und Räume“ ist ein zentrales Kategorienpaar kulturwissenschaftlicher Analyse angesprochen , welches zwei im Umgang mit dem Wahn sich bereits im 19. Jahrhundert miteinander verschränkende Aspekte in den Blick nehmen lässt. Anhand der in ­Wien Ende des 18. Jahrhunderts ersten Einrichtung ei44 So der Titel einer Ausstellung : Traum und Wirklichkeit. ­Wien 1870–1930 (= Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt ­Wien 93 ), ­Wien 1985. 45 Konrad 2008. 46 Dieser Zeitraum umfasst zudem die Periode der ersten beiden , jeweils langjährigen Direktoren der Anstalt , Heinrich Schlöß ( 1907–1918 ) und Josef Berze ( 1918–1929 ).

1.3 Untersuchungszeitraum und Kapitelfolge

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gens für psychisch Kranke , dem Narrenturm , und der Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten Anstalt Am Brünnlfeld wird die frühere , vornehmlich verwahrende Psychiatrie skizziert. Von dieser wusste sich die ‚moderne‘ Form der Versorgung stets dezidiert abzusetzen. Hintergrund der notwendig erscheinenden Definitionen des eigenen Tätigkeitsbereiches waren jedoch auch grundlegende strukturelle Änderungen innerhalb der Psychiatrie im Allgemeinen. Denn wie bereits kurz erwähnt , waren mit der Gründung der gemäß ihrer Statuten von der wissenschaftlichen Forschung enthobenen Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof die bislang vereinigten Aufgabenbereiche der stationären Versorgung und der klinischen Forschung und Lehre voneinander getrennt worden. Diese Aufteilung ist jedoch nicht als simple Differenzierung zweier Teilbereiche einer Disziplin oder als bloßer räumlicher Bedarf an einer größeren Versorgungseinrichtung zu verstehen. Vielmehr manifestierte sich hier der Einfluss einer ganz anderen wirkmächtigen Entwicklung , nämlich die enorme Zunahme der in das Blickfeld der Psychiatrie geratenen psychisch Kranken. Lutz Raphaels Ansatz der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“, der vielfältigen Anwendungsformen der Humanwissenschaften in unterschiedlichen Bereichen sozialer Problematiken , dient als eine die Analyse leitende Perspektive zur Betrachtung der modernen psychiatrischen Wissensordnung.47 Die Einheitlichkeit und Ausrichtung jenes Prozesses der „Verwissenschaftlichung“ wird jedoch hinsichtlich ihrer Denkfigur einer zunehmenden „Durchdringung“ der allgemeinen Lebens- und Vorstellungswelten mit „wissenschaftlichen Deutungen“ und der vermeintlich klaren Abgrenzung von „Wissenschaft“ und sie umgebender „Kultur“ kritisch hinterfragt.48 Die von zeitgenössischen Psychiatern und auch in der Historiografie sehr unterschiedlich diskutierten Ursachen des Anstiegs der Zahl psychisch kranker Menschen und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit des Neu- und Ausbaus von Versorgungseinrichtungen lassen sich als bloßes Ineinandergreifen zweier abgrenzbarer Bereiche auch nur unzureichend beschreiben. Vielmehr wird ein komplexes Gefüge sowohl von Interessen seitens der Psychiatrie im Zusammenhang mit der Etablierung der Disziplin als Prüfungsfach , als auch von ökonomischen und sozialen Interdependenzen und ein weitgespanntes Wechselspiel von Bedrohungsszenarien und der Statistik als eine hierbei zentrale Technologie erkennbar. Die bereits in ihrer Planung von vorneherein über den tatsächlichen Bedarf hinaus dimensionierte Anstalt Am Steinhof offenbart sich als eine als „social engineering“ bezeichnete Kombination von Sozialtechnologien , sozialen Ordnungsmodellen und einem Gestaltungsimperativ , welche in ihrer Gesamtheit eine paradoxe Koppelung von Ängsten und Optimis47 Raphael 1996. 48 Vgl. Vogel 2004 , hier : 654.

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1. Einleitung

mus abbilden. Die aus der Krise abgeleitete Pflicht der Experten zur Intervention setzt bei Individuen an , zielt aber zugleich auf die Bevölkerung als Ganzes49 – ähnlich wie dies im einleitenden Zitat des Landesoberinspektionsrates bereits angeklungen und für die Einrichtung der Anstalt Am Steinhof bezeichnend ist. Die enorme Dimension und die mittels modernster Architektur nach außen gerichtete Wirkungsweise der Anstalt lässt die Forschungsfrage nach den alltäglichen Praktiken in ihrem Inneren als eine umso fruchtbarere erscheinen. Das dritte Kapitel zu den die Rationalisierungstendenzen in den Blick nehmenden „Anordnungen der Anstaltspsychiatrie“ schließt an die These der Raumgebundenheit des psychiatrischen Wissens an und sucht die alltägliche Praxis zu erfassen. Hier wird der Frage nachgegangen , ob die Anstaltspsychiatrie als eine im Schnittbereich zwischen Staat und Wissenschaft angesiedelte außeruniversitäre Institution in der Zeit des Übergangs von der traditionellen Ordnungs- zur sozialstaatlichen Leistungsverwaltung auch den Charakter ihrer wissenschaftlichen Einrichtung änderte. War es mit der Gründung der neuen Institution zu einem Übergang von der verwahrenden Anstaltspsychiatrie zu einer therapeutischen Neuorientierung gekommen ? Inwiefern visualisierte und signalisierte der gebaute Raum die Moderne ? Waren die Fassaden der Pavillons , an denen kein Ornament den Blick verschleiern sollte , Sinnbild eines rationalisierten Lebens für eine bestimmte Gruppe von Menschen ? Jakob Tanner merkt in Anlehnung an Mary Douglas an , dass in jedem institutionellen Gefüge ein permanentes Hintergrundrauschen herrscht , welches sich als interne Sichtweise offenbart. Damit stellt sich die Frage , wie dieser ‚white noise‘ in handlungsrelevantes Wissen in Form von Auswahlkriterien oder Klassifikationsraster transformiert wird. Diese Schemata sind nicht nur für die Institution selbst , sondern auch für die sie umgebende Gesellschaft konstitutiv und werden durch die Interaktion in einer Anstalt auch verändert.50 Die historische Analyse kann nur versuchen , Teile dieses „unbemerkten Rauschens“ ( Tanner ) aufzuspüren , wie beispielsweise anhand der topografischen Ordnung , der rationalisierten Betreuung der Patienten , den sowohl normativ vorgegebenen als auch in Artefakten aufscheinenden Aufgabenbereichen der Anstaltsangestellten und deren Ringen nach Anerkennung ihrer Tätigkeit. Im letzten und mehrfach unterteilten Abschnitt dieses Kapitels offenbart sich – nun schon etwas deutlicher – der Versuch einer Neuordnung komplexer und vielfach die umstrittenen Übergänge zwischen Gesundheit und geistiger Krankheit be-

49 Etzemüller 2009. 50 Tanner 2005 , 63 ; vgl. dazu allg. : Douglas 1991.

1.3 Untersuchungszeitraum und Kapitelfolge

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treffender Fragen.51 Deren Lösung wurde oftmals außerhalb der eigenen Disziplin gesucht. Gemäß dem W ­ iener Kliniker Erwin Stransky ( 1877–1962 ) erstrecke sich die von ihm in einer populärwissenschaftlichen Abhandlung benannte „Werkstatt des Psychiaters“ im Vergleich zu anderen medizinischen Disziplinen auch auf Fragen , die weit in die Jurisprudenz hineinreichen. Der Grund läge vor allem darin , dass die Psychiatrie nicht nur für das Wohl der Kranken , sondern auch für den Schutz der Öffentlichkeit vor diesen Kranken verantwortlich sei.52 Eben jenes Wohl der Gesellschaft war der Anstaltspsychiatrie stets ein zentrales Anliegen. Die Rationalisierungstendenzen der Moderne setzten bei Menschen , die sowohl psychische Auffälligkeiten zeigten , als auch straffällig geworden waren – gewissermaßen in Kehrseite zur Ausbildung der sich Humanität und Fortschritt verpflichtenden ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ – in einer umso repressiveren Weise an. Sie eröffneten einen neuartigen , sowohl von psychiatrischen als auch juristischen Interessen geprägten Wissensraum , welcher gemäß den Wünschen radikalerer Positionen bis hin zur „Behandlung“ der seitens der Experten vermuteten potenziellen Vergehensbereitschaft gegen die Gesetzesnorm reichen sollte. Im Inneren – und insbesondere an ihrer Grenze zum Eintritt in die Anstalt – musste die psychiatrische Wissenshoheit entsprechend deutlich gemacht werden. Die im vierten Kapitel behandelte Medialität und Materialität der Krankenakten spielt hier eine nur scheinbar marginale Rolle. Bereits die historische Veränderlichkeit der Aufzeichnungen von Krankenbeobachtungen offenbart deren unterschiedliche Funktionen im Gefüge eines Anstaltsbetriebes. Im Aufnahmeverfahren konkretisierte sich das Erstellen der patientenbezogenen Dokumentation gleich einem stark regelbestimmten Verfahren zu einem wichtigen Instrument der Absicherung der Internierung , sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus rechtlichen und administrativen Gründen. Insbesondere das erste Blatt jeder Krankenakte war von vorgegebenen Strukturen maßgeblich geprägt und zeigt , was bereits auf den ersten Blick hin sichtbar sein sollte. Das an jener Stelle sehr deutlich werdende Lenken der Aufmerksamkeit auf bestimmte Daten offenbart Interessen der Psychiatrie , welche sich über den Untersuchungszeitraum hinweg auf charakteristische Weise spezifizierten. In einem Exkurs werden weiterhin die vorerst unbestimmte Sammlung der Krankenakten und deren spätere Verwendung im Rahmen des nationalsozialistischen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erläutert. Neben jener im Hinblick auf spezifische Daten regelhaften Verschriftung präsentiert sich das institutionsinterne Aufschreibesystem als eine Form der Dokumentation , 51 Dieser Abschnitt ist die überarbeitete und gekürzte Fassung eines bereits erschienenen Beitrages : Ledebur 2007b. 52 Stransky 1926 , 1.

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1. Einleitung

welche alles , was den Schreibenden selbstverständlich ist , erst gar nicht mit aufnimmt. Die Akten zeugen von einer institutionellen Sichtweise auf die Geschichte der Kranken oder gar nur ihrer Krankheiten. Schon die Befragung und Wahrnehmung der Patienten wurde im Gedanken an das schriftlich zu Fixierende geführt. Das , was ein Arzt tatsächlich wahrnahm , alle flüchtigen Eindrücke oder gar Vieldeutigkeiten , finden sich in keiner Akte verzeichnet. Bereits die Vorstellung davon , was bedeutsam am beobachteten Verhalten ist , also davon , was wortwörtlich bemerkenswert ist , traf vermutlich viele Vorentscheidungen. Nicht nur sieht ein Arzt meist lediglich das , was er weiß und was er wissen will. Diese Wahrnehmungen werden wiederum noch einmal selektiert , reduziert und eindeutig gemacht , wenn er etwas in die Akte einträgt , denn dort pflegt man nur das festzuhalten , was in eine Art gedachtes Schema von Kranksein passt. Alles , was nicht zumindest im Verdacht steht , funktional oder kausal ein mögliches Krankheitsbild auszumachen oder hervorzurufen , wird spätestens hier , wenn nicht schon im Wahrnehmungsprozess , ausgefiltert als nicht zur Sache , dem medizinischen „Fall“, gehörig. Liest man Krankenakten ohne Distanz , bleiben diese komplizierten Selektions- und Deutungsmechanismen unsichtbar – obwohl gerade sie es sind , in denen sich ein bedeutender Teil der medizinischen Praxis zeigt. In diesen Praktiken werden Wahrnehmungs- und Wissensformen weitergegeben , die auch nur partiell im Zusammenhang mit den medizinischen Lehren der Zeit erfasst werden können. Dem praktischen Wissen und der Lebensrealität und Erfahrungswelt der psychiatrischen Anstalt ist sich angesichts der oftmals nur sehr knappen Ausführungen bloß archäologisch zu nähern. Nun wieder den chronologischen Ereignissen folgend , werden im fünften Kapitel die anstaltsinternen Geschehnisse während des Ersten Weltkrieges in den Blick genommen. Ein Großteil der männlichen Angestellten der Anstalt Am Steinhof wurde zum Kriegsdienst einberufen. Zugleich war die Zahl der Patienten stark angestiegen , da in umkämpften Gebieten gelegene Anstalten evakuiert werden mussten , aber auch Entlassungen vom Steinhof nicht mehr so leicht durchzuführen waren. Zudem wurden sowohl körperlich als auch geistig erkrankte Armeeangehörige stationär aufgenommen. In der Folge kam es zu zahlreichen organisatorischen Veränderungen innerhalb der Institution. Während des Krieges waren die Kranken aber nicht nur medizinisch unterversorgt. Ab 1917 war wegen der Nahrungsmittelengpässe die Morbiditäts- und Mortalitätsrate der Anstaltsinsassen in dramatischer Weise angestiegen. Die Hintergründe der 1916 erlassenen sogenannten Entmündigungsordnung sind ebenfalls Thema des fünften Kapitels. Diese regelte einen Teil der seit der Jahrhundertwende seitens der Standesvertreter angestrebten Strafrechtsreform , wurde aber in ihrer zwischenzeitlichen wie auch endgültigen Fassung seitens der Anstaltspsychiatrie massiv kritisiert. Die sich in der Wissenschaftlichkeit und Anerkennung ihrer Ar-

1.3 Untersuchungszeitraum und Kapitelfolge

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beit bedroht fühlenden Anstaltsärzte sahen sich insbesondere mit den nun von externen Medizinern zu erstellenden Gutachten und auch rigideren Kontrollen ihrer Tätigkeit mit weitreichenden Kompetenzverlusten konfrontiert , welche als massive Zurücksetzung ihrer eigenen Tätigkeit betrachtet wurden. Scheinbar gegensätzlich zu diesen Entwicklungen wandte sich das psychiatrische „Wissen in Bedrängnis“ – so der Titel dieses Kapitels – in weitgehende Kompetenzansprüche ihrer Standesvertreter. Umso vehementer betonten sie die gesellschaftliche Relevanz ihrer Disziplin und forderten über den bisherigen Bereich ihrer Tätigkeit hinaus umfassende Reformen in der Versorgung und Behandlung psychisch Kranker. Hier setzt nun das sechste Kapitel an : Die lokale Kontingenz der während der 1920er-Jahre stattfindenden Veränderungen der Institution steht in einem engen Zusammenhang mit den maßgeblich vom Gesundheitspolitiker und Mediziner Julius Tandler ( 1869–1936 ) angeregten Reformen des sogenannten „Roten ­Wien“. Zwar richtete sich bezeichnenderweise keine seiner sozialreformerischen und vielfach eugenisch motivierten Umgestaltungen direkt auf die Versorgung psychisch Kranker. Der allgemeine Auf- und Ausbau des Fürsorgewesens bot allerdings der Anstaltspsychiatrie Anknüpfungspunkte für viele der auch in den Jahrzehnten zuvor schon angeregten Reformen zur Lösung spezifischer Probleme in der Führung einer ‚modernen‘ Anstalt. Die dabei formulierten Forderungen markierten Ein- und Aus­schluss­prozesse bestimmter Patientengruppen gleichermaßen und lassen nach sich verbergenden Wirkmächtigkeiten fragen. War es die Definitionsmacht der Sozialreform und der psychiatrischen Expertentätigkeit , die neue psychosoziale Realitäten geschaffen und verfestigt hatte , welche weniger auf neuem Wissen als auf versorgungstechnischen Praktiken beruhte ?53 Ist das Ineinandergreifen organisatorischer und wissenschaftlicher Entwicklungen im Sinne eines Regulierungswissens zu verstehen ?54 Der im Zuge der Ausdifferenzierung der Anstaltspsychiatrie zunehmend häufiger einsetzende Rekurs auf die ‚psychiatrische Erfahrung‘ verweist indirekt auf ein unsicheres Wissen. Aber auch das Gegenstück der ‚Erfahrung‘ , nämlich die vielfach daran geknüpfte Erwartung , ist mit in den Blick zu nehmen.55 In dieser Konsequenz gilt es danach zu fragen , ob die Öffnung der Anstaltspsychiatrie – somit ein Ende der Abgeschlossenheit der „schützenden Insel“ – schlicht die Hoffnung auf neuartige Formen wissensbasierter Definitionshoheiten beinhaltete.

53 Vgl. Szöllösi-Janze 2004 , hier : 287. Die Autorin macht ebenfalls auf die Nicht-Linearität des Prozesses der Verwissenschaftlichung aufmerksam , ambi- oder gar polyvalente oder auch gegenläufige Entwicklungen können Teil dieser historischen Entwicklung sein : ebd., 308. 54 Reinhardt 2010 ; Innerhofer , Rothe 2010. 55 Vgl. Schmidt-Biggemann 2008 , hier : 28.

2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof Betrat man die soeben , 1907 , gegründete Anstalt Am Steinhof , so gelangte man unmittelbar zum prominent auf der Mittelachse gelegenen Direktionsgebäude. Dabei stieß man jedoch zunächst nicht auf Verwaltung oder Direktor ; man betrat auch keinen klinischen Trakt , sondern fand sich vielmehr vor einem „Museum für Irrenpflege und Psychiatrie“.56 Warum aber wurde der Blick der Besucher der modernen Anstalt bereits im Entrée auf althergebrachte Versorgungsformen gelenkt ? Konnte die neue Art des Wissens erst in Abgrenzung zu traditionellen Modellen hergestellt werden ? Die Gestaltung des Museums ist heute im Einzelnen nicht mehr rekonstruierbar , sicher aber ist dessen Funktion im Gesamtkonzept : Die Besucher sollten sogleich darauf eingestimmt werden , dass es sich nicht um irgendeine Anstalt handle , sondern eine völlig neue Institution , welche eine Zäsur in der Geschichte des medizinischen Fortschritts markieren , vielleicht sogar eine neue Epoche einläuten wollte. Die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ reagierte hiermit auf die öffentliche Kritik an der Anstaltspraxis vor und um die Jahrhundertwende , glaubte programmatisch an einen aufklärerischen , wissenschaftsgeleiteten Fortschritt und pflegte eine gedankliche Verbindung von Wissenschaft , Humanität und Fortschritt. Die Gründung der Anstalt Am Steinhof war sowohl der Versuch einer Abgrenzung gegenüber der „Irrenpflege“ des 19. Jahrhunderts als auch inhärenter Teil einer längeren Entwicklung , welche auf ein klar voneinander zu trennendes Innerhalb und Außerhalb der psychiatrischen Versorgung zielte. Sowohl die Wahrnehmung der Außenwelt in der Innenwelt als auch die Wahrnehmung der Innenwelt durch die Außenwelt wurden dabei bedacht , die Bedeutung von Räumlichkeit wurde implizit oder explizit stets mit verhandelt. Der Bau der Anstalt Am Steinhof galt als die Vollendung einer in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts begonnenen Reform : Um zu wissen , was die geistigen Väter des Steinhofs fortführen und was sie durch einen utopischen Entwurf ersetzen wollten , muss man daher die Geschichte der psychiatrischen Institutionen ­Wiens zumindest in ihren Umrissen kennen. Nur dann lässt sich die Neugründung der nach allen Richtungen Stabilität suggerierenden Anstalt Am Steinhof im wörtlichen Sinne besser „verorten“. Der keineswegs für W ­ ien spezifische , sondern vielmehr europaweit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte Aus- und Neubau von Institutionen zur stationären Versorgung psychisch kranker Menschen ist eng verknüpft mit der neu proklamierten professionellen Zuständigkeit für eine wachsende Zahl sogenannter „Anstaltspfleglinge“. Hier zeigen sich besonders enge Verflechtungen naturwissen56 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 9 ( 1907 /  08 ), 214.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

schaftlich-klinischer Methoden mit sozialen und auch juristischen Problemlösungsstrategien , welche , um die Eigenart des Steinhofs als reine Heil- und Pflegeanstalt vollständig zu verstehen , es verlangen , den Status der Psychiatrie als Wissenschaft und Interventionspraxis in der urbanen Moderne generell mit zu bedenken.57 Zeitgleich zu diesen vielen Neugründungen von Heil- und Pflegeanstalten wurden in vielen Städten Europas psychiatrische Kliniken zum Zweck der Forschung gegründet , die teilweise , wie auch in ­Wien , aus den traditionellen Versorgungseinrichtungen heraus entstanden waren. Diese Entwicklung hin zur Gründung der Anstalt Am Steinhof – ein typischer „Ort der Moderne“58 – erfordert nicht nur , die Teildisziplin der versorgenden Psychiatrie und die Veränderlichkeit der realen Räume selbst zu untersuchen , sondern auch , deren sich wandelnde Praxis mit in den Blick zu nehmen. Während die Sozialgeschichte der Medizin die einzelnen Disziplinen häufig noch als homogene Entitäten auffasste – oder aber diese schweigend voraussetzte – , zählen wissenschaftshistorisch und kulturwissenschaftlich geprägte Ansätze deren produktive Destabilisierung und Dynamisierung zu ihren zentralen Aufgaben.59 Hierbei ist beispielsweise die zunehmende Verdichtung der urbanen Gesellschaft als ein ebenso wissenschaftskonstitutiver Faktor mit anzusehen.60 Aus dieser Perspektive ist die Geschichte der Anstalt Am Steinhof nicht bloß als eine wechselnder Auffassungen und neuer Orte zu verstehen. Denn die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ hat nicht einfach neue Einsichten erbracht und veränderte Heilmethoden entwickelt , sondern Sphären eines im Detail zu untersuchenden , gänzlich andersartigen Wissens geschaffen.

2.1 D  ie ­W iener Institutionen zur Versorgung psychisch Kranker während des 19. Jahrhunderts Diese Vorgeschichte ist immer auch eine Geschichte der Suche nach einem Ort , an dem die „Irren“ nicht bloß untergebracht wurden , sondern , nun über praktische Fragen hinausgehend , auch nach einem Ort , an dem psychisch Erkrankte einerseits ab-

57 Blasius 1994 , 61 f. ; Walter 1993 , 75 f. ; Brink 2010 , 109 f. Vgl. zu dieser Entwicklung in der Schweiz : Meier , Bernet , Dubach , Germann 2007 , 51 f. 58 Vgl. Geisthövel , Knoch 2005. Die Herausgeber des Sammelbandes verstehen unter „Orten der Moderne“ einen für diese Zeit des Umbruchs charakteristischen Orts-Typus , der den dreidimensionalen Raum auf eine bestimmte , verallgemeinerbare Weise sowohl nach außen als auch im Inneren räumlich ordnet und mit raumspezifischen Funktionen und Erfahrungen verbunden ist. Hier : 11. 59 Vgl. Hofer , Sauerteig , hier 116 f. 60 Vgl. Dierig 2006 ; zentrale Forschungsperspektiven hierzu : Ash 2000 ; Rheinberger , Wahrig-Schmidt , Hagner 1997.

2.1 Die ­Wiener Institutionen zur Versorgung psychisch Kranker während des 19. Jahrhunderts

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gesondert waren , andererseits sich ein zu untersuchendes Verhältnis von Bevölkerungsschutz , Pflege und wissenschaftlicher Obhut entwickelte. Deren Verbindungen und ihre Veränderlichkeit sind dabei im Wechselverhältnis mit der im Kanon der medizinischen Wissenschaften erst spät etablierten Disziplin Psychiatrie und ihrem zunehmenden Anspruch auf exklusive Zuständigkeit für psychisch Erkrankte zu sehen. Die 1784 eröffnete und allgemein als Narrenturm bezeichnete „k. k. Irrenheilanstalt zu ­Wien“ stellte eine der ersten Institutionen Europas dar , die eigens zum Zweck der Versorgung von Geisteskranken geplant und gebaut wurde. Zuvor wurden psychisch Kranke teilweise in einem Gefängnis am Salzgries und im Spanischen Spital am Rennweg , im Bürgerspital zu St. Marx oder auch in Ordensspitälern untergebracht. Die Leitung der für 200 bis 250 Kranke konzipierten Anstalt im neunten ­Wiener Gemeindebezirk unterstand , getrennt nach dem Geschlecht , jeweils einem Primar des Allgemeinen Krankenhauses. Erst ab 1817 wurde eigens für den Narrenturm ein ärztlicher Direktor bestellt.61 Die Unterbringung der psychisch Kranken wurde 1803 insofern adaptiert , als für die ruhigeren Pfleglinge das sogenannte Lazarett eingerichtet wurde. Erkrankten , die für ihre Behandlung selbst aufkommen konnten , stand eine kleine Abteilung im Allgemeinen Krankenhaus , der „Drei-GuldenStock“, zur Verfügung. Diese neu hinzugekommenen Räumlichkeiten boten Platz für weitere 250 Kranke.62 Parallel dazu wurden 1828 im III. Hof des Allgemeinen Krankenhauses „Beobachtungszimmer für des Irreseins verdächtige Personen“ eingerichtet , die der Zweiten Medizinischen Abteilung angegliedert waren. Deren Leitung wurde Michael Viszanik ( 1792–1872 ) übertragen , der ab 1837 zugleich auch ärztlicher Direktor des Narrenturms war. Zur langfristigen Versorgung wurde 1805 für die als unheilbar eingestuften und das niederösterreichische Heimatrecht besitzenden Kranken ein Versorgungsheim in Ybbs eröffnet.63 Trotz dieser Änderungen wurde die Unterbringung der psychisch Kranken von maßgeblicher Seite wie Johann Peter Frank , Direktor des Allgemeinen Krankenhauses und Autor des mehrbändigen Werkes „System einer vollständigen medicinischen Policey“, und Franz Nord , seit 1795 leitender Primararzt des Narrenturmes , heftig

61 Knolz 1840 , 191 f. ; Lorenz 1902 /  03. Lorenz war „niederösterreichischer Landes-Sanitäts-Concipist“. Vgl. allg. zu dieser Einrichtung , die keine Nachahmer finden sollte : Stohl 2000. Siegburg wurde 1825 als die erste deutsche Anstalt unter die verantwortliche Leitung eines Arztes gestellt. In : Eulner 1970 , 264. Ein Reisebericht über den Narrenturm aus dem Jahr 1846 wurde Jahrzehnte später wieder aufgefunden : Wachsmuth 1928. 62 Das Lazarett befand sich zwischen dem Narrenturm und dem botanischen Garten der Josephsakademie , dem heutigen Medizinhistorischen Institut , dessen Eingang in der Währinger Straße war. Insgesamt gab es vier Abteilungen , jeweils zwei für Frauen und Männer : Haidinger 1844 , 479. 63 Vgl. Viszanik 1845. Diese Institution wurde 1817 erweitert.

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kritisiert. Johann Nepomuk Raimann , Direktor des Allgemeinen Krankenhauses , legte in Anlehnung an verschiedene ausländische Anstalten Pläne für einen zeitgemäßen Neubau vor , welche 1826 zwar genehmigt , schlussendlich aber nicht finanziert wurden.64 Diese Initiative sollte erst geraume Zeit später wieder aufgenommen werden. Nun aber wurden zwei unterschiedliche Modelle diskutiert , nämlich die vereinigter und die voneinander getrennter Heil- und Pflegeanstalten. Hintergrund der Auseinandersetzung war neben ökonomischen und administrativen Aspekten die grundsätzliche Frage , ob Patienten überhaupt als „heilbar“ oder „unheilbar“ voneinander geschieden werden konnten und sollten. An diese Differenzierung nach Fällen , in denen therapeutische Maßnahmen angewandt wurden , und solchen , bei denen dies erst gar nicht der Fall war , knüpfte sich das Bestreben , einen klinischen Unterricht anhand anschaulicher Beispiele aus der Patientenschaft zu etablieren. Ob ein solcher für die Kranken überhaupt verträglich sei , war unter den Ärzten keineswegs unumstritten. Prominentester Vertreter der „relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalten“, der gemeinsamen und nur intern voneinander getrennten Unterbringung von heilbaren und unheilbaren Kranken innerhalb einer Institution , war Heinrich Damerow , Leiter der 1844 eröffneten Provinzialanstalt Nietleben bei Halle.65 Entgegen dieser in Fachkreisen allgemein anerkannten Form der psychiatrischen Versorgung propagierte Wilhelm Griesinger ( 1817–1868 ) in Berlin ein alternatives Modell. Sein Vorschlag war es , sogenannte „Stadtasyle“ für akute Fälle und den klinischen Unterricht einzurichten und chronisch Kranke ausschließlich in ( kostengünstigeren ) ländlichen Asylen zu versorgen. Auch hier korrespondiert die neue medizinische Kategorienbildung – akut versus chronisch anstelle von heilbar versus unheilbar – wiederum mit räumlichen Kategorien. Mit seinem Bestreben , eine Klinik einrichten zu wollen , wandte er sich deutlich gegen die bis dato ungebrochene Vorannahme , dass der Anstaltsaufenthalt selbst eine therapeutische Wirkung besäße. Die Festlegung von „Heilbarkeit“ oder „Unheilbarkeit“ als Kriterien für topografisch voneinander getrennte Versorgungsformen lehnte er aber mit dem Hinweis darauf ab , dass in Städten die stationäre Aufnahme von psychisch Kranken oft lediglich der ur-

64 Hirschmüller 1991 , 69 f. ; Lesky 1965 , 175 f. ; Knolz 1840 , 191 f. ; Schönbauer 1947 , 361 f. Eine Beschreibung mehrerer , nicht realisierter Baupläne findet sich in : Jetter 1981. 65 Um den Vorwurf der Störung des Heilungsprozesses durch den klinischen Unterricht am Bett der Kranken zu entkräften , wurden zahlreiche Regelungen getroffen. So durften Studenten erst in ihrem letzten Studienjahr und lediglich in kleinen Gruppen von nicht mehr als maximal zwanzig Personen die Krankensäle unter der Aufsicht eines Arztes betreten. Für den Unterricht sollten nur Patienten herangezogen werden , die keine Angehörigen hatten und deren Behandlungskosten von öffentlicher Hand bezahlt wurden. Neu aufgenommene und den Ärzten nicht so gut bekannte Patienten durften nicht in die klinische Visite mit einbezogen werden. In : Damerow 1840 , 289 f.

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banen Lebensumstände wegen erfolge , somit eine Folge sozialer , hygienischer und räumlicher Missstände sei.66 Michael Viszanik , ab 1844 der erste Dozent für Psychiatrie an der Universität ­Wien , war wesentlich an der Planung der neuen Institution beteiligt. Im Bericht über seine Studienreise zu Anstalten im deutschsprachigen Raum plädierte er aufgrund „zahlreicher wissenschaftlicher Gründe für die Zweckmäßigkeit einer relativen Verbindung“ der Einrichtungen für Heilbare und Unheilbare.67 Er wandte sich , wie auch Griesinger , gegen die Zuschreibung von „Unheilbarkeit“, die allzu häufig eine Verlegung in Versorgungseinrichtungen für chronisch Kranke beziehungsweise eine entsprechende Minderung psychiatrischer Interventionsmöglichkeiten mit sich brachte. Viszaniks zentrales Anliegen aber war es , wie er emphatisch meinte , aus den Anstalten „Goldgruben für die Wissenschaft und eine Stätte der Kunst der Behandlung der Geisteskranken“ zu machen und von diesen als „reich geöffneten Quellen des Wissens“ größtmöglichen Nutzen ziehen zu können.68 Eine Trennung in forschende und versorgende Institutionen hätte nämlich bedeutet , dass die Ärzte der Heilanstalten nur die Anfangsstadien der psychischen Erkrankungen und die Ärzte der Pflegeanstalten lediglich den ( vielfach chronischen ) Verlauf beobachten und etwaige Obduktionen durchführen könnten. Einzig die Kombination dieser beiden Formen galt nach Ansicht Viszaniks für die Ausweitung der psychiatrischen Kenntnisse als vorteilhaft. Jenseits dieser , auf einen zukünftigen Gewinn für die Wissenschaft zielenden Argumentation bot eine „relativ verbundene Heil- und Pflegeanstalt“ den Vorteil , auf bereits bestehenden Versorgungsstrukturen aufbauen zu können.69 Auf der Basis dieser Argumente wurde 1853 die für insgesamt 553 Kranke im sogenannten Korridorstil eingerichtete Institution Am Brünnlfeld im neunten ­Wiener Gemeindebezirk eröffnet.70 Die nunmehr Niederösterreichische Landesirrenanstalt Am Brünnlfeld wurde wegen großen Bettenmangels in den folgenden Jahren rasch erweitert. Ab 1878 konnten mit dem Anbau zweier weiterer Querflügel insgesamt 700 Kranke beherbergt werden , 1888 wurde zudem ein Pavillon für Infektionskranke eingerichtet.71 Im Zuge dieser Neuorganisation wurden der Drei-Gulden-Stock und auch das Lazarett aufge66 67 68 69 70

Vgl. dazu allg. : Sammet 2000 ; Engstrom 2003a , 51 f. ; Engstrom 2007 ; Brink 2010 , 75 f. Viszanik 1845a , 263 f. Ähnlich : Seunig 1844 ; vgl. auch : Lesky 1965 , 176 f. Viszanik 1845a , 276. Brink 2010 , 83. Die Leiter der Anstalt waren von 1853–1869 Joseph Gottfried Riedel , von 1869–1872 Karl Spurzheim , von 1872–1885 Ludwig Schlager , von 1885–1895 Moriz Gauster , von 1895–1907 Adalbert Tilkowsky. Nach Tilkowskys Tod hatte Josef Berze bis zur Schließung dieser Einrichtung die provisorische Leitung inne. 71 Psychiatrisches Centralblatt 7 ( 1877 ), 141. Zudem wurde ein extra Gebäude für „unreine Kranke“ und eine Isolierabteilung für „gebildete Männer“ eingerichtet.

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geben , 1869 wurde der , bis zu diesem Zeitpunkt noch mit „unheilbaren Irren“ belegte Narrenturm endgültig aufgelassen. Diese Entwicklung wurde von den Verantwortlichen , insbesondere in Abgrenzung zu dem zahlreiche Zwangsmittel einsetzenden reinen Verwahrungssystem , als äußerst fortschrittlich propagiert.72 Die öffentlichen , aber auch die privaten Institutionen zur Unterbringung psychisch Kranker gingen gemeinsam mit der Leitung der sogenannten Gebäranstalten per Gesetz vom 17. Februar 1864 von der Verantwortlichkeit des Staates auf die der jeweiligen Landesvertretungen über.73 Dabei hatte sich die Regierung das Recht vorbehalten , innerhalb der Anstalt zum Zweck von Forschung und Lehre eine psychiatrische Klinik einzurichten. Weitere Initiativen zur Etablierung des Fachs als eigenständige akademische Disziplin gingen von dem 1868 gegründeten Verein für Psychiatrie und forensische Psychologie aus.74 Richard von Krafft-Ebing ( 1840–1902 ), Direktor der steirischen Anstalt , forderte ebenfalls einen regelmäßigen psychiatrischen Unterricht und argumentierte , wie auch viele andere seines Fachs zu dieser Zeit , mit der potenziellen Heilbarkeit psychischer Erkrankungen. Die allgemeine Hoffnung richtete sich dabei auf ein Erkennen somatischer und psychischer Zusammenhänge , wie weiters auf die Möglichkeit , akute und vor allem frühe Erkrankungsstadien klinisch beobachten zu können.75

72 Telke 1907 , 94. Telke war Regierungs- und Geheimer Medizinalrat in Breslau. 73 Gerényi 1907 /  08. Der 1811 eingerichtete „Irrenfonds“ stellte ein zu besonderen Zwecken gewidmetes Vermögen dar , welches von den staatlichen Behörden selbstständig verwaltet wurde. Mit der neuen Regelung der Zuständigkeit für Geisteskranke , R.G.Bl. Nr. 22 , wurde die Verwaltung der Finanzen zur Versorgung von somatischen und psychischen Erkrankungen endgültig getrennt. 74 Das Psychiatrische Centralblatt , Organ des Vereins , benannte die Einrichtung einer Klinik als ihr vorrangiges Ziel. Vgl. zur Forderung der Standesvertreter nach der Eingliederung der Psychiatrie in den Kanon der medizinischen Disziplinen : Psychiatrisches Centralblatt 4 ( 1874 ), 115. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 27. Juni 1874. Die Gründungsmitglieder des Vereins waren Maximilian Leidesdorf , Theodor Meynert und Joseph Gottfried Riedel. Letzterer war der Präsident des Vereins , verstarb aber bald nach seiner Ernennung. Sein Nachfolger war der Leiter der Anstalt Am Brünnlfeld , Karl Spurzheim. Nachruf zu Spurzheim : Psychiatrisches Centralblatt 2 ( 1872 ), 107. Die „Vierteljahresschrift für Psychiatrie in ihren Beziehungen zur Morphologie und Pathologie des Nervensystems , der physiologischen Psychologie , Statistik und gerichtlichen Medizin“ war das nur zwei Jahre lang Bestand habende Vorgängerorgan. Zunächst wurde die Zeitschrift von Gauster und Meynert redigiert. Ersterer schied 1880 sowohl aus dem Verein als auch aus der Redaktion aus , an seine Stelle trat Johann Fritsch. Zu Beginn umfasste diese Zeitschrift Beiträge aus dem gesamten Bereich der Psychiatrie , nach dem Ausscheiden von Gauster dominierte die von Meynert vertretene Richtung der Psychiatrie : UAW , Medizinische Dekanatsakten , 233 / 1869 ; Obersteiner 1919 ; Lesky 1965 , 380 f. 75 Krafft-Ebing 1876 , 47–49 und 57–59. Für ­Wien wurde die notwendige Größe einer klinischen Abteilung mit mindestens 50 Betten berechnet. Pro Semester konnten den Studenten 60 bis 80 Kranke demonstriert werden.

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Der rechtzeitigen Erkennung psychischer Erkrankungen kam insofern besondere Bedeutung zu , da während dieser Phase Diagnosen leichter erstellt werden konnten , welche wiederum zukünftig ein therapeutisches Eingreifen ermöglichen sollten. Einer zeitigeren Überweisung an die Klinik durch die praktischen Ärzte , welche etwaige psychische Leiden früher erfassten , wurde für die weitere Entwicklung des Fachs große Bedeutung zugeschrieben.76 Die Schwierigkeit der Anerkennung der Psychiatrie im Kanon der medizinischen Disziplinen wurde aber nicht nur aufgrund der Weitläufigkeit und der Diversität des Lehrstoffs vermutet. Weitverbreitet war zu dieser Zeit die Theorie der sogenannten „Einheitspsychose“77 , also der Annahme einer einzigen Form psychischer Erkrankung ; sie hätte die Unübersichtlichkeit und Heterogenität der in die Zuständigkeit der Psychiatrie fallenden Phänomene stark reduziert , konnte sich jedoch nie vollständig durchsetzen. Die Ambivalenz dieser Theorie gegenüber formulierte Theodor Meynert ( 1833–1892 ) auf charakteristische Weise : Er lehnte sie zwar ab , fühlte sich aber bemüßigt festzuhalten , dass es „mit sehr wahrscheinlicher Berechtigung nicht zahlreiche Erkrankungsformen“ gäbe.78 Meynert wiederum vermutete den Grund der Schwierigkeit der Anerkennung der Psychiatrie vielmehr in den abweichenden Anforderungen an die ärztliche Denkweise , nämlich einer Gebundenheit an subjektive Symptome bei gleichzeitig fehlender Objektivität des Krankheitsnachweises. Die besondere Stellung des Faches Psychiatrie zwischen exakter Erfahrungswissenschaft und praktischer Kunst , Menschenkenntnis und Urteilskraft , und damit der Frage nach der Art des in diesem Fach zu generierenden Wissens zeitigt direkte Folgen für die Modelle von Geisteskrankheit und dem institutionellen Umgang mit ihr. Eine Institutionengeschichte im späteren 19. Jahrhundert ist ohne die besondere Stellung dieses medizinischen Faches nicht zu schreiben. Unter Berufung auf Carl Westphal ( 1833–1890 ), Leiter der psychiatrischen Klinik an der Charité in Berlin , betrachtete Meynert die Psychiatrie umgekehrt als eine Möglichkeit zur Erweiterung der ärztlichen Allgemeinbildung , die , wie er euphorisch meinte , das naturwissenschaftlich geprägte Denken öffnen und eine „zu großartigen Zielen führende besondere Richtung der Erkenntnis“ bewirken könne.79 76 Psychiatrisches Centralblatt 8 ( 1878 ), 77 f. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 27. Juli 1878. Referat Theodor Meynert : „Ueber die Nothwendigkeit psychiatrischer Kenntnisse für den praktischen Arzt und über den dermaligen Stand des klin. Unterrichtes über Psychiatrie in Oesterreich.“ 77 Vgl. Vliegen 1980 ; Digby 1985 , 135 f. ; Mundt , Saß 1992 ; Berrios 1994. 78 Jahrbücher für Psychiatrie 10 ( 1892 ), 307. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 27. November 1890. 79 Ebd. Die Einführung des Fachs Psychiatrie als obligater Prüfungsgegenstand wurde zu diesem Zeitpunkt in Deutschland und Ungarn als unmittelbar bevorstehend angesehen.

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Der „Verein für Psychiatrie und forensische Psychologie“ stellte 1878 eine erste und 1891 , anlässlich bevorstehender Änderungen der Rigorosenordnung , eine weitere Petition , dass alle Mediziner während ihrer Ausbildung ein Minimum psychiatrischer Kenntnisse zu erlernen hätten. Für Anstalts- und Physikatsärzte sollte eine sowohl theoretische als auch praktische psychiatrische Ausbildung obligatorisch sein. Ähnlich der Argumentation hinsichtlich der Einführung des klinischen Unterrichts wurde auch hier der angebliche zukünftige Erfolg psychiatrischer Behandlung – und somit die Bedeutung der Disziplin selbst – eng an die möglichst frühzeitige Hospitalisierung der Kranken und das aktive Eingreifen seitens der Vertreter des Fachs gebunden. Kämen die Patienten weiterhin erst in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Erkrankung in eine Anstalt , könnten sie , so die Argumentation , auch nicht mehr geheilt werden. Im Verein für Psychiatrie meinte man , dass es „ein Grundirrthum [ sei ], dass der gewöhnliche praktische Arzt mit Psychopathien nichts , oder nur selten und vorübergehend zu thun hat. Die größte Zahl der fort anwachsenden Hirnkrankheiten mit Geistesstörung ist nicht nur im Beginne des Leidens , sondern im Verlauf desselben ausschließlich in Behandlung der praktischen Aerzte.“80 Aber auch die Ausbildung der Anstaltsärzte selbst wurde als mangelhaft angesehen , mit dem bislang üblichen dreimonatigen Hospitieren lerne man , wie es abschätzig hieß , „allenfalls die Manipulation in der Irrenanstalt , aber fast nichts vom Irrsinn verstehen“.81 Doch nicht nur fachinterne Maßnahmen sollten die Bedeutung der prestigearmen Psychiatrie heben. Man wusste die gesellschaftliche und ökonomische Relevanz des sich im Kanon der medizinischen Disziplinen erst langsam etablierenden Faches zu betonen. Zudem galt die mangelhafte Schulung der Mediziner als einer der Gründe der Überfüllung der Anstalten , da , so der Tenor im Verein für Psychiatrie , praktische Ärzte nicht in der Lage wären , über Gemeingefährlichkeit – und damit zwangsweise Hospitalisierung – oder aber umgekehrt für eine häusliche Pflege entscheiden zu können. Darüber hinaus war das Versprechen einer Lösung der vielen ungeklärten Fragen auf dem Gebiet des Strafrechts ein wesentliches Argument für die Einrichtung eines Lehrstuhls und die Anerkennung des Fachs im Kanon der medizinischen Disziplinen. Die schwierige psychiatrische Diagnostik und der Umgang mit Geisteskranken wären nach Ansicht der Standesvertreter ohne Praxis kaum zu erlernen. So betonte Krafft-Ebing , dass „aus Büchern , Krankengeschichten , dem Studieren der 80 Jahrbücher für Psychiatrie 10 ( 1892 ), 159–163. „Petition des Vereins , übergeben dem hohen k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht am 10. Jänner 1891.“ Die Unkenntnis vieler Mediziner zeige sich demgemäß bei ihren Schreiben von Attesten , Überweisungen und Krankenakten. 81 Psychiatrisches Centralblatt 8 ( 1878 ), 137–142. Memorandum des Vereins für Psychiatrie und forensische Psychologie in ­Wien betreffs der Einführung der Psychiatrie als Prüfungsgegenstand bei den medicinischen Rigorosen. Hier : 138.

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Porträts Geisteskranker , theoretischen Vorträgen u. dgl. kein Mediziner nur annähernd brauchbare Kenntnisse“ erlange , Empirie und Theorie demnach eng zu verbinden seien.82 Aus dieser Ansicht folgt beinahe notwendig die Forderung , psychiatrische Anstalten und Wissenschaft institutionell zu verbinden , ohne der Praxis oder dem wissenschaftlichen Wissen einseitig einen Vorrang zuzugestehen. Der klinische Unterricht an einer Anstalt wäre jedoch gemäß der Ansicht vieler Psychiater völlig unzureichend. So sollten die Patientendemonstrationen im Rahmen des Unterrichts vielmehr an einer zentral gelegenen klinischen Abteilung erfolgen , da , so das Argument , weder die Kranken noch die Studenten für die notwendigerweise häufigen Beobachtungen weite Wege zurücklegen könnten. Aber auch die Frage , welche Patienten für klinische Vorstellungen heranzuziehen wären , war Anlass für zahlreiche Auseinandersetzungen. Meynert unterschied grundsätzlich zwischen „heilbaren Fällen“ und dem „Unterrichtsmaterial“. Seiner Ansicht nach könne aber eine Klinik gar nicht genügend Raum bieten , um beide Patientengruppen aufzunehmen , benötige aber dennoch aus Lehrzwecken auch die sogenannten „secundären Fälle“. Diese Patienten sollten keinesfalls als unheilbar abgetan , sondern hinsichtlich des Verlaufs der Erkrankung besonders gut beobachtet werden. Andererseits warnte er davor , nur „einseitiges Material“ in die Klinik aufzunehmen , also etwa nur klinisch interessante oder pädagogisch besonders anschauliche Fälle. Die neu zu schaffende Klinik sollte gemäß dem Berliner Modell mit einer neurologischen Abteilung verbunden werden , die verschiedensten Kranken , wie beispielsweise an „neurasthenischen Zwangsvorstellungen“83 oder an „Neurasthenie , Hysteria gravis oder Chorea major“84 Leidenden , offenstehen sollte. Denn bislang konnten an „Neurosen“ Erkrankte in einer psychiatrischen Anstalt statutengemäß gar nicht aufgenommen werden , da sie für ihre Umgebung nicht unbedingt gefährlich waren. Auch hier korrespondierten die medizinischen Erkenntnismodelle wiederum mit einer räumlichen Veränderung. Hinter dieser Verschiebung des psychiatrischen Interesses steht nicht nur eine Erweiterung des Patientenkreises , sondern auch die Verlagerung von den mechanistisch geprägten Ansätzen der Forschung hin zu psychologischen Erklärungsmodellen von 82 Krafft-Ebing 1876 , 48. 83 Bericht über die Wanderversammlung des psychiatrischen Vereines in Graz und Protokoll der Sitzungen. In : Jahrbücher für Psychiatrie 10 ( 1892 ), 271–304 , hier : 301. 84 Krafft-Ebing 1889 , 817–820 und 843–845. Diese Lücke in der Versorgung für Patienten , die für ihre Unterbringung selbst zahlen konnten , war nicht in derselben Weise gegeben. Insgesamt gab es zu dieser Zeit fünf private Institutionen , die „Privatheilanstalt für Nerven- , Gemüts- und Geisteskranke“ in Oberdöbling ( 1819 gegründet ), die „Privatheilanstalt für Gemütskranke auf dem Erdberge zu ­Wien“ ( 1834 ), die Privatheilanstalt in Lainz ( 1863 ) und in Inzersdorf ( 1872 ). Vgl. dazu ausführlicher : Hirschmüller 1991 , 76 f. und auch : Oosterhuis 2003. Krafft-Ebing gründete 1886 das Sanatorium Mariagrün in der Nähe von Graz.

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Geistes- und Nervenkrankheiten. Für den klinischen Unterricht bedeutete dies ein Abgehen des reinen Feststellens der Symptome , die lange als Manifestationen höherer , idealisierter Krankheitskategorien gesehen wurden , hin zum angestrebten Ausbau diagnostischer Techniken.85 Auf Betreiben Maximilian Leidesdorfs ( 1819–1889 ), der seit seiner Habilitation im Jahre 1856 psychiatrische Vorlesungen abgehalten hatte ,86 engagierte sich nun auch die medizinische Fakultät , um die Einrichtung einer psychiatrischen Klinik zu realisieren. Bei der Anfang des Jahres 1869 erstellten Petition des Vereins an das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht war man sich nur mehr uneins , ob die Klinik im Rahmen der Anstalt Am Brünnlfeld oder aber in den bereits bestehenden Beobachtungszimmern des Allgemeinen Krankenhauses eingerichtet werden sollte. Auf der Grundlage eines Übereinkommens zwischen der Reichsregierung und dem Land Niederösterreich beschloss das Professorenkollegium 1870 die Etablierung einer psychiatrischen Klinik an der „Landesirrenanstalt“. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen einigte man sich im Weiteren darauf , eine zweite Klinik in den Räumen der Beobachtungszimmer einrichten zu wollen , wenn die Psychiatrie obligatorisches Fach des Medizinstudiums werden sollte.87 Ausschlaggebend für die Entscheidung der Einrichtung der Klinik an der Anstalt Am Brünnlfeld war die vorhandene ausreichende Anzahl der für die Forschung interessanteren „primären Krankheitsformen“ und , wie es im Weiteren hieß , eine hinreichend große Anzahl von Obduktionsfällen.88 Die Leitung der I. Psychiatrischen Klinik sollte gemäß einem ersten Verfahren innerhalb des ­Wiener Professorenkollegiums Maximilian Leidesdorf erhalten. Er konnte gegenüber seinem Konkurrenten Ludwig Schlager auf eine größere Erfahrung im psy-

85 Vgl. zur Entwicklung des klinischen Unterrichts in der Psychiatrie in Deutschland : Engstrom 2003b ; zu der ebenfalls im Zusammenhang des erweiterten Patientenkreises stehenden Etablierung der Neurologie in Berlin : Schiffter 2008. 86 Leidesdorf veröffentlichte 1860 das Lehrbuch „Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ ( 2. Auflage 1865 ). Er gilt als der Begründer des klinischen Unterrichts in der Psychiatrie in Österreich. Vor ihm haben Joseph Gottfried von Riedl in Prag ( ab 1841 ), Ernst von Feuchtersleben ( 1844 ), Michael Viszanik ( 1844 ) und Karl Flögl ( 1848 ) psychiatrische Vorlesungen abgehalten : Lesky 1965 , 185. 87 UAW , Medizinische Dekanatsakten , 233 / 1869 ; 7088 / 1870. Josef Skoda , Johann Oppolzer und August Schroff gehörten dem beratenden Komitee an. Skoda und Oppolzer plädierten für die Einrichtung der Klinik im Beobachtungszimmer , Regierungsrat Schroff für die Anstalt Am Brünnlfeld , war aber wegen der umstrittenen Frage der Heranziehung von Patienten zu Unterrichtszwecken „aus Humanitätsgründen“ aus dem Komitee ausgetreten , als seine Kontrahenten sich – vorerst – durchzusetzen schienen. Zum klinischen Unterricht sollten die für ihre Behandlung und Unterbringung selbst zahlenden Kranken nicht herangezogen werden. 88 UAW , Medizinische Dekanatsakten , 314 / 1869. Schreiben von der Direktion der Niederösterreichischen Landesirrenanstalt an das Dekanat des medizinischen Professorenkollegiums vom 21. April 1869.

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chiatrischen Unterricht zurückgreifen.89 Der Beschluss zur Besetzung der Klinik verlief allerdings gänzlich anders. Leidesdorf wurde die vorerst unbezahlte Leitung der nur kleinen Beobachtungsabteilung zugesprochen. Die erste Professur für Psychiatrie in ­Wien erhielt Theodor Meynert. Er war ein Schüler Carl von Rokitanskys und hatte sich 1865 mit der neurologischen Arbeit „Der Bau und die Leistung des Gehirnes und Rückenmarkes mit Beziehung auf deren Erkrankungen“ habilitiert. Ab 1866 war er Prosektor an der Landesirrenanstalt und bezeichnete sich selbst als „wissenschaftlichen Neuropathologen“.90 Meynert sah zwischen den Psychiatern der Anstalten und denjenigen , die , wie er selbst , anatomisch-pathologische Forschungen betrieben , einen ausgeprägten Gegensatz.91 Seine Ernennung zum Leiter der Klinik gilt als Ursprung zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen der primär forschenden und der versorgenden Ausrichtung der Psychiatrie. Der „Doppelzweck als Heil- und Unterrichtsanstalt“ der Institution Am Brünnlfeld war zwar genau geregelt , vermochte es aber nicht , die Schwierigkeit der unterschiedlichen Interessen wie der geteilten Leitung hintanzuhalten.92 In einem in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift veröffentlichten Rückblick zur Entwicklung der I. Psychiatrischen Klinik ist von Differenzen nur indirekt die Rede. Alexander Pilcz , der letzte ( und nur mehr Interims- ) Vorstand bis zur Auflassung der Anstalt Am Brünnlfeld , betonte vielmehr das gute Funktionieren des Übereinkommens , welches zwischen dem Niederösterreichischen Landesausschuss und dem Kultusministerium geschlossen worden war und in zehn Punkten die finanziellen , administrativen und auch dienstlichen Fragen geregelt hatte. Seitens des Landesausschusses oder der Anstaltsdirektion hätte es zwar „kritische Zeiten“, aber keinerlei Einflussnahme auf klinische Angelegenheiten gegeben. 93 Ganz im Gegensatz zu 89 UAW , Medizinische Dekanatsakten , 403 / 1870. In den Jahren 1864 bis 1869 hatte Ludwig Schlager insgesamt 16 Studenten in seinen Vorlesungen. Leidesdorf konnte innerhalb dieser dreizehn Semester insgesamt 90 Studenten zu seinen Schülern rechnen. Vgl. sowohl zu dem Problem der niedrigen Studentenzahl in Deutschland als auch zu den Schwierigkeiten der in vielen anderen Institutionen in Personalunion geführten Institutionen : Engstrom 2003b , 120 f. 90 Die Ernennung Meynerts erfolgte durch Einflussnahme Rokitanskys auf das Professorenkollegium und zog viel Kritik , insbesondere den Vorwurf Meynerts mangelnder klinischer Erfahrung nach sich. Seine Venia legendi wurde erst 1868 auf die Psychiatrie erweitert. Meynert wurde 1870 zum außerordentlichen und 1873 zum ordentlichen Professor ernannt. Vgl. Fritsch 1893. Vgl. auch zum umstrittenen Berufungsverfahren und zu seiner Person : Hirschmüller 1991 , 69–76 und 93–104 ; Lesky 1965 , 374. Aufgrund der Entwicklung einer besonderen Seziertechnik konnte Meynert die vergleichend-anatomische Hirnforschung gut fördern. 91 Meynert 1876 , 2–5. 92 UAW , Medizinische Dekanatsakten , 16469 / 1873. Normale des k. k. nö. Statthaltereierlasses vom 31. Juli 1872 , Z. 22199. In administrativen Angelegenheiten war die psychiatrische Klinik der Anstaltsleitung unterstellt. 93 Pilcz 1907 /  08 , 231.

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dieser nach außen vertretenen Sichtweise steht jedoch ein internes Beschwerdeschreiben Meynerts aus dem Jahre 1873 an das Ministerium , in welchem er die Einschränkung seiner Tätigkeit heftig beklagt.94 Aufgrund des Ausmaßes der Meinungsverschiedenheiten gingen die Überlegungen des Niederösterreichischen Landesausschusses offenbar so weit , die Klinik gänzlich aufzulösen. Im Zentrum der Vorwürfe standen ausgeprägte und teilweise auch persönliche Differenzen zwischen Theodor Meynert und Ludwig Schlager in der Führung der Institution. Dies betraf unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der konsequenten Durchführung der Behandlung ohne Zwangsmittel , welche gemäß dem erwähnten Schreiben nicht eingehalten wurde. Der Kern der Kritik richtete sich auf die versuchte Einflussnahme seitens der Anstaltsleitung bei den Visiten und den im Hörsaal der Anstalt abgehaltenen klinischen Demonstrationen. Meynert beanspruchte dabei die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens für sich und verwies in deutlicher Abgrenzung zu seiner eigenen Tätigkeit auf die mangelnde akademisch-psychiatrische Ausbildung vieler Anstaltsärzte.95 Um den unterschiedlichen Interessen gerecht werden zu können , wurde 1875 in der Beobachtungsabteilung im Allgemeinen Krankenhaus eine II. Psychiatrische Klinik eingerichtet und Meynert zugeteilt. Der Status der I. Psychiatrischen Klinik blieb unverändert , sie unterstand von 1875 bis 1889 Leidesdorf. Dessen Nachfolger wurde der bereits benannte Richard von Krafft-Ebing , der wiederum 1892 von der I. an die II. Psychiatrische Klinik wechselte. Ab 1893 wurde die I. Psychiatrische Klinik von Julius von Wagner-Jauregg geleitet , der ab Ende des Jahres 1902 ebenfalls den Weg auf die II. Klinik genommen hatte.96 Ab diesem Zeitpunkt wurde die Direktorenstelle der I. Psychiatrischen Klinik nicht mehr besetzt , als Interimsleiter fungierte Alexander Pilcz , der 1907 Am Steinhof die Leitung des Sanatoriums übernehmen sollte.97 Analog zu dieser Aufteilung wurde auch die Behandlung neurologischer Erkrankungen organisiert.98 Im Jahre 1887 gelang es Meynert , seiner Klinik eine Abteilung für Nervenkranke anzuschließen. Im Jahr 1889 wurde Krafft-Ebing im Zuge seiner Ernennung als Leiter der I. Psychiatrischen Abteilung ein Ambulatorium für Nervenkrankheiten zugesprochen.99 94 UAW , Medizinische Dekanatsakten , 38 / 1873 und 1874 ; 109 / 1873 und 1874. Der Brief vom 25. Juli 1873 umfasst zwanzig Seiten. 95 Ebd. 96 Psychiatrisches Centralblatt 5 ( 1875 ), 118 ; Pointner 1972 , 19 f. 97 Pilcz 1907 /  08 , 231 f. 98 Vgl. allg. zu den Hintergründen der Bindung der Neurologie an die Psychiatrie : Hess , Ledebur 2012 , 44 f. 99 Die Räumlichkeiten des Laboratoriums dienten seit 1880 als Behandlungsräume für elektrotherapeutische Kuren : Fuchs 1915. Behandelt wurden unterschiedlichste organische Nervenkrankheiten wie funktionelle Neurosen und Psychosen. Syphilitiker wurden mit Quecksilber- und Tuberkulinkuren , Epileptiker mit Brom behandelt : Psychiatrische Wochenschrift 3 ( 1901 /  02 ), 120. Vgl. auch : Pilcz 1907 /  08 , 233.

2.1 Die ­Wiener Institutionen zur Versorgung psychisch Kranker während des 19. Jahrhunderts

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Entgegen der ursprünglichen Pläne , die Einrichtung der II. Psychiatrischen Klinik an die akademische Etablierung der Psychiatrie zu binden , sollte diese medizinische Disziplin noch länger nicht Teil der Rigorosenordnung sein. Erst im Jahre 1903 wurde die Psychiatrie als obligatorisches Lehr- und Prüfungsfach anerkannt.100 Die Auseinandersetzungen um das „geeignete Unterrichtsmaterial“ bestimmten weiterhin die Praxis der Einweisung. Hintergrund des Mangels „interessanter Fälle“ der I. Psychiatrischen Klinik war die Aufnahmeregelung des W ­ iener Allgemeinen Krankenhauses. Diese legte fest , dass Patienten nur über einen Polizei- oder Amtsarzt aufgenommen werden konnten , und nur solche , die „einer Geistesstörung verdächtig erschienen“. Die Einweisung erfolgte in diesen Fällen über das „Beobachtungszimmer“, welches der II. Psychiatrischen Universitätsklinik zugeordnet war. Diese Abteilung hatte somit die Möglichkeit , die für das Studium interessant erscheinenden Fälle zu behalten und nur jene Kranken zu transferieren , für die sie keinen klinischen Bedarf oder schlicht keinen Platz hatten. Gemäß den Statuten der I. Psychiatrischen Klinik sollten Patienten aufgenommen werden , die als „entschieden geisteskrank“ bezeichnet wurden. Die Chronizität ihrer Erkrankung sollte mit „großer Sicherheit“ erkennbar sein , wie beispielsweise bei „Paralytikern in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung , Patienten mit einfachen Schwachsinnsformen , bezirksbekannte Paranoiker , Säufer und immer wieder notorische Simulanten und arbeitsscheue ‚Fratres nosocomiales‘.“101 Die monierte „Unvollkommenheit des Materiales“, die geringere Zahl interessanter Patienten , wäre aufgrund der Gesamtmenge der Aufnahmen nach Ansicht der Verantwortlichen für den klinischen Unterricht auszugleichen gewesen. Jedoch gäbe es , wie deren Leiter klagte , im Vergleich zu ihrer Konkurrenz „beträchtlichste Schwierigkeiten sowohl in der Beschaffung als auch in der Evakuierung ihres Krankenmaterials“.102 Im Gegensatz dazu verfügte die II. Psychiatrische Klinik über ein sogenanntes „Ausheberecht“, 100 Lesky 1965 , 383. Die akademische Etablierung der Psychiatrie erfolgte in Deutschland wenige Jahre früher. Lehrstühle für Psychiatrie entstanden zunächst 1864 an den Universitäten Berlin und Göttingen. Ab den 1880er-Jahren wurden an vielen größeren Hochschulen Deutschlands psychiatrische Universitätskliniken begründet , bis 1900 waren insgesamt 19 Ordinariate und 39 Extraordinariate und Dozenturen eingerichtet. Die Psychiatrie wurde 1901 im Rahmen der neuen Prüfungsordnung als obligatorisches Examensfach in der medizinischen Ausbildung für ganz Deutschland anerkannt. Allerdings wurde die Approbationsordnung erst 1906 in die Praxis umgesetzt : Guntau , Laitko 1987 , 313 ; Eulner 1970 , 261 f. In der Schweiz war die Psychiatrie seit 1870 Lehrfach und ab 1888 obligatorisches Prüfungsfach. In : Meier , Bernet , Dubach , Germann 2007 , 63. 101 Pilcz 1907 /  08 , 232 f. [ H. i. O. ] 102 Ebd. Demnach war es Josef Berze zu verdanken , dass mitunter die Möglichkeit eingeräumt wurde , die für den Unterricht nicht mehr benötigten Patienten aufgrund persönlicher Absprachen zu transferieren und Patienten für klinische Demonstrationen kurzfristig zu übernehmen.

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mit dem die Möglichkeit gegeben war , die für den klinischen Unterricht benötigten , die sogenannten „interessanten Patienten“ auszuwählen.103 Neben den zahlreichen Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der klinischen Forschung und Lehre erfuhren die an der Praxis ausgerichteten Bereiche der Psychiatrie in dieser Zeit ebenfalls einen , im Folgenden zu untersuchenden „Professionalisierungsschub“. Kam es dabei zur Ausbildung neuer Wissensräume ? Worin bestand das Selbstverständnis der von den Vertretern der Profession viel beschworenen ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ ? Sowohl der Narrenturm als auch die Anstalt Am Brünnlfeld waren innerhalb der Stadt gelegen. Dort markierten sie mit ihrer Architektur jeweils spezifische Modelle im Umgang mit psychisch Kranken. Ersterer war gänzlich dem Wegsperren psychisch Devianter verpflichtet und rief rasch Kritik seitens der Medizin selbst hervor. Nach der Eröffnung der Anstalt Am Brünnlfeld wurden psychisch Kranke auch weiterhin im Narrenturm untergebracht. Man verließ diese Praxis vielmehr allmählich , und zwar zeitlich parallel mit der sich als Kern moderner Behandlung verstehenden Abkehr vom Einsatz psychiatrischer Zwangsmaßnahmen. Am Brünnlfeld war eine Anstalt , die sich zur Außenwelt der psychiatrischen Binnenwelt öffnete. Doch der Schritt vom gefängnisartigen Turm zum zeitgemäßen Bau Am Brünnlfeld war ein sehr charakteristischer auf dem Wege zu einer humaneren Behandlung psychisch Kranker. Der differenziertere und vorsichtigere Umgang mit Zwangsmaßnahmen ist ein zentraler Aspekt in dieser keineswegs linearen Geschichte. Öffnung einerseits , Zurückdrängung der Zwangsmaßnahmen andererseits sind zwei Elemente der Vorgeschichte von Steinhof , die direkt mit der Entwicklung der psychiatrischen Behandlung und des Bildes von Geisteskranken zusammenhängt. Ohne diese Vorgeschichte zu kennen , kann man dem Konzept der Anstalt Am Steinhof keinen angemessenen Ort in der Geschichte der Psychiatrie zuweisen. Daher wenden wir uns dieser in einem eigenen Kapitel zu.

103 UAW , Medizinische Dekanatsakten 16469 / 1873. Die Kranken wurden im „Journal“, der Aufnahmestation im Allgemeinen Krankenhaus , ausgewählt. Zudem durften innerhalb eines Tages auf anderen Stationen bereits aufgenommene Patienten unter Zustimmung des betreffenden Abteilungsvorstandes auf die II. Psychiatrische Klinik transferiert werden. Diese Vorschrift regelte auch das den Klinikvorständen vorbehaltene „Docieren am Krankenbett“. In ihrer Verantwortung stand weiters die Führung der „Zimmerprotokolle , der Krankengeschichten und deren Aufbewahrung , die Ausfertigung der Kopfzettel beim Abgang der Kranken und die Führung des Gestionsprotokolles“ ( nach welchem alle Anzeigen , Berichte , Parere etc. nach einer fortlaufenden Nummer einzutragen waren ), eines „Zustellungsbuches“ ( in welchem alle abgehenden Schriftstücke zu verzeichnen waren ), das Erstellen von Anzeigen bei Verletzungen , Vergiftungen und Suiziden und über sanitätspolizeilich und gerichtlich bedeutende Sektionen.

2.2 Die Reform des „Irrenwesens“

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2.2 Die Reform des „Irrenwesens“ Eines der größten Probleme der Behandlung in psychiatrischen Anstalten war der Umgang mit unruhigen und agitierten Patienten und Patientinnen. Der Beginn der medizinischen Betreuung psychisch Kranker wird allgemein auf 1790 , mit der Aufhebung aller nicht gesetzlich legitimierten Freiheitsbeschränkungen und der Auflösung der großen französischen Internierungsanstalten datiert , die die Gründung spezieller Einrichtungen für die – nach zeitgenössischer Begrifflichkeit – „Irrenbetreuung“ nach sich zog. Die Versorgung psychisch Kranker entstand also in Reaktion auf die Verkündung der egalitären Freiheitsrechte und Menschenrechte überhaupt. Philippe Pinel ( 1755– 1826 ) hatte auf die Entwicklung der humaneren Krankenbehandlung maßgeblichen Einfluss. Er förderte eine somatisch-pädagogische Therapiepraxis , die von seinem Schüler Jean-Étienne Esquirol ( 1772–1840 ) zur leitenden therapeutischen Idee einer moralischen Erziehung im Sinne einer angestrebten Rückführung des Kranken zu Selbstverantwortung und bürgerlicher Normalität , dem traitement moral , weiterentwickelt wurde.104 Diesem neuen Erziehungsoptimismus entsprang eine Fülle therapeutischer Konzepte , die sich zuweilen eher in ihrer Begründung als in der konkreten Praxis von früheren Behandlungen unterschieden. Weitgehend paradoxerweise hatte die als Therapieziel propagierte „Herrschaft der Vernunft“ zur Folge , dass die Geisteskranken nunmehr rigorosen , von Zwang und Gewalt geprägten Ordnungsprinzipien unterworfen waren. In Abgrenzung dazu entwickelte sich ausgehend von England eine neue Art der Behandlung psychisch Kranker , welche im Namen von Humanität und Freiheit die Abkehr von den herkömmlichen Zwangsmaßnahmen forderte.105 Die sogenannte Non Restraint-Methode wurde kurz nach dem Erscheinen der ersten englischen Publikationen über Reiseberichte und Rezensionen in den 1840er-Jahren auch in Deutschland zunehmend bekannt , aber fast einhellig abgelehnt. Das System des moral treatment , in dem körperliche Strafen eine große Rolle spielten , blieb noch bis in die 1860er-Jahre ein weithin angewandtes Konzept.106 Die 1857 veröffentlichte und drei Jahre später ins Deutsche übersetzte Abhandlung des 104 Guntau , Laitko 1987 , 302. Esquirol setzte mit der einheitlichen und im Wesen progressiven Irrengesetzgebung von 1838 auch das ärztliche Behandlungsmonopol weitgehend durch. Vgl. allgemein zu dieser Behandlungsmethode : Kutzer 2003. 105 Vgl. allgemein : Meier , Bernet , Dubach , Germann 2007 , hier : 20 f. Die Autoren verweisen explizit auf die Verschiebung der Definitionen von „Zwang“ mithilfe unterschiedlichster medizinischer Rationalisierungsbestrebungen. 106 Sammet 2003a ; Sammet 2003b. Zur Praxis der psychischen Kurmethode in England und Frankreich : Digby 1987 ; vgl. dazu auch : Kaufmann 1995 , 169 f.

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englischen Psychiaters John Conolly mit dem Titel „The Treatment of the Insane Without Mechanical Restraint“ avancierte zur Fibel der bürgerlichen Psychiatriereform und wird heute allgemein als der Beginn der Behandlung psychisch Kranker ohne jegliche Zwangsmittel angesehen. Zugleich war das Non-Restraint-Prinzip ein durch Heilung und Pflege charakterisiertes neuartiges Gesamtkonzept psychiatrischer Anstalten zur Unterscheidung bisheriger Formen der Unterbringung , die von Verwahrung und Wegschließung geprägt waren.107 In ­Wien gilt Viszanik als derjenige , der im Narrenturm das nachholte , was einst Pinel propagierte , nämlich die „Irren von den Ketten zu befreien“. Unter der Leitung des ersten Direktors der Anstalt Am Brünnlfeld , Johann Gottfried Riedel , wurde der Großteil der mechanischen Zwangsmittel abgeschafft , unter Ludwig Schlager wurde das No-Restraint-System weiter gefördert.108 Die Isolierung agitierter Kranker galt als die therapeutische Alternative. Die Pläne der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten Anstalt geben davon beredtes Zeugnis.109 Es wurden Studienreisen ins Ausland unternommen , da man meinte , dass „Niederösterreich hinsichtlich seiner Irrenpflege hinter dem Auslande , ja selbst hinter Böhmen und Steiermark , um wenigstens dreißig Jahre zurückgeblieben war“.110 In Österreich wurde die neue humane Behandlung der Kranken zuerst in der Heilanstalt in Hall in Tirol und anschließend in Ybbs initiiert. In der Folge wurde in den niederösterreichischen Anstalten die Behandlung ohne mechanische Zwangsmittel , die „freie Irrenbehandlung“ 1870 allgemein verbindlich eingeführt. Zugleich wurde der Narrenturm in seiner Funktion als Bewahranstalt für psychisch Kranke aufgelassen.111 107 John Conolly begann 1839 in Hanwell ( England ) die mechanischen Zwangsmittel abzuschaffen. Er war der Ansicht , dass das No-Restraint-System , richtig verstanden , „ein vollkommenes Irrenbehandlungssystem [ sei ], dessen Wirksamkeit in dem Augenblick beginnt , wo der Kranke die Schwelle des Asyls überschreitet“ ( 1860 ). Zitiert in : Sammet 2000 , 200. Zugleich wurde die Abgrenzung zu nicht-institutionellen und nicht-medizinischen Versorgungsformen propagiert. Sammet macht zudem auf die gedankliche Verbindung zwischen Pinels Abschaffung der Zwangsmittel und seiner berühmten Befreiung der Geisteskranken von den Ketten aufmerksam , welche die Bewegung des Non-Restraint als eine daran anschließende Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft erscheinen lassen sollte. Ebd., 106 f. 108 Berze 1907 /  08a , 225. 109 Anonym , Ärztliche Berichte 1858. So gab es auf der Männer- und auf der Frauenabteilung jeweils zehn Zellen für „Tobsüchtige I. und II. Classe“. Wie agitierte Patienten der III. Verpflegungsklasse behandelt wurden , lässt sich diesem Plan leider nicht entnehmen. Ob die Behandlung ohne Zwang mit dem Zeitpunkt der Eröffnung der neuen Anstalt exakt zusammenfällt , ist ebenfalls nicht bekannt. Allgemein meinte man , dass eine öffentliche Heil- und Pflegeanstalt für ein Zehntel aller Insassen Isolierräume haben sollte. 110 Gerényi 1901 /  02 , 81. 111 Zugleich wurde in Klosterneuburg ein ehemaliges Fabrikgelände für die Unterbringung chronisch Kranker adaptiert. In : ebd.

2.2 Die Reform des „Irrenwesens“

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Nach der Wende zum 20. Jahrhundert hatte sich das als „Ideal der zwanglosen Behandlung“ anerkannte Modell der humanen Pflege von Geisteskrankheiten weitgehend durchgesetzt. Dem Ruf nach dem gänzlichen Verzicht von Zelle und Zwangsjacke war allerdings von prominenter Stelle auch widersprochen worden. Dem konnte kaum anders sein , da die medikamentösen Eingriffsmöglichkeiten noch äußerst beschränkt waren. Es gab jedoch auch andere Argumente zur Legitimation von Zwangsmaßnahmen. Beispielsweise wies Eugen Bleuler wiederholt darauf hin , dass für manche Kranke die Beschränkung im Sinne einer therapeutischen Maßnahme Beruhigung biete , somit die Anwendung des mechanischen Zwanges nicht ausschließlich als ärztlicher Kunstfehler angesehen werden solle. Ähnliche Ansichten wurden insbesondere seitens italienischer und auch einiger englischer Psychiater vertreten , die trotz öffentlicher Kritik in schwierigen Fällen für die Anwendung mechanischer Beschränkungen plädierten. Interessant bleibt dennoch das Resümee , welches diesbezüglich an dem 1908 in ­Wien tagenden III. Internationalen Kongress für Irrenpflege gezogen wurde. Als besonders wichtig galt stets die Dokumentation und statistische Erhebung dieser umstrittenen Maßnahmen , um die Transparenz nach außen gewährleisten zu können. Aber auch die medizinische Rechtmäßigkeit sollte legitimiert werden , denn „die aus ernsten ärztlichen Erwägungen heraus geschehene Anwendung des Restraints und der Isolierung verstößt nicht gegen die Humanität. Sie hält nicht nur der Kritik stand , sondern ist in manchen Fällen wissenschaftlich begründet und geboten“.112 Der gänzliche Verzicht auf Beschränkungsmaßnahmen erwies sich in der Tat als nur schwer durchführbar. Auch noch zwei Jahrzehnte später , als die Anstalt Am Steinhof wieder einmal an die Grenzen ihrer Kapazitäten stoßen sollte , wurden ( rundum geschlossene ) Gitterbetten wieder verwendet.113 Die Thematik der „zellenlosen Behandlung“ wurde um die Jahrhundertwende viel besprochen und galt allgemein – unter der Vorbedingung eines ausreichend hohen Personalstandes und der Erweiterung der Räumlichkeiten zur besseren Unterbringung der Patienten und Patientinnen – als lege artis.114 Die sogenannte freie Behandlung , die Vermeidung von Beschrän-

112 Bresler 1908 /  09b , hier : 255. 113 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 466 / 1926. Zirkular betreffend die Anwendung von Beschränkungsmitteln vom 4. März 1926. 114 Mercklin 1901 /  02 : „Die Frage , ob eine vollständige zellenlose Behandlung anzustreben ist , muss durchaus bejaht werden. Aesthetische , humane und medizinische Gründe drängen dazuhin.“ Als weiterhin notwendig angesehene Maßnahme waren die sogenannten „akustischen Isolierungen“, wenn , so der Autor , zumeist die Patientinnen nachts die Bettruhe störten. Die Frage , ob man Anstalten neu und gänzlich ohne Zellen planen konnte , galt weiterhin als eine offene. Ebd., 262. Die bedeutende Rolle des Pflegepersonals war in dieser Frage stets betont worden. Vgl. dazu auch : Stegge 2005.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

kungsmittel und die neuen Grundsätze in der Behandlung geisteskranker Menschen zählten zu den zentralen Errungenschaften der modernen „Irrenpflege“.115 Die Plädoyers für eine zwanglose Behandlung gingen in den meisten Fällen mit einem optimistischen , wissenschaftsgläubigen Menschenbild einher : Wissenschaft , Humanität und Fortschritt sollten der psychiatrischen Versorgung eine neue Basis geben. Eine weitere wichtige Neuerung stellte die „koloniale Versorgung“ und die mit dem Landtagsbeschluss von 1898 eingeführte „Familienpflege“ dar. Zu diesem Zwecke wie auch zur Unterbringung weiterer Patienten der stets an Platzmangel leidenden W ­ iener psychiatrischen Institution wurden vom Land Niederösterreich zwei neue Anstalten eingerichtet. Die Einrichtung in Gugging war bereits seit den 1870er-Jahren kontinuierlich erweitert worden. Deren Beginn war der Rote Hof , eine Privatanstalt für Nervenkranke in Kierling. Dieser Hof wurde angekauft , umgebaut und 1885 als Filiale der W ­ iener „Irrenanstalt“ eröffnet. Im selben Jahr wurden acht weitere Pavillons hinzugebaut , 1895 wurde das Zentralgebäude der Anstalt Kierling-Gugging an der Stelle des letzten ursprünglichen Teils des Roten Hofes eröffnet. Insgesamt stellten diese Zu- und Neubauten eine Erweiterung des Belegraums von 700 Betten dar.116 Während der Planungsphase der nach modernsten Kriterien auszurichtenden Anstalt war es vorgesehen , dass pro Jahr jeweils zwei Ärzte an ausländischen Anstalten arbeiten und an renommierten psychiatrischen Kliniken hospitieren sollten. Die wichtigste inhaltliche Neuerung war die Beschäftigung der Kranken in der Landwirtschaft. Zwar konnten Patienten auch Am Brünnlfeld in den Gärten und Werkstätten arbeiten , ein systematischer Ausbau der Beschäftigung der Kranken aber wurde erst mit der nach den neuen Prinzipien konzipierten Institution möglich. An diese Pläne wurden große Hoffnungen geknüpft , denn „mit diesem Schritte wird eine vernünftigere Auffassung über die Geisteskranken und deren Gebaren unter den breiten Volksschichten Platz greifen und endlich der Glaube an das geheimnisvolle Wesen der Tollen und das haarsträubende Getriebe in den Irrenanstalten schwin115 Psychiatrisches Centralblatt 8 ( 1878 ), 79–81. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins , Referat Ludwig Schlager : Ueber den gegenwärtigen Stand der Irrengesetzgebung in Oesterreich. Und zgl. : Erfahrungen über freie Behandlung der Irren in österreichischen Anstalten. Hier : 79. 116 Gerényi 1901 /  02 , 81 f. Die „Wohlfahrtseinrichtungen für abnormale Kinder“ umfasste zu diesem Zeitpunkt 192 Plätze in Kierling-Gugging , 95 Plätze im Pius-Institut in Bruck an der Mur und 30 Plätze im Asyl der Stephanie-Stiftung in Biedermannsdorf. In einer Abteilung im Krankenhaus Mödling konnten 70 Knaben untergebracht werden. Die Kostenfrage der Unterbringung dieser Kinder wurde explizit thematisiert , die lebenslange institutionelle Unterbringung war nach der Ansicht von Fedor Gerényi , dem Administrativinspektor der niederösterreichischen Landeswohlfahrtsanstalten , „eine Lösung , die , wenn man die Frage der Fortpflanzung ins Auge fasst , vielleicht nicht einmal die schlechteste genannt werden kann“. Ebd., 84.

2.2 Die Reform des „Irrenwesens“

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den“.117 Hier ist der optimistische Glaube an die Kraft der Vernunft wiederum verbunden mit einer Öffnung der Anstalt : Die Mauern werden nicht eingerissen , jedoch durchlässig. Die ( partielle ) Transparenz sollte zu einer Art Entdämonisierung oder Entmystifizierung des Innenlebens führen. Da sich die ersten Versuche der Beschäftigung von Patienten in der Landwirtschaft , wie berichtet wurde , als gefahrlos für die Umgebung erwiesen hatten , erfolgte 1899 die Einrichtung der sogenannten „Irrenkolonie“ in Haschhof , die gemäß den Stimmen der Verantwortlichen , „nach den allerneuesten Prinzipien unter vollständig freier Behandlung und Bewegung der Kranken angelegt werden konnte“.118 Man kann die polemischen Untertöne bei der Abgrenzung zu früheren Formen im Umgang mit geistig Kranken kaum überhören , wenn es heißt , dass „Tagesräume , die zuvor Kasernen glichen , zu Wohnräumen und Isolierräume zu Wachräumen umgestaltet wurden und die früher typisch gewesene Figur des vollständig entkleideten Geisteskranken , der in seiner Zelle , einem Thiere gleich , in Seegras gelagert , nun vollständig verschwunden ist“.119 Festzuhalten gilt , dass die sorgfältige Auswahl „geeigneter Kranker“, nämlich zuverlässiger und vorzugsweise aus ländlichen Berufen stammendePatienten , jenes Modell der „freien Versorgung“ überhaupt erst ermöglichte.120 Die neu eingerichtete und sich am Modell der , wie man heute sagen würde , Beschäftigungstherapie orientierende Anstalt in Kierling-Gugging nahm gemäß ihren Statuten nur psychisch Kranke auf , die entweder als „gemeingefährlich“ oder als „heilbar“ galten.121 Im Gegensatz dazu lag die Versorgung der „unheilbaren und harmlosen Geisteskranken“ in der Verantwortung der Gemeinden. In ­Wien gab es hierzu eine Reihe von Versorgungsanstalten ,122 in den ländlichen Gebieten war die sogenannte „Einlage“, die wechselnde Überantwortung der Pflegebedürftigen von Haus zu Haus , das traditionelle Versorgungsmodell. Die in den folgenden Jahren in Niederösterreich errichteten Armenhäuser sollten diesem Übelstand abhelfen und nicht zuletzt auch einen Teil der Patienten der überfüllten Anstalt Am Brünnlfeld übernehmen. Die ursprüngliche Aufgabe der Armenhäuser , nur körperlich Erkrankte aufzunehmen , war aufgrund des großen Bedarfs schon lange nicht mehr möglich gewesen. Oftmals waren mehr als die Hälfte der dortigen Insassen sogenannte „Geistessieche“. Die gemeinsame Unterbringung von geistig und körperlich Kranken wurde zunehmend kritisiert , 117 118 119 120 121

Krayatsch 1895 , 305. Der Autor war der erste Leiter dieser Institution. Gerényi 1907 /  08 , 218. Gerényi 1901 /  02 , 81. Vgl. auch Topp , Wieber 2009. Diese Regelung galt auch für alle anderen Anstalten des Landes Niederösterreich. Eine Auflistung öffentlicher und privater österreichischer Anstalten für psychisch Kranke bei : Gabriel 2009 , 10–17. 122 Vgl. allg. : Arias , Horn , Hubenstorf 2005.

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„Altersblödsinnige , Idioten , Cretins , Epileptiker , körperlich unheilbare Kranke , Trunksüchtige , Taubstumme , Blinde , körperlich gesunde , alte gebrechliche Personen und Waisenkinder“ waren alle unter einem Dach unterschiedslos vereint.123 Zu diesem Zeitpunkt gab es in Niederösterreich vier Anstalten zur Versorgung unheilbar Kranker zur Entlastung der Armenpflege der Gemeinden.124 Die städtischen Versorgungshäuser sollten im Zuge des neuen Landes-Armengesetzes reformiert werden. Im „Verein für Psychiatrie und forensische Psychologie“ war man aber der Ansicht , dass die bislang ausgeübte Gemeindepflege für „arme , unheilbare und nicht gemeingefährliche Kranke“ nicht mehr genüge und von den Ländern zu übernehmen sei.125 Die Obsorge der „unheilbaren Geisteskranken“ ging 1893 auf den Niederösterreichischen Landtag über , die bislang zuständigen Armenbehörden sollten lediglich einen finanziellen Zuschuss leisten. Hintergrund dieses Konzepts war der bereits bestehende Plan , dass alle zukünftig zu errichtenden öffentlichen Anstalten jeweils aus einer Heil- , einer Pflegeanstalt und aus einer Kolonie bestehen sollten.126 Im Zuge dieser Veränderungen wurde der Neubau einer weiteren Anstalt von den Verantwortlichen der Niederösterreichischen Landesregierung als notwendig erachtet. Sowohl die Aufnahmekriterien als auch die Betreuung der „Pfleglinge“ sollten dabei reformiert werden. Die im Juli 1902 in Mauer-Öhling eröffnete Anstalt wurde für die Unterbringung von 1. 000 sowohl heil- als auch unheilbaren und erstmals auch für freiwillig eintretende Patienten eingerichtet. Eine Ausnahme beziehungsweise Schwierigkeit stellten lediglich Alkoholiker und mit dem Strafgesetz in Konflikt geratene Patienten dar , da mit ihnen das angestrebte Ideal der „freien Pflege“ als nicht realisierbar erschien.127 Die nahe gelegene und schon seit vielen Jahren bestehende Institution in Ybbs wurde nunmehr zur reinen Pflegeanstalt und der neuen Institution administrativ unterstellt. Hier sollten diejenigen Patienten Aufnahme finden , bei denen sich während ihres Aufenthaltes in Mauer-Öhling jede Aussicht auf Heilung oder Erlangung der Fähigkeit zur Beschäftigung als unmöglich erwies.128 Die neue , im Pavillonstil errichtete Anstalt sollte mit ihrem Ausbau der kolonialen Versorgung zudem ein neues Modell für den weiteren Ausbau der Familienpflege darstellen.

123 Gerényi 1901 /  02 , 83. 124 Diese waren in St. Andrä vor dem Hagenthale , Mistelbach , Allentsteig , Oberhollabrunn ; zudem gab es eine „Landessiechenabteilung“ im Bezirksarmenhaus in Korneuburg. 125 Gauster 1892 , 281. Er forderte ärztlich geleitete „Landes-Siechenanstalten“. Zudem war es immer wieder zu Rücktransferierungen von „Geistessiechen“ in die , hinsichtlich der Verpflegungskosten teureren psychiatrischen Anstalten gekommen. 126 Gerényi 1907 /  08 , 219 : ähnlich : Hellwig 1903. 127 Berze 1907 /  08a , 225. 128 Anonym , Die Kaiser-Franz-Joseph-Landes-Heil- und Pflegeanstalt 1902 /  03 , 260.

2.2 Die Reform des „Irrenwesens“

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Die Patienten und Patientinnen waren in der neuen , dem Open-Door-System verpflichteten Heil- und Pflegeanstalt gemäß ihrer Statuten von den Ärzten „angemessen zu beschäftigen“. Die der Anstalt angeschlossene Landwirtschaft , die Gemüsefelder , die Blumenzucht und die groß angelegten Werkstätten boten hierzu reichlich Gelegenheit. Zur Aufrechterhaltung des Anstaltsbetriebes arbeiteten die Patienten am Holzund Kohlenhof oder wurden zu diversen häuslichen Tätigkeiten eingesetzt. Sie hatten auch die Gelegenheit zu sportlichen Aktivitäten und konnten Atelier oder Bibliothek nutzen. Diese Einrichtungen verweisen deutlich darauf , dass die Frage , ob Arbeit nützlich sei , der Ablenkung diene oder auch nur unterhaltend sei , nicht im Vordergrund stand. Die normative Vorgabe einer „angemessenen“ wie „therapeutischen“ Beschäftigung war Gegenstand ständiger Ermahnungen an das Personal , dessen Aufgabe es war , die Patienten dazu anzuhalten. So entstand hier eine eigenartige Mischung aus Offenheit , Liberalität und einem Glauben an die heilende oder lindernde Wirkung von Arbeit. Kranke durften gemäß den Statuten der Anstalt zwar nicht zur Arbeit gezwungen werden , seitens der Leitung war man allerdings der Ansicht , dass die Pflicht zur Arbeit aus medizinischen Gründen indiziert und weitestgehend einzufordern wäre. Es gab eigene „Kolonieärzte“, die für diese Form der Therapie verantwortlich waren ; ihnen waren die „Arbeitsoberpfleger“ direkt unterstellt. Diese mussten täglich einen schriftlichen Rapport über ihre Tätigkeit ablegen. Die „Professionisten“ arbeiteten gemeinsam mit den Patienten. In der sogenannten „klinischen Arbeitsgruppe“ wurde Pflegepersonen eine kleine Zahl an Patienten zugeteilt , von denen man sich nicht sicher war , ob sie aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen in der Lage wären , zu arbeiten. Sie sollten hinsichtlich ihrer Arbeitsfähigkeit intensiv beobachtet werden.129 Diese Neuerung verweist deutlich auf das Bestreben , die in den Anstalten traditionelle Beschäftigung nicht nur zu intensivieren , sondern darüber hinaus auch zu medikalisieren. Die ärztlich beaufsichtigte Familienpflege stellte , wie bereits erwähnt , einen weiteren wichtigen Aspekt der Reform des „Irrenwesens“ in Niederösterreich dar. Diese extramurale Verpflegungsform hatte bereits eine längere Tradition in Belgien und Schottland130 und beruhte darauf , dass pflege- oder beaufsichtigungsbedürftige psychisch Kranke und auch Behinderte in Familien lebten. Die Betreuungsarbeit wurde von der Anstalt aus finanziell unterstützt und auch kontrolliert. In Österreich war dieses Modell schon einige Zeit vor der Eröffnung der Anstalt in Mauer-Öhling , insbesondere 129 Starlinger 1907 /  08. In Mauer-Öhling hat etwas mehr als die Hälfte aller Patienten und Patientinnen gearbeitet. 130 Vgl. Beddies , Schmiedebach 2001 ; Schmiedebach , Priebe 2003 ; Müller 2003. Müller beschreibt das von Mundy installierte Musterhaus an der Pariser Weltausstellung von 1867.

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von Jaromir Mundy ( 1822–1894 ), zur Realisierung empfohlen worden.131 Im belgischen Dorf Gheel , welches als der Ursprung der „patronalen Irrenpflege“ gilt und wo Mundy auch praktiziert hatte , war die Familienpflege nicht als Ergänzung , sondern als Alternative zur Anstaltspflege eingerichtet worden. Zur Zielgruppe zählten „unheilbare“, aber nicht einer intensiven Pflege bedürftige Kranke. Explizit davon ausgeschlossen waren Paralytiker , die meisten Epileptiker sowie chronisch bettlägerige oder unreinliche Kranke.132 Das von Mundy propagierte Modell der Familienpflege wandte sich dezidiert gegen den Bau großer Anstalten. Diese sah er als ein völlig fehlgeleitetes Konzept an , zumal der Bau einiger weniger Großanstalten , so die Vorannahme , der Patientenzahl ohnedies kaum ein Dezennium lang beikommen könne.133 Die bei Amstetten im westlichen Niederösterreich gelegene Kaiser-Franz-JosephLandes-Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling stellte eine Kombination bisheriger Modelle dar. Bereits während ihrer Planungsphase galt sie als Modell für die in W ­ ien neu zu erbauende und noch viel größere Anstalt. Die Institution in Mauer-Öhling bestand aus sechzehn Pavillons und einigen Nebengebäuden , zudem wurden 95 „Familienpflegestellen“ für die Unterbringung von insgesamt 240 Personen eingerichtet.134 Die auch im internationalen Vergleich als ein weitreichender Schritt in der Reformierung bestehender Versorgungseinrichtungen für psychisch Kranke angesehenen Neuerungen umfassten einen methodischen Unterricht für die Pflegenden , die Unterbringung ihrer Familien und eine Altersversorgung. Zur Unterstützung der 131 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 4 ( 1902 /  03 ), 261 f. Mundys Promotionsschrift „Ueber die familiale Behandlung der Irren“ ( 1854 ) gilt als der Beginn der alternativen Verpflegungsform in Österreich. Eine weitere , 1864 veröffentlichte Schrift zur Reformierung des Irrenwesens und sein 1876 dem böhmischen Landtag vorgelegtes Konzept einer alternativen Versorgung blieben unberücksichtigt , statt dessen wurde die zu diesem Zeitpunkt größte Anstalt der Monarchie in Dobran ( Böhmen ) gebaut. 132 Jahrbücher für Psychiatrie 10 ( 1892 ), 331–333. Rezension einer Monografie zur „familialen Irrenpflege“. In Gheel wurden zu diesem Zeitpunkt 2. 000 , in England über 6. 500 und in Schottland zwanzig Prozent aller ( behördlich erfassten ) psychisch Kranken auf diese Weise versorgt. In Deutschland initiierte Ferdinand Wahrendorff dieses Modell 1879 in Ilten zur Verpflegung von „Schwach- und Blödsinnigen mittleren Grades , Verrückten mit harmlosen Wahnvorstellungen und abgeschwächten Sinnestäuschungen“. 133 Mundy 1879. Seine Kritik zielte auf die mangelnde Akzeptanz der zwanglosen Behandlung wie auf die „unterschiedslose Sequestration der Irren“, die Internierung unabhängig von der Art der Erkrankung. Der Aufenthalt von drei Viertel aller in psychiatrischen Anstalten internierten Personen war seiner Ansicht nach „weder medicinisch-legal noch therapeutisch förderlich“. Ebd., 3. Für die koloniale Versorgung führte er sowohl therapeutische als auch ökonomische Gründe an. Pro Familie sollten etwa drei bis vier Kranke ( gleichen Geschlechts ) untergebracht werden. Die von ihm angeregte Reform umfasste auch Vorschläge zur gesetzlichen Regelung der Anhaltung von Geisteskranken und Fragen der Ausbildung sowohl der Psychiater als auch der Wärter. Mundy sprach sich für eine staatlich geregelte Kontrolle aus und wandte sich vehement gegen private Anstalten , die , wie er meinte , größtenteils Unternehmungen von Laien seien. 134 Starlinger 1905 , hier : 414 ; Starlinger 1905 /  06b.

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psychisch Kranken und deren Familien wurde ein Fürsorgeverein initiiert. Sogenannte „Vertrauensmänner“ hatten die Aufgabe , innerhalb ihrer Gemeinde finanzielle Zuwendungen an die jeweiligen Familien zu verteilen und umgekehrt der Anstaltsleitung Informationen über die persönlichen Verhältnisse der Patienten zuzutragen.135 Trotz der Ausbauten der Versorgungseinrichtungen blieb die Überfüllung der „Irrenanstalten“ ein drückendes Problem und wurde dementsprechend häufig im Landtag diskutiert. Anfang des 20. Jahrhunderts erhobene Daten ergaben , dass in Niederösterreich insgesamt 4. 877 Kranke stationär untergebracht waren , die systemisierte Bettenzahl belief sich jedoch nur auf 3. 735. Aufgrund des Raummangels lagen die Kranken in „Nähstuben , Tagräumen und erfüllen durch ihren Lärm , durch ihre Unruhe die Anstalt , in welcher die größte Ruhe herrschen sollte. Dieser Zustand kann nicht länger andauern und , wenn auch die ­Wiener Irrenanstalt im Bau begriffen ist , sind jetzt schon so viele Anmeldungen vorhanden , dass sie schon mit den heutigen Anmeldungen vollständig belegt sein wird , so , dass wer von heute an sich anmeldet , bereits auf einen künftigen Termin zurückgestellt werden muss“.136

Diese Entwicklung des als notwendig angesehenen stetigen Ausbaus der stationären Versorgung psychisch kranker Menschen verweist auf scheinbar widersprüchliche und im Folgenden zu erläuternde gesellschaftliche Anforderungen an Heilstätten als auch die Entfaltung psychiatrischer Interessen.

2.3 Zählen und Bauen. Gefährlichkeit und Erblichkeit. Zur Frage der steigenden Anzahl psychisch Kranker Ein zentrales Thema der „Irrenpflege“ und des öffentlichen Wohlfahrtswesens war die Sorge um die stetig wachsende Zahl psychisch Kranker und die zunehmende Überfüllung der Anstalten. Die daraus resultierenden hygienischen Zustände waren mangelhaft , die Ärzte konnten ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen und die Sicherheit der Insassen galt als gefährdet. Moriz Gauster , Sanitätsrat und Leiter der Anstalt Am Brünnlfeld , nannte als Ursache dieser Entwicklung die steigende Zahl

135 Starlinger 1914 , hier : 59. Statuten der Fürsorge-Organisation : ebd., 60–64. 136 STPNÖ , 8. Sitzung der IV. Session am 5. Juni 1905 , S. 187.

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„… chronischer Alkoholiker , welche wegen ihrer Gefährlichkeit in den Anstalten behalten werden müssen , und Kranke , behaftet mit moralischer Perversität , vor denen die Außenwelt geschützt werden soll , Kranke , die eine Geissel für die Ärzte und ein Übel für die Anstalt sind. Diese Kranken bedürfen der Führung durch eine Anstalt , die blosse Curatel ist nicht ausreichend für sie. Das ist die eine Gruppe. Die andere Gruppe bilden die Epileptiker , welche in ihren Anfällen gemeingefährlich werden und in den Anstalten behalten werden müssen , wenn sie auch in der Zwischenzeit normal scheinen. Endlich kommt hier eine Reihe psychischer Krankheiten in Betracht , die abgelaufen und chronisch geworden sind. Diese Fälle gehören eigentlich in die Familien- oder Gemeindeversorgung , wenn die Verhältnisse in derselben darnach liegen würden“.137

Die angebliche Zunahme der Geisteskranken wurde in unterschiedlichster Weise diskutiert. Nicht nur in der zeitgenössischen Wahrnehmung waren deren Ursachen sehr umstritten , auch in der historischen Forschung scheinen sie nicht gänzlich von Dissens frei zu sein. Psychiater wie Bénédict Augustin Morel , Cesare Lombroso und Paul J. Moebius machten die Degenerationstheorie zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Erklärungen der als neuartig konstatierten Phänomene. Andere Mediziner stellten die im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung stattfindenden umfassenden sozialen Veränderungen in den Vordergrund ihres scheinbar kausalen Erklärungsmodells , wonach „der moderne Mensch“ gefährdet sei , „Nervenschwächen“ oder „Neurosen“ zu entwickeln.138 Karl Jaspers beziffert den seit Mitte des 19. Jahrhunderts in allen europäischen Kulturstaaten erkennbaren stetigen Anstieg der stationär untergebrachten Geisteskranken mit zwei- bis dreihundert Prozent. Die Meinung vieler Psychiater zusammenfassend , besteht er jedoch darauf , dass aus dieser Zahl nicht zu schließen sei , die relative Zahl der psychischen Erkrankungen sei gestiegen : „Es wurde nie und es werden auch heute durchaus nicht alle Geisteskranken in Anstalten gebracht. Vielleicht liegt die Vermehrung der Anstaltsinsassen nur daran , dass heute mehr von den prozentual zur Gesamtbevölkerung gleichgebliebenen Psychosen in die Anstalt ge-

137 Gauster 1892 , 279. 138 Watzka 2002. Die zeitgenössische Annahme eines Zusammenhangs mit Urbanisierungsprozessen wurde auch von agrarromantischen Vorstellungen geprägt. Mikrosoziale Wandlungen der Familienstrukturen gelten ebenfalls als einer der Gründe , warum psychisch auffällige Personen häufiger an soziale Einrichtungen verwiesen wurden. Vgl. Guntau , Laitko 1987 , 310 ; im Gegensatz dazu macht Karen Nolte darauf aufmerksam , dass der größere Teil der psychiatrisch Internierten aus klein- und mittelbürgerlichen Gesellschaftsschichten stammte , in deren Kultur sich das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie schon aufgrund der prekären Wohnverhältnisse erst später durchgesetzt habe. Nolte 2003 , 50.

2.3 Zählen und Bauen. Gefährlichkeit und Erblichkeit

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bracht werden. Eine entscheidende Antwort ist nicht möglich , doch ist für die Mehrzahl der Psychiater die letztere Deutung die wahrscheinlichere.“139

Anknüpfend an Foucaults Thesen in „Wahnsinn und Gesellschaft“ argumentieren die Sozialhistoriker Klaus Dörner und Dirk Blasius , dass die ansteigende Zahl der „Irren“ sei vor allem ein Effekt der Definition und der systematischen Erfassung von Geisteskranken gewesen sei.140 Edward Shorter orientiert sich als Psychiatriehistoriker eher am zeitgenössischen medizinischen Diskurs , in dem mehrheitlich die Auffassung vertreten wurde , es sei im 19. Jahrhundert zu einer realen Zunahme der Erkrankungen gekommen. Insbesondere die Neurosyphilis und die Alkoholpsychosen , aber auch Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises hätten sich seiner Ansicht nach vermehrt. Zwar lehnte Shorter die konstruktivistische Rückführung der gestiegenen Patientenzahl auf eine Änderung der diagnostischen Methoden ab , ließ jedoch den Umstand gelten , dass es zeitgleich auch zu einer Umverteilung von Insassen der Armenhäuser in psychiatrische Institutionen gekommen war , nicht-psychiatrische Patienten also in den Statistiken nun als psychiatrische auftauchten.141 An dieser Stelle wird aber nun weniger den kurz skizzierten Auseinandersetzungen weiter gefolgt , sondern vielmehr der Blick auf die statistischen Erhebungen selbst und ihre Hintergründe gerichtet. Das erhobene Datenmaterial galt bereits den Zeitgenossen als unzuverlässig und wenig aussagekräftig. So wurde moniert beziehungsweise davor gewarnt , dass „diese Zahlen für administrative Zwecke noch sehr wenig und für wissenschaftliche noch gar keinen Werth [ haben ]; mögen sie nur nicht zur Selbsttäuschung der mit der Irrenfürsorge betrauten Verwaltungskörper dienen“.142 Tatsächlich fällt die ( scheinbare ) Widersprüchlichkeit der psychiatrischen Fachzeitschriften und Monografien beim Umgang mit der steigenden Zahl psychischer Erkrankungen auf : Einerseits finden sich zahllose , meist quantitativ gestützte Beobachtungen einer angeblichen Zunahme der Patientenzahl in der Fachliteratur , aus denen mehr oder minder offensichtlich Angst vor der stetig steigenden Anzahl der zu versorgenden Kranken spricht. Andererseits wusste die ( Anstalts- )Psychiatrie in eben jenem unbe-

139 140 141 142

Jaspers 1959 , 621. Blasius 1994 , 72 f. ; vgl. allg. Dörner 1969. Shorter 1999 , 83 f. Jahrbücher für Psychiatrie 9 ( 1879 ), 67. Notizen. Standesbücher wurden zuerst in der Steiermark , in Kärnten und schließlich auch in Niederösterreich eingeführt. Ähnliche Kritik hinsichtlich der Unbestimmbarkeit und somit Nicht-Quantifizierbarkeit vieler Formen des Übergangs zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit wurde auch formuliert von : Weber 1911 , 1001. Vgl. auch zum Aspekt , dass diese frühen Daten lediglich richtungweisend sind , aber keinesfalls als Grundlage einer historisch-quantitativen Analyse herangezogen werden können : Engstrom 2003a , 30–33.

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stimmten Feld ihre Zuständigkeiten auszuweiten , rief also selbst jenen Anstieg der Patientenzahl hervor , vor dem sie so eindringlich warnte. Dieses ebenso von partiellem Wissen wie von partieller Ignoranz geprägte , verwickelte Verhältnis von deutender Literatur , Statistik und versorgenden Institutionen sollte , wie zu zeigen sein wird , die Dimensionierung der Anstalt Am Steinhof , aber auch ihre weitere Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Zählungen der in psychiatrischen Institutionen untergebrachten Kranken hatten bereits eine lange Tradition und wurden zumeist in den jährlich herausgegebenen Anstaltsberichten veröffentlicht. Im Zuge der 1870 erfolgten Reorganisation des öffentlichen Sanitätsdienstes sollten auch die in privaten Anstalten versorgten Kranken in den „Irrenstatistiken“ erfasst werden. Mit dieser Regelung wurden zudem die Gemeinden verpflichtet , psychisch Kranke „in Evidenz“ zu halten – die Berichte über die tatsächliche Handhabung dieser Regelung lassen allerdings erkennen , dass diese Vorschriften weitgehend unbeachtet blieben.143 Der „Verein für Psychiatrie und forensische Psychologie in ­Wien“ mahnte wiederholt die Notwendigkeit solcher Zählungen an. Die Auflistung aller psychisch Kranken stand auch im Zusammenhang mit Bestrebungen zur Neuregelung der Vormundschaftsverfahren , welche , wie von den Experten vielfach beanstandet , nur gegen Kranke , die in einer psychiatrischen Anstalt interniert waren , eröffnet werden konnten.144 Im Verein hieß es , dass „der Staat die Erkrankungsverhältnisse und Krankenzahlen bezüglich der Psychosen in den einzelnen Gebieten kennen sollte , da er auf diesem Wege zum Studium ihrer Ursachen angeregt werde“.145 Mittels dieser Erhebungen sollten lokale Häufungen , beispielsweise von Alkoholismus , Ehen innerhalb der Verwandtschaft , mangelhafte Ernährungszustände oder , wie es hieß , anderweitige soziale , moralische oder physische Missverhältnisse ermittelbar werden. Eine erste vom „Verein für Psychiatrie und forensische Psychologie“ initiierte „Irrenzählung“ wurde 1871 in Niederösterreich durchgeführt. Diese fokussierte auf eine Erfassung der außerhalb der Institutionen versorgten psychisch Kranken. Neben der Ermittlung des Zahlenverhältnisses von „Geisteskranken“ und „Geistesgesunden“ zielte man dabei auch auf weitergehende und bislang weniger genau bestimmte Formen geistiger Devianz. Diese unklare Ausweitung der Symptompalette war einer der Gründe , weshalb die Krankenzahl in der ersten Zählung vom „Verein für Psychiatrie“ als viel zu niedrig eingeschätzt wurde. Die als mangelhaft angesehenen Nach143 Gauster 1877 , 7. Eine frühere Verpflichtung der Gemeinden zur Meldung war 1852 außer Kraft gesetzt worden. 144 Psychiatrisches Centralblatt 3 ( 1873 ), 170. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 29. November 1873. 145 Gauster 1877 , 19. Gauster war derjenige , der sich in dieser Frage am meisten engagierte.

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weise sollten von den auskunftspflichtigen Gemeinden , wie es hieß , sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus administrativen und rechtlichen Gründen genauer erstellt werden , da hinsichtlich der nun nicht näher definierten „Psychopathien“ prophylaktische Maßnahmen einzuleiten wären.146 Moriz Gauster sprach sich weitergehend für eine Ausweitung der gesetzlich geregelten Anzeigepflichten aus. Seiner Ansicht nach sollten auch Fälle erfasst werden , in denen lediglich der Verdacht auf eine Geistesstörung bestünde. Diese Bestrebungen stehen unmittelbar im Zusammenhang mit der anvisierten Einrichtung der Familienpflege , einer Versorgungsform für weniger schwer oder bloß zu beaufsichtigende Erkrankte. Die Versorgung in den Gemeinden war , wie bereits erwähnt , entweder so organisiert , dass die Kranken in „Pfründnerhäusern“ untergebracht waren oder aber von Haus zu Haus geschickt wurden , um sich ihren Unterhalt zu erbetteln. Doch nicht nur allgemeine humanitäre Aspekte wurden für die Notwendigkeit von Reformen in der Versorgung psychisch Auffälliger ins Spiel gebracht. Der Ausbau institutionalisierter Verpflegungsformen könne vielmehr nach Ansicht der Experten auch die Gefahren für kommende Generationen hintanhalten , nämlich die „unbeschränkte Fortpflanzungsmöglichkeit der Kranken“ unterbinden.147 Eine möglichst exakte „Irrenzählung“ sollte parallel über die regelmäßig erhobenen Volkszählungen mithilfe von eigens erstellten Zählkärtchen bewerkstelligt werden. Darüber hinaus waren in den Gemeinden Standesbücher über die Anzahl der psychisch Kranken zu führen. Der Beschluss des Vereins lautete dahingehend , diese Bestrebungen künftig auch auf ganz Österreich auszuweiten , um „die Interessen des Staates sowie der Wissenschaft“ in dieser Frage wahren zu können.148 „Irrenzählungen“ dieser Art waren auch keine Besonderheit der österreichischen Institutionen und ebenso wenig waren es die geschilderten Interessenkonflikte bei ihrer methodischen Ausrichtung. Bereits auf dem 1867 in Paris tagenden „Interna146 Psychiatrisches Centralblatt 4 ( 1874 ), 154 f. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 31. Oktober 1874. Das geschätzte Verhältnis der Anzahl „Geisteskranker“ zu den als gesund Konstatierten lag bei 1 :600. Vgl. dazu auch : Psychiatrisches Centralblatt 8 ( 1878 ), 74–77. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 26. Juli 1878. Unklar blieb zudem die Frage , ob Ärzte oder Personen aus der unmittelbaren Umgebung des Erkrankten zur Meldung verpflichtet werden sollten. 147 Gauster 1892 , 280. Vgl. zur Bedeutung der Erblichkeit von psychischen Erkrankungen auch Abschnitt 4. 3.  148 Psychiatrisches Centralblatt 7 ( 1877 ), 17 f. Die Zählung von Ärzten durchführen zu lassen , galt als zu kostspielig. In Preußen hatte man mit dieser Methode bereits gute Erfahrungen gemacht , wo nicht nur Tabellen , sondern sogenannte Zählkärtchen genauere Ergebnisse boten. Eine Beschreibung der Zählblättchen : Gauster 1877 , 25 f. Erhoben wurden allgemeine personenbezogene Daten und Antworten auf folgende Fragen , „wo der /  diejenige verpflegt wurde ; sind Eltern blutsverwandt /  war der Kranke Gewohnheitssäufer ? /  schon gefährlich ? /  Kropf , Cretin /  stumm , blind ? / Arbeitet der Kranke ?“

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

tionalen Psychiaterkongress“ wurde die Notwendigkeit einer internationalen „Irrenstatistik“ propagiert. Vorhaben wie diese lassen die Konvergenz sowohl obrigkeitsstaatlicher als auch wissenschaftsimmanenter Interessen deutlich erkennen149 und verweisen zugleich auf die stets prekäre Abhängigkeit des psychiatrischen ( Nicht- ) Wissens von Datenerhebungen. In den Jahren um jenen Pariser Kongress wurden sowohl in Preußen150 als auch in der Schweiz151 Vorschläge zur internationalen Anwendung von Zählblättchen erarbeitet , um beispielsweise Korrelationen von Ätiologie und Verlauf psychischer Erkrankungen erfassen und vergleichen zu können. Auf dem 1872 in Petersburg tagenden „Internationalen Statistischen Kongress“ wurde ein Fragenkatalog zur Erstellung von „Irrenstatistiken“ erarbeitet , da es relativ unklar war , was überhaupt Gegenstand der Zählung sein sollte.152 Trotz des Mangels allgemein verbindlicher Kriterien wurden die quantitativen Erhebungen als dringend notwendig erachtet. Die unklare und umstrittene Einteilung wie auch Erfassung psychischer Erkrankungen führte zu Vorschlägen , diese nach rein pragmatischen Gesichtspunkten auszurichten , dabei dachte man beispielsweise an die Konstituierung einer eigenen nosologischen Einheit von Krankheiten , die als erblich angesehen wurden.153 Aber auch die „Gefährlichkeit der Geisteskranken“ sollte berechenbar werden. Da eine solche Definition , geschweige denn ein objektivierbares Verfahren , nur schwer möglich war , sollte an deren Stelle die stationäre Beobachtung treten. Bislang galt hierfür die Art der Erkrankung als das entscheidende Kriterium , so wurden beispielweise die an Epilepsie oder akuten Halluzinationen Leidenden als besonders bedrohlich erachtet. Theodor Meynert plädierte im Verein für Psychiatrie 149 Roelcke 2003 , 172 f. In der hierzu eingesetzten Kommission waren Wilhelm Griesinger , der Leiter der psychiatrischen Klinik an der Charité , Christian Roller , Direktor der deutschen Anstalt Illenau , und der Österreicher Jaromir Mundy. 150 Sander 1871. Die Zählkarten waren standardisierte , staatliche Formulare zur Erfassung von Patientendaten wie Symptome , Diagnose und Krankheitsverlauf. Vgl. auch zu den Diskussionen über die „Irrenstatistik“: Schmiedebach 1986 , 71–85. 151 Wille 1872. Vgl. dazu auch : Ritter 2003. 152 Psychiatrisches Centralblatt 2 ( 1872 ), 75. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 25. Mai 1872. Ein Entwurf wurde den Vorständen der Anstalten und der Vereine zur Begutachtung zugesandt. Auch die 1877 vom ­Wiener Verein vorgeschlagene Version eines „Zählblättchens“ zielte noch nicht auf eine Etablierung oder Differenzierung der bestehenden Einteilung der Erkrankungen : Anonym , Über die Erhebung der Geisteskranken außerhalb der Anstalten 1886. Bericht über den österreichisch-ungarischen Psychiatertag. Die erste dieser Tagungen wurde vom Direktor der ­Wiener Anstalt , Ludwig Schlager , 1882 , die zweite von Theodor Meynert , Moriz Gauster und Moriz Benedikt einberufen. Bei Letzterer hielt Meynert ein Referat über „psychiatrische Diagnostik zu Zwecken der Statistik des Irrenwesens“. Die „Irrenärztetage“ wurden später zu den „Wanderversammlungen des Vereins für Psychiatrie und Neurologie“. In : Obersteiner 1919 , 22. 153 Psychiatrisches Centralblatt 4 ( 1874 ), 126.

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„aus wissenschaftlichen Gründen“ für eine „Einteilung der Gefährlichkeit“ nach bestimmten Symptomen. Um die Definition zu standardisieren und damit erst zu ermöglichen , sollte eine kasuistisch basierte Direktive ausgearbeitet werden , welche auch praktischen Ärzten als klare und sichere Handhabe zur Entscheidung über Einweisungen dienen könne. Auf ähnliche Weise wären , so die Hoffnung , auch die Entlassungen der potenziell als gefährlich angesehenen Patienten handhabbarer zu machen. Sicherheit war hier besonders notwendig , denn bei den seitens der Psychiatrie auszustellenden Reversen blieb oftmals unprognostizierbar , ob ein Patient zu einem späteren Zeitpunkt wieder gefährlich werden könnte.154 Die Wünsche der Psychiater nach klar umgrenzten Kriterien ließen sich jedoch nicht realisieren , die tatsächlich erhobenen Daten wurden auch weiterhin in großer Streubreite erhoben. Die „k. k. statistische Zentralkommission“ ermittelte für die Jahre 1882 ( Tabelle 1 ) und 1906 ( Tabelle 2 ) folgende Kategorien und Zahlen :155 Männlich

Weiblich

Summe

Innerhalb der Anstalten

888

822

1710

Außerhalb der Anstalten

1219

1025

2344

„Kretins“

1026

842

1868

Summe

3133

2754

5887

Summe

Tabelle 1

Männlich

Weiblich

Innerhalb der Anstalten

2423

2266

4689

Außerhalb der Anstalten

1154

1115

2269

„Kretins“

774

563

1337

Summe

4351

3944

8295

Tabelle 2

Die Anzahl der im Jahre 1882 statistisch erfassten Kranken betrug im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung 2,47 Promille und verschob sich bis 1906 auf 2,43 Promille. Die Zahl der in Anstalten internierten Geisteskranken ( ohne „Kretins“ ) erhöhte sich innerhalb dieses Zeitraums von 1,7 auf 2,0 Promille und korrelierte dabei mit dem all-

154 Psychiatrisches Centralblatt 2 ( 1872 ), 125 f. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 26. Oktober 1872. 155 Starlinger 1908 /  09 , 266. Der Autor machte darauf aufmerksam , dass diese Zahlen eine geschlechtsspezifische Ungleichheit zeigen. Einerseits waren mehr männliche Patienten in den Anstalten , andererseits wurden auch bei den statistischen Erhebungen eher Männer als Frauen erfasst.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

gemeinen Bevölkerungszuwachs.156 Die Vermehrung der stationären Aufnahmen wurde nun vielmehr mit dem wachsenden Vertrauen der Bevölkerung begründet : Die der freieren Pflege verpflichteten öffentlichen Anstalten wären gegenüber der privaten Pflege zur besseren Alternative in der Versorgung psychisch Kranker geworden.157 Der Fokus auf die quantitative Erfassung psychisch Kranker ist vielmehr im Kontext der Modernisierungsbestrebungen des „Irrenanstaltswesens“ zu lesen. Deren Vertreter strebten danach , psychisch Erkrankte möglichst früh internieren zu können , und hofften auf diese Weise nicht nur diese Fälle besser beobachten zu können , sondern allgemein auf die relativ größeren Heilungschancen seitens ihrer nur wenig prestigereichen Disziplin.158 Zudem wären , so die Programmatik , Familien und Gemeinden von der Last der Pflege geisteskranker Menschen zu befreien , wie allgemein der lange Aufenthalt in der häuslichen Umgebung als einer der Gründe des verfrühten Erreichens des Stadiums der Unheilbarkeit angesehen wurde. Psychiater befürchteten darüber hinaus , dass geistige Erkrankungen sowohl auf die Umgebung als auch auf die Nachkommen übertragen werden könnten.159 Der Disput um den richtigen Zeitpunkt der Einweisung in eine psychiatrische Anstalt ist auch im Zusammenhang mit den Verpflegungskosten zu sehen , da diese teilweise von den Gemeinden zu tragen waren. Dies galt als Grund , warum psychisch Kranke , so die Klage , nur bei größter Gefahr für die Bevölkerung , wie beispielsweise bei drohender Brandstiftung , überwiesen wurden. Vertreter der Psychiatrie monierten die seitens der Bevölkerung oder auch der praktischen Ärzte mangelhafte Einsicht in die Notwendigkeit von Internierungsmaßnahmen. So galten angeblich „nicht einmal Unheilbarkeit , oder im Wege der Vererbung oder des üblen psychischen Einflusses auf andere Individuen“ den Angehörigen als hinreichende Gründe für eine stationäre Aufnahme.160 Die bei der Volkszählung von 1890 landesweit erhobenen Daten über Fälle „geistiger Gebrechen“ ( unterschieden nach „Irrsinnigen“ und „Cretins“ ) zeigten , dass diese zu einem überwiegenden Anteil , nämlich 52 Prozent , privat versorgt wurden. 35 Prozent der 156 Vgl. zum „demographischen Übergang“, dem raschen Anstieg der ­Wiener Bevölkerung um die Jahrhundertwende : Weigl 2000 , 63–69. 157 Vgl. zur Rolle der Angehörigen im Aufnahmeverfahren : Brink 2010 , 116–120. 158 Psychiatrisches Centralblatt 2 ( 1872 ), 102 f. ; Jahrbücher für Psychiatrie 10 ( 1892 ), 300. Bericht über die Wanderversammlung des psychiatrischen Vereins im Oktober 1891. Entsprechend dieser Annahme finden sich in der Fachliteratur Berechnungen , die auch in einem internationalen Vergleich auf die Früh­erkennung psychischer Erkrankungen und deren verbesserte Heilungschancen aufmerksam gemacht haben. In : Gauster 1877 , 20 f. Allg. zum Verhältnis von Wissenschaften und quantifizierender Verfahren : Porter 1995. 159 Schasching 1873. Diese Berechnung ergab ein Verhältnis von einem Geisteskranken auf 350 bis 400 Einwohner. 160 Ebd., 40 f.

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Registrierten waren in Institutionen für psychisch Kranke und 13 Prozent in Versorgungsanstalten untergebracht.161 Der Niederösterreichische Landtag beschloss 1905 die Einrichtung eines „statistischen Bureaus“, um sowohl die rasant angestiegenen Ausgaben zur Versorgung der psychisch Kranken als auch die Wohlfahrtsanstalten kontrollieren zu können. Die Angaben der statistischen Zentralkommission galten , wie beschrieben , wegen ihrer beschränkten finanziellen Mittel zur Erhebung ausreichender Daten als ungenügend. Ein für die Errichtung der Anstalt Am Steinhof neu gegründeter Landesausschuss wurde mit der Leitung dieses neuen Büros betraut und sollte etwaige Korrelationen von Morbidität und Mortalität mit statistischen Angaben zum Beruf und Familienstand der Erkrankten auffinden und Daten zu den aus den Anstalten als geheilt oder gebessert Entlassenen erstellen.162 Politiker schalteten sich mit alternativen Vorschlägen in diese Diskussion ein und fokussierten dabei auf Erkrankungen wie die „Neurasthenie“ oder die aufgrund moderner Lebensbedingungen angeblich häufiger gewordenen „Nervenkrankheiten“. Ritter von Lindheim , Abgeordneter im Niederösterreichischen Landtag , konstatierte , dass „die Medizin nicht alles tun [ könne ], die Statistik müsse nachhelfen“. Seinen Berechnungen zufolge wären „Nervenerkrankungen“ von 100. 000 untersuchten Arbeitern in modernen Betrieben zu 80 Prozent der „Neurasthenie“ zuzurechnen. Arbeiter bei Eisenbahnen und elektrischen Betrieben seien im Vergleich zu anderen Berufsgruppen gar um 20 Prozent häufiger von dieser Erkrankung betroffen. Spezielle Einrichtungen für „Nervenerschöpfte“ aus dem Arbeiterstand sollten folglich die kostenintensive Aufnahme nur leicht Erkrankter in die ohnedies überfüllten Anstalten – wenn möglich – vermeiden.163 Im Zuge dieser Debatten wurden im Niederösterreichischen Landtag weitreichende , eugenisch motivierte Forderungen gestellt :164 Junge Leute sollten verpflichtet werden , sich vor ihrer Heirat einer Untersuchung ihrer geistigen Gesundheit zu unterziehen , „erblich Belastete“ sollten erst gar keine Ehe eingehen dürfen , da „man im Voraus sieht , dass sie eine Generation in die Welt setzen werden , die geistig umnachtet ist und daher lebenslänglich dem Unglück und Elend zum Opfer fällt“.165 161 Krayatsch 1895 , 306. Allerdings war auch das Versorgungssystem in den jeweiligen österreichischen Ländern sehr unterschiedlich ausgebaut. 162 STPNÖ , 8. Sitzung der IV. Session am 5. Juni 1905 , S. 190. 163 STPNÖ , 34. Sitzung der I. Session am 12. Oktober 1903 , S. 1249 f. Einrichtungen dieser Art gab es zu diesem Zeitpunkt bereits in Frankfurt und auch in der Schweiz. Sanatorien für „Nervenkranke“ existierten schon länger , waren aber nur für Patienten bestimmt , die für ihre Unterbringung selbst aufkommen konnten. 164 Vgl. dazu allg. : Baader , Hofer , Mayer 2007. 165 STPNÖ , 8. Sitzung der IV. Session am 5. Juni 1905 , S. 193. Stellungnahme Abgeordneter Matthias Bauchinger.

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Bei den zahlreichen Versuchen der quantifizierenden Erfassung psychischer Devianzen rückten einige Krankheitsformen in den Fokus sowohl der Landesverwaltung als auch der Mediziner. Die progressive Paralyse , das Spätstadium einer Syphilisinfektion , galt insbesondere in den Städten als weitverbreitet und wurde vielfach mit den „Schädlichkeiten des socialen und Culturlebens unserer Zeit“ oder allgemein mit den Gefahren des Lebens in der modernen Gesellschaft assoziiert. 166 Diese milieutheoretischen und volkshygienischen Spekulationen waren damals so verbreitet , dass nicht nur die Infektion mit Syphilis als einer der möglichen Krankheitsauslöser galt , sondern auch „die Existenzbedingungen des Menschen , der Kampf ums Dasein“, übermäßiger Alkoholgenuss , Bleivergiftung , hereditäre Bedingungen und bei Frauen auch schwierige Geburten oder das Klimakterium.167 Belastbar waren die meisten statistischen Daten dabei kaum. Krafft-Ebing zog darum ausdrücklich nur Angaben heran , die seitens der psychiatrischen Institutionen erstellt worden waren. Daten aus den urbanen Lebenswelten berücksichtigte er dabei nicht. In den Jahren von 1873 bis 1877 lag die Zahl dieser Krankheitsfälle in der Klinik bei 15,7 Prozent aller männlichen und 4,4 Prozent aller weiblichen Patienten.168 Im Zeitraum von 1888 bis 1892 war der Anteil der progressiven Paralyse im Vergleich zu anderen Krankheiten auf 19,7 Prozent beziehungsweise zehn Prozent angestiegen.169 Neben der Paralyse war es im Weiteren der Alkoholismus , der die Aufmerksamkeit der Psychiater auf sich zog.170 Die Daten bestätigten auch hier die zwischen den Geschlechtern sehr ungleich verteilten Erkrankungsraten : In den frühen 1880er-Jahren lag das Verhältnis der von den Statistiken erfassten männlichen wie weiblichen Alkoholikern bei knapp 24 zu 1 , verringerte sich aber bis zur Eröffnung der neuen Anstalt auf ein Verhältnis von 7,6 zu 1.171

166 Krafft-Ebing 1895 , 127. 167 Hirschl 1896 ; vgl. zu den vielen als ursächlich vermuteten Faktoren dieser Erkrankung auch : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 14 ( 1896 ), 547 f. Bericht der Wanderversammlung in Prag im Oktober 1895. 168 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 2901 / 1907. Die Österreichische Gesellschaft zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten vermutete die Ursache der progressiven Paralyse in der Infektion. Die dort erhobenen Zahlen ergaben ebenfalls eine geschlechtsspezifische Differenz : Die Relation der erkrankten Frauen und Männer stieg im Zeitraum von 1882 bis 1886 von 5 :1 zu dem von 1902 bis 1908 auf 3 :1. Emil Kraepelin stellte eine ähnliche Zunahme der an Paralyse erkrankten Frauen fest. Vgl. dazu auch : Richter 1907 /  08. Richter war von 1907 bis 1912 Primar und Abteilungsvorstand der Frauenheilanstalt Am Steinhof und ab 1912 Leiter des Sanatoriums. 169 Krafft-Ebing 1895 , 130. Andere Institutionen berichteten von noch weit signifikanteren Anstiegen. 170 Vgl. ausführlicher zu dem sich in den frühen 1920er-Jahren veränderten Umgang mit Alkoholikern Abschnitt 6. 2.  171 Richter 1907 /  08 , 228.

2.3 Zählen und Bauen. Gefährlichkeit und Erblichkeit

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Hintergrund all der Zahlenflut ist nicht nur ein Rechtfertigen der Finanzierung der ungemein raschen Aus- und Neubauten psychiatrischer Anstalten. Zugleich wurden deren mangelnde therapeutische Erfolge durchaus auch intern beargwöhnt. Selbstkritische Standesvertreter waren nämlich der Ansicht , dass „Irrenanstalten“ lediglich Pflegestätten seien , damit per se keinerlei Heilungschancen böten : Nicht einmal der Verlauf an sich heilbarer Psychosen könne hier beeinflusst werden , ja , die stationäre Unterbringung in den überfüllten Wachsälen fördere Erkrankungen sogar.172 Verteidiger traditioneller Herangehensweisen warfen ihren Opponenten wiederum „therapeutischen Nihilismus“ vor : „Wenn auch der therapeutische Wert eines Anstaltsaufenthaltes vielfach überschätzt worden sei“, sollte der grundlegende Anspruch auf eine ursächliche Behandlung weiterhin das anzustrebende Ziel der stationären Psychiatrie sein. Die Hoffnungen richteten sich auf zukünftige Lösungen , wie vor allem die für manche psychischen Erkrankungen vermuteten exogenen Auslöser , vor allem aber auf eine administrative Vereinfachung und Beschleunigung der Aufnahmeverfahren , welche auch Akutkranke in die Anstalten bringen sollten. Für viele Kranke wäre gemäß der konventionellen Anstaltspsychiatrie die stationäre Behandlung ohnehin eine „indicatio vitalis“, da sie außerhalb einer solchen wegen Selbstmord , allgemeiner Erschöpfung oder Unfällen gar nicht überleben könnten. Im Weiteren lägen Sinn und Nutzen einer Anstaltsbehandlung bei akuten Psychosen , Angstzuständen , Epilepsie und Alkoholsucht klar auf der Hand. Mittel der Wahl bleibe demnach „eine zweckmäßige Bauanlage , die sorgfältige Gruppierung der Kranken“ und der Ausbau der Möglichkeiten zur Beschäftigungstherapie , somit der Aufenthalt in einer „zeitgemäß angelegten Anstalt“.173 Die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ entging somit den Vorwürfen wenig wirksamer Versorgung auf die ihr eigene Art , nämlich mit dem weiteren Ausbau bestehender Versorgungsmodelle , welche es erlaubten , eine ausreichende Zahl an Kranken zu internieren und zu beobachten und damit stets zukünftige Lösungen zu projektieren. Im Jahr 1893 wurde die Verantwortung der sogenannten „harmlosen Kranken“ den Gemeinden entzogen und dem Land Niederösterreich übertragen. Mit dieser Rege172 Scholz 1908 /  09. Die Auseinandersetzung wurde vom Direktor der deutschen Anstalt in Obrawalde entfacht. Diese hatte er , wie er sich bemüßigt fühlte festzuhalten , nur in der Verborgenheit des Fachblattes geführt. Sein Opponent Friedrich Alt habe diese Auseinandersetzung in die Jahresversammlung der deutschen Irrenärzte , somit in eine breitere Öffentlichkeit getragen. Scholz und mit ihm auch einige andere Ärzte vertraten die Meinung , dass es gänzlich ungeklärt sei , ob die – ohnehin seltene – Heilung mancher Psychosen nicht auch ohne stationären Aufenthalt stattfinden könne , beziehungsweise es nicht erwiesen sei , ob sich die Rate der Heilungen bei früheren Aufnahmen tatsächlich ändere. Ebd., 177. 173 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 10 ( 1908 ), 183 f. Bericht über die Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu Berlin am 24. und 25. April 1908.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

lung wurden nicht nur die finanziellen Verpflichtungen von den Gemeinden auf die Länder verlagert ; der Bedarf an Versorgungsplätzen und damit an Anstaltsraum stieg erneut stark an.174 Die von der Landesverwaltung zum Zweck der Entlastung eingerichteten Filialen führten nur zu kurzfristigen Lösungen des anhaltenden Problems der Überbelegung der Institution Am Brünnlfeld.175 Jenseits der organisatorischen wie auch finanziellen Folgen der Übernahme der einer konstanten Betreuung bedürftigen Kranken , ist an dieser Stelle auf eine weit wirkmächtigere Entwicklung aufmerksam zu machen. Die Anstaltspsychiatrie musste nicht nur organisatorisch und finanziell neu ausgerichtet werden , um den wachsenden Betreuungsbedarf decken zu können. In der scheinbar bloß äußerlichen , nämlich institutionellen Neuorganisation drückt sich vielmehr auch ein neues Selbstverständnis der Anstaltspsychiatrie , letzten Endes sogar ein neues Verhältnis zu Geisteskrankheiten überhaupt aus. Denn jenes Herausheben der Zuständigkeit aus lokalen und kommunalen Belangen ist als bürokratisches Vollzugsmittel eines veränderten gesellschaftlichen Verhältnisses zu psychisch Kranken anzusehen , mit welchem das spezifische Versorgungsangebot maßgeblich erweitert wurde.176 In der gesamten österreichisch-ungarischen Monarchie gab es 1907 insgesamt 36 Anstalten beziehungsweise 23. 000 Betten für psychisch Kranke ; in privaten Sanatorien konnten etwa vierhundert Personen Aufnahme finden. Zu diesem Zeitpunkt waren weitere tausend Plätze in der Anstalt Kremsier in Mähren , zweitausend in Böhmen und weitere zweitausend in ­Wien mit der neuen Anstalt Am Steinhof geplant.177 Diese – rein quantitativ gesehen – enorme Ausdehnung der Versorgung psychisch Kranker , aber auch die im folgenden Kapitel zu erläuternden Reformen inhaltlicher Natur , wie die Durchführung der freien Pflege , die extensive Beschäftigungstherapie , die Wachabteilungen mit Bettbehandlung und die Angliederung landwirtschaftlicher Kolonien , waren – gemäß den Selbstzuschreibungen – im Ausland allgemein anerkannt. Die kostspieligen Neubauten einer „geregelten Irrenpflege“ wurden seitens der Niederösterreichischen Landesverwaltung als „vom wirtschaftlichen Standpunkt her empfehlenswert“ beworben.178 Zu den Vorzügen der Neugründungen zählten nach

174 Starlinger 1908 /  09. 175 Richter 1907 /  08 , 227. Innerhalb des Zeitraumes von 1865 bis 1906 verdoppelte sich die Zahl der jährlich aufgenommenen Kranken von 1. 440 auf 3. 029. Die Anstalt war um die Jahrhundertwende etwa um ein Viertel über den ursprünglich bestimmten Bettenstand mit Kranken belegt. 176 Vgl. dazu auch : Walter 1993 , 78. 177 In Cisleithanien wurden in den letzten zwei Jahrzehnten der Monarchie insgesamt sieben öffentliche Anstalten neu erbaut , viele andere erweitert : Schlöß 1912. Berichte zu den österreichischen Anstalten auch in einem internationalen Vergleich : Pandy 1908 , 393–425. 178 Gerényi 1908 /  09 , 394.

2.4 Psychiatrische Polytechnik: Die Gründung einer ‚modernen‘ Anstalt

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zeitgenössischer Auffassung nicht nur die „zeitgerechte Erziehung idiotischer Kinder“ zu möglichst nützlichen Arbeiten , sondern auch die wirtschaftlichen Erträge der Beschäftigungstherapie und die vorbeugenden Maßnahmen bei Alkoholismus und Syphilis. Ökonomisches Kalkül und Konzepte des Heilens und Pflegens spielten zusammen , um den seitens der Landesverwaltung wie auch seitens der Psychiatrie angemeldeten Bedarf nach Versorgung psychisch Kranker und Betreuungsbedürftiger zu decken und den Aufwand neuer Bauten zu rechtfertigen. Berechnungen wie Interpretationen verweisen gleichermaßen auf ein Ineinandergreifen des seitens der Landesverwaltung und auch der Psychiatrie propagierten Bedarfs zur Versorgung psychisch Kranker und Betreuungsbedürftiger. Das mittels Statistiken sich konstituierende und zunehmend prophylaktisch orientierte Wissen bildete die Grundlage der nun ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ und sollte mit der Neugründung der ­Wiener Anstalt Am Steinhof auf umfassende Weise nun im doppelten Sinne des Wortes untermauert werden.

2.4 Psychiatrische Polytechnik: Die Gründung einer ‚modernen‘ Anstalt Die Besonderheit der Institution Am Steinhof bestand in der Verbindung von traditionellen Elementen mit einer bislang unbekannten Großdimensionierung der Gesamtanlage und einer Ästhetisierung psychiatrischer Unterbringung , welche auf die jenseits des konkreten Ortes zum Vorschein kommende Bedeutung von Räumlichkeit verweist.179 Die Anlage wurde sowohl von der Ordnung der konkreten Räume geprägt als auch von deren gefühlshafter Wirkung auf die Insassen , das medizinische Personal wie auch die Besucher. Die Gestaltung des Raumes ist sowohl eine des konkreten Innenraumes als auch eine Gestaltung der Binnenwelt der Anstalt im Verhältnis zur Außenwelt. Die Wahl des Ortes imponiert als ein ( imaginierter ) Blick der Außenstehenden. Die Anstalt ist außerhalb der eigentlichen Stadt gebaut , jedoch gerade nicht an einem bloß entlegen , abgetrennten oder versteckten Ort , an dem sie nicht gesehen werden könnte und von dem aus die Anstaltsbewohner die Stadt umgekehrt nicht sehen würden. Am Steinhof ist somit ein herausragender Fall in der Geschichte der Anstaltspsychiatrie , mit der es immer auch um „etwas“ geht , das die Lebenswelt von Menschen dauernd berührt und beschäftigt beziehungsweise sehr präsent und prägend ist , obwohl oder gerade weil es räumlich ausgelagert wurde.180 179 Mit jener Raumtransformation sind die veränderten Räumlichkeiten , wie auch die trotz aller Veränderungen gleichbleibenden Relationen mit in den Blick zu nehmen : vgl. Günzel 2008 , hier : 222. 180 Vgl. dazu allg. : Cooter 2004. Die Anstalt war der ­Wiener Bevölkerung ein beliebtes Ausflugsziel , welches man , ebenso wie Schönbrunn mit Menagerie , Palmenhaus und Gloriette oder diverse Museen per „Salonwagen der städtischen Straßenbahnen“ erreichen konnte. Vgl. Fritsch 2014 , 87. Ob der auch in

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Mit der 1907 eröffneten , an der Grenze des XVI. und XIII. Gemeindebezirks gelegenen Heil- und Pflegeanstalt und des ihr zugehörigen Sanatoriums wurde die Einrichtung Am Brünnlfeld aufgelassen. Der Bauweise einer ‚modernen Anstalt‘ , dem harmonischen Ineinanderwirken von Nutzen und Ästhetik wurde von den Vertretern des Fachs höchste Bedeutung zugemessen. Die Konzeption von ‚Steinhof‘ folgt hierin im Prinzip einer europaweiten Entwicklung. Ein solcher Bau hatte keine funktionale Verwahranstalt zu sein , sondern ein gestalteter und damit sinnhaft aufgeladener Lebensraum. Gemäß der Initiative zur Gründung einer Fachzeitschrift namens „Psychiatrische Polytechnik“ sollten „Irrenärzte mit Architekten , Künstlern , Ingenieuren , Mechanikern und Handwerkern aller Art zusammenarbeiten , um ein schönes , zweckmäßiges , durchgearbeitetes , abgerundetes Ganzes , mit einem Worte ein Werk aus einem Guß zu schaffen“.181 Denn die Entwicklungen der stationären Psychiatrie und im Besonderen die freie Behandlung der Kranken sollte sowohl nach innen als auch nach außen deutlich sichtbar werden.182 Die Öffnung des Innenraums zur Umgebung und zur Lebenswelt wie auch die nahezu ästhetisierte Ordnung des Lebens in der Institution waren zentrale Elemente der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘. Diese Öffnung war eine programmatische Abkehr von dem vorhergehenden Konzept des Wegschließens und Verwahrens – es war jedoch keine Öffnung , die die Welten der Kranken und der Gesunden durchdringbar machen sollte. Vielmehr ist der malerisch gestaltete , halb idyllische Ort Am Steinhof offen – und doch dem urbanen Lebensalltag der Gesunden entrückt , am Hang am Rande der Stadt. In dieser räumlichen Konstellation sedimentiert sich Ordnung in vielerlei Gestalt. Michel Foucaults Modell „anderer Räume“ drängt sich hier geradezu auf.183 Wenn man die Anstalt Am Steinhof mit ihrem Konzept der Heterotopie als ortsgebundene , realisierte Utopie charakterisiert , kann man in diesem „Gegenort“ mit Foucault die wirklichen Orte zugleich repräsentiert , infrage gestellt und ins Gegenteil gekehrt sehen. Psychiatrische Institutionen als prototypische Abweichungsheterotopien zu bezeichnen , welche Menschen aufnehmen , deren Verhalten mit der geforderten Norm nicht konform geht , liegt nahe , allerdings ist das Verhältnis des Steinhof-Ensembles

den Verwaltungsakten der Institution Am Steinhof wiederholt angemerkte , ungemein große Besucherandrang bloß einem architektonischen Interesse an Anstalt und Kirche oder aber dem voyeuristischen Blick auf ein „Anderes“ galt , bleibt der Nachwelt notwendigerweise verborgen. 181 Bach 1908 /  09 , 328 f. Bach war dirigierender Arzt der Heilanstalt Sonnenhalde bei Basel. Vgl. zur architektonischen Gestaltung des privaten Sanatoriums Purkersdorf : Topp 2004 , 63 f. und die der Anstalt in Mauer-Öhling : Topp 2007a. 182 Vgl. allgemein zur Bedeutung der Architektur beim Krankenhausbau : Brandt , Sloane 1999. 183 Foucault 1967 / 1984. Vgl. dazu auch : Dünne 2006. Foucaults Text basiert auf einem Vortrag von 1967 und wurde 1984 publiziert : ebd., 292 f.

2.4 Psychiatrische Polytechnik: Die Gründung einer ‚modernen‘ Anstalt

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zur Außenwelt keineswegs nur als bloße Ausgrenzung des Abnormen zu beschreiben.184 Die Beziehung von Anstalt und städtischem Leben ist weitaus komplizierter als es in solchen dualistischen Modellen fassbar wäre. Im Unterschied zu den früheren Einrichtungen verkörperten die neu zu erbauenden Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof und das ihnen angeschlossene Sanatorium mit ihrer dezidiert nach außen gerichteten Wirkung auf besondere Weise eine im Folgenden zu charakterisierende , vielgestaltige inhärente strukturelle Spannung sowohl in sich als auch zur Außenwelt. Mit der Neugründung Am Steinhof wurden Anstalts- und Universitätspsychiatrie topografisch und inhaltlich voneinander getrennt. Um diese Kompetenzen aufteilen zu können , bedurfte es umfangreicher administrativer Änderungen , welche zugleich den Anstoß für den Bau von Kliniken und eines  ebenfalls am Stadtrand gelegenen Versorgungshauses bildeten. Die Anstalt Am Brünnlfeld wurde 1901 vom Land Niederösterreich an den ( ihr zugehörigen ) ­Wiener Krankenanstaltenfonds abgetreten185 und von diesem ein Jahr später an den Staat verkauft. Maßgeblicher Initiator des Neubaus Am Steinhof war Leopold Steiner , Referent für Wohlfahrtsangelegenheiten im Niederösterreichischen Landesausschuss. Ab 1905 hatte er auch die Bauoberleitung inne.186 In der Psychiatrischen Wochenschrift wurden die in Planung befindlichen Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt ­Wien euphorisch beschrieben : „­Wien erhält gleichzeitig ein neues allgemeines Krankenhaus , eine neue große Irrenanstalt ( man spricht von 2. 000 Betten ) und eine neue Versorgungsanstalt. Das klinische Krankenhaus kommt auf das Areal des jetzigen Versorgungshauses und der Irrenanstalt. Das Versorgungshaus und die neue Irrenanstalt werden an die Peripherie verlegt.“187 184 Foucault 1967 / 1984 , 320 f. Neben diesen beschreibt er sogenannte Krisenheterotopien , besondere und heute zunehmend im Verschwinden begriffene Orte , die Menschen vorbehalten sind , welche sich in einem Krisenzustand befinden. 185 Psychiatrische Wochenschrift 3 ( 1901 /  02 ), 192. Notizen. Dieser Vertrag war der Beginn von Verhandlungen , die über ein Jahrzehnt zwischen dem Ministerium für Kultus und Unterricht , der Niederösterreichischen Statthalterei ( seitens des ­Wiener Krankenanstaltenfonds ) und dem Niederösterreichischen Landesausschuss ( seitens des „Irrenfonds“ ) geführt wurden. Das Anstaltsgebäude wurde erst ab Beginn des Jahres 1911 für die Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik genutzt : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 12 ( 1910 / 11 ), 440 f. Diese Räumlichkeiten wurden 1974 im Zuge der Neuerrichtung des Neuen Allgemeinen Krankenhauses gesprengt. 186 STPNÖ , 6. Sitzung der IV. Session am 2. Juni 1905 , S. 115. Vgl. dazu auch : Gerényi 1907 /  08 , 216 f. Zu den Interessen der Christlich-Sozialen Partei an diesem Projekt , zu Leopold Steiner und Hermann Bielohlawek , Leiter der niederösterreichischen Landeshumanitätsanstalten ( 1905–1918 ): Boyer 1995 ; Boyer 2010. Zur Erbauung der Anstalt vgl. auch : Gabriel 2007 , 23 f. 187 Psychiatrische Wochenschrift 3 ( 1901 /  02 ), 326. Mitteilungen. Die Versorgungsanstalt Lainz wurde 1904 für 2. 200 Personen eröffnet. Die „Neuen Kliniken“ wurden zu Beginn der Planungsphase für 2. 400 Patienten konzipiert und 1911 für knapp 900 Patienten realisiert. Vgl. Keplinger 2009 , 29 f.

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Die strategische Trennung von Forschung und Versorgung offenbart ein äußerst ambivalentes Engagement. Die psychiatrische Klinik verblieb sowohl topografisch als auch inhaltlich im Zentrum der Stadt. Die enormen Investitionen am Rande der Metropole wie auch am Rande der Gesellschaft hatten immer auch zivilisationshygienische Gründe : Sie dienten nicht zuletzt der Herstellung einer wohlgeordneten , modernen Großstadt , welche mit dem durchgestalteten , in mancher Hinsicht avancierten Gesamtkunstwerk keineswegs bloß als Entsorgungsort für Abnormale imponieren wollte. Den Anforderungen einer großstädtischen „Irrenpflege“ entsprechend , sollten drei unterschiedliche Abteilungen , eine Heilanstalt mit 800 , eine Pflegeanstalt mit 900 und ein Sanatorium mit 300 Betten im Pavillonbaustil errichtet werden. Sowohl das Landesbauamt als auch der Architekt Otto Wagner legten hierzu Pläne vor. In den eigens eingerichteten Ausschüssen wurde sehr uneinheitlich votiert. Eine Neuausschreibung wurde allerdings vom Niederösterreichischen Landtag aufgrund des Zeitdrucks abgelehnt. Der wegen der ausgeprägten Terrainunterschiede des Grundstückes ursprünglich als undurchführbar angesehene Plan Otto Wagners konnte nach einigen Abänderungen schlussendlich die Mehrheit der Stimmen der Landtagsabgeordneten erlangen.188 Gänzlich anders verhielt sich dies jedoch bei den Planungen zur Anstaltskirche. Otto Wagners ganz dem Jugendstil verpflichtete Vorschläge riefen im Landtag größten Widerspruch hervor. Um noch ausreichend Zeit für eine neuerliche Ausschreibung zu haben , sollte der Bau der Kirche erst nach Anstaltseröffnung fertiggestellt werden. Die Kritik einiger Vertreter im Landtag entzündete sich vor allem an derem secessionistischen Stil. Der geplante Zentralbau an sich fand Zustimmung , keineswegs aber die innere Gestaltung der Kirche. Diese erinnere , wie es hieß , nicht mehr an ein christliches , sondern vielmehr an ein interkonfessionelles Gotteshaus , der „assyrisch-babylonische Stil“ würde gar den Eindruck eines „Grabmahls eines indischen Maharadschas“ vermitteln.189 Spöttische Stellungnahmen wie „Idiotenstil“ und die „Übertragung des goldenen Krauthapl“ [ eine ­Wienerische Bezeichnung der Secession ; S. L. ] auf die neuen Heil- und Pflegeanstalten fanden ebenso Eingang in die Protokolle des Landtags.190 Weitere Änderungswünsche gab es hinsichtlich der Form der 188 STPNÖ , 34. Sitzung der I. Session am 12. November 1903. 1249–1265. Die einzige Einschränkung an Otto Wagner war , dass zur Realisierung der Pläne keine weiteren Flächen angekauft werden durften. Beschluss zur Annahme des Situationsplans : ebd., 1264. Otto Wagners „Situationsplan über die Hauptdisposition sämtlicher Bauwerke“ orientierte sich teilweise an der vom Baukomitee vorgeschlagenen Lösung , ersetzte aber deren Idee unregelmäßig angeordneter Pavillons durch eine streng symmetrische Konzeption : Haiko , Leupold-Löwenthal , Reissberger 1981 , 25 f. Vgl. dazu allg. : Topp 2005. 189 STPNÖ , 34. Sitzung der I. Session am 12. November 1903 , 1259 f. Stellungnahme Abgeordneter Carl Costenoble. 190 Der Abgeordnete Josef Strobach meinte gar : „Gemüse muss bei der Secession immer dabei sein , statt dem Krauthapl ist hier ein umgekehrter Rettig aufgestellt.“ Ebd., 1260.

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Kuppel und des Statutenschmuckes.191 Wegen der vielen Bedenken wurden Wagners Pläne sogar dem ­Wiener Erzbischof vorgelegt. Seitens der Bischofskonferenz wurden diese jedoch nicht als der katholischen Auffassung widersprechend beurteilt und daher genehmigt.192 Unter maßgeblicher Unterstützung Leopold Steiners wurde Otto Wagner nun auch die Konzeption der Kirche übertragen , welche heute zu den bedeutendsten Bauwerken der österreichischen Jugendstil-Moderne zählt.193 Die bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzte Pavillonbauweise stellte spätestens ab den 1880er-Jahren das allgemein übliche Modell für die sich als modern verstehenden und immer größer dimensionierten Anstalten für psychisch Kranke dar. Der auch „Zerstreuungssystem“ genannte Baustil war ursprünglich aus hygienischen Gründen heraus entwickelt worden. Mit der Entwicklung der Anti- und Asepsis und der Etablierung der Bakteriologie verlor der Hygienefaktor zunehmend an Relevanz für diese bautechnische Ausrichtung.194 Die nun häufig auch mehrgeschoßigen Pavillons unterschieden sich , wie mitunter auch kritisch bemerkt wurde , nur mehr darin , einander in der Distanz zwischen den Häusern überbieten zu wollen. Die Vorteile des Pavillonbaustils bestanden vor allem in der räumlichen wie akustischen Trennung und der eher realisierbaren freieren Behandlung der psychisch Kranken , welche die Abgrenzung zu dem „düsteren Gefängnisartigen früherer Anstalten“ auch nach außen hin erkennbar machen sollten.195 Die Organisation des Neubaus Am Steinhof wurde von einem Komitee übernommen. Ihm gehörten der Landesinspektor Fedor Gerényi , der bereits beim Bau von Mauer-Öhling verantwortliche Landesbaurat Carlo von Boog ( und nach dessen Tod Franz Berger ), der Rechnungsrat Franz Bertgen , der Direktor der früheren ­Wiener 191 Ebd., 1264. 192 STPNÖ , 8. Sitzung der II. Session am 18. Oktober 1904 , 220. In der „Neuen Freien Presse“ hieß es anlässlich der Anstaltseröffnung : „Und ist es nicht eine hübsche Ironie des Schicksals , dass so ziemlich das erste vernünftige ‚secessionistische‘ Gebäude großen Stils in ­Wien für die Irrsinnigen gebaut ist ?“ Zitiert in : Haiko , Leupold-Löwenthal , Reissberger 1981 , 35. 193 John Boyer charakterisiert die offenbar sehr aufgeladene Situation im Landtag folgendermaßen : „Although Leopold Steiner , Victor Silberer and Robert Pattai were able to secure their colleagues’ grudging consent in the Lower Austrian Diet to Otto Wagner’s plan for the church at the Am Steinhof sanitarium , no similar consensus could be found in the City Council for any of Otto Wagner’s several designs for a monumental city museum. [ … ] In their divided sympathies about modernist architecture Christian Social politicians simply reaffirmed the extraordinary difficulty of assigning fixed and consistent coordinates to ‚traditional‘ and ‚modern‘ in Vienna after 1900.“ In : Boyer 1995 , 10 f. Vgl. zur Kirche : Fritsch 2014 ; Topp 2005 , 146 f. ; Koller-Glück 41991 ; Anonym , Erläuterungen zur Bauvollendung der Kirche 1907. 194 Als die erste große Pavillonanlage gilt das Allgemeine Städtische Krankenhaus in Friedrichshain in Berlin. Vgl. Murken 1971 und auch : Keplinger 2009. 195 Anonym , Zum Bau von Irrenanstalten 1908 /  09. Der Autor übte scharfe Kritik an den „Mammutanstalten , die wie Pilze aus dem Boden schießen“ würden.

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Anstalt Adalbert Tilkowsky , der dortige Primararzt Josef Starlinger und Josef Krayatsch , der Leiter der Anstalt Kierling-Gugging , an.196 In einer sehr frühen Phase der Planungen dachte man daran , mehrere kleine Heil- und Pflegeanstalten zu bauen. Das Komitee favorisierte auf Anraten der Verwaltungs- und Bauexperten aus administrativen und finanziellen Gründen eine einzige , große Institution. Allgemein galt sowohl aus medizinischen als auch organisatorischen Gründen eine Belegzahl von insgesamt 600 bis maximal 1. 000 Patienten als die größte zu verwaltende Einheit.197 Da die traditionell stark hierarchisch geprägte Verwaltung und Leitung in der Hand einer Person als nicht mehr realisierbar erschien , waren die Aufgaben des Direktors auf bestimmte Kernbereiche zu konzentrieren. Es wurde ihm ein Verwaltungsbeamter zur Seite gestellt ,198 vor allem aber der Zuständigkeitsbereich der Abteilungsvorstände erweitert.199 Der erste Direktor der größten psychiatrischen Anstalt des europäischen Kontinents , Heinrich Schlöß ( 1860–1930 ; Direktor bis 1918 ),200 erläuterte die Gründe zum Beschluss des enormen Neubaus rein quantitativ : Das rasche und fortwährende Anwachsen der Stadt , die Übernahme der „Geistessiechen“ in die Verantwortlichkeit der Landesverwaltung und die unabsehbaren Rückwirkungen des Heimatgesetzes von 1896 ließ die Zahl der zu Versorgenden stetig wachsen. Die Anlage mit den insgesamt 60 Pavillons sollte etwaige Erweiterungen der Belegzahl erlauben.201 Denn die zuständigen Behörden rechneten mit einem stetig steigenden Bettenbedarf und plädierten , insbesondere bei der Konzeption der Wirtschaftsräume , für zukünftig mögliche Versorgungskapazitäten bis zu 3. 000 Patienten.202 Für die Unterbringung von Kranken waren insgesamt 36 Pavillons vorgesehen , weitere dienten der Administration und als Wohnraum für die Angestellten. Bereits während der Planungsphase wurde der Gesamtbelegraum auf nunmehr 2. 200 Kranke erweitert. Wesentliche fi196 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 4 ( 1902 /  03 ), 193. Mitteilungen. Ein Modell der Anlage von Erwin Pendl befindet sich heute im ­Wiener Technischen Museum. 197 Prinzipiell gab es drei unterschiedliche Modelle der Leitung von Anstalten , ein ärztliches , ein beamtetes und die Möglichkeit einer paritätischen Aufteilung zwischen diesen. Bis zu der Zeit der Gründung von Kliniken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es üblich , dass nur der Direktor eine psychiatrische Ausbildung hatte. Um die Jahrhundertwende hatte die überwiegende Anzahl der Anstaltsärzte bereits psychiatrische Kurse in ihrem Studium belegt : Starlinger 1902 /  03 , 99. 198 Der Verwaltungsbeamte war vor allem für die Abrechnung aller Verpflegungskosten zuständig : Bresler 1907 /  08 , 215. Vgl. dazu auch : Statut für die N. Ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke „am Steinhof “ in ­Wien  , XIII ( ­Wien 1907 ). Sonderabdruck aus dem ­Wiener Institut für Geschichte der Medizin. 199 Schlöß 1907 /  08. 200 Vgl. dazu die Personenangaben in : Kreuter 1996 , Bd. 3 , 1278 f. ; Gabriel 2007 , 160. 201 Gerényi 1907 /  08 , 219. 202 Schlöß 1907 /  08 , 240 f.

2.4 Psychiatrische Polytechnik: Die Gründung einer ‚modernen‘ Anstalt

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nanzielle Vorteile erhofften sich die Planer von der gemeinsamen Verwaltung der Vielzahl der Patienten : Die technische Konstruktion ging mit der Maßgabe ökonomischer Effizienz Hand in Hand. Die von ärztlicher Seite geäußerten Bedenken hinsichtlich eines seitens der Leitung nur schwerlich zu behaltenden Überblicks spielten angesichts der ökonomischen Vorteile einer groß dimensionierten Anstalt eine nur untergeordnete Rolle. Die Grundsteinlegung zum Bau erfolgte in Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph im September 1904 , die Eröffnung der Anstalt fand unter der Patronage des Thronfolgers Franz Ferdinand im Oktober 1907 statt. Die , gleich einer autonomen Enklave , entrückt von der Metropole und schon bald als „die weiße Stadt“203 benannte Institution war von Gartenanlagen umgeben und einer langen Mauer umfasst.204 Der Einrichtung eines Gartens wurde allgemein große therapeutische Bedeutung zugeschrieben.205 Dieser ermöglichte einen integrierenden wie ungestörten Blick , sowohl von außen nach innen als auch umgekehrt. Die ausgrenzende Parzellierung und Isolierung der Anstalt ist somit weniger sichtbar , von innen betrachtet gibt es keinen Bruch zum Außen und von außen betrachtet keinen Bruch zum Innen. Der ästhetische Genuss an einem ungeschiedenen , aber dennoch in sich gegliederten und geschützten Ganzen war jedoch nicht gleichbedeutend mit vollständiger Durchlässigkeit : Der ästhetische Eindruck suggerierte zwar eine Aufhebung der Grenze zur Innenwelt , doch blieb die Umfassungsmauer bestehen , welche die Kranken ein- , beziehungsweise die Gesunden ausschloss. Zudem bot die Gartengestaltung gemeinsam mit der Verteilung der Pavillons die Möglichkeit einer Binnendifferenzierung.206 Am Eingang der Anstalt befinden sich zwei kleinere Häuser , sie dienten als Pförtnerhaus und Polizeiwachstube. Jeweils weiter rechts und links des Eingangs reihten sich die Beamtenwohnhäuser. Folgt man der ansteigenden Mittelachse des Komplexes , gelangt man zunächst zum Direktionsgebäude. Dort befanden sich mehrere Büroräume , eine Bibliothek und auch die Anstaltsapotheke. Im Parterre war das bereits erwähnte Museum untergebracht , im ersten Stock des Gebäudes die Wohnung des Direktors und seiner Familie. Hinter diesem Gebäude liegt das prunkvoll ausgestattete Gesellschaftshaus mit dem zentralen Festsaal , der mit einer vollständigen Bühnen­

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Haiko , Leupold-Löwenthal , Reissberger 1981 , 11. Auböck , Mörtl 2009 , Auböck , Reissberger 2002. Vgl. dazu allg. : Vanja 2006. Soboth 2005 , 315. Vgl. im Gegensatz dazu : Alfred Stohl 2005. Die Bedeutung der Mauer , insbesondere deren Entfernung von den Pavillons , war erst explizit Thema geworden , als sich die Frage stellte , ob Teile der Gründe des Anstaltsgeländes aus ökonomischen Gründen verkauft werden sollten. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 189 / 1913.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

Abbildung 1 : Lageplan der psychiatrischen Anstalt Am Steinhof  207

einrichtung versehen207war.208 An diesen Komplex reihte sich die Küche , seitlich beziehungsweise ein Stück weiter oberhalb das Verwaltungs- und das Materialienhaus.209 Die Pavillons der Heilanstalt waren in den beiden vorderen Reihen der Anlage symmetrisch angeordnet und wie auch alle anderen Abteilungen jeweils für Männer und Frauen getrennt. In den beiden höher gelegenen Reihen befand sich die Pflegeanstalt. Zu dieser gehörten auch zwei Pavillons für die sogenannten „Geistessiechen“, also die einer intensiven Pflege bedürftigen Kranken. Zudem wurde auf der entlang der Mittelachse des Geländes getrennten Männer- und Frauenseite jeweils ein Pavillon für Infektionskranke und Tuberkulöse eingerichtet. Im östlichen Teil des Anstalts207 Hofmokl 1910 , 123. Vgl. auch : Berger 1907 /  08. 208 Im Vergleich dazu : Johnson 2008. 209 Abdruck des Entwurfs der „Kulturachse“ von Otto Wagner in : Auböck , Mörtl 2009 , 50.

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komplexes lagen das Wirtschaftsgebäude , ein Wirtschaftswohnhaus , ein Desinfektions- , ein Wasch- , ein Kessel- und das Beschäftigungshaus , Schweine- und Pferdeställe , die Gärtnerei , ein Gewächshaus und das Leichenhaus mit einer Prosektur. In diesem Areal , aber etwas entfernt von den Pavillons der Heil- und Pflegeanstalten , lag das sogenannte feste Haus zur Unterbringung der gewalttätigen Geisteskranken. Auf der weitläufigen Anlage wurden mit einer elektrisch betriebenen Kleinbahn die Speisen , die Wäsche und andere Materialien transportiert.210 Zur stationären Aufnahme der „Nervenkranken“ wurde im westlichen Teil der Anlage ein Sanatorium erbaut. Das bislang übliche Modell , privat zahlende Patienten in Gebäuden gemeinsam mit der weniger gut situierten Klientel unterzubringen , wurde erst in einer späteren Planungsphase zugunsten gänzlich separierter Pavillons abgeändert. Die stationäre Versorgung der „gehobenen Stände“ sollte gemäß der Änderungen so organisiert sein , dass sie sowohl Teil der psychiatrischen Anstalt als auch von dieser streng geschieden war. Denn „selbst bei verwöhntesten Ansprüchen“ war nun , wie es hieß , die beruhigende Möglichkeit gegeben , Kranke in einer öffentlichen „Irrenanstalt“ unterzubringen.211 Die komfortablere Unterbringung finanziell besser gestellter Patienten in einer allen Ständen offenstehenden Anstalt war ein absolutes Novum und wurde vom Baukomitee folgendermaßen begründet : „Um den vielfach geäußerten Wünschen nach Vorkehrung für die Unterbringung von psychisch Kranken der vermögenden Kreise und des Mittelstandes in einer öffentlichen , jede finanzielle Beteiligung der behandelnden Ärzte ausschließenden Anstalt Rechnung zu tragen , hat das Land Niederösterreich im Anschlusse an die neuen Heil- und Pflegeanstalten , von diesen jedoch räumlich vollständig getrennt , ein Sanatorium eingerichtet , das größte und modernste seiner Art , das überhaupt existiert.“212

Diese Einrichtung sollte von vorneherein vieler bestehender Verdachtsmomente enthoben sein. Ihre Anbindung an die öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten garantiere nunmehr , dass unliebsame Familienangehörige nicht mehr – wie es angeblich in privaten Anstalten und deren staatlicherseits nicht kontrollierbaren Statuten immer wieder vorgekommen sei – in eine geschlossene Anstalt abgeschoben werden konnten. Denn die Am Steinhof angestellten Ärzte hatten im Gegensatz zu Medizinern ande210 Bresler 1907 /  08. 211 Gerényi 1908 /  09 , 397. 212 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1913. Abbildungen des Sanatoriums auch in : Blackshaw , Topp 2010 , 83 und 106. Den Patienten und Patientinnen der Heil- und Pflegeanstalten war es strengstens untersagt , auf dem Gebiet des Sanatoriums auch nur spazieren zu gehen : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1908.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

Abbildung 2 : Wintergarten213

rer Sanatorien keinerlei finanzielle Interessen an lang andauernden stationären Aufenthalten ihrer Patienten , da sie von öffentlicher Hand bezahlt wurden.214 In zehn luxuriös ausgestatteten Pavillons für insgesamt 365 Kranke gab es , jeweils für Männer und Frauen getrennt , eine gänzlich offen geführte Abteilung , eine weitere für neu aufgenommene und halbruhige Patienten , eine für unruhige und auch eine für „Sieche“. Es wurden Konversations- und Speisesäle , Lese- , Musik- , Billardund Rauchsalons und zahlreiche Wandelgänge eingerichtet ( Abb. 2 ).215 Das Spektrum der im Kurhaus eingerichteten therapeutischen Möglichkeiten war „entsprechend der Klientel“ ein sehr umfassendes. Zu den hydrotherapeutischen Verfahren zählten „einfache Bäder , Halb- , Medizinal- , Kohlensäure- , Glühlicht- und elektrische Bäder , aber auch Luft- und Sonnenbäder , Packungen und Abreibungen“, deren therapeutischer Wert nicht zuletzt in der psychischen Ablenkung bestanden hätte. Die Mechanotherapie umfasste die Anwendung der sogenannten Zander’schen Apparate , die Vibrationsmassage und Ataxiebehandlungen. Ihnen wurde eine wichtige , nämlich den Stoffwechsel im Allgemeinen anregende Bedeutung beigemessen ( Abb. 3 ). Elektrotherapeutische Verfahren , wie die nicht näher beschriebene „einfache Behandlung“, Blaulichtbestrahlungen und Faradische Massagen , aber auch Franklinisation und Arsonvalisation galten als altbewährte „Nervenmittel“. Zudem wurden Röntgenap-

213 Hofmokl 1910 , 129. 214 Gerényi 1908 /  09 , 397 ; vgl. dazu auch : Löwendahl 1900. Der Autor beschreibt Aufnahmeverfahren , verzögerte Entlassungen und das Erstellen von Gerichtsgutachten. Alexander Pilcz , bis 1907 supplierender Leiter der Anstalt Am Brünnlfeld , übernahm die Leitung des Sanatoriums. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 2753 / 1907. 215 Bresler 1907 /  08 , 214.

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Abbildung 3 : Mechanotherapie216

parate therapeutisch eingesetzt und Sonnen- und Freiluftbäder verordnet.217 Darüber hinaus gab es die Möglichkeit , Tennis zu spielen , den Turnsaal und das Winterschwimmbad ( Abb. 4 ) zu nutzen , und in der kalten Jahreszeit wurden für die Kranken Rodelplatz und Eisbahn eingerichtet. Im Sanatorium gab es eine „Gesellschafterin“218 und es konnten persönliche Pfleger und Pflegerinnen mitgebracht werden.219 Auch war es umgekehrt in Ausnahmefällen möglich , dass Patienten nach ihrer Entlassung der Anstalt zugehörige Pflegepersonen privat anstellen konnten , welche von der Direktion zu beurlauben waren.220 Das Sanatorium wurde auf Plakaten und Prospekten als die „vollkommenste Einrichtung zur Behandlung von Neurasthenie , Hysterie , Hypochondrie , nervösen Zuständen , Morphinismus , Kokainismus , Alkoholismus etc.“ annonciert.221 Deutsch- , englisch- und auch französischsprachige Werbebroschüren wurden an Psychiater und Neurologen der gesamten Monarchie verschickt , das erhoffte Einzugsgebiet sollte gemäß der Planenden gar bis West- und Südrussland , Rumänien , Bulgarien und die

216 217 218 219

Hofmokl 1910 , 130. Starlinger 1905 , 417 ; WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 499 / 1907. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1700 / 1907. Dies war aber von der Anstaltsleitung nicht gerne gesehen und auch nur zulässig , wenn sich diese Personen ausdrücklich der Hausordnung unterstellten , erschien der Leitung aber unumgänglich , „da der Betrieb des Sanatoriums gewisse Rücksichten auf die Wünsche der Angehörigen der Kranken notwendig macht“. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pfleger-Angelegenheiten‘ D 150 / 1910. 220 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pfleger-Angelegenheiten‘ 28 / 1910. 221 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1913. Das Hausorchester , die Zentralheizung und das elektrische Licht wurden ebenfalls mit beworben. Abdruck eines Plakats in : Blackshaw , Topp 2010 , 92.

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Abbildung 4 : Winterschwimmbad222

Türkei reichen.223 Um keine öffentlichen Gelder heranziehen zu müssen , wurde zur Finanzierung der luxuriösen Pavillons des Sanatoriums vom Land Niederösterreich ein Kredit aufgenommen. Die Kosten für die Unterbringung mussten die Patienten selbst bezahlen. Über diese Einnahmen sollten die hohen Investitionen wieder amortisiert werden.224 Vielerorts lässt sich in jenen Jahren beobachten , wie die Leiter der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten betonen , welch große Fortschritte die moderne Anstaltspsychiatrie gemacht habe. Zugleich war die Psychiatrie in den 1890er Jahren Ziel intensiver öffentlicher Kritik. Insbesondere der unkontrollierte Umgang mit der gewachsenen Autorität einzelner Anstalten hinsichtlich der Internierungen , aber auch die Alltagspraxis selbst wurde infrage gestellt.225 Die auch als „erste antipsychiatrische Bewegung“226 bezeichnete Missbilligung der stationären psychiatrischen Versorgung kritisierte vor allem die fehlende rechtliche Regelung der Unterbringung der

222 Hofmokl 1910 , 130. 223 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 35 / 1910. Insgesamt wurden 8. 650 Plakate und 5. 176 Prospekte angefordert. Dokumentiert ist auch die Bewerbung eines Reklamebüros , welches Inserate sogar in einer russischen Zeitung schalten wollte , die an allen Bahnhöfen ausgegeben wurde. In : ebd., o. Z. / 1910. 224 In der ersten Verpflegungsklasse beliefen sich diese zum Zeitpunkt der Eröffnung auf 20 Kronen pro Tag , in der zweiten Klasse wurde die Hälfte verrechnet. Im Vergleich dazu waren in der Heil- und Pflegeanstalt ( 3. Klasse ) sechs Kronen oder aber ( 4. Klasse ) zwei Kronen und sechzig Pfennig zu zahlen : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1910. 225 Goldberg 2003. Kritik an der stationären Psychiatrie wurde auch schon in den Jahrzehnten zuvor formuliert : Brink 2010 , 36 f. 226 Der Begriff der Antipsychiatrie stammt aus dieser Zeit. Vgl. Schmiedebach 1996 ; Engstrom 2004 ; Schwoch , Schmiedebach 2007 ; zu diesem Diskurs aus nicht-institutioneller Perspektive am Beispiel der Schweiz : Bernet 2007.

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Kranken. Die Forderungen zum „Schutz des Publikums vor den Psychiatern“227 standen diametral der Sichtweise der Standesvertreter gegenüber , welche wiederum meinten , den Reformbedarf der unzureichenden gesetzlichen Bestimmungen längst selbst angeregt und im Verein für Psychiatrie und Neurologie wiederholt vor Missständen gewarnt zu haben.228 Dem Ansehen der Berufsgruppe als besonders bedenklich galten sogenannte „Irren­broschüren“229 wie auch kritische Berichte in der Tagespresse. Internierungen prominenter Personen , wie beispielsweise die des Schauspielers Alexander Girardi , waren wiederholt Gegenstand publizistischer Empörung. Dieser wurde angeblich auf Betreiben seiner Ehefrau ungerechtfertigterweise in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen , konnte aber dank der Intervention Katharina Schratts , der Freundin von Kaiser Franz Joseph , wieder freikommen.230 Der ebenfalls durch die Presse gegangene Fall einer Prinzessin beruhte nach Julius von Wagner-Jauregg lediglich auf Informationen eines „kriminellen Geisteskranken“, welcher selbst „erst kürzlich wieder wegen zahlreicher Betrügereien in strafgerichtlicher Untersuchung stand , aber wegen seines Geisteszustandes außer Verfolgung gesetzt wurde“.231 Nach Ansicht des Klinikleiters war die Sensations- und Skandallust der Gesellschaft selbst Ursache der fortwährenden Angriffe : „Das Publikum will v. a. Sensation , die Wahrheit und die Vernunft sind gewöhnlich weniger interessant als Lüge und Übertreibung ; und es ist gar kein Zweifel : Geisteskrankheit ist ein modernes Thema.“232

227 So lautete der ironische Titel eines Beitrags im Organ der Standesvertretung : Pfausler 1902. 228 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 27 ( 1906 ), 378 f. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 6. Oktober 1906. 229 Vgl. dazu auch die skandalträchtige Schrift eines ehemaligen Patienten vom Steinhof : Gabriel 2010. Schriften dieser Art wurden auch von Anstaltsangestellten verfasst : Meier 2006. Vgl. dazu allg. : Brink 2010 , 165–184 ; Schwoch 2013. 230 Weinzierl 1983 , 123. Stellungnahme Julius Wagner-Jaureggs , der ein Gutachten erstellen sollte : Wagner-Jauregg 1933. 231 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 27 ( 1906 ), 379. Vgl. zu diesem aufsehenerregenden Fall : Kraus 1904. Umgekehrt dienten spektakuläre Straftaten , wie der Mord an der Kaiserin Elisabeth von Österreich , als Begründung für die Notwendigkeit einer Strafrechtsreform. So argumentierte August Forel : „Wenn das tragische Ende der Armen dazu dienen könnte , die Geister aufzuklären und zu einer Reform zu treiben , so würde ihr Märtyrertod der Menschheit gedient haben.“ Zitiert in : Lammel 2000 , hier : 258. 232 Anonym ; Bericht über den österreichischen Irrenärztetag 1909 , 380. Eine ganz ähnliche Position vertrat der Gerichtspsychiater Emil Raimann , welcher ebenfalls die „sensationslüsterne Menge“ durch tendenziöse , übertriebene , ja „ganz falsche Darstellungen über ungerechtfertigte Entmündigungen und Internierungen“ durch Zeitungsberichte „in Atem gehalten“ sah. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1909 ), 438. Sitzungsprotokoll des psychiatrischen Vereins vom 18. Februar 1908 anlässlich eines Entwurfs zum Entmündigungsgesetz.

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2. Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof

Die in den Tageszeitungen ausführlich besprochenen Fälle angeblich ungerechtfertigter Internierungen galten im Niederösterreichischen Landtag als ein dringliches Zeichen für die Initiierung eines „Irrengesetzes“. Gemäß dem Landtagabgeordneten Leopold Steiner war es tatsächlich möglich , dass ein vollständig gesunder Mensch in einer psychiatrischen Anstalt aufgenommen werde. Er selbst hatte sich in einigen Fällen aufgrund „persönlicher Überzeugung“ bemüßigt gefühlt , für eine sofortige Entlassung zu intervenieren.233 Heinrich Schlöß , Direktor der Anstalt Am Steinhof , meinte zu dieser Frage , dass „es kein Verstecken Spielen und kein Leugnen geben dürfe [ … ]. Solche Internierungen [ … ] sind vorgekommen und kommen – allerdings selten – noch vor“.234 Der Fehler lag seiner Ansicht nach jedoch nicht im System , sondern bei den Ärzten , welche die Aufnahmezeugnisse ausstellten. Die Psychiater könnten in der Anstalt aufgrund eigener Beobachtungen und Untersuchungen die Lage erst verzögert erkennen und würden umgehend eine Entlassung bewirken. Folglich sollten viel eher die vor der stationären Aufnahme stattfindenden Verfahren seitens der einweisenden Ärzte besser überwacht werden.235 Auch Edmund Holub , Direktionssekretär und ab 1914 Leiter der Frauenpflegeabteilung Am Steinhof , fand die Entscheidungsmechanismen bei der Aufnahme eines Patienten unzuträglich , „unzulängliche , unleserliche geradezu lüderliche Pareres und bagatellmäßige Kuratelsverhängungen“ seien keine Seltenheit. Zudem hätten auch die Angehörigen seiner Ansicht nach einen wichtigen Anteil an der Entscheidung zum Aufnahmeverfahren. Die so häufig zu lesende Skandalchronik aufsehenerregender Internierungen beruhe auf einem „Anachronismus , ihr Glaube [ sei ] schlicht ein Aberglaube“. Holub plädierte im Gegenzug für eine Öffnung der Anstalten , um der Bevölkerung zeigen zu können , dass „Irrenanstalten keine Mördergruben , Geisteskranke keine Zuchthaussklaven mehr seien“.236 In diesem Zusammenhang wurden bereits 1904 seitens des Niederösterreichischen Landesausschusses die offiziell vorgesehenen Inspektionen ausgeweitet.237 Zudem sollte den Agitationen 233 STPNÖ , 14. Sitzung der I. Session am 6. Oktober 1903 , 1248. 234 Schlöß 1911a , 360. 235 Ebd. Weitere Teile des Entwurfs betrafen die Anzeigepflicht für außerhalb von Anstalten lebende Geisteskranke und die Einsetzung von „Irreninspektoren“, die eine öffentliche Kontrolle der Anstalten übernehmen sollten. Die seitens der Ärzte auszufüllenden Einweisungsformulare wären genauer zu führen und die sowohl von den Medizinern beobachteten , als auch die von den Angehörigen benannten Symptome umfassender zu beschreiben. 236 Holub 1907 /  08. 237 Die Inspektionen waren bis dato auf administrative Angelegenheiten beschränkt. Nun umfassten diese auch die Kontrolle der hygienischen Bedingungen , die Verköstigung der Pfleglinge und des Pflegepersonals , die Einhaltung der Dienstvorschriften , genaue Erhebungen über schwere Verletzungen , Misshandlungen , Vergiftungen und Selbstmorde , Isolierungen und Beschränkungen , die Medikamentenvergabe , aber auch die Verrechnung , die Aus- und Weiterbildung der Pflegenden , die Überprüfung der Gesundheitszeugnisse , die Arbeitszulagen an die Kranken und die Führung diverser Protokolle. WStLA ,

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mittels Besichtigungen der Anstalt und allgemein verständlichen Vorträgen und Veröffentlichungen entgegengewirkt werden.238 Der Weg zur ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ ist in dieser Hinsicht in Wechselwirkung mit einer gegenüber der bloßen Verwahrung hellhörig gewordenen Öffentlichkeit zu sehen. Die Einrichtung beantwortet diese Kritik mit mehr ‚Transparenz‘. Man kann hier erkennen , wie die Definitionsmacht über geistige Gesundheit und Krankheit transformiert wird : Sie wird den Ärzten und staatlichen Institutionen streitig gemacht ; die Öffentlichkeit verlangt Partizipation an dieser Definitionsmacht. Daher umkreisen die Debatten um die Ausrichtung der Heilanstalten immer auch die Frage nach der prinzipiellen Grenze zwischen gesund und krank , gemeingefährlich oder nicht , und der Frage nach Verantwortlichkeit für Straftaten und den Kriterien für Zurechnungsfähigkeit.239 Vieles war also in Bewegung geraten , Definitionen und Definitionshoheiten waren unter Einbezug der Öffentlichkeit zu verhandeln. Den zahlreichen Angriffen gegenüber der stationären Psychiatrie vor und um die Jahrhundertwende sollte nun die , gemäß den euphorischen Beschreibungen , „größte , modernste , luxuriöseste öffentliche Irrenanstalt der Welt“240 auf wirkungsvolle Weise entgegengestellt werden. Sowohl in der Architektur als auch in der Abgeschiedenheit der Anstalt am Rande der Großstadt sind die „Ambivalenzen der Moderne“ ( Baumann ) wohl kaum zu übersehen. Die Kunsthistorikerin Leslie Topp betont im Speziellen die Ambiguität der Ziele der diese Institution Planenden : “The established trope of the asylum-as-utopia , gaining its power from its separateness and rejection of the world beyond its walls , and the newer rhetoric of the open , friendly mental hospital existed in unresolved tension in the discourse of early-twentieth-century planMag. Abt. 209 , A 1 , 384 / 1904 ; ebd., Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1909. Schreiben vom 22. April 1909 an den Landesausschuss anlässlich der Übernahme dieser Agenden durch Edmund Holub , der für diese Aufgabe nun auch eine jährliche Renumeration erhalten sollte. 238 Im Organ der Standesvertretung plädierte man für die Einrichtung eines „psychiatrischen Nachrichtenbureaus“. Aufgabe einer solchen Einrichtung sollte es sein , etwaige Kritik fundiert zurückweisen zu können sowie Aufklärungs- und Popularisierungsschriften zu veröffentlichen : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 177–179. Eine Zusammenfassung der Position der Standesärzte , aber auch vieler Skandalfälle in : Friedländer 1910 / 11. Der Direktor der ­Wiener Anstalt publizierte hierzu eine populistische Schrift : Schlöß 1908 bzw. in der zweiten , erweiterten und umbenannten Auflage 1919. 239 Welch weite Kreise diese Auseinandersetzungen zogen , zeigt das Vorgehen des Abgeordneten Victor Silberer. Er dokumentierte rückwirkend über 33 Jahre Fälle angeblicher ungerechtfertigter Internierungen , vor allem prominenter Personen. In : STPNÖ , 8. Sitzung in der II. Session , 18. Oktober 1904 , 215 f. 240 Anonym ; in : Zeitschrift für Krankenanstalten 1909. Das hier anklingende Wetteifern zwischen den Staaten verweist auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung sozialwissenschaftlicher Expertenkulturen und der Nationalisierung von Gesellschaften. Vgl. Raphael 1996 , 182 f.

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ners , including the psychiatrists and government officials who planned Steinhof. Otto Wagners brand of modernism thrived not on tension but on glorious resolution ; it filtered out the ambiguity of the asylum planners’ goals and focused exclusively on their utopian ambitions.” 241

Die moderne Anstalt mit all den ihr inhärenten Ambivalenzen wäre demnach die Basis des Foucault’schen „anderen Raums”. Das utopische Ziel , einen tatsächlichen Raum realisieren zu können , welcher sich von der Umgebung deutlich unterscheidet , wie auch an dieser in Form eines spiegelbildlich organisierten freien Lebens teilhat , sollte , wie in der Folge expliziert wird , in einer vollkommenen inneren Ordnung seine konsequente Weiterführung finden.242

241 Topp 2005 , 151. 242 Vgl. zum 3. und 5. „Grundsatz“ der Heterotopien : Foucault 1967 / 1984 , 324 f.

3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne Robert Castel beschreibt in seiner 1983 erschienenen Monografie der „Psychiatrischen Ordnung“ die Internierung und „therapeutische Isolierung“ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der binären Unterscheidung zwischen „geistig gesund“ und „geistig krank“.243 Castel stellt diese vor dem Hintergrund zahlreicher Verflechtungen gesellschaftlicher und politischer Einflüsse sowohl als Ausgrenzungs- als auch als Integrationsmechanismus dar. Die bestehende „Ordnung“ wurde im Zuge der Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas durchgeführten Reformen durch eine Reihe neuer „Anordnungen“ überlagert. Viele dieser Neuerungen basierten maßgeblich auf einer sowohl tatsächlichen , praktisch-institutionellen als auch intensiven rhetorischen Abgrenzung zu früheren , mit Zwangsmaßnahmen assoziierten Versorgungsmodellen und zielten auf die Etablierung einer freieren Konzepten verpflichteten  ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ ab. Bauliche wie ästhetische Distinktion waren , wie die neue ­Wiener Institution besonders eindrücklich zeigt , wichtige Elemente der Abgrenzung von den früheren , ihre Autorität vornehmlich auf Abgeschlossenheit basierenden Anstalten. Im Folgenden wird der Fokus auf die innere Anordnung der Institution gerichtet und mit ihr die kulturelle Bedingtheit der sozialen Praxis in der psychiatrischen Anstalt untersucht.244 Die dabei in den Blick geratenden und teilweise sehr unterschiedlichen Felder sind überwiegend von einem impliziten Wissen und Können bestimmt. Einerseits ist ein solches praktisches Wissen der Niederschlag eines Konzeptes von Ordnung im Umgang mit psychiatrischen Erkrankungen ; andererseits bringt auch die bauliche und bürokratische Ordnung des praktischen Alltagshandelns praktisches Wissen erst ( mit ) hervor. Wie in der Einleitung bereits angedeutet , richtet die diesbezügliche historische Forschung ihr Augenmerk weniger auf das kognitive Vorwissen und das präsente Bewusstsein der Akteure , vielmehr interessiert nun das im Handeln zum Vorschein kommende Wissen. Praxistheoretische Ansätze umfassen die dem Alltagshandeln unterliegende Vertrautheit und Könnerschaft und setzen sich gleichermaßen von zweckwie normorientierten Handlungstheorien ab. Doch lässt sich jene soziale Praxis nicht so leicht fassen , wie man zunächst meinen sollte. Ihr „Ort“ ist nur schwer auszumachen , und das nicht nur , aber auch , weil die impliziten Fähigkeiten , Annahmen , Wertvorstellungen kaum je ausdrücklich dokumentiert sind. Karl Hörning macht in Anlehnung an Michel Foucault auf die vielfältigen Verflechtungen der im Anschein von 243 Castel 1983 ; Foucault 2005 , insbesondere 361 f. 244 Vgl. ausführlicher zu diesem Ansatz : Hörning , Reuter 2004 , hier : 11.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

Vernunft auftretenden und den Eindruck von Selbstverständlichkeit vermittelnden „Rationalitätsformen“ aufmerksam. Die Praxis wird hierbei gewissermaßen als ein Scharnier zwischen dem Subjekt und den institutionellen Strukturen verstanden. Es ist nicht primär der theoretische Diskurs , der die Ordnung des Versorgens , des Ausund Eingrenzens bestimmt ; es ist das alltägliche Handeln selbst , in dem eine solche Ordnung entsteht , stabilisiert und auch verändert wird. Ausgangspunkt der Überlegungen ist somit nicht der seiner selbst und den Gründen für sein Tun stets bewusste Akteur , sondern die Praktiken und ihre impliziten Handlungskriterien. Wiederholung und Innovation – das Beständig-Gewohnte und das Suchend-Offene – sind zwei wichtige Momente der sozialen Praxis. Diese stützt sich auf Vorhandenes und beginnt nie von Grund auf neu. Die jeweiligen Kompetenzen entspringen zudem keinem gefestigten Wissensbestand , sie stellen vielmehr eine Praxis des doing knowledge dar.245 Die Anstaltspsychiatrie hinterließ nur wenige Spuren in der Geschichte , und dort , wo Dokumente erhalten sind , sind diese keine wertfreien Dokumente , sondern unübersehbar von normativen Vorgaben geprägt ; man sieht gleichsam die innere Zensur und Gewichtung des Blickes auf Anstalt und Insassen mit. Die Urheber dieser Quellen haben zudem charakteristischerweise nur selten weiterführende , theoretische Erklärungsmodelle ihres Tuns verfasst. Die Perspektive auf die Historizität der sozialen Praktiken erlaubt es jedoch , den Blick auf ein inexplizit und dennoch intersubjektiv erworbenes Wissen zu richten. Im vorliegenden Kapitel werden wir sehen , wie dieses Wissen in den Praktiken bestimmend wirkt , wie es auch von übergreifenden , gemeinsamen kulturellen Wissens- und Interpretationsschemata bestimmt ist. Der erste Abschnitt handelt von der topologischen Einteilung psychisch Kranker und der zeitgenössischen Unterscheidung von „heilbaren“, „unheilbaren“ und „geistessiechen“ Kranken , welche die Unterbringung in die jeweiligen Pavillons mit sich brachte. Auf welche Weise im Einzelfall die weitreichende Einteilung zwischen Heilbar- oder Unheilbarkeit getroffen wurde , wird nicht eigens thematisiert. So nüchtern rational sich die Entscheidungsvorgänge gaben , so ungewiss waren die Prognosen. Nicht unähnlich verhielten sich Wissen und Nicht-Wissen bei der im zweiten Abschnitt untersuchten Arbeitstherapie zueinander. Ihr wurde ein überragender Heilfaktor beigemessen. Bedeutungszuschreibung wie angewandtes therapeutisches Wissen gingen hierbei Hand in Hand ; diese Praktiken stellten soziale Relevanz und Geeignetheit erst her. Die im dritten Abschnitt als zentraler Bestandteil der stationären psychiatrischen Versorgung thematisierte alltägliche Versorgung ist ganz bewusst der Beschreibung der Tätigkeitsbereiche der Mediziner vorangestellt : Denn es war 245 Hörning 2004. Ein Überblick zur von diesem Ansatz geprägten wissenschaftshistorischen und soziologischen Literatur : Hörning 2001 , 160 f.

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vor allem eine rationalisierte Pflege , die viele Reformen der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ überhaupt ermöglichte. Die zahlreichen normativen Vorgaben der streng hierarchisch gegliederten Struktur der Anstalt wie auch der sozialen Praktiken verweisen direkt oder indirekt auf die sich dahinter verbergenden Techniken von Anstaltsordnung , der Rationalisierung von Verhaltensweisen und die Hervorbringung von Problemlösungsstrategien , welche sowohl die Patienten als auch die sie versorgenden Personen betrafen. Die im Verborgenen wirksamen Ordnungsmechanismen sind bekanntlich ein wichtiger Gegenstand der späteren Arbeiten Foucaults zu Fragen der Macht und Disziplinierung. Hier wird auf eine wichtige Eigenheit des Verhältnisses von Ordnungskraft und alltäglicher Praxis aufmerksam gemacht : Diese komplexen Prozesse sind gerade keine von „oben“ durchrationalisierten Vorgänge , also keine einseitige Ausübung von Macht über Abhängige. Vielmehr geht es darum , spezifische Rationalitäten zu erkennen , in denen sich Macht generieren , aber auch destabilisieren kann , Disziplin zugleich individualisierend und unterwerfend , aber auch individuelle Fähigkeiten und die Produktion von Wissen steigernd zu sein vermag.246 Die Aufmerksamkeit gilt dabei den ordnungsschaffenden Strukturen wie auch den Momenten , in denen man sich ihnen verweigerte. Insbesondere an der Neugestaltung der ‚modernen‘ psychiatrischen Pflege lässt sich eine Veränderung der die institutionelle Macht herstellenden Praktiken nachweisen. Zu beobachten ist eine Verschiebung von der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts direkt ausgeübten Macht über die Patienten hin zu einer Vielfalt neuartiger Strukturen und Vorschriften , deren ordnende Kraft weitaus subtiler wirkte. Der Tätigkeitsbereich der Mediziner ( Abschnitt 3.4 ) war ebenfalls von vielen normativen Vorgaben bestimmt. Erst im Falle von Übertretungen oder einem Nichtbeachten der Handlungsanweisungen werden der historischen Forschung oftmals nur indirekt zu erschließende Einblicke in die streng vorstrukturierte Organisation des Anstaltsbetriebes gewährt. Der stationäre Aufenthalt selbst war die maßgebliche therapeutische Basis , obwohl das Wissen um die Behandlung psychischer Erkrankungen unsicher und umstritten war. Dies wurde in enger Verknüpfung mit dem Ansehen der Disziplin , sowohl innerhalb des Kanons der medizinischen Fächer als auch in der Gesellschaft , problematisiert. Wohl weitaus schwieriger für die Anstaltsführung war jedoch eine praktisch-organisatorische Aufgabe , nämlich die Bewältigung der stetig steigenden Anzahl an Patienten ( Abschnitt 3.5 ). Dieses Problem wurde umso dringlicher , als viele Vertreter der psychiatrischen Disziplin eine stationäre Aufnahme weiterhin als die einzig richtige Antwort auf Schwierigkeiten , die psychische Erkrankungen aufwarfen , verteidigten. 246 Foucault 1987.

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Obwohl das psychiatrische Wissen höchst unsicher und umstritten blieb , beanspruchte das Fach nun verstärkt gesamtgesellschaftliche Relevanz. Die Suche nach den vielfach unbekannten Ursachen psychischer Krankheit wurde unter dem Einfluss der Degenerationstheorie seit der Wende zum 20. Jahrhundert zusehends durch Strategien der Vermeidung von Krankheit ersetzt. Im Zuge dieser Transformationen gerieten zunehmend straffällig gewordene psychisch Kranke in den Fokus der psychiatrischen Aufmerksamkeit ( Abschnitt 3.6 ) . Die vermehrt für den „Schutz der Gesellschaft“ argumentierenden Psychiater plädierten hierbei zugleich für neue Arten der In- und Exklusion. Die zuvor weitgehend implizit gebliebenen Normen diesbezüglicher sozialer Praktiken wurden nun notwendigerweise von öffentlich explizierten Regeln und Prinzipien verdrängt. Dieser Wandel korrespondierte mit konkreten strukturellen Änderungen innerhalb der psychiatrischen Institution – ein Aspekt , der im Anschluss an das Kapitel zu den Ereignissen während des Ersten Weltkrieges im letzten Teil der Studie wieder zur Sprache kommt.

3.1 V on der äusseren und inneren Ordnung: „Die Zukunft der Irrenpflege liegt in der Specialisierung der Anstalten“247 Dass die Architektur von Krankenhäusern medizinische Innovationen widerspiegelt , ist bekannt und naheliegend. Wo genau sich solche Paradigmenwechsel architektonisch ausdrücken , variiert jedoch stark und ist durchaus nicht selbstverständlich. Praktische Effizienz und hygienische Aspekte können baulich umgesetzt werden , doch ebenso lassen sich ganz „untechnische“ Momente erkennen , wie die Gestaltung einer idealen innerpsychiatrischen Lebenswelt der Patienten , der Atmosphäre des Heilens und eben auch das Bedürfnis , wortwörtlich ein bestimmtes Bild für die Außenwelt abzugeben. Pläne zur baulichen Anlage tragen eine Genealogie medizinischen Wissens in sich und können als archäologische Dokumente gelesen werden.248 Die Annahme , dass räumliche Anordnungen menschliche Verhaltensweisen strukturieren , wurde von Foucault insbesondere unter dem Aspekt der Kontrolle beschrieben. Seine Analyse der Disziplinarprozeduren des „klassischen Zeitalters“, der „Observatorien der menschlichen Vielfältigkeit“ und mit ihnen die „Blicke , die sehen , ohne selbst gesehen zu werden“, zeigt die Überlagerung von Machtverhältnis-

247 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 21 ( 1902 ), 427. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 11. Oktober 1901 , Stellungnahme Joseph Starlinger. 248 Vgl. dazu allg. : Schlich 2007 , hier : 232 f.

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sen und Wissensbeziehungen in der Psychiatrie klar auf.249 Dabei sind die Techniken der Internierung nicht notwendigerweise einheitlich , um ein System der strikten Unterwerfung und Normierung auszuüben ; vielmehr wirken ganz unterschiedliche Behandlungs- , Deutungs- und Internierungsmethoden ineinander , um ein restriktives Gesamtsystem zu bilden , welches als implizite und interessensgeleitete Codierung der Wahrnehmung von Anstalt und Patienten anzusehen ist. Dieses Wissen soll laut Foucault vor allem dem Zwecke der Disziplinierung und Restriktion dienen , gerade dort , wo es vermeint , human und wohltätig zu wirken. Insofern ein solches Bild des Funktionierens der Heil- und Internierungsmethoden und der Generierung von Wissen durch praktisches Handeln auf die älteren Phasen der Psychiatrie zuträfe , so wäre der Neubau der psychiatrischen Anstalt Am Steinhof ein Lehrbeispiel dafür , dass jene älteren Methoden modifiziert oder durch neue Modelle ersetzt wurden. Die Planung von neuen , nunmehr bezeichnenderweise „Krankenhäuser“ genannten Einrichtungen und deren Gestaltung im Inneren wurde von Vertretern der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ als einer ihrer vorrangigen Arbeitsbereiche angesehen. Man meinte , dass die Wissenschaft selbst es sei , die die Neugestaltung ihrer räumlichen Anordnung und architektonischen Gestaltung hervorbringe.250 Da man dem stationären Aufenthalt per se eine entscheidende medizinisch-therapeutische Bedeutung zusprach , reklamierten die Mediziner die Leitkompetenz bei der Neuerrichtung der psychiatrischen Institution für sich. Hat sich mit der Entwicklung der nun gänzlich eigenständigen Anstaltspsychiatrie ein neues Selbstverständnis dieses Tätigkeitsbereiches herausgebildet ? Diese auch als „höchste ärztliche Aufgabe“251 bezeichnete Tätigkeit wirft ein Licht darauf , dass mit dem Neubau weit mehr als die Möglichkeit der Aufnahme einer Vielzahl von psychisch Kranken anvisiert wurde. Die psychiatrische Fortschrittserzählung der stetigen Verbesserung der Unterbringung ihrer Patienten lässt fragen , inwiefern die schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert vielfach proklamierte „freie Behandlung“ in der – nicht nur architektonischen Gestaltung – in der Anstalt Am Steinhof in die Praxis umgesetzt wurde.252

249 250 251 252

Vgl. Foucault 1977 , hier : 221. Vgl. Schlich 2007 , 232. Fischer 1908 , hier : 147. Vgl. allg. zu psychiatrischen Bauten : Topp 2007b. Topp vergleicht die für die Entwicklung des „OpenDoor-Systems“ maßgeblichen Anstaltsbauten Mauer-Öhling und die in Sachsen gelegene Institution Alt-Scherbitz. Vgl. zur „Fortschrittshypothese“, insbesondere unter dem Aspekt der Rationalisierung von Gewaltverhältnissen und des Abbaus von Zwang : Meier , Bernet , Dubach , Germann 2007 , 26 f. Zur Verdeutlichung des Fortschritts in der Gestaltung der Räumlichkeiten wurden vielfach frühere Anstaltsanlagen vergleichend abgebildet. Vgl. dazu beispielsweise : Weygandt 1902.

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Die Kritik an früheren Versorgungsformen entzündete sich nicht unbedingt an vorhergegangenen Behandlungskonzepten im Ganzen , sondern konkret daran , einzelne Krankheitsgruppen nicht auf überzeugende Weise voneinander trennen zu können. Im ­Wiener Verein für Psychiatrie proklamierte man die strenge Differenzierung von „Kranken , die diesem Begriffe im engeren Sinne entsprechen , Personen , die an ausgleichbaren , der Regel nach vorübergehenden , acuten Störungen leiden , Fälle , welche Heilbestrebungen mit Aussicht auf Wiedererlangung früherer Lebenstüchtigkeit zulassen“, da sie alle „besondere therapeutische Maßnahmen , Ruhe , Fernhaltung aller störenden , vorhandene Hyperästhesien reizenden , die schwankende Orientierung noch weiter schädigenden Einflüsse fordern“. Vor allem aber sollten sie , nämlich die als heilbar eingestuften Kranken , keinesfalls „mit den hoffnungslosesten und abschreckendsten Paradigmen psychischer Zerrüttung zusammen[ kommen ], mit ab­ stossendem Blödsinn , mit verfallenden Paralytikern , durch ihre Anfälle entsetzenden Epileptikern , mit Paranoikern , die durch ungeheuerliche oder widerwärtige Wahnideen die Phantasie erschrecken und beunruhigen“.253 Die Grundreform des „Irrenwesens“ basierte auf dieser kategorialen Differenzierung und damit auch auf der Hervorhebung potenziell heilbarer Kranker. Mit dem Am Steinhof realisierten Pavillonsystem war es möglich , die unterschiedlich kategorisierten Kranken räumlich zu separieren. Die Dienstordnung der Am Steinhof angestellten Ärzte sah die besondere Aufgabe vor , „die geisteskranken Pfleglinge nach ihrem jeweiligen Zustande in die Gruppe der heilbaren und der unheilbaren gemeinschädlichen Geisteskranken einerseits , und der unheilbaren harmlosen Geisteskranken andererseits , sorgfältigst zu scheiden“.254 Die architektonische Gestaltung stellte somit Bedeutung und Relevanz der vorwiegend praktisch orientierten Psychiatrie erst her. Den gefürchteten steigenden Patientenzahlen stand gewissermaßen die mit dem Pavillonsystem gegebene Möglichkeit der Differenzierung und Strukturierung im Sinne einer aktiven Maßnahme gegenüber. Wie dies im Einzelnen geschah , bleibt der Nachwelt verborgen , doch ist immerhin so viel sicher : Gemäß der Prämisse , dass „die Anstalt selbst zur Medizin werde“255 , wurden vorrangig unruhige Patienten voneinander getrennt , und auf diese Weise wurde der früheren enormen Lärmbelastung auf den Abteilungen vorgebeugt. Für eine Anstaltsaufnahme waren , streng getrennt nach dem Geschlecht , die beiden Pavillons mit den römischen Ziffern I und II zu passieren. Jeder der neu eintretenden Patienten wurde vorerst in einem dieser beiden , im Eingangsbereich des Ge253 Böck 1892 , hier : 258. 254 Dienstvorschriften für die Ärzte : Allgemeine Bestimmungen , § 4. 255 Starlinger 1901 /  02 , 135.

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ländes befindlichen Gebäude temporär untergebracht und untersucht. Neben persönlichen Dokumenten war für eine stationäre Aufnahme das Attest eines Amtsarztes ( k. k. Bezirks- , beeideter Gerichts- oder ­Wiener k. k. Polizeiarzt ) zur Bestätigung des Vorliegens von sowohl Geisteskrankheit als auch „Anstaltsbedürftigkeit“ nötig. Nur in dringenden , vor allem in gefährlichen Fällen konnte , wie es in den Statuten der Institution hieß , unter persönlicher Verantwortung des Direktors eine Ausnahme gemacht werden ; eine solche Internierung war aber ehestmöglich dem Polizeikommissariat anzuzeigen. Eine amtsärztliche Bestätigung musste nicht erbracht werden , wenn Patienten aus einem anderen Kranken- oder Versorgungshaus oder einer Strafanstalt Am Steinhof transferiert wurden. In diesen Fällen war lediglich eine „Beurkundung und Beschreibung“ der Geistesstörung auszustellen. Der häufigste Weg der Aufnahme erfolgte , wie bereits erwähnt , über die psychiatrische Station des Allgemeinen Krankenhauses , dem sogenannten Beobachtungszimmer. Zum Aufnahmegebiet der Anstalt Am Steinhof zählten die zu diesem Zeitpunkt 21 ­Wiener Gemeindebezirke und auch die Bahnhöfe , an denen psychisch Kranke aufgegriffen wurden. Eine längerfristige Behandlung und Verpflegung war ausschließlich den Niederösterreich zugeordneten Patienten vorbehalten. Dabei war ein sogenannter „Heimatschein“ vorzuweisen. Je nach vorhandener Bettenkapazität konnten darüber hinaus weitere Kranke per Bewilligung des Direktors als sogenannte „Zahlpfleglinge“ stationär behandelt werden. Die Pavillons der Heilanstalt waren , ihrer Bezeichnung gemäß , für „heilbare“ und auch als „gemeingefährlich“ eingestufte Kranke bestimmt. „Unheilbare Kranke“ wurden dagegen in die Pflegeanstalt und „arme , unheilbare , nicht gemeingefährliche Geisteskranke“ in die in der obersten Reihe der Pavillons befindliche „Geistessiechenabteilung“ aufgenommen. Letztere Einweisungsvariante war von der Armenbehörde beim „Referat für Landeswohlfahrtsangelegenheiten“ zu beantragen und von einem Amtsarzt eigens zu bewilligen. 256 In der Heilanstalt gab es analog zum Sanatorium zusätzlich die Möglichkeit einer „freiwilligen Aufnahme“. Auch hier knüpfte sich die Hoffnung der Anstaltsleitung daran , der ablehnenden Haltung der Bevölkerung gegen eine stationäre Betreuung wirkungsvoll entgegentreten zu können. Diese für ihre Behandlung finanziell selbst aufkommenden Kranken hatten eine ärztliche Bestätigung ihrer „Anstaltsbedürftigkeit“ zu erbringen und vor dem Direktor sowie zwei Zeugen schriftlich ihren Entschluss zu bekräftigen. Sie mussten sich lediglich der Hausordnung unterwerfen , hatten , je 256 Statut für die N. Ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalten , § 14–16. Diese Statuten waren , wie es hieß , mit Gesetzeskraft ausgestattet. Abdruck auch in : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 30 ( 1909 ), 375 f. ; WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 158 /  6 / 1908 ; ebd., Faszikel ‚Anstaltsdienst und Verschiedenes‘ o. Z. / 1910. Die aus rein pflegerischen Gründen aufgenommenen Patienten konnten bei Platzmangel auch wieder in die städtischen Humanitätsanstalten rücktransferiert werden.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

Abbildung 5 : Aufnahmegebäude 257

nach ärztlicher Verordnung , in- oder auch außerhalb der Anstalt volle Bewegungsfreiheit und konnten bei attestierter Ungefährlichkeit jederzeit ihre Entlassung einfordern.258 Diese Variante bot die Möglichkeit , ohne weitergehende Formalitäten Hilfe in einer psychiatrischen Anstalt zu finden. So mussten auch die Angehörigen über die Aufnahme nicht notwendigerweise verständigt werden. Wurde zu einem späteren Zeitpunkt die Transferierung in eine geschlossene Abteilung als erforderlich erachtet , so waren Landesgericht und Polizeidirektion sowie ein eventueller Kurator zu benachrichtigen , weiterhin aber nicht die Angehörigen – ein Aspekt , dem in dieser speziellen Regelung offenbar größte Bedeutung beigemessen wurde.259 Die nun folgenden Abbildungen sollen die Bauprinzipien der Anstaltspsychiatrie vergegenwärtigen. Sie stammen aus einer Publikation von Heinrich Schlöß , Direktor der Anstalt Am Steinhof , welche an ein über die engere Fachgemeinschaft hinausgehendes Publikum adressiert war. Die Aufnahmepavillons waren jeweils nur einstöckig. Der Plan ( Abb. 5 ) zeigt , dass die Erstgespräche – sowohl zu administrativen Belangen als auch zur Anamnese – vermutlich an einem Tisch sitzend stattfanden. Direkt anschließend an diesen zentral gelegenen Raum war jeweils ein Zimmer für den Arzt 257 Schlöß 1912 , 179. 258 Gerényi 1908 /  09 , 395. Diese Aufnahmemodalität nahmen vor allem Patienten des Sanatoriums in Anspruch. So waren beispielsweise im Jahre 1908 auf diesem Wege 32 Kranke in die Heilanstalt und im Vergleich dazu 102 Kranke ins Sanatorium gekommen , ein Jahr später vergrößerte sich diese Differenz auf 11 Kranke zu 125 Kranken. In : Schlöß 1911b. 259 Statut für die N. Ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalten , § 16 ; WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 191 / 1908.

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und eines für zwei Pfleger eingerichtet beziehungsweise auf dem Pavillon der Frauenseite für Pflegerinnen , die für den Fall nächtlicher Aufnahmen anwesend zu sein hatten. Für die Kranken gab es vier Säle  zu je neun oder elf Betten , zwei Einzelzellen und einen Raum zur Separierung infektiös Erkrankter. Aufenthaltsräume waren hier nicht vorgesehen , die Patienten wurden nach einer kurzen Beobachtungszeit in die für sie ausgesuchten Abteilungen transferiert , denn mit der Erstellung der Diagnose erfolgte die Zuteilung auf einen der Pavillons der Heil- oder der Pflegeanstalt. Die Kategorisierung der Patienten und Patientinnen innerhalb der Heilanstalt nach den Kriterien psycho-sozialen Verhaltens wie „ruhig“, „halbruhig“ oder „unruhig“ folgte somit keinen speziell medizinischen , sondern vielmehr praktischen Erwägungen. In den beiden links und rechts des Gesellschaftshauses gelegenen dreistöckigen Pavillons für jeweils hundert „ruhige“ Patienten waren im Erdgeschoß , ganz gemäß der Prämisse , quasi-häusliche Umgebungen herstellen zu wollen , die Tagesräume.260 An deren beiden Seiten befanden sich „Einzelzimmer“ für jeweils einen Kranken gemeinsam mit einer eigens zugewiesenen Pflegeperson. Im ersten und zweiten Stock dieser Häuser waren jeweils vier Schlafsäle für vierzehn Patienten eingerichtet. Diese Pavillons hatten im Gegensatz zu allen übrigen keine speziell gesicherten Fenster , und die Patienten konnten sich innerhalb des Gebäudes frei bewegen. Die sich nach außen nicht unterscheidenden , insgesamt fünf zweistöckigen Pavillons der Heilanstalt für je 70 „halbruhige“ und vier Pavillons für je 50 „unruhige“ Patienten ( Abb. 6 ) besaßen einen mittig angelegten Aufbau , in dem die den jeweiligen Abteilungen zugeordneten Pflegekräfte wohnten. Die ungerade Anzahl der Pavillons für „Halbruhige“ erklärt sich durch die höhere Zahl männlicher gegenüber den weiblichen Patienten. Im Jahr 1900 wurde die Differenz der Aufnahmezahlen von Männern und Frauen mit 250 beziffert. Diese für ­Wien erhobenen Daten ähnelten den quantitativen Geschlechterdifferenzen in anderen Institutionen , sie wurden allgemein mit den bei Männern höheren syphilitischen und alkoholbedingten Erkrankungsraten erklärt.261 Die Einrichtung dieser Häuser war wesentlich von den zentralen Elementen der ‚modernen Irrenpflege‘ bestimmt. Bettbehandlung und Dauerbäder standen paradigmatisch für die neuen Formen des Umgangs mit gefährlichen Patienten. Diese Maß260 Abbildung in : ebd., 182. 261 Starlinger 1901 /  02 , 132 f. Die auch die beiden Aufnahmepavillons umfassende Heilanstalt war für insgesamt 870 Patienten konzipiert. Die Tatsache , dass sich auf der Männerseite 70 „halbruhige“ Patienten mehr befanden , änderte nichts an der Verteilung der Ärzte. Diese Differenz in der Anzahl der Pavillons für männliche und weibliche Kranke gab es nur bei der Heilanstalt und begründete sich vermutlich in der Vielzahl der Alkoholkranken , die nicht längerfristig aufgenommen , sondern sehr oft nach kurzer Zeit als „geheilt“ entlassen wurden.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

Abbildung 6 : Pavillon für Unruhige262

nahmen wurden unter dem bezeichnenden , optimistisch-aufklärerischen Schlagwort „von der Isolierung zur Individualisierung“ zusammengefasst. Statt „schablonenmäßiger und gleichartiger Zellen“ wurden nun , zwar in Ergänzung zu der auch weiterhin bestehenden Isolierung in Zellen , auch Räume eingerichtet , die eine „Separierung“ ermöglichten.263 Der entscheidende Unterschied zu früheren Formen des Umgangs mit agitierten Kranken war , dass für den Fall einer notwendigen Trennung von den Mitpatienten diese zwar prinzipiell möglich war , die Türen der neuen Räumlichkeiten aber nicht von außen verschlossen wurden.264 Ein solches Detail spricht 262 Schlöß 1912 , 181. 263 Separationsräume konnten auch mit bis zu drei Kranken belegt werden ; eine der Zellen sollte schalldicht sein. Eine Beschreibung der baulichen Details in : ebd., 135. 264 Heinrich Schlöß merkte diesbezüglich an , dass es auch Anstalten gäbe , wo die Separierung nur auf Wunsch der Patienten erfolge und vom diensthabenden Arzt genehmigt werden musste. In : Schlöß 1905 , 107.

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beredt von der neuen „Öffnung“ der Anstaltspsychiatrie , die alte Versorgungsformen nicht vollständig verdrängte , sondern partiell korrigierte. Im Erdgeschoß und im ersten Stock dieser Pavillons befanden sich jeweils zwei Einzelzellen und zwei Separations-Zimmer , die durch einen schalldichten Gang von den anderen Räumlichkeiten getrennt waren. Die von der Öffentlichkeit sehr wohl bemerkten Zwangsmaßnahmen waren jedoch kein Widerspruch zum Generalkonzept der Öffnung , sondern ließen sich , wie es seitens der Anstaltsleitung hieß , wegen des „enormen und rasch wachsenden Krankenstandes und dem der Großstadt eigentümlichen , unruhigen Krankenmateriale nicht völlig vermeiden“. Diese aber sollten auf „die unumgänglich notwendigen Fälle beschränkt [ werden ] und bedürfen der jedesmaligen Zustimmung und Bestätigung durch den Direktor“.265 Die Tatsache , dass die Leitung sich in der Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit wähnte , ist in einem engen Zusammenhang mit der „antipsychiatrischen Bewegung“ um 1900 zu sehen. Andere Beschränkungsmaßnahmen wie Schutzhandschuhe oder Zwangsjacken durften gemäß der Vorgaben nur für den Fall drohender und ständiger Selbstbeschädigung angewandt werden , etwa nach chirurgischen Eingriffen. Über alle Vorgänge dieser Art musste ein sogenanntes Beschränkungsprotokoll geführt werden.266 Was es Am Steinhof im Gegensatz zu ihrer Vorgängerinstitution nicht mehr gab , waren die sogenannten „Tob-Zellen“, gepolsterte Räume , in denen Patienten isoliert wurden , sich aber nicht selbst beschädigen konnten.267 Noch einige Jahrzehnte zuvor war als Richtlinie für die Gestaltung neuer Anstalten der Einbau von einer TobZelle pro zehn Patienten empfohlen worden. Diese galten , so die zeitgenössische Sichtweise , insbesondere für weibliche Patienten wegen deren „geringeren Verträglichkeit untereinander , größeren Eitelkeit , gesteigerten Empfindsamkeit , des nicht zu leugnenden üblen Einflusses der Menses oder der sonstigen Störungen der weiblichen Geschlechtsfunktionen“ noch als unverzichtbar.268 Die neuen und gänzlich positiv konnotierbaren , nunmehr „Isolierungen“ genannten Vorkehrungen galten nicht mehr als bloße Schutz- und Verwahrmaßnahme , sondern vielmehr als individuell abstimmbare Therapiepläne. So sollten beispielsweise die aufgrund der räumlichen An265 Holub 1912. Gitterbetten als Maßnahme zur Beschränkung agitierter Patienten gab es demnach Am Steinhof nicht. Schlöß benannte aber sehr wohl die Anwendung von Gurten als einem Mittel zur Beschränkung der psychisch Kranken. In : Schlöß 1905 , 106 f. 266 Dienstvorschriften für die Ärzte , Punkt D. Besondere Dienstanweisungen für die Primarärzte , § 32. Diese hatten die letzte Verantwortung für die Führung der Protokolle. 267 „Polsterzellen“ waren Kammern , deren Wände und auch der Boden aus stark federnden Matratzen oder Kautschuk bestanden. In : Niederösterreichischer Landesausschuss 1898 , 11. Diese Schrift wurde von Alexander Pilcz verfasst und diente offenbar der Aufklärung breiterer Gesellschaftskreise über die Behandlung psychisch Kranker. 268 Schlöß 1912 , 134.

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ordnungen flexibler und leichter durchführbaren Isolierungen die Übertragung von Aufregungszuständen auf Mitpatienten vermeiden helfen. Die zur Behandlung von Aufregungszuständen traditionell angewandten Einwickelungen in nasse Tücher , die sogenannten Einpackungen , waren Am Steinhof gemäß den Statuten verboten. Diese Methode war , wie ein Vergleich von Anstalten deutschsprachiger Länder zeigt , Anfang des 20. Jahrhunderts sehr umstritten. Manche Psychiater zählten deren Anwendung zur „Hydrotherapie“ und hielten sie für das beste Beruhigungsmittel , andere nahmen diese nur im Einverständnis mit den Kranken vor , wieder andere bezeichneten diese als „Restraint der schlimmsten Art“. In überfüllten Räumen konnten agitierte Kranke auf diese , die Bewegungsfreiheit unterbindende Weise wenigstens für kurze Zeit ungefährlich gemacht werden , wenn man sie nicht unter längerfristige medikamentöse Behandlung mit Morphium oder Skopolamin setzen wollte. Im Gegensatz dazu waren mechanische Beschränkungen nach der Wende zum 20. Jahrhundert gemäß den Angaben der offiziellen Anstaltsberichte allgemein geradezu verpönt. Die diesbezügliche Angabe aus einem niederösterreichischen Bericht von 1911 führte allerdings die Anwendung von „Schutzjacken“ an. Im Standesorgan der Anstaltspsychiater wurde diese Bezeichnung umgehend als eine euphemistische ironisiert.269 Offensichtlich war deren Einsatz an vielen anderen Institutionen zu dieser Zeit nicht mehr üblich. Was diese Berichte vor allem aber aufzeigen , ist , wie allgegenwärtig das Problem agitierter Patienten aufgrund der nur geringen medikamentösen Möglichkeiten war , zugleich aber der Einsatz mechanisch beschränkender Mittel einer zunehmend rigideren Kontrolle unterlag und das Ausmaß deren Anwendung als Qualitätsmerkmal beim Vergleich der Anstalten herangezogen wurde. In den Pavillons für unruhige Patienten befanden sich an der Ostseite die Tagesräume und an der Westseite die zahlreichen sogenannten Wachsäle ( Abb. 7 ). Ihr Name rührt von der intensiven Anwendung der „Bettbehandlung“ her. Maßgeblichen Einfluss auf die Propagierung dieses neuartigen Versorgungssystems hatte Friedrich Scholz , Autor der 1894 in Leipzig erschienenen Schrift „Ueber Fortschritte in der Irrenpflege“.270 Die „Bettbehandlung“ diente gleichermaßen der Überwachung wie auch der Beobachtung , aber auch als Therapie per se. Heinrich Schlöß erwähnte gleichsam en passant in einem von ihm herausgegebenen „Leitfaden für Irrenpfleger“ einen weiteren und keineswegs unwesentlichen Aspekt : „Die Bettbehandlung wird in Irrenanstalten zunächst neuankommenden Pfleglingen zuteil , weil sie den Unterschied zwischen körperlichen und Geisteskranken verwischt und 269 Werner 1911 / 12 , 331. 270 Scholz 1894 ; Rezension in : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 13 ( 1895 ), 342 f.

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bei dem neu zuwachsenden Kranken sogleich den Eindruck hervorbringt , daß er sich in einer Krankenanstalt befinde und daß er krank sei , was bei dem mangelnden oder doch mangelhaften Krankheitsbewußtsein der meisten Geisteskranken immerhin von Wert ist.“271

Das neuartige therapeutische Vorgehen sprach somit gleich mehrere Aspekte an. Die Frage des Krankheitsbewusstseins war , wie es deren regelmäßige Dokumentation in den Krankenakten zeigt , ein wesentliches Kriterium , spätestens bei der Entlassung. Mit der „Bettbehandlung“ konnten die Kranken nicht nur gezielt beobachtet und die pflegerischen Aufgaben einfacher organisiert werden. Der im Leitfaden für den psychiatrischen Pflegeunterricht aufgezeigte tatsächliche Mehrwert ist vor allem auch ein Versuch , sich methodisch der somatischen Medizin anzugleichen , welche in der Bevölkerung ein höheres Vertrauen genoss. Die Bettbehandlung war bereits in den Jahren vor der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend an die Stelle der Isolierungen agitierter Geisteskranker getreten. So wurde in der Anstalt Kierling-Gugging dieses System bei akuten Geistesstörungen in Verbindung mit „Mastkuren“ angewandt , eine laut anstaltseigenem Bericht sehr erfolgreiche Methode. Nicht nur zur besseren Überwachung von beispielsweise an progressiver Paralyse oder Epilepsie erkrankten Patienten , sondern auch allgemein in Stadien psychomotorischer Unruhe und bei Dämmerzuständen galt diese Methode als besonders vorteilhaft. Zudem wurden menstruierende Patientinnen und alle zur Unsauberkeit neigenden Kranken auf diese Weise verpflegt. Dezidiertes Ziel der „Bettbehandlung“ war es , dass die Patienten und Patientinnen „geordnet und ruhig“ sind. Ruhigsein war eine praktische Notwendigkeit , um Mitpatienten und Pflegekräfte nicht zu strapazieren. Entsprechend positive Ergebnisse meinte man bei zwei Dritteln aller unruhigen Kranken erlangen zu können , etwa ein Drittel musste auch weiterhin in einem Einzelzimmer separiert werden. Mit der Etablierung eines geschulten Pflegepersonals hofften die Verantwortlichen , Isolierungen zukünftig gänzlich vermeiden zu können. Insbesondere bei Kranken mit sogenannten „secundären Geistesstörungen“, die „früher abseits in den Winkeln kauerten und oft nur unter Anwendung von Gewalt an ein halbwegs geordnetes Verhalten bei Tische gewöhnt werden konnten“, galt die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ als besonders auffallend. Die Bettbehandlung sei somit „entschieden günstiger“, ihr Erfolg „für jedermann ersichtlich“.272 Die als therapeutische Neuerung propagierte Be271 Schlöß 1905 , 95. Die mit dieser Methode angeblich herstellbare Nähe zum Krankenhaus wird auch betont in : Niederösterreichischer Landesausschuss 1898 , 18. 272 Krayatsch 1896 , 304.

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Abbildung 7 : Wachsaal Am Steinhof 273

handlung zeichnete sich im Wesentlichen dadurch aus , dass die Erkrankten oft wochenlang das Bett hüten mussten und nur kontinuierlich „behufs mäßiger Bewegung im Freien“ dieses wieder verlassen durften. Als therapeutische Erfolge wurden der mildere Verlauf akuter Geisteskrankheiten und das schnellere Schwinden von starken Erregungszuständen benannt. Darüber hinaus führe dies nach Ansicht der Verantwortlichen nicht zuletzt dazu , dass die Patienten sich nicht mehr eingesperrt fühlten , sondern stattdessen krankheitsbedingt das Bett hüten mussten.274 Das dritte wichtige Element der modernen Pflege , neben Bettbehandlung und Isolierung der psychisch Kranken , war die Anwendung ausgedehnter Bäder. Diese kamen bei akut Erkrankten oder auch bei aufgeregten und schlaflosen Patienten relativ häufig zum Einsatz. Im Gegensatz zu den meisten Anstalten Deutschlands wurden für diese Am Steinhof keine extra Abteilungen eingerichtet , die „hydrotherapeutischen Heilverfahren“ konnten auf den jeweiligen Stationen durchgeführt werden. Diese seit der Mitte des 19. Jahrhunderts traditionell durchgeführten Bäder und Dauerbäder standen ursprünglich in einem anderen theoretischen Zusammenhang , nämlich überflüssige Elektrizität als das vermutete ursächliche Moment von psychischer Erkrankung zu mindern. Auch nach der Jahrhundertwende war man sich weder in Bezug auf die Indikation noch über deren Wirkung im Klaren , dennoch galt diese Methode als Mittel der Wahl.275 Die sogenannten „prolongierten Bäder“ dauerten etwa sechs bis acht Stunden , konnten aber auch ausgedehnter sein. Dauerbäder wurden , wie deren Bezeichnung bereits andeutet , auch über mehrere Tage hinweg verordnet und

273 Hofmokl 1910 , 125. 274 Niederösterreichischer Landesausschuss 1898 , 18. 275 Bresler 1912 / 13.

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Abbildung 8 : Pavillons der Pflegeanstalt276

beispielsweise in der Pflege von „siechen , unreinen und unsozialen“ und bei agitierten Kranken vielfach angewandt.277 Die etwas größeren Gebäude der Pflegeanstalt waren in der Mehrzahl für etwa 110 bis 114 psychisch Kranke konzipiert.278 Auch hier wurde unterteilt in Pavillons für „ruhige“ und „unruhige“ Kranke und im Weiteren in „unreine“ und „sieche“ ( Abb. 8 ). Zudem befanden sich auf jeder Seite zwei gänzlich offene Pavillons.279 Die Gestaltung dieser Häuser folgte den oben beschriebenen Prinzipien , in den Häusern für die

276 Schlöß 1912 , 184. 277 Bresler 1908 /  09b , 261. Diese Form der Therapie wurde 1845 in Frankreich entwickelt. Als neuester Fortschritt galt die Durchführung der prolongierten Bäder im Freien. Nicht näher erläuterte psychometrische Experimente sollten als Beleg ihrer Wirkung dienen. In vereinzelten Fällen konnten Dauerbad oder auch Bettbehandlung als kontraproduktiv erlebt werden. Sie sollten nur eingesetzt werden , wenn sich ihr Erfolg bald zeigte : Werner 1911 / 12 , 329 f. 278 Schlöß 1912 , 183. 279 In den „offenen“ Gebäuden waren zudem Bedienstete der Anstalt untergebracht. Dort waren ein Bad und auch eine Desinfektionsanlage eingerichtet. In : Holub 1912 , 183.

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unruhigen Kranken gab es Möglichkeiten zur Isolierung , in den Trakten für Pflegebedürftigere Anlagen für die Dauerbäder. Die Patienten waren zu einem überwiegenden Teil in großen Sälen untergebracht , die wenigen Tages- beziehungsweise Aufenthaltsräume waren nach Norden hin ausgerichtet. Die Möglichkeit des Aufenthaltes außerhalb der Betten war auf den Abteilungen für die „halbruhigen“ und „ruhigen Siechen“ kaum noch gegeben. Ganz anders gestaltete sich die separierte Unterbringung infektiös Erkrankter , deren Pavillons ebenfalls zur Pflegeanstalt zählten. Die tuberkulösen Patienten waren entweder in Einzelzimmern oder aber in Schlafräumen untergebracht , in denen bis zu fünf Kranke wohnten. Im ersten Stock befanden sich spezielle Freiluftliegehallen. Weiters gab es Inhalationszimmer , die mit elektrisch betriebenen Zerstäubungsapparaten ausgestattet waren.280 In den Gebäudereihen der Pflegeanstalt waren zudem Operationsräume untergebracht , getrennt nach septischen und aseptischen Eingriffen , um kleinere Eingriffe innerinstitutionell durchführen zu können.281 Trennung wie auch Zusammenführung waren maßgebliche Momente der Gestaltung der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘. Wie Eric Engstrom treffend feststellt , wurden die auf einem erneuerten Umgang mit psychischen Aufregungszuständen und Bettruhe basierenden Maßnahmen maßgeblich von der Architektur des Anstaltsbaus bestimmt : „That involved the more or less strict segregation of patients from society and their distribution across an elaborated differentiated asylum space [ … ] In other words , patients’ symptoms were fitted into asylum architecture in a practice that alienists described as individualizing treatment.“282 Eben jene „individualisierende Behandlung“ wurde auch nicht weiter explizit gemacht. Konkret als neue Prinzipien benannt wurden von Verantwortlichen des Anstaltsbaus lediglich Separierung und Bettbehandlung : „Ein empfindlicher Melancholiker , ein geschwätziger , bewegungssüchtiger Patient , ein durch peinliche Sinnestäuschungen erregter , auf Gewaltthaten sinnender Irrer , sie alle bedürfen der Bettbehandlung , aber es wäre untunlich sie in derselben Räumlichkeit unterzubringen.“283 Die als modern propagierte Behandlung implizierte somit keineswegs die ausgiebige und individuelle Zuwendung zu den Patienten. Vielmehr stellte sie einen neu angeordneten Blick der Institution auf die ihr anvertrauten Individuen dar ; die individuelle Verhaltensbesonderheit war kaum entscheidend. Viel eher ging es darum , generell therapeutische Angebote für viele verschiedene Fälle als geeignet zu bestätigen. 280 Holub 1912 , 183. Abbildung in : Schlöß 1912 , 186. 281 In diesem Pavillon gab es eine Ambulanz und auch Räumlichkeiten zur Narkosevorbereitung und Sterilisation des Instrumentariums. 282 Engstrom 2007 , 65 f. 283 Niederösterreichischer Landesausschuss 1898 , 19.

3.2 „Die Beschäftigung der Geisteskranken ist ein wichtiger therapeutischer Faktor“

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3.2 „D ie Beschäftigung der Geisteskranken ist ein wichtiger therapeutischer Faktor“284 Als das „souveränste Mittel in der Behandlung von Geisteskranken“ galt allgemein die Beschäftigungstherapie. Die wohlgeordnete architektonische Gestaltung der Pavillons und die Einteilung psychischer Erkrankungen entlang baulicher Gegebenheiten findet sich in Form zahlreicher Möglichkeiten für diese Form der Behandlung gedanklich fortgesetzt. Auf den Stationen wurden Tagräume eingerichtet , der gesamte Tagesablauf der Patienten und Patientinnen wurde entsprechend modifiziert. Josef Starlinger , wesentlich an der Planung der Anstalt beteiligt , meinte euphorisch : „Man sieht schon heute unter der lebhafteren Pflege nicht mehr jene abstoßenden Gestalten , wie solche in den alten Anstalten nicht selten zu sehen waren und die nicht ganz mit Unrecht als Kunstprodukte der alten Wartung hingestellt wurden. Wie im Wachsaal durch die Bettbehandlung Beruhigung erzielt wird , so soll in den Werkstätten und Industrietagräumen wieder Leben und Frische geweckt werden.“285

Die Arbeits- beziehungsweise Beschäftigungstherapie , deren Bezeichnung zumeist synonym verwendet wurde , wurde bereits in Mauer-Öhling systematisch aufgebaut ; gemäß der damaligen Sichtweise der Mediziner waren „Arbeit und Vergnügen im psychiatrischen Sinne ziemlich gleichwertig“. Der sinnvollen Betätigung wurde eine ähnlich große Bedeutung in der Behandlung der Geisteskranken zugeschrieben wie der einige Jahrzehnte zuvor initiierten zwanglosen Behandlung. Sowohl ökonomische Gründe als auch deren therapeutische Bedeutung wurden wiederholt als Gründe für deren Initiierung benannt. Nicht nur war die Verpflegung der Kranken dadurch kostengünstiger , sondern auch das Ansehen der aus öffentlichen Geldern finanzierten Anstalten wurde , so das zugrunde liegende Konzept , auf diese Weise erhöht. Der „Anblick der offenen und friedlich arbeitenden“ und „von ihren Ideen abgelenkten Geisteskranken“ durch Außenstehende war ausdrücklich erwünscht und sollte die bislang nur schwer zu überwindenden Anstaltsmauern zumindest gedanklich überwinden helfen.286 Unter den Anstaltsdirektoren war die Frage der Bezahlung der arbeitenden Patienten sehr umstritten , manche meinten , dass eine solche zu leisten sei , da man nur

284 Hegar-Wiesloch 1907 , 393. 285 Starlinger 1905 , 420. 286 Starlinger 1906 , hier : 381.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

auf diese Weise den erwünschten positiven Anreiz erzielen könne. 287 Damit hätte man zudem das Innenleben der Anstalt noch mehr dem Leben der Gesunden draußen angeglichen. Andere waren wiederum der Ansicht , dass es zutreffender sei , von Arbeitsbehandlung als von Beschäftigungstherapie zu sprechen , denn „… eine einfache Beschäftigung reiche nicht aus , die meisten der Patienten bedürfen einer psychisch tiefer wirkenden Arbeit , welche nicht zerstreut , sondern sammelt , welche inhaltlich den ganzen Menschen packt , so dass er sich ihr ganz hingibt und mit dem wachsenden Gefühl der eigenen Leistungsfähigkeit einen sicheren Boden unter sich und ein festes Ziel vor sich sieht. [ … ] Die Arbeit wird so ein wirkungsvolles psychotherapeutisches Mittel.“288

Der seitens der Patienten geleisteten Arbeit wurde somit ein Heilfaktor zugeschrieben , daher , so die als zulässig angesehene Folgerung , bedürfe sie keiner Bezahlung. Darüber hinaus bestünde , wie es hieß , sonst auch die Gefahr , dass die Kranken zum Schaden ihrer eigenen Gesundheit zur Arbeit drängen würden. Ein weiteres Argument der Anstaltspsychiatrie gegen eine Honorierung war aber auch die Sorge , dass aufgrund der Konkurrenz durch die billigen Arbeitskräfte in der Umgebung der Anstalt wirtschaftliche Nachteile entstehen könnten.289 In den Statuten der Anstalt Am Steinhof wurde die Beschäftigung der Kranken als Beruhigungs- und Heilmittel definiert. Ausdrücklich findet sich festgelegt , dass kein Kranker zur Arbeit gezwungen werden durfte. Dieser Logik folgend war auch keine Entlohnung vorgesehen ; andernfalls würden , so die institutionelle Expertise , Patienten nicht um der Heilwirkung , sondern der finanziellen Vorteile wegen arbeiten. Am Ende jedes Jahres wurde von den erzielten Erträgen ein Gesamtpauschalbetrag ermittelt und in die sogenannte Krankenverdienstkasse eingezahlt. Über diese Einnahmen wurden Kostzubußen , bessere Kleidung , Ausflüge , Weihnachtsgeschenke oder auch die Unterstützung entlassener Kranker und ihrer Angehörigen finanziert.290 Die arbeitenden Kranken standen unter der besonderen Aufsicht eines dem Direktor der Anstalt zugeordneten Wirtschaftsarztes , welchem die Zuteilung der Arbeit 287 Hegar-Wiesloch 1907 , 393 ; vgl. zu der in Mauer-Öhling „schon seit 1869 bestehenden segensreichen , statutenmäßigen Einrichtung der Arbeitsentlohnung an die Pfleglinge“: Bresler 1908 /  09b , 262. 288 Laehr 1906 , 382. 289 Psychiatrische Wochenschrift 3 ( 1901 /  02 ), 153 f. Rezension des Buches : Max Fischer , Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Gebiete der Irrenfürsorge. 290 Statut für die N. Ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalten , § 29 ; Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 12 ( 1910 / 11 ), 326. Anträge der Primarärzte für die Auszahlungen waren vom Direktor zu berücksichtigen.

3.2 „Die Beschäftigung der Geisteskranken ist ein wichtiger therapeutischer Faktor“

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an die Patienten und deren Überwachung oblag. Sein Tätigkeitsbereich umfasste darüber hinaus die Organisation aller Veranstaltungen , die zwecks „Unterhaltung und Zerstreuung“ sowohl für die Kranken als auch für das Pflegepersonal regelmäßig stattfanden.291 Die Abteilungsvorstände wurden seitens der Direktion immer wieder dazu angehalten , die Kranken zur Arbeit einzuteilen. Die Traktpfleger hatten wiederum die Aufgabe , die Patienten entsprechend anzuhalten , vor allem aber nicht zu dulden , dass sie ohne ärztliche Bewilligung von einer ihnen verordneten Beschäftigung fernbleiben konnten. Eine Abnahme der Zahl beschäftigter Patienten galt es zu vermeiden , da andernfalls auswärtige und somit kostspielige Arbeiter heranzuziehen wären. 292 Die Beschäftigungstherapie richtete sich somit vor allem nach den ökonomischen Bedürfnissen , der Eigenbedarf der Anstalt sollte weitestgehend gedeckt werden können.293 Die Tätigkeitsbereiche waren sehr vielfältig , es gab vier Gewächshäuser , in denen eine Vielzahl unterschiedlichster Pflanzen bis hin zu Palmen gezogen wurden , um Krankengärten und Balkone , und auch , wie es hieß , die Innenräume der Pavillons großzügig mit Blumenschmuck versehen zu können. Der Arbeitsdienst war hier direkt mit dem Ziel verknüpft , eine möglichst normale und freundliche Lebenswelt zu simulieren , die Innenwelt sollte zumindest dem Schein nach gleichsam zur Außenwelt werden. Darüber hinaus waren ein Spargelfeld , eine Forellenzucht und ein Weingarten Teil der Anstalt. Arbeitspfleger hatten die Aufgabe , die Patienten zu überwachen , die zwar geschützt durch die Anstaltsmauer , aber außerhalb der Abteilungen tätig waren , wie beispielsweise in der großen Obstbaumanlage. Jeder dieser Pfleger hatte eine Patientengruppe anzuleiten und zu beaufsichtigen.294 Im Weiteren wurden auch die zahlreichen Schreibarbeiten auf die Kranken verteilt. Frauen wurden vorzugsweise in geschlechtsspezifischen Bereichen , in der Küche , in der Wäscherei oder allgemein für Aufräumarbeiten auf den Stationen eingesetzt. Die sowohl zur Beschäftigungstherapie als auch zur „Verbilligung des Anstaltsbetriebes“ eingerichteten 21 Werkstätten 291 Schlöß 1907 /  08. Darüber hinaus war der Wirtschaftsarzt Assistent des Direktors in allen ökonomischen Fragen und hatte die Verantwortung über die Bibliothek und die ärztliche Behandlung der Angestellten und deren am Anstaltsgelände wohnender Angehöriger inne. Es gab zwei unterschiedliche Bibliotheken , eine für die Mediziner zur wissenschaftlichen Arbeit und eine für die Patienten. Hier : 242. 292 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 3 A , Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z., Schreiben vom 5. Jänner 1909. Es finden sich zahlreiche Ermahnungen seitens des Direktors Heinrich Schlöß , wie beispielsweise von 1908 , als durchschnittlich nur zwölf Prozent aller Kranken gearbeitet haben. In : ebd., Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1908 ; Beschwerde von 1910 , dass deren Zahl um 200 abgenommen habe : ebd., Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1910. 293 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 63 / 1908. Aufgrund des weit ausgedehnten Areals der neuen Anstalt waren beim Landesausschuss weitere Stellen für Arbeitspfleger angefordert worden. 294 Roskopf 1907 /  08.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

wurden von den sogenannten Werkführern geleitet , bei Bedarf wurden ihnen Hilfskräfte zugewiesen. Zu diesen nicht technischen Betrieben zählten die Schusterei , Schneiderei , Korbflechterei , Buchbinderei , Buchdruckerei , Laubsägerei und auch eine Näherei.295 Aufsicht über die dort arbeitenden Patienten hatten die sogenannten „Professionistenpfleger“. Diese hatten entweder vor ihrer Tätigkeit Am Steinhof in den jeweiligen Berufen gearbeitet oder aber es wurden von der Anstalt als geeignet befundene Pfleger entsprechend weitergeschult.296 Aber auch die Patienten konnten in den Werkstätten , wie es hieß , sowohl aus ethischen , humanitären , aber auch aus materiellen Gründen ausgebildet werden. Dies wurde anstaltsextern jedoch kritisiert , psychisch Kranke als „unnatürliche Konkurrenz gegen die gesunden Arbeitskräfte“, deren Tätigkeit als „übertriebene Hochstellung und künstliches Hinaufschrauben minderwertiger Arbeitsleistungen“ angesehen. Derselben Logik folgend wurde dieser Vorwurf seitens der Verantwortlichen als nicht relevant betrachtet , da die Kranken ohnehin nur als „halbe oder gar nur viertel“ Arbeitskräfte einzustufen seien.297 Die ökonomische Ausrichtung der Beschäftigungstherapie zeigte sich noch deutlicher an der Hausordnung der Anstalt , die festlegte , dass Kranke auch für private Arbeiten von den am Anstaltsgelände wohnenden Angestellten engagiert werden konnten. Allerdings war diese Patientenverwendung durch eine Reihe einschränkender Bestimmungen geregelt. Kranke durften von den Privatparteien nur zu Arbeiten herangezogen werden , die innerhalb des Geländes zu verrichten waren und keinesfalls das allgemeine Interesse schädigen durften. Auch konnte kein unmittelbarer Anspruch auf diese Arbeitskräfte geltend gemacht werden , vielmehr war ein Ansuchen an die Direktion zu stellen.298 Analog zu allen anderen Tätigkeiten durften die für Haus- oder Gartenarbeiten eingesetzten Patienten nicht direkt entlohnt werden.299 Wiederholte Stellungnahmen seitens der Leitung lassen jedoch erahnen , dass diese Bestimmungen häufig missachtet wurden. So findet sich dokumentiert , dass Patienten zu schweren Arbeiten wie Holzspalten , Fenster putzen , Aufreiben , Wäsche waschen oder Tragen schwerer Lasten herangezogen wurden.300 Zudem war es immer wieder vorgekommen , dass Patienten von ihren Auftraggebern direkt bezahlt wurden

295 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1917. Insgesamt waren in den Werkstätten und mit den Schreibarbeiten durchschnittlich 600 Patienten beschäftigt. 296 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Entwürfe‘ o. Z. / 1908. 297 Starlinger 1909 / 10. 298 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1910. Pro Patient und Tag waren zehn Heller , beziehungsweise drei Kronen monatlich an die Krankenverdienstkassa zu bezahlen. 299 Die Arbeit in den privaten Gärten der sogenannten Anstaltsfunktionäre wurde zum überwiegenden Anteil von Patienten durchgeführt. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1423 / 1907. 300 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , D 79 / 1 / 1908.

3.3 „Der Irrenwärter bildet einen Theil des Arzneiapparates“

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oder gar aufgrund von Botengängen oder Einkäufen eine zu große Freiheit erlangt hatten.301 Dieser Mängel ungeachtet galt die Institution Am Steinhof gemäß den Selbstzuschreibungen als mustergültig , „Hygiene und äußere Haltung der Kranken“ hätten eine solche Höhe erreicht , „dass man bereits den Vorwurf des Luxus nicht selten zu hören bekommt“.302 Neben dem Ausbau der Beschäftigungs- beziehungsweise Arbeitstherapie zählte die Weiterführung der Non-Restraint-Behandlung gemeinsam mit dem neuartigen System der Isolierungen zu den großen Fortschritten in der praktischen Psychiatrie , als therapeutische Verfahren wurden die oben beschriebene Bettbehandlung in den Wachsälen und die Dauerbäder bei agitierten Kranken etabliert.303 Die Veränderungen in der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ bestanden somit nicht nur in dem enorm aufwändigen Bau der Institution an sich , zentrales Anliegen der Verantwortlichen war die angestrebte Annäherung an die Versorgung somatischer Patienten in Krankenhäusern. Alle diese Neuerungen basierten wesentlich auf einem gut ausgebildeten und auch sozial sichergestellten Pflegepersonal.

3.3 „D er Irrenwärter bildet einen Theil des Arzneiapparates“: 304 Die Bedeutung der Pflege für die ‚moderne Psychiatrie‘ Das technisch anmutende , im Titel angeführte Zitat aus dem Jahre 1862 steht für sehr frühe Bestrebungen zur Verbesserung der allgemeinen Lage für die Pflegenden wie auch für die sich mehr und mehr durchsetzende Überzeugung , dass jegliche Veränderung in der sich nach dem Non-Restraint-Prinzip richtenden Psychiatrie bei der Pflege der Kranken anzusetzen hätte.305 Allerdings sollten die Pflegenden auch weiterhin der vollen Disziplinargewalt der Direktion unterworfen sein und unter denkbar schwierigen Bedingungen arbeiten. Dies zeigt sich indirekt daran , dass die ersten Reformen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts darauf abzielten , Verstöße gegen die Dienstordnung „nur“ mit Verweisen , Geldstrafen , Degradierung oder auch fristloser Entlassung statt körperlicher Strafen zu ahnden.306 Gemäß einer Umfrage aus dem

301 302 303 304 305

WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 158 / 1908. Starlinger 1905 , 416. Sander 1901 /  02. Seifert , 1892 , 86. Vgl. zu der Entwicklung der „Wärterfrage“ von einem ständigen Problem zum Reformprogramm : Sammet 2004a. 306 So waren beispielsweise im ­Wiener Allgemeinen Krankenhaus körperliche Züchtigungen als Strafmaßnahme für Wärter noch lange Teil der offiziellen Dekrete gewesen. Aus den dortigen sogenannten „Conduit-Listen“ geht aber nicht hervor , ob diese auch tatsächlich angewandt wurden : Walter 2004 , 143 f.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

Jahre 1897 wurden in deutschen , österreichischen und schweizerischen Anstalten bei Dienstvergehen des Pflegepersonals beinahe in allen Häusern Geldstrafen und Ausgangsentziehungen verhängt. Dagegen konnte Erwin Stransky nur wenig später auf dem 1906 in Mailand tagenden Internationalen Kongress für Irrenfürsorge die vergleichsweise liberalen Tendenzen in den österreichischen Anstalten betonen. So wären Geldstrafen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr üblich und Ausgänge nur mehr selten gesperrt gewesen , die Disziplinierung dieser Angestellten beliefe sich „lediglich“ auf nächtliche Strafwachen.307 Diese Vergleiche im Allgemeinen , wie auch die Themen der „Internationalen Kongresse für Irrenpflege“308 und die rund um die Wende zum 20. Jahrhundert zahlreichen Publikationen zur Pflege psychisch Kranker309 bezeugen die neue Bedeutung der Betreuung.310 Während des gesamten 19. Jahrhunderts standen bittere Klagen über das unfähige Personal an der Tagesordnung ; deren Wahrheitsgehalt und Repräsentativität lässt sich heute nur mehr schwer ausmachen. Das vermehrte Interesse an Reformen für die psychiatrische Pflege zeigt jedoch deutlich genug , dass öffentliche Kritik an der stationären Versorgung vorangegangen sein muss.311 Eine zeitgemäße Anstalt solle sich gemäß den Verantwortlichen „nicht nur über einen modernen Bau“, sondern auch durch „ein modernes Pflegepersonal“ auszeichnen : „Alle Irrenpflege und Anstaltsbehandlung [ sei ] in letzter Linie eine Pflegerfrage. Was immer an Pflege und Behandlungsarten ersonnen werden mag , immer ist dabei die pflegerische Hand nötig und nicht selten ist deren Ausdauer , Willigkeit und Geschicklichkeit ausschlaggebend für unser Wirken und für unseren Erfolg. [ … ] Sich um die Pflegerfrage zu kümmern , heißt praktische Irrenpflege zu betreiben.“312

Mit diesen , im Zuge der Einführung der ‚modernen Psychiatrie‘ häufig zu lesenden , euphorischen Bedeutungszuschreibungen wurden sehr große Anforderungen an die Pflegenden gestellt , deren soziale und materielle Lage jedoch von schwersten Arbeitsbedingungen , großen Unsicherheiten und Abhängigkeiten geprägt war.

307 Lauschner 1908 /  09 , 193 f. 308 Der Terminus „Irrenpflege“ bezog sich um 1900 auf eine Vielzahl vorwiegend organisatorischer und praktischer Aspekte der Anstaltspsychiatrie. Der „Dritte internationale Kongress für Irrenpflege“ tagte 1908 in ­Wien , 1910 fand der vierte , gleichnamige Kongress in Berlin statt. 309 Schlöß 1898 ; 1897 ; Wildermuth 1898 ; Scholz 1900. 310 Vgl. dazu allg. : Falkenstein 2000 ; Braunschweig 2004 ; Ledebur 2007a. 311 Sammet 2004b ; Sammet 2007. 312 Starlinger 1909.

3.3 „Der Irrenwärter bildet einen Theil des Arzneiapparates“

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Die bereits einige Jahre vor der Gründung der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof einsetzenden Reformen zielten einerseits auf die Etablierung einer geregelten Ausbildung und andererseits auf Verbesserungen hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsbedingungen ab. Ein vordringliches Problem der Anstaltsverwaltung war dabei der häufige Wechsel des Pflegepersonals. Der Reformanstoß wurde nicht von der Berufsgruppe selbst , sondern seitens der Mediziner initiiert. Die Dringlichkeit einer Neugestaltung war allgemeiner Tenor. Ein gut ausgebildetes , auf dem Anstaltsgelände wohnendes Personal sei Voraussetzung , um die vielen Missstände zu beheben. Zur Förderung des sogenannten „Wartedienstes“ war man bestrebt , sowohl die Arbeitsund Erholungszeiten , Bezahlung und soziale Absicherung zu verbessern , als auch die psychiatrische Pflege zu professionalisieren.313 Der Niederösterreichische Landesausschuss fasste in seiner Funktion als oberste Verwaltungsbehörde „Beschlüsse zur Hebung des Pflegepersonals in den öffentlichen Irrenanstalten“. Diese führten zu zahlreichen , über einen Zeitraum von mehreren Jahren reichenden Änderungen , welche bereits in der alten Anstalt Am Brünnlfeld ihren Anfang genommen hatten. Im März 1899 wurden die Löhne der Pfleger und Pflegerinnen angehoben und , im Vergleich zu anderen Anstalten als Besonderheit geltend , für Männer und Frauen einheitlich geregelt. Zudem wurde erstmalig eine Altersversorgung eingeführt. Die „Erleichterungen des Dienstes“ beliefen sich in der Einrichtung von eigenen Speise- und Erholungsräumen für das Personal , und zwar vorrangig auf den Abteilungen für unruhige oder unreine Patienten und Patientinnen. Den Anstaltsleitern wurde nahegelegt , sich auch um die „Belehrung und Zerstreuung“ der Angestellten zu kümmern , wie beispielsweise gemeinsame Tanzabende mit den Patienten.314 Im Jahr der Eröffnung von Steinhof wurde ein „Pfleger-Unterstützungs-Verein“ initiiert und verweist nicht zuletzt auf dessen offenbar dringliche Notwendigkeit.315 Neben diesen ersten , vor allem sozial und materiell ausgerichteten Verbesserungen galt es , Ausbildung wie Unterkunft des Pflegepersonals zu verbessern , um , so wiederum die Stimme der institutionellen Notwendigkeiten , den „ungesunden Wandertrieb“316 des Pflegepersonals eindämmen zu können : denn durchschnittlich quittierte

313 Einblicke in die zahlreichen Missstände finden sich in der Zeitschrift : Die Irrenpflege. Monatsblatt zur Hebung , Belehrung und Unterhaltung des Irrenpflegepersonals , mit besonderer Berücksichtigung der freien Behandlung , der kolonialen und familiären Krankenpflege. Diese erschien erstmals 1897 in Halle und wurde von Konrad Alt , Direktor der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe , herausgegeben. 314 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , ‚Circulanden‘ o. Z. / 1907. Die Aussagen der leitenden Anstaltsärzte über die Patienten und die Pflegenden sind generell als auffallend ähnlich zu bezeichnen. 315 Ebd., Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ 704 / 1907. Dieser Verein wurde auch in den Statuten der Anstalt verzeichnet. 316 Die Irrenpflege 2 ( 1897 ), 52 f.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

beinahe die Hälfte des Personals pro Jahr seinen Dienst. Die meisten Pflegekräfte verließen laut interner Dokumentation „strafweise , wegen Unbrauchbarkeit oder Unlust“ bereits innerhalb des ersten halben Jahres die Anstalt. Allgemein wechselten viele in andere Berufe , aber auch Krankheit und Tod waren nicht eben selten ; erfahrenes Personal , welches länger als etwa ein Jahrzehnt gearbeitet hätte , war , so die bittere Klage , nicht verfügbar.317 Um die Jahrhundertwende gab es in Österreich , wie auch in anderen europäischen Ländern , nur mehr vereinzelte Stimmen , die eine Ausbildung für die Pflegenden als unnötig bezeichnet hätten. Um diese Ausbildung flächendeckend durchführen zu können , wurden drei unterschiedliche Modelle diskutiert. Eigens eingerichtete und vor Eintritt in den Anstaltsdienst zu absolvierende Schulen gab es im europäischen Raum nur ganz vereinzelt.318 Ganz gegenläufig zu diesen Bestrebungen , die Pflege zu professionalisieren , waren manche Anstaltsdirektoren der Ansicht , dass regelmäßige , bei den ärztlichen Rundgängen erteilte Anweisungen eine völlig ausreichende Schulung darstellten. Die Niederösterreichische Landesverwaltung tendierte zu einer Kompromissvariante. Eine eigens zu etablierende Ausbildung sah man angesichts des häufigen Wechsels als viel zu kostspielig an. Der Dienst in der Anstalt galt weiterhin als die „eigentliche Schule“ und wurde ab 1901 von einer intern organisierten Ausbildung flankiert.319 Alle neu eintretenden Pflegepersonen konnten innerhalb eines Jahres nach Dienstantritt einen dreimonatigen Unterricht belegen. Ein damit mögliches Aufrücken in höhere Lohnkategorien sollte den entsprechenden Anreiz schaffen , die Ausbildung zu absolvieren und eine Prüfung abzulegen. Diese Regelung war nicht für alle in der Pflege Tätigen verbindlich , etwa die Hälfte der Angestellten Am Steinhof hat diese Schulung auch tatsächlich durchlaufen. Die Examina konnten einmal wiederholt werden , deren Ergebnisse wurden lediglich in einer Qualifikationstabelle erfasst und im Falle der Dienstbeendigung in ein Abgangszeugnis eingetragen , konnten somit im Falle eines Wechsels in eine andere Anstalt kaum geltend gemacht werden.320 Das im Vordergrund stehende Moment war somit die Bindung der Angestellten an die ­Wiener Anstalt. Die stetig steigende Zahl der Patienten , die zu geringe Zahl des Pflegepersonals , aber auch die weiterhin nicht unerhebliche Fluktuation machten weitere Reformen notwendig. Das zulässige Maximalalter der Neueintretenden wurde 1910 von 35 auf nunmehr 40 Jahre angehoben. Zudem wurde die Zahlung des Krankengeldes ver­längert , und es war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zulässig , über die Pflegenden im Falle ­einer 317 Starlinger 1909 , 377. 318 Um die Jahrhundertwende gab es lediglich in England und in Sachsen Ausbildungsgänge für „Irrenpfleger“: Falkenstein 2000 , 21. 319 Starlinger 1909. 320 Deiters 1903 /  04 , 144.

3.3 „Der Irrenwärter bildet einen Theil des Arzneiapparates“

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Beschädigung anstaltseigenen Materials Geldstrafen zu verhängen. Die Einführung einer Probedienstzeit sollte die Auswahl des Personals erleichtern. Diese war anfänglich für einen Zeitraum von sechs Wochen vorgesehen und wurde in der Folge auf drei Monate verlängert. Während dieser Zeit waren die Neueintretenden eingehend auf „Intelligenz , Charakter und moralische Eigenschaften“ zu prüfen. Eine bereits zu Eintritt in die Anstalt für alle verbindlich zu durchlaufende erste Schulung umfasste „Hausordnung , Dienstinstruktion und Irrenkrankenpflege“ und legte gemäß ihrer Reihung wohl mehr Wert auf Ordnungsmaßnahmen als auf die Pflege selbst. Hierbei gilt es festzuhalten , dass erstmals Pflegende die Ausbildung übernahmen , die Prüfung war jedoch von einem Mediziner abzunehmen.321 Ein grundlegendes Problem zur Gewinnung von geeignetem Pflegepersonal war dessen schlechte Bezahlung. Diese , zumeist mit der von Dienstboten verglichenen Entlohnung sollte mittels „Renumerationen“ ausgeglichen werden. Auf diese Zahlungen gab es keinerlei rechtlichen Anspruch , sie folgten dem Prinzip individueller Begünstigungen. Traditionell wurden zu Weihnachten für lang andauernde Dienste an Infektionsabteilungen , die Pflege unruhiger und intensiv zu betreuender Kranker , Vertretungen oder viele nächtliche Aufnahmen finanzielle Entschädigungen vergeben.322 Der Direktor Heinrich Schlöß sprach sich gegen weitere Lohnerhöhungen aus , da seiner Ansicht nach die Pflegenden ohnehin am Anstaltsgelände wohnten und eine Altersversorgung hätten.323 Die größtenteils unverheirateten Pfleger und Pflegerinnen hatten Anrecht auf eine , wie es ausdrücklich hieß , von den Patienten nicht erreichbare Schlafstelle.324 Die in den Aufbauten der Pavillons befindlichen Räum321 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1909. Dokument vom 15. Juni 1909 , betreffend die Pflegereform. Alle weiteren Regelungen über die Ausbildung , die ein Jahr nach Dienstbeginn absolviert werden konnte , blieben aufrecht. Die Hierarchie der Pfleger sollte auch nach außen hin deutlich sichtbar sein. Auf der uniformierten Kleidung war ein Streifen das Zeichen für die unmittelbar nach Anstaltseintritt absolvierte Prüfung , zwei Streifen standen für die absolvierte Ausbildung , drei Streifen für die Position der Traktpfleger , vier für die der Oberpfleger. 322 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ 3118 / 1905. Eine spätere Regelung sah vor , dass diese Zahlungen auch nur mehr für dauernde Mehrleistungen geleistet wurden. 323 Das für die allgemeine , also nicht-psychiatrische Krankenpflege oftmals postulierte Ziel , die soziale Stellung des Pflegepersonals heben zu wollen , um nicht zuletzt Frauen , die „den besseren Ständen“ angehörten , für diesen Beruf gewinnen zu können , galt für die Psychiatrie als unerreichbar. Das höhere gesellschaftliche Ansehen der allgemeinen Krankenpflege beruhte auf der seit vielen Jahrhunderten bestehenden Tradition der Pflege durch einen katholischen Orden , wie den Diakonissen in den sogenannten Mutterhäusern. Die 1882 gegründete erste Krankenpflegeschule im ­Wiener Rudolfinerhaus zielte explizit auf die Gewinnung von Frauen aus „höheren Ständen“. Vgl. allg. : Hähner-Rombach 2008. 324 Eine Auflistung des Familienstandes des Pflegepersonals aus dem Jahre 1909 zeigt , dass 8,3 Prozent der Pfleger und 8,8 Prozent der Pflegerinnen verehelicht waren. Deren Kinder lebten zumeist gar nicht bei ihren Eltern , sondern waren bei Verwandten oder auch fremden Personen untergebracht.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

lichkeiten mussten von mehreren Pflegern beziehungsweise Pflegerinnen geteilt werden.325 Waren Angestellte mit einer Kollegin verheiratet , so hatten sie Anspruch auf eine kleine Wohnung auf dem Gelände der Anstalt oder aber erhielten eine entsprechende finanzielle Entschädigung.326 Die zumeist verehelichten Oberpfleger und -pflegerinnen hatten ihre Dienstwohnungen ebenfalls auf dem Anstaltsgelände. Diese strategisch verfolgte „Sesshaftmachung“ des Personals wie auch die Etablierung des „Lebensberufs Irrenpfleger“ stellte bereits in der Planungsphase der Anstalt ein sehr wichtiges Anliegen der Leitung dar. Damit wandte man sich gegen die Ansicht anderer Anstaltsverwaltungen , dass das Pflegepersonal unverheiratet bleiben sollte. So war in englischen , holländischen und einigen deutschen Institutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Pflegepersonen die Heirat erst gar nicht erlaubt , da man meinte , dass vor allem die weiblichen Pflegekräfte auf diese Weise zu sehr dem Dienst an den Kranken entzogen seien. Unverheiratete Pflegende waren im Allgemeinen jünger , galten als unverbrauchter und waren für etwaige Notfälle während der Nacht oder für unbezahlte Überstunden viel leichter greifbar.327 Eine wichtige Maßnahme , um den Pflegeberuf von dem der Dienstboten abzugrenzen , war neben den in geringem Umfang gewährten Lohnerhöhungen die Einstellung von Stubenmädchen beziehungsweise Hausdienern , die fortan die groben häuslichen Arbeiten auf den Abteilungen zu verrichten hatten. Dieses System wurde 1909 probeweise auf der Frauenseite des Sanatoriums eingeführt. Die anfänglichen Bedenken , dass zwei unterschiedliche Arten von Angestellten zu Konflikten führen könnten , sollten sich nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil sah sich die Leitung davon überzeugt , dieses Modell für die gesamte Anstalt einführen zu können , man

325 WSt LA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ 112 / 1907. Für ledige Pflegepersonen war folgende Einrichtung vorgesehen : ein Bett , ein Kasten , ein Tisch , zwei Sessel und eine Waschgelegenheit ( vgl. Abb. 6 ). Diese Situation war offenbar im Vergleich zu Privatanstalten relativ günstig. Gemäß einem an die Medien gelangten Beschwerdebrief wohnte das dort angestellte Pflegepersonal in den Zimmern der Kranken und hatte nur unzureichende Sanitärräume zur Verfügung. Jede vierte Nacht mussten die Pflegenden Dienst machen , anschließend konnten sie sich nur in einem Notbett am Gang ausruhen. Ausgang gab es nur jeden zehnten Tag , dieser wurde bei Zuwiderhandlungen von der Leitung der Anstalt untersagt. Ebd., o. Z. / 1916. ( Anonymer Brief einer Pflegerin der Heilanstalt Svetlin. ) Die daraufhin erfolgte Erhebung durch die Magistratsabteilung bestätigte die beschriebenen Zustände. 326 Ebd., o. Z. / 1913. Wenn diese Wohnung nicht komplett war , insbesondere keine Küche hatte , hatten die verheirateten Pfleger Anspruch auf Ausgleichszahlungen für Heizung und Beleuchtung. Die Einrichtung von Pflegerheimen , bei denen es auch die Möglichkeit einer Kinderbetreuung geben sollte , wurde wiederholt beim Landesausschuss beantragt , sollte aber ein unerreichtes Ziel bleiben : ebd., o. Z. / 1909 ; Betreff : Pflegereform. 327 Bogdan 1903 /  04 , 333.

3.3 „Der Irrenwärter bildet einen Theil des Arzneiapparates“

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meinte auf diese Weise nunmehr von den Pflegenden die „strikteste Diensterfüllung verlangen zu können , ohne dass wie früher gewisse Ausreden vorgebracht werden“.328 Die zeitlichen Regelungen der Ausgangszeiten sind ein weiterer Hinweis auf die schweren Arbeitsbedingungen. Die Pfleger und Pflegerinnen durften jeden sechsten Tag von 13 bis 22 Uhr die Anstalt verlassen , einmal pro Monat konnten sie der Anstalt bis zum Morgen des nächsten Tages fernbleiben. Für die Traktpflegepersonen galten dieselben Regeln , diese hatten aber ein Mal pro Monat 24 Stunden lang gänzlich dienstfrei.329 Verheiratete Pflegepersonen konnten jenen verlängerten Ausgang gemeinsam nehmen. Die Oberpfleger und -pflegerinnen hatten gar keine festgesetzten Erholungszeiten und bedurften jedes Mal einer besonderen Bewilligung des Direktors. Diese wurde Angaben der Leitung zufolge nur selten und dann stets wegen dringender Gründe verweigert. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Am Steinhof arbeitenden Pflegepersonals waren im Vergleich zum Hilfspersonal noch relativ günstig. Für die auf den Stationen zu verrichtenden Hilfsdienste wurde nur ein minimales Gehalt ausbezahlt. Diese Angestellten wohnten in einer Schlafstelle , abgesondert von den Patienten , und hatten an Sonntagnachmittagen die Möglichkeit , die Anstalt zu verlassen. Darüber hinaus hatten sie keinen Anspruch auf Urlaub , in „besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gewährte ihnen der Direktor bis zu fünf Tage pro Jahr.330 Die mit der Ausübung dieses Berufes verbundene Gefahr lässt sich indirekt aus Weisungen der Art entnehmen , Isolierräume dürften keinesfalls alleine betreten werden.331 Eine Erhebung aus dem Berichtsjahr 1908 /  09 der Anstalt Am Steinhof dokumentiert eine nicht eben unerhebliche Anzahl tätlicher Übergriffe auf die Pflegenden. So finden sich 68 Bisswunden , 96 Kratzwunden , 22 Schläge ins Gesicht mit Schwellung und Blutung , 111 Stöße in die Rippen , Magen und Bauch , von denen zwei der Betroffenen in der Folge an Lungenblutungen litten , und 19 Fußtritte dokumentiert , in drei Fällen wurden Pfleger von agitierten Patienten zu Boden geworfen.332 Die 1909 tödlich verlaufene Auseinandersetzung zwischen zwei Pflegern und einem Patienten , die ihres tragischen Ausgangs wegen durch die Massenmedien ging , verweist ebenfalls auf die schwierigen Umstände. Ein agitierter Patient wurde , so berichtete die ­Wiener Presse , von zwei Pflegern übermannt. Dabei kam es zu Verletzungen des 328 329 330 331

WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1909. Ebd., o. Z. / 1911. Ebd., 62 /  2 / 1910. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1910. Weisung vom 24. August 1910 ; ebd., o. Z. / 1910. Weisung vom 7. Juni 1910. 332 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1909. Schreiben vom 23. Juni 1909. Die Erhebungen erfolgten geschlechtsspezifisch. Die Daten zeigten erhebliche Unterschiede , wie beispielsweise , dass Pflegerinnen Ohrfeigen wesentlich öfter ausgesetzt waren als ihre männliche Kollegen.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

Patienten , an deren Folgen dieser verstarb. Der die Tat zu verheimlichen suchende Pfleger wurde vom Direktor angezeigt. Das diesbezügliche Gerichtsgutachten wies darauf hin , dass Paralytiker häufig auch bei geringer Krafteinwirkung Knochenbrüche erleiden , und ließ dies als mildernden Umstand gelten ; der betroffene Pfleger wurde mit sechs Monaten Arrest bestraft.333 Der genaue Tathergang ist nicht mehr rekonstruierbar , die Schuldfrage muss offen bleiben. Die Episode bezeugt jedoch das Konflikt- und Gefahrenpotenzial der damaligen psychiatrischen Pflege. Explizit mit diesem Vorfall im Zusammenhang stand das Vorhaben , Unfälle besser dokumentieren zu wollen.334 Die Inspektionen der Anstalten seitens der Landesbehörde zielten verstärkt auf die Kontrolle des Umgangs mit den Patienten. Sowohl seitens der betreuten Personen als auch von deren Angehörigen wurden immer wieder Beschwerden eingereicht , wie beispielsweise „nachlässige Pflege , roher Umgang , Ohrfeigen oder Reißen an den Haaren“.335 Wurden Vorfälle dieser Art der Leitung bekannt , führte das zu sofortiger Entlassung und einer Anzeige beim Bezirksgericht. Davon war nicht nur das einfache Pflegepersonal betroffen , denn auch die Traktpfleger , so die Klage des Direktors , hätten eigenmächtig Maßnahmen wie Bettruhe oder Dauerbäder angeordnet. Darüber hinaus wurde bekannt , dass den Kranken mit Maßregelungen wie Bettruhe oder Beschränkung der Kost gedroht worden wäre.336 Der angestrebte reibungslose Ablauf des Anstaltsalltags war nur durch eine ausgeprägte Hierarchie innerhalb des Pflegepersonals und strengste Aufsicht im Allgemeinen zu gewährleisten. So wurde das für nächtliche Zwischenfälle vorgesehene Alarmsignal vom Direktor bei dessen Rundgängen als Mittel der Inspektion eingesetzt.337 Zur Kontrolle des Nachtdienstes gab es elektrische Apparate , die in der Kanzlei des jeweiligen Abteilungsleiters Registrierungsmeldungen aufzeichneten. Doch nicht nur diese Berufsgruppe war dem für das Funktionieren des Anstaltsalltags als notwendig angesehenen , rigiden System unterworfen. Auch die Nachtwächter mussten regelmäßig die an den Hauswänden angebrachten Leitungstaster betätigen , deren Signale wiederum beim Pförtner aufgezeichnet wurden.338 Dieses System der durchgehenden Kontrolle wurde in ähnlicher Art und Weise auch den Medizinern auferlegt. Die angestellten Ärzte mussten einerseits strengsten Anordnungen nachkommen , andererseits war , wie im nachfolgenden Kapitel zu zeigen sein wird , ihr Tätigkeitsfeld durchaus nicht restlos definiert. 333 334 335 336 337 338

Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 117 f. Bresler 1909 / 10a , 141 f. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ 1527 / 1907. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1909. Schreiben vom 9. Oktober 1909. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1909. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1912.

3.4 Medizinisch-administrative Ambivalenzen: Die Aufgabenbereiche der Mediziner

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3.4 Medizinisch-administrative Ambivalenzen: Die Aufgabenbereiche der Mediziner Fedor Gerényi , maßgeblich an den Planungen der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof beteiligt , wurde nicht müde , die enge Verschränkung der öffentlichen Verwaltung mit der psychiatrischen Versorgung zu betonen. Die Finanzierung der „Irrenpflege“ sollte zu den zentralen Aufgaben eines Landes zählen , da „die Erfahrung lehrt , dass eine Versäumnis rechtzeitiger Prophylaxis eine unverhältnismäßig höhere Inanspruchnahme der öffentlichen Mittel zur Folge haben kann“.339 Diese Verbindung gesellschaftlicher Anliegen und Aufgaben mit der Versorgung psychisch Kranker ist charakteristisch für die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘. Dies lässt nach dem Tätigkeitsbereich der Anstaltsärzte , sowohl in ihrem alltäglichen Ablauf in der groß dimensionierten , komplex verwalteten Institution als auch nach ihrem Selbstverständnis in dem nun gänzlich von der Klinik getrennten Aufgabenbereich fragen. Alltagsprägend war selbstverständlich die anstaltsinterne Hierarchie , doch auch das Korsett der übergeordneten Landesverwaltung. Heinrich Schlöß war in seiner Funktion als Anstaltsdirektor dem Niederösterreichischen Landesausschuss unterstellt. Als leitender Arzt oblag ihm die Verantwortung für „Wohl und Ansehen“ der gesamten Institution : Alle Anstaltsärzte , Seelsorger , das gesamte Pflegepersonal , Beamte und Hausdiener hatten seinen Anweisungen Folge zu leisten.340 Sein Tätigkeitsbereich umfasste nicht nur die interne Verwaltung , sondern auch die Vertretung der Institution nach außen , die Führung aller wissenschaftlichen und statistischen Berichte , die Inspektion und Überwachung aller Tätigkeitsbereiche , wie beispielsweise die Revision ärztlicher Protokolle und pflegerischer Rapportbücher , die Kontrolle über Bestellungen von Medikamenten und diverser Materialien , der Speisenverordnungen und der Führung der Krankenakten. So standen trotz der als grundlegend angesehenen Veränderungen des Aufgabengebietes der Leitung weiterhin zahlreiche , sowohl medizinische als auch administrative Bereiche unter einer Oberaufsicht. Der Kompetenzbereich der Primarärzte endete beispielsweise bereits bei Verlegungen innerhalb der Anstalt. Solche waren gemäß den Statuten nach Anhörung des betreffenden Primararztes vom Direktor aus zu verfügen.341 Der Leiter des Sanatoriums , Josef Berze , unterstützte kraft seiner Funktion als Stellvertreter des Direktors diesen insbesondere bei den schriftlichen Arbeiten. Die zahlreichen administrativen Aufgaben erlaubten es dem Leiter der Anstalt , nicht unmittelbar am Krankenbett zu arbeiten , die kon339 Gerényi 1908 /  09 , 398. 340 Dienstvorschriften für die Ärzte , 20 f. 341 Ebd., Punkt B. Besondere Dienstanweisungen für den Direktor , § 10–22 ;

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

krete medizinische Behandlung war den Primarärzten der einzelnen Abteilungen überantwortet.342 Die insgesamt vier Primarärzte für das Sanatorium sowie die Heilanstalten für Männer und Frauen und ein Abteilungsvorstand für beide Pflegeanstalten343 waren für die „sachgemäße Behandlung und Pflege , die Diät , die Art und Dauer der Beschäftigung , die Ausgänge und die Teilnahme der Kranken an Unterhaltungen , Zerstreuungen und am Gottesdienst“ verantwortlich.344 Neu aufgenommene Patienten waren vom jeweiligen Abteilungsleiter in psychischer und körperlicher Hinsicht bei Ankunft von der Aufnahmeabteilung nochmals zu untersuchen. Die Primarärzte hielten die Vormittagsvisite ab , erteilten den Angehörigen mündliche Auskünfte über den Zustand der Kranken oder legten entsprechende Berichte der Direktion zur Bearbeitung vor. Sie hatten die Pflicht , Entweichungen von Kranken und andere besondere Ereignisse umgehend der Leitung zu melden wie auch die Dienstordnung ihrer Untergebenen durch häufige und teilweise sogar nächtliche Kontrollen zu überwachen. Im Weiteren waren sie verantwortlich für die Führung der Abteilungsberichte und das Ausstellen der Reverse für Patienten , die zwar nicht geheilt , aber auf Wunsch ihrer Angehörigen nach Hause entlassen werden konnten. Wurden psychisch Kranke eigens zur Beobachtung ihres Geisteszustandes aufgenommen , so musste eine „übersichtliche Darstellung des bisherigen Krankheitsverlaufes“ für die Gerichtsärzte verfasst werden.345 Zudem überwachten die Primarärzte – wie auch die vielen , in den Krankenakten archivierten Briefe deutlich zeigen – die Korrespondenz der Kranken. Den Patienten und Patientinnen sollte diesbezüglich zwar weitgehende Freiheit gegönnt , gleichzeitig aber vermieden werden , dass etwa Behörden oder den Pfleglingen fernstehende Personen unnötig belästigt würden , vor allem aber nicht das Ansehen der Anstalt zu Schaden käme. Aufgabe der Abteilungsleiter war es , entsprechende Briefe mit „einem Zusatze die betreffenden Mitteilungen des Pfleglings richtigzustellen“.346 Zur Koordination der Tätigkeiten an den jeweiligen Abteilungen wurde täglich eine Sitzung einberufen. Diese diente dazu , „Einheitlichkeit und Konsequenz der 342 Schlöß 1907 /  08. Ärztinnen in psychiatrischen Anstalten gab es erst sehr spät , 1935 wurde die erste Medizinerin in Ybbs angestellt. In : Hubenstorf 2002 , hier : 311. 343 Die täglich abzuhaltende Visite des Primararztes erfolgte alternierend auf den beiden Seiten der Pflegeabteilung. Wegen der steigenden Anzahl der Kranken auf den Abteilungen der Pflegeanstalt wurde 1910 ein weiterer Primar angestellt. Die Vertretung des Direktors , die anfangs dem Leiter des Sanatoriums vorbehalten war , erwies sich aufgrund des dortigen „speziellen und zeitraubenden Parteienverkehrs“ und der relativ großen räumlichen Distanzen als unvereinbar. Mit der Einstellung eines fünften Primarius hatte dieser die Vertretung des Direktors inne. 344 Schlöß 1907 /  08 , 241. 345 Dienstvorschriften für die Ärzte , Punkt D. Besondere Dienstanweisungen für die Primarärzte , § 22. 346 Ebd., § 34.

3.4 Medizinisch-administrative Ambivalenzen: Die Aufgabenbereiche der Mediziner

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ärztlichen Maßregeln zu vollziehen“.347 Während dieser einstündigen Sitzung wurden die schriftlichen Rapporte gelesen , die Ausgangs- und Arbeitsbewilligungen und die Teilnahme an diversen Unterhaltungen genehmigt , die Korrespondenz geprüft und die Listen für die Bäder , außerordentliche Ausgaben der Kranken sowie diverse „Bedarfs- und Erforderniszettel“ unterzeichnet. Parallel dazu hatten die sogenannten Subalternärzte , die Sekundar- und Assistenzärzte , Zeit an der Komplettierung der Krankenakten zu arbeiten. All dieser Schriftverkehr verweist auf den enormen administrativen Aufwand des Betriebes , wie umgekehrt auch auf das Bestreben , über eine ausdifferenzierte Verwaltung und bürokratische Dokumentation aller Vorgänge Transparenz herzustellen und die Rationalität der gesamten Organisation zu belegen. Die Primarärzte waren die unmittelbaren Vorgesetzten aller ihnen zugewiesenen Pflegepersonen und Ärzte.348 In der Heilanstalt waren auf der Männer- und Frauenseite jeweils drei Subalternärzte , in der Pflegeanstalt jeweils ein Ordinarius und ein Subalternarzt angestellt. Im weitaus geringer belegten Sanatorium waren neben dem Primar ein Ordinarius und drei ihm zugeordnete Ärzte beschäftigt.349 Der Aufgabenbereich der in der ärztlichen Hierarchie zuunterst stehenden Sekundar- und Assistenzärzte findet sich in deren Dienstordnung folgendermaßen beschrieben : „In ihrem persönlichen Verhalten sollen sie sich bescheiden , den Belehrungen und Unterweisungen , welche ihnen ihre Vorgesetzten angedeihen lassen , sollen sie sich zugänglich , dienstbeflissen , von Lust und Liebe zu ihrem Amte und von regem Wissensdrange erfüllt zeigen.“350 Bei den Visiten hatten sie den Primararzt in der Untersuchung und Behandlung der Kranken zu unterstützen , dessen Anordnungen entgegenzunehmen und die für die Krankenakten notwendigen Notizen zu machen. Im 347 Dienstvorschriften für die Ärzte , Punkt A. Allgemeine Bestimmungen , § 17. 348 Deren Rangordnungen lauteten : Direktor , Primararzt , ordinierender Arzt , Sekundararzt I. oder II. Klasse , Assistenzarzt. Mediziner konnten nach Abschluss ihres Studiums als Assistenzärzte eintreten. Nach zwei Jahren zufriedenstellender Arbeit konnten sie in die I. Klasse , nach insgesamt zehn Jahren zu Ordinarien aufrücken. Hatten Mediziner bei Anstaltseintritt bereits mehr als zwei Jahre in einem öffentlichen Spital , als Militär- oder Gemeindearzt praktiziert , so wurden sie als Sekundarärzte II. Klasse eingestuft. Nach zwei Jahren Anstaltsdienst konnten sie in die I. Klasse aufrücken und das Definitivum verliehen bekommen. Nach acht Jahren rückten sie bis in die VII. Rangklasse ( Ordinarius ) auf. Hatte ein Mediziner bereits mehr als vier Jahre im öffentlichen Dienst gearbeitet und trat erst dann seinen Dienst Am Steinhof an , wurde er als provisorischer Sekundararzt I. Klasse eingestuft und erreichte nach insgesamt acht Jahren die Stellung als Ordinarius. Die Privatpraxis war allen Am Steinhof angestellten Ärzten verboten , die Tätigkeit als Gerichtsarzt war erlaubt. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1913. Schreiben vom 3. April 1913. 349 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 164 / 1910. Schreiben vom 8. November 1910 vom Direktor an den Landesausschuss. Zu diesem Zeitpunkt waren sämtliche Subalternärzte weniger als zehn Jahre im Dienst der niederösterreichischen Landesverwaltung. 350 Dienstordnung für die Ärzte , I. Besondere Dienstanweisung für die Subalternärzte , § 4.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

Weiteren hatten die Subalternärzte die Instruktions- und Wiederholungskurse für das Pflegepersonal zu halten.351 Die Diensteinteilung erfolgte nach einem sogenannten Haupt- und einem Journaldienst. Der mit dem Hauptdienst beauftragte Arzt hatte die Aufnahmen zu übernehmen oder dabei zu assistieren , die Speisen zu kontrollieren und Ergebnisse dieser Inspektionen in ein Kostprotokoll einzutragen. Der Journaldienst hatte die Nachmittagsvisite abzuhalten und alle erforderlichen Behandlungen der Kranken durchzuführen. Zudem musste er während der Besuchszeiten im Konferenzzimmer der jeweiligen Abteilung anwesend sein , um Auskünfte zu erteilen und die vorgeschriebenen Besucherkarten auszustellen.352 Der Tätigkeitsbereich der Am Steinhof angestellten Ärzte war genau definiert , ein Engagement in der Forschung , der Trennung von Pflege und Klinik gemäß , auf eine in der Freizeit zu erbringende und freiwillige Leistung reduziert. In der Prosektur war ein Mediziner vom pathologisch-anatomischen Institut der Universitätsklinik angestellt. Dieser war auch für alle histologischen , mikroskopischen und bakteriologischen Untersuchungen zuständig.353 Die Primarärzte waren verpflichtet , bei den Obduktionen derjenigen Patienten anwesend zu sein , die auf ihrer Abteilung verstorben waren. Der mit der Führung der jeweiligen Krankenakte beauftragte Arzt hatte die Obduktionsbefunde in das hierfür anzulegende Protokoll einzutragen und in der Krankenakte entsprechende Verweise zu vermerken. In der Prosektur der Anstalt wurde eine Sammlung der , wie es hieß , für die Wissenschaft interessanten Präparate angelegt. Dem Direktor oblag es , diese den Abteilungsärzten für weitere Forschungen zugänglich zu machen.354 Im Organ der Standesvertretung der Anstaltsärzte wurde die Stellung der ­Wiener , wie auch andernorts nun eigenständigen Anstaltspsychiatrie immer wieder diskutiert. So gab es nicht wenige Stimmen , die das allgemein nicht sehr große Prestige und die nur geringen Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Forschung beklagten. Josef Berze , Primararzt und Stellvertreter des Direktors , wandte sich vehement gegen diese Vor351 Schlöß 1907 /  08 , 242. 352 Dienstordnung für die Ärzte , I. Besondere Dienstanweisung für die Subalternärzte , § 6 f. 353 Gemäß den Statuten mussten alle an der Anstalt verstorbenen Kranken obduziert werden , sofern sich nicht deren Angehörige explizit widersetzten : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 12 ( 1910 / 11 ), 326. Der Prosekturdienst war zwischen Klinik und Anstalt genau geregelt : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 1048 / 1907. Privatdozent Julius Bartl hatte diese Stelle inne. Ab 1908 wurde für diese Aufgabe zusätzlich Franz Friedland eingestellt , der bis zu diesem Zeitpunkt Sekundararzt an der Anstalt war. In : ebd., o. Z. / 1908. 354 Dienstvorschriften für die Ärzte , Punkt K. Dienstvorschriften für die Versehung der Prosektur , § 7 und § 8. Die Anstaltsärzte durften hierzu Einsicht in die Obduktionsprotokolle nehmen , Abschriften dieser allerdings nur innerhalb der Prosektur vornehmen. Wurden Inhalte der Obduktionsergebnisse publiziert , so mussten sie zuvor vom Prosektor auf dessen Richtigkeit überprüft werden : ebd., § 11.

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würfe. Er war der Ansicht , dass der Niederösterreichische Landesausschuss den ärztlichen Dienst ohnehin schon besser , nämlich eigenverantwortlicher organisiert hätte. Bereits länger im Dienst stehende Ärzte hätten zudem die Möglichkeit , sich bis zu sechs Monate beurlauben zu lassen , um an einer Klinik zu hospitieren.355 Der Direktor Heinrich Schlöß monierte , dass bereits in Mauer-Öhling ein gehirnanatomisches und ein bakteriologisches Laboratorium , außerdem auch ein „photographisches Atelier“ eingerichtet und Röntgenapparate zur Verfügung gestellt worden waren. Ebenso seien bei der Gründung der Anstalt Am Steinhof sowohl Zentrallaboratorien für chemische , anatomische und bakteriologische Zwecke als auch sogenannte Handlaboratorien in den Kanzleien der Abteilungsvorstände eingerichtet worden. Diese Gegebenheiten stünden seiner Ansicht nach jedoch in keiner Relation zu der erhofften Zahl daraus hervorgegangener wissenschaftlicher Arbeiten. In der bis 1907 bestehenden , sowohl klinischen als auch für die Versorgung zuständigen Institution Am Brünnlfeld wurden , wie er meinte , trotz ungünstigerer Voraussetzungen sehr viel mehr wissenschaftliche Arbeiten verfasst.356 Hingegen lägen so gut wie keine Publikationen seitens der in den neuen Anstalten Mauer-Öhling oder Am Steinhof arbeitenden Psychiater vor. Als Ursache machte die Leitung das geringe wissenschaftliche Engagement der jüngeren Generation von Anstaltsärzten aus.357 Diesem Vorwurf von Heinrich Schlöß antwortete umgehend ein Schreiben der Am Steinhof angestellten Ärzte , in dem sie ihr Selbstverständnis folgendermaßen charakterisierten : „Der Anstaltsarzt stehe nach der ganzen Art seiner Tätigkeit und Anschauungsweise dem praktischen Arzte und dem Kliniker weit näher als dem anatomischen oder chemischen Forscher. Der Krankensaal , die Anstalt mit allen ihren auf Behandlung , Erholung , gesellige Zerstreuung der Pfleglinge abzielenden Einrichtungen ist sein Element , nicht das Laboratorium.“358

Die Mediziner verwehrten sich gegen das Ansinnen , dass nur die Arbeit im Labor prestigereich sei. Vielmehr machten sie stattdessen auf ihr Engagement in der praktischen Psychiatrie , die soziale Fürsorge in und auch außerhalb der Anstalt und ihre diversen administrativen Betätigungen aufmerksam. Vor allem erlaube der intensive Dienst an den Abteilungen eine solche Betätigung erst gar nicht , zudem verfügten 355 356 357 358

Berze 1909 / 10 , 249. Vgl. dazu auch die Auflistung : Berze 1907 /  08b. Schlöß 1909 / 10. Erklärung der Ärzte der n.-ö. Landes-Irrenanstalten „am Steinhof “ 1909 / 10.

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die meisten der entweder unmittelbar nach dem Studium oder aber nach kurzer Tätigkeit in der Praxis in den Anstaltsdienst eingetretenen Ärzte über keinerlei oder nur geringe klinische Erfahrung.359 In einem Rückblick zur Entwicklung der psychiatrischen Anstalt beschrieb Josef Starlinger die bis 1907 aufrechterhaltene Verbindung von Patientenversorgung und klinischer Forschung als eine sehr fruchtbare. So war bis zum Zeitpunkt der Trennung nicht nur stets die Möglichkeit des fachlichen Austauschs der Ärzte untereinander gegeben , es wechselten auch manche Mediziner aus der Forschung in die psychiatrische Anstalt beziehungsweise hatten Sekundarärzte der Anstalt die Möglichkeit , in der Klinik zu arbeiten. Ein weiterer Vorteil der noch jungen Disziplin war , dass in der Anstalt für die Forschung stets „reiches Studienmaterial“ vorhanden war und Spätformen der Psychosen über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet werden konnten. Dennoch bedauerte man den geringen Umfang des Austauschs von Pflege und Wissenschaft seitens der für die psychiatrische Versorgung Zuständigen : „Für die Anstalt ist und bleibt die Klinik der vornehmste wissenschaftliche Born , der Leben und Freude in den Schimmel des Anstaltslebens trägt , für die Klinik bleibt die Kenntnis des Anstaltslebens wichtig , weil die Irrenanstalt selbst eine Medizin ist , also angewandte Therapie darstellt.“ In den neu geschaffenen Bereich , das „Laboratorium der Irrenpflege“, wurden aber zugleich auch größte Hoffnungen gesetzt : „Vieles haben die letzten Jahre schon geschaffen , aber noch manches Experiment wird vonnöten sein , ehe sich volle und klare Gesetze auf diesem Gebiet werden formulieren lassen.“360 Die mit dem Neubau der Anstalt Am Steinhof vollzogene Aufteilung zwischen der klinischen Forschung und der stationären Versorgungseinrichtung galt allgemein wegen der wachsenden Patientenzahlen als eine notgedrungene Entwicklung.361 Die 359 Die Ärzte der Anstalt Mauer-Öhling wandten sich ebenso vehement gegen die von Schlöß erhobenen Vorwürfe. In ihrem Falle ist nicht nur die räumliche Ausdehnung der Anlage selbst hinderlich , sondern vor allem aber die Hauptstadt weit entfernt. Auch die Leitung der Kolonie , die Überwachung der Arbeitsplätze und der Familienpflege mit über 220 Kranken verteilt über 15 Gemeinden und deren täglicher Besuch , das Führen von Krankenakten aller Patienten , aber auch die ärztliche Behandlung von Angehörigen und Angestellten erübrige keine Zeit für wissenschaftliche Arbeiten : Erklärung der Sekundarärzte der n.-ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Öhling 1909 / 10. 360 Starlinger 1905 , 415 f. 361 In gängigen psychiatriehistorischen Ausführungen wird oftmals Karl Jaspers als derjenige zitiert , der einen absoluten Gegensatz der Klinik- und der Anstaltspsychiatrie festgestellt hätte. Dies ist nicht zutreffend beziehungsweise stark verkürzt wiedergegeben. Jaspers erläutert die beiden Aufgabenbereiche , deren zukünftiges Verhältnis zueinander seiner Ansicht nach gänzlich unbestimmt sei : Jaspers 1959 , 705 f. Vgl. dazu auch : Hirschmüller 1991 , 29 f. Diese Struktur zweier Einrichtungen , nämlich der Klinik und der Anstalt , hat sich sowohl in Österreich als auch in Deutschland bis heute erhalten. Ganz im Gegensatz dazu dienen die Schweizer Kantonsspitäler wie Friedmatt , Waldau und die Zürcher Institution Burghölzli zugleich auch als Universitätskliniken.

3.4 Medizinisch-administrative Ambivalenzen: Die Aufgabenbereiche der Mediziner

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Kritik an der Trennung der Anstalts- und der Universitätspsychiatrie richtete sich auch nicht gegen die Trennung per se , organisierte aber die Stimmen , dass nicht die gesamte Forschung an der Klinik konzentriert werden könne beziehungsweise die fachliche Verbindung gewahrt bleiben solle.362 Johannes Bresler , Herausgeber des Standesorgans , plädierte etwa für die Einrichtung einer „wissenschaftlichen Zentrale“, in welcher Anstaltsärzte Forschung betreiben können. Seine Erwartungen an diese waren ambitioniert , „der Glaube an die Zukunft der Psychiatrie , an die vermehrte Heilung und Verhütung der Geisteskrankheiten und damit Ersparnisse in dem Irrenwesen“ sollten diesen Bestrebungen ein entsprechendes Fundament geben.363 Breslers Vorschlag einer zentralisierten „Nutzbarmachung des Materials der Landesanstalten“ wurde von vielen der Standesvertreter vor allem aus finanziellen Gründen als nicht realisierbar angesehen , sie plädierten alternativ für einen verbesserten Austausch zwischen den beiden psychiatrischen Tätigkeitsbereichen.364 So sollte subalternen Anstaltsärzten die Möglichkeit geboten werden , an der Klinik als Assistenzärzte zu arbeiten , und weniger etablierten Klinikern der Eintritt in den ständigen Dienst in einer Anstalt erleichtert werden. Wagner-Jauregg plädierte für die Einrechnung der jeweiligen Vordienstzeiten , damit dieser Wechsel auch eine reale Basis habe. Allgemein sollte der Austausch zwischen den einzelnen Kronländern der Habsburgermonarchie aufgrund der vielen unterschiedlichen Sprachen , aber auch der vermuteten „nationalen Eigenarten der Psychosen“ wegen gefördert werden.365 Die aus der ­Wiener Anstaltspsychiatrie stammenden wissenschaftlichen Arbeiten waren in der Tat nicht sehr viele. In den Jahrbüchern für Psychiatrie und Neurologie finden sich lediglich vereinzelte Hinweise , etwa eine von Heinrich Schlöß durchgeführte „Demonstration einer Krankengeschichte mit abschließendem Obduktionsbefund“ einer Patientin vom Steinhof scheint bereits eine Ausnahme gewesen zu sein.366 Karl Wieg-Wickenthal , Primarius und Vorstand der Frauenheilanstalt , publizierte 1914 zu differentialdiagnostischen Fragen von Hirntumoren , die er auf der Basis von anstaltsinternen Obduktionsbefunden erstellte.367 Manchmal rekurrierten Psychiater auf eine größere Anzahl von Kranken , allerdings ohne weitere Angaben , wo diese Pa-

362 363 364 365

Weber 1910 / 11. Bresler 1909 / 10b. Bresler 1909 / 10c. Anonym , Bericht über den österreichischen Irrenärztetag 1909. Das Zitat stammt von Erwin Stransky. Hier : 382. Diese Beschlüsse sollten den jeweiligen Landesausschüssen und den Vorständen der psychiatrischen Kliniken bekannt gegeben werden. Vgl. dazu auch : Wagner-Jauregg 1907. 366 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 30 ( 1909 ), 318 f. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 11. Mai 1909. 367 Wieg-Wickenthal 1914.

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tienten beobachtet und untersucht worden waren. Alexander Pilcz ist als einziger der Ärzte aus dem Anstaltsdienst ausgeschieden , um wieder an die Klinik und in die Forschung zurückzukehren.368 Seine Verbindung zur Anstalt konnte er offenbar dahingehend nützen , Krankheitsverläufe von Patientinnen , die nur für wenige Tage im Beobachtungszimmer an der psychiatrischen Klinik waren , auch nach deren Transferierung auf den Steinhof erneut zu Konsultationen heranzuziehen.369 Weitere wissenschaftliche Studien stammen vor allem von Josef Berze , der als Nachfolger von Pilcz 1910 Primararzt des Sanatoriums und 1918 Leiter der Institution Am Steinhof werden sollte.370 Berze benannte im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Anstalts- und Universitätspsychiatrie die Psychologie als deren beider zentrale Grundlagenwissenschaft und bestand dabei nicht ohne Stolz darauf , dass „nicht wenige der wertvollsten pathopsychologischen Arbeiten gerade von Anstaltspsychiatern herrühren“. Psychiatrische Kliniken wären allerdings noch immer aufgrund ihrer Nähe zur neurologisch orientierten Forschung zu wenig an der Psychologie interessiert. Die möglichst genaue Erfassung der einzelnen Symptome vom rein phänomenologischen Standpunkt sollte hierfür die empirische Basis bilden. Jenes Aufgabengebiet sah Berze als eine spezielle Domäne der nur in einer Anstalt möglichen längerfristigen Beobachtung an : Insbesondere das „Gebiet der psychologischen Durcharbeitung der Psychosen und der abnormen Geisteszustände“ schien seiner Ansicht nach die Chance für die versorgende Psychiatrie darzustellen , um in dieser Sparte eine führende Rolle einnehmen zu können.371 Ein wichtiges Gebiet seines Interesses war die Schizophrenie , zudem publizierte er zur Vererbung von psychischen Erkrankungen , zu forensischen Themen und auch zu vielen der für ihn zentralen , nämlich praktischen Fragen der Anstaltsversorgung. Doch es wurde längst nicht nur die mangelnde Möglichkeit zu wissenschaftlichen Forschungsarbeiten beanstandet. Sowohl die Sicht der Gesellschaft auf die stationäre Versorgung als auch die Einschätzung der Psychiater ihrer eigenen Tätigkeit gegenüber fiel häufig nicht eben positiv aus. Neben der Klage wegen der geringen Bezahlung und der daraus resultierenden ungenügenden Anzahl junger Ärzte war es insbesondere die Härte des Anstaltsdienstes , die im Extremfall sogar „Anstaltsneurasthenie“ nach sich ziehen könne.372 Das nur geringe Prestige des Berufes und die allgemein 368 Vgl. Pilcz 1909. 369 Pilcz 1917 / 18. 370 Eine Übersicht der früheren , vorwiegend kleineren Arbeiten von Josef Berze findet sich in : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 374 und auch bei : Kreuter 1996 , Bd. 1 , 117 f. 371 Berze 1914 / 15 , hier : 196. 372 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 4 ( 1902 ), 218 ; WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 135 / 1912.

3.5 Zum Alltag zwischen Überfüllung und mangelndem Ansehen der Anstaltspsychiatrie

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bestehende „Furcht vor den Irrsinnigen“ galten als nur schwer zu überwindende und grundlegende Schwierigkeiten der „Humanitätsanstalten“. Anregungen , um den Vorurteilen entgegenzuwirken , waren aber weniger inhaltlicher Natur , sondern eher terminologischer Art , beispielsweise die konsequente Umbenennung von „Irrenärzten“, „Irrenanstalten“ und „Irren“ in Psychiater , Krankenhäuser und Kranke. Die sich als ein Teilgebiet der Medizin verstehende ‚moderne Psychiatrie‘ wollte ihre Aufgabe nicht mehr auf die disziplinarische Verwahrung begrenzt wissen und konzentrierte sich eher auf Fragen der Anstaltsorganisation , und diese wurden vor allem durch die pure Vielzahl der psychisch Kranken virulent.

3.5 „Man sagt daher nicht mit Unrecht, dass bei der Behandlung der Geisteskranken die Anstalt selbst eine Medizin darstellt“: 373 Zum Alltag zwischen Überfüllung und mangelndem Ansehen der Anstaltspsychiatrie Die hier zitierte Aussage Josef Starlingers spricht eine zu dieser Zeit allgemein geteilte Überzeugung der Anstaltsärzte aus. Die lang gehegte Hoffnung , die psychiatrische Versorgung auf längere Sicht hin quantitativ sicherstellen zu können , geriet bald nach Fertigstellung des Steinhofs ins Wanken. Das Dogma der Betriebsverbilligung durch stete Vergrößerung der Anstaltsbauten galt unter den Standesvertretern bereits als widerlegt. Gemäß einer weitangelegten Umfrage biete eine Institution mit etwa tausend Betten das ausgewogenste Verhältnis zwischen ökonomischen und medizinischen Erfordernissen , größere Anstalten galten als „die Entwicklung des Anstaltswesens gefährdend“.374 Die Frage nach der „idealen“ Dimension der Anlage spielte im gesamten Krankenhauswesen eine wichtige , vor allem administrative und organisatorische Rolle , weit mehr aber noch beim „Irrenwesen“ und dem an den stationären Aufenthalt per se gebundenen „ärztlichen Regime“.375 Die stete Zunahme der Am Steinhof stationär zu versorgenden Patienten erschwerte die fachgerechte Pflege , gefährdete das gesamte Konzept der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ und führte , aufgedeckt durch die regelmäßigen Inspektionen des Direktors , zur vermehrten Anwendung „kalter Wickelungen“. Lege artis galten diese als ein therapeutisches Mittel zur Beruhigung psychomotorisch erregter Patienten , durften somit ausschließlich von Ärzten angeordnet werden. Offenbar wurden sie eigenmäch373 Schlöß 1912 , 135. Vgl. dazu auch : Meier , Bernet , Dubach , Germann 2007 , 55 f. 374 Starlinger 1912 / 13. 375 Starlinger 1913 / 14.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

tig von Pflegenden , und nicht nur in Übertretung ihrer Befugnisse , sondern auch als Disziplinarmittel eingesetzt. Als Konsequenz ordnete Schlöß ein absolutes Verbot der Anwendung von Einpackungen an , welches jegliche Art der Wickelungen in nasse oder trockene Tücher , aber auch das Anbinden von Patienten mit Leintüchern oder Handtüchern an die Bettgestelle umfasste.376 Die Versorgungsengpässe hatten jedoch bereits mediale Aufmerksamkeit erlangt. In der Wochenzeitung des sich im Untertitel als radikal bezeichnenden Blattes „Der Blitz“ waren bereits 1908 einige Berichte über als unhaltbar angesehene Zustände Am Steinhof erschienen.377 Unmittelbarer Anlass für eine offensive Stellungnahme , insbesondere gegen die der Christlich-Sozialen Partei nahestehenden Verantwortlichen , war 1910 der Todesfall eines Patienten. Ein Pfleger wurde zu einer Haftstrafe verurteilt , weil er einen agitierten Kranken in eine „kalte Wickelung“ gepackt hatte.378 „Der Blitz“ fokussierte weniger auf den Anlassfall selbst , als vielmehr auf die Hintergründe. Dabei wandte man sich äußerst kritisch gegen Heinrich Schlöß und den Verantwortlichen des Landesausschusses , Hermann Bielohlawek. Gemäß der journalistischen Angabe war der verstorbene Patient in einem mit Filzläusen kontaminierten und dauerhaft unhygienischen Pavillon untergebracht gewesen und deswegen in Aufregung geraten. Daraufhin wäre er von einem Pfleger „eingepackt“ und auf diese Weise bewegungsunfähig gemacht worden. Maßnahmen dieser Art wären , so die Kritik , durchaus üblich gewesen , da die Pflegenden bei Notfällen oftmals lange warten mussten , bis ein Arzt kam. Zu diesem Zeitpunkt haben insgesamt lediglich neunzehn Ärzte in der längst überfüllten Anstalt gearbeitet und wären , gemäß der Berichterstattung , viel eher damit beschäftigt gewesen , Krankenakten zu schreiben , als sich tatsächlich mit den Patienten zu befassen. Die Kritik richtete sich durchaus gegen die Pfleger , welche Patienten geschlagen haben sollen , verwies jedoch zugleich auf die strukturellen Gegebenheiten , die zu diesen Missständen führten. Zudem bestünden die therapeutischen Maßnahmen der stationären Behandlung ohnehin vorwiegend bloß darin , dass die Patienten arbeiten mussten.379 376 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1909. 377 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Blitz-Angelegenheiten‘ / 1910. Die Zeitschrift nannte sich : „Der Blitz. Eine radikale Zeitung“. Den Archivalien beigelegt waren die Ausgaben Nr. 39 und Nr. 40 ( 1910 ). Frühere Ausgaben waren die Nr. 4 vom 25. Juli 1908. Hier wurde berichtet : „Die Gebäude sind zu schön ausgefallen , nun muss , was sie zu viel gekostet haben , an der Verpflegung hereingebracht werden [ … ] Diese ist skandalös.“ Ebenso war in den Ausgaben Nr. 10 vom 17. Oktober 1908 und Nr. 12 vom 14. November 1908 von zunehmenden Missständen berichtet worden. 378 Über diesen Vorfall wurde auch in anderen Tageszeitungen berichtet : Die ­Wiener Presse ; ­Wiener Extrablatt. Zitiert in : Der Blitz , Nr. 39 und 40. 379 Ebd. Die Leitung war sehr besorgt darüber , dass anstaltsinterne Informationen an die Öffentlichkeit gelangen könnten. Den Angestellten wurde auch schon vor diesem Skandal strengstens verboten , Mittei-

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Im Herbst 1909 sah sich der Anstaltsdirektor genötigt , beim Niederösterreichischen Landesausschuss Anzeige zu erstatten , da seit geraumer Zeit mehr als 3. 100 Patienten zu verpflegen waren. Schlöß bat , die Zahl 3. 000 aus versorgungstechnischen Gründen nicht überschreiten zu lassen.380 In den Pavillons für ruhige Patienten war es infolge fehlender Fenstergitter , aber auch der dort nicht ständigen Überwachung wegen , zu mehreren Unglücksfällen gekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren nur die Abteilungen für Unruhige und Halbruhige entsprechend ausgerüstet , die Unmöglichkeit einer Daueraufsicht erzwang es , sämtliche Fenster zu sichern. Lediglich im Sanatorium sollten teurere Korbgitter die freie Aussicht weiterhin gewährleisten.381 Weitere Maßnahmen , wie beispielsweise der Einbau von Isolierzimmern auf den Abteilungen für „Halbruhige“ oder die Verlegung sogenannter „Mittelklassepatienten“ von der Heilanstalt ins Sanatorium , schufen erste , allerdings nur unzureichende Abhilfen.382 Ein alternatives und schon öfter praktiziertes Vorgehen gegen die schon bald nach der Eröffnung bestehende Überlastung der Anstalt war die Transferierung bestimmter Patientengruppen in andere Institutionen , wie Mauer-Öhling oder Klosterneuburg.383 Dort aber waren , wie die umfangreiche Korrespondenz deutlich zeigt , nur ganz bestimmte , nämlich arbeitsfähige und nicht engmaschig zu beaufsichtigende Patienten erwünscht. Vom Steinhof wurden wiederum gerne diejenigen Patienten verlegt , die nur selten Besuch empfangen hatten , somit problemloser an einem anderen Ort leben konnten.384 „Geistessieche“ wurden verstärkt in die Versorgungshäuser ihrer Heimatgemeinden transferiert und „geistessieche Pfründner“ aus Lainz erst gar

380 381

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384

lungen welcher Art auch immer an Tageszeitungen oder Zeitschriften zu machen. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1910. Schreiben vom 7. Jänner 1909. In der Folge verbot Schlöß den Anstaltsangestellten jegliche nicht autorisierte Pressemitteilung. In : Normaliensammlung der Anstalt Am Steinhof , Nr. 42 , Weisung vom 20. September 1912. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ o. Z. / 1909. Schreiben vom 13. September 1909. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 156 / 1910. Es mussten neun Suizide bei der Polizei gemeldet werden , die Direktion versuchte sich damit zu rechtfertigen , dass diese Fälle nicht absehbar waren. Ebd., o. Z. / 1910 , Schreiben vom 16. Jänner 1910. Aufgrund des Patientenanstieges wurde ein Arzt mehr angestellt. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ 5 / 1910 ; ebd., 20 / 1910. Abgabe von Patienten nach Mauer-Öhling. Klosterneuburg wurde aus diesem Grunde um dreihundert Plätze erweitert. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ 5 / 1910 ; ebd., 10 / 1910 ; ebd., 20 / 1910 ; ebd., 92 / 1910 ; ebd., Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 66 / 1912. Direktor Schlöß sprach in diesen Korrespondenzen wiederholt von „minderwertigen“ und „degenerierten Elementen“.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

nicht mehr übernommen.385 Am Steinhof blieb jedoch insbesondere die Versorgung der vielen unruhigen Patienten prekär , teilweise waren auf diesen Abteilungen bereits doppelt so viele Kranke , wie ursprünglich vorgesehen , untergebracht. Die Zahl der zu verpflegenden Kranken war 1910 auf insgesamt mehr als 3. 300 Patienten angestiegen , in der Nacht mussten 290 Strohsäcke , sogenannte Strapuzzen , ausgebreitet werden. Mit Ausnahme der Heilanstaltspavillons für ruhige Kranke waren alle anderen Abteilungen hoffnungslos überfüllt.386 Heinrich Schlöß machte die übergeordnete Verwaltungsstelle nachdrücklich darauf aufmerksam , nicht mehr die volle Verantwortung für die unhaltbare Situation übernehmen zu können.387 In der Folge wurden die Tagräume einzelner Pavillons umgebaut , damit aber die Möglichkeiten des Aufenthaltes außerhalb der Schlafräume erheblich eingeschränkt.388 Trotz „energischer Abtransferierungen“ lag im Juli 1911 die Gesamtzahl der Patienten bei 3. 270 , der Direktor sah sich veranlasst , die Errichtung von zwei neuen Pavillons zu beantragen.389 Der Leiter des Amtes für Wohlfahrtsangelegenheiten , Fedor Gerényi , betrachtete diese Forderung nach einem Ausbau des Belegraumes keineswegs als dringend , er meinte stattdessen , die bewährte Praxis der Verlegungen weiter forcieren zu können. Eine nochmalige Erhebung der Anzahl aller Patienten zeigte erneut , dass vor allem in den Abteilungen für unruhige und pflegebedürftige Patienten bereits doppelt so viele Kranke Platz finden mussten , wie ursprünglich konzipiert. Entsprechend katastrophal waren die hygienischen Bedingungen ; die Patienten lagen dichtgedrängt , eine ausreichende Bewegung in den Tag­ räumen war nicht mehr möglich. Zudem waren einige Insassen an Skorbut erkrankt. Auf der Männerseite der Abteilungen für Unruhige und Unreine hatten 22 Prozent der Patienten kein Bett mehr , die Situation auf der Frauenseite war ähnlich dramatisch. Die verantwortlichen Abteilungsleiter forderten , sowohl aus hygienischen als auch humanitären Gründen , eine möglichst rasche Verbesserung der Situation Am 385 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 58 / 1910. Diejenigen „Geistessiechen“, die bereits Am Steinhof untergebracht waren , sollten jedoch bleiben , da ihre Unterbringung von der Gemeinde ­Wien finanziert wurde. 386 Der Grund dafür war , dass es in dieser Abteilung weiterhin keine Fenstergitter gab und nur Patienten aufgenommen werden konnten , die als ruhig und verlässlich , im Sinne einer nicht bestehenden Selbstgefährdung galten. Ebd., o. Z. / 1910. Schreiben der Direktion vom 28. April 1910 an den Niederösterreichischen Landesausschuss. 387 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 78 / 1910. 388 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 27 / 1910. Diese Umfunktionierung der Untergeschoße zu Aufenthaltsräumen konnte nicht in allen Pavillons vorgenommen werden , da in manchen dieser Räume Angestellte wegen des allgemein bestehenden Wohnungsmangels untergebracht waren. Insgesamt konnten nur 100 bis 140 Plätze gewonnen werden. 389 Ebd., Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ o. Z. / 1911. Schreiben vom 12. Juli 1911.

3.5 Zum Alltag zwischen Überfüllung und mangelndem Ansehen der Anstaltspsychiatrie

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Steinhof , welche ihrer Ansicht nach nur mehr durch bauliche Erweiterungen der Anstalt zu beherrschen wäre.390 Die Entlastung der sich zuspitzenden Situation beruhte im Weiteren lediglich darauf , weniger schwer Erkrankte verstärkt in die häusliche Pflege zu entlassen. Mittels einer „Familienunterstützung“ galt es für diese Fälle , einen finanziellen Ausgleich zu bieten.391 Trotz wiederholter dramatischer Appelle seitens der Anstaltsleitung blieb die Problematik der Überbelegung der Anstalt weiterhin virulent , 1912 drohte der absolute Versorgungsengpass. „Geeignete Patienten“ wurden direkt aus der Beobachtungsabteilung des Allgemeinen Krankenhauses in die zuständigen niederösterreichischen Anstalten ,392 psychisch kranke Minderjährige in die „Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder“ nach Gugging transferiert393 , „fremdzuständige , mittellose und harmlose Geisteskranke“ waren direkt der Polizeibehörde zu überstellen.394 Im Jahre 1914 wurden schließlich in elf Pavillons die Untergeschoße als Tagesräume eingerichtet. Auf diese Weise wurde in den oberen Stockwerken Platz für 446 zusätzliche Betten geschaffen. Trotz der stückweisen Abänderungen galt die „individualisierende Behandlung“, ein Kernelement der modernen psychiatrischen Versorgung , als längst nicht mehr realisierbar. Der Direktor bezeichnete gegenüber den Behörden die Zustände als unhaltbar und gefährlich ; es sei bloß ein Zufall , dass es bis dato nicht zu gerichtlichen Konsequenzen gekommen sei.395

390 Ebd. o. Z. / 1911. Die Übernahme von Patienten aus der psychiatrischen Klinik wurde ohne Zubauten und Vermehrung von Ärzten und Pflegepersonal als nicht mehr machbar angesehen. 391 Normaliensammlung der Anstalt Am Steinhof , Nr. 44 , Weisung vom 17. Jänner 1913. Diese Ausgleichszahlung wurde in besonderen Fällen auch Betreuungspersonen gewährt , die nicht unmittelbar der Familie angehörten. Die Höhe des Betrages belief sich auf eine Summe von 40 Kronen pro Monat und wurde zur Hälfte von der jeweils zuständigen Armenbehörde mitfinanziert. Einmal vierteljährlich mussten die Unterstützten von einem Anstaltsarzt besucht werden. Ich danke Prof. Eberhard Gabriel für die freundliche Einsichtnahme in die Archivalien. 392 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ o. Z. / 1913. Schreiben vom 29. März 1913 ; ebd., D 51 / 1913. Schreiben vom 7. April 1913. 393 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ o. Z. / 1912. Schreiben vom 8. Februar 1912. Schlöß bat um eine Auflistung aller Kinder unter 14 , die entgegen der offiziellen Vorgaben Am Steinhof untergebracht waren. 394 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 66 /  7 / 1912. Die Leitung der Anstalt merkte zudem kritisch an , dass eine große Zahl fremdzuständiger Kranker trotz wiederholter Aufforderungen nicht abgeholt wurde. In : ebd., Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ 137 / 1913. 395 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1913. Schreiben vom 4. Oktober 1913. Die Heilanstalten waren zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zur ursprünglichen Konzeption um 61 Prozent , die Pflegeanstalten um 86 Prozent überbelegt , wobei die Verteilung in den unterschiedlichen Pavillons stark variierte. 355 Patienten lagen nachts auf Strapuzzen , der Belegstand war auf insgesamt 3. 119 Personen angestiegen.

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

Die medizinische Versorgung war kaum noch zu gewährleisten. Als 1910 von der Direktion die Stelle eines Anstaltsarztes ausgeschrieben werden konnte , meldete sich lediglich ein Anwärter. Schlöß war diesem gegenüber äußerst skeptisch eingestellt , in einem Brief an den Landesausschuss beschreibt er den Kandidaten als einen zwar tüchtigen Menschen , welcher aber ein getaufter Jude sei und vor allem phänotypisch einem „ausgesprochen jüdischen Typus“ entspräche. Wenn der Landesausschuss keine Bedenken hätte , so der Direktor , würde er trotz seiner eigenen antisemitisch geprägten Vorbehalte den Bewerber aufgrund des bestehenden akuten Ärztemangels anstellen.396 Der hier singulär dokumentierte Fall eines ausgeprägten Antisemitismus steht stellvertretend für eine bereits seit Mitte der 1880er-Jahre um sich greifende Gesinnung , die , unterstützt von der Verwaltung der Anstalt , unter der Leitung der Christlich-Sozialen Partei , weit über die Anstaltspsychiatrie hinaus auch in anderen medizinischen Disziplinen , der Psychiatrie an der Klinik und in privaten Sanatorien virulent war.397 Der Ärztemangel blieb vorrangiges Problem. Der „Verein der in Rangklassen eingeteilten Ärzte der niederösterreichischen Landeswohltätigkeits- und Humanitätsanstalten“ verfasste im April 1912 eine Denkschrift zur Verbesserung der Situation der versorgenden Psychiatrie.398 Zwei daraufhin ausgeschriebene Stellen konnten nicht besetzt werden , der Dienst an einer öffentlichen – wie es immer noch hieß – „Irrenanstalt“ zählte wegen der nur minimalen Karrierechancen nicht eben zu den begehrtesten Positionen. Zuverdienste , wie sie Privatkonsultationen boten , waren nicht erlaubt , vor allem aber wegen der ausgedehnten Dienstzeiten ohnehin praktisch unmöglich.399 Der Versuch , die Gegebenheiten durch sogenannte „Renumerationen“ auszugleichen , schien dem Leiter der Anstalt der einzig gangbare Weg zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Ärzte diese Zahlungen nur für außerordentliche Dienste , beispielsweise die Leitung des Anstaltschores , zahnärztliche Konsultationen oder ähnliche Zusatzleistungen erhalten. Der Zeitmangel alleine verunmöglichte den Anstaltsärzten rein praktisch , sich jenseits der täglichen Versorgung außertourlichen wissenschaftlichen Arbeiten zu widmen. So hatte Am Steinhof jeder Arzt durchschnittlich 202 Patienten und zusätzlich zahlreiche zeitlich aufwändige Neuaufnahmen zu betreuen.400 Das Schreiben der Krankenakten als ein wesentli396 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1910. Schreiben vom 10. Dezember 1910. Es gab nur zwei andere Mitbewerber , die gemäß diesen Angaben wesentlich weniger qualifiziert waren. 397 Hubenstorf 2002 , 310 f. Erst nach Ende des Ersten Weltkrieges sollte es unter der sozialdemokratischen Verwaltung der Anstalt diesbezüglich zu Änderungen kommen. 398 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 1747 / 1912. Schreiben vom 8. Juli 1912. 399 Ebd., o. Z. / 1910. Schreiben vom 12. Dezember 1910 zwecks Systemisierung einer neuen Stelle. 400 Im Vergleich dazu waren es in Mauer-Öhling 241 Patienten und 40 Aufnahmen ; dieses Verhältnis belief sich vergleichsweise dazu in Ybbs auf 230 zu 27 , in Klosterneuburg auf 161 zu 28 , in Gugging auf

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cher Anteil der ärztlichen Aufgaben beanspruchte – der starken Patientenfluktuation wegen – immer mehr Zeit. Zur Vermeidung einer völligen Überlastung suchte man die Diensteinteilung zu reformieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte in der Pflegeanstalt je ein Arzt auf der Männer- und Frauenabteilung 24 Stunden beziehungsweise mit Anschluss des folgenden Vormittages 28 Stunden Dienst. Eine Neuregelung sah vor , dass ein einzelner Arzt einmal , statt wie bislang zweimal pro Woche den 24-stündigen Abteilungsdienst zu übernehmen hatte und nachmittags von einem Beidienst unterstützt wurde. Beim ebenso langen „Journaldienst“ auf den Abteilungen der Heilanstalt mussten die Neuaufgenommenen konsultiert , und jederzeit etwaigen Rufen auf die Abteilungen musste Folge geleistet werden. Auch hier wurde 1912 eine Neuordnung proklamiert : Der nächtliche Aufnahmedienst sollte für beide Abteilungen nun von einem einzelnen Arzt gemacht werden , er konnte bei Bedarf Subalternärzte aus anderen Abteilungen heranziehen. Schlöß forderte im Namen aller angestellten Ärzte , dass die Gehälter der zwei unbesetzten Stellen auf die davon betroffenen Ärzte aufgeteilt , gegebenenfalls auch rückwirkend Renumerationen ausbezahlt werden. Zwar wurde auf diese Weise für die hohe Arbeitsbelastung zumindest ein finanzieller Ausgleich gewährleistet , letztendlich aber versuchte die Anstaltsleitung , mit geringfügigen und keineswegs strukturellen Reformen die drohenden Missstände zu beheben ,401 welche jedoch dem Ärztemangel auch längerfristig keinerlei Abhilfe zu schaffen vermochten.402 Eine Lösung der „irrenärztlichen Aufgaben der Zukunft“ wurde bereits um die Jahrhundertwende nicht mehr ausschließlich im Errichten immer aufwändigerer Anstalten gesehen. Kritische Stimmen innerhalb der Profession prangerten die Fehlallokation der vielen unheilbar Kranken an und propagierten , entgegen der Tendenz zu immer größeren Anstaltsbauten , den Ausbau der kolonialen Fürsorge und der Familienpflege als mögliche Alternativen. Auch wurde die Erblichkeit der Erkrankungen als hervorstechendster Befund psychiatrischer Empirie beschrieben.403 Das „Interna166 Patienten zu 27 Aufnahmen pro Arzt. Die quantitativen Angaben vom Steinhof waren ohne die des Sanatoriums. Der Dienst an dieser Abteilung wurde wegen der großen Ansprüche der Patienten stets als sehr diffizil beschrieben. 401 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 135 / 1912. Schreiben an den Landesausschuss vom 23. Oktober 1912. 402 Dies zeigt unter anderem ein Bericht , der anlässlich einer Anfrage einer Berliner Deputation für die dortige städtische Irrenpflege erbeten worden war. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 121 / 1919. 403 Schröder 1901 /  02. Unter dem Hinweis auf amerikanische Eheverbote für psychisch Kranke machte der Autor den Vorschlag , schon in den Volksschulen Hygiene als Unterrichtsfach einführen zu wollen. Vgl. zu den Auseinandersetzungen um die Frage der Heilungsaussichten in psychiatrischen Anstalten und dem Vorwurf an ihre Kritiker , „therapeutische Nihilisten und Pessimisten“ zu sein : Walter 1993 , 84 f.

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tionale Institut zur Erforschung und Bekämpfung der Ursachen der Geisteskrank­ heiten“, dessen Statuten 1908 auf dem in ­Wien tagenden „Internationalen Kongreß für Irrenpflege“ festgelegt wurden , stellte prophylaktische Maßnahmen gegen psychische Erkrankungen in den Vordergrund , um die Anzahl der Internierungsfälle , so die Hoffnung , reduzieren zu können. Die in den Jahren zuvor erkannten ursächlichen Zusammenhänge zwischen der progressiven Paralyse und der Syphilisinfektion waren Ausgangspunkt für das hochgesteckte , dem fortschritts- und wissenschaftsgläubigen Geist der Zeit geschuldeten Ziel des Institutes , „die Hauptursachen der Geisteskrankheiten und der Degeneration der Menschheit überhaupt festzustellen.“404 Die neue Forschungsrichtung der Psychiatrie sollte durch die Gründung einer psychiatrischen Abteilung im deutschen Reichsgesundheitsamt gefördert werden. Bisherige Vereinigungen wie das „Internationale Institut für Psychiatrie“ und die „Internationale Liga zur Erforschung und Bekämpfung der Epilepsie“ zielten ebenso auf die ursächliche Erklärung und , davon abzuleitend , Behandlung psychischer Erkrankungen , schlossen dabei aber individuelle wie auch soziale Faktoren mit ein. Die Wissenschaft war jung , doch schon im Umbruch : Statistische Erhebungen , Theorien der Krankheitsvererbung , der psychischen Hygiene und die als „Eugenie“ bezeichnete „gesunde Anlage des Gesamtvolkes“ rückten zunehmend ins Aufmerksamkeitszentrum der jungen Disziplin.405 Die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ fokussierte in diesem mehr und mehr von der Degenerationstheorie beeinflussten Diskurs auf einen speziellen Aspekt , um ihn für das zentrale Problem der Überbelegung der Anstalten lösen zu können. Vertreter der modernen ‚Anstaltspsychiatrie‘ opponierten gegen die Unterbringung von Personen , 404 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 10 ( 1908 ), 437–440. Der Sitz dieser Vereinigung sollte in Zürich sein. Ludwig Frank ( Zürich ) stellte bereits 1906 , am „Zweiten Internationalen Kongress für Irrenpflege“ in Mailand einen Gründungsantrag. Dieser wurde mit großer Majorität angenommen. Hier : 438. 405 Sommer 1910 / 11. Dieses Institut sollte eine Abteilung für Statistik und Anstaltswesen haben , zudem eine auf Untersuchungsmethoden und Ursachenforschung spezialisierte klinische Abteilung , eine für forensische Psychologie und eine für Vererbungslehre und psychische Hygiene im weitesten Sinne. Vgl. dazu grundlegend : Ritter 2009. Sowohl anhand der , wie es im vierten Kapitel näher zu beschreiben gilt , Formulare der Krankenakten , als auch an der in den Direktionsakten dokumentierten Korrespondenz ist das spezifische Interesse an den Ursachen und Auslösern psychischer Erkrankungen deutlich erkennbar : 1911 wurde der Anteil der Alkoholiker erhoben ( 13,3 Prozent der Gesamtbelegzahl ; 87 Prozent von diesen waren Männer ). Allerdings wurde entgegen der bekundeten Notwendigkeit dieser Forschungen bei nur knapp drei Prozent aller Internierten eine erbliche Belastung als Grund der Erkrankung ausgemacht. 16 Prozent der Am Steinhof Internierten litten den Erhebungen zufolge an progressiver Paralyse ( 79 Prozent Männer , 21 Prozent Frauen ). Deren Ursache wurde nur in etwa zwei Drittel aller Fälle einer syphilitischen Infektion zugeschrieben. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Krankenangelegenheiten‘ Z 197 / 1911.

3.6 Epistemische Räume: Verbindungen zwischen (Anstalts-)Psychiatrie und Rechtsprechung

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die strafrechtlich wie medizinisch auffällig geworden waren. Diesem unübersichtlichen Teildiskurs ist der nachfolgende Abschnitt gewidmet.

3.6 Epistemische Räume: Verbindungen zwischen (Anstalts-)Psychiatrie und Rechtsprechung Paul Julius Möbius dachte dem Berufsstand der Psychiater an der Wende zum 20. Jahrhundert ein erstaunlich hohes und umfassendes Amt zu : „Will aber der Psychiater diese Aufgabe recht erfüllen , so darf kein Gebiet geistigen Lebens ihm fremd sein , er muss überall zu Hause sein , um die Bedingungen geistiger Gesundheit zu kennen , wie der Hygieniker die verschiedenen Gewerbe , Fabrikbetriebe usw. kennen muss als die Bedingungen körperlicher Gesundheit. Fasst man die Psychiatrie so auf , so wird sie aus einer Magd zur Herrscherin. Dann aber wird sie das , was sie ihrer Natur nach sein soll. Der Psychiater wird ein Richter in allen menschlichen Dingen , ein Lehrer des Juristen und des Theologen , ein Führer des Historikers und des Schriftstellers. Nur vergesse man nicht , dass weder anatomische noch chemische Studien zu dieser Höhe führen können , dass nur der ein Richter in geistigen Dingen sein kann , dem nichts Geistiges fremd ist.“406

Die Selbstzuschreibung der Psychiatrie , für solch weitgespannte gesellschaftliche Probleme zuständig sein zu wollen , ist im Kontext der Suche nach öffentlicher Akzeptanz und Prestige der Anstaltspsychiatrie zu sehen.407 Zur enorm erweiterten Kompetenz gesellte sich die Bestimmung von „Minderwertigen , Degenerierten und Psychopathen“. Dieses Tun wiederum sollte mit einer neuen Form des juristischen Zugriffs auf diese Bevölkerungsgruppen zusammenwirken und auch neue Formen institutioneller Unterbringung hervorbringen. Diese drei Elemente einer eingeforderten Kompetenzerweiterung der Psychiater wurden allenfalls ansatzweise realisiert. Sie gingen mit der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ ein ambivalentes Verhältnis ein. Einerseits waren sie inhärente Bestandteile dieser Erneuerungsbestrebung , andererseits sollten die „Degenerierten und Minderwertigen“ und auch die straffällig gewordenen „Irren“ von solch modernen Einrichtungen gerade ferngehalten und in neu zu gründende Sonderinstitutionen überstellt werden. 406 Möbius 1901 , 54. Der Leipziger Neurologe Möbius ist über die Fachwelt hinaus für sein 1900 erschienenes Buch „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ bekannt. Vgl. zu dem in Möbius’ Zitat auffälligen Bezug auf die Bakteriologie : Roelcke 1999 , 152–165. 407 Vgl. dazu auch : Engstrom 2003a , 177–187 ; Engstrom 2009.

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Die strafrechtliche Beurteilung von geisteskranken und mit dem Gesetz in Konflikt geratenen Menschen war im „Verein für Psychiatrie und forensische Psychologie in ­Wien“ seit Beginn seines Bestehens ein zentrales Thema. Die „Criminalpsychologie“ und die nach „objektiven Kriterien“ strebende psychiatrische Gutachtertätigkeit führten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Ausweitung medizinischer Kompetenz- und Deutungsansprüche und in der Zusammenarbeit mit den Juristen bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit zu erheblichen Konflikten.408 Das damals geltende Strafrecht kannte hinsichtlich der Verantwortlichkeit nur eine klare Entscheidung , nämlich entweder Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit. Die Möglichkeit einer graduellen Beurteilung der Straftat gab es lediglich in Form von Strafmilderungsgründen. Die für die Gutachten verantwortlichen Psychiater verwiesen , stets unter Berufung auf die Entwicklung ihres Fachs , auf die vielen Fälle , bei denen eine solche Entscheidung jedoch nicht möglich sei. Eben diese Spezifik wurde von der maßgeblich auf Franz von Liszt zurückgehenden Strafrechtsreformbewegung aufgegriffen.409 Der entscheidende Wandel der Strafauffassung dabei war eine Akzent­ verschiebung weg von Bestrafung hin zur Prävention zukünftiger Delikte , sie verlagerte die strafrechtliche Beurteilung von der kriminellen Tat hin zur Psychologie der Täter. Damit wurde die Frage der Verantwortlichkeit neu gestellt , vor allem aber die Möglichkeit der strafrechtlichen Beurteilung einer „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ gefordert.410

408 Eine Reihe von Zeitschriften widmeten sich diesem Thema : Ab 1903 erschien die Publikation „Juristisch-Psychiatrische Grenzfragen“ ( Hg. August Finger , Alfred Hoche und Johannes Bresler ), ab 1904 die „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform“ ( Hg. Gustav Aschaffenburg ). Ab 1899 gab Hans Groß ( 1847–1915 ) das „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“ heraus. Groß , Professor für Psychiatrie in Prag , war Gründer und Präsident der Österreichischen Kriminalistischen Vereinigung , deren Ziel die „wissenschaftliche Erforschung des Verbrechens , seine Ursachen und der Mittel zu seiner Bekämpfung [ war ]. Sowohl das Verbrechen , als auch die Mittel zu seiner Bekämpfung dürfen nicht bloß vom juristischen , sondern müssen auch vom anthropologischen und soziologischen Standpunkte betrachtet werden“: Vereinsstatuten der Österreichischen Landesgruppe der Internationalen kriminalistischen Vereinigung. In : WStLA , Mag. Abt. 119 , Serie A 32 ( aufgelassene Vereine ), 3169 / 1927. 409 Der österreichische Strafrechtsreformer Franz von Liszt ( 1851–1919 ) vertrat als Gegenposition zu früheren , den Vergeltungsgedanken im Sinne einer spezialpräventiven Theorie favorisierenden Auffassungen , dass Straftäter individuell beurteilt , der Hintergrund ihrer Tat beleuchtet , vor allem aber die Bestrafung differenzierter erfolgen müsse. Dies sei seiner Ansicht nach nur im Rahmen einer , die moderne Kriminologie und eine Sozial- bzw. Kriminalpolitik umfassenden Strafrechtswissenschaft mit neuer methodischer Orientierung zu erreichen. Liszt gab ab 1881 die „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ heraus. Gemeinsam mit dem Belgier Adolphe Prins und dem Holländer Gerard Anton van Hamel gründete er 1889 die „Internationale Kriminalistische Vereinigung“. 410 Wetzell 2000 ; Becker 2002 ; Greve 2004 ; Germann 2004 ; Müller 2004.

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3.6.1 Weder gesund noch krank: Die weitreichenden Folgen einer neuen Kategorie Die Anstaltspsychiatrie nahm in dieser , für sie fachfremden Frage der Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit eine ganz spezielle Position ein. Sie tat das , indem sie einen epistemischen Raum eröffnete , der durch neue Kriterien von Ein- wie auch Ausschluss strukturiert wurde. Die Angst vor einer steigenden Zahl psychisch auffälliger beziehungsweise kranker Straftäter stieg angeblich. Hintergrund war einerseits , dass man meinte , bei „Verbrechern heute eher als früher Geisteskrankheit erkannt“ zu haben. Andererseits hätten sich „für die Irrenanstalten , je mehr sie den Charakter einer Krankenanstalt angenommen haben , bestimmte Elemente als ungeeignet“ erwiesen , neue Unterbringungsformen wären demnach ein dringendes Bedürfnis.411 Der Diagnostizierung der sich daraus ergebenden „Grenzzustände“ und ihrer mannigfaltigen Benennungen stand das Bestreben einer Majorität der Anstaltspsychiater gegenüber , diese scheinbar homogene Gruppe nach erfolgter Begutachtung außerhalb ihrer modernisierten Institutionen versorgt zu sehen : Jegliche Ähnlichkeiten zu „totalen Institutionen“ gelte es zu vermeiden , „Fälle von chronischem Alkoholismus und Moral insanity , die beide zusammen aus der Verbrecherwelt manche Ergänzung erfahren“ sollten tunlichst erst gar nicht aufgenommen werden. Denn weder wolle man „eine Strafanstalt sein“, noch habe man „hinreichende Zwangsmittel“ oder „Mittel erzieherischer Einwirkung“, die „jene depravierten Naturen zur Anbildung zweckmäßiger und dauerhafter Gewohnheiten bedürften“.412 Die Praxis erfolgte nach Angaben Adalbert Tilkowskys , Direktor der Anstalt Am Brünnlfeld , zumeist so , dass die als nicht zurechnungsfähig eingestuften Delinquenten und Delinquentinnen freigesprochen und der „Irrenanstalt“ zugewiesen wurden. Von dort wiederum waren viele dieser Fälle , da keine Geisteskrankheit im engeren Sinne diagnostiziert wurde , wieder zu entlassen. Die Anstaltspsychiatrie strebte danach , sie gar nicht erst stationär aufnehmen zu müssen , versuchte aber zugleich , die Definitionshoheit über deren geistigen Zustand und folglich auch Internierungsbedürftigkeit zu erlangen : „Gerade diese strittigen , auf ethischen oder intellektuellen Defekten beruhenden , zur Kriminalität neigenden Fälle , bilden für die menschliche Gesellschaft eine große Gefahr , weil sie vom Gericht wegen Geistesstörung außer Verfolgung gesetzt und der Irrenanstalt überwiesen , hier aber gesund befunden und binnen kurzem entlassen werden.“413 411 Bresler 1908 /  09b , 260. 412 Boeck 1892 , 296 f. 413 Tilkowsky 1908 , 524.

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Tilkowsky , so meinte Josef Berze anerkennend , wusste von der „… großen Wichtigkeit einer Reinigung und Reinhaltung der Irrenanstalt von jenen ethisch defekten , kriminellen , geistig minderwertigen , aber nicht eigentlich geisteskranken Individuen , die mangels entsprechender Verwahrungsanstalten leider so oft den Irrenanstalten überantwortet werden.“414

Durch die Übergabe der Straftäter und Straftäterinnen von den Gerichten an die von den Ländern geleiteten psychiatrischen Anstalten kam es sowohl zu einer Verschiebung der fachlichen Zuständigkeit als auch der Versorgungskosten. Aber nicht nur administrative und finanzielle Probleme veranlassten Psychiater , sich gegen diese Regelung zu verwehren. Vielmehr galten strafrechtlich auffällig gewordene Personen schlicht als den Anstaltsbetrieb am meisten störend : „Von Haus aus verbrecherisch veranlagt , oft mehrfach vorbestraft , zeigen diese Leute in der Irrenanstalt dieselben Tendenzen , welche sie in der Freiheit mit der bestehenden Ordnung in Konflikt gebracht hat.“415 Die Unterbringung von straffällig gewordenen Geisteskranken galt somit in der Entwicklung der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ als ein hemmender Faktor.416 Die „zwischen Strafanstalten und Irrenanstalten fluktuierenden Menschen“417 wurden vielfach als homogene Gruppe der „Degenerierten“ wahrgenommen , vor denen es die Gesellschaft zu schützten galt. 418 Die angestrebte Ausweitung medizinisch-polizeilicher Überwachung zielte somit auf Personengruppen , die bislang weder eindeutig der Psychiatrie , noch der Justiz zugeordnet werden konnten. Diese seitens der Psychiatrie angestrebten Vorgehensweisen sind im Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Kriminologie zu sehen. Für deren Entstehen waren drei sich gegenseitig beeinflussende Entwicklungsstränge maßgeblich , die erwähnte Strafrechtsreformbewegung , Cesare Lombrosos Theorie des „geborenen Verbrechers“ und eben auch das wachsende Interesse der Psychiatrie an kriminologischen Fragen im Allgemeinen. Im deutschsprachigen Raum hatte Lombrosos Atavismustheorie nur vereinzelte Anhänger , doch trat an deren Stelle die viel subtilere Kriminalpsychologie.419 So lehnte beispielsweise der ­Wiener Gerichtspsychiater Jo414 415 416 417 418 419

Berze 1907 /  08a , 225 f. Vgl. dazu auch : Berze 1908a. Tilkowsky 1908 , 524 f. Deiters 1903 /  04. Pollak 1902. Vgl. allg. : Foucault 2003. Wetzell 2000 , 40 f. Ein wichtiger Vertreter dieser kriminalanthropologischen Theorien in Österreich war der Neuropathologe und Gerichtsgutachter Moriz Benedikt : AUW , Personalakt Moriz Benedikt ( Med. Fak. 732 , Schachtel 90 ) Er beschäftigte sich intensiv mit der Kraniometrie und Kraniologie. Vgl. auch :

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hann Fritsch Lombrosos deterministisches Verständnis von Verbrechen zwar ab , meinte aber dennoch , dass „es verbrecherisch angelegte Individuen gibt , die nun einmal den sozialen Anforderungen sich nicht anpassen können , sich weder durch Erziehung noch Strafe ändern und immer wieder rückfällig werden“.420 Eine ähnlich ambivalente Position war die Ernst Bischoffs , Autor eines 1912 veröffentlichten Lehrbuchs der gerichtlichen Psychiatrie. Er meinte ebenfalls , dass trotz vieler Kritikpunkte die grundlegenden Elemente der von Lombroso geprägten Theorie nicht widerlegbar seien.421 Unter dem Eindruck der in den 1850er-Jahren von Bénédict Augustin Morel geprägten Degenerationstheorie rückten vermehrt Deutungsmuster kriminellen Verhaltens in den Fokus der Gerichtspsychiatrie , die von einer anlagebedingten „krankhaften Konstitution“ ausgingen.422 In der deutschen Psychiatrie wurde diese Theorie seit den 1860er-Jahren rezipiert , Wilhelm Griesinger integrierte unter Berufung auf Morel den Begriff der „neuropathischen Disposition“ in sein Krankheitskonzept. Damit wurden bislang wenig beachtete Zwischenformen von Gesundheit und Krankheit erfasst , darunter eine Vielzahl sozialer Abweichungen.423 Das schon 1835 von James Prichard postulierte „moralische Irresein“ stellte noch um die Jahrhundertwende eine wichtige theoretische Grundlage der gedanklichen Verbindung von Geisteskrankheit und Verbrechen dar.424 Die von manchen Psychiatern als eigenständig angesehene Krankheit umfasste Veränderungen moralischer und ethischer Fähigkeiten , welche nicht notwendigerweise mit intellektuellen Defiziten einhergingen. Diese Auffälligkeiten wurden später unter andere Kategorien subsumiert und als „moralischer Schwachsinn“ bezeichnet.425 Gabriel Anton , Professor für Psychiatrie in Graz und späterer einflussreicher Rassenhygieniker , versuchte die Diagnose „moralisches Irresein“ an einzelnen Krankheitsbildern festzumachen , deren gemeinsames Symptom

Hubenstorf 2002 , 313 ; Zu Benedikts Rolle bei den zwischen 1885 und 1906 abgehaltenen Internationalen Kongressen der Kriminalanthropologie : Gadebusch Bondio 1995 , 124–132. 420 Fritsch 1908 , 12 f. 421 Bischoff 1912 , 1–8. Bischoff war ordinierender Arzt Am Steinhof , Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie in ­Wien und psychiatrischer Sachverständiger am k. k. Landesgericht. 422 So bezeichnete beispielsweise der Jurist Siegfried Türkel „Verbrechen und Wahnsinn keineswegs als contradiktorische Gegensätze“. Türkel 1900 , 37. Vgl. zu seiner Person : Hubenstorf 2002 , 305. Ein ähnlich enger Zusammenhang zwischen Geisteskrankheit und Verbrechen wurde angenommen von : Asper 1918 , hier : 54. 423 Germann 2004 , 75. Volker Roelcke benennt eine erste und zweite Phase der Rezeption der Degenerationstheorie : Roelcke 1999 , 80–100 und 138–179. 424 Augstein 1996. 425 Lengwiler 2000 , 108 f. ; Wolfisberg 2002 , 86 f.

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die Störung des affektiven Seelenlebens wäre.426 Josef Berze sprach von der „sogenannten moral insanity“, deren Kennzeichen der „moralische Defekt“ sei , welcher insbesondere die forensische Beurteilung erschwere. Diagnostische Kriterien wie „körperliche oder psychische Degenerationszeichen , Unerziehbarkeit , Unbeeinflussbarkeit oder hereditäre Belastung“ sah er zwar als unzureichend an und meinte , dass „es kein Maß für die Intensität der positiven Antriebe zum Verbrechen“ gäbe. Doch trotz seiner Skepsis bezüglich der wissenschaftlich nur schwer begründbaren nosologischen Entität meinte auch Berze , die für die forensische Praxis „notwendige Existenz einer pathologischen moralischen Defektuosität auf Grundlage einer Gefühlsentartung“ nicht leugnen zu können.427 Hintergrund dieser Bestimmungsversuche von Devianz im weitesten Sinne war die von Begutachtungen erwartete klare Entscheidung vor Gericht zwischen Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit. Im Zuge der Auseinandersetzungen über ein allgemein verbindliches Klassifikationsschema wurde die Eigenständigkeit der Diagnose „moralisches Irresein“ intensiv diskutiert , in der psychiatrischen Praxis wurde diese Kategorie zwar herangezogen , doch in der offiziellen Statistik der österreichischen Anstaltsberichte tauchte die Rubrik nicht auf.428 Der Diskurs zur Reform des Strafrechtes entzündete sich nicht zuletzt an der Ungewissheit , welchen rechtlichen und psychiatrischen Status man den „moralisch Irren“ zuordnen sollte. Nach juristischen Kriterien wurde zwischen „verbrecherischen Irren“ und „irren Verbrechern“ unterschieden : Erstere waren Personen , die wegen Unzurechnungsfähigkeit vor Gericht exkulpiert wurden , Letztere Verurteilte , die während des Strafvollzugs psychisch erkrankt waren.429 Beide , nur scheinbar klar zu differenzierenden Gruppierungen wurden generell mit den oben benannten psychisch-sozialen Devianzen in Verbindung 426 Anton 1908 , 358–369. Vgl. zu seiner Person : Hubenstorf 2002 , 281 f. Hubenstorf bezeichnet Gabriel Anton neben Ernst Rüdin als den wohl einflussreichsten und extremsten Rassenhygieniker in der deutschen Psychiatrie. 427 Berze 1908b. Er sprach von „moralischer Entartung , moralischer Anästhesie , ethischer Imbecillität , moralischer Defektuosität“: Ebd., 125. Berzes vererbungstheoretische Arbeiten machten neben forensischen , psychologischen und praktischen Anstaltsfragen einen Großteil seines Werkes aus. Die zeitliche Parallelität mit dem Werk Ernst Rüdins ist auffällig : Vgl. Hubenstorf 2002 , 314. 428 Schlöß 1913 , 166 f. Die „Psychopathie“ wurde erst einige Jahre später Teil der offiziellen , d. h. statistisch erfassten Krankheitsbezeichnungen. Ab 1932 , dem Zeitpunkt einer neuerlichen Änderung des Diagnoseschemas , finden sich unter der Nummer 16 zahlreiche Eintragungen auf den Deckblättern der Krankenakten. 429 Von ihnen wurden zudem die quantitativ jedoch kaum ins Gewicht fallenden Geisteskranken differenziert , die während ihres Aufenthaltes in einer Heil- und Pflegeanstalt ein Verbrechen begingen oder wegen ihrer „kriminellen Eigenschaften nicht weiter in einer vorwiegend auf den Heilzweck eingestellten Anstalt“ bleiben konnten : Herschmann 1927 , 223. Heinrich Herschmann ( 1889–1933 ) war von 1925 bis zu seinem Tod Dozent für forensische Psychiatrie.

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gebracht ; welcher Art die Verbindung von moralischem Irresein , Straffälligkeit , Minderwertigkeit und Psychopathie genau war , war indes völlig unklar. Der Privatdozent Friedrich von Sölder , Assistent an der II. Psychiatrischen Klinik und Landesgerichtsarzt , bezeichnete „verbrecherische Irre“ als „wohl ausschließlich Minderwertige , die eine Straftat in vorübergehender Geistesstörung begangen haben“, welche zudem eine hohe Rate von Rückfalltätern aufwiesen.430 Der Gerichtspsychiater Heinrich Herschmann wähnte sich sicher , dass „geisteskranke Verbrecher in der Regel Psychopathen sind. Meist waren sie schon vor ihrer Erkrankung kriminell [ … ] und ihre Verbrechen wurden durch eine primäre ethische Defektuosität verursacht“.431 Julius von Wagner-Jauregg konstatierte , dass „jene Kranken , die man mit verschiedenen Namen als Degenerierte , psychopathisch Minderwertige , als moralisch Irrsinnige , am zutreffendsten aber als Verbrechernaturen bezeichnet , Individuen [ sind ], die , wenn sie in die Irrenanstalt kommen , meist schon mehrfach vorbestraft sind.“432 Im Anschluss an die Degenerationstheorie und die Kriminalanthropologie konnte das Modell der „psychopathischen Konstitution“ und der „psychopathischen Persönlichkeit“ das Deutungsmuster kriminellen Verhaltens insofern stabilisieren , als es anlage- und umweltbedingte Erklärungsansätze zu synthetisieren vermochte. Der Begriff der kriminologisch relevanten , aber die Schuldfähigkeit keineswegs ausschließenden „psychopathischen Konstitution“ wurde zur Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert aus den Erfahrungen und Bedürfnissen der forensisch-psychiatrischen Gutachterpraxis heraus entwickelt.433 Mit der vom Württemberger Psychiater August Julius Koch stammenden Begriffsschöpfung der „psychopathischen Minderwertigkeit“ wie auch dem von Emil Kraepelin seit 1896 verwendeten Begriff des „psychopathischen Zustandes“ ( den er von Zuständen des „Schwachsinns“ unterschied ) wurden verschiedenste Momente integriert : Die Vererbungslehre geistiger Erkrankungen wurde partiell übernommen ; zugrunde gelegt wurde das vermeintliche Krankheitsbild der „Störungen der Affekte und des Willens“. An der Stelle dualistischer Einteilungen von Gesundheit und Krankheit sollte es nun Zwischenstufen geben. Mit diesem Konzept war zudem der Psychiatrie die Pathologisierung sozialer Devianz ermöglicht.434 Insbesondere jene vor Gericht nicht eindeutig der Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit zuzuordnenden Delinquenten und Delinquentinnen galten oft schlicht als „psy430 Sölder 1908 , 159. 431 Herschmann 1927 , 222. 432 Zitiert in : Türkel 1905 , 22. Vgl. zu Wagner-Jauregg : Hubenstorf 2005 ; Neugebauer , Schwarz 2006. Der Versuch einer Verharmlosung der Rolle des Nobelpreisträgers : Hinterhuber 2005. 433 Müller 2004 , 65. 434 Germann 2004 , 82–87.

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chopathische Minderwertige“.435 Tilkowsky bezog sich explizit auf Koch und meinte , zwischen geistige Gesundheit und geistige Krankheit „schieben sich alle möglichen Formen von Übergangszuständen hinein“. Zu diesen zählte er „… Alkoholiker , Morphinisten , Cocainisten , das große Heer der Neurastheniker , der Sexuell-Perversen , gewisser Querulanten , Hypochonder , Fanatiker , Schwärmer , Sonderlinge , aber auch Hysterische und Epileptiker , bei denen die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit in der krankheitsfreien Zwischenzeit große Schwierigkeiten bereiten kann“.436

Im Weiteren differenzierte er diese Gruppe : „Es gibt eine Reihe von Grenzfällen mit ganz geringen Abweichungen vom sogenannten Normalmenschen , willensschwache , leicht beeinflussbare , excentrische , leicht reizbare Charaktere , leichtere Schwachsinnsformen“, denen er , wiederum Koch folgend , wegen ihrer verminderten Zurechnungsfähigkeit , eine verminderte Strafe zuerkennen würde. Anders aber verhielte es sich mit „dem Gros der psychopathisch Minderwerthigen , deren Defekt hauptsächlich auf ethischem Gebiet liegt , der Defektmenschen mit verbrecherischen Neigungen , mancher unverbesserlicher Gewohnheitssäufer , der moralisch Imbecillen , kurz der Antisocialen aller Art , welche eine erhebliche Minderung ihrer Geisteskräfte aufweisen , ohne dass ihre Zurechnungsfähigkeit ganz ausgeschlossen erscheint.“ Wegen ihrer „gesteigerten socialen Gefährlichkeit“ müsse der Strafvollzug geändert und „Schutz- und Besserungsanstalten“ müssen zu deren Verwahrung errichtet werden.437 Diese , mit dem Fortschreiten der Wissenschaft begründete neuartige psychiatrische Aufmerksamkeit fokussierte insbesondere auf delinquente Handlungen : „Es werden heute nicht mehr bloß die Geistesstörungen im engeren Sinne als strafausschließend angesehen. Auch viele in der Entwicklung des Individuums begründete Zustände , Schwachsinnsformen im weiteren Sinne des Wortes , darunter auch jene Formen , die , vorwiegend auf ethischen Defekten beruhen , sind es , die gerade die Tendenz zur Kriminalität bedingen und daher bei Verbrechern sich häufig vorfinden.“438

435 Von 1904 bis 1907 hielt der Privatdozent Emil Raimann Vorlesungen mit dem Titel : „Über Grenzzustände des gesunden und kranken Seelenlebens ( psychopathische Minderwertigkeit ) und ihre forensische Bedeutung für Juristen und Mediziner“. In : Vorlesungsverzeichnis der Universität ­Wien 1900– 1907. 436 Tilkowsky 1902 /  03 , 535. In Bayern und Italien hatte zu diesem Zeitpunkt die „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ bereits Eingang in die Strafgesetzbücher gefunden , in der Schweiz gab es entsprechende Entwürfe. 437 Ebd., 536 f. 438 Wagner-Jauregg , Benedikt 1904 , 60.

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Die vielen Versuche , zu klaren Kategorien jenseits der starren Opposition von psychischer Gesundheit und Krankheit zu kommen , brachten keine verbindlichen Neubestimmungen hervor ; paradoxerweise versuchte die Psychiatrie im Allgemeinen wie deren Vertreter im Besonderen , aus der längerfristigen stationären Versorgung Potenzial zu schlagen und sie zur Neuformierung ihrer Disziplin und des Anstaltswesens zu benutzen. Dabei war die Position der Anstaltspraktiker hinsichtlich der Begutachtungstätigkeit an sich sehr ungünstig. Zur Wahrung der Unabhängigkeit der Expertise durften , gemäß eines Erlasses des k. k. Justizministers , ab 1902 die psychiatrischen Begutachtungen der internierten Patienten nicht mehr von den Anstaltsärzten selbst durchgeführt werden. Nachdem es Gerichtspsychiater aber nur in größeren Städten gab , waren nun auch praktische Ärzte berechtigt , ein solches Gutachten zu erstellen. Deren psychiatrisches Wissen wurde allerdings von den Fachärzten stark angezweifelt.439 Allgemein war die Gutachtertätigkeit ein offenbar nur wenig determiniertes und damit höchst umstrittenes Feld. Josef Berze meinte sich gegen den Vorwurf verwehren zu müssen , dass Psychiater angeblich dazu tendierten , Straffällige vorschnell mit der Attestierung einer psychischen Krankheit dem gesetzlichen Vollzug zu entziehen. Vielmehr zeigen seiner Ansicht nach die Gutachten selbst , „dass namentlich die psychopathisch Minderwertigen mit vorherrschenden moralischen Defekten es sind , die manchen Gerichtsarzt förmlich zum Zorne reizen zu scheinen“.440 Die Verlegenheit , in welche die neu propagierte Zwischenform die existierenden Institutionen und das Rechtswesen setzte , sind hier überdeutlich. Die Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform war jedoch kein Streit um größere Kompetenz für die jeweils beteiligten Berufsgruppen. Zwar sollte die Basis künftiger Entscheidungen und Kategorienbildungen von den neuen psychiatrischen Modellen psychosozialer Devianz bestimmt sein , doch strebten letztlich alle beteiligten Professionen gemeinsam nach neuen Kriterien jenseits der etablierten , dualistischen Oppositionen.441 439 Pfausler 1902 , 80 f. Zudem wurde problematisiert , ob und auf welche Weise die anstaltsintern geführten Krankenakten als Grundlage zur Erstellung von Gutachten von anderen Ärzten herangezogen werden durften. Die Frage der Erstellung der Gutachten war nicht einheitlich geregelt. Die Praxis der Begutachtung wurde dahingehend kritisiert , dass manche Ärzte in einer Stunde etwa drei bis sechs Patienten untersuchten und sogleich ein abschließendes Gutachten erstellten. Als besonders problematisch galt die Feststellung des Geisteszustandes bei Straftätern , die nicht zu einer eingehenden Beobachtungszeit in einer Anstalt interniert waren. Aufgrund von Unzulänglichkeiten bei den Verfahren wurde alternativ der Vorschlag unterbreitet , dass spezielle , ausgesuchte Gerichtshöfe diese Straftäter übernehmen sollten. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 4 ( 1902 /  03 ), 246 f. Vgl. dazu auch : Löwendahl 1900. 440 Berze 1904 , Sp. 1135 f. ; Berze 1903 , 135. 441 Z. B. : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1909 ), 390 f. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 5. Oktober 1907. Die Auseinandersetzung in der Frage der Zurechnungsfähigkeit sollte keinesfalls auf dem Rücken der Sachverständigen ausgetragen werden. Wiederholt wurde gefordert , dass die fach-

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In der österreichischen Strafprozessordnung von 1873 war die Frage der Zuständigkeit klar geregelt : „Entstehen Zweifel darüber , ob der Beschuldigte den Gebrauch seiner Vernunft besitze oder ob er an einer Geistesstörung leide , wodurch die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben sein könnte , so ist die Untersuchung des Geistes- und Gemütszustandes des Beschuldigten jederzeit durch zwei Ärzte zu veranlassen.“442

Die Praxis der richterlichen Entscheidungen sah allerdings oft so aus , dass die Gutachter gebeten wurden , ihre Stellungnahme nochmals mündlich zu ergänzen. In foro wurde oftmals an sie die entscheidende Frage gerichtet , ob der Explorand oder die Explorandin zu- oder unzurechnungsfähig sei , und die gegebene Antwort bildete letztendlich die Grundlage für den richterlichen Entschluss. Nicht wenige Psychiater – und insbesondere die Mitglieder der medizinischen Fakultät – nahmen wiederholt zu diesem Thema Stellung und hielten dabei ausdrücklich fest , für juristische Entscheidungen nicht kompetent zu sein. Die Gutachter wollten sich auf die Erstellung einer rein fachlichen Expertise zurückziehen , denn „Zu- und Unzurechnungsfähigkeit sind metaphysische oder juristische Begriffe und stammten nicht aus der naturwissenschaftlichen Terminologie“.443 Auf diese Weise sollte die Verantwortung der Justiz zugeschoben werden und zugleich die psychiatrische Kompetenz auf der Basis , wie es hieß , naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gestärkt werden. Zentrale Intention dabei war es , diesbezügliche forensische Fragen nicht mehr , so die vielfache Rede , wie früher mit dem ‚gesunden Menschenverstand‘ zu entscheiden , sondern einer fachlichen Expertise zu unterwerfen. Jenseits dieser Fragen , galt es aber , die praktische Versorgung der neu herausgehobenen Fälle von der ‚modernen Anstalt‘ zu trennen. 3.6.2 Forderungen nach neuen Formen institutioneller Versorgung und der Einführung der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ Der Versuch der Kategorisierung von Menschen , die sowohl straffällig als auch psychisch auffällig oder krank waren , war verbunden mit der seitens der Strafrechtsreliche Expertise nicht der Grund für zahlreiche Freisprüche sein dürfe. Vgl. Meynert 1873 , 123 f. Meynert erhoffte sich von den neu einzuführenden Physikatsprüfungen eine Besserung der Stellung der Ärzte. Für Richter , Staatsanwälte und Strafvollzugsbeamte sollten Kurse zur Psychiatrie angeboten werden : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 10 ( 1908 ), 301. 442 Gesetz vom 23. 5. 1873 , R.G.Bl. 119 ; in der alten Strafprozessordnung , kaiserliches Patent vom 29. Juli 1853. Zitiert in : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 26 ( 1905 ), 33. 443 Ebd., 36 f.

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formbewegung propagierten „verminderten Zurechnungsfähigkeit“. In Fällen doppelter Devianz sollten die bislang zu attestierende Unzurechnungsfähigkeit und die daraus resultierende Straffreiheit ersetzt werden. Das ließ die Frage akut werden , wie und unter wessen Ägide eine weitergehende Internierung erfolgen solle. In der psychiatrischen Begutachtungspraxis der Jahrhundertwende lassen sich hierbei zwei divergierende Positionen ausmachen. Die Vertreter der liberalen Prinzipien zum Schutz der Individualrechte betonten die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung und stützten sich , was ihren Aussagenbereich betraf , auf ihr psychiatrisches Wissen. Sie standen denjenigen gegenüber , die primär zum „Schutz der Gesellschaft“ argumentierten und dabei das Gewicht psychiatrischer Expertisen festigen wollten , um unabhängig von abstrakten Fragen der Verantwortlichkeit die mögliche Gemeingefährlichkeit als Kriterium der Internierung starkzumachen. Ein prominenter Vertreter der liberalen Position war Krafft-Ebing , der weitaus häufiger als andere für Unzurechnungsfähigkeit und daher Ausschluss von der Strafverfolgung plädierte. Sein wichtigster Kontrahent war Wagner-Jauregg , der sich an radikaleren und eugenisch ausgerichteten Standpunkten orientierte und ab 1902 , dem Zeitpunkt der Pensionierung Krafft-Ebings , diese Auseinandersetzung maßgeblich beeinflussen konnte.444 Das „Problem der strafrechtlichen Behandlung und Unterbringung der geisteskranken und psychopathischen Verbrecher“ wurde 1895 vom Gerichtspsychiater Johann Fritsch erstmals angeregt.445 Im Juli 1899 initiierte der Oberste Sanitätsrat mittels einer dringenden Empfehlung an das Ministerium des Inneren und der Justiz eine gemeinsame Reform.446 In den beiden Ministerien wurde ein Fragenkatalog zusammengestellt und einem Komitee zur Bearbeitung übergeben , welchem Julius von Wagner-Jauregg , Richard von Krafft-Ebing , Moriz Benedikt , Gabriel Anton , Arnold Pick , der Gerichtspsychiater Josef Hinterstoisser , Adalbert Tilkowsky und die Direktoren der Anstalten Dobran ( Böhmen ) und Lemberg angehörten.447 Im Zentrum der einberufenen Enquete stand die Frage nach der Notwendigkeit besonderer Anstalten 444 Hubenstorf 2002 , 305 f. Dieser Gegensatz wurde als solcher in der Zeitschrift „Die Fackel“ ausgemacht. Zu den Vertretern der liberalen Ausrichtung zählten Johann Fritsch ( ehemaliger Assistent Theodor Meynerts und Chefarzt des Sanatoriums Rekawinkel ), Hermann Hoevel ( ebenfalls Assistent bei Meynert ) und Friedrich Sölder. Diejenigen , die zum „Schutz der Gesellschaft“ argumentierten , waren Adalbert Tilkowsky , der Gerichtspsychiater Josef Hinterstoisser und Julius Wagner-Jauregg. 445 Herschmann 1927 , 221. Herschmann betonte ebenfalls die maßgebliche Rolle Wagner-Jaureggs in dieser Reformbewegung. 446 Wagner-Jauregg stellte einen Antrag auf die Bildung einer Kommission , bei der sowohl Mitglieder des Justiz- als auch des Innenministeriums und Mitglieder des Obersten Sanitätsrates mitwirken sollten. Dieser wurde vom Obersten Sanitätsrat im Juli 1899 angenommen. In : Türkel 1907 , 61 f. Vgl. dazu auch : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 4 ( 1902 /  03 ), 421–427. 447 Psychiatrische Wochenschrift 3 ( 1901 /  02 ), 127.

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für „verbrecherische Irre und irre Verbrecher sowie für gemeingefährliche , psychopathisch minderwertige Personen“.448 Bis dato wurden unzurechnungsfähige Straftäter und Straftäterinnen in psychia­ trischen Anstalten zumeist nach dem sogenannten „Verdünnungsprinzip“, der möglichst gleichmäßigen Verteilung von gefährlichen Geisteskranken auf die verschiedenen Abteilungen der Heil- und Pflegeanstalt , untergebracht.449 Dieses System wurde insbesondere für den urbanen Raum , in dem sich „gefährliche Geisteskranke in großer Zahl ansammeln“, als ungeeignet angesehen. Deren Unterbringung in ‚modernen Anstalten für psychisch Kranke‘ galt den für die längerfristige Versorgung zuständigen Psychiatern als die denkbar ungünstigste Regelung.450 Weder den Mitpatienten noch deren Angehörigen könne eine gemeinsame Unterbringung mit straffälligen Geisteskranken zugemutet werden : „Die verbrecherischen Neigungen , ihre schwere Lenkbarkeit , ihr außerordentlich demoralisierender Einfluss auf die anderen Geisteskranken und auf das Pflegepersonal machen Einrichtungen notwendig , welche dem Grundcharakter der Irrenanstalt als einer Krankenanstalt sowohl in Bezug auf die bauliche Anlage als auch auf den Betrieb völlig fremd sind und mehr dem Wesen eines Gefängnisses entsprechen.“451

Die Reformvorschläge umfassten drei unterschiedliche Modelle neu einzurichtender und unter psychiatrischer Leitung zu stehender Institutionen. So war der Anbau von separaten Abteilungen in gemeinsamer Verwaltung mit einer Strafanstalt im Gespräch , wie auch umgekehrt die Einrichtung einer selbstständigen Einheit in Anbindung an bestehende Irrenanstalten , die sogenannten „festen Häuser“. Die dritte und allgemein favorisierte Variante war eine Zentralanstalt , welche vom Staat zu verwalten und finanzieren sei.452 Sie sollte der gemeinsamen Unterbringung aller problematischen Fälle dienen : 448 Im Juni 1903 wurde vom Nationalratsabgeordneten Leopold Steiner eine Interpellation beim Reichsrat eingereicht. Die Fragen betreffend die Unterbringung „geisteskranker Krimineller“ und „gemeingefährlicher psychopathischer minderwertiger Personen“ galten als vorrangig. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 5 ( 1903 /  04 ), 126. 449 Dieses Prinzip wurde vor allem in der Schweiz praktiziert. Ein breiter Überblick bei : Asper 1918. Der Kölner Psychiater Gustav Aschaffenburg kritisierte den gefängnisartigen Charakter der geforderten Zentralanstalten : Aschaffenburg 1912. 450 Eugen Bleuler plädierte dafür , dass der Anteil der in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebrachten kriminellen Kranken nicht höher als zehn Prozent der Gesamtzahl sein soll. Zur Diskussion aller Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Modelle im internationalen Vergleich und ihrer jeweiligen Vertreter : Herschmann 1927 , 223–233. 451 Tilkowsky 1908 , 532. 452 Asper 1918 , 93. Eine andere Bezeichnung war „Kriminal-Irrenasyle“. Dieses Modell hatte bereits Vorbilder in Italien , England und Amerika. Eine ausführliche Zusammenfassung aller „Berichte und An-

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„Jene Personen , die wegen eines Verbrechens angeklagt , aber wegen Geistesstörung außer Verfolgung gesetzt oder freigesprochen worden sind , jene Personen , die in der Strafhaft geistig erkrankt sind und jene , die in einer Irrenanstalt ein schweres Verbrechen begangen haben. Deren Unterbringung soll fakultativ sein und muss jene Individuen treffen , die von Haus aus criminelle antisociale Neigungen haben , die so genannten Verbrechernaturen , ferner jene Irren , die besonders schwere oder scheußliche Verbrechen begangen haben.“453

Diese weitreichende Forderung erstreckte sich somit auch auf Menschen , deren Psyche ein mögliches Verbrechen seitens der Experten vermuten ließ.454 Auch für die Richter wäre , so der Vorschlag , eine solche , gänzlich neue Institution ein neutraler Boden zwischen Irren- und Strafanstalt , „auf welchem die Gemeingefährlichkeit und Rückfallsgefahr besser berücksichtigt werden könne“.455 Mit dem gängigen Topos der „Dreiteilung der Menschheit“ zielte man auf eine für die Gesellschaft angeblich gewinnbringende Anerkennung psychischer Grenzzustände ab.456 In einer Zentralanstalt gäbe es , so Julius Wagner-Jauregg und Moriz Benedikt , die Möglichkeit zur „strengeren Disziplin , Arbeitszwang und repressorischen Disziplinarmitteln“.457 Die staatliche Obsorge des Staates könnte dadurch „mit einem Schlage alle Schwierigkeiten , welche der heutigen Irrenpflege anhaften , lösen , denn es könnte

träge betreffend die Reform des Irrenwesens“ in : Das österreichische Sanitätswesen , Beilage zu Nr. 27 ( 1904 ). Es waren vor allem Wagner-Jauregg , Berze , Tilkowsky und Raimann , die vehement gegen die Unterbringung fraglicher Personen in Heil- und Pflegeanstalten votierten. In : Herschmann 1927 , 226. Vgl. auch : Berze 1901 , hier : 1254. 453 Wagner-Jauregg stellte sein Konzept erstmals bei der im Oktober 1901 in ­Wien abgehaltenen Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und Neurologie vor : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 3 ( 1901 /  02 ), 329. 454 So plädierte Raimann für die „Detention kriminell veranlagter Psychopathen“ auch , „ohne dass gerade ein Delikt angezeigt wird , also prophylaktisch“. Polizeiärzte sollten zudem bereits bei geringfügigsten Delikten intervenieren können. Ebenso wären seiner Ansicht nach die Aufnahmebedingungen der bestehenden Besserungsanstalten für Jugendliche zu verändern. Die psychiatrische Expertise zur Notwendigkeit einer solchen Internierung sollte auch ohne vorhergehende Verurteilung einen ausreichenden Einweisungsgrund darstellen : Raimann 1907 , 201. Ähnlich weitreichende Vorschläge zu prophylaktischen Einweisungen von Individuen , die „nicht kriminell sind , aber verbrecherische Neigungen haben“ stammen vom Gerichtspsychiater Hermann Hoevel. Zitiert in : Herschmann 1927 , 241 ; weitere Stellungnahmen von Hoevel zu dieser Frage : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 21 ( 1902 ), 427 f. Bericht über die Wanderversammlung am 11. und 12. Oktober 1902. 455 Tilkowsky 1908 , 524. 456 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1908 ), 400. Löffler meinte , dass „die Praxis den Begriff der Minderwertigkeit schon reinigen und begrenzen werde“. Emil Raimann wandte diese Definition der „Dreiteilung“ ebenso an : Jahrbücher 29 ( 1908 ), 438. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 18. Februar 1908. 457 Herschmann 1927 , 228.

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auch das große Heer der Minderwertigen , Imbezillen , der entarteten Trinker und Psychopathen aufnehmen , welche , ohne eigentlich geisteskrank zu sein , nach ihren Delikten in foro für unzurechnungsfähig erklärt und von Unrechts wegen der Irrenanstalt überwiesen werden“.458 Man meinte gar , dass Aufnahmen in eine Zentralanstalt auch unabhängig vom Urteil eines Sachverständigen bei Gericht auf Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit erfolgen könnten. Der proklamierte praktische Nutzen einer – wie auch immer – separierten Institution bedurfte aber erst einer entsprechenden rechtlichen Grundlage. Wagner-Jauregg ging davon aus , dass das Bedürfnis nach diesen Anstalten ebenso wie auch die Zahl ihrer Insassen ohnehin rasch wachsen werde. Denn gäbe es erst einmal diese Möglichkeit der Verwahrung , so würden sich Richter und Geschworene in der Folge auch leichter für die „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ entschließen.459 Jener angestrebte Rechtspassus korrespondiere eng mit der „ärztlichen Erfahrung“, die angeblich gezeigt habe , dass „es Menschen gibt , die zwar nicht völlig willensunfrei sind , in ihrer Widerstandsfähigkeit gegenüber Anreizen zu verbrecherischen Handlungen durch pathologische Veranlagung geschwächt und in ihrer psychischen Organisation minderwertig sind“.460 Die Reformvorschläge seitens der Psychiatrie beschränkten sich aber keineswegs nur auf die vielen Fragen rund um die Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit , sondern erstreckten sich auch auf die Ebene des Strafvollzuges. Der Grund , warum bislang die vielen umstrittenen Fälle „gemeingefährlicher Minderwertiger“ bevorzugt in den Anstalten untergebracht würden , lag den Invektiven des Gerichtspsychiaters Emil Raimann zufolge darin , dass lediglich die stationäre Psychiatrie das Privileg der dauerhaften Internierung von Patienten habe. 461 Mit der Option der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ war nämlich die Frage aufgekommen , ob eine etwaige Strafe milder ausfallen solle oder aber eine „Schutzstrafe“ in Form einer unbefristeten Zwangsunterbringung damit verbunden sein solle.462 Die radikalen Vertreter der Strafrechtsreformbewegung plädierten für eine Eliminierung der Frage von „Schuld“ und „Strafe“ 458 Tilkowsky 1908 , 532. 459 Zitiert in : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1908 ), 400. Österreichischer Irrenärztetag , Protokoll der Sitzung des Vereins vom 5. Oktober 1907. 460 Fritsch 1908 , 23. 461 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 9 ( 1907 ), 197. Emil Raimann war von 1905 bis 1916 Gerichtspsychiater. Von 1899 bis 1913 war er Assistent an der Klinik Wagner-Jauregg , ab 1913 hatte er eine außerordentliche Professur für forensische Psychiatrie inne und war ständiger Ko-Referent bei psychiatrischen Fakultätsgutachten. Im Jahre 1934 wurde er vermutlich aus politischen Gründen vorzeitig emeritiert , danach war er nur mehr im Versicherungswesen tätig : UAW , Personalakt Emil Raimann ( Med. Fak., 431 , Schachtel 51 ); Hubenstorf 2002 , 290. 462 Der von Emil Kraepelin propagierten „Abschaffung des Strafmaßes“ ( Stuttgart 1880 ) haben sich teilweise auch Franz von Liszt und Moriz Benedikt angeschlossen.

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zugunsten der Berücksichtigung der „sozialen Gefährlichkeit“ der Täter , welche – und dies ist nun ein entscheidender Wendepunkt – nur seitens der medizinischen Experten adäquat zu beurteilen sei.463 In den Motivationsberichten und Entwürfen zur Strafgesetzreform stand der als ungenügend angesehene Gesellschaftsschutz stets im Zentrum der Argumentation. Mit dem „Sicherungsmittel“ der unbestimmt andauernden Verwahrung der „vermindert Zurechnungsfähigen“ sollte diese angeblich latent drohende Gefahr für die Bevölkerung beseitigt werden.464 Die Dauer der Internierung in den auch „Schutz- und Besserungsanstalten“ genannten Institutionen sollte nämlich vom „Erfolg der Behandlung“ abhängig sein.465 Worin jedoch der psychiatrische Heilungsanspruch bestehen könnte , war nicht mehr Teil des fachlichen Diskurses.466 Die in den Initiativanträgen von 1901 und 1903467 und in den Verfassungsentwürfen von 1909 und 1912 formulierten Forderungen nach staatlich verwalteten Zentralanstalten wurde jedoch nicht erfüllt. Der vielfach geforderte „Schutz der Gesellschaft“ wurde im ­Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie zwar als wichtig anerkannt , könne aber gemäß der Mehrheit seiner Vertreter dennoch nicht das Schuldprinzip durch das der sozialen Verantwortlichkeit ersetzen.468 Eine besondere strafrechtliche Behandlung der „vermindert Zurechnungsfähigen“ gelangte wegen der Ungenauigkeit dieses Begriffs erst gar nicht in die publizierten Entwürfe der Reformanträge , sollte aber zukünftig , so der Kompromissvorschlag , über den Umweg der „sichernden Maßnahmen“ gelöst werden.469 463 Türkel 1905b , 40. Vgl. beispielsweise zur gängigen Forderung des „sozialen Schutzes der Gesellschaft“: Fritsch 1908 , 22 f. 464 Dangl 1929 , 79 f. Referat bei der Tagung der österreichischen Irrenärzte in ­Wien am 12. September 1927. Dangl war Leiter der Landesheilanstalt in Salzburg. 465 Die §§ 36 und 37 des „Vorentwurfs zu einem österreichischen Strafgesetzbuche“ von 1909 und des Entwurfs von 1912 regelten die sogenannten sichernden Maßnahmen. In : Türkel 1915 , 63 und 77 f. Zentrales Argument waren die hohen Rückfallquoten , die mit psychischen Erkrankungen in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht wurden. Vgl. auch : Herschmann 1927 , 260. 466 Berze 1901 ; Berze 1908b , 140. Moriz Benedikt plädierte gar für eine „verschärfte Unmündigkeitserklärung“ für Menschen mit „angeborener oder erworbener Nervenstörung mit dissocialen Trieben“, gekennzeichnet durch „Arbeitsscheu , sexuelle Perversitäten , unverbesserlichen Leichtsinn , Verschwendungssucht“. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 4 ( 1902 ), 426. Referate und Anträge betreffend die Reform des Irrenwesens in Oesterreich. 467 Türkel 1905a , 48 f. Diese Initiativanträge zur Aufnahme der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ in das Strafgesetz und der „Verwahrung geistig minderwertiger Verbrecher in geeigneten Detentionsanstalten“ wurden in der Sitzung vom k. k. Niederösterreichischen Sanitätsrat am 7. Dezember 1907 einstimmig angenommen. 468 Herschmann 1929. Vgl. allg. zu den beiden Polen in den Fragen der Strafrechtsreform : Wetzell 2000 , 125–149 ; Germann 2004 , 149–163. 469 Vgl. zur Entmündigungsordnung : Abschnitt 5. 1. Sie wurde seitens der Anstaltspsychiater unter der Bedingung angenommen , dass eine Zentralanstalt gebaut werde : Türkel 1915 , 80 f. Eine Übersicht zur

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Eben jener neuralgische Punkt bei der Ausgestaltung der seit 1907 eigenständigen stationären Versorgung provozierte gemeinsam mit der schon länger schwelenden Unzufriedenheit der Anstaltspsychiater470 im ­Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie zunehmend häufiger Differenzen zwischen den Vertretern der jeweiligen Tätigkeitsbereiche. Josef Starlinger stellte 1906 zur Wahrung der , wie er meinte , bislang stark vernachlässigten Interessen der Anstaltsärzte einen Antrag zur Gründung einer „psychiatrischen Sektion“. Zur Vermeidung der drohenden Spaltung des Vereins sollten die in der Folge initiierten und auch regelmäßig abgehaltenen „Irrenärztetage“ eine Gesprächsbasis ausschließlich für die praktischen Aspekte der Psychiatrie bieten. Der bereits benannte Verfassungsentwurf von 1909 war jedoch der endgültige Auslöser der Abspaltung der Anstaltspsychiatrie. Am 1910 in Linz einberufenen vierten „Irrenärztetag“ wurde unter der Leitung Josef Starlingers und seines Stellvertreters Josef Schweighofer , Direktor der Anstalt Maxglan bei Salzburg , der „Psychiatrische Verband“ begründet.471 Das primäre Anliegen des Vereins war die Verhinderung der stationären Aufnahme „abnormer und zumeist krimineller Menschen“ in den modernen Institutionen. Denn gegenüber diesen Personen hätte man , so die Klage Starlingers , keinerlei gesetzliche Möglichkeiten – weder aber wollten die Anstalten „Polizeigefängnisse“ noch die dort angestellten Ärzte „Exekutionsorgane“ sein.472

Vielzahl der Entwürfe und Gegenentwürfe findet sich bei : Türkel 1914 ; eine kurze wie unvollständige Zusammenfassung : Sluga 1977. 470 Hierzu zählte unter anderem die Beschränkung der Forschung auf die Klinik. So klagte Edmund Holub , dass die in den Anstalten arbeitenden Mediziner zu „Ärzten zweiter Klasse“ geworden wären. Im Vergleich zu diesen war die Mehrzahl des Vereins für Psychiatrie und Neurologie Kliniker , welche sich „im Gefühl und Bewusstsein ihrer akademischen Würden [ … ] leichter über die Unbilden des täglichen Lebens“ hinwegsetzten“. In : Holub 1907 /  08 , 360. 471 Obersteiner 1919 , 32 f. ; Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 37 ( 1917 ), 561. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 14. November 1916. Die konstituierende Versammlung des „Psychiatrischen Verbandes“ fand am 24. April 1910 statt ; in acht Punkten wurden die Forderungen einstimmig unterstützt. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 12 ( 1910 / 11 ), 235. Vereinsorgan sollte die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift sein. In : ebd., 13 ( 1911 / 12 ), 295. Dieser Verband sollte allerdings nur wenige Jahre Bestand haben ; 1916 gab es diesen noch als Vereinigung. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 37 ( 1917 ), 561. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 14. November 1916. Die nicht näher datierte Auflösung des Zusammenschlusses gegen Ende des Ersten Weltkrieges ist erwähnt in : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 46 ( 1929 ), 193 f., Festsitzungsbericht vom 8. Mai 1928. Während dieser Jahre waren viele Vertreter der ­Wiener Anstaltspsychiatrie , allerdings ohne einen erkennbaren jähen Abbruch , aus dem Verein für Psychiatrie und Neurologie ausgeschieden. Im traditionellen Zusammenschluss waren vor allem die Leiter der jeweiligen Anstalten verblieben. In : Hubenstorf 2002 , 308 f. 472 Über die Vorlagen eines Entmündigungs- und Irrenfürsorgegesetzes in Österreich. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 439–442. Resolution der österreichischen Anstaltsärzte vom 12. Jänner 1910 in Hall in Tirol. Hier : 440. Die Versammelten plädierten für die Bildung

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Die jahrzehntelang umkämpfte Frage der juristischen Regelung der Unterbringung psychisch kranker Rechtsbrecher blieb trotz der – maßgeblich seitens der Anstaltspsychiatrie geprägten Reformbestrebungen –unverändert. Für Niederösterreich wurden insgesamt drei kleine Spezialabteilungen für „gewalttätige Kranke“ innerhalb der psychiatrischen Anstalten in Ybbs und Kierling-Gugging geschaffen.473 Am Steinhof wurde , ein Jahr nach der Eröffnung im September 1908 , der Pavillon 23 als „festes Haus“ für insgesamt 34 Patienten eingerichtet. Heinrich Schlöß opponierte zwar vehement gegen eine solche „Zwingburg“, die seiner Ansicht nach mit einer modernen Heil- und Pflegeanstalt unverträglich sei.474 Die im Vergleich zur therapeutischen Einrichtung angestrebte „grundsätzlich andere Disziplin und Hausordnung“475 konnte jedoch mangels institutioneller Alternativen nicht geltend gemacht werden. Seitens der Verwaltung wurde das in einigen deutschen Anstalten bereits bewährte , vor allem aber kostengünstigere Modell eines an die Heil- und Pflegeanstalten angeschlossenen „festen Hauses“ favorisiert.476 Im zweigeschoßigen Bau des Pavillons 23 wurden ein Schlafsaal für vier bis zehn Personen , vier Tagräume und zehn Isolierzellen eingerichtet , die Bettstellen waren aus Beton gefertigt und das Mobiliar war , wie es hieß , niet- und nagelfest. Der mit dicken Eisenstäben vergitterte Pavillon war von fünf Höfen umgeben , die durch hohe Mauern voneinander abgeschlossen waren. Sowohl die Einrichtung selbst , die Instandhaltung , als auch die aufwändigere Pflege beziehungsweise Überwachung war um einiges kostspieliger als auf den anderen Abteilungen. Daher wurden im „festen Haus“ nur „geisteskranke Verbrecher“ und „verbrecherische Geisteskranke“ aufgenommen , die auch das niederösterreichische Heimatrecht besaßen.477 Die Krankenakten aller straffällig gewordenen Patienten waren auf dem Deckblatt mit einem Dreieck markiert , in

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gänzlich neuer Enqueten unter der Ägide der Landesausschüsse und unter Beiziehung der Anstalts- und Bezirksärzte und vor allem derjenigen , welche praktisch mit der Irrenpflege zu tun haben. Herschmann 1927 , 234. Auch : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 6 ( 1904 ), 279. Eine Beschreibung der genannten drei Orte bei : Aschaffenburg 1912 , 176 f. Aschaffenburg brachte die Option ins Spiel , dass die in einer „Verbrecherklinik“ Internierten der psychiatrisch-juristischen Forschung dienen könnten. Ebd., 228. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 311. Offizieller Bericht des III. Internationalen Congresses für Irrenpflege in ­Wien , 1908. Vgl. auch Vanja 2003. Tilkowsky 1908 , 525 f. Asper 1918 , 100 f. Eine ausführliche Diskussion aller Vor- und Nachteile und ihrer Befürworter und Gegner und eine Beurteilung bestehender Modelle findet sich bei : Herschmann 1927 , 221 f. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ 2988 / 1909. Schreiben an die k. k. Oberstaatsanwaltschaft zwecks Erhöhung der Unterbringungskosten. Die Pflegenden erhielten finanzielle Zuschüsse : ebd., Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ 254 / 1908. Die Abteilung für vorerst sechs Patienten unterstand dem Sekundararzt Edmund Holub : ebd., Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 246 / 1908. Eine Beschreibung der baulichen Ausstattung : Holub 1912 , 180 f. Die Beschäftigungstherapie für diese Pa-

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welchem seinerseits mittig ein Punkt aufgetragen wurde : Dieses Zeichen machte den Unterschied zu den Kranken der Heil- und Pflegeanstalten auf den ersten Blick hin deutlich sichtbar und symbolisierte das alles erkennende „Auge Gottes“.478 3.6.3 Exkurs: Der biopolitische Zugriff auf die „minderwertigen Psychopathen“: Der Ruf nach „sichernden Maßnahmen“ und die in diesem Zusammenhang gestellten, eugenisch motivierten Forderungen Bislang sind mehrere Entwicklungslinien festzumachen : Einerseits gab es verschiedene medizinische Theorien , die kriminelles Verhalten erklärbar machen wollten , andererseits wurde mittels institutioneller und legislativer Modelle versucht , Zugriff auf bestimmte Teile der Bevölkerung zu erlangen. Darüber hinaus wechselte das Ziel der Fürsorge. Stand früher der Betroffene im Mittelpunkt des Interesses , so nun der Schutz der Gesellschaft. Das immer wieder unter dem Deckmantel der Humanität geforderte Schutzrecht zur „Unschädlichmachung solcher Individuen“479 implizierte die Forderung nach einer Internierung auf unbestimmte Dauer. Da man diese Art von Straftaten kausal als deviante Konstitution erklärte , konnten jene keine Folge eines freien Handelns sein , eine persönliche Verantwortung konnte somit nicht vorliegen. Juristisch verhängte Strafen wurden daher weniger als Sühne für begangene Taten angesehen , sondern dienten als Maßregel seitens der Gesellschaft zur Prävention und zu ihrem eigenen Schutz , aber auch als Besserungsversuch wie auch als eine Methode negativer Selektion.480 Die angebliche „gerechtere Behandlung der Minderwertigen“481 und die damit einhergehende Forderung nach Einführung des Rechtspassus der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ steht in einem engen Zusammenhang mit dem Versuch einer beträchtlichen Ausweitung psychiatrischer Kompetenzen. Die mit Verweis auf neueste Erkenntnisse der Wissenschaft begründete Pathologisierung der „Minderwertigen“ und deren versuchter zeitweiser oder dauernder Internierung wurde darüber hinaus in manchen Fällen bereits um die Jahrhundertwende mit konkreten eugenischen Maß-

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tienten wurde 1913 aus Sicherheitsgründen aufgegeben : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ o. Z. / 1913. Schreiben vom 20. November 1913. Dieses Zeichen hatte bereits eine lange Tradition. War es an den „Kopfzetteln“ des frühen 19. Jahrhunderts vermerkt , so hatten die Wärter und Wärterinnen im Allgemeinen Krankenhaus die Aufgabe , diese Kranken besonders gut zu überwachen. In : Walter 2004 , 190. ( Abbildung des alternativ verwendeten durchgestrichenen Dreiecks aus dem Jahre 1837 : ebd., im Anhang , 15. ) Türkel 1904. Türkel 1915 , 73. Berze 1903 , 144.

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nahmen verbunden. Raimann stellte 1907 lapidar fest , dass „konstitutionell Geisteskranke , aber auch psychopathisch Minderwertige keine Kinder in die Welt setzen [ sollten ]“.482 Da seiner Ansicht nach bei der Entstehung von „Minderwertigkeit“ aber nicht nur Erblichkeitsfaktoren eine Rolle spielten , sei die vor allem von Paul Näcke propagierte Kastration abzulehnen. Letztere empfand er als „einen Vorschlag , den Gefühlsmomente für undiskutierbar erklären“, ethische Hemmungen solch Vorgehen somit nicht erlaubten , und riet stattdessen , weitere Entscheidungen in die ferne Zukunft zu verschieben.483 Näcke veröffentlichte regelmäßig in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift sowohl Bibliografien als auch Rezensionen zu kriminalanthropologischen Themen und kommentierte die eugenischen Gesetze in den Vereinigten Staaten. In seinem viel zitierten Artikel „Die Kastration bei gewissen Klassen von Degenerirten als ein wirksamer socialer Schutz“ macht der sächsische Anstaltsarzt weitreichende Vorschläge zur Unfruchtbarmachung , wiewohl diese schon rein technisch kaum umsetzbar war.484 Hans Groß , Strafrechtsprofessor in Graz , Vorsitzender der Österreichischen kriminalistischen Vereinigung und Herausgeber der Zeitschrift „Archiv für Kriminalanthropologie“, war gegenüber diesen Forderungen vorerst noch skeptisch eingestellt , da er ihnen nur eine geringe Wirksamkeit zuschrieb. Alternativ schlug er jedoch vor , „alle Entarteten und unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher in entfernte Kolonien zu deportieren“.485 Im Verein für Psychiatrie und Neurologie wurde 1905 unter der Anwesenheit von Vertretern des Justizministeriums und der gynäkologischen Gesellschaft ein Diskussionsabend zu folgendem Thema veranstaltet : „Inwiefern ist beim Vorliegen einer Neurose oder Psychose künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft medizinisch indiziert und juristisch gestattet ?“486 Fedor Gerényi , Mitglied des Niederösterreichi482 Raimann 1907 , 184. 483 Ebd., 198. Näcke gilt als derjenige , der sich in Deutschland als Erster entschieden gegen Lombrosos Theorie des „geborenen Verbrechers“ gewandt hatte. Vgl. Näcke 1899. 484 Näcke 1905 /  06. 485 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 8 ( 1906 ), 137 , Zitat Näcke. Die Deportation von Strafgefangenen ( nach Südwestafrika ) vertrat auch Felix Bruck , Professor für Rechtskunde in Breslau. In : Archiv für Kriminalanthropologie 6 ( 1901 ), 354. Doch bereits wenige Jahre später plädierte Groß wie zuvor Näcke ebenfalls für die Sterilisation und Kastration von bestimmten Personen. Richard Wetzell charakterisierte die beiden maßgeblichen Vorreiter in diesen Fragen als : „Far from being crackpots , Näcke und Groß were well-respected and influential representatives of criminal psychology and penal-reform. Although there was no chance of a sterilization law passing in Imperial Germany and the leadership of the German eugenic community did not endorse sterilization , the campaign for sterilization was gaining support in the legal community.“ In : Wetzell 2000 , 104 f. 486 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 27 ( 1906 ), 184. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 14. und 21. Februar 1905. Der erste Vortrag „Die psychiatrischen und neurologischen Indikationen zur vorzeitigen Unterbrechung der Schwangerschaft“ hielt Julius von Wagner-Jauregg , sein Ko-Referent war

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3. Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne

schen Landesausschusses und maßgeblich an den Planungen der Anstalt Am Steinhof beteiligt , stellte unter Berufung auf Emil Kraepelins 1900 veröffentlichte Schrift „Die psychiatrischen Aufgaben des Staates“ fest , dass die Anstaltsunterbringung der Schwachsinnigen „schon mit Rücksicht auf die dadurch gegebene Verhütung der Fortpflanzung derartiger Kranker der zweckmässigste und durchaus nicht die theuerste sei“.487 Heinrich Schlöß bezeichnete die Frage , ob zu psychiatrischen Erkrankungen neigende Menschen heiraten dürften , als eine sehr schwierige und daher nur im Einzelfalle von einem Arzt zu beantwortende. „Erblich Belasteten“ mit „physischen oder psychischen Zeichen schwerer Entartung , unheilbaren Psychosen , Epilepsie oder schweren Nervenkrankheiten“ wäre von einer Eheschließung dringlich abzuraten.488 Der Leiter der Salzburger Anstalt , Josef Schweighofer , referierte bei der Hauptversammlung des Österreichischen psychiatrischen Verbandes 1912 in Prag ebenfalls zu dieser Thematik. Dabei berief er sich auf Ernst Rüdins Forderung , verstärkt Daten zur Vererbung psychischer Erkrankungen zu ermitteln. Schweighofer hatte zu diesem Zeitpunkt bereits achtzehn Jahre lang entsprechende Stammbäume und Tabellen erstellt und bat die Vereinsmitglieder um entsprechende Beteiligung an seinen „rassehygienischen Arbeiten“.489 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war die Frage der Unfruchtbarmachung geisteskranker Menschen bereits zu einer denkbaren Vorgehensweise geraten. Josef Berze berichtete als nachfolgender Direktor der Anstalt Am Steinhof im Februar 1921 in einer hausinternen Konferenz der Primarärzte über die Ergebnisse einer „wissenschaftlichen Diskussion“: „An die Kastration [ … ] kann derzeit noch nicht geschritten werden. Die Unterbindung des vas deferens [ des Samenleiters ; S. L. ] kann bei Dementia praecox unter Umständen im Einvernehmen mit dem Direktor gemacht werden.“490 Die Frage nach dem Einvernehmen mit den Patienten war nicht Thema des Sitzungsprotokolls. Die 1905 in Form einer Anmerkung zum Text von Siegfried Türkel , Autor zahlreicher Schriften zu Fragen der Irrenrechtsreform , gestellte Frage : „Wohin mit den Minderwertigen ?“ folgte eine zweite , nämlich : „Was soll mit den Minderwertigen ge-

Albin Haberda , der „Über die Berechtigung zur Einleitung der künstlichen Fehlgeburt“ sprach. Beide Vorträge in : ­Wiener Klinische Wochenschrift 18 ( 1905 ), 244–247 und 248–258. 487 Zitiert in : Kalmus 1902 /  03 , 349. 488 Schlöß 1903. Zu diesem Zeitpunkt war Schlöß noch Direktor der niederösterreichischen Landesirrenanstalt Kierling-Gugging. 489 Anonym , Bericht über die Hauptversammlung des Österreichischen Psychiatrischen Verbandes 1912 , 600. 490 Primarärztliche Konferenz vom 16. Februar 1921. In : Handschriftlich verfasstes Konferenzprotokoll. Vom 31. Jänner 1908 bis 16. Februar 1921. Ich danke Prof. Eberhard Gabriel für die freundliche Einsichtnahme in die Archivalien.

3.6 Epistemische Räume: Verbindungen zwischen (Anstalts-)Psychiatrie und Rechtsprechung

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schehen ?“491 Zwar wurde diese vor dem Ersten Weltkrieg nur sporadisch gestellt , definitiv aber liefen die sogenannten „Grenzfälle zwischen Gesundheit und Krankheit“492 Gefahr , sowohl kriminalisiert als auch pathologisiert zu werden. Hinter dem dargestellten diskriminierenden und zunehmend eugenischen Diskurs steht der Versuch des juristischen und institutionellen Zugriffs auf eine zumeist als homogen verstandene Bevölkerungsgruppe. Diese umfasste Menschen , die geisteskrank und straffällig geworden waren , wie auch diejenigen , die man meinte schlicht als „minderwertig , entartet oder degeneriert“ aburteilen zu können. Viele dieser erhobenen Forderungen erlangten in der unmittelbar folgenden Zeit ( noch ) keine Gesetzeskraft. Die deterministische Sichtweise von Delinquenz und die Ausweitung psychiatrischer De­fi­nitionsansprüche über die bis dato vielfach nicht institutionell erfassten und von der „Norm“ abweichenden Menschen führten aber gemeinsam mit dem Argument der zu schützenden Gesellschaft bereits ab dem frühen 20. Jahrhundert zu einer deutlichen Radi­kalisierung von Präventionsvorstellungen.

491 Türkel 1905 , 24. 492 Vgl. allg. Schmiedebach 1997.

4. Zur Konstituierung der Grenze. Materialität und Medialität von Krankenakten in der Anstaltspsychiatrie „Nachdem Tinte und Papier allgemein nicht verzehrt zu werden pflegen , kann ihr Mehrverbrauch nur als direkte größere Arbeitsleistung gedeutet werden.“ 493

Wie in meiner Einleitung bereits angedeutet , ist die Unauffälligkeit von Einträgen in Krankenakten oft nur ein Schein , denn das , was notiert steht , muss man immer mit dem zusammen sehen , was nicht notiert wurde – und Letzteres können wir naturgemäß nicht ohne Weiteres kennen. Das Nicht-Notierte können die Wahrnehmungen und Empfindungen des Arztes sein , die letztendlich als nicht festhaltenswert herausgefiltert wurden , aber auch Beobachtungen , die die behandelnden Mediziner nicht weiter in Betracht zogen , weil sie bereits mit einer bestimmten Vormeinung ans Krankenbett getreten waren und etwaige Verhaltensschemata somit erst gar nicht als Symptome von Krankheit begegneten. Krankenakten der Anstaltspsychiatrie , also der längerfristigen stationären Versorgung und Pflege , enthalten im Vergleich zu Dokumenten dieser Art aus einer psychiatrischen Klinik zudem keinerlei Spuren von Forschung und Lehre , wie beispielsweise nachträgliche Bearbeitungen , Hervorstreichungen und Hinzufügungen oder gar schriftlich festgehaltene Eindrücke von klinischen Vorstellungen der Kranken vor den Studierenden.494 Prima facie scheinen die Akten der längerfristigen stationären Psychiatrie für eine wissenschaftshistorische Analyse von geringem Interesse. Die weitaus weniger ausführliche Dokumentation in der nur in geringem Ausmaße forschungsrelevanten Anstaltspsychiatrie erscheint im Vergleich zu entsprechenden Notationen aus einer Klinik meist sehr schlicht , nicht deutungsbedürftig und selbstevident. Dem Selbstverständnis der notierenden Ärzte nach sind die Krankenakten Dokumente einer rein deskriptiven , also von besonderen Werten und Fähigkeiten des Behandelnden und seines Milieus freien Krankheitsbeobachtung oder , nun zugespitzt formuliert , gar ähnlich Laborprotokollen , die nichts anderes sein wollen als wertfreie „Zeugen“ wissenschaftlicher Erkenntnis. Für die historische Analyse aber sind die Krankenakten viel eher wie archäologische Zeugen einer institutionalisierten Praxis zu lesen. Der eigentliche 493 Starlinger 1908 /  09 , 268. Diese Angabe bezieht sich auf die steigenden „Amts- und Kanzleierfordernisse“ von 1882 bis 1906. 494 Vgl. Ledebur 2011.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

Sinn des Aufgeschriebenen ist keineswegs durch theoriegeneriertes Wissen alleine erklärbar , sondern entsteht durch die Gesamtfunktion des Aufgeschriebenen im System der Versorgung. Das sinnkonstituierende Wissen ist hier wiederum auch und gerade ein praktisches oder implizites Wissen , das die verschiedenen Praktiken der Institution bestimmt , seien sie therapeutischer , administrativer oder versorgungstechnischer Art. Jener wechselseitige Bezug von Wissen und Praxis soll im Folgenden anhand der Entstehungsbedingungen , Charakteristika und Funktionsweisen der Krankenakten der ­Wiener psychiatrischen Anstalt Am Steinhof verdeutlicht werden. Krankenakten im Allgemeinen sind ein lohnendes Anschauungsbeispiel für die These , dass das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche nicht oder nur unvollständig ohne die Form ihrer Inszenierung und Repräsentation verstehbar ist. Demnach interessieren im Folgenden insbesondere die Regeln und Verfahren , in welchen ein Äußerungszusammenhang entsteht , und die Darstellungen , mit denen die performative Kraft des Wissens gesichert wird.495 Um die Eigenart der Krankenaktenführung des Versorgungs- und Verwahrungssystems des frühen 20. Jahrhunderts im Ganzen zu verstehen , ist die historische Veränderlichkeit der jeweiligen Funktionen von „Krankheitsgeschichten“ und „Krankengeschichten“ mit in den Blick zu nehmen. Das medizinisch-literarische Genre der Fallberichtssammlungen der Frühen Neuzeit umfasste sowohl consilia , schriftlich ausformulierte ärztliche Ratschläge für einen konkreten Patienten , als auch observationes oder curationes , Sammlungen retrospektiv aufgezeichneter Fallberichte einzelner Ärzte. Kasuistische Berichte über einzelne und als typisch charakterisierte Krankheitserscheinungen konnten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert – und nicht zuletzt mit der Entstehung des wissenschaftlichen Zeitschriftenwesens – an Bedeutung erlangen.496 Mit dem Umbruch des naturwissenschaftlichen und medizinischen Denkens in der Frühen Neuzeit war der Tod auch nicht mehr das endgültige Ende der Krankengeschichte , da Sektionsbefunde retrospektiv zur Aufklärung der Fälle herangezogen werden konnten.497 Wolf Lepenies hält in seiner Studie „Das Ende der Naturgeschichte“ fest , dass systematischere Aufzeichnungen in der Klinik des 18. Jahrhunderts als Grundlage zur Erarbeitung einer Nosologie herangezogen wurden. Dabei wurde der Blick zunehmend 495 Vgl. Vogl 1999 , hier : 13. Vogl verweist dabei auf wissenssoziologische Überlegungen wie Ludwik Flecks Begriff des Denkstils und Gaston Bachelards Epistemologie , die den Wahrheitswillen der Wissenschaften als eine „Ästhetik der Intelligenz“ beschreibt. 496 Geyer-Kordesch 1990 ; Stolberg 2007. Fallgeschichten werden gegenwärtig sowohl in der Wissenschaftsgeschichte als auch den Literaturwissenschaften intensiv erforscht. Ein Literaturüberblick bei : Ledebur 2011 , 110 f. 497 Jütte 1992. Vgl. zum Sammeln und Auslegen von Exempla in der Medizin- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit : Gadebusch Bondio 2008.

4.1 Zu den Akten. Quellenmaterial und historische Analyse

145

auf Verlaufsformen , also die zeitliche Perspektive der einzelnen Krankheitsbilder , gerichtet.498 Die auch „Psychengeschichten“ genannten Berichte einzelner Krankheitserscheinungen , das per se nicht Beobachtbare und durch seine Inkohärenz unverständlich oder noch unzugänglich Erscheinende konnten insbesondere in der Psychiatrie erst in einem narrativen Kontext eines medizinischen Erklärungssystems Zeichencharakter erlangen. An die Stelle des Deutens einzelner auffälliger Merkmale trat bei Philippe Pinel ( 1745–1826 ) ganz prononciert der Versuch der Kontextualisierung von Krankheit durch Vorgeschichten , Krankheitsgeschichten und Heilungsgeschichten , um Verhaltensmuster zu Zeichen zu machen und dann die Zeichen deutbar werden zu lassen.499 An diesem Punkt gilt es jedoch präzise zu differenzieren : Der zeitgenössische Terminus „Krankengeschichte“ oder dessen ältere Version „Krankheitsgeschichte“ bezeichnete jegliche Berichtsform von Krankheitsverläufen , also auch retrospektiv und zu unterschiedlichen Zwecken verfasste Darlegungen. Im Folgenden werden jedoch nicht die nachträglich und zumeist für eine Publikation erstellten Fallgeschichten , sondern vielmehr die zeitnahe , zur psychiatrischen Beobachtung erfolgten Aufzeichnungen in den Blick genommen , denn sie bilden den Kern der meisten Krankenakten , also des anstaltsinternen Aufschreibesystems.

4.1 Zu den Akten. Quellenmaterial und historische Analyse Es ist nicht so klar , wie es auf den ersten Blick scheint , worin genau der erwartete Nutzen der Dokumentation der Krankenakten für die Psychiater einer Anstalt wie der Am Steinhof bestand ; ebenso uneinheitlich waren die Positionen der historischen Forschung hinsichtlich der Frage , welchen Erkenntniswert diese Archivalien besitzen.500 Längere Zeit sah man in der Medizingeschichte den besonderen Erkenntniswert der Analyse von Krankenakten darin , die Diskrepanz zwischen den in Forschung und Lehre proklamierten Therapieprinzipien und der Praxis des Klinik- und Anstaltsalltages aufzeigen zu können.501 Roy Porter forderte Mitte der 1980er-Jahre eine Erweiterung der

498 Lepenies 1976 , 78–87. 499 Frey 2004 , 123 f. 500 Vgl. zu der Position , dass historische Krankenakten für die gegenwärtige medizinische Studien relevant wären : „Bis heute können Krankheiten in beträchtlichem Ausmaß nicht kausal erklärt , sondern nur phänomenologisch beschrieben , klassifiziert und symptomatisch behandelt werden. Zur Validierung phänomenologisch fundierter Klassifikationen wird Material für den diachronischen Vergleich benötigt. Krankenakten liefern darüber hinaus Material für langfristige Erfolgskontrollen sowie für retrospektive statistische Studien.“ In : Dinges , Wischnath 1998. Vgl. auch : Hoffmann-Richter , Finzen 1998. 501 Risse , Warner 1992. Daran anschließend : Radkau 1998 , 77–84.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

Historiografie durch Einbezug der patients’ view , welche auch von der kritischen Geschichtsschreibung der Anstaltspsychiatrie sträflich vernachlässigt worden war.502 Im Gegensatz dazu untersucht die als Science in Action etablierte wissenschaftshistorische Forschung verstärkt den Bereich der Praxis , der Beobachtung und des Experiments. Mit diesem Ansatz rücken die in den Krankenakten dokumentierten Inhalte zwar nicht notwendigerweise in den Hintergrund , doch werden die jeweiligen materiellen ( Re- )Präsentationsformen nicht mehr als gehaltsneutrale Medien übergangen.503 Die Berücksichtigung des Entstehungshintergrundes der in den Akten notierten Beobachtungen ist für eine methodisch fortschrittliche Analyse , wie der eingangs erwähnten Studie zur Zürcher Psychiatrie , selbstverständlich. Sie richtet den Fokus auf ganz spezielle und konkrete medizinische Interventionen , nämlich die Zwangsmaßnahmen in Therapie und Anstaltsalltag – der in der internen Dokumentation sich manifestierende institutionelle Blick auf die Kranken ist hierbei unübersehbar. Die Suche nach der Sicht der Patienten wird in den Zusammenhang mit der „Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft“ gebracht und in den Rahmen eines plausiblen , wenngleich nicht zwingenden Deutungsschemas gestellt : Da Krankheit in modernen Gesellschaften weithin mit Unordnung oder Fremdheit assoziiert wird und nach ganz bestimmten , normativen Prinzipien der Vernunft und der wissenschaftlichen Rationalität geordnet wird , fällt das , was in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet , naturgemäß aus dem Protokoll heraus. Insbesondere die subjektive Sichtweise des Wahns entzieht sich aus evidenten Gründen per se der historischen Rekonstruktion. Die – wie mit einer Metapher Foucaults hierbei formuliert – im Zeitalter der Vernunft verstummten Stimmen des Wahnsinns sind , so oft man sie gesucht und fälschlicherweise gefunden zu haben glaubte , verloren. Folglich sind solche Dokumente auch nicht als unmittelbare Quelle einer Patientengeschichte anzusehen.504

502 Porter 1985. Vgl. auch : Weindling 1986. Ein zwar nicht rezenter , aber guter Überblick zum Forschungsstand bei : Wolff 1998. Karen Nolte führt diesen Perspektivenwechsel konsequent weiter und untersucht anhand von Krankenakten und den ihnen beigelegten Briefen subjektive Krankheitswahrnehmungen : Nolte 2003 ; Nolte 2004 ; Nolte 2006. Zur Problematik einer sozialhistorisch erweiterten Kulturgeschichte der Medizin mit dem Fokus auf die Patientengeschichtsschreibung : Ernst 1999. Eine umfangreiche , auf der Basis von Krankenakten erstellte Analyse von Einweisungsgründen , Transferierungen , Entlassungen , Mortalitätsraten und Diagnosen : Beddies , Dörries 1999. 503 Vgl. : Hagner 2001 , hier : 19 f. In der Psychiatriegeschichte wurden Emil Kraepelins Zählkarten im Hinblick auf ihren Einsatz für die Nosologie untersucht. Die ursprünglich für statistische Zwecke verwendeten Karten sollten den Zugriff auf die als relevant erachteten Angaben aus den Krankenakten optimieren : Engstrom 2005. 504 Meier , Bernet , Dubach , Germann 2007 , 40 f. Die Analyse einer einzelnen Krankenakte im Kontext anderer , ebenfalls dieselbe Person betreffender Dokumente wie Gerichtsakten und Gutachten : Nellen , Schaffner , Stingelin 2007. Vgl. auch Ankele 2009.

4.1 Zu den Akten. Quellenmaterial und historische Analyse

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Forschungsarbeiten , die Krankenakten als ihre zentrale Quellenbasis heranziehen , sind , etwas vereinfacht gesagt , von zweierlei , sich grundlegend unterscheidender Art. Die hermeneutisch fokussierte Lesart zielt vor allem auf den Inhalt , die Bedeutung des Aufgeschriebenen und versucht , Erfahrungswelten und Bedeutungshorizonte der Betroffenen zu rekonstruieren. Derartige Ansätze , mögen sie mehr die „doctor’s view“ oder eher die „patient’s view“ deutend rekonstruieren , wurden im Zeichen der konstruktivistischen Debatten in der Geschichtswissenschaft zunehmend hinterfragt. Eine andere , soziologisch inspirierte Lesart der Krankenakten folgt jedoch weit mehr den institutionellen Vorgaben des internen Aufschreibesystems. Gemäß diesem , verstärkt auf die ursprüngliche Funktion der Akten aufmerksam machenden Ansatz findet sich weder die Sichtweise der Kranken noch die der Mediziner dokumentiert. Vielmehr aber spiegeln sich in diesen Aufzeichnungen die Ordnungsprinzipien der Institution.505 Ausgehend von jenen Überlegungen sollen die institutionellen Vorgaben der Aktenführung sowie deren Medialität und Materialität im Allgemeinen in den Blick genommen werden. In früheren Zeiten bezeichnete der Begriff „Krankengeschichte“ etwas recht Schlichtes und hatte dementsprechend sehr praktische Funktionen. „Krankengeschichten“ in diesem älteren Wortsinne dienten am 1784 eröffneten Narrenturm als Instrument zur Erfassung der Krankheit und ihrer Entstehung vor der stationären Aufnahme : „Bei Überlieferung von Wahnsinnigen in die Irrenanstalt ist außer dem Zeugnisse der Ortsobrigkeit auch eine von zwei oder wenigstem einem graduierten Arzte gefertigte Krankengeschichte jederzeit mitzulegen.“506 Auch wenn diese Instruktion angeblich nur selten beachtet wurde , wird ersichtlich , dass diese Schriftstücke der Aufnahme vorgeschaltet waren. Der Terminus „Krankengeschichte“ änderte sich , er wanderte gleichsam in die Anstalt hinein , wo die Schriftstücke nun eine neue Funktion erhielten. Institutionsintern entwickelte sich die schriftlich festgehaltene psychiatrische Beobachtung über einen längeren Zeitraum hinweg von einem in Form eines Registers erstellten , tagesbezogenen und vorwiegend administrativ geprägten Aufschreibesystem kontinuierlich hin zu einer verstärkt wissenschaftlich ausgerichteten Dokumentation.507 Patientenbezogene Aufzeichnungen erfolgten lange Zeit in einem gebundenen Protokollbuch.508 Parallel dazu waren Medikation , Diätverordnungen und 505 Vgl. dazu ausführlicher : Bernet 2009 , hier : 64 f. Eine wichtige , in diese Richtung weisende Studie : Sammet 2006. Zur medialen Bedeutung von Patientenakten , Fotografien und Filmen in der Psychiatrie : Köhne 2009. 506 Regierungscirculare vom 14. Mai 1814. In : Haidinger 1844 , 481 ; Knolz 1840 , 196 f. 507 Vgl. Hess , Ledebur 2011. 508 Saurer 1992. Leider beschreibt die Autorin die hinsichtlich der „religiösen Melancholie“ untersuchten „Protokolle“ nicht näher. Indirekte Hinweise zu diesen Aufzeichnungen finden sich in : WStLA ,

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

kurze Angaben zum Verlauf der Erkrankung auf sogenannten „Kopftafeln“ zu vermerken , welche an den Krankenbetten befestigt waren. Das Schreiben von „Krankengeschichten“ war im frühen 19. Jahrhundert bloß optional , sie dienten den Primarärzten als Gedächtnisstütze beim Verfassen ihrer , wie man damals durchaus ironiefrei sagte , „literarischen Arbeiten“, den publizierten Fallgeschichten.509 Von diesen in ihrer Funktion deutlich zu unterscheiden sind die pro Patient separat geführten Krankenakten , welche es nicht nur erlaubten , die psychiatrischen Beobachtungen ausführlicher zu dokumentieren , sondern sie auch komprimiert zu überschauen.510 Dieser Übergang der Dokumentation in Büchern , welche die verschriftlichten Beobachtungen einer ganzen Abteilung zusammenbanden , hin zu eigens für jeden Kranken erstellten Akten ermöglichte die dossierartige Zusammenführung unterschiedlichster Dokumente , die in Bezug zu einem einzelnen Patienten standen.511 Auf diese Weise konnten bei wiederholten Aufnahmen – in der Psychiatrie häufiger vorkommend als bei somatischen Erkrankungen – die jeweils vorgängigen Schriften nun personenbezogen zugeordnet werden. Der Verlauf einer Erkrankung wurde mit dieser neuen Operationalisierbarkeit der Unterlagen besser ersichtlich. Zwar sind die erwähnten Bücher nicht mehr erhalten , ihre genaue Form somit auch nicht mehr zu rekonstruieren , doch ist zu vermuten , dass hinter der scheinbar bloß äußerlichen Formänderung der Dokumentation ein anderes Konzept von Informationsrelevanz und -verfügbarkeit , womöglich sogar ein etwas anderes Konzept der Rolle des Arztes steht. In der Krankenakte steht die Individualität des Falles im Vordergrund ; die Funktion dieses Dokumentes besteht darin , dass sich der Behandelnde buchstäblich ein Gesamt-‚Bild‘ der jeweiligen Erkrankung und ihrer Entstehung machen kann , und zwar so , dass die eigenen Beobachtungen des aktuell Behandelnden relativiert oder überprüft werden können durch Beobachtungen anderer Ärzte oder auch nicht-medizinischer Zeugen. Im Jahre 1844 , also noch einige Jahre vor Eröffnung der Anstalt Am Brünnlfeld , wurde als eine der Aufgaben der Hilfsärzte die „Weiterführung der KrankengeschichMag. Abt. 209 , B 3 /  3 , Normalienbuch I ( 1783–1854 ), 26 f. und 182. Ich danke Andrea Brenner für diesen Hinweis. 509 Instruction für die Secundar-Aerzte im allgemeinen Krankenhause ( ­Wien 1814 ). Daneben mussten verbindlich für alle Kranken „Ordinations- und Einlagszettel“ geführt werden. All diese Informationen nahmen Eingang in den für die Direktion bestimmten „Hauptrapport“. 510 Die Frage , ab wann die Dokumentation mittels Krankenakten erfolgte , ist für ­Wien nicht im Detail geklärt. In einer Anstalt des österreichisch-ungarischen Heeres , dem Invalidenhospital zu Thyrnau , wurden ab 1803 Krankenakten geführt. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 312. 511 Hess 2010. Vgl. zu der zeitlich späteren Entwicklung von Krankenakten im angloamerikanischen Raum : Reiser 1984 ; Craig 1989 /  90 ; Craig 1990. Inwiefern und aus welchen Gründen psychiatrische Krankenakten zu einem früheren Zeitpunkt als die in somatischen Abteilungen angelegt wurden , ist als ein Desiderat der Forschung zu bezeichnen. Vgl. dazu nur ein kurzer Hinweis bei : Nolte 2009 , hier : 37.

4.1 Zu den Akten. Quellenmaterial und historische Analyse

149

ten“ explizit benannt.512 Die vielfache Bedeutung „aller Dokumente , welche Aufnahme , Entlassung , Pflege und Behandlung der Kranken sowie das Verhältnis der Anstalt zu den Behörden betreffen“, standen dem Leiter der damaligen psychiatrischen Einrichtung , Michael Viszanik , klar vor Augen : Sie „müssen an einem sicheren Ort so aufbewahrt werden , dass selbe zu jeder Stunde in Gebrauch gezogen werden können. Daher ist für eine Registratur zu sorgen , die unter unmittelbarer Aufsicht der Direktion in einem eigenen Zimmer alle die Anstalt und die Geisteskranken betreffenden Schriften aufbewahrt , jedes einzelne Stück mit fortlaufender Nummer versieht und ein eigenes Protokoll zu den enthaltenen Dokumenten offen hält“.513 Die Identität eines Falles wurde neu konstruiert und vermittelt. Diese – sowohl administrative als auch epistemische – Funktion des Verfassens und Sammelns von Krankenakten darf man , wie angedeutet , mit gewissen Vorbehalten als Symptom neuer Formen der Rede , der Ordnung und des Wissens ansehen. Krankenakten sind immer auch verbunden mit den wissenschaftlichen Auffassungen der Zeit , in der sie verfasst wurden , und auch mit besonderen , lokal gebundenen Lehren , Theorien und Praktiken ; sie spiegeln das jeweilige medizinische System , seine organisatorischen und epistemologischen Grundlagen. Jede Aufzeichnungs- und Speicherungsart ist Ausdruck einer bestimmten Weise , sich ein Modell einer Krankheit und der Patienten zu machen. Auch wenn ihr Verfassen einem positivistischen Wissenschaftsideal verpflichtet gewesen sein mag , bieten sie keineswegs bloßes Daten- und Faktenmaterial. Diese weitgehend frei von wissenschaftlicher Terminologie geführten Dokumente umfassten lediglich die für die Auszeichnenden relevanten , oftmals schematisch erscheinenden Basisinformationen. Diagnose und Anamnese gehören stets zu den zentralen Abschnitten , weitere Angaben zur stationären Behandlung und Therapie finden sich mitunter in geringem Ausmaß oder fehlen zur Gänze. 514 Die Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof wurden im Gegensatz zu den aus psychiatrischen Kliniken stammenden Dokumenten nicht für die Forschung herangezogen. Lediglich einige wenige Daten wurden für die jährlich erstellten Anstaltsberichte entnommen.515 Obwohl die Krankenakten prima vista für die wissenschaftshistorische Forschung unergiebig zu sein scheinen , kommt ihnen 512 Seunig 1844 , 35. Hinweise zum „Ausarbeiten und Vortragen gut ausgearbeiteter Krankengeschichten“, die gemeinsam mit Berichten über Leichenobduktionen und Übungen in gerichtlich-medizinischen Explorationen wesentliche Elemente der Ausbildung waren , zeigen , wie oben angedeutet , dass der zeitgenössische Terminus „Krankengeschichte“ nicht nur die institutionsinterne , patientenbezogene Dokumentation umfasste. In : Viszanik 1845a , 290. 513 Viszanik 1845a , 363. 514 Vgl. Andrews 1998 , hier : 266. 515 Vgl. zu Anstaltsberichten im Allgemeinen : Wernli 2012.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

ein spezieller Wert zu : Sie dokumentieren unbeabsichtigt sonst unzugängliche Erkenntnis- und Handlungsabläufe der psychiatrischen Institution , welche im nachfolgenden Abschnitt ein Stück weit aufgezeigt werden sollen.

4.2 Zum Aufzeichnen psychiatrischer Beobachtungen und ihrer strukturellen Bedeutung im Aufnahmeverfahren Das Schreiben von Krankenakten wurde in der zeitgenössischen Fachliteratur nicht eben häufig thematisiert , das Anlegen und Führen dieser Dokumente schien wie eine Selbstverständlichkeit oder gar bloße Alltagsroutine. Die Medientheoretikerin Cornelia Vismann hat Akten generell der „administrativen Unterseite“ zugeordnet und deren Aufgaben – Übertragen und Speichern – als etwas gedeutet , das gerade nicht neutral zu den dokumentierten Inhalten und ihren institutionellen Funktionen steht. Die Entwicklung der Verwendungsweise und der Wirkmächtigkeit von Akten zeigt nach Vismann , dass es im Verlaufe der Verwendung zu einer Verlagerung auf das Dispositiv der Daten kommt und die Akten an sich aus der Ordnung des Wahrnehmbaren herausfallen.516 Das Medium selbst , könnte man sagen , wird , wenn seine Verwendung Routine geworden ist , durchsichtig wie die Brille vor den eigenen Augen. Man nimmt es nicht mehr als Medium , welches Informationen selektiert und umordnet , wahr. Dessen Ordnungsleistung wird von dem , was gesagt oder vielmehr notiert wird , überlagert. Diese scheinbare Unauffälligkeit des Mediums kann man in der Verwendung von Krankenakten im Speziellen ebenfalls beobachten. Symptomatischerweise finden sich in der ( älteren ) psychiatrischen Literatur kaum Anleitungen zum Aufzeichnen psychiatrischer Beobachtungen – und zur Funktion des Aufschreib- und Ordnungsvorgangs selbst innerhalb der Behandlung keinerlei Bemerkungen. Einer dieser seltenen Hinweise stammt aus dem 1956 erschienenen Lehrbuch von Hans Hoff , der seine Ausbildung in den ausgehenden 1910er-Jahren begonnen hatte und somit noch aus der älteren ­Wiener Tradition kam. Er umreißt die Bedeutung des Schreibens hinsichtlich der Funktion der Krankenakten folgendermaßen : „Der Aufbau einer Krankengeschichte ist [ … ] ziemlich komplex. Eine Krankengeschichte dient einem selbst zur Erinnerung , anderen zur Veranschaulichung , wissenschaftlich Arbeitenden zum Vergleich und zu statistischen Auswertungen. Da die Inhalte der Krankengeschichten auch für spätere Generationen verständlich sein müssen , dürfen sie nicht in 516 Vgl. Vismann 2000 , hier : 10 f.

4.2 Zum Aufzeichnen psychiatrischer Beobachtungen

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einem dem Untersucher eigenen Jargon geschrieben sein. [ … ] Die Beschreibung eines Patienten ist desto besser , je anschaulicher sie wirkt , man muss den Kranken direkt vor sich sehen können und sich seine Verhaltensweise vergegenwärtigen , sonst geht uns gerade das Wichtigste , das situative Verhalten , verloren. Dadurch wird die Güte der Krankengeschichte auch von dem angeborenen – aber auch durch Übung zu vervollkommnenden – Talent des Beschreibers abhängig.“517

Hoff benennt vor allem die , insbesondere für eine Klinik notwendigen , zahlreichen Bedingungen und Funktionen einer Krankenakte. Ziel ist die bestmögliche Veranschaulichung einer abwesenden Person , sowohl für den Zeitraum der Behandlung als auch für etwaige spätere Zwecke der Forschung. Gleich einem Nebeneffekt dient das Schreiben von Krankheitsberichten einer präziseren Beobachtung der Kranken und wirkt wiederum zurück auf die einzuübende Verschriftlichung psychischer Auffälligkeiten. In der psychiatrischen Anstalt stand allerdings weniger die Forschung im Vordergrund als vielmehr die Dokumentation der Geschehnisse , um einerseits die Behandlung nachzuvollziehen , andererseits aus administrativen oder auch Gründen der Rechtfertigung vor Dritten. So wenig das Aufzeichnen von Krankheitsbeobachtungen und das Führen der Krankenakten in der psychiatrischen Literatur , insbesondere für die längerfristige stationäre Versorgung , thematisiert wurden , kann man doch immerhin dies mit Sicherheit sagen : Diese Aufschreib- und Archivierungsvorgänge erfuhren um 1900 eine verstärkte Aufmerksamkeit. Dies ist den ab diesem Zeitpunkt häufiger veröffentlichten Handbüchern zu Untersuchung und Diagnostik von psychisch Kranken ,518 die langsame aber kontinuierliche Steigerung der Ausführlichkeit der Berichte in den Krankenakten , aber auch ( indirekt ) den Klagen über deren unübersichtliche , schlecht lesbare und uneinheitliche Führung abzulesen.519 Beschwerden über die Art und Weise der Erstellung von Krankenakten finden sich keineswegs nur fachintern , sondern wurden auch im Kontext der psychiatriekritischen Bewegung formuliert :

517 Hoff 1956 , 21 f. Hans Hoff ( 1897–1969 ) war nach seiner Vertreibung 1938 aus Österreich 1949 nach ­Wien zurückgekehrt und wurde im selben Jahr zum Leiter der neurologischen Klinik bestellt. Dem Untersuchungszeitraum näher gelegene Quellen zum Verfassen von Krankenakten ließen sich leider nicht eruieren ; ein Befund , der jedoch auch für die Selbstverständlichkeit dieses Tuns spricht. 518 Cimbal 11909 , 31918 ; Raecke 11908 , 81920 ; Gregor 1914. Vgl. dazu auch das Plädoyer des Gießener Psychiaters Robert Sommer für das Aufzeichnen der „reinen Beobachtung“, nämlich subjektive Einflüsse zu vermeiden : Sommer 1899 , 2 f. und 154. 519 Sowohl zeitgenössische Mediziner als auch Historiker klagten , naturgemäß aus unterschiedlichen Gründen , über Schwierigkeiten , wenn diese Dokumente wieder heranzuziehen waren : Meier 2008.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

„Wenn man erfährt , dass die Beobachtung der Kranken in den Irrenanstalten hauptsächlich dem Pflegepersonale obliegt , welches das Resultat derselben schriftlich jeden Morgen den Abtheilungsärzten und dem Anstaltsdirector vorzulegen hat , so hat man die Quelle entdeckt , aus der so haarsträubende irrenärztliche Irrungen fließen. Die Wärter und Wärterinnen recrutieren sich zum größten Theile vom flachen Lande , Bauernknechte und Bauerndirnen , [ … ] Dass die Ärzte sich auf diese von unfähigen Pflegepersonen gemachten Beobachtungen verlassen , sich in den Krankengeschichten oft einzig und allein auf dieselben stützen , erhellt daraus , dass der Inhalt dieser sich mit den Rapportbüchern der Wärter zumeist deckt.“520

Insofern diese Vorwürfe gerechtfertigt waren , kann man immerhin eine Vermutung darüber anstellen , weshalb zu dieser Zeit das Führen von Krankenakten vermehrt thematisiert wurde. Die Menge der Patienten machte Arbeitsteilung notwendig , der Arzt selbst bekam die Kranken nur mehr selten zu Gesicht , und das wiederum verlangte eine strengere Kodifizierung der Datenerhebung an der Basis. Tatsächlich verweist das zu Beginn dieses Kapitels stehende , womöglich ganz unscheinbare Zitat zum ansteigenden Verbrauch von Papier und Tinte erstens auf eine zunehmend aufwändigere und sich nach außen absichernde Verwaltung und zweitens auf die Bedeutung der komplexer werdenden materialen und auch sozialen Kontexte , in denen wissenschaftliches Handeln in der Praxis konkrete Gestalt einnehmen konnte. Mit der Gründung der Anstalt Am Steinhof musste die ökonomische und medizinische Versorgung der Patienten gänzlich neuartig organisiert werden. Zur Abwicklung der Menge des Schriftverkehrs wurde ein eigenes „Evidenz-Bureau“ eingerichtet. In sogenannten „Schleifenbüchern“ wurden alle Patienten getrennt nach Pflegeort ( Heil- , Pflegeanstalt , Sanatorium ) und dem jeweils zuständigen Heimatland erfasst. Zur Abrechnung der Aufenthalts- und Behandlungskosten war im Weiteren für jeden Patienten ein Katasterblatt anzulegen. Die Organisation dieses Büros wurde einem eigens bestellten Kanzleileiter unterstellt , welcher von „geeigneten Pfleglingen“ unterstützt werden sollte. Ein Kassierer war für die finanziellen Transaktionen verantwortlich , ihm standen wiederum ein „Journalist“ und zwei „Liquidatoren“ zur Seite.521 Beim Eintritt in die psychiatrische Anstalt entstanden notwendigerweise Konflikte verschiedener Interessen , etwa der Angehörigen und der Anstalt , der Patienten und Behandelnden , des Anstaltsträgers und der für die Finanzierung zuständigen Heimat520 Löwendahl 1900 , 18 f. Vgl. zum Kontext seiner polemischen Beschreibung Abschnitt 2. 4.  521 Roskopf 1907 /  08 , 246. Insgesamt war bei der Planung der neuen Anstalt mit einem Aktenvolumen von etwa 20. 000 einlaufenden und 30. 000 bis 35. 000 ausgehenden Aktenstücken gerechnet worden.

4.2 Zum Aufzeichnen psychiatrischer Beobachtungen

153

länder der Patienten. Diese Konflikte wurden durch formelle Aufnahmeverfahren reguliert und mit der Erstellung einer Akte konkret. Man kann den Internierungsvorgang mit Niklas Luhmann als ein Verfahren ansehen , durch welches die Entscheidungsmacht erzeugt und legitimiert wird. Dieser Vorgang ist strukturell so organisiert , dass er das nachfolgende Handeln noch nicht endgültig festlegt , es aber in eine bestimmte funktionale Perspektive bringt.522 Wie prekär eine solche Aufnahmeprozedur trotz aller Formalisierung war , zeigt sich sowohl an der Ausformulierung der Statuten als auch daran , wie dringlich Anstaltspsychiater diesbezügliche fundierte Regelungen forderten , beziehungsweise umgekehrt an den kritischen Fragen der Öffentlichkeit. Die stark formalisierten Aufnahmeverfahren beanspruchten , psychiatrisches Wissen und administratives Vorgehen angemessen und überprüfbar zu korrelieren ; das Medium , in dem objektiv nachprüfbare , bürokratische Verwaltung und medizinisches Wissen vermittelt wurden , war kein anderes als die Krankenakte. Die deutlich sichtbare Ordnung , die formulargesteuerte Korrektheit , die regelkompatible Durchführung von Maßnahmen , die sich hier niederschlagen , waren keine Schikane und keine Behördenwillkür , sondern Formen der , mit Luhmann gesagt , „Legitimation durch Verfahren“.523 Weil die Art des Zustandekommens der Patientenakten die Anstaltsmaßnahmen als ein von subjektiver Ansicht freies , nach offengelegten , jedermann nachvollziehbaren Kriterien erfolgendes Handeln legitimieren sollte , war das Verfassen der Krankenakten in den Statuten vom Steinhof genau festgelegt : „Über jeden in der Anstalt Verpflegten ist eine tunlichst genaue Krankengeschichte zu führen , in welcher alle sich in dem Krankheitszustande ergebenden wesentlichen Veränderungen ersichtlich zu machen sind.“524 In den zwei , für Männer und Frauen jeweils getrennten Aufnahmepavillons war jeder neu ankommende Kranke von einem Primararzt oder unter dessen persönlicher Aufsicht von einem der sogenannten subalternen Ärzte , die den Vorständen der einzelnen Abteilungen zugeteilten Sekundar- und Assistenzärzte , zu untersuchen. Der erhobene Befund war , wie es ausdrücklich hieß , sofort von einem mit der Führung der Krankenakte beauftragten Arzt direkt einzutragen. Der Blick in die Praxis und auf die wie selbstverständlichen Tätigkeiten offenbart sich jenseits der normativen Vorgaben vielfach erst mit dem Auftreten von Schwierigkeiten. Denn in der Realität des viel frequentierten Anstaltsbetriebes schrieben die bereits erwähnten , der Kanzlei zugeordneten , „geeigneten Pfleglinge“ die Krankenakten der 522 Vgl. Luhmann 1983 , 38 f. Hier : 44. 523 Für den speziellen Fall der Krankenakten werden diese Mechanismen beschrieben bei : Tanner 2008 , hier 156. 524 Statut für die N. Ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalten , § 25.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

Neuaufgenommenen entweder direkt nach Diktat des Arztes oder aber machten beim Erstgespräch stenografische Notizen , die später in die Akte übertragen wurden. Im Rahmen der „Beschäftigungstherapie“ waren 18 bis 20 Kranke in der sogenannten Patientenschreibstube beschäftigt. Hier hatten sie auch Abschriften der Originalakten für Behörden , Sozialversicherungen oder Gerichte , Reinschriften von Gerichtsgutachten und Abschriften dieser zur Vervollständigung der Krankenakten und auch statistische Berichte zu erstellen. Darüber hinaus waren Akten in das Archiv einzuordnen und im Falle wiederholter Aufnahmen eines Kranken wieder herauszuholen525 – Umstände , die ein subversiver „Arbeitspflegling“ für eine skandalträchtige Veröffentlichung von „Berichten aus dem Irrenhaus“ benutzte.526 Die Aufnahmeverfahren waren bürokratisch , arbeitsintensiv , zeitlich gedrängt und eine vermutlich nur schwer zu durchbrechende Routine , welche , wie im Folgenden gezeigt werden soll , von Formularen maßgeblich angeleitet wurde.

4.3 D  as Deckblatt der Krankenakte: Materielle Informationsspeicherung und Kodierung Zwei Veränderungen bezeugen die zunehmende Verwissenschaftlichung der anfangs noch mehr im administrativen Kontext angelegten patientenbezogenen Aufzeichnungen. Erstens die langsame und doch stetige Ausweitung und Differenzierung der Aufzeichnungen selbst , zweitens die nun in den Vordergrund zu stellenden Veränderungen des Deckblatts der Krankenakte. Das erste Blatt der Akte ist ein Formular und dient der Hervorhebung bestimmter Informationen über die Kranken. Das Erheben und Konservieren dieser Daten , so unscheinbar sie vielleicht auch wirken mögen , zeigt etwas von Struktur und Funktionslogik der Institution. Dass ein Formblatt Wahrnehmung lenkt und wertend selektiert , wird hier ebenso deutlich wie die Übersetzungsleistung beim Anordnen einzelner Informationen , um daraus ‚objektives Wissen‘ zu formen. Das Formular ist Verfahrensvorschrift und Verfahrensausführung in einem und bewirkt ein scheinbar transparentes , wertfreies , sachliches Vorgehen.527 525 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1231 / 1926. Bericht an Julius Tandler vom 14. 6. 1926. Weitere Möglichkeiten des Zugriffs auf Patientendaten ergaben sich , wenn bei Entlassungen die Akten von den jeweiligen Abteilungskanzleien in die Direktion zur Abfertigung zu tragen waren. Die Anstalt war zudem verpflichtet , kostenfrei Abschriften zur Verfügung zu stellen. Wäre diese arbeitsintensive Tätigkeit nicht weiter von Kranken gemacht worden , so hätte man , gemäß der Berechnung der Direktion , sieben oder acht Kanzleibeamte und zwei Hausdiener anstellen müssen. 526 Gabriel 2010 ; vgl. dazu auch Abschnitt 2. 4.  527 Vgl. Campe 2003.

4.3 Das Deckblatt der Krankenakte: Materielle Informationsspeicherung und Kodierung

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Denn es kann variieren , was in den Vordruck eingetragen wird , aber die Bedingung zum Ausfüllen ist vorgegeben.528 Schon die optische Gestaltung des Formulars stellt einen Vermittlungszusammenhang her , welcher als institutionalisierter und regelhaft strukturierter Verschaltungsmechanismus zwischen verschiedenen institutionellen Praxisfeldern figuriert. Ein Formular repräsentiert einen Verwaltungsvorgang und stellt auf diese Weise ein handlungsanleitendes Medium mit performativer Kraft dar.529 Aufgrund des allgemein üblichen Vorgehens , die Krankenakten bei Mehrfachaufnahmen jeweils in die laufende Dokumentation mit einzuordnen , finden sich mitunter auch Dokumente , welche zeitlich vor dem Beginn der heutigen Archivierung ( 1918 ) erstellt wurden. Diese lassen drei verschiedene Fassungen der Deckblätter erkennen. Eine erste Umgestaltung erfolgte in den Jahren zwischen 1897 und 1900 , eine zweite 1907 , vermutlich im Zuge der Eröffnung der Anstalt Am Steinhof und der damit verbundenen Reorganisation vieler administrativer Abläufe , letztere Version wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten beibehalten. Etwa die Hälfte der Angaben der Aktendeckblätter bezieht sich auf persönliche Daten eines Kranken. Sie wurden in einer auffallend regelmäßigen und gut leserlichen Schrift ,530 oder , beginnend ab 1919 und nahezu durchgehend ab den späten 1920er-Jahren , mit der Schreibmaschine eingetragen. Den nur geringfügigen Veränderungen dieser Angaben stehen einige Modifikationen gegenüber , die den Kopf des Blattes und den von den Medizinern auszufüllenden Teil des Formulars betrafen. Neben dem Patientennamen war stets die Journalnummer ( Aufnahmenummer ) zu vermerken. In der ältesten vorliegenden Version ( Abb. 9 ) war neben dieser auch noch die Nummer des „Haupt-Standes-Protokolls“ anzugeben. Dieser Verweis auf parallel geführte Protokollbücher schien ab der Jahrhundertwende nicht mehr nötig gewesen zu sein , er findet sich – obwohl die Protokollbücher weiterhin erstellt wurden – auf der darauffolgenden Fassung des Deckblattes nicht mehr ( Abb. 10 ). Weitere Neuerungen waren die nun auf einen Blick erkennbare Dauer des stationären Aufenthaltes und das schriftliche Festhalten des psychischen Zustands bei der Entlassung.531 Auf dem etwa ab der Jahrhundertwende verwendeten Formular ist die528 Vgl. ausführlicher zum Schreiben in Vordrucken : Hoffmann 2008 , insbesondere 179 f. 529 Bernet 2009 , 68. Die Formulare des Burghölzli in Zürich änderten sich häufiger , diese psychiatrische Institution ist auch heute noch sowohl Anstalt als auch Klinik. 530 Diese Angaben wurden entweder von einem Beamten oder aber einem in der Kanzlei arbeitenden Patienten vorgeschrieben. 531 Folgende Definitionen waren vorgesehen : „Geheilt , geheilt mit Defekt , transferiert , verstorben , freiwillig , gegen Revers , nach § 34d“ ( dies bedeutete : nicht anstaltsbedürftig ). Diese sieben Kategorien wurden zu deren vergleichender statistischer Erfassung standardisiert.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

Abbildung 9 : Formular einer Krankenakte , welches bis etwa 1897 an der Niederösterreichischen Anstalt Am Brünnlfeld in Verwendung war532 532 WstLA , M.Abt. 209 , Otto-Wagner-Spital , A 12 / 1 ‚K. H., 2504 / 1921

4.3 Das Deckblatt der Krankenakte: Materielle Informationsspeicherung und Kodierung

Abbildung 10 : Das bis 1907 in Verwendung stehende Formular einer Krankenakte533

533 WstLA , M.Abt. 209 , Otto-Wagner-Spital , A 12 / 1 ‚K. H., 2504 / 1921

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

ses nun als „Krankheitsgeschichte“ betitelt.534 Der Bezug zum „Protokoll“, als eindeutiger Hinweis auf die administrative Funktion einer Krankenakte , wurde als nicht mehr notwendig angesehen. Stattdessen wurde erstmals deutlich gemacht , um welches Schriftstück es sich hier handelt , nämlich nicht um ein von medizinischem Wissen unbeeinflusstes Protokoll , sondern um einen bewusst für medizinische Zwecke anzulegenden Datensatz. Die vom Psychiater auszufüllenden Spalten diversifizierten sich auf dem anlässlich der Gründung der Anstalt Am Steinhof neu gestalteten Formular ( Abb. 11 ). Nun waren von den Ärzten für jeden Patienten eine „offizielle Diagnose“ und eine „klinische Diagnose“ zu vergeben. Erstere Krankheitsbezeichnung erfolgte in Form einer Zahl , mit welcher die Diagnosen in ein gemäß einer Anordnung des Ministeriums des Inneren von 1894 für alle österreichischen Anstalten verbindlich festgelegtes Schema eingeordnet werden konnten. Dieses , neunzehn unterschiedliche Diagnoseeinheiten umfassende System stammte von Theodor Meynert und stellte die Grundlage zur Vergleichbarkeit der Jahresberichte der einzelnen psychiatrischen Institutionen dar.535 Die Eintragungen im Feld der „klinischen Diagnose“ zeigen heterogene , von den Medizinern zu wählende Bezeichnungen. Diese Zweiteilung ermöglichte sowohl die statistische Erfassung der Diagnosen als auch eine wirklichkeitsnahe Umschreibung der Krankheitsbilder , verdeutlicht aber zugleich die immensen Schwierigkeiten der psychiatrischen Klassifikation. Im Weiteren wurden Beginn , Dauer und auch frühere psychische Erkrankungen und etwaige Anstaltsbehandlungen vermerkt. Auf diese Weise wurde ein kleiner Ausschnitt der die Experten interessierenden Angaben , ein bestimmter Teil der „psychischen Realität“, dem primären Blick freigegeben.536 Weitere Rubriken des Deckblattes beziehen sich auf die vermutete Ursache der Geisteskrankheiten. Die bis 1907 gebräuchlichen Formulare beinhalten ein Textfeld zur Ätiologie im Allgemeinen. Die Suche nach dem Vorkommen etwaiger Häufungen von „Auffälligkeiten“ in den Familien der Erkrankten war bis zu diesem Zeitpunkt Teil der Anamnese gewesen und an einer anderen – nämlich späteren – Stelle in der Akte dokumentiert. Ab 1907 finden sich je eigene Rubriken zur nun deutlichen Differenzierung zwischen „Heredität“ und „sonstigen Gründen“. Diese Änderung am Formular offenbart die zunehmende Aufmerksamkeit der Experten für Fragen der Vererbung 534 Die an dieser Stelle handschriftlich angegebene Nummer ( vgl. dazu die Abbildungen der Formulare ) bezog sich auf die Anzahl der stationären Aufnahmen. 535 Erlass vom Ministerium des Inneren vom 24. Januar 1894. Zitiert in : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 34 ( 1913 ), 153. Auf Wunsch des Obersten Sanitätsrates sollte 1913 eine zeitgemäße Nosologie von je einem Kliniker und einem Anstaltsleiter ausgearbeitet werden : Schlöß 1913 ; Hartmann 1913. Beide Änderungsvorschläge zielten auf die „statistische Verwertbarkeit“ der zu sammelnden Daten. 536 Breidbach 2005 , 15 f.

4.3 Das Deckblatt der Krankenakte: Materielle Informationsspeicherung und Kodierung

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psychischer Erkrankungen.537 Funktion des Deckblattes war es , wie hier nun klar hervortritt , die Komplexität des Erhebungsvorgangs zu kodifizieren und zu reduzieren , um die produzierten Informationen in vergleichbare Daten zu verwandeln. Zu den „sonstigen Gründen“ in der Ätiologie einer psychischen Erkrankung zählten vermutete Ursachen wie die „Anlage“ im Sinne einer allgemeinen und sehr unspezifischen Disposition oder aber vermutete krankheitsauslösende Momente wie beispielsweise „Affekte , Nervosität , Erschöpfung , Schwangerschaft“ und übermäßiger Alkoholgenuss. In dieser Rubrik wurden auch psychische Traumata und Aufregungen , somatische Leiden wie Kopfverletzungen , Augenleiden , die Infektion mit Lues oder aber der Verlust des Arbeitsplatzes notiert. Nicht selten wurden zur Krankheitsursache gar keine weiteren Angaben gemacht , sie verblieb schlicht ohne Erklärung. Hintergrund dieser Änderungen am Formular war die intensivierte Suche nach der Ursache psychischer Erkrankungen. Diese unscheinbare Veränderung ist Ausdruck der sich ausdifferenzierenden Diskussion um eben diese Ursachen und damit Teil der Anstrengungen , die Psychiatrie zu verwissenschaftlichen. Die „hereditäre Veranlagung“ beziehungsweise eine „Prädisposition“ galt in den Augen vieler Psychiater des 19. Jahrhunderts als der primäre Faktor in der Krankheitsgenese , wurde aber nicht als unmittelbarer Auslöser angesehen. In der Praxis wurde die Frage der Erblichkeit beziehungsweise die Beobachtung etwaiger familiärer Häufungen – als ein Aspekt unter vielen anderen – innerhalb eines komplexen psychopathologischen Prozesses angesehen. Als ein „zu Vermerkendes“ galt das gehäufte Auftreten auch ganz unspezifischer Auffälligkeiten. Die Notwendigkeit , zu erkennen , wie diese Besonderheiten auf kommende Generationen übertragen werden , galt als weniger dringlich.538 Erst die Divergenz zwischen der klinischen und der nun auch statistisch erfassbaren Bedeutung von „Heredität“ führte zu deren größerer Beachtung. Mit dem an den Krankenakten nun einzeln identifizierbaren Faktor war gewissermaßen ein Raum kreiert worden , in dem die Visualisierung komplexer Zusammenhänge und deren Registrierung Hand in Hand gehen konnten. Die Verschiebung der Aufmerksamkeiten auf die Ursache der psychischen Erkrankungen lässt sich auch an anderen Datenerhebungen ablesen. In der „Statistik des Sanitätswesens Oesterreichs ( Cisleithanien )“ aus dem Jahre 1874 wurde bei knapp 17 Prozent aller Patienten eine erbliche Belastung als ursächlich angesehen. Die zeitgleich stattgefundenen Zählungen in preußischen Anstalten zur Anzahl der psychisch Kranken , „bei denen Erblichkeit behauptet wurde , also diejenigen , an deren Eltern 537 Vgl. zum Aufzeichnen von Vererbungswissen in psychiatrischen Krankenakten auch : Imboden , Ritter 2008. 538 Gausemeier 2005 ; Gausemeier 2008. Vgl. auch : Weingart , Kroll , Bayertz 1992 ; Weindling 1993.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

Abbildung 11 : Das Deckblatt der Krankenakten ab 1907539 539 WstLA , M.Abt. 209 , Otto-Wagner-Spital , A 12 / 1 ‚K. H., 2504 / 1921

4.3 Das Deckblatt der Krankenakte: Materielle Informationsspeicherung und Kodierung

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abnorme Erscheinungen beobachtet wurden“, wurden mit knapp 52 Prozent beziffert. Diese enormen Unterschiede zeigen deutlich , dass es sich hier um ein Zählen äußerst unspezifischer Auffälligkeiten handelte , für die sich keine verbindlichen Kriterien erstellen ließen. Den zu erhebenden „Abnormitäten“ subsumierte man nämlich sehr unscharfe Zuschreibungen wie „Geisteskrankheit , Nervenkrankheit , Trunksucht , Selbstmord , Verbrechen und auffallende Charaktere und Talente“.540 Die auf Antrag des Ministeriums des Inneren ab 1871 herausgegebenen Jahresberichte , sowohl der öffentlichen als auch der privaten Anstalten , waren nach allgemein verbindlichen Formularen zu führen. Dabei stand jedoch die Frage nach der Systematik der Diagnosen im Vordergrund , die Formulierung möglicher Ursachen mutet zu diesem Zeitpunkt noch sehr ungenau an. So war beispielsweise die Rede von einem „Vorwiegen gewisser ätiologischer Momente“, welche mittels Tabellen in Korrelation zu „möglicherweise in Beziehung stehenden , wichtigen Lebensverhältnissen“ gebracht werden sollten.541 Analog zu der Entwicklung der Formulare der Krankenakten zeigen die Jahresberichte der niederösterreichischen psychiatrischen Anstalten , dass sich die Suche nach der „Heredität“ um die Jahrhundertwende diversifiziert hatte : Die Statistiken weisen nun unterschiedliche Spalten auf , erhoben wurden Angaben der Patienten zu den Eltern , deren Geschwistern , den Großeltern und auch zu diversen Seitenverwandten. Eigens geführte Rubriken bezogen sich auf die Frage , ob Elternteile Alkoholiker , sogenannte „Potatoren“, waren , ein Faktor , welcher , wie bereits kurz erwähnt , ebenfalls verstärkt in den Fokus der psychiatrischen Aufmerksamkeit geraten war. Eine weitere Tabelle setzt diese Angaben der „erblichen Belastung“ in Bezug zu anderen vermuteten Krankheitsursachen.542 Statistische Erhebungen zur Heredität rückten generell zunehmend in den Fokus psychiatrischer Studien ,543 führten jedoch zu kaum mehr als einem Herstellen bloßer Korrelationen mit anderen vermuteten Krankheitsursachen. Der Weg der Vererbung 540 Jahrbücher für Psychiatrie 1 ( 1879 ), 65 f. Notizen. Hier : 66. 541 Gauster 1872. Die Jahresberichte von 1883 bis 1897 weisen lediglich eine Spalte zur „erblichen Belastung“ auf : Niederösterreichischer Landesausschuss : Jahresbericht pro 1896 /  97 , 17. 542 Landesausschuss des Erzherzogthums Österreich unter der Enns ( Hg. ): Die niederösterreichischen Landes-Irrenanstalten und die Fürsorge des Landes Niederösterreich für schwachsinnige Kinder ( ­Wien ). Diese Jahresberichte wurden von 1904 bis 1914 publiziert. 543 Vgl. beispielsweise die von Hans Römer propagierte Erstellung einer Auflistung aller Fälle von Geisteskrankheit. Ähnliche Forderungen gab es vom Medizinalstatistiker Weinberg und vom Medizinalrat Fischer , die 1908 am III. Internationalen Congress für Irrenpflege in ­Wien die Vereinheitlichung der Jahresberichte hinsichtlich eben jener Fragen und die Einrichtung einer psychiatrisch-statistischen Zentralstelle forderten. Römer 1911 / 12.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

psychischer Erkrankungen konnte dadurch keinesfalls erklärt werden. Die zunehmend an Bedeutung gewinnende Theorie der Kontinuität des Keimplasmas August Weismanns zog Forderungen nach verbesserten genealogischen Methoden nach sich.544 Mit Weismanns These avancierte die Unterscheidung zwischen „Heredität“ ( gewisse pathologische Elemente in bestimmten Familien ) und „Vererbung“ ( dem positiven Nachweis biologischer Grundlagen familiärer Krankheitshäufung ) zu einem konkreten Forschungsgegenstand. Diese Differenzierung war jedoch untrennbar mit einem anderen und grundlegenden Problem der Psychiatrie verknüpft. So stellte beispielsweise Erwin Stransky in seinem 1914 publizierten Lehrbuch fest , dass zwar den Mendel’schen Vererbungsgesetzen zu folgen wäre , diese jedoch angesichts vieler ungelöster Schwierigkeiten der Diagnosekategorien vorderhand schwer anwendbar seien. Denn , so räsonierte er , „mit allgemeinen Schlagwörtern wie ‚Nervenkrankheit‘ ist in der Hereditätsfrage weder theoretisch noch praktisch auf einen grünen Zweig zu kommen“. Trotz dieser Skepsis war er , wie auch viele andere Vertreter der Psychiatrie , der Ansicht , dass für eine zukünftige wissenschaftliche Erkenntnis „das Studium der wirklich oder angeblich gesunden Mitglieder eines Stammes erforderlich ( Familienforschung )“ sei.545 Der Wechsel von den als „Heredität“ bezeichneten , noch unspezifischen , in unterschiedlichen Generationen zum Vorschein kommenden und als solche zwar registrierten , aber nicht weiter determinierten Auffälligkeiten hin zur intensiven Erforschung kausaler Relationen zwischen diesen Phänomenen war untrennbar an die – ebenfalls gesuchten – „Krankheitseinheiten“ gebunden , somit ein nach beiden Seiten hin ungeklärtes Vorgehen.

4.4 Die „Kranken-Geschichte“ Eine komplexe , vielteilige Organisation wie Am Steinhof war undenkbar ohne Arbeitsteilung. Diese Aufteilung der Zuständigkeiten erforderte eine starke Formalisierung der Abläufe , vom Pfortendienst bis zur rechtlichen Verfasstheit der Gesamtinstitution und ihrer Aufgabe im Versorgungsnetzwerk des Staates. Nirgendwo war diese Formalisierung unabdingbarer als bei der Erhebung und Archivierung medizinischer 544 Vgl. dazu den Bericht eines unter der Leitung von Robert Sommer 1908 in Gießen stattgefundenen Kurses zur Familienforschung und Vererbungslehre : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 10 ( 1908 ), 205. An diesem haben Mediziner aus Institutionen für geistig behinderte Kinder , aus Straf- , Heil- und Pflegeanstalten , aber auch Lehrer und Pfarrer teilgenommen. Der zweite Kurs und der erste Kongress für Familienforschung , Vererbungslehre und Rassenhygiene fanden 1912 in Gießen ebenfalls unter der Leitung von Sommer statt. In : ebd., 13 ( 1911 / 12 ), 187. Zur Familienforschung in Österreich : Mayer 2008. 545 Stransky 1914 , 107. [ H. i. O. ] Stransky war ab 1915 Professor an der psychiatrischen Klinik in ­Wien.

4.4 Die „Kranken-Geschichte“

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Daten : Vereinheitlichung und Dokumentationspflicht der Diagnose und Behandlung waren wesentliche Elemente für die Herstellung der Legitimation im moralischen , medizinischen und rechtlichen Sinn. Auch die Dokumentation der stationären Betreuung unterlag dem Prinzip einer genauen Arbeitsteilung. Das Aufzeichnen der internen Geschehnisse und Beobachtungen war nicht von leitend verantwortlichen , sondern von subalternen Ärzten zu erstellen. Letztere waren verpflichtet , an der täglichen Visite teilzunehmen und „die ihnen zugewiesenen Krankengeschichten so anzulegen und zu führen , dass jede derselben ein vollständiges Bild des Verlaufs der Psychose und im Falle körperlicher Erkrankungen auch ein getreues Bild des Verlaufs dieser gibt und eventuell zu wissenschaftlicher Verwendung dienen kann“.546 Mit dieser Weisung wird neben der administrativen wie auch wissenschaftlichen Funktion einer Krankenakte eine weitere Funktion mit angesprochen. Die rangniedrigeren Mediziner bekamen diese Aufgabe , wie auch schon von Hans Hoff erwähnt , nicht zuletzt aus didaktischen Gründen zugewiesen. Die Statuten der Anstalt verlangten von den Primarärzten , die Akten ihrer jeweiligen Abteilung regelmäßig zu kontrollieren und eventuell divergierende wissenschaftliche Auffassungen entsprechend darzulegen.547 Das Deckblattformular bildete die oben liegende Seite eines doppelseitigen Bogens , der , in der Mitte gefalzt , als Mappe fungierte , die die eigentlichen psychiatrischen Aufzeichnungsblätter beherbergte. Diese Notationen waren nicht mehr streng formalisiert , sondern nur mehr grob strukturiert , somit freier und auch vielfältiger. Es finden sich interne wie externe Dokumente , beispielsweise Unterlagen zur Einweisung , Abschriften früherer Krankenakten aus anderen Institutionen , Gutachten , Labor- und etwaige Sektionsbefunde , Briefe von und an die Kranken oder manchmal auch kleine Zeichnungen , lose in die Dossiers eingelegt. An der Innenseite des Deckblattes wurden ab 1930 von den männlichen und ab 1931 , nachdem sich , wie es hieß , diese Neueinführung bewährt hätte , auch von den weiblichen Kranken Porträtfotografien eingeklebt oder mit eingeheftet. Diese waren nach dem Bertillon’schen System aufgenommen worden , nämlich jeweils einmal eine Frontal- und eine Profil­ aufnahme , und dienten der Identifikation der Kranken bei etwaigen Entweichungen aus der Anstalt.548 546 Schlöß 1907 /  08. Die Krankenakten mussten von jeweils einem Arzt , aufgeteilt nach den Anfangsbuchstaben der Patientennamen von A bis inklusive H , von I bis P , von Q bis Z geführt werden. Bei allfälligen Obduktionen hatte derjenige Arzt Schriftführer zu sein , der für die betreffende Krankenakte verantwortlich zeichnete. 547 Dienstvorschriften für die Ärzte. Punkt D. Besondere Dienstanweisungen für die Primarärzte , § 20. 548 Magistrat der Stadt ­Wien ( Hg. ), Die Verwaltung der Bundeshauptstadt ­Wien 1933 , 458 f. Vgl. zu diesem Typ der Porträtaufnahme : Regener 1999.

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4. Zur Konstituierung der Grenze.

Ein in der Mehrzahl aller Akten enthaltenes Formular ist der sogenannte „Abgangsbogen für die Irrenanstalt“, ein Überweisungsschreiben des Beobachtungszimmers der psychiatrischen Klinik im Allgemeinen Krankenhaus , von wo die überwiegende Zahl der Am Steinhof aufgenommenen Kranken kam. Diese auch als „Abschrift der Krankengeschichte“ bezeichnete Überweisung der Klinik beinhaltete sehr kurze Angaben zum neurologischen und somatischen Befund sowie eine erste Diagnose , die allerdings Am Steinhof nicht selten abgeändert wurde. Darüber hinaus finden sich Informationen zum unmittelbaren Anlass der stationären Einweisung. Zumeist waren es zwischenmenschliche Auseinandersetzungen oder soziale Schwierigkeiten , die den ausschlaggebenden Grund für die Anordnung einer psychiatrischen Internierung gaben. Für den Zeitraum des 19. Jahrhunderts werden von der psychiatriehistorischen Forschung Einweisungsgründe generell als Kombinationen körperlicher , psychischer und sozialer Momente beschrieben , bei denen stets auch ökonomische und regionale Aspekte eine Rolle spielten.549 Obwohl psychische Störungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in die Zuständigkeit einer zunehmend verwissenschaftlichten Medizin fielen , waren die unmittelbar ausschlaggebenden Gründe für stationäre Aufnahmen weiterhin primär sozialer Natur. Die betroffenen Personen wurden nicht durch fachmedizinisch diagnostizierte Symptome , sondern meist durch auffälliges oder Anstoß erregendes Verhalten aktenkundig. In den Dokumenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Beschreibung der Notwendigkeit einer Aufnahme ein wichtiger Teil der psychiatrischen Aufzeichnungen und zeigt , dass Krankenakten unter anderem auch als Mittel der Rechtfertigung von Internierungen dienten.550 Für Patienten , die als sogenannte „direkte Aufnahme“ kamen – womit etwas missverständlich Fälle bezeichnet wurden , die nicht aus der psychiatrischen Klinik , sondern anderen Institutionen wie beispielsweise ­Wiener Spitälern , Militärkrankenstationen , Versorgungshäusern oder auch aus Haftanstalten überwiesen wurden – , finden sich weit weniger Hinweise über deren Weg in die institutionalisierte Psychiatrie. Als „direkte Aufnahme“ konnten auch Personen kommen , die bereits einmal Am Steinhof gewesen waren , das Schreiben eines zur Überweisung befugten Amtsarztes war hierzu ausreichend. In all diesen Fällen enthielt die Krankenakte kein weiteres die Aufnahme betreffendes Dokument , schließlich war die Internierung bereits von medizinischer Seite verantwortet worden. Die Beschreibung der die stationäre Aufnahme erfordernden Gründe ist das entscheidende rechtliche , wissenschaftliche und mora549 Grossenbach 2002 , 10. Vgl. zu den ländlichen Versorgungsmodellen innerhalb dieses Zeitraumes : Kaufmann 1995 , 260–274. Vgl. zur Einweisungspraxis bis etwa um 1900 : Brink 2010 , 85–90. 550 Jonathan Andrews hat auf den Zusammenhang zwischen dem Aufschreiben von Krankheitsberichten und der Rechtfertigung der Anhaltung psychisch Kranker , insbesondere bei privaten Anstalten , verwiesen : Andrews 1998 , 256 f.

4.4 Die „Kranken-Geschichte“

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lische Legitimationsinstrument , um einen Menschen aus der gewohnten Gemeinschaft zu entfernen und diese gewohnte Welt für ihn zu einer „Außenwelt“ zu machen , mit der er für die Zeit der Internierung nur mehr durch Erinnerungen , Erzählungen und Besuche in Kontakt kommen konnte – und im Falle der Anstalt Am Steinhof eben auch über die geradezu idyllische Fernsicht auf die Stadt , als wäre er nur auf einer Landpartie. Die Mittler oder Medien zwischen seiner neuen „Außenwelt“ und der zwangsweise verordneten neuen Innenwelt der Anstalt waren ( vom persönlichen Besuch abgesehen ) das Personal. Das Versetzen eines Bürgers in diese für ihn neue topografische Lage wurde initiiert und gleichzeitig legitimiert durch die Akte , genauer : durch die Art , wie diese Akte angelegt wurde , wie Daten erhoben und archiviert wurden und auf welche anerkannten Verfahren , Autoritäten und Institutionen sie zu beziehen waren. Das polizeiliche Wissen von zeitlich früheren Vor-Fällen wurde durch jenen Akt der Trennung in psychiatrisches Wissen transferiert. Auffälliges oder ( potenziell ) rechts­widriges Verhalten wurde zu medizinischen Informationen , der oder die Betroffene zu einem psychiatrischen „Fall“. Für das Wissen von der Vorgeschichte und all ihrer Vor-Fälle waren nun nicht mehr die Polizei , Angehörige oder der betroffene Mensch selbst , sondern die Ärzteschaft zuständig. In der „Innenwelt“ der Anstalt wurde dieses Wissen einerseits ‚aktenkundig‘ , doch zugleich auch ausgeschlossen , um zu einer medizinischen Erzählung zu geraten.551 Die bürokratische Ordnung der Akte verlangte , dass den Dokumenten , die die Transferierung in die „Innenwelt“ der Institution formell erklärten , die eigentliche Krankengeschichte folgt , einzulegen zwischen das beschriebene , doppelseitige Umschlagsblatt. Diese Aufzeichnungen folgten keiner minutiösen Vorschrift über Gestaltung , Terminologie und Umfang , weiterhin bleibt jedoch die sich zwar verbergende , aber dennoch „ordnende Hand“ erkennbar : Auftakt bildete die – vermutlich noch in der Aufnahmeabteilung niedergeschriebene – Anamnese , gefolgt vom psychischen wie somatischen Zustandsbericht und der im Lauf des stationären Aufenthaltes erstellten Beschreibung des weiteren Verlaufs der Erkrankung und des Verhaltens der Patienten und Patientinnen. Die vorgeschriebene Ordnung des Aufschreibens strukturierte die Anamnese , den Vorgang der ersten Untersuchung und Diagnostizierung. Ein Vergleich jener in den Krankenakten dokumentierten Passagen , welche die Verwandlung der Biografie eines Menschen in einen „Fall“ der „Innenwelt“ der Anstalt begleiten , lehrt , welche Strategien des Untersuchens und Protokollierens der jeweilige Mediziner verfolgte. Die Verwissenschaftlichung , Bürokratisierung und Ar551 Vgl. zum diesem Prozess der diskursiven Trennung aktenkundig gewordenen Wissens zwischen Polizei und Psychiatrie : Nellen 2012.

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beitsteilung psychiatrischer Anstalten wie Am Steinhof ging generell mit Standardisierung und Effizienzsteigerung einher. Dieses Streben nach verbindlich formalisierten Verfahren zeigt sich deutlich an entsprechenden Handbüchern zu Untersuchung und Diagnostik von psychisch Kranken : „Das Taschenbuch soll dem unmittelbaren Gebrauch bei der Untersuchung und Begutachtung Geisteskranker dienen und einen übersichtlichen Gedankengang , zweckmäßige Frageform und ausreichende Vollständigkeit [ … ] ermöglichen. Es soll ebenso angewandt werden und etwa die gleichen Dienste leisten wie auf anderen Gebieten eine Sektionstechnik , ein bakteriologisches und ein chemisches Taschenbuch.“552

Analog zu dieser Anlehnung an naturwissenschaftlich geprägte Vorgehensweisen der „planmäßigen lückenlosen Untersuchung“ erfolgte die formale Anordnung der Krankenakte. Das „Grundschema eines psychiatrischen Protokolls“ bestand aus der Vorgeschichte , die prinzipiell eingeteilt wurde in eine Autoanamnese , die sich in nahezu allen Kranken-Journalen an erster Stelle befindet , und die sogenannte „objektive Anamnese“, worunter schlicht jene Informationen verstanden wurden , die bei Angehörigen eingeholt wurden. Oftmals finden sich Angaben zu Letzterer nach dem Aufnahmegespräch , sie waren manchmal auch dem Verlaufsbericht beigefügt und als „Angaben der Referenten“ gekennzeichnet. Manche Psychiater schrieben der Erhebung einer „objektiven Anamnese“ eine wesentlich größere Bedeutung zu , warnten aber zugleich und insbesondere die weniger erfahrenen Psychiater vor den Angaben von Laien.553 Die Mehrzahl der Am Steinhof verfassten Akten vermittelt tatsächlich den Eindruck , dass die Angaben von Patienten selbst , also die sogenannte Autoanamnese , für die Diagnostizierung und weitere Beobachtung durchaus als wichtiger erachtet wurde. Sie finden sich nicht nur an früherer Stelle in der Akte , sondern stellten generell den zentralen und zumeist ausführlichsten Teil der Aufzeichnungen dar. Die Anleitung aus Erwin Stranskys Lehrbuch zur Erhebung einer Anamnese bietet einen Überblick des Fragenkatalogs : Die „Heredität“, also das Vorkommen von Auffälligkeiten bis hin zu manifesten psychischen Erkrankungen in der Familie , galt hierbei als wesentlich , sie galt es zuallererst zu ermitteln. Neben kurzen Angaben zur Person wurde deren „Vorgeschichte“ große Bedeutung zugeschrieben. Dazu zählten Angaben zur Geburt und Kindheit , zu etwaigen psychischen Traumen , „Überanstrengungen und Gemütserregungen“ oder auch Verletzungen , somatischen Erkrankungen und zum etwaigen Einfluss toxischer Mittel. Im Weiteren wurde gefragt nach der kind552 Cimbal 1909 , 1 f. 553 Ebd.

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lichen Entwicklung , dem schulischen und beruflichen Werdegang , dem Militärdienst , dem ehelichen Zusammenleben , den Nachkommen und bei Frauen nach eventuellen psychischen Besonderheiten im Zusammenhang mit der Menstruation.554 Symptomatischerweise blieb der explorierende Mediziner in den archivierten Aufzeichnungen außen vor. Die Interaktionen des Gesprächs sind nur sehr selten Teil der Dokumentation ,555 die Transformation der lebendigen Beobachtung und Kommunikation in kodifizierte Musterbenennungen ist heute zumeist nicht mehr nachvollziehbar. Die Gefahr , der strengen Formalisierung wegen das Besondere jeweiliger Menschen und Situationen auszublenden , wurde erkannt : Das Notieren der Symptome erfolgte zwar in einer ritualisierten Ordnung und sollte „das sachgemäße Vorgehen bei der Untersuchung erkennen“ lassen , jedoch „nicht schematisch“ sein.556 Die Informationen verdichteten sich zu einem Argumentationsgang , die sich dahinter verbergende „ordnende Hand“ lässt sich nur mehr indirekt erkennen. Ob die beobachteten und notierten Zeichen noch als für sich stehend ( u nd damit außerhalb medizinischer Deutungsschemata befindlich ) oder bereits als „Indizien“ fest im psychiatrischen Wissenskontext verwoben waren , ist bei vielen Aufzeichnungen nicht klar. Mit der Erhebung der Krankengeschichte wird das Aussagesubjekt , der Kranke , zu einem Gegenstand , also einem Objekt eines Vorgangs , dessen Aussagemodi charakterisiert werden können. Zwischen dem möglichst genauen Aufzeichnen der subjektiven Krankheitsbeschreibungen der Patienten , die sich in den Akten oft unmerklich mit den objektiv-wissenschaftlich geprägten Folgerungen der medizinischen Experten vermischten , wird der Aufschreibende zu einer Instanz , der die Richtigkeit 554 Stransky 1914 , 182 f. Ein etwas früheres „Schema zur Geisteszustandsuntersuchung“ findet sich auch bei : Krafft-Ebing 71903 , 243–248. Krafft-Ebing meinte , im Vergleich zur psychischen Untersuchung sei der Heredität , der Konstitution , insbesondere aber den sogenannten „Degenerationszeichen“ weit größere Aufmerksamkeit beizumessen. Hirschmüller beschreibt das – zeitlich viel frühere – Verfahren der anamnestischen Erhebung als vorformulierten Angaben folgend. 1875 wurde für die Aufnahme an die Klinik ein Schema entworfen , welches in 42 Punkten Personaldaten , Familienanamnese , Angaben zur körperlichen und psychischen Entwicklung und anderweitige Korrelationen in der Entwicklung eines Menschen abfragte und sowohl administrative als auch medizinische Elemente beinhaltete : Hirschmüller 1991 , 92. Abbildung des Formulars : 303. 555 Im Gegensatz dazu wurden in den Krankenakten einer Klinik , wie an der Charité in Berlin , die Fragen der Ärzte wie auch die wörtliche Rede der Kranken ab dem frühen 20. Jahrhundert in die Dokumentation mit aufgenommen : Ledebur 2011. 556 Seelert 1926 , 173. Seelert sprach sich gegen die Verwendung von Vordrucken bei der Patientenbefragung aus , da diese „den Schematismus fördern und zur Oberflächlichkeit erziehen“. Hans Römer propagierte für sein Projekt der Auflistung psychiatrischer Auffälligkeiten von großen Teilen der Bevölkerung eine technisch zweckmäßigere Verarbeitung der Informationen der Krankenakten. Auf diese Weise könne man , wie er meinte , eine bessere Annäherung an den Grad des erblichen Einflusses erlangen : Römer 1911 / 12 , 96.

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des Fixierten kraft seiner institutionell definierten Stellung bezeugt , selbst aber scheinbar keine Rolle spielt.557 Die Formalisierung der Verfahren bringt somit nicht nur eine Verwandlung des beobachteten Individuums in einen „Fall“, das heißt ein Exemplar eines bestimmten Krankheitstyps hervor , sondern auch die Verwandlung des behandelnden Individuums in ein entsubjektiviertes Aufzeichnungswerkzeug. Die Formalisierung der Untersuchung transformiert also beide , Arzt wie Patient , gewissermaßen in ein entindividualisiertes Narrativ , welches ein scheinbar neutrales Benennen „objektiver“ Symptome erlaubt. Schwierigkeiten beziehungsweise eine daran anknüpfende Selbstreflexivität dieses , oftmals selbstverständlich scheinenden Vorgehens ergaben sich denn auch bei der weiteren Verwendung der Aufzeichnungen , wie beispielsweise zu forensischen Zwecken. Eine sehr prägnante Stellungnahme ist seitens des Gerichtspsychiaters Emil Raimann auch heute noch überliefert : „Es muss anerkannt werden , dass die höheren Instanzen , je mehr sie auf Grund von Akten entscheiden , es umso schwerer haben. Ich durfte in meinem Inneren den beiden Kranken A. und B. recht geben , als sie sich gegen die Protokollierung ihrer Äußerungen und Fertigung des Protokolls wehrten. Bei allem , was sie im Affekt vorbrachten , haben sie selbst die Diskrepanz zwischen Gedachtem , Gefühltem und dem Ausgesprochenen deutlich empfunden. Was der Vorsitzende [ im Entmündigungsverfahren ] als von ihm klar erfassten Bewusstseinsinhalt in seiner Ausdrucksweise prägnant diktiert , erscheint ihnen als etwas ganz anderes.“ Nicht nur die Informationsbasis der Krankenakten war letztendlich sehr dünn. Auch das regelmäßige Dokumentieren selbst erschien vom tatsächlich Beobachteten oder aber der nur schwer einzuordnenden Mannigfaltigkeit psychischer Auffälligkeiten oftmals weit entfernt : „Bei Abfassung unserer Krankengeschichten kommt es jedem Seelenarzte immer deutlicher zum Bewusstsein , dass man mit dem Inhaltlichen , und wenn man es noch so genau wiederzugeben versucht , nur einen Bruchteil dessen fixiert , von dem , was man verstanden zu haben glaubt , dass man es jedenfalls in der Form verändert , und dass das Wesentlichste und Wichtigste , die seelischen Reaktionen des Kranken , schriftlich gar nicht zum Ausdruck gebracht werden.“558

Formalisierung und Standardisierung von Verfahren sollen vor allem garantieren , dass Wert und Verständlichkeit der Information unabhängig von einem weiteren Zusammenhang und von umständlichen Deutungsmethoden werden. Die Krankenberichte der Anstalt Am Steinhof sind jedoch unübersehbar kontextabhängig. Sie geben , allen 557 Vgl. dazu allg. : Niehaus 2005 , 27–47. 558 Raimann 1925 , 131 f.

4.4 Die „Kranken-Geschichte“

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Mahnungen und Objektivierungsversuchen zum Trotz , häufig die spezifische Sicht einer Person oder generell der Institution wieder und erklärten sich schon für Zeitgenossen nicht von selbst. Um sich ein ‚Bild‘ zu machen , muss man die Aufzeichnungen ergänzen und interpretieren , das heißt , das Niedergeschriebene in ein Verhältnis zum nicht Aufgezeichneten bringen. Und was für Zeitgenossen galt , gilt weit mehr noch für heutige Leser. Das Nicht-Notierte , also das , was nur mit-beobachtet , mit-gedacht , wortlos vorausgesetzt , was empfunden oder nur mündlich kommuniziert wurde , ist naturgemäß verschwunden. Dieser Übergang von der lebendigen , stets in vielerlei Kanälen stattfindenden Kommunikation zur ausschließlich schriftlichen Dokumentation der Ereignisse verändert notwendigerweise die Bedeutung des in der Akte Festgehaltenen.559 Am deutlichsten ist dies bei den während des Aufenthaltes der Patienten erstellten Verlaufsberichten erkennbar – sei es , weil man mehr nicht für medizinisch nötig befand , sei es , dass der Arbeitsbelastung wegen keine Zeit für eingehendere Notizen blieb. Diese sind oftmals sehr kurz gehalten und zeigen , dass statt der geforderten anschaulichen Krankheitsbeschreibungen lediglich besondere Vorkommnisse verzeichnet wurden. In nicht wenigen Fällen längerer Aufenthalte erfolgte durchschnittlich nur etwa ein Mal pro Monat eine knappe Eintragung des Arztes in Bezug auf Verhalten oder Zustand der Patienten und Patientinnen.560 Informationen , die für den Schreiber oder für die Adressaten der Krankenakte als Mitglieder der Anstalt als selbstverständlich erschienen , wurden gar nicht erst aktenkundig.561 Die Tatsache , dass – ganz entgegen der ärztlichen Dienstvorschriften562 – keinerlei therapeutische Maßnahmen vermerkt wurden , ist wohl gleichermaßen der Selbstverständlichkeit für das beteiligte Personal geschuldet. Somit ist in Krankenakten auch nicht die Stimme der Kranken , nicht das vielgestaltige Leben eines Individuums in seiner historischen und sozialen Bedeutung , sondern lediglich der institutionelle Blick auf einige wenige Merkmale , die als „Symptome“ infrage kommen , deren Verbindbarkeit zu einem Krankheitsbild und dessen Veränderung dokumentiert.563 Dieser administrativen , routinebedingten wie interessengeleiteten Logik folgte auch die Beendigung der Do559 Leimgruber 2008 , hier : 10. 560 Für chronisch kranke Patienten war zumindest einmal vierteljährlich ein Eintrag zu machen. In : Dienstvorschriften für die Ärzte , Punkt D. Besondere Dienstanweisungen für die Primarärzte , § 20. 561 Cornelia Vismann hat ( im rechtshistorischen Kontext ) eben jenes „off the record“ hinterfragt , zu welchen sie auch inoffizielle , vertrauliche Mitteilungen zählt , die nicht zu den Akten genommen werden. Vismann 2000 , 13. 562 „Alle wichtigen therapeutischen Verordnungen müssen in der Krankheitsgeschichte des Pfleglings enthalten sein.“ In : Dienstvorschriften für die Ärzte , Punkt D. 563 Barbara Duden hat , allerdings für einen früheren Zeitraum , von einem Rückgang an Authentizität in Krankenakten gesprochen , einem allmählichen Verschwinden der Person als sich äußerndes Subjekt , bis

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kumentation eines stationären Aufenthaltes. In auffällig vielen Akten findet sich eine kurze Notiz darüber , dass die Patienten krankheitseinsichtig waren. Dies legitimierte einerseits die Entlassung , andererseits konnte die Psychiatrie auf diese Weise die Richtigkeit ihrer medizinischen Maßnahmen bestätigen , welche die betreffenden Person befähigen sollten , ihr Leben außerhalb der Anstalt zu führen. Stand und Prognose der Erkrankung oder gar ein weiterer therapeutischer Erfolg waren hierbei nur mehr selten Teil der psychiatrischen Dokumentation.

4.5 Exkurs: Die Archivierung der Krankenakten: Produkte eines administrativen Vorgangs oder Sammeln psychiatrischer Verdatungen? Nicht nur das Aufzeichnen von Informationen in der Krankenakte ist als ein aktives , selektierendes , insgeheim deutendes Zusammenstellen zu verstehen , auch die Archivierung der Dokumente selbst ist von bemerkenswertem Interesse. Der primäre Grund des Aufbehaltens der Krankenakten bestand in einer bloß hausinternen Dokumentation oder auch in dem fernen wie unbestimmten Ziel , etwaigen späteren Forschungen oder Datenerhebungen weiterhin zur Verfügung zu stehen. Die historische Forschung hat die bemerkenswerte These aufgestellt , dass Sammlungen ihr Potenzial erst längere Zeit nach ihrer Erstellung entfalten.564 Patientendossiers führten im Zusammenhang mit spezifischen Fragestellungen , etwa der Vererbbarkeit psychischer Erkrankungen , in der Tat zu ungeahnten , vor allem aber für die Betroffenen zu folgenschweren Entwicklungen. Namhafte Psychiater wie Alois Alzheimer , Emil Kraepelin und Robert Sommer debattierten , wie eine Sammlung genealogischer Informationen aus psychiatrischen Anstalten organisiert , standardisiert und für die medizinische Forschung verwendbar gemacht werden könnte. Ein wesentliches Ziel dieser Bestrebungen war es , einen Überblick zu „belasteten Familien“ einer Region zu erlangen. Das Aufzeichnen von Familiengeschichten war bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert Teil der psychiatrischen Praxis und stellte damals , wie bereits erläutert , einen integralen Bestandteil der narrativen Erklärung und Beschreibung der Krankheitsgenese dar. Die 1903 gegründete „Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte“ strebte die Zues schließlich zum stummen „Patientenmaterial“ degradiert wurde. Duden 1987. Vgl. dazu auch : Elkeles 1989 ; Lachmund , Stolberg 1995 , 218 f. ; Hoffmann-Richter 1995 ; Nolte 2009. 564 Vgl. allg. zum Sammeln als ein notwendiger Bestandteil der wissenschaftlichen Praxis : te Heesen , Spary 2001 ; Brüning 2003 ; Kohler 2007.

4.5 Exkurs: Die Archivierung der Krankenakten

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sammenarbeit mit Psychiatern und an der Eugenik interessierten Medizinern zum besseren Verständnis von „Heredität , Degeneration und Regeneration“ an.565 Diese Versuche zur systematischen Erfassung vermeintlich hereditärer Phänomene erfolgten in enger Verbindung mit den Gründungen ebensolcher Institutionen. Die genealogischen Sammlungen sollten zur zentralen Datenbasis und somit Grundlage einer Definition und Registrierung der als bedrohlich empfundenen Teile der Gesellschaft werden. August Weismanns Widerlegung der Lamarck’schen Annahme , erworbene Eigenschaften könnten vererbt werden , provozierte neben Zustimmung auch Widerspruch unter Medizinern und Psychiatern. Einerseits wurde „Heredität“ lediglich als ein Faktor des Phänomens gehäuft auftretender familiärer Erkrankungen angesehen , andererseits wurden die Mechanismen der Vererbung generell zum Objekt wissenschaftlicher Forschung in dieser Zeit. In der Psychiatrie war man gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrheitlich der Ansicht , dass der Erbfaktor von Krankheiten kaum jemals messbar werden könnte. „Heredität“ konnte zwar leidlich empirisch untersucht werden , war aber weder analytisch noch experimentell überprüfbar. Mit Ende des Ersten Weltkrieges und des wachsenden Interesses an der Eugenik war jedoch die Bedeutung der überregionalen , meist national organisierten Informationssysteme gestiegen. Ernst Rüdin begründete 1917 die genealogisch-demografische Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie , welche zur größten Ansammlung psychiatrischer Familiengeschichten Deutschlands werden sollte.566 Die Anstaltspsychiatrie war im Besitz der erforderlichen Daten und sollte zu einem wesentlichen Zuträger der erbbiologischen Forschung werden.567 565 Gausemeier 2005 , 180. Zur Rolle der Gesundheitsämter bei der Erhebung persönlicher Daten : Vossen 2001 , 146 f. Seit Anfang der 1920er-Jahre wurden „kriminalbiologische Sammelstellen“ eingerichtet , ab 1930 an die DFA für Psychiatrie angeschlossen und „wissenschaftlich aufgearbeitet“. Richard KrafftEbing sprach sich für die Erhebung eines „psychiatrischen Status“ aller Rechtsbrecher aus. Dabei sollten „Degenerationszeichen , allgemeine anthropologische Merkmale , Erblichkeit und der sittliche Zustand“ überprüft werden. Zitiert nach : Türkel 1900 , 32 f. Noch in der elften Auflage von Hofmanns Lehrbuch der gerichtlichen Medizin ( 1927 ), dessen psychiatrischer Teil von Julius Wagner-Jauregg bearbeitet worden war , wird die körperliche Untersuchung eines Delinquenten empfohlen. Zwar galten weder die Erblichkeit psychischer Erkrankungen , noch körperliche Entartungszeichen als Beweis , sehr wohl aber deren Häufung als Hinweis auf eine bestehende Geistesstörung : Hofmann 1927 , 1150 f. Hofmann hatte von 1875 bis zu seinem Tod 1897 den Lehrstuhl für gerichtliche Medizin inne. Diese Auflage seines als Standardwerk geltenden und in viele Sprachen übersetzten Lehrbuches wurde posthum von Albin Haberda herausgegeben. Vgl. zur Einrichtung „kriminalbiologischer Sammelstellen“ in der „Ostmark“: Baumgartner , Mayer 1990 , 104. 566 Zu Ernst Rüdin und dem raschen Zuwachs an Prestige und finanziellen Ressourcen für die psychiatrische Erbforschung an diesem Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft : Roelcke 2002a , 121–124 ; Roelcke 2002b. 567 Vossen 2001 , 151.

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Ohne retrospektiv die Geschichte einer linearen Entwicklung der Verwendung von Daten für Forschungen zur Rassenhygiene bruchlos schreiben zu wollen , soll dennoch die Funktion , die den Krankenakten der Anstalt Am Steinhof im Rahmen der „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ zugekommen war , kurz umrissen werden. Ein späteres Heranziehen der Krankenakten war durchaus üblich. Manch Eintragung fand auch noch Jahre später Eingang in die Dokumentation , wie beispielsweise die Erfassung strafrechtlich verfolgter Taten. Die in den Krankenakten vom Steinhof festgehaltenen Informationen nahmen vor allem aber einen wesentlichen Anteil an der Produktion des biopolitischen Herrschaftswissens im Nationalsozialismus ein.568 Die gesamte Gesundheits- und Wohlfahrtspolitik wurde im Sinne des rassenhygienischen Paradigmas neu organisiert , die zentrale „Erbkartei“ stellte hierzu die systematische Organisationsform der Speicherung der Daten dar. Die „Erbbestandsaufnahme“ war im Sinne der NS-Ideologie an der Erfassung von Informationen der gesamten Bevölkerung interessiert , sollte sich aber „primär auf Personen , an denen die Maßnahmen der Erb- und Rassenpflege durchgeführt wurden oder werden sollen , und auf deren Verwandte“ erstrecken.569 Zur Erstellung dieses umfassenden Verweissystems wurden unterschiedlichste Informationen gesammelt. An die Stelle einer wissenschaftlichen Definition von Begriffen wie „erbbiologische Minderheit“, über welche die „Erb- und Rassenpfleger“ trotz aller Bemühungen nicht verfügten , trat der Versuch einer „empirischen Beweisführung“. Die bloße Tatsache der Häufung von Auffälligkeiten verschiedenster Art innerhalb einer Familie sollte den Nachweis einer genetischen „Minderwertigkeit“ der Betroffenen liefern beziehungsweise ersetzen.570 Die von den Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof stammenden Dokumente werden in einer , dem Leiter der Abteilung „Erbund Rassenpflege“, Dr. Arend Lang , zugeschriebenen Auflistung als zentrale Informationsquelle benannt. Der damalige Aktenbestand reichte chronologisch wesentlich weiter zurück , gemäß dieser Angaben waren nicht nur die personenbezogenen Aufzeichnungen seit Gründung der Anstalt , sondern auch noch die der Vorläuferinstitution Am Brünnlfeld bis 1886 und lückenhaft bis zum Jahr 1847 vorhanden.571 Da568 Vgl. zu den „Grundlagen zur Erstellung einer Zentralkartei der negativen Auslese für Groß-­Wien“ und dem damaligen Aktenbestand : Czech 2003 , 45 f. 569 Gütt 1939 , 577. Zitiert nach Czech 2003 , 41. 570 Vgl. ausführlich zu Organisation , beteiligten Personen und den daraus resultierenden Eheverboten , Zwangssterilisationen , Zwangsabtreibungen bis hin zu den für die Zeit nach Kriegsende geplanten Vernichtungsmaßnahmen : Czech 2003 , 129 f. Insgesamt wurden im Reichsgau ­Wien 770. 000 Personen registriert ; diese hohe Erfassungsdichte ist vergleichbar mit Daten aus dem Deutschen Reich ; der enorme Arbeitsaufwand erfolgte in ­Wien allerdings innerhalb wesentlich kürzerer Zeit. 571 Von den Am Steinhof in den Jahren 1915 und 1922 angeordneten Skartierungen blieben die Krankenakten verschont , obwohl sie aus administrativen Gründen offenbar nicht mehr benötigt wurden.

4.5 Exkurs: Die Archivierung der Krankenakten

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rüber hinaus sollten zur Datenerhebung die auch heute noch archivierten Protokollbücher vom Narrenturm herangezogen werden. Besondere Bedeutung wurde den Patientenakten aus der Alkoholikerabteilung beigemessen , denn sie galten nicht nur als „vorbildlich geführt“, sondern „weisen – für eventuelle Sterilisierungsanträge besonders wichtig – stets einen ausführlichen Lebenslauf auf. Es kommt hinzu , dass großer Wert auf die Darstellung der Belastung gelegt wurde. Eine der beiden Karteien ist deshalb von besonderer Bedeutung , als hier ausführlich auf die Nachkommen der Alkoholisten eingegangen wird“.572 Die Krankenakten lieferten einen wesentlichen Anteil der Informationen zur Auswahl derjenigen Kranken , die im Rahmen der „Aktion T4“ ab 1940 überwiegend in das Vernichtungslager Hartheim in Oberösterreich deportiert wurden. Die aus Berlin gesandte Kommission zur Durchführung der Selektionen der Patienten begutachtete innerhalb von dreieinhalb Tagen rund 4. 000 Akten und fällte ihre Entscheidungen , ohne die Patienten und Patientinnen auch nur je gesehen zu haben – so sehr vertraute man dem Archivmaterial. Von der ­Wiener Zentralkartei fehlt seit Kriegsende jede Spur. Der letzte dokumentierte Aufenthaltsort war in der Anstalt Am Stein­ hof. Im Frühjahr 1944 wurde die Kartei zum Schutz vor Fliegerangriffen in einem der Räume des Jugendstiltheaters untergebracht , um , wie es hieß , sie auch für die zukünftige Arbeit erhalten zu können.573

Mit Erlass der Magistratsdirektion vom 16. November 1922 waren alle W ­ iener Anstalten angewiesen worden , alte Bestände an „Büchern , Zeitschriften , Akten usw.“, welche aus der Zeit bis 1912 stammen , einer genauen Durchsicht zu unterziehen und alles nicht mehr Benötigte zu vernichten. Davon ausgenommen waren lediglich „Normalienbücher , sowie Bücher und Katasterblätter , welche über den Pfleglingsstand Auskunft geben“. In : WSt LA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 963 / 1922. Bei dem zu erstattenden Bericht hieß es , dass bereits 1915 Skartierungen durchgeführt worden waren : ebd., A 191 / 1922. 572 Arend Lang ; zitiert nach : Czech 2003 , 49. Lang war vom Oktober 1938 bis zum Mai 1941 verantwortlich für die Organisation und Durchführung der „Erb- und Rassenpflege“ im ­Wiener Hauptgesundheitsamt und zugleich stellvertretender Leiter im „Rassenpolitischen Amt“ der NSDAP ­Wien wie auch Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht. Ebd., 15. Die rassenhygienisch vorbildliche Führung der Aufzeichnungen in der Trinkerheilstätte war vermutlich kein Zufall. Der Leiter Primarius Ernst Gabriel gehörte bereits seit Januar 1935 der illegalen Betriebszelle „Steinhof “ an und hielt in der „­Wiener Gesellschaft für Rassenpflege ( Rassenhygiene )“ zum Thema „Rassenhygiene und Alkoholismus“ einen Vortrag. Er sprach sich wiederholt für drastische Maßnahmen , beispielsweise dauernde Asylierung und Sterilisierung rückfälliger Alkoholiker , aus. ( Die Trinkerheilstätte wurde 1922 und nicht , wie fälschlicherweise in der zitierten Akte vermerkt , 1924 eröffnet. ) Ebd., 49. 573 Czech 2007 , 300.

5. Wissen in Bedrängnis? Zu den Veränderungen in der Anstaltspsychiatrie während des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit Im Zeitraum von 1914 bis in die frühen 1920er-Jahre kam es sowohl zu rechtlichen Neuerungen als auch zu kriegsbedingten organisatorischen Umstrukturierungen in der Institution. Die Patienten waren vor allem von den allgemein bestehenden Versorgungsengpässen massiv betroffen. Die Quellen der ­Wiener Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof zeichnen sich für diese Zeitspanne insbesondere durch ihr Nichtvorhandensein aus. Ursache dieser Lücken sind vermutlich die aufgrund von Personalkürzungen stark eingeschränkten administrativen Tätigkeiten , wie auch der Verlust vieler Dokumente. 574 Die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges regelmäßig erschienenen Jahresberichte der niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalten wurden ab diesem Zeitpunkt nicht mehr herausgegeben , lediglich einige der Tabellen wurden in einem der Direktion vorliegenden Exemplar handschriftlich bis 1916 weitergeführt.575 Diese Leerstellen bezeugen indirekt die enormen Schwierigkeiten , von denen längst nicht nur die Verwaltung der psychiatrischen Anstalt , sondern weit mehr die internierten Kranken auf dramatische Weise betroffen waren. Die inmitten des Ersten Weltkrieges erfolgte rechtliche Regelung der Entmündigung und Anhaltung von psychisch Kranken hinterlässt hinsichtlich ihres Zeitpunktes ebenfalls offene Fragen. Hintergründe und Auswirkungen dieser Entwicklung sollen jedoch im Folgenden erläutert sein.

574 Die Anzahl der Akten der Direktionsregistratur ist zwischen 1914 und 1918 merklich verringert. Diese Archivalien sind erst wieder ab 1923 weitgehend vollständig und geordnet vorhanden. Im Österreichischen Staatsarchiv , Abteilung Kriegsarchiv , sind die zum Steinhof erhaltenen Bestände , wie die vom Generalkommando ­Wien , Präsidialabteilung , und die sogenannten „Verlustunterlagen“ nur mehr fragmentarisch erhalten. Sie lassen kaum Rückschlüsse auf die anstaltsinternen Geschehnisse während des Krieges zu. Auch die Jahrbücher des Vereins für Psychiatrie und Neurologie sind für die Dauer des Krieges nur eingeschränkt und unregelmäßig erschienen : Band 36 ( 1914 ), Band 37 ( 1917 ), Band 38 ( 1917 ); Letzterer war die Festschrift für den 70. Geburtstag Heinrich Obersteiners. Die Beiträge dieser drei Bände orientieren sich weitgehend an den während des Krieges aufgetretenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen beziehungsweise Verletzungen. Die Herausgabe der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift wurde im Gegensatz dazu regelmäßig fortgesetzt. 575 Die 1916 handschriftlich ergänzten beziehungsweise überschriebenen Tabellen befinden sich in der ehemaligen Direktionskanzlei des Otto-Wagner-Spitals. Ich danke Prof. Eberhard Gabriel für die Möglichkeit zur Einsichtnahme.

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5. Wissen in Bedrängnis?

5.1 Öffentlich-rechtliche Erwartungen an die Psychiatrie. Die Entmündigungsordnung von 1916 Die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen mehrerer , das „Irrenwesen“ betreffender Fragen war , wie erläutert , bereits jahrzehntelang Gegenstand von Kontroversen mehrerer Instanzen. Die Rechtsform der Obsorge von psychisch Kranken war die Kuratel. Mittels ihrer wurden die privatrechtlichen Beziehungen geregelt und die Kuranden und Kurandinnen einer umfassenden staatlichen Fürsorge unterstellt. Aufenthaltsort und ärztliche Behandlung wurden von Amts wegen bestimmt , mithin auch die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt. Die Freiheitsbeschränkung fiel dabei nicht ins Gewicht , sie war eine Folge der Verhängung der Vormundschaft. Zwischen der Entmündigung als rechtlicher Voraussetzung einer Anstaltsaufnahme und der aus medizinischen Gründen erfolgenden Einweisung wurde erst mit der , im Folgenden zu erläuternden , Gesetzesnovelle unterschieden.576 Die 1916 erlassene Entmündigungsordnung regelte die zivilrechtlichen Aspekte von Aufnahme , Entlassung und Vormundschaft. Debatten zur Notwendigkeit einer rechtlichen Festlegung gab es bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts , im Rahmen der den ungenügenden Rechtsschutz psychisch kranker Menschen vehement kritisierenden „Irrenrechtsreformbewegung“.577 Denn die Obsorge der stationär untergebrachten Kranken war mit der 1874 erlassenen und 1878 nur unwesentlich veränderten Ministerialverordnung nur ansatzweise geregelt , vieles war dem Kompetenzbereich der einzelnen Anstalten überlassen. Österreich kontrollierte , wie auch die meisten europäischen Staaten , die Zulässigkeit der Anhaltung über die Statuten der jeweiligen Institutionen , welche vom Ministerium zu genehmigen waren. Diese Ministerialverordnung sah lediglich eine generelle Anzeigepflicht bei Geisteskrankheit vor und kontrollierte vor allem die privaten Anstalten. Die staatliche Aufsicht über die öffentlichen Institutionen zur Unterbringung psychisch Kranker stützte sich auf das Reichssanitätsgesetz.578 Voraussetzung für die Aufnahme in eine „Irrenanstalt“ – und damit des Entzuges der persönlichen Freiheit – war die Diagnostizierung einer „geistigen Störung“, eine nähere Bestimmung der Erkrankung war hierzu allerdings nicht notwendig. Die recht576 Die Entscheidung über die Internierung lag grundsätzlich im Ermessen der Behörden. Dies bedeutete aber keineswegs , dass psychische Erkrankungen an sich und schon gar in überwiegender Häufigkeit zu einer Einweisung in eine Anstalt geführt hatten. Vgl. Kopetzki 1995 , 22–93. 577 Vgl. Abschnitt 2. 4.  578 Gauster 1887 ; vgl. auch Kopetzki 1995 , 25 f. Analog zu den Bestimmungen für öffentliche Anstalten wurde 1892 per Ministerialerlass festgelegt , dass private Sanatorien von der politischen Behörde bewilligt sein mussten , regelmäßig von Sanitätsorganen zu kontrollieren waren und nur von einem approbierten und psychiatrisch ausgebildeten Arzt geleitet werden durften. In : Telke 1907 , 93 f.

5.1 Öffentlich-rechtliche Erwartungen an die Psychiatrie

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liche Grundlage zur Internierung basierte auf einer gesetzlichen Bestimmung von 1811 , welche verlangte , mit „Wahn- oder Blödsinn“ diagnostizierte Personen unter Kuratel zu stellen. An dieser , auch für das Gericht verbindlichen Nomenklatur hatte sich , wie die Vertreter der nunmehr eigenständigen Disziplin beklagten , über ein Jahrhundert nichts geändert : „Seit 1811 müssen sich die Gerichtspsychiater hundertmal fragen , ist der Fall in die Wahnsinns- oder Blödsinnsschablone zu pressen ? Seit 1811 steht dem Gerichte , trotz all der Fortschritte der Psychiatrie , trotz all der Umwandlung , welche die Bedeutung dieser Wörter im ärztlichen Sinne im Laufe von 80 Jahren erfuhr , nur die Begründung „Wahnsinn oder Blödsinn“ zu Gebote. [ … ] Nur einmal wurde eine hochgestellte , an Moral insanity leidende Dame als wegen ‚Krankheit‘ entmündigt erklärt. Wenn wir bedenken , wie viele Initialstadien von Psychosen , wie viele Uebergangsstadien , wie viele Mischformen , von denen man anno 1811 noch keine Ahnung hatte , heutzutage infolge richtiger Diagnosen in die Anstalten und sonach zur Untersuchung kommen , so müssen wir factisch unsere Herrn Collegen vor Gericht bewundern , welche mit den zwei Formen ihr Auskommen finden können.“579

Jenes von Foucault als dichotom beschriebene System der alleinigen Entscheidungsmöglichkeit zwischen geistesgesund oder geisteskrank war auch noch lange an den Formularen der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof deutlich ablesbar. Erst im Zuge der Veränderung des Diagnoseschemas im Jahre 1932 wurden die Vordrucke für das Deckblatt der Krankenakte hinsichtlich dieses Aspektes erneuert. Bis dahin fand sich dort eine Spalte zum Eintragen des Datums der „Landesgerichtskommission“, daneben konnte der aufnehmende Psychiater alternativ „blöds.“ ( blödsinnig ) oder „Wahns.“ ( Wahnsinn ) als zutreffend unterstreichen. In den Jahren zuvor wurden diese Möglichkeiten im Vordruck gar nicht mehr verwendet , Datum und Nennung der Kuratelsbehörde waren ausreichende Hinweise auf eine etwaige Entmündigung. 580 Die Unzulänglichkeit der Regelung von 1811 war offensichtlich und erwies sich denn auch in der Praxis als ebenso unzweckmäßig wie die Vorschrift , im Falle einer Entmündigung diese öffentlich zu machen und einen Kurator zu berufen. Insbesondere bei psychisch Kranken ohne finanziellen Rückhalt zeigte sich die Bestellung von Vormündern als wenig praktikabel , da diese , gemäß vielfachen Klagen , ihren Aufgaben oftmals gar nicht nachkamen. Stattdessen , so die allgemeine Forderung seitens der 579 Gauster 1892 , 287 f. [ H. i. O. ]. Die Bestimmungen fußten auf den §§ 270 und 273 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches. 580 Ab diesem Zeitpunkt wurde die „Landesgerichtskommission“ in „Gerichts-Übernahmekommission“ umbenannt.

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Psychiatrie , wäre ein „humanes , vom wissenschaftlichen Geist durchdrungenes Gesetz“ zu erstellen.581 Doch wo ein solches anzusetzen hatte , war äußerst umstritten. Aus der Binnensicht vieler Funktionsträger der öffentlichen Institutionen wären die rechtlichen Belange per Statuten ohnehin so klar geregelt , dass ihnen die gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber der Anstaltspsychiatrie als völlig ungerechtfertigt erschienen. Dennoch konnten Gesetz und Praxis weit auseinanderklaffen : So war es möglich , dass jemand bereits monatelang interniert , aber noch kein gesetzlicher Vertreter bestellt war. Oder es kam vor , dass die hierfür zuständige „Landesgerichtskommission“ Kranke hinsichtlich ihrer Dispositionsfähigkeit untersuchte , aber keine definitive Stellungnahme abgab. Umgekehrt wurden geisteskranke und noch nicht entmündigte Personen gegen Revers entlassen und gerichtliche Verfahren nicht mehr verfolgt.582 Eine weitere konfliktträchtige Konsequenz des mangelnden Rechtsschutzes psychisch Kranker war , dass psychisch Kranke zivilrechtlich unter Kuratel gestellt , aber aufgrund des Strafgesetzes sehr wohl zur Verantwortung gezogen werden konnten.583 Trotz dieser als problematisch empfundenen Aspekte wurde seitens der Anstaltspsychiatrie eindringlich vor etwaigen Nachteilen rigiderer Regelungen gewarnt , würden sie doch die stationäre Aufnahme psychisch Kranker bloß komplizierter gestalten. Gauster polemisierte : „All dies rührt von der Furcht , ein nicht Kranker könne seiner persönlichen Freiheit beraubt werden , und von einem völligen Verkennen dessen her , was einem solchen Kranken noth thut. Erstere ist wohl , wie Fachmänner zugestehen werden , nicht begründet ; wir können dies in Oesterreich und in Deutschland wohl auch mit Recht gegenüber den Privatanstalten behaupten. Auch in anderen Ländern dürfte nur selten etwas Wahres an den romantischen Erzählungen über die Detention Gesunder in Irrenanstalten sein.“584

Psychiater glaubten demnach , ihre medizinisch begründete Urteilskompetenz stünde prinzipiell über der Notwendigkeit verfeinerter rechtlicher Regelungen. Im ­Wiener Verein für Psychiatrie wurde allerdings schon früh der Wunsch artikuliert , dass psychisch Kranke vor allem außerhalb der Anstalten größeren rechtlichen Schutz genießen sollten. Zudem plädierten die Standesvertreter für eine regelmäßige Untersuchung der aus den psychiatrischen Institutionen entlassenen Kranken. Als 581 Gauster 1892 , 291. 582 Gauster 1887 , 315 f. 583 Psychiatrisches Centralblatt 3 ( 1873 ), 119. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 2. September 1873. Gesonderte Berathung der Psychiater und Gerichts-Aerzte anlässlich des III. Internationalen medicinischen Congresses in ­Wien 1873. 584 Gauster 1887 , 307.

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eine praktikable Lösung der diesbezüglichen anstaltsinternen Probleme galt vor allem die Verkürzung der Phase an Rechtsunsicherheit zwischen dem Zeitpunkt der Aufnahme und der kommissionellen Begutachtung.585 Die in der Tat ungenau geregelte Praxis gestaltete sich nämlich so , dass die über die Entmündigungen entscheidende „Landesgerichtliche Commission“ etwa einmal pro Monat in die Anstalt kam. Die ihr angehörenden zwei Gerichtsärzte und ein Richter zögerten , wie es hieß , aus „Gründen der Humanität“, tendenziell die Krankheitserklärung und die damit verbundene Vormundschaft möglichst lange hinaus. Hintergrund dieser Handhabung war , dass man Entmündigungen nach Möglichkeit zu vermeiden suchte , da diese längerfristige Internierungen nach sich zogen. Erst wenn jemand eindeutig als unheilbar galt , wurde ein entsprechendes Verfahren eingeleitet. Dies führte allerdings dazu , dass Kranke während ihres Aufenthaltes in einer Anstalt keinen weiteren rechtlichen Schutz genossen.586 Diese ortsübliche Handhabung der rechtlichen Verfahren wurde im Organ der Standesvertretung angeprangert : „Eigenartig mutet an [ … ] dass an 68 Tagen Gerichtskommissionen stattfanden , wobei 1467 Patienten untersucht und 149 wieder für dispositionsfähig erklärt wurden. Es kommen auf den Tag 22 Personen ! [ … ] Wie rapid muss da jede einzelne Untersuchung vor sich gehen. Sollte man doch nicht zu der Erkenntnis gekommen sein , dass Anstaltspflegebedürftigkeit und Dispositionsfähigkeit nichts miteinander zu tun haben ?“587

Die Reformen wollten nicht nur diesen Rechtsunsicherheiten , sondern auch dem Misstrauen gegenüber der stationären psychiatrischen Versorgung wirksam entgegentreten. Julius Wagner-Jauregg sammelte mit dem polemischen Terminus der „Psychiaterhetze“ ab 1901 die Berufsgruppe hinter seiner Abwehrposition.588 Zahllose parlamentarische Interpellationen und Resolutionen sprachen sich für die Beschleunigung

585 Psychiatrisches Centralblatt 3 ( 1873 ), 173 f. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 29. November 1873. Weitere Forderungen betrafen die Qualität der Erstellung der Gutachten , die jeweils durch einen Sachverständigen und einen kundigen Protokollführer erfolgen sollten. Darüber hinaus strebte man danach , ausführlicher zu untersuchen und die Entlohnung der Gerichtsärzte zu erhöhen. 586 Psychiatrisches Centralblatt 3 ( 1873 ), 117–124. Gesonderte Berathung der Psychiater und Gerichts-Aerzte anlässlich des III. Internationalen medicinischen Congresses in ­Wien ; Stellungnahme Theodor Meynert zur Praxis des Entmündigungsverfahrens : ebd., 118. Der Verein plädierte für einen Kompromiss , nämlich die „Irren-Commissionen“ aller öffentlichen und privaten Anstalten unter die Oberaufsicht einer „Central-Irren-Commission“ zu stellen : ebd., 121. 587 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 12 ( 1910 / 11 ), 327. Stellungnahme zum niederösterreichischen Jahresbericht von 1907 /  08. 588 Hubenstorf 2002 , 307 ; Wagner-Jauregg 1901.

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einer verfassungsrechtlichen Regelung der Anhaltung psychisch Kranker aus.589 Vorarbeiten hierzu leisteten die , seitens des Obersten Sanitätsrates initiierten Enqueten von 1901 und 1902. Viele Vertreter der Anstaltspsychiatrie waren jedoch der Ansicht , dass die Vielzahl der die stationäre Versorgung tangierenden rechtlichen Fragen einer gemeinsamen Lösung zuzuführen wäre. So sollte keineswegs nur den Problemen des Rechtsschutzes gegen ungerechtfertigte Internierungen begegnet , sondern zugleich auch dem ( angeblichen ) Schutzbedürfnis der Gesellschaft vor Geisteskranken Rechnung getragen werden.590 Im Zuge dieser Debatten kristallisierten sich drei unterschiedliche Themenbereiche heraus. Der erste fokussierte auf die Frage der Unterbringung von Menschen , die sowohl als geisteskrank diagnostiziert wurden , als auch eine kriminelle Tat begangen hatten. Die mangels Zurechnungsfähigkeit strafrechtlich nicht weiter verfolgten Rechtsbrecher sollten , wie beschrieben ,591 trotz der vehementen Opposition unterschiedlicher Vertreter der Psychiatrie auch noch bis 1974 durch Verfügung der Verwaltungsbehörden in den bestehenden Anstalten interniert werden. 592 Der zweite Schwerpunkt bezog sich auf alle Bestimmungen zur Errichtung psychiatrischer Anstalten , die Aufnahme- und Entlassungsregelungen und die Überwachung von den in privaten Anstalten untergebrachten Kranken. Diese Fragen konnten ebenfalls noch lange nicht verbindlich festgelegt werden. Diese vorwiegend verwaltungsrechtlichen Aspekte wurden mit dem Krankenanstaltengesetz von 1957 geregelt.593 Der dritte – und im Folgenden im Mittelpunkt stehende – Teilbereich betraf die Ungewissheiten hinsichtlich der Entmündigung psychisch Kranker. Im Jahre 1907 lag dem Abgeordnetenhaus ein erster Gesetzesentwurf vor , der speziell diese Fragen umfasste. Der Rechtsschutz im Falle einer Anhaltung in einer psychiatrischen Anstalt war es auch , der inmitten des Ersten Weltkrieges in Form der sogenannten Entmündigungsordnung 1916 eine allgemein verbindliche Regelung erfahren sollte. 589 Eine einheitliche rechtliche Regelung dieser Fragen wurde bereits einige Jahrzehnte zuvor von Psychiatern wie Schlager , Mundy , Hoffmann und Leidesdorf initiiert. 1869 wurde dem Reichsrat vom ­Wiener Verein für Psychiatrie ein Entwurf für ein „Irrengesetz“ vorgelegt , 1872 wurde eine neuerliche Petition beim Justizministerium eingereicht. In : Gauster 1887 , 297 f. Vgl. zum langjährigen Engagement sowohl seitens der klinischen als auch der praktischen Psychiatrie für eine Reform des rechtlichen Schutzes der Kranken : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 27 ( 1906 ), 378 f. Protokoll der Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und Neurologie vom 6. 0ktober 1906. Erst die Reaktion weiterer Kreise der Bevölkerung bereitete ihrem Anliegen den Anstoß zu weiteren Schritten. 590 Sölder 1909 , 345. Sölder war von 1909 bis 1932 Direktor der Nervenheilanstalt Rosenhügel. 591 Vgl. dazu Abschnitt 3. 6.  592 Ein guter Überblick hierzu bei : Eder-Rieder 1985. 593 Vgl. Kopetzki 1995 , 76 f.

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Die Anstaltsärzte betrafen dabei insbesondere Fragen ihrer Tätigkeit als Sachverständige. Die am „Irrenärztetag“ bereits intensiv diskutierte Gesetzesvorlage von 1907 sah nämlich Regelungen vor , welche die Anstaltspsychiater von vielen ihrer bisherigen Befugnisse enthoben hätten. Die bislang anstaltsintern vorgenommenen Aufnahme- , Entlassungs- und auch Entmündigungsverfahren wären , so die Intention der Reform , einer externen Kontrolle zu unterwerfen. Viele Zuständigkeiten sollten an Ärzte überantwortet werden , die nicht notwendigerweise eine psychiatrische Ausbildung hatten. Aufnahme und Entlassung sollten mittels eines Attestes von einem anstaltsfremden Arzt bescheinigt werden. Umgekehrt aber müssten die behandelnden Psychiater – so die Klage der Betroffenen – in der Lage sein , bei der Entlassung gegen Revers die zukünftige Ungefährlichkeit eines Kranken verbindlich festzulegen.594 Dieser Gesetzesentwurf sah im Weiteren die regelmäßige Kontrolle der Anstalten durch sogenannte „Irreninspektoren“ vor. „Psychiatrisch geschulte Ärzte“ sollten das auch schon zuvor bestandene staatliche Aufsichtsrecht sowohl über öffentliche als auch private Anstalten ausüben. Gemäß der Gesetzesvorlage sollten diese Inspektoren nun auch das Recht erhalten , jederzeit die psychiatrische Anstalt zu betreten und Dokumente wie Krankenakten oder Gutachten einzusehen. Zudem war geplant , ihnen die Kontrolle über alle strittigen Zwangseinweisungen und Entlassungen gegen Revers wie auch die Oberaufsicht über die Familienpflege zu überantworten. Die „Irreninspektoren“ sollten auch die sanitätsbehördliche Überwachung der Pflege und Behandlung der entmündigten , aber nicht stationär untergebrachten Kranken ausüben.595 Für viele Vertreter der Anstaltspsychiatrie war der Gesetzesentwurf von 1907 zu sehr unter dem Eindruck der vorherrschenden , äußerst kritischen Haltung gegenüber den stationären Einrichtungen entstanden. Sollte das Gesetz in Kraft treten , würde es den Austritt aus einer Anstalt begünstigen , aber in keinem der Punkte regeln , wie bedenkliche Entlassungen hintangehalten werden könnten. Stattdessen , so die alternativen Vorschläge , sollte die Zulässigkeit der Anhaltung , statt wie bisher von der landesgerichtlichen Kommission , vom zuständigen Bezirksgericht festgestellt werden.596 Die überwiegende Anzahl der Aufnahmen erfolge ohnehin in fast allen Anstalten über Amtsärzte , lediglich in dringenden Fällen könne davon abgesehen werden. Darüber hinaus hätten die Anstalten schon aus finanziellen Gründen keinerlei Interesse an lang andauernden oder gar unbegründeten Aufenthalten der Kranken beziehungsweise könnten diese , so die innerinstitutionelle Perspektive , von ihren An594 Esiath 1909 / 10 , 423 f. 595 Sölder 1909. 596 Ebd. ; Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1909 ), 429–442. Protokoll der Sitzungen des Vereins vom 11., 18. und 25. Februar 1908.

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gehörigen ohnehin jederzeit gegen Unterzeichnung eines Revers in die häusliche Pflege übernommen werden.597 Vor allem aber wäre bei den vielen strittigen Fragen die Vorrangigkeit medizinischer Gesichtspunkte gegenüber polizeilich-rechtlichen Aspekten zu stärken. Nicht nur die konsequente Umbenennung der Heil- und Pflegeanstalten in Krankenhäuser , sondern auch eine allgemeine Erleichterung der Aufnahmen wie auch die Möglichkeit zur Beobachtung unklarer Fälle galten hierzu als grundlegend. Zudem wurde der Ausbau der Fürsorge für nicht stationär behandelte Kranke gefordert.598 Das geplante Gesetz gefährdete in den Augen der Anstaltspsychiater nicht nur die Standesehre , sondern auch das angestrebte gute Verhältnis zu den Patienten. Der vorliegende Entwurf wurde daher als eine völlige Verfehlung bezeichnet , welcher die Psychiatrie in ihren elementaren Momenten verkenne , den Anstaltsbetrieb wesentlich erschwere und gänzlich neue Arbeitsbedingungen mit sich brächte.599 Zur Wahrung der Interessensfreiheit sollte , entsprechend der Gesetzesentwürfe , den Anstaltsärzten die Berechtigung zur forensischen Begutachtung entzogen werden. Die nun gänzlich neue Trennung der Anstaltsfürsorge von der psychiatrischen Expertise vor Gericht wurde seitens der Betroffenen nicht nur aus finanziellen Gründen als sehr bedenklich eingestuft. Franz Schnopfhagen , Direktor der oberösterreichischen psychiatrischen Institution , formulierte den traditionellen Anspruch der Anstaltsärzte auf die medizinisch-juristische Expertise pointiert : „Indem wir das Recht der Psychiatrie als Wissenschaft feststellen und schützen , schützen wir das Recht der Geisteskranken am besten.“600 Trotz der Ambition , die einzig geeigneten Gutachter für die von ihnen beobachteten Kranken zu sein , sollte die bislang alleinige und unumstrittene Kompetenz gebrochen werden. Die für gerichtliche Fragen notwendige Expertise wäre nunmehr , so die Klage , von Ärzten durchzuführen , die die Kranken kaum kannten und folglich weitgehend auf der Basis von Krankenakten agierten. Eben an jenem Punkt suchte man intern die Undurchführbarkeit des geplanten Gesetzes festzumachen : Die im Departement für Wohlfahrtsangelegenheiten des Niederösterreichischen Landesausschusses abgehaltene Konferenz aller leitenden Anstaltsdirektoren einigte sich darauf , die Original-Krankenakten schon aus Dienstrücksichten erst gar nicht aus der Hand geben zu können.601 597 598 599 600

WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1911. Starlinger 1911 / 12. Anonym , Über die Vorlagen eines Entmündigungs- und Irrenfürsorgegesetzes 1909 / 10 , 439 f. Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 30 ( 1909 ), 274 f. Bericht des Irrenärztetages vom 6. Oktober 1908. 601 Zudem wurde gefordert , dass die Anzeigepflicht bei Aufnahme von Patienten nicht nur die Anstalten betreffen , sondern auch auf die psychiatrische Klinik ausgedehnt werden solle. In : WStLA , Mag.  Abt.

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Ein weiterer Aspekt der Proteste der Anstaltspsychiatrie betraf die Einführung der im Gesetzesentwurf vorgesehenen sogenannten „Vertrauensmänner“. Den Plänen zufolge sollte jede Patientin und jeder Patient eine Person benennen können , die sie oder ihn in allen Belangen gegenüber der Anstalt betreue. Um diese Aufgabe zur Wahrung der Rechte der Kranken erfüllen zu können , müsste diesen Personen Einblick in alle Unterlagen und die Teilnahme an allen , ihre Schützlinge betreffenden Verhandlungen gewährt werden. Aus Sicht der in der Anstalt tätigen Mediziner würden „Vertrauenspersonen“ das Arzt-Patienten-Verhältnis und auch die Gerichte unnötig belasten , alle diese Funktionen wären , so die interne Sicht , mit der Kuratel ohnehin abgedeckt.602 Im Februar 1912 wandte sich eine Abordnung der Vorstände der Landesanstalten an den Justizausschuss mit der dringlichen Bitte um Erstellung eines neuen Gesetzentwurfes. Insbesondere letzterer Punkt wurde als eine massive Beeinträchtigung der Tätigkeit der Anstaltsärzte bezeichnet.603 Viele Auseinandersetzungen zu der jahrelang diskutierten rechtlichen Regelung betrafen die eingangs erwähnte bestehende Verknüpfung von der Anhaltungs- und Entmündigungsfrage. Die ersten Entwürfe regelten die Anhaltung in einer geschlossenen Anstalt über das Entmündigungsverfahren. Das gab der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Internierung einen provisorischen Charakter. Denn die zu überprüfende „Zulässigkeit der Anhaltung“ stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Feststellung einer psychischen Erkrankung. Auf eben jene Verschiedenheit von Anhaltung und Entmündigung und deren unklares Verhältnis zueinander wurde wiederholt hingewiesen.604 Später vorgelegte Entwürfe zur Entmündigungsordnung haben jene Verknüpfung weitgehend eliminiert. Die schließlich Gesetzes-

209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst etc.‘ o. Z. / 1912. Sitzungsprotokoll vom 11. Mai 1912. Anwesend waren der Referent für Wohlfahrtsangelegenheiten Landesrat Franz Hueber , die Direktoren der Anstalten Am Steinhof ( Heinrich Schlöß ), Mauer-Öhling ( Josef Starlinger ), Klosterneuburg ( Siegfried Weiss ), Gugging ( Josef Quirchtmayer ), Ybbs ( Franz Sickinger ) und der Sanitätsrat Wilhelm Lorenz. Die strittige Frage der Krankenakten gestaltete sich in der Anstalt Feldhof bei Graz sehr ähnlich : Die Sachverständigen begutachteten anhand der entliehenen Krankenakten innerhalb einer Stunde etwa 15 bis 20 Kranke. Infolge der als äußerst mangelhaft angesehenen Praxis verweigerte die Anstaltsleitung die Herausgabe ihrer Dokumente und plädierte alternativ für die Beiziehung eines Anstaltsarztes als gerichtsärztlichen Sachverständigen. 602 Ebd. Insbesondere die von den Patienten zu treffende Wahl einer solchen Person löste offenbar große Beunruhigung aus. Die Sorge wurde dahingehend formuliert , dass Patienten wieder Kriminelle zu ihren Vertrauenspersonen machen , das Gesetz für diese Funktion aber nur handlungsunfähige und dem Gericht bekannte „Winkelschreiber“ ausschließen könne. In : ebd., Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1911. 603 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 14 ( 1912 / 13 ), 590. 604 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst etc.‘ o. Z. / 1912. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 11. Mai 1912 ; Sölder 1909 , 362.

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kraft erlangende Verordnung sah für die Anhaltung nicht entmündigter Personen in einer geschlossenen Anstalt ein eigenes Verfahren vor.605 Bei der ohne gesetzgebende Körperschaft und inmitten des Ersten Weltkrieges erlassenen Entmündigungsordnung lag der Schwerpunkt auf den zivilrechtlichen Fragen der Aufnahme , Entlassung und Vormundschaft. Sie bestimmte lediglich die Notwendigkeit einer gerichtlichen Entscheidung über die Zulässigkeit der Anhaltung , nannte dabei aber keine Kriterien , nach denen vorzugehen wäre. Strafrechtliche Fragen , wie die Betreuung geisteskranker Straftäter , blieben sehr zum Unmut der Anstaltspsychiatrie von dieser Regelung völlig ausgeklammert.606 Die im Organ der Standesvertretung auch als „Entwürdigungsordnung“607 bezeichnete gesetzliche Regelung wurde somit gegen den entschiedenen Widerstand der Anstaltsärzte erlassen. Die Beschränkung der Verfahrensfunktion auf eine Verwaltungskontrolle führte zudem zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen Juristen und Medizinern. So mussten beispielsweise auch Personen zur Beobachtung aufgenommen werden , die vom Bezirksgericht eingewiesen waren , für die aber kein amtsärztliches Zeugnis vorlag. An sich war eine Internierung bei zweifelhaftem Geisteszustand nichts Ungewöhnliches , problematisiert wurde lediglich die neuartige Trennung der Kompetenzen. Der Kern des professionspolitisch begründeten Protestes erhob sich jedoch gegen die Regelung , dass Anstaltsärzten zwar die Beobachtung eingewiesener Patienten unterstand , ein entsprechendes Gutachten aber nur von Gerichtspsychiatern geschrieben werden durfte.608 Die politische und staatsrechtliche Brisanz der ursprünglich als Reichsgesetz geplanten Entmündigungsordnung wurde durch Form und Umstände ihrer Erlassung noch verstärkt. Die Beratungen zu diesem Gesetz mussten aufgrund des Kriegsausbruchs unterbrochen werden. Die Regierung erachtete das Erlassen des schon länger diskutierten Entwurfs sogar während des Krieges als notwendig ; das Gesetz wurde als „Kaiserliche Verordnung vom 28. Juni 1916 über die Entmündigung“ in Kraft gesetzt. Die von den Anstaltsärzten als Misstrauen gegenüber ihrer Tätigkeit empfundene Regelung führte indes zu weiteren Versuchen , deren Geltungsbeginn zu verzögern oder gar zu verhindern. So forderte beispielsweise Josef Starlinger , langjähriger Direktor der Anstalt in Mauer-Öhling , mit dem Argument des enormen ad605 Kopetzki 1995 , 82 f. Vgl. Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 30 ( 1909 ), 272–279. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 6. Oktober 1908 ( III. Österreichischer Irrenärztetag ). 606 Kaiserliche Verordnung vom 28. Juni 1916 , RGBl. Nr. 207 ; kurz : „Entmündigungsordnung“. Abdruck in : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 18 ( 1916 / 17 ), 200 f., 217–219 und 247 f. Zur Kritik des angeblich zu kurz gekommenen „Schutzes der Gesellschaft“: Starlinger 1916 / 17. 607 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 19 ( 1917 / 18 ), 234. 608 Starlinger 1916 / 17 ; Zusammenfassung der Beschlüsse : ebd., 191 f.

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ministrativen Aufwands zumindest für die Dauer des Krieges einen Aufschub. Am ersten September des Jahres sollte sie jedoch trotz der vielen Gegenstimmen Gesetzeskraft erlangen.609 Die Entmündigungsordnung umfasste fünf Abschnitte , die wichtigsten Neuerungen waren , dass psychisch Kranken ein „Beistand“ zu gewähren sei. Dieser hatte die Aufgabe , Rechte und Interessen eines Kranken im Falle der Internierung und einer eventuellen Entmündigung zu wahren. Die Zulässigkeit der Anhaltung wurde gerichtlich kontrolliert , die Entscheidung lag bei Sachverständigen , die „über psychiatrische Bildung und Erfahrung verfügen mussten“ und ausdrücklich nicht mit der jeweiligen Anstalt in Verbindung stehen durften. In der Regel war ein Amts- oder Gerichtsarzt zu bestellen , bei „offenbarer Geisteskrankheit oder Geistesschwäche“ genügte ein Sachverständiger. Auf Verlangen der Betroffenen oder ihrer Angehörigen und in zweifelhaften Fällen war ein zweiter Sachverständiger hinzuzuziehen. Letzteres wurde allerdings in der Praxis kaum je umgesetzt.610 Neben dieser grundsätzlichen Regelung des Aufnahmeverfahrens bot die Entmündigungsordnung zwei weitere Neuerungen. Bis dahin konnte die Kuratel wegen „Wahn- oder Blödsinnes“ nur mit der Wirkung der vollen Handlungsunfähigkeit verhängt werden. Ab 1916 gab es auch die Möglichkeit einer beschränkten Entmündigung , welche den „minderen Störungen des Geisteslebens“ entspräche. Ein wesentlicher Aspekt des neuen Gesetzes war nämlich die Ausdehnung der beschränkten Entmündigung für „Alkoholiker und Morphinisten“, die sich , wie es in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift hieß , in Deutschland bereits sehr gut bewährt hätte.611 Dieser Paragraph galt allgemein als eine besonders „wirksame Waffe gegen den Alkoholmissbrauch“. Ergänzt wurde diese Regelung dadurch , dass eine angedrohte Entmündigung nicht vollzogen werde , wenn sich der Betroffene in eine Entwöhnungsanstalt begäbe. So hoffte man – in Anlehnung an die Entwicklung in Deutschland – auf ein Erstarken der Trinkerheilstätten.612 Das Gericht konnte bei 609 Ebd. ; Kopetzki 1995 , 86 f. ; einige Punkte , wie die Einsetzung von Vertrauensmännern , waren aus dem Antrag aufgrund der Proteste der Anstaltsärzte gestrichen worden. Abdruck eines Berichtes zum Gesetzeserlass seitens der „Neuen Freien Presse“. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 18 ( 1916 / 17 ), 136–138. 610 Vgl. Kopetzki 1995 , 88 f. Dieses Verfahren hatte bei jeder Aufnahme zu erfolgen , ganz gleich , ob es sich um eine freiwillige handelte , ob diese von einer Behörde verfügt worden war oder ob diese in eine private oder öffentliche Anstalt erfolgte. Die Zulässigkeit der Anhaltung konnte höchstens für die Dauer eines Jahres ausgesprochen werden. Spätestens drei Wochen nach der Anzeige von der Aufnahme der Kranken in die Anstalt war dieses Verfahren einzuleiten. 611 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 18 ( 1916 / 17 ), 137 f. Mitteilungen. 612 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1909 ), 429 f. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 11. Februar 1908. Diesbezüglich etwas kritischer war beispielsweise Friedrich von Sölder. Er meinte ,

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5. Wissen in Bedrängnis?

Einverständniserklärung des Betroffenen , nämlich sich mindestens sechs und maximal zwölf Monate in eine Entwöhnungsanstalt zu begeben , die ( bedingte ) Entmündigung aussetzen. Heinrich Schlöß machte schon früh auf die damit verbundene finanzielle Mehrbelastung der psychiatrischen Anstalten aufmerksam. Denn solange der Staat keine Trinkerheilstätten eingerichtet habe , würden sich diese Kosten auf die Länder verschieben. Seiner Ansicht nach würden damit die öffentlichen psychiatrischen Anstalten zum Ort des Absitzens dieser Bewährungsfrist werden ; er forderte daher zumindest einen finanziellen Beitrag seitens des Staates.613 Ein Jahr nach Etablierung der Entmündigungsordnung in der Praxis plädierte Josef Berze für eine Ergänzung des Erlasses. Um weitere Unzulänglichkeiten dieser Verordnung hintanzuhalten , sollte die Notwendigkeit eines möglichst raschen gerichtlichen Verfahrens bei der Aufnahme in eine geschlossene Anstalt nochmals präzisiert werden.614 Die Entmündigungsordnung besagte , dass als Sachverständige nur Ärzte herangezogen werden sollten , die „in zureichendem Maße über psychiatrische Bildung und Erfahrung“ verfügten. Die Anstaltsärzte strebten diesbezüglich nach mehr Kompetenzen : Sie wollten herangezogen werden , falls beispielsweise kein anderer Psychiater zur Verfügung stand. Galt die Zulässigkeit der Anhaltung als unsicher , sollte ebenfalls ein Anstaltsarzt entscheidungsbefugt oder zumindest gleichberechtigt zum Entschluss eines externen Arztes sein. Im Weiteren plädierte Josef Berze für besondere Vorsichtsmaßnahmen bei der für die Erstellung von Gutachten nötigen Heranziehung persönlicher Dokumente. Die Verhandlung der Kranken mit dem Richter sollte , so die eindringliche Forderung , nicht den Charakter einer Vernehmung haben. Ein wesentlicher Aspekt war für Berze , dass das Recht der Gerichte auf die Feststellung einer geistigen Erkrankung beschränkt sein , die Entscheidung zur Notwendigkeit eines Anstaltsaufenthaltes jedoch im Kompetenzbereich der leitenden Ärzte liegen sollte.615 dass sich diese gesetzliche Regelung in den deutschen Ländern keineswegs als ein taugliches Mittel gegen den Alkoholismus erwiesen hätte. Auch habe sich nicht die Hoffnung erfüllt , dass eine Androhung der Entmündigung die Auslastung der Trinkerheilstätten garantieren würde : Sölder 1909 , 370. 613 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1909 ), 434 f. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 11. Februar 1908. 614 Bei der Dauer dieser Verfahren scheint es große Unterschiede gegeben zu haben. Josef Berze erstellte eine Umfrage an alle österreichischen psychiatrischen Anstalten , um die Erfahrungen mit dem neuen Gesetz in der Praxis zu erkunden. Von der Anstalt Am Steinhof hieß es , dass , ganz im Gegenteil zu anderen Institutionen , die vorgeschriebene 48-stündige Frist der Aufnahmeanzeigen in der Regel eingehalten werden konnte. Dies sei aber nur wegen des Entgegenkommens des zuständigen Gerichtes möglich gewesen , welches bei Fragen der Zu- oder Unzulässigkeit der Anhaltung sofort entschied. Die Resultate wurden in ein sogenanntes „Kommissionsbuch“ eingetragen. Berze 1919 , 50. Vgl. auch zu den Versuchen einer Revision des Gesetzes : Starlinger 1916 / 17. 615 Berze 1917 / 18. Berze war zu diesem Zeitpunkt Direktor der niederösterreichischen psychiatrischen Anstalt in Klosterneuburg.

5.2 Kriegsbedingte strukturelle Veränderungen und Versorgungskrise am Steinhof

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Denn mit dem Inkrafttreten der Entmündigungsordnung war es , Berze zufolge , aufgrund mangelnder fachlicher Expertise zu einem Anstieg der Zahl vorzeitiger respektive ungerechtfertigter Entlassungen gekommen , eine Entwicklung , welche er als äußerst bedenklich ansah.616 Zu einer Revision der Verordnung von 1916 kam es trotz der vielen Proteste und alternativen Vorschläge einer „modernen Irrenfürsorge“, nämlich den Ausbau sozialmedizinischer Bereiche , nicht mehr. Von angestellten Ärzten wurden die neuen Gesetze als „öffentliche Verunglimpfungen gegenüber beeideten Landesbeamten“ und als in keiner anderen medizinischen Disziplin stattfindende „Stigmatisierung“ und „Überwachung seitens des Staates“ empfunden. Anstaltsintern resignierte man anlässlich der neuen gesetzlichen Vorgaben , indem man meinte , dass folglich auch nichts anderes bliebe , als sich mit der „Tatsache der Volkspsychose des allseits herrschenden Vorurteils gegenüber allem , was mit der Psychiatrie und ihren Anstalten zusammenhängt“, abzufinden.617

5.2 K  riegsbedingte strukturelle Veränderungen und Versorgungskrise am Steinhof Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollte schon rasch Auswirkungen auf den laufenden Betrieb der psychiatrischen Anstalt haben. Bereits in den Jahren zuvor war befürchtet worden , dass für den Fall einer militärischen Auseinandersetzung ein nicht unerheblicher Anteil der angestellten Mediziner und Pflegenden einrücken müsse. Bereits 1913 fragte das Rote Kreuz bei der Leitung der Anstalt Am Steinhof an , ob für einen etwaigen Krieg Berufskrankenpfleger und -pflegerinnen zur Verfügung gestellt werden könnten. Dies wurde mit der Begründung , dass der überwiegende Anteil der Pfleger ohnehin militärdienstpflichtig sei , zugleich aber für die Aufrechterhaltung des eigenen Anstaltsbetriebes gesorgt werden müsse , abschlägig beschieden.618 Die Direktion rechnete mit einem kriegsbedingten Anstieg geistiger Erkrankungen und warnte vor einem etwaig verringerten Personalstand.619 Ob damit im Einzelnen bereits An616 Berze 1919 , 57 f. 617 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1911. Dieses Gesetz wurde ganz im Gegensatz dazu von einem unbenannt verbliebenen Autor als „reifes Gesetzeswerk“ bezeichnet : ­Wiener Medizinische Wochenschrift 66 ( 1916 ), Sp. 1369. 618 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ D 106 / 1913. 619 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 147 / 1912. Diese für den etwaigen Fall einer allgemeinen Mobilisierung bereits 1912 erstellten Berechnungen zeigen , dass von den 22 angestellten Ärzten nur fünf aufgrund ihres Alters vom Militärdienst befreit gewesen wären und zwei dem Land-

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sprüche eines „scientific management“ des modernen Krieges , bei dem Medizinern eine wichtige Rolle zukommen könnte ,620 die drohende Vielzahl von kriegsbeschädigten Personen oder aber der generelle Anstieg psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung aufgrund erhöhter Belastungen des alltäglichen Lebens gemeint war , ist zu diesem Zeitpunkt wohl auch für die Betroffenen noch nicht näher absehbar gewesen. Der Ausbruch des Krieges brachte die Einberufung vieler männlicher Mitarbeiter mit sich. Bereits im Dezember 1914 war nur mehr die Hälfte , drei Jahre später gar nur ein Viertel der Pfleger im Dienste der Anstalt Am Steinhof. Auch Ärzte und Beamte wurden laufend eingezogen , bis 1917 verringerte sich deren Personalstand etwa auf die Hälfte.621 Im Gegensatz dazu war die Anzahl der Kranken in der auch schon zuvor überbelegten Anstalt mit Kriegsbeginn noch weiter angestiegen. Einerseits konnten fremdzuständige Patienten nicht mehr , wie bislang üblich , in ihre Heimat transferiert werden ,622 andererseits wurden viele Kranke aus umkämpften Gebieten , wie der Südtiroler psychiatrischen Anstalt in Pergine , nach ­Wien evakuiert. Bei Kriegsbeginn wurden Am Steinhof bereits über 3. 600 Patienten verpflegt , die Pflegenden konnten während des Nachtdienstes nicht mehr zwischen den Krankenbetten hindurch , und die Patienten mussten teilweise sogar stehend ihre Mahlzeiten einnehmen.623 Ein weiterer Grund des rasanten Anstiegs der Patientenzahlen Am Steinhof war die Internierung von sowohl geisteskranken als auch verwundeten Militärangehörigen. Bereits 1914 wurde im Gesellschaftshaus und in den beiden Aufnahmepavillons eine Abteilung für über 300 verletzte Soldaten eingerichtet. Dieses „Spital für verwundete Krieger“ unterstand dem Kommando eines Oberstabsarztes.624 Zur Unterbringung sturm angehörten. Da aber der Betrieb nicht mit sieben Ärzten aufrechterhalten werden konnte , bat Direktor Schlöß den Landesausschuss schon im Vorfeld darum , dass diejenigen Ärzte , die in Evidenz oder im Landsturm standen , von der Kriegsdienstleistung befreit werden mögen. Noch viel ungünstiger für die Versorgung der Patienten war die Situation bei den Pflegern : von den insgesamt 222 männlichen Pflegepersonen gehörten 166 der Reserve an , 86 dem Landsturm , nur 25 waren vom Militärdienst befreit. 620 Harrison 1996. 621 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1917. Vgl. dazu auch : Gabriel 2007 , 47. 622 Hierdurch entstanden für die Anstalt nicht unerhebliche zusätzliche Kosten : STPNÖ 1915 , Beilagen der 11. Wahlperiode , 1 /  3 , 246. 623 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 78 / 1914. Mitte Mai des Jahres waren 3. 655 Kranke aufgenommen worden , 424 von ihnen mussten auf den Gängen auf „Strapuzzen“ schlafen. Antrag auf eine entsprechende Vermehrung des Pflegepersonals in : ebd., o. Z. / 1914. Schreiben vom 19. Mai 1914. 624 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Militärangelegenheiten‘ o. Z. / 1914. Schreiben vom 14. September 1914. Mit dem Aufstellen von Gartenbetten im Gesellschaftshaus und im Pavillon II und der provisorischen Räumung von Pavillon I wurde Platz für 333 Verwundete geschaffen. Zusammen mit weiteren 51 „Strapuzzen“ konnten insgesamt 384 Verwundete in Räumlichkeiten untergebracht werden , die ohnehin nicht für die Pflege von psychisch Kranken nutzbar waren. Dazu musste aber die Zahl der

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der kriegsbedingt steigenden Zahl psychisch erkrankter Militärangehöriger wurden auf den Parkanlagen nördlich des Pavillons VIII vier ebenerdige Baracken für jeweils sechzig psychisch erkrankte Soldaten errichtet.625 Psychisch erkrankte Offiziere wurden in einigen der Pavillons vom Sanatorium behandelt.626 Für geisteskranke Kriegsgefangene war der Pavillon XXIII für „besonders gewalttätige und gefährliche Kranke“, das sogenannte „feste Haus“, vorgesehen , da , wie es hieß , nur dort die notwendige ausreichende Sicherung gewährt werden könne.627 Psychische Erkrankungen wurden mit der Entfesselung des Ersten Weltkrieges , seinen Massenheeren , dem Einsatz maschineller Waffen und der Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte so zahlreich und auch öffentlich präsent , dass sie die Konstruktion und Erfahrungsrealität der Moderne abrupt wie auch nachhaltig veränderten. Die neu aufgetretenen Erkrankungen wie „Shell-shock“ und „Kriegsneurose“ waren wichtige Elemente der traumatischen Erfahrungen des „Großen Krieges“, der die europäischen Gesellschaften in ihren Grundfesten erschütterte. Die psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen psychisch erkrankter Soldaten andererseits waren oft von Pflegenden erhöht werden. Anfrage vom 24. November 1914 von Direktor Schlöß an den Niederösterreichischen Landesausschuss : ebd., Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1914. Einige der dort geführten Krankenbücher und Evidenzprotokolle sind erhalten geblieben. In : ÖStA , KA , Verlustunterlagen , Spitäler 1914–1918 , Karton 237 ( Nr. 1339–1344 ) und 238 ( Nr. 1345–1348 ). So wurden beispielsweise zwischen Ende September 1914 und Ende September 1915 insgesamt 1. 920 Patienten als geheilt den militärärztlichen Kommissionen zur Überprüfung ihrer Wiedereinsatzfähigkeit übergeben. Ebd., Sign. 1347 , 1348. 625 Die Verhandlungen zu dessen Bau wurden im Januar des Jahres zwischen dem k. u. k. Militärkommando und dem Niederösterreichischen Landesausschuss mit dem Einvernehmen der Heeresverwaltung geführt. Die Objekte 35 bis 38 wurden von der Militärbauabteilung des Kriegsministeriums errichtet und vom Militärkommando bezahlt. Aufnahmeregelungen , Unterkunft , Behandlung und Gebühren wurden eigens verhandelt. Diese Baracken waren gemäß dem Vertrag bei Kriegsende auf Kosten des Militärkommandos zu entfernen oder aber gegen eine Entschädigung dem Land Niederösterreich zu übergeben : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Militärangelegenheiten‘ o. Z. / 1915. Schreiben vom 2. Jänner 1915. Auf diesen vier Pavillons waren insgesamt 24 Pfleger und vier Inventarpfleger angestellt : ebd., Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ 31 / 1916. Ende 1915 waren 1. 032 Militärangehörige Am Steinhof untergebracht : ebd., Faszikel ‚Militärangelegenheiten‘ o. Z. / 1915. Schreiben vom 19. Dezember 1915. 626 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Militärangelegenheiten‘ 30 / 1915. Schreiben vom 5. Juni 1915. Die Baracken wurden im Dezember 1915 fertiggestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren insgesamt 252 psychisch kranke Soldaten und 13 Offiziere Am Steinhof interniert : ebd., o. Z. / 1915. 627 Ebd., o. Z. / 1915. Schreiben vom 18. Mai 1915. Die Baracken sollten , wie es hieß , aus technischen und administrativen Gründen am Territorium der Gartenanlagen des Pavillons VIII errichtet werden. Im Mai 1915 protestierte der Direktor der Anstalt wegen der steigenden Zahl psychisch kranker Kriegsgefangener aus Sicherheitsgründen gegen die Unterbringung der russischen Patienten. In weiterer Folge kam es zu einem Austausch kriegsgefangener Geisteskranker mit Russland : ebd., o. Z. / 1916 und D 119 / 1916.

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bestürzender Brutalität , wie Kurt Eisslers 1979 veröffentlichte wegweisende Studie verdeutlicht. Ihr Ausgangspunkt ist die in ­Wien , unter dem Druck von Heimkehrerverbänden und 1919 von der Sozialdemokratischen Partei initiierte „Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen“:628 Anlass der Untersuchung der psychiatrischen Behandlungsmethoden zur Wiederherstellung der Diensttauglichkeit an der Front war eine Berichterstattung in der Zeitschrift „Die Fackel“. Die dort erhobenen Vorwürfe richteten sich insbesondere gegen den Leiter der Klinik , Julius Wagner-Jauregg. Hans-Georg Hofer und andere Historiker und Historikerinnen haben die Hintergründe der scheinbar neuartigen Erkrankungen , das bald nach Kriegsausbruch massenhafte Auftreten der „Kriegszitterer“, die Zuschreibung schichtspezifischer Diagnosen , insbesondere aber die Radikalisierung der Psychiatrie im Umgang mit diesen Patienten , umfassend analysiert.629 Unklar blieb bislang , inwiefern diese Geschehnisse auch die Patienten der Anstalt Am Steinhof tangierten. Der ­Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie gab 1916 Richtlinien heraus , die den Umgang mit der im Kriege vielfach auftretenden psychischen Erkrankung regeln sollten. Die seelischen und sich oftmals in körperlichen Störungen äußernden Traumatisierungen wurden zumeist unter dem Verdacht der Simulation behandelt.630 Emil Redlich , Leiter der Nervenheilanstalt Am Rosenhügel , referierte vor den führenden Neurologen und Psychiatern ­Wiens in zwölf Punkten ein Programm , welches im Wesentlichen darauf abzielte , den kriegsbedingt psychisch Erkrankten keine staatlichen Entschädigungen zuzugestehen. Möglichst vielen der sogenannten „Begehrungsvorstellungen“ nach einer Invalidenrente galt es , durch fachliche Expertisen einen Riegel vorzuschieben. Ziel war es erstens , den die Krankheit angeblich „stabilisierenden Einfluss“ von deren psychischer Bedingtheit zu eliminieren. Zweitens sollten die Soldaten möglichst rasch wieder einsatzfähig sein. Drittens sollte die psychiatrische Behandlungstechnik die Genesung der erkrankten Soldaten fördern. Die hierzu angewandte „Elektrotherapie“ sollte nur von ausgesuchten Spezialisten an bestimmten 628 Eissler 1979. Sigmund Freud wurde 1920 zur Erstellung des Expertengutachtens berufen und entkräftete weitgehend die Vorwürfe gegen Wagner-Jauregg. Diese Auseinandersetzungen lassen sich aber nicht auf die Frage reduzieren , ob die an „Kriegsneurosen“ leidenden Soldaten wieder an die Front geschickt oder als krank angesehen wurden. Sie sind viel eher in einem komplexen und teilweise widersprüchlichen Wechselspiel eines schon länger bestehenden Richtungsstreites zwischen der Psychoanalyse und der klinischen Psychiatrie zu suchen , deren gemeinsames Moment jedoch in der Annahme einer psychischen Ätiologie der „Kriegsneurosen“ bestand. Denn erst diese führte zu der unnachgiebigen Haltung gegenüber den Soldaten. Vgl. Hofer 2004 , 189 f. 629 Diese Thematik ist mittlerweile umfassend erforscht : Malleier 1994 ; Riedesser , Verderber 1996 ; Lerner 1996 ; Kaufmann 1999 ; Lengwiler 2000 ; Hofer 2000 ; Themenschwerpunkt „Shell-shock“ in : Journal of Contemporary History 35 ( 2000 ); Lerner 2003 ; Köhne 2009. 630 Vgl. allg. zu Simulation psychischer Erkrankungen : Ledebur 2012.

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Einrichtungen übernommen werden. Emil Redlichs Vorschläge wurden von den Mitgliedern des Vereins einstimmig angenommen.631 Sogenannte „Blitzheilungen“ und „Radikaltherapien“ mit der „faradischen Pinselung“ oder der – nach dem Stabsarzt an der Nervenstation des Reservelazarettes in Ludwigshafen benannten – „Kaufmann-Methode“ fügten den Soldaten äußerst schmerzhafte elektrische Ströme zu , welche in manchen Fällen statt zur Heilung gar zum Tod führten. Bruno Drastich , Sanitätschef des Militärkommandos ­Wien und langjähriger Leiter des Garnisonsspitals I , bezifferte die geschätzte Zahl der in ­Wien untersuchten und behandelten kriegsbedingten psychischen Erkrankungen auf 120. 000.632 Leider bleibt es unklar , ob sich diese Zahl auf „Nervenkranke“ oder auf – von diesen nun genau zu unterscheidenden – „Geisteskranke“ bezieht. Erstere wurden an den oben erwähnten , genau bestimmten Einrichtungen stationär beobachtet und behandelt. Zu diesen „zentralen Orten“ zählten die psychiatrisch-neurologische Klinik , die beiden Garnisonspitäler , die Spezialheilanstalten Am Rosenhügel und das vom Roten Kreuz geführte Maria Theresienschlössl , wie auch die – aufgrund der Vielzahl der Erkrankungen 1916 neu eingerichteten – „Nervenabteilungen“ der Kriegsspitäler Grinzing und Meidling.633 Soldaten und Offiziere aus dem Bereich des Militärkommandos ­Wien , die an einer bereits konstatierten psychischen Erkrankung litten , wurden in die Landesanstalten Am Steinhof , in Mauer-Öhling oder Kremsier aufgenommen.634 Geisteskranke Patienten waren explizit nicht der für die Feststellung einer eventuellen Dienstuntauglichkeit zuständigen „Superarbitrierungskommission“ zuzuführen. Folglich hatten sie auch keinerlei Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich kriegsbedingter Schäden an ihrer Gesundheit ; lediglich die Kosten der stationären Unterbringung wurden von öffentlicher Hand übernommen. Erst mit einer etwaigen Heilung wäre es möglich gewesen , diese Militärangehörigen ebenfalls über den Weg der benannten Kommission wieder in den Kriegsdienst einzuberufen.635 Aufgrund der benannten strik631 Hofer 2000 , 57 f. ; Sitzungsbericht des Vereins für Psychiatrie und Neurologie in : ­Wiener Klinische Wochenschrift 29 ( 1916 ), 630 f. 632 Drastich 1918 , 2063. 633 Ebd., 2056 f. 634 Die Bestimmungen zur Abgabe geisteskranker Gagisten wurden im Gegensatz zu den zu „beobachtenden Fällen“ während des Krieges nicht verändert , sie stammten noch aus den Jahren 1899 und 1908. In : ÖStA , KA , Generalkomm. ­Wien , Präs. 47 , 1917 , Karton 821 , Erlass des k.u.k. KM , Abt. 1 , Nr. 5025 vom 5. April 1917. Gagisten durften nach „abgelaufener Geisteskrankheit“ erst mit der Entscheidung des Kriegsministeriums wieder der aktiven Militärdienstleistung zugeführt werden. Diese basierte auf einer spezialärztlichen Beobachtung in einem Garnisonspital und der Genehmigung der Superarbitrierungskommission. 635 Drastich 1918 , 2063. Die Frage , ob „Psychopathisch-Minderwertige“ überhaupt einberufen werden sollten , wurde schon einige Zeit vor Kriegsbeginn diskutiert. Drastich plädierte , dass diese keinesfalls zum Dienst mit der Waffe , aber auch nicht zum Landsturmdienst einzuberufen wären. Entsprechend

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ten Differenzierung von „nerven-“ und „geisteskranken“ Patienten ist davon auszugehen , dass es Am Steinhof nicht zur Anwendung der äußerst schmerzhaften „elektrotherapeutischen“ Methoden gekommen war. Diese standen in einem engen Zusammenhang mit dem Ziel der Wiederherstellung der Frontdiensttauglichkeit. Die Am Steinhof internierten Soldaten und Offiziere wurden aber für den Kriegsdienst – zumindest vorerst – gar nicht mehr als geeignet angesehen. Im Laufe des Jahres 1915 wurde – inklusive der Militärpersonen – die Belegzahl von 4. 000 Kranken wiederholte Male überschritten.636 Die in den Krieg eingerückten Ärzte und Pfleger konnten nicht ersetzt werden , deren Aufgaben waren von dem an der Anstalt verbleibenden Personal zu bewältigen. Zu dieser Zeit wurden erstmals Pflegerinnen auf den Männerabteilungen eingesetzt. Aus unterschiedlichen Gründen wurde dies auch schon einige Zeit früher immer wieder diskutiert. Sowohl die angebliche größere Belastbarkeit der Frauen wie auch deren bessere Verträglichkeit mit den Patienten galten nämlich als äußerst günstig für den Anstaltsbetrieb. Auch die tätlichen Übergriffe wären an den Abteilungen , wo unruhige Patienten von Frauen gepflegt wurden , seltener und weniger aggressiv. Den mit vermeintlich spezifisch weiblichen Tugenden ausgestatteten Pflegerinnen wurde viel zugemutet : „Da das weibliche Dienstpersonal im allgemeinen geduldiger ist , sich besser beherrscht und ein ausgesprochenes Mitgefühl besitzt , so erträgt es besser die Launen , das Schreien , die Unruhe und die Tätlichkeit der Kranken. Die unsauberen Kranken rufen bei den Frauen kein Ekelgefühl hervor , weil sie schon von der Kinderpflege her daran gewöhnt sind. Die Überwachung der Kranken wird vom weiblichen Dienstpersonal weit gewissenhafter gehandhabt als vom männlichen , so dass die Fluchtfälle sich bedeutend verringert haben.“637

Eine 1907 anhand der Daten von hundert Anstalten des deutschsprachigen Raumes erhobene Umfrage zeigt , dass zu diesem Zeitpunkt erst neun Institutionen Pflegerinnen auf Männerabteilungen einsetzt hatten.638 Die Aufhebung der geschlechtsden Bestimmungen galten sie zu Letzterem als nicht geeignet , konnten aber über den Umweg der Musterung in die Armee gelangen. Der Autor sah diese Regelung als einen der Gründe der so rasant angestiegenen Zahl kriegsbedingter psychischer Erkrankungen an. 636 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1915. Ansuchen an den Landesausschuss vom 27. Mai 1915 zwecks Einschränkung des Aufnahmesprengels. Die Belegzahl war im Laufe dieses Jahres auf das Doppelte der vorgesehenen Zahl angestiegen. Im März waren beispielsweise insgesamt 3. 840 Geisteskranke , davon 167 Soldaten , stationär aufgenommen worden. Ebd., o. Z. / 1915. Schreiben vom 12. März 1915. 637 Zeitschrift für Krankenpflege ( 1908 ). Zitiert in : Bresler 1908 /  09b , 256. 638 Ebd.

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spezifischen Pflege war wegen des großen Mangels an Pflegepersonal im Ersten Weltkrieg jedoch praktische Notwendigkeit geworden.639 Darüber hinaus haben seit Kriegsbeginn auch freiwillige Pflegerinnen mitgearbeitet. Sie mussten Erfahrungen in der Pflege vorweisen können , wurden „entsprechend belehrt“, waren in der Anstalt untergebracht und durften keinesfalls bei Infektionskranken eingesetzt werden.640 Eine weitere wesentliche Änderung in der Krankenpflege war die Umstellung des Nachtdienstes auf die sogenannte „schottische Nachtwache“. Mit dieser , ebenfalls seit längerer Zeit diskutierten Form des Dienstes sollten Pflegende über längere Zeit hinweg ausschließlich während der Nacht arbeiten und tagsüber Anspruch auf ruhig gelegene Schlafräume haben. Der Leiter der niederösterreichischen Anstalt in Mauer-Öhling verwies auf seine mit diesem Modell bereits seit 1904 gemachten guten Erfahrungen. Dabei berichtete er auch , wie der Nachtdienst in anderen Anstalten zu diesem Zeitpunkt gehandhabt wurde. So gab es nach der Jahrhundertwende nur wenige Anstalten , die gar keinen Nachtdienst hatten , manche Institutionen überwachten gar nur die unruhigen Patienten. Ein gängiges Modell war die sogenannte „Laufwache“, bei der die Pflegenden auf mehreren Abteilungen ihren Dienst verrichteten , oder aber die Wechselnachtwache , bei der nach einem Tagdienst auch noch die halbe Nacht Dienst beziehungsweise umgekehrt nach einer halben Nachtschicht noch ein Tagdienst verrichtet werden musste. Etwa bei der Hälfte aller Anstalten war die „schottische Nachtwache“ bereits nach der Wende zum 20. Jahrhundert eingeführt.641 Letzeres Modell warf regelmäßig die Frage auf , wo die Pflegenden ungestörte Erholungsphasen finden könnten. Am Steinhof wurde die Dauernachtwache 1916 probeweise eingeführt. Als deren wesentlicher Vorteil galt , dass das Personal die Bedürfnisse der Patienten bei Nacht besser kenne , allgemein größere Ruhe herrsche , weniger Verletzungen vorkämen und die Pflegenden sich untertags besser ausruhen könnten. Zur quantifizierenden Qualitätsprüfung wurden das Körpergewicht des Personals und die Zahl der Dienstvernachlässigungen erhoben. Die Umstellung auf das neue Modell erforderte die Systemisierung 38 neuer Stellen und wurde sowohl sei-

639 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1915. Schreiben vom 31. Mai 1915. Der nach Kriegsende stattgefundene Abbau der Vielzahl der weiblichen Pflegekräfte wurde als sehr schwierig bezeichnet : Mauczka 1932 , 494. Mauczka war als Nachfolger von Josef Berze von 1928 bis 1945 Direktor der Anstalt Am Steinhof , ab Anfang des Jahres 1944 befand er sich in Krankenstand , im Juli 1945 wurde er außer Dienst gestellt. Vgl. zu Mauczka : Gabriel 2007 , 161. 640 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ D 122 / 1914. 641 Starlinger 1905 /  06a.

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tens der Leitung als auch des Personals befürwortet.642 Diese Änderung der Dienstordnung ist bereits im Zusammenhang mit den dramatischen kriegsbedingten Umständen zu sehen. Diese sollten die Kranken in den psychiatrischen Anstalten besonders hart treffen. Spätestens ab Anfang des Jahres 1916 kam es zu einer starken Gegenentwicklung der Patientenzahlen , es wurden weit weniger Kranke aufgenommen ; zugleich aber war aufgrund der immer mangelhafteren Versorgung die Mortalitätsrate rapide angestiegen.643 Genaue Zahlenangaben existieren nur für 1916 : Der Anteil der in diesem Jahr in der Anstalt verstorbenen Patienten war – gemessen an der Gesamtanzahl der Insassen – von etwa fünf Prozent in Friedenszeiten auf 14,8 Prozent gestiegen.644 Die Verteilung zusätzlicher Nahrungsmittel an verwundete und aufgrund ihrer psychischen Erkrankung körperlich sehr geschwächte Kranke wurde über genaue , an das Innenministerium zu richtende Begründungen gewährt.645 Ab November 1916 sind erste Proteste zu den drastischen Auswirkungen der kriegsbedingten Rationierung von Lebensmitteln dokumentiert. Die Leiter der einzelnen Abteilungen meldeten Gewichtsabnahmen bei Patienten , die durchschnittlich fünf bis sechs , in einzelnen Fällen sogar bis zu fünfzehn Kilo abgenommen hatten. Im Sommer dieses Jahres stieg 642 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1916. Schreiben vom 20. November 1916. „Gutachten des niederösterreichischen Landes-Sanitätsrates über die Frage der Regelung des Nachtdienstes des Pflegepersonals in den Privat-Irrenanstalten“: ebd., Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1916. Doch auch dies brachte nur minimale Verbesserungen mit sich. Viele Angestellte wechselten nach der Absolvierung ihres Kurses in besser zahlende Anstalten. Zur Verhinderung der hohen Fluktuation der Pflegenden wurde über bereits abgelegte Prüfungen kein Dokument ausgestellt , lediglich ein Hinweis im Dienstzeugnis sollte darüber Auskunft geben. Dieser Vermerk wurde erst nach drei Dienstjahren eingetragen : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1915. Wegen des anstrengenden Dienstes beantragte Direktor Schlöß erhöhte Brotrationen. In : ebd., o. Z. / 1917. Schreiben vom 12. Februar 1917. 643 Im Pavillon XIX war es im August 1915 zum Ausbruch von Typhus gekommen. Diese Infektionskrankheit und auch die gefürchteten Blattern führten zu rigorosen Regelungen innerhalb der Anstalt. In den Archivalien der Direktionsregistratur finden sich zahlreiche Auflistungen vorgenommener Impfungen bei Pflegern und Pflegerinnen. Besucher durften nur mehr die Anstalt betreten , wenn sie vorweisen konnten , entsprechend immunisiert zu sein. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ 100 / 1916. Auch in anderen geschlossenen Anstalten , wie beispielsweise im Versorgungsheim Klosterneuburg , war die Mortalität der Patienten während des Krieges rapide angestiegen : ebd., Faszikel ‚Anstalts-Angelegenheiten‘ 153 /  8 / 1916. Bereits im Jahre 1916 wurde die Frage der Ernährung von Kranken sowohl innerhalb von Krankenanstalten als auch in der häuslichen Pflege eigens thematisiert. Falta 1915 f. Die Reduktion der Kostzubußen schlug sich „aus Rücksicht auf die durch die Kriegslage gebotene sparsame Verwendung der Lebensmittelvorräte“ entsprechend positiv auf die Bilanzen der Anstaltskosten nieder. In : STPNÖ 1915 , Beilagen der 11. Wahlperiode , 1 /  3 , 246. 644 Handschriftlich überschriebener Jahresbericht der niederösterreichischen Landesanstalten , 22. 645 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 60 / 1916.

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die Zahl der Skorbutfälle – ein deutliches Zeichen für minderwertige Ernährung – stark an.646 Seitens der Leitung wurde wiederholte Male die rückgängige Zahl der arbeitenden Patienten beklagt und die Primarärzte wurden entsprechend angewiesen , dafür zu sorgen , dass sich deren Anzahl zur Aufrechterhaltung des Anstaltsbetriebes wieder erhöhe.647 Die ökonomisch äußerst problematische Lage , vor allem hinsichtlich der Nahrungsmittelversorgung , aber auch die nur mehr mangelhafte medizinische und pflegerische Betreuung während der Kriegsjahre führten bis 1917 aufgrund der vielen Todesfälle zu einem Rückgang des Gesamtstandes in der Anstalt um 900 Patienten. Ende des Jahres 1918 waren es nur mehr 2. 290 zu versorgende Kranke.648 Die allgemeine Versorgungskrise traf die Insassen der „totalen Institutionen“ ( Erving Goffman ) besonders hart , da sie keinerlei Möglichkeiten hatten , die ihnen zustehenden Nahrungsrationen anderweitig zu ergänzen.649 Der eingangs erwähnte Mangel an Quellen ist an dieser Stelle allerdings eklatant. Einige wenige Zahlen , vor allem aber die archivalischen Leerstellen selbst deuten auf schwierigste Bedingungen , denen die Insassen der Anstalt in einem weitaus höheren Maße ausgesetzt waren als die ebenfalls unter mangelnder Versorgung leidende Bevölkerung.

646 Ebd., 156 / 1916. Schreiben vom 4. November 1916. Die Gewichtsabnahme der im Pavillon XXIII untergebrachten 33 Kriegsgefangenen wurde bereits Anfang des Jahres 1916 mit durchschnittlich elf Kilo beziffert. Im Dezember 1916 wurde unter der Ägide des Bürgermeisters Weiskirchner eine „Beratungsstelle für Ernährung der Kranken während des Krieges“ eingerichtet. In : ­Wiener Medizinische Wochenschrift 66 ( 1916 ), Sp. 76 f. Mit dieser Initiative sollten vor allem die nicht stationär untergebrachten Kranken unterstützt werden. 647 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Cirkulanden‘ o. Z. / 1916. Weisung von Direktor Schlöß an die Primarärzte , dass die stark rückgängige Zahl der arbeitenden Pfleglinge wieder erhöht werde. Weitere dieser Anweisungen stammen vom 16. Jänner 1917 und vom 11. April 1917 : ebd., o. Z. / 1917. Vgl. dazu auch : STPNÖ , 1915 , Beilagen der 11. Wahlperiode , 1 /  3 , 246. Anhand der Differenzen zwischen den Etatberechnungen und den Finanzabschlussberichten der Anstalt zeigt sich eine deutliche Reduktion der Betriebskosten. In diesen Auflistungen lassen sich zahlreiche Einsparungen aufgrund des – zu diesem Zeitpunkt offenbar noch möglichen – forcierten Heranziehens von Patienten als Arbeitskräften belegen. 648 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Militärangelegenheiten‘ o. Z. / 1917. Schreiben vom 5. Oktober 1917. Gemäß den Angaben der online-Ausstellung „Der Krieg gegen die ‚Minderwertigen‘. Zur Geschichte der NS-Medizin in ­Wien“ fielen während des Ersten Weltkrieges insgesamt an die 2. 800 Patienten und Patientinnen der dramatischen Nahrungsmittelknappheit und den Infektionskrankheiten zum Opfer. Vgl. http://www.gedenkstaettesteinhof.at/ 649 Faulstich 1998 , 25 f. ; die Zahl der in den psychiatrischen Anstalten Deutschlands verhungerten Kranken wird auf 70. 000 geschätzt : Siemen 1987 , 29.

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5.3 „D er Weltkrieg, der Kriegsausgang und die Psychiatrie“: 650 Der Umgang mit der schwierigen Versorgungslage, die administrativen Änderungen am Steinhof und die Hoffnungen auf einen Neubeginn Die während des Ersten Weltkrieges stark angestiegene Mortalitätsrate unter Anstaltsinsassen wurde in der zeitgenössischen Fachliteratur bloß ein einziges Mal thematisiert. In der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift beschreibt Julius Wagner-Jauregg 1921 die „Krankenbewegung in den deutsch-österreichischen Irrenanstalten“ seit dem Ausbruch des Krieges. Die dort publizierten Tabellen zeigen , dass die Zahl der Todesfälle bereits im ersten Kriegsjahr zugenommen hatte. In den Jahren von 1915 bis 1917 stieg die Mortalitätsrate bereits auf etwa das Dreifache der Friedensjahre , deren Höchststand war 1917 bei 26,7 Prozent angelangt.651 Insgesamt war die Anzahl der zu verpflegenden Kranken im Vergleich zu den Friedensjahren auf etwa die Hälfte gesunken. Die Zahl der Todesfälle sank in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erst kontinuierlich ; 1919 lag die Mortalitätsrate in den österreichischen Anstalten trotzdem noch bei 16,25 Prozent , also etwa doppelt so hoch wie in den Jahren vor dem Krieg.652 Außer diesen wenigen quantitativen Angaben finden sich in den Quellen keine weiteren Angaben zu den Hintergründen der dramatisch hohen Morbiditäts- und Mortalitätsraten.653 Die weiterhin schlechte ökonomische Lage bestimmte die Geschehnisse Am Steinhof in den ersten Nachkriegsjahren. Wegen des akuten Mangels an Brennmaterial konnten neun Pavillons nicht belegt werden , der Patientenstand war jedoch bereits wieder auf knapp 3. 000 angestiegen. Gemäß der Hausordnung sollten die Patienten mindestens einmal wöchentlich gebadet werden ; dies war – um die Not der Zeit bloß exemplarisch aufzuzeigen – nur mehr ein bis zwei Mal pro Monat möglich. Auch die aus therapeutischen Gründen verordneten Dauerbäder mussten auf die dringendsten Fälle beschränkt werden , als Alternative dienten verschiedene medikamentöse Behandlungen oder auch die Isolierung der unruhigen Kranken. Aufgrund der allge-

650 Stransky 1919. Dies ist der Titel seines letzten Kapitels. 651 Die bereits erwähnte Mortalitätsrate der Anstalt Am Steinhof , nämlich fünf Prozent im Jahre 1913 , war offensichtlich um einiges niedriger als die durchschnittliche Rate aller österreichischen psychiatrischen Anstalten. Leider existieren für die Zeit nach 1916 keine Zahlenangaben , die sich ausschließlich auf die Anstalt Am Steinhof beziehen. 652 Wagner-Jauregg 1920 /  21. 653 Eine Ausnahme macht ein ( anonymer ) Autor , der sich allerdings vor allem auf die steigende Patientenzahl bezog , welche seiner Schätzung nach ohnehin binnen Jahresfrist die vor dem Ersten Weltkrieg bestandene Höhe erreicht haben werde : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 27 ( 1925 ), 7.

5.3 „Der Weltkrieg, der Kriegsausgang und die Psychiatrie“

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meinen Unterernährung und der mangelnden hygienischen Umstände war 1921 die Mortalitätsrate noch immer nicht auf das Niveau der Vorkriegszeit zurückgegangen.654 Relativ rasch nach Kriegsende kam es zu einem generationenbedingten Wechsel in der Leitung der ­Wiener Institution. Josef Berze ( 1866–1957 ) stand bereits seit 1902 im Dienst der niederösterreichischen Landesanstalten und wurde 1919 , nach der Pensionierung seines Vorgängers , Direktor der Anstalt. Auch er blieb in dieser Position bis zu seinem Ruhestand im Jahre 1928. Als leitender Direktor der Anstalt war er , wie zuvor auch Heinrich Schlöß , Mitglied des Landesgesundheitsrates. Von 1929 bis 1932 war er zudem Vizepräsident des Vereins für Psychiatrie und Neurologie. 655 Berze veröffentlichte eine Vielzahl von Beiträgen zu Themen der praktischen Psychiatrie und zu vererbungstheoretischen , forensischen und sozialpsychiatrischen Fragen.656 Internationalen Ruf konnte er mit seinen Monografien über die Heredität von Psychosen und zur Psychopathologie der Schizophrenie erlangen.657 Im Jahre 1920 wurde die niederösterreichische Anstalt in Klosterneuburg aufgelassen , zugleich wurden in allen „Landesanstalten für Geisteskranke und schwachsinnige Kinder“ die Gebühren für die Verpflegung neu geregelt.658 Zu einschneidenden 654 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 23 ( 1921 /  22 ), 205 f. Bericht von Thomas Scherrer , Sekundararzt Am Steinhof. Scherrer war zudem als Wirtschaftsarzt tätig. 655 Ein kurzer Lebenslauf von Josef Berze findet sich in : Hubenstorf 2002 , 409 ; Gabriel 2007 , 160. Vor seiner Position als Direktor der Anstalt war er von 1907 bis 1912 Abteilungsvorstand ( der Pflegeanstalt , ab 1910 des Sanatoriums ), von 1912 bis 1918 war er der Direktor der psychiatrischen Anstalt in Klosterneuburg. Josef Berze fungierte lange nach seiner Pensionierung als Gutachter für Zwangssterilisationen im Rahmen des in der „Ostmark“ ab 1940 geltenden „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Die Richter des Erbgesundheitsgerichtes ­Wien beauftragten insgesamt 25 Ärzte aus unterschiedlichen Fachrichtungen zur Erstellung der Gutachten. Josef Berze und Otto Pötzl , seit 1928 der Nachfolger von Julius Wagner-Jauregg an der Neurologisch-Psychiatrischen Universitätsklinik , erstellten mehr als die Hälfte dieser Gutachten. Am Erbgesundheitsobergericht , welches über Beschwerden gegen erstinstanzliche Beschlüsse entschied , trugen sie im Großteil der Verfahren maßgeblich zur Entscheidungsfindung bei. Vgl. Spring 2009 , 132 f. Die administrative Oberaufsicht der Anstalt wurde 1918 , dem Zeitpunkt der Pensionierung Hermann Bielohlaweks , dem Landesausschussreferenten Josef Sturm , von 1919 bis 1921 dem Landesrat Karl Volkert übergeben. In : Mauczka 1932 , 497. 656 Eine Auflistung sämtlicher Publikationen Berzes bis zum Jahre 1909 findet sich in UAW , Medizinische Fakultät 41 , Personalakt Josef Berze. Weitere seiner Publikationen sind benannt in : Kreuter 1996 , Bd. 1 , 117 f. Vgl. dazu auch Abschnitt 3. 4.  657 Berze 1910 ; Berze 1914 ; Berze , Gruhle 1929. 658 WStLA , Mag. Abt. 209 , A1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1920. Schreiben vom 1. September 1920. Im Sanatorium kostete die Unterbringung in der 1. Klasse mit eigener Pensionärswohnung täglich 300 , ein Einzelzimmer 200 , ein Zimmer für eine Begleitperson 100 Kronen. In der 2. Klasse waren 100 , in der Zwischenklasse 70 , jedoch mindestens 1. 500 Kronen monatlich zu bezahlen. Im Vergleich dazu kostete die 3. Klasse 60 und die 4. Klasse 50 Kronen täglich. Die Unterbringung in Mauer-Öhling war

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Änderungen in der Administration kam es allerdings mit dem Wechsel der Trägerschaft der Anstalt Am Steinhof. Die bis dato niederösterreichische Institution ging in die Verantwortung des seit Anfang des Jahres 1922 eigenständigen Bundeslandes ­Wien über. Ab diesem Zeitpunkt lautete ihre offizielle Bezeichnung „­Wiener Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke Am Steinhof “. Zeitgleich wurde die Ybbser Anstalt ebenfalls der ­Wiener städtischen Verwaltung überantwortet.659 Mit den in der niederösterreichischen Verwaltung verbliebenen Heil- und Pflegeanstalten Gugging und Mauer-Öhling kam es in der Folge zu einem umfangreichen Austausch der Kranken.660 War Niederösterreich für sie zuständig , so wurden diese Kranke nur mehr interimsmäßig Am Steinhof aufgenommen.661 Per Verfügung des nun für die „Humanitätsanstalten“ letztverantwortlichen ­Wiener Stadtrates Julius Tandler wurde das tendenziell nicht ausreichend ,662 vor allem aber während des Krieges von selbst zahlenden Patienten nur mehr gering belegte Sanatorium von der restlichen Anstalt administrativ getrennt und ab Juli 1921 als „Sanatorium Baumgartner Höhe“ bezeichnet.663 Bereits ein Jahr zuvor wurde eine Aufnahetwas preisgünstiger ; in Ybbs konnte man nur zwischen der 2. und 3. Klasse wählen , in Gugging gab es bloß eine 3. Klasse. 659 WStLA , Mag. Abt. 209 , A1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ K 199 / 1921. Festlegung der Statuten : ebd., o. Z. / 1922. Allgemeines Protokoll im Einvernehmen mit den Mag. Abt. 8 , 9 und 12 sowie mit der Direktion der Anstalt Am Steinhof. Der Zentralinspektor der Kriegsspitäler ­Wiens , Regierungsrat Leo Schärf , wurde als Vertrauensmann für die Übergabe der Amtsgeschäfte eingesetzt : ebd., K 132 / 1921. Zur Festlegung der Aufnahmebezirke : ebd., K 15 / 1922. Die Anstalt in Klosterneuburg wurde in ihrer ursprünglichen Funktion für psychisch Kranke im Frühjahr 1920 aufgelassen und zur „Bundesheilanstalt für geschlechtskranke Frauen und Mädchen“. In : Gemeinde ­Wien , Das Neue ­Wien 1927 , 513. 660 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 365 / 1922. Vertrag zwischen der Mag. Abt. 9 und den Vertretern der niederösterreichischen Landesregierung , August 1922. Die Krankenakten der zu transferierenden Kranken sollten im Original mitgegeben werden. Da der Steinhof zu diesem Zeitpunkt wieder überbelegt war , wurden viele nach ­Wien zuständige Patienten nach Ybbs verlegt. Insgesamt waren mehr nach Niederösterreich zuständige Patienten in den ­Wiener Anstalten untergebracht ( 518 ), als umgekehrt ( 317 ): ebd., A 154 / 1922. Diese Bestimmung führte in der Folge zu organisatorischen Problemen an der einen möglichst raschen Patientenwechsel anstrebenden Klinik. Denn mit der neuen Regelung war es nicht mehr möglich , Patienten einzeln nach Gugging oder Mauer-Öhling zu transferieren : ebd., K 15 /  2 / 1922. Protestnote Wagner-Jauregg. 661 Normaliensammlung der Anstalt Am Steinhof , Amtsvermerk vom 12. April 1922. 662 Auch schon in den Jahren zuvor war der Betrieb des luxuriösen Sanatoriums nicht rentabel. Grund war , dass es Einzelzimmer nur in der ersten Klasse gab , die überwiegende Anzahl der Patienten musste in Zimmern mit zwei bis vier Kranken untergebracht werden : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ o. Z. / 1912. 663 Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 23 ( 1921 /  22 ), 172 ; WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ K 145 / 1 / 1921. Bereits 1915 waren die Ausgaben zur Bewerbung des Sanatoriums im Ausland gänzlich unterblieben : STPNÖ 1915 , Beilagen der 11. Wahlperiode , 1 /  3 , 247. Die Direktion war weiterhin für beide Komplexe zuständig. Josef Berze war zugleich Direktor und erster Chefarzt des Sanatoriums , zweiter Primararzt war Karl Richter.

5.3 „Der Weltkrieg, der Kriegsausgang und die Psychiatrie“

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mesperre beschlossen664 und die „Pensionäre der II. Klasse“ in den Pavillons IX und XII der Heilanstalt untergebracht.665 Ein Gemeinderatsbeschluss besiegelte , wie es hieß , aus finanziellen Gründen im September 1922 das Ende des Betriebs des Sanatoriums.666 In den nun funktionslos verbliebenen Pavillons wurde im Mai 1923 eine Heilstätte für „leichtlungenkranke Frauen“ eingerichtet.667 Reformen der strengen und hierarchisch geprägten Anstaltsordnung waren nach Kriegsende mit dem Aufbau eines demokratischen Staatswesens möglich geworden. Erste berufsständische Organisationen , bei denen auch die in der Psychiatrie arbeitenden Pflegenden einbezogen waren , gab es bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert. So wurde 1898 in ­Wien der allerdings nur drei Jahre Bestand habende „Hilfsverein für Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen“ gegründet. Drei Jahre später wurde der „Österreichische Verein aller in der Krankenpflege im Kur- und Badewesen beschäftigten Personen“ initiiert. Ein wesentlicher Punkt der Satzungen dieses Zusammenschlusses war , dass zu den Anstaltsdirektoren stets ein friedliches und kooperatives Verhältnis zu pflegen sei. In der unter anderem die Interessen der Angestellten vertretenden Zeitschrift „Die Irrenpflege“ wurden sozialdemokratische Bestrebungen ebenfalls entschieden abgelehnt. Jegliche Versammlungen des Personals wurden seitens der Leitung der Anstalt Am Steinhof stets sehr genau kontrolliert , jegliche „terroristische Beeinflussung der Pflegepersonen“ war strengstens untersagt.668 664 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1922 , Allgemeines Protokoll , A 73 / 1922. 665 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 360 / 1922. Die dort untergebrachten Pfleglinge der III. Klasse mussten umgehend auf andere Abteilungen verlegt werden. 666 Zitiert in : Normalienbuch der Anstalt Am Steinhof 1923–1928 , Mag. Abt. 9 , Nr. 177 / 1929. Protokollzahl 7953. Die von Heinrich Obersteiner geleitete Döblinger Privatheilanstalt im 19. ­Wiener Gemeindebezirk wurde bereits 1918 aufgelassen. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 19 ( 1917 / 18 ), 299. 667 Diese war anfangs für 250 Kranke konzipiert , wurde in den folgenden Jahren aber stetig erweitert : Wegen der 1926 erfolgten Auflassung der Heilanstalt „Spinnerin am Kreuz“ wurde in der Lungenheilstätte eine Kinderabteilung mit 80 Betten eingerichtet. In : Normalienbuch der Anstalt Am Steinhof 1923– 1928 , Nr. 44 ; Beschluss des Gemeinderates vom 16. Juni 1926. Die Kinderabteilung wurde später auf 200 Betten erweitert : ebd., Nr. 122 ; Beschluss des Gemeinderates vom 30. September 1927. Die Frauenabteilung wurde 1928 auf 300 und ein Jahr später auf 360 Betten erweitert : ebd. 668 Im Jahre 1905 und 1908 wurden Einladungen zu einem Tanzabend verteilt. Ein Traktpfleger meldete der Direktion , dass es sich bei dieser Veranstaltung vermutlich um eine „Agitation des Pflegepersonals“ handle. Sowohl die Teilnahme als auch das Nichtmelden solcher Veranstaltungen war , wie es anlässlich dieses Vorfalls hieß , ungeachtet der Dauer des Dienstverhältnisses und des Familienstandes Grund für eine sofortige Entlassung. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 4210 / 1904. Die ausgeprägte Sorge des Landesausschusses über Zusammenschlüsse des Personals zeigt sich auch daran , dass ein Gesangsverein der Ärzte und Angestellten erst genehmigt wurde , als dessen gänzlich unpolitische Ausrichtung gesichert schien : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 51 / 1913. Schreiben des Landesausschusses vom 6. März 1912.

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Zu durchschlagenden Änderungen in der Interessenvertretung der Angestellten kam es erst nach Kriegsende. Der Landesausschuss als oberste Verwaltungsbehörde schrieb explizit vor , dass Wünsche und Beschwerden des Personals nur auf dem Dienstwege und direkt an die Leitung der Anstalt zu richten seien. Die Angestellten wurden durch die im Mai 1919 neu eingerichteten Betriebsräte vertreten , welche einmal wöchentlich eine Besprechung in der Direktion hatten. Im Zentrum der Forderungen des Pflegepersonals standen die Verkürzung der Arbeitszeiten , längere Urlaubsphasen und allgemein bessere Arbeitsbedingungen. So findet sich beispielsweise eine Anfrage an den Landesausschuss dokumentiert , dass Pflegepersonen , die länger als zehn Jahre Am Steinhof gearbeitet haben , keinen Nachtdienst mehr leisten müssten. Eine daraufhin erstellte Erhebung ergab , dass diese Regelung wegen der hohen Personalfluktuation ohnehin nur ganz wenige betroffen hätte.669 Ledigen schwangeren Frauen wurde , wie die Akten lapidar vermerken , „unter dem Hinweis auf die ihnen zugänglichen Einrichtungen der niederösterreichischen Landesgebäranstalt rechtzeitig gekündigt , ihr Wiedereintritt sollte aber ermöglicht werden“.670 Wichtige Reformpunkte waren die Ausdehnung der Zahlungen im Falle eines Krankenstandes671 und die Verlängerung der Ausgangs- und Urlaubszeiten. Jeder sechste Tag war nicht mehr wie bisher halbtags , sondern zur Gänze dienstfrei. An diesen Tagen hatten ledige Pflegepersonen von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends Arbeitspause , Verheiratete durften über Nacht der Anstalt fernbleiben. Eine anstaltsinterne Regelung besagte , dass verheiratete Pflegerinnen „nach Maßgabe des Dienstes“, also abhängig von der Entscheidung ihrer Vorgesetzten und der Arbeitsanforderung , „abends einige Stunden frei bekommen sollten , um ihre Kinder sehen zu können“. Eine anstaltsinterne Auflistung zeigt jedoch , dass aufgrund der schwierigen Bedingungen der Großteil der Kinder ohnehin nicht bei ihren Eltern , sondern auf dem Land bei Verwandten oder auch gegen Bezahlung untergebracht war.672 669 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1918. So hatten beispielsweise von der Frauenabteilung mit insgesamt sechzig Pflegerinnen nur fünf Personen länger als ein Jahrzehnt in der Anstalt gearbeitet. 670 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1920. Die Betriebsräte und auch die Leiter der Anstalten Am Steinhof und in Mauer-Öhling setzten sich – allerdings ohne Erfolg – für die Gleichstellung unverheirateter Mütter ein. 671 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1918. Wenn eine Wöchnerin ihr Kind stillte , erhielt sie zwölf Wochen lang ein Drittel des Krankengeldes ausbezahlt. Die Krankenunterstützungen wurden bereits einige Jahre zuvor von bis dahin 20 auf 26 Wochen ausgedehnt. Darüber hinaus wurde , allerdings nur für verheiratete Pflegerinnen , der Wochenbetturlaub von vier auf sechs Wochen verlängert. 672 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1918 ; ebd., Faszikel ‚Circulanden‘ o. Z. / 1918.

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Zu diesem Zeitpunkt wurde auch der Erholungsurlaub um vier auf insgesamt neun Urlaubstage pro Jahr verlängert und die dienstfreie Zeit des Pflegepersonals abermals neu geregelt. Oberpfleger und -pflegerinnen hatten nun jeden dritten Tag Anspruch auf eine halbe freie Schicht beziehungsweise alle zwei Wochen auf einen ganzen Tag ohne weitere Verpflichtungen ; Arbeitspfleger sollten werktags je „nach Dienstmöglichkeit“ ihre Arbeit im Sommer um fünf und im Winter um vier Uhr beenden dürfen. Die auf den Stationen arbeitenden Pfleger und Pflegerinnen erhielten im Zuge der neuen Regelungen jeden fünften Tag dienstfrei , 1921 wurde dieser Turnus auf jeden vierten Tag abgekürzt. Dennoch dauerte eine Tagesschicht von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends. Nach Dienstschluss waren die Pflegepersonen nun aber ungebunden , sie durften die Anstalt über Nacht verlassen. Die von den Angestellten als besonders unangenehm empfundene Kontrolle der dienstfreien Zeit durch den Portier wurde ebenfalls 1919 abgeschafft , der Dienstantritt hatte nun nur mehr bei den Traktpflegern und -pflegerinnen zu erfolgen. In dringenden und begründeten Fällen konnten auch zusätzlich Ausgänge für einige Stunden gewährt werden.673 Diesen mittels Petitionen von Vertretern des Pflegepersonals durchgesetzten Forderungen wurde seitens der Anstaltsleitung Folge geleistet. Die Briefe der Direktion an die obere Verwaltungsbehörde verweisen deutlich auf den Umstand , dass dies organisatorisch möglich war , da eine Reihe von Pavillons aufgrund des verminderten Krankenstandes und aus Ersparnisgründen nicht belegt waren. Diesen Forderungen konnte somit ohne eine Erhöhung der systemisierten Stellen nachgegeben werden.674 Der hohe Krankenstand , vor allem unter den Pflegerinnen , die zu einem nicht unerheblichen Anteil an Tuberkulose erkrankt waren ,675 aber auch allgemeine Unruhen unter den Pflegenden waren 1921 für die Anstaltsleitung Anlass , ein sogenanntes Pflegerlazarett einzurichten. Das gesamte Personal und deren Angehörige erhielten damit Anrecht auf freie ärztliche Behandlung und Medikamente.676 Insbesondere unverheiratete Pflegende hatten bis dahin im Krankheitsfall nur geringe Möglichkeiten einer Verpflegung. Das Lazarett befand sich im Pavillon 38 , einer der im Ersten Weltkrieg errichteten Baracken , und wurde einige Zeit später auf Pavillon U verlegt. Im Jahre 1927 veranlasste der erhöhte Patientenstand die Anstaltsleitung , diese Räum673 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ A 1 / 13 / 1919 und D 70 /  2 / 1919. 674 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Normalien‘ o. Z. / 1919 ; Faszikel ‚Pflegerangelegenheiten‘ o. Z. / 1919. Dies scheint sich später geringfügig geändert zu haben , Berze nannte eine Erhöhung des Pflegepersonals um zehn Prozent : Berze 1922 , 229. 675 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 712 / 1923. Nahezu elf Prozent des Pflegepersonals waren davon betroffen. Die dadurch bedingte außerordentliche Mehrarbeit geriet zu einem zusätzlichen Gesundheitsrisiko. 676 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 185 / 1922.

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lichkeiten wieder für die Patientenbelegung zu nützen.677 Das Lazarett konnte jedoch erst mit der Regelung der Krankenfürsorge entbehrt und nach kontinuierlichen Einschränkungen 1930 gänzlich aufgelassen werden. Eine weitere , aber noch einige Zeit unerfüllt bleibende Forderung des Betriebsrates in den folgenden Jahren zielte darauf ab , dass die Verköstigung der Angestellten nicht mehr Teil des Lohnes sein sollte.678 Als Übergangslösung in dieser Frage diente die einige Jahre Bestand habende Gemeinschaftsküche.679 Der Betriebsrat konnte darüber hinaus durchsetzen , dass ab 1922 geleistete Überstunden auch tatsächlich ausbezahlt wurden.680 Ein weiterer und vom reformerischen Klima der 1920er-Jahre maßgeblich bestimmter Teil der Auseinandersetzungen zwischen der Anstaltsleitung und den Angestellten entfachte sich an der Frage der Arbeitsdauer. Die Forderung eines Achtstundentages wurde von Josef Berze , ganz im Gegensatz zu vielen Leitern anderer Anstalten , abgelehnt. Er wandte sich mit dem Argument , dass bereits ausreichend viele Reformen erfolgt seien , vehement gegen dessen Einführung. Zudem würde , wie er taktisch argumentierte , ein erhöhter Schichtwechsel des Personals sich nachteilig auf das Gemütsleben der Kranken auswirken.681 Im Jahre 1925 wurde dieser Forderung für die Arbeitspflege und mit einiger Verzögerung auch für das allgemeine Personal nachgegeben.682 Das wöchentliche Arbeitsausmaß umfasste , abhängig von den Anforderungen auf den einzelnen Abteilungen , zwischen 49 , 55 oder sogar 60 Wochenstunden. Dieses wurde 1926 probeweise an einer Station auf 52,7 Stunden reduziert , ein Jahr später konnte der Betriebsrat die allgemeine Einführung der 48-Stundenwoche erfolgreich einfordern.683 Im Zuge dieser Reformen wurde die Ausbildung der Pflegenden neu geregelt. Der ursprüngliche Plan , eine eigene „Irrenpflegerschule“ einzurichten , wurde jedoch nicht in die Praxis umgesetzt.684 Ein höherer Ausbildungskurs mit einer abschließenden

677 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1286 / 1926 ; 117 / 1927. 678 Normaliensammlung der Anstalt Am Steinhof : Weisung der MA 9 /  2969 vom 27. März 1922 an die Direktion der Anstalt , dass die „Zwangsverköstigung“ weiterhin bestehen zu bleiben habe. 679 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1921. Die Speisen konnten zu festgelegten Preisen von den Ärzten und dem Pflegepersonal bezogen werden : ebd., Faszikel ‚Normalien‘ K 111 /  4 / 1922. 680 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , D 21 / 1922. Ab 1925 wurden diese in Form einer Pauschale , der sogenannten „Irrenpflegerzulage“, abgeglichen. 681 Berze 1922 , 225 f. 682 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 2603 / 1930. 683 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 978 / 1926 ; 1025 / 1927. 684 WStLA , Mag. Abt. 209 , A1 , 108 / 1926. Dieses Vorhaben wurde seitens der Leitung Am Steinhof sehr begrüßt.

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„besonderen Fachprüfung“ wurde 1924 eingerichtet.685 Unterrichtet wurde sowohl allgemeine somatische als auch psychiatrische Pflege ; der erste Teil dieser Ausbildung war am Lehrplan der Krankenpflegeschule in Lainz angelehnt ; 1926 wurde der Lehrplan mit dem Unterrichtsgegenstand „allgemeine Wohlfahrtspflege“ ergänzt.686 In den 1920er-Jahren mussten Am Steinhof , wie auch an vielen anderen Institutionen , beträchtliche Einsparungsmaßnahmen getroffen werden. Kürzungen von Ausgaben wurden in der Folge in allen Bereichen der Anstaltsverwaltung wie auch bei der Verköstigung , Beleuchtung , Beheizung der Pavillons687 und beim Personal getroffen. Ab Mai 1922 wurden frei gewordene Dienstposten nicht mehr nachbesetzt und generell keine Reinigungskräfte mehr eingestellt. Die bislang eher für organisatorische Aufgaben eingesetzten Ehefrauen der Abteilungspfleger mussten normalen Abteilungsdienst machen.688 Vor allem aber wurde der Mangel an Pflegern und Pflegerinnen allgemein beanstandet. Mitte der 1920er-Jahre war die Anstalt wieder stark überbelegt , ein Umstand , der die Aggressionsbereitschaft unter den Patienten erhöhte. Während der Nachtdienste war es wiederholte Male zu tätlichen Übergriffen gekommen , die allein im Dienst stehenden Pfleger und Pflegerinnen konnten wegen der Größe der zu überwachenden Räume ihre Aufgaben nicht mehr adäquat erfüllen.689 Die dem Pflegepersonal versprochene Lösung der drängenden Frage ihrer Unterbringung , welche gemeinsam mit der Frage der Kinderbetreuung diskutiert wurde , sollte ebenfalls an der mangelnden Finanzierung scheitern. Lediglich die während des Ersten Weltkrieges errichteten Baracken für erkrankte Soldaten und die beiden offenen , für den Wirtschaftsbetrieb bestimmten Pavillons wurden nach Kriegsende zur Unterbringung des Personals umgebaut.690 Die Zahl der nach zeitgenössischem Diskurs sogenannten „Pfleglinge“ stieg nach Kriegsende relativ rasch wieder an. Allgemeiner Konsens der in der Psychiatrisch-Neu685 Aufnahmebedingungen für Teilnehmer an einem „höheren Ausbildungskurs für Irrenpflegepersonen“ waren eine mindestens dreijährige Dienstzeit in einer ­Wiener psychiatrischen Anstalt , der Nachweis der abgelegten Fachprüfung und der zufriedenstellenden Leistung im Pflegedienst : Normaliensammlung der Anstalt Am Steinhof , Zirkular vom 17. Dezember 1926. Der entsprechende Gemeinderatsbeschluss , Z. 450 , datiert auf den 19. November 1924. 686 WStLA , Mag. Abt. 209 , A1 , 108 / 1926 ; 887 / 1929 ; 4055 / 1928 ; 4313 / 1928. Die gut besuchten Kurse fanden zwei Mal pro Woche für die Dauer von je einer Stunde statt. Sogar die Justizwache hatte großes Interesse an dieser Ausbildung. 687 Diese wurden während der Nacht nicht oder nur mehr minimal geheizt. Der Betriebsrat versuchte für diejenigen , die zehn Stunden lang Nachtdienst verrichten mussten und sich wegen der Gasabsperrungen keine warmen Getränke mehr machen konnten , erträglichere Arbeitsbedingungen zu erlangen : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1052 / 1922. 688 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , D 101 / 1922 ; 246 / 1922. 689 WStLA , Mag. Abt. 209 , A1 , 3215 / 1927. Bericht an Stadtrat Julius Tandler. 690 Berze 1922 , 229 f.

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5. Wissen in Bedrängnis?

rologischen Wochenschrift zu diesem Thema veröffentlichten Artikel war , dass dieser Anstieg nicht auf eine Zunahme der psychischen Krankheiten zurückzuführen sei. Der befürchtete Anstieg der durch Alkohol- beziehungsweise Drogenabhängigkeit und durch Syphilis verursachten Erkrankungen der Kriegs- und Nachkriegszeit war nicht unmittelbar an höheren Krankenstandzahlen ablesbar. Vielmehr wurden die in den urbanen Ballungsräumen vielfach bestehende Wohnungsnot , die steigende Arbeitslosigkeit und die Inflation als ursächlich für die veränderten Einweisungs- und Entlassungspraktiken angesehen.691 Jahr

Patientenstand , jeweils zu Beginn des Jahres

Anzahl der Aufnahmen

1919

1. 925

2. 136

1920

2. 086

2. 753

1921

2. 455

3. 050

1922

2. 745

2. 922

1923

2. 708

3. 334

1924

2. 737

3. 915

Tabelle 3 : Der Anstieg der Patientenzahlen Am Steinhof in den ersten Nachkriegsjahren692

Bereits 1922 konnten , trotz wiederholter Umfunktionierungen der Räumlichkeiten , die Patienten kaum noch untergebracht werden. Zu diesem Zeitpunkt mussten bereits 80 Patienten auf Strohsäcken am Boden schlafen. Da die Schließung des Sanatoriums zu diesem Zeitpunkt bereits geplant war , wurde mit einer weiteren Zunahme der Belegzahl gerechnet.693 Im September des Jahres war der viel diskutierte „Überbelag“ so weit angestiegen , dass 150 Patienten auf „Strapuzzen“ nächtigen mussten. Als Maßnahme gegen diese Übelstände sollten die bislang nicht wieder belegten Pavillons 1 und 2 neu eröffnet und die Räumlichkeiten in den Untergeschoßen mancher Pavillons adaptiert werden.694 Als traditionell bewährte Maßnahme gegen die 691 Vgl. auch : Kersting , Schmuhl 2004 , 11. 692 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 241 / 1925. Note an den amtsführenden Stadtrat Dr. Julius Tandler vom 16. Februar 1925 wegen Überfüllung der hiesigen Anstalt. 693 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 93 / 1922. Brief an das ­Wiener Städtische Magistrat vom 30. Juni 1922. Darüber hinaus war auch eine Anzahl von Jugendlichen unter 16 Jahren in der Anstalt. Der Vorschlag lautete , diese nach Ybbs zu transferieren. 694 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 442 / 1922 ; A 246 / 1925. Man wollte die Pavillons 3 und 15 der Frauenseite für Patienten einrichten , dort wohnte aber noch Pflegepersonal.

5.3 „Der Weltkrieg, der Kriegsausgang und die Psychiatrie“

205

zu hohe Patientenzahl und die sich daraus ergebenden zahlreichen Belastungen für den Betrieb der Anstalt wurden verstärkt Patienten in die niederösterreichischen Heilund Pflegeanstalten transferiert.695 Die Wiederinbetriebnahme der im Pavillon 23 gelegenen Einzelzellen für „geisteskranke Verbrecher und besonders gefährliche Geisteskranke“ wurde 1923 vom Stadtsenat genehmigt , ab Februar 1924 dann auch tatsächlich belegt.696 Diese Abteilung war aufgrund von Sparmaßnahmen nach Ende des Ersten Weltkrieges geschlossen worden. Die Unterbringung dieser Patienten auf den Abteilungen für Unruhige war in den Nachkriegsjahren , „wenn auch mit Schwierigkeiten“, vor allem wegen der geringeren Patientendichte noch möglich. Teilweise versuchte man , die „seit einiger Zeit zunehmende Zahl der besonders gewalttätigen oder fluchtverdächtigen z. T. kriminellen Geisteskranken“, die sowohl für ihre Mitpatienten als auch Betreuer als Gefährdung angesehen wurden , zu transferieren. Einige dieser Kranken wurden nach Ybbs gebracht , mussten aber im Winter aufgrund mangelnder Beheizbarkeit der dortigen Einzelzellen wieder rücktransferiert werden.697 Gemeinsam mit den während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit nur sehr geringen Patientenzahlen wurde die sogenannte „Ärztefrage“ im Organ der Standesvertretung , der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift , wiederholt diskutiert. Zur Zeit des forcierten Aus- und Aufbaus psychiatrischer Anstalten war für viele Ärzte ein berufliches Aufrücken in prestigereichere Dienstgrade oftmals nur eine Frage der Anzahl der Dienstjahre gewesen. Die Chancen , in die Stellung eines Oberarztes oder Primarius zu gelangen , waren mit der verringerten Auslastung oder gar Schließung einiger Institutionen stark gesunken , die Gefahr , in „subalterner“ Dienststellung zu verbleiben , wurde entsprechend häufig thematisiert. Die Frage der Anstaltsarbeit im Allgemeinen wurde schon länger diskutiert , im Deutschen Verein für Psychiatrie gab es bereits seit 1907 eine „Kommission zur Wahrung der Standesinteressen“. Edmund Holub , Primar der Pflegeabteilung für Frauen , machte 1920 im Organ der Standesvertretung verschiedene Vorschläge zur Lösung der bestehenden Problematik. So könne die Unzufriedenheit der Anstaltsärzte finanziell ausgeglichen werden , die Unselbstständigkeit ihrer Tätigkeit würde jedoch fortbestehen , da Bereiche wie Diagnostizierung und Festlegung therapeutischer Maßnahmen weiterhin dem Primar oder dessen Stellvertreter vorbehalten blieben. Eine weitere Alternative wäre 695 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 457 / 1925. Nach Mauer-Öhling wurden 90 Männer und nach Gugging 90 Männer und 40 Frauen transferiert. 696 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1232 / 1923 ; A 1522 / 1923. Es gab insgesamt zwölf Einzelzellen , die zu diesem Zeitpunkt wegen des ständigen Gebrauchs schon sehr beschädigt waren. 697 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 1232 / 1923. Antrag auf Wiederherstellung des Pavillons XXIII , vorerst nur des Parterres ( zehn Zellen ); sieben Pfleger wurden für den laufenden Betrieb benötigt.

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5. Wissen in Bedrängnis?

die Überantwortung einzelner Pavillons an einige erfahrene Anstaltsärzte. Holub schlug weiters vor , dass der sogenannte subalterne Dienst teilweise von Amtsärzten übernommen werden könne , da deren angebliche mangelhafte psychiatrische Erfahrung für die Praxis der Einweisungen ohnehin als verbesserungsfähig angesehen wurde.698 Holubs Vorschläge sollten jedoch keine Auswirkung auf die Struktur der Dienstverhältnisse Am Steinhof mit sich bringen. Die im Zuge des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit erfolgten Veränderungen in der psychiatrischen Institution können wegen der mangelhaften Quellenlage nur überblicksmäßig hinsichtlich ihrer strukturellen Veränderungen beschrieben werden. Von Zahlen des „Krankenmaterials“ und ökonomischen Aspekten abgesehen , zeigen die erhaltenen Schriften immerhin die Reaktionen der Fachvertreter auf diese Umbrüche in der Anstalt. Lapidar wurde etwa festgestellt , dass „Grippe und Tuberkulose erschreckend unter ihnen [ den Geisteskranken ; S. L. ] aufgeräumt haben , so dass mancherorts nur mehr die Hälfte des Bestandes des letzten Friedensjahres am Leben ist“.699 Auch für die darauffolgenden Jahre rechnete man nicht mit über das Vorkriegsniveau steigenden Patientenzahlen , da der Krieg – entgegen der Ansicht vieler Experten – nicht zu einer Zunahme geführt habe. Darüber hinaus war der generell als die Ursache zahlreicher psychischer Erkrankungen angesehene Alkoholismus stark zurückgegangen. Aufgrund der sinkenden Geburtenrate ging man davon aus , dass die damit in einem vermeintlich ursächlichen Zusammenhang stehenden psychischen Erkrankungen von Frauen abnehmen würden. Mit der sich an die Behandlung der weitverbreiteten progressiven Paralyse verbindenden großen Erwartung auf therapeutische Erfolge erhoffte man sich ein verbessertes „heranwachsendes Geschlecht“.700 Erwin Stransky , Professor für Psychiatrie und Neurologie in ­Wien , knüpfte in seinem 1919 veröffentlichten Lehrbuch in einem eigens verfassten Kapitel zu den Themen der Zeit seine Hoffnungen jedoch nicht bloß an zukünftige Behandlungserfolge. Er dachte an viel weiterreichende bevölkerungspolitische Zukunftsaufgaben der Psychiatrie : 698 Holub 1920 /  21. Edmund Holub ( 1873–1924 ) promovierte 1898 und war ein Jahr später in den Dienst der niederösterreichischen Landesirrenanstalten ( Langenlois , ­Wien , Mauer-Öhling ) eingetreten. Ab 1907 war er Direktionssekretär Am Steinhof , ab 1914 Primarius und Vorstand der Frauenpflegeabteilung , 1919 bis zu seinem Tod blieb er in derselben Position auf der Männerpflegeabteilung. Während des Ersten Weltkrieges war er im „Spital für verwundete Krieger“ Am Steinhof tätig. 699 Knust 1919 /  20 , 15. Der Autor plädierte für eine Verwendung der „Irrenanstalten“ als Krankenanstalten , im Weiteren auch für die Übernahme der Fürsorge von „geistigen Minderwertigen“ und eines Teils der durch die erwartete Strafrechtsreform exkulpierten Kranken in die psychiatrische Pflege. Auf den Zusammenhang erhöhter Morbiditäts- und auch Mortalitätsraten bei Tuberkulose bei unterernährten Patienten ist eingegangen worden bei : Hummel 1919 /  20. 700 Knust 1919 /  20 , 15.

5.3 „Der Weltkrieg, der Kriegsausgang und die Psychiatrie“

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„An uns deutschen Ärzten wird es sein , den gesundheitlichen Wiederaufbau unseres edlen , unglücklichen Volkes mit Hingabe in die Hand zu nehmen ; ich wüsste keine vornehmere , keine im besten Sinne nationale Aufgabe für uns. [ … ] Zeigen wir dem deutschen Volke als praktische Völkerpsychologen – im Sinne angewandter Psychiatrie – den Weg zur seelischen Selbstkorrektur.“ Seine Ausführung schloss er mit einem Zitat Hindenburgs : ‚Wer weiß wozu es gut war‘.“701

Nicht unähnliche professionspolitische Ansprüche aus der Not der Zeit heraus formulierte Gustav Kolb , Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen. In seinem 1920 vor dem Deutschen Verein für Psychiatrie gehaltenen Referat „Inwieweit sind Änderungen im Betrieb der Anstalt geboten ?“ sah er die unmittelbaren Folgen vieler kriegsbedingter psychischer Erkrankungen als eine dringlich zu lösende Aufgabe an. Er meinte : „Gerade jetzt ist es doppelt Pflicht der Psychiater , in allen ihr Gebiet berührenden Fragen durch Rat und Tat mitzuarbeiten am Wiederaufbau unseres Volkes.“702 In den umfassenden Reformvorschlägen bezog er sich explizit auf Erwin Stransky. An die Mitarbeit aller Psychiater appellierend , sollte „… die Versorgung kriegsbedingter Erkrankungen und Verletzungen , der psychopathischen Kriegsneurotiker , die Fürsorge von Morphinisten und Kokainisten , und die Fürsorge für den wohl zu einem erheblichen Teile degenerierten Nachwuchs aus den von Minderwertigen in und nach dem Kriege geschlossener Ehen“ neu organisiert werden. Dazu zählten auch Aufgabenbereiche wie die „Bekämpfung der im Volke lebenden Neigung zu ungesundem Spiritismus , zu geschlechtlichen Verirrungen , Einschränkungen der Fortpflanzung bei schwer degenerierten Menschen und die Mitarbeit am Ausbau der Rechtspflege“.703

Einen Teil dieser weitreichenden Forderungen übersetzte Kolb , wie im folgenden Kapitel aufzuzeigen sein wird , in ein konkretes Programm , welches vor allem auf die Organisation einer sozialpsychiatrischen Versorgung zielte. Diese Änderungen der psychiatrischen Aufgabengebiete , die mit dem Aufbau eines ambulanten Versorgungsnetzes gewährleistet , wenn nicht gar verschleiert werden sollten , zeigen , dass sich eben an jener Stelle äußerst ambivalente Entwicklungen abzeichneten. Die während des Ersten Weltkrieges in vielen psychiatrischen Anstalten stark erhöhte Morbiditäts- und Mortalitätsrate der dort internierten Menschen mündete nur kurz darauf in ein Überdenken der eigenen Arbeit. Professionspolitisch ähn701 Stransky 1919 , 371. 702 Vgl. Kolb , hier : 163 f. 703 Ebd., 164.

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5. Wissen in Bedrängnis?

lich weitreichende Forderungen der Disziplin formulierte wenige Jahre danach der spätere Rassenhygieniker Hans Luxenburger in einem Leitartikel der Psychiatrisch-­ Neurologischen Wochenschrift : „Es gibt keinen Zweig der Heilkunde , bei dem die Tätigkeit des Arztes eine so vielseitige und umfassende ist , wie in der Anstaltspsychiatrie. Der Arzt ist nicht nur Spezialist in einem eng begrenzten Kompetenzkreis , sondern auch Berater , Freund und Fürsorger , in nicht zu seltenen Fällen sogar Erzieher und Bildner seiner Kranken.“704

Zum ärztlichen Aufgabenbereich zählte auch die Abhaltung von Sprechstunden zur Beratung und Fürsorge der Angehörigen , welche bei bevorstehenden Entlassungen bis hinein in wirtschaftliche und soziale Belange reichten. Darüber hinaus war ein nicht unwesentlicher Teil der Aufgaben auch administrativer Natur , wie beispielsweise die Erstellung psychiatrischer Gutachten. Als einen wesentlichen Aspekt des Tätigkeitsbereiches der noch sehr jungen psychiatrischen Disziplin betonte Luxenburger jedoch vielmehr die „… weit höheren Anforderungen in Bezug auf selbständiges Denken und Handeln als eine andere medizinische Disziplin , die , auf einen festen Unterbau gegründet , mehr oder weniger nur in ihren Einzelheiten auszugestalten ist. [ … ] Kein Irrenarzt darf sich darauf beschränken , ausschließlich in alten Fußstapfen zu wandern , da ihn diese in vielen Fällen nicht mehr weiter führen. [ … ] jeder muss sich selbst ein Wegebahner sein.“

Insbesondere auf dem Gebiet der Heilpädagogik , die er für die Anstaltspsychiatrie als bedeutende Hilfsdisziplin benannt hatte , sah er „den Schatz eigener , in mühevoller , kritischer und schöpferischer Arbeit erkämpfter Erfahrung als das beste Lehrbuch“ an.705 An dieser Stelle soll eigens auf eine charakteristische Sichtweise der Disziplin hingewiesen werden. Einerseits bezeichneten sich die Vertreter der Psychiatrie als am Anfang einer Entwicklung stehend , andererseits machten sie ihre ‚Erfahrung‘ als entscheidende Kompetenz gegenüber anderen Berufsgruppen und weiteren auch außerinstitutionellen Tätigkeitsbereichen geltend. Die Bedeutungszuschreibung ihrer ‚Erfahrung‘ , sowohl gegenüber einem ‚Lehrbuchwissen‘ als auch einem laienhaften Verständnis psychischer Erkrankungen , stellte ein sehr häufiges Argument dar. Bei der Suche nach dem Selbstverständnis der Anstaltspsychiatrie , ihrer Aufgabenge704 Luxenburger 1924 /  25 , 11. 705 Ebd., 12.

5.3 „Der Weltkrieg, der Kriegsausgang und die Psychiatrie“

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biete und ihrer Handlungsweisen stößt man immer wieder auf diesen Begriff , auf den wie selbstverständlich Bezug genommen wird.706 Dies lässt fragen , ob dieser zufällig gebraucht , oder aber an welchen Stellen und zu welchem Zweck er eingesetzt und auf welches implizite Wissen Bezug genommen wurde. Diesen Zweideutigkeiten soll im Folgenden anhand der Änderungen in der Anstalt Am Steinhof in den 1920er-Jahren nachgegangen werden.

706 Nur beispielsweise : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 26 ( 1924 /  25 ), 1 f. ; ebd., 25 ( 1923 /  24 ), 125 ; ebd., 29 ( 1927 ), 149 f.

6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

6.1 Forderung nach Reformen im „Roten ­W ien“ Im ­Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie plante man bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges Reformen für das ‚moderne Anstaltswesen‘. Zu diesem Zeitpunkt war der Aus- und Neubau zahlreicher zeitgemäßer psychiatrischer Anstalten in fast allen österreichischen Kronländern zwar bereits vollzogen , doch die Zahl der Behandlungsplätze war noch immer zu gering. Vor allem aber galt es , die Aufgaben der psychiatrischen Betreuung weiter zu fassen. So forderte Josef Starlinger , ebenso wie auch viele andere Vertreter seines Standes , 1914 in seinem Referat „Über den gegenwärtigen Stand des Schutzes und der Fürsorge für Geisteskranke“ zusätzliche Versorgungskapazitäten für eine differenzierter zu behandelnde Patientenschaft : Demnach fehlte es in der gesamten Monarchie an öffentlichen Anstalten für „Alkoholiker , Epileptiker , Schwachsinnige , Psychopathen und Kriminelle“.707 Derartige Sub-Institutionen waren zwecks Weiterentwicklung der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ seit einigen Jahren bei den zuständigen Verwaltungen immer wieder eingeklagt worden. Eine fachlich organisierte Fürsorge , sowohl , um prophylaktisch Internierungen zu vermeiden , als auch Kranke nach ihrer Entlassung weiter betreuen zu können , sollte die nun verstärkt sozialpsychiatrisch orientierte Anstaltspsychiatrie ergänzen. Dazu zählten längst nicht nur ein Hintanhalten der Internierungen beziehungsweise umgekehrt die Unterstützung von Rekonvaleszenten , sondern auch Einrichtungen zur Bekämpfung des Alkoholismus , wie Trinkerberatungsstellen , Vereine zur Förderung der Alkoholabstinenz und Trinkerheil- und Trinkerversorgungsanstalten. Das Fehlen spezieller Einrichtungen eigens für „Epileptiker und Schwachsinnige“ galt als große Belastung für Angehörige wie für die Kranken selbst. Die Unterbringung psychisch Kranker , die mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren , blieb , wie im dritten Kapitel ausgeführt , eine sowohl in psychiatrischen als auch juristischen Fachkreisen unverändert breit diskutierte Thematik. Die Frage der Behandlung der angeblich stetig steigenden Zahl der „Psychopathen“ galt als eine in der Natur dieser besonderen

707 Starlinger 1914 , 50. Diese Forderung nach speziellen Heimen für „Psychopathen , Alkoholiker und Epileptiker“ findet sich wiederholt in den Quellen. Bloß beispielsweise : Dreikurs 1925 , 258.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Erkrankungsart liegende , folglich auch gesondert zu behandelnde , vor allem aber als gänzlich ungelöste Problematik.708 Thema der nachfolgenden Abschnitte sind die Am Steinhof in den 1920er-Jahren durchgeführten Reformen , die einerseits Folgen der seit der Jahrhundertwende debattierten , eingeforderten und partiell umgesetzten Entwicklungen waren , in die andererseits der sozialreformerische Geist jener Zwischenkriegsepoche hineinwirkte. Nach Kriegsende kam es , wie im vorhergehenden Kapitel ausgeführt , zu einem generationenbedingten Wechsel in der Leitung. Zudem ging die Verwaltung der Anstalt von der Niederösterreichischen Landesregierung auf das nun eigenständige Bundesland ­Wien über. Diese Umbrüche in der Anstaltsorganisation gingen einher mit Veränderungen gesamtgesellschaftlicher Natur. Der Erste Weltkrieg gilt als Geburtshelfer des modernen Wohlfahrtsstaates , da er diverse sozialpolitische Reformen und institutionelle Neuerungen nach sich zog.709 Zu Letzteren zählte vor allem das unmittelbar nach Kriegsende neu gegründete Staatsamt beziehungsweise das – ab 1920 umbenannte – Bundesministerium für Soziale Verwaltung. Dieses setzte seine Prioritäten zunächst im Bereich der Arbeiterschutzbewegung und den Mitbestimmungsrechten für Arbeiter ; Armenwesen und öffentliche Fürsorge hingegen waren wichtige Agenden der kommunalen Fürsorgepolitik. Das nach Kriegsende Selbstständigkeit erlangende Bundesland ­Wien konnte aufgrund der politischen Machtverhältnisse im Vergleich zu den stark agrarisch geprägten Bundesländern eine Sonderrolle einnehmen.710 Der Durchbruch der modernen Massendemokratie erlaubte es der ­Wiener Sozialdemokratischen Partei , eine auch im internationalen Vergleich einzigartig starke und stabile politische Majorität zu erlangen , die sie bis zum gewaltsamen Ende der Ersten Republik halten konnte.711 Das Fürsorgewesen im „Roten ­Wien“ unterschied sich von den Reformbewegungen anderer österreichischer Bundesländer durch seinen konzeptionellen Ansatz und seine diversifizierte institutionelle Ausbildung. Die regierenden Sozialdemokraten propagierten die Kommunalpolitik der Gemeinde ­Wien immer wieder als anschauliches Beispiel für die praktische Überlegenheit sozialistischer Politik – und nicht zuletzt erhoffte man , mithilfe des Erfolgs dieser Reformen die österreichweite Parlamentsmehrheit zu erlangen. Die Schwerpunkte lagen im Bereich der Fürsorge , im Sozial- und 708 Starlinger 1914 , 50–52. 709 Vgl. allg. zu den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in Deutschland , welche mit der herkömmlichen Armenpflege nicht mehr zu bewältigen waren , zugleich aber der staatlichen Interventionspolitik eine neue Dimension gaben : Sachße , Tennstedt 1988. 710 Melinz , Ungar 1996 , 22. 711 Vgl. zu den finanziellen Rahmenbedingungen zur Realisierung der kommunalpolitischen Reformen : Konrad 2008 , 230 f.

6.1 Forderung nach Reformen im „Roten ­Wien“

213

Gesundheitswesen sowie in der Wohnbaupolitik.712 Julius Tandler , zunächst Unterstaatssekretär im Volksgesundheitsamt und ab 1919 Stadtrat für Wohlfahrt und Gesundheit , prägte maßgeblich das in großem Stil umgesetzte Programm der Kommunalpolitik , welche den Fürsorgebedürftigen ein Recht auf Fürsorge zuerkannte.713 Sein Fürsorgekonzept orientierte sich am Leitbild eines produktiven , leistungsfähigen „Volkskörpers“ als Ganzem. Dieses Leitbild war keineswegs vage Utopie : Effizienz war dabei ein zentrales Kriterium der Umsetzung , und zwar sowohl auf ökonomische Faktoren als auch auf einzelne Personen bezogen. Der Großteil der Investitionen in die Fürsorge einzelner Personen zielte auf zukünftige Kostenersparnisse und eine kostengünstige wie erfolgsorientierte Verwaltung des „Volkskörpers“, den man in einer sehr radikalen Ökonomisierung des Denkens als „organisches Kapital“ ansah.714 Dieser Logik folgend , favorisierte Tandlers präventiv ausgerichtetes Konzept die Jugendfürsorge. Soziales Elend und „körperliche und geistige Minderwertigkeit“ sollten , so sein Programm , bereits im Keim erstickt werden. Hierbei zielte die neue Politik im „Roten ­Wien“, im Gegensatz zur früheren traditionell repressiven Armenpolizei und der paternalistischen Ausrichtung christlich-sozialer Wohltätigkeit , nun explizit auf normierende gesellschaftliche Integration und Verhaltensanpassung. Die Legitimation der zahlreichen , von oben verordneten , gesundheitspolitischen Präventionsstrategien war ein integratives und gleichzeitig nutzenorientiertes Erziehungsziel : Fürsorgebedürftige sollten zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht werden. Julius Tandler differenzierte hierbei klar zwischen „lebenstüchtig“ und „lebensuntüchtig“. Die Budgetpolitik des ­Wiener Gemeinderats war zumindest unterschwellig von diesem dualistischen und zugleich ökonomistischen Denken des Volkswohls bestimmt und fand ihren Niederschlag in der Unterscheidung zwischen „bevölkerungspolitisch produktiven“ und „bevölkerungspolitisch unproduktiven“ Ausgaben.715 712 Der Schwerpunkt der Gemeinde ­Wien auf die Wohnbaupolitik ist deutlich erkennbar in : Gemeinde ­Wien , Das Neue ­Wien 1926. Mit der 1920 neu organisierten Geschäftseinteilung unterstanden die Wohlfahrtsanstalten , somit auch die Verwaltung der Anstalt Am Steinhof , der Magistratsabteilung 9. Nach dem Ende der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung wurde 1934 die geschlossene Fürsorge von der Magistratsabteilung 16 übernommen. In : Melinz , Ungar 1996 , 51 f. 713 Löscher 2002a und 2002b ; die 1983 erschienene , von Sablik verfasste Biografie Julius Tandlers ist weitgehend deskriptiv und auch in der jüngst veröffentlichten zweiten Auflage in keinster Weise kritisch gegenüber den eugenischen Bestrebungen der maßgeblichen Person des ­Wiener Wohlfahrtswesens dieser Zeit : Sablik 2010. Tandler war vor seiner Tätigkeit im Bereich des Wohlfahrtswesens Professor für Anatomie und von 1914 bis 1917 Dekan der Medizinischen Universität ­Wien. 714 Tandlers Sichtweisen waren maßgeblich beeinflusst von Rudolf Goldscheids „Menschenökonomie“. Vgl. Fleischhacker 2002. Vgl. allg. zur Eugenik in Österreich : Baader , Hofer , Mayer 2007. 715 Melinz , Ungar 1996 , 30–33.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Ausgehend von den Forschungsarbeiten zum Wohlfahrtswesen im „Roten ­Wien“ stellt sich erstens die Frage , inwieweit die stationäre psychiatrische Versorgung und die Forderungen ihrer Vertreter nach Reformen mit der neuen Ausrichtung der Wohlfahrtspolitik korrespondierten oder nicht doch zumindest partiell autonome , primär auf innerwissenschaftliche oder innerinstitutionelle Diskussionen zurückzuführende Bestrebungen waren. Viele der Änderungsvorschläge bezogen sich , wie eingangs festgehalten , auf eine differenziertere institutionelle Klassifikation der Anstaltsinsassen wie auch die Etablierung präventiver Maßnahmen. Dies lässt erneut nach dem Einfluss der Anstaltspsychiatrie im gesellschaftspolitischen Kontext fragen. Prägten mit der Wissenschaftlichkeit ihres Vorgehens argumentierende sozialdemokratische Initiativen und Wünsche einer Neukonzeptionierung der Gesellschaft die stationäre Versorgung psychisch Kranker ? Tatsächlich wurde Wissenschaft , die wertfrei , objektiv , universell war und einer internen Logik folgte , als ideales Grundprinzip einer demokratischen Gesellschaft angesehen. Moralisch weit über allen anderen sozialen Unternehmungen stehend , sollte sie das Fundament politischer und ethischer Bewertungen bilden. Dabei ging es längst nicht nur um wissenschaftliches Wissen oder Informationen an sich , sondern auch darum , eine wissenschaftliche Denkweise zu vermitteln und Wissenschaft zu einer gemeinsamen Funktionsbasis der Gesellschaft werden zu lassen.716 Die Verwissenschaftlichung des neuen Wohlfahrtswesens explizierte Julius Tandler folgendermaßen : „Aus der Freiwilligkeit ist Verpflichtung , aus dem Gutdünken des einzelnen ist wissenschaftlich begründete Praxis geworden.“ Für die meisten damaligen Sozialdemokraten war der Glaube an Wissenschaftlichkeit mit dem Glauben an deren sozialen Nutzen und daraus folgendem gesellschaftlichen Fortschritt verbunden. Die „wissenschaftlich begründete Exekutive der Bevölkerungspolitik“ war ein wesentliches Instrument der effizient zu gestaltenden „Bewirtschaftung des organischen Kapitals“. „Nicht nur in der Ausbildung zur sozialen Fürsorge und der Wohlfahrtspflege , sondern auch für die Durchführung der täglichen Arbeit sei die Wissenschaft eine grundlegende Prämisse. In jeder Erhebung , jeder Anamnese , hinter jeder Frage und Antwort soll ein fürsorgerischer Zweck stehen , die Antworten sollten die soziale Wahrheit aufdecken. Die Gabe der Beobachtung sei zu wenig , eine Unzahl wissenschaftlicher Voraussetzungen müssten im gegebenen Fall von der Theorie in die Praxis übersetzt werden können.“717

716 Felt 2002 , hier : 52. 717 Tandler 1929 , hier : 7 f. Diese Schrift wurde sogar ins Französische ( 1929 ) und ins Englische ( 1930 ) übersetzt.

6.2 Alkoholismus als „der wunde Punkt der Irrenpflege“

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Im Folgenden sind Auswirkungen und Grenzen dieses Programms für die angestrebte Neuausrichtung der Anstaltspsychiatrie in den Blick zu nehmen. Die sogenannte „Alkoholfrage“ und zahlreiche daran geknüpfte , sowohl gesetzliche als auch dem Wohlfahrts- und Gesundheitsbereich zuzuordnende Regelungen nahmen bereits innerhalb des sozialdemokratischen Parteiprogramms einen zentralen und deutlich ideologisch geleiteten Stellenwert ein.718 Konnten die Ansprüche der Wohlfahrtspolitik des „Roten ­Wien“ Am Steinhof in ein konkretes , wissenschaftlich fundiertes Programm überführt werden ? In welchem quantitativen Verhältnis standen die sowohl stationären als auch die seitens der Anstalt initiierten Reformen im Bereich der Fürsorge zu ihrer Verwirklichung ? Lassen sich zwischen der sozialdemokratischen und eugenisch motivierten Politik und dem Ausbau der offenen Fürsorge und der Beschäftigungstherapie Zusammenhänge erkennen ? Welche Heilungserwartungen wurden an die in den späten 1920er-Jahren initiierte Forschungstätigkeit bei Epilepsiekranken geknüpft ? Oder basierten Fortschrittsoptimismus und Reformen gar nur schlicht auf einem technizistischen Einteilungsdenken ?

6.2 Alkoholismus als „der wunde Punkt der Irrenpflege“719 Im Verein für Psychiatrie wurde die Problematik des weitverbreiteten Alkoholismus erstmals 1874 unter dem Aspekt etwaiger rechtlicher Maßnahmen zur Beschränkung des Alkoholkonsums erörtert.720 Hinsichtlich dieser Sucht hatten sich im späten 19. Jahrhundert zwei , in der zeitgenössischen Literatur als antagonistisch beschriebene Sichtweisen herausgebildet. Die sogenannten „Abstinenten“, Anhänger des absoluten Alkoholenthaltungsimperativs , reklamierten die „Wissenschaftlichkeit“ ihrer Theorien für sich. Vor allem Emil Kraepelins ( 1856–1926 ) Laborversuche gaben der neuen Bewegung wissenschaftliche Begründungen an die Hand.721 Ihre Verfechter beriefen sich auf psychophysiologische Testverfahren , Nachweise herabgesetzter Widerstandsfähigkeit bei Infektionen und statistische Korrelationen des 718 Vgl. zu den gesetzlichen Regelungen betreffend der Alkoholabgabe und -besteuerung , den Forderungen der Antialkoholbewegung und insbesondere der maßgeblich dafür engagierten Sozialistischen Partei in der Ersten Republik : Eisenbach-Stangl 1991 , 284–314. Siehe auch : Tandler , Kraus 1936. Die Abstinenzbewegung war ein wichtiges Einfallstor eugenischer Ideen in der Sozialdemokratischen Partei : Hubenstorf 2002 , 279 f. 719 Tilkowsky 1902 , 204. 720 Gauster 1874. 721 Als das erste , breiter angelegte medizinische , statistische , historisch-soziale Kompendium gilt das Buch des Sanitätsrates und Oberarztes des Gefängnisses Berlin-Plötzensee : Baer 1878. Vgl. auch Spode 1993 , 203 f.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Auftretens von Alkoholismus und progressiver Paralyse. Vor allem aber wurden die negativen Auswirkungen des Alkohols auf die Nachkommenschaft betont. Ihnen entgegen stünden nach Ansicht der Psychiatrie die „Laien der Heilkunde“, welche „durch vorzeitige Verallgemeinerungen , Übertreibungen und allgemeine Phrasen“ eine systematische Bekämpfung der Trunksucht verunmöglichten.722 Neben Kraepelin zählten der Leiter der Anstalt Burghölzli in Zürich , Auguste Forel ( 1848–1931 ), und auch sein Nachfolger , Eugen Bleuler ( 1857–1939 ), zu den wichtigsten frühen Vertretern der Abstinenzbewegung. Sie untersagten in ihren Institutionen jegliche Verabreichung von Alkohol. Ihrem Beispiel waren die Leiter der beiden niederösterreichischen Anstalten in Kierling-Gugging und Klosterneuburg schon früh gefolgt. Hintergrund der unterschiedlichen Standpunkte war einerseits die Frage , ob bei Kranken , die wegen ihrer Entzugserscheinungen stationär behandelt wurden , Alkohol in geringen Dosen verabreicht werden sollte , andererseits , ob dieser in psychiatrischen Anstalten generell nicht mehr eingesetzt werden dürfe. Denn bis dato wurde Alkohol aus therapeutischen Gründen , beispielsweise bei Infektionskrankheiten , Erschöpfungs- und Schwächezuständen , bei „Melancholie , Anämie und Chlorose“, als Schlafmittel und Hypnotikum , aber auch , relativ unhinterfragt , arbeitenden Pfleglingen zur „Erfrischung und Erhöhung der Arbeitslust“ gegeben. Eine von Adalbert Tilkowsky , Direktor der ­Wiener Anstalt Am Brünnlfeld , erstellte Umfrage an 128 Anstalten und Kliniken des deutschen Sprachraumes zeigt , dass um 1900 nur zehn dieser Institutionen eine „Totalabstinenz“ für nötig hielten.723 In den niederösterreichischen Anstalten war – als den ersten im deutschen Sprachraum – die Abgabe von Alkohol nur über eine ärztliche Verordnung als Medikament möglich. Auch waren entsprechende Naturalbezüge an das Personal eingestellt und durch Lohnzulagen ersetzt worden.724 August Forels 1892 erschienene Schrift über die Trinkerasyle prägte maßgeblich das ab der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkt einsetzende Engagement von Medizinern gegen den Alkoholismus , die diesen nicht mehr als „lasterhafte Willensschwäche“, sondern vielmehr als behandlungsbedürftige Krankheit ansahen.725 Der 722 Lilienstein 1901. 723 Tilkowsky 1902 , 207. Vgl. dazu auch die Stellungnahmen einzelner Anstaltsleiter : Psychiatrische Wochenschrift 3 ( 1901 /  02 ), 328 f. Bericht der Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und Neurologie in ­Wien im Oktober 1901. Kontroverse Stellungnahmen dazu : Hoppe 1901 /  02 ; Schlöß 1902 /  03. 724 Gerényi 1908 /  09 , 397. 725 Fischgrafe 1931 , 6 f. Als deren Beginn gilt die Gründung des „Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ ( 1883 ), dessen vorrangiges Ziel es war , gesetzliche Änderungen zu erlangen und ein Bewusstsein für die Problematik in der Bevölkerung zu schaffen. 1903 wurde der Verband der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes gegründet ; 1905 existierten 31 , 1912 bereits 48 Trinkerheil-

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1901 in ­Wien tagende „VIII. Internationale Congress gegen den Alkoholismus“ zielte auf die Aufklärung weiter Kreise der Bevölkerung. Die in dieser Frage Engagierten waren sich vor allem in einer Sache einig , nämlich der Bedrohung der Gesellschaft durch den Alkoholismus. Der Hauptvortrag August Forels zur „Alkoholfrage als Cultur- und Rasseproblem“ stellte diese , maßgeblich von der Degenerationstheorie gestützten Annahmen einer Gefährdung in den Mittelpunkt seiner Ausführungen : „Die Entartung durch Schädigung des Keimplasmas der Erzeuger“ bezeichnete er unter Berufung auf viele andere Autoren als die Hauptursache von Epilepsie oder Idiotie , und er zog auch direkte Verbindungen zwischen dem Alkoholismus und dem Begehen von Straftaten.726 Die Niederösterreichische Landesverwaltung begann 1898 , „notorisch Trunksüchtige“ in der Gesamtbevölkerung erstmals statistisch zu erfassen. Zu deren institutioneller Versorgung wurden um die Jahrhundertwende zwei unterschiedliche , aber einander ergänzende Modelle diskutiert. Erstens sollten Trinkerheilanstalten eingerichtet werden , die , wie deren Bezeichnung bereits verrät , prinzipiell dem Konzept der Heilbarkeit verpflichtet waren. Hinsichtlich ihrer Konzipierung war man sich jedoch uneins , nämlich , ob die Aufnahme der Alkoholiker zwangsweise oder , wie vor allem von August Forel vertreten , freiwillig erfolgen sollte.727 Erste Pläne und auch konkrete finanzielle Zusagen des Landtages zur Einrichtung einer Niederösterreichischen Trinkerheilanstalt waren 1893 mangels Möglichkeit der zwangsweisen „Trinkeranhaltung“ gescheitert.728 Diese außerhalb der Kompetenz von Verwaltung und Psychiatrie stehende und gänzlich ungelöste Frage verband sich nach Wagner-Jauregg mit dem Problem der Leitung einer solchen Einrichtung. Er war der Ansicht , dass die schwierige Führung einer Trinkerheilstätte nur über persönliches Engagement und Enthusiasmus zu erbringen , folglich diese Einrichtung der katholischen Kirche zu überantworten sei.729 In Niederösterreich war bereits einige Jahre zuvor eine „im religiösen Geiste“ geleitete Trinkerheilstätte begründet worden. Diese war aber nicht nur sehr klein und , wie am Internationalen Congress wiederholt kritisiert wurde , inmitten eines Weinbaugebietes gelegen , sondern auch zu einem Zeitpunkt

726 727 728 729

stätten in Deutschland. Vgl. Sournia 1990 ; zum Alkoholismus als ein im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erkanntes Krankheitsbild und der Klassifikation alkoholbedingter Krankheiten : Madden 1995 ; Brown 1995. Wlassak 1902 , 29–35. Neben den benannten Schriften siehe auch : Anonym , Die Trinkerfrage 1899. Tilkowsky 1902 , 202 f. Vgl. dazu auch die vorbereitenden Arbeiten : Wlassak 1893 ; Gerényi 1893. Wagner-Jauregg , Diskussionsbeitrag. In : Wlassak 1902 , 244. Rudolf Wlassak wandte sich dezidiert gegen diesen Standpunkt. In : ebd., 246 f.

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eröffnet worden , als die Abstinenzbewegung noch keinerlei relevanten gesellschaftlichen Rückhalt besaß.730 Von Trinkerheilstätten streng unterschieden und einhellig von allen Beteiligten des besagten Kongresses vehement eingefordert , war zweitens die Einrichtung von „Trinkerasylen“. Diese zur Unterbringung „versorgungsbedürftiger unheilbarer Trunksüchtiger“ zu konzipierenden Anstalten sollten nach Fedor Gerényi „ein Mittelding zwischen Versorgungs- und Zwangsarbeitsanstalt“ sein und dazu dienen , „die dem Laster der Trunksucht unrettbar verlorenen , an Jahren vorgerückten criminellen Trunkenbolde zu ihrem eigenen Besten und dem Schutze der Gesellschaft unter Entzug von Alkohol dauernd zu verwahren“.731 Die Bedeutung dieses Versorgungsmodells wurde somit nicht nur mit den individuellen Nachteilen der Sucht für die Betroffenen begründet , sondern auch mit der von ihnen ausgehenden angeblichen „Gemeingefährlichkeit“, sowohl hinsichtlich erhöhter Verbrechensquoten als auch bezüglich der Gefahr für deren Nachkommenschaft. Die Chancen einer Entwöhnung wurden bei Unterbringung in „Trinkerasylen“ als sehr gering angesehen.732 In psychiatrischen Anstalten hingegen sollten lediglich Alkoholkranke , die akute Delirien , Halluzinationen oder Geistesstörungen anderer Art zeigten , aufgenommen werden. Zwar galten die chronischen Alkoholiker als die besten Arbeiter im Anstaltsbetrieb , dennoch wurden sie aber als besonders störend beurteilt : „Sie sind das schwer zu beaufsichtigende , zur Opposition geneigte Element , welches alle Freiheiten beansprucht , die anderen Kranken gewährt werden , sie am häufigsten missbraucht , das alle Zubußen anderer Kranken haben will und nie zufrieden ist , das auch häufig am meisten Rohheit in die Anstalt einschleppt.“733

Keine der oben benannten Forderungen wurde vorerst umgesetzt. Alkoholiker wurden in Österreich , wie auch in anderen Ländern , weiterhin in psychiatrischen Anstalten untergebracht und waren dort nicht nur ein beständiger Stein des Anstoßes , sondern machten in der Tat einen relativ hohen Anteil der Insassen aus.734 730 Niederösterreichischer Landesausschuss 1899. Die Einrichtung war für zehn Patienten konzipiert , die Kosten für den sechsmonatigen Aufenthalt übernahm das Land Niederösterreich. Sie musste ihren Betrieb während des Ersten Weltkrieges einstellen. Gerényi bezeichnete diese Einrichtung wegen des Zeitpunktes ihrer Eröffnung als „einen Schlag ins Wasser“, an dem er selbst mit schuld gewesen sei. In : Wlassak 1902 , 242 f. 731 Gerényi 1902 , 371. 732 Gauster 1889. 733 Ebd., 341. Mit „Zubußen“ waren die den arbeitenden Kranken gewährten Vergünstigungen gemeint. 734 Tilkowsky errechnete in der von ihm geleiteten ­Wiener Anstalt für psychisch Kranke für die Jahre 1885 bis 1900 den durchschnittlichen Anteil der Alkoholiker zwischen 24 und 40 Prozent : Tilkowsky 1902 ,

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Als Ursache der ungeklärten Zuständigkeit für diesen Krankentyp machte man die mangelnde rechtliche Entscheidungsgrundlage aus , die Praxis operierte nach Ansicht der Anstaltsleiter in einer Grauzone : „Gewohnheitstrinker werden oftmals bei mäßiger Intelligenzabschwächung durch ihr Leiden gerichtlich als blödsinnig erkannt ; [ … ] dieselben aber werden , durch ihr degeneriertes Nervensystem , der Reizbarkeit und Willensschwäche alsbald nach ihrer Rückkehr in die Welt , dem Trunke verfallend , wieder gemeingefährlich.“735

Die „Alkoholikerfrage“ ging man in der ­Wiener Anstalt Am Brünnlfeld mit zweifacher Strategie an. Diejenigen , die nur kurz interniert waren und nach Meinung der Experten Symptome psychischer Krankheit zum Zweck der Aufnahme bloß simulierten , wurden aufgrund verstärkter Anwendung polizeilicher Mittel erst gar nicht mehr aufgenommen. Die zweite – und quantitativ bedeutendere – Möglichkeit bestand in der ab 1897 praktizierten , möglichst raschen Entlassung von Alkoholikern. Das radikale Vorgehen der „­Wiener Irrenärzte“ unter der Führung von Adalbert Tilkowsky traf allerdings auch auf Widerspruch. In der Psychiatrischen Wochenschrift wurde Tilkowskys Entscheidung entschieden missbilligt , da außer der verminderten Aufnahmezahl keinerlei Lösung der Problematik erreicht sei.736 Diesem simplen Hintanhalten der Unterbringung von Alkoholikern stand das , insbesondere von August Forel und Eugen Bleuler vertretene Modell einer psychiatrischen Behandlung entgegen. Die dieser Form der Versorgung stets als vorgelagert angesehene Schwierigkeit bestand , wie bereits erwähnt , in der mangelnden rechtlichen Grundlage der Anhaltung. Die Notwendigkeit einer Institution zur Betreuung alkoholsüchtiger Personen wurde in den verschiedenen Entwürfen zur Strafrechtsreform wiederholt mit eingebracht. Bei diesen Gesetzesvorlagen war aber stets die Frage der Verantwortlichkeit von Straftaten , die im alkoholisierten Zustand begangen wurden , wie auch die Unterbringung dieser Delinquenten , im Zentrum der Auseinanderset203. Die Zahl der Alkoholikerinnen wurde als wesentlich geringer angesehen und erst gar nicht statistisch erfasst. 735 Gauster 1889 , 337. 736 Delbrück 1901 /  02 , 312. Delbrück war Vorsitzender des Vereins und Direktor der Anstalt in Bremen. Diese Vorgangsweise wurde am VIII. Internationalen Congress gegen den Alkoholismus wiederholt kritisiert , unter anderem von August Forel. In : Wlassak 1902 , 237. Julius Wagner-Jauregg stellte sich in dieser Angelegenheit hinter Tilkowsky und beschrieb dabei die Vorgehensweise anderer Anstalten , die mittels Verlegungen zum selben Resultat führten : „Sie [ die Direktoren ] haben es nur schlauer gemacht , weniger couragiert. Sie haben sie [ die Patienten ] nach Klosterneuburg geschickt , und der dortige Direktor hat sie entlassen.“ Die Zuhörerschaft [ am Kongress ; S. L. ] reagierte darauf mit „lebhafter Heiterkeit“. Ebd., 246.

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zungen verblieben.737 Bei nicht unter Vormundschaft stehenden Personen wurde in der Praxis alternativ ein „moralischer Zwang“ ausgeübt. Den Betroffenen wurde nämlich entweder die Internierung in einer Zwangsarbeitsanstalt oder aber die Entmündigung selbst angedroht. Somit blieben Fragen des Umgangs mit Alkoholismus vorerst eng an die unfreiwillige Internierung gebunden. Zwar existierten im deutschen Sprachgebiet ( nicht aber in Österreich ) um die Jahrhundertwende über 40 Trinkerheilanstalten , die auf dem Prinzip eines selbstbestimmten Entzugs basierten. Dort aber konnte nur ein kleiner und – wie noch ausführlich gezeigt werden soll – bestimmter Teil der Betroffenen untergebracht werden. Im Organ der Anstaltspsychiater wurde hierzu resignierend festgestellt : „Die größere Gruppe der Alkoholiker könne gar nicht in Trinkerheilanstalten gehalten werden. Sie sind es , die social am lästigsten sind , und vor denen sich die Gesellschaft in irgendeiner Weise schützen sollte. Sie sind es , die [ in Deutschland ; S. L. ] zum neuen Entmündigungsgesetz Anlass gegeben haben. Sie sind es , die man in deutschen Irrenanstalten gerne los sein möchte und die man aus den ­Wiener Anstalten rausgeschmissen hat ! Sie sind es aber auch , die zu einem größten Theile unheilbar sind , weil sie entweder zu willensschwach oder in anderer Beziehung in höherem Grade geistig defekt sind.“738

Den vielfachen und untereinander eng verknüpften Forderungen nach rechtlichen , institutionellen und auch therapeutischen Maßnahmen im Umgang mit der Problematik Alkoholismus war längere Zeit mit keinerlei konkreten Maßnahmen begegnet worden. Die Zahl der internierten Alkoholkranken wurde regelmäßig statistisch erfasst und deren häufige Wiederaufnahme besonders sorgsam registriert :739 Die Anzahl der Alkoholiker Am Steinhof war in Relation zu den Gesamtaufnahmen starken Schwankungen unterworfen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lag deren Anteil zwischen 13 und 19 Prozent , während des Krieges sank dieser auf zwei bis drei Prozent , 1922 war das Vorkriegsniveau mit 14 Prozent in etwa wieder erreicht. Der bis 1925 auf knapp 36 Prozent angestiegene Anteil spiegelte – wie in zeitgenössischen Veröffentlichungen auch festgehalten – jedoch keineswegs nur den Anstieg des Alko737 Vgl. zur Frage der Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher : Eder-Rieder 1985 , 97 f. Die Unterbringung in eine „Trinkerheilanstalt“ von Straftätern und -täterinnen , welche unter dem Einfluss von Alkohol agiert haben , wurde 1919 als mögliche Maßnahme benannt , sollte aber erst im Jahre 1971 Eingang ins Gesetz finden. 738 Delbrück 1901 /  02 , 314. 739 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ o. Z. / 1908. Die hierzu eigens erstellten Zählkarten waren an die für die Statistik verantwortliche Mag. Abt. 21 einzusenden , die wiederum einen Bericht für die k. k. Niederösterreichische Statthalterei zu verfassen hatte.

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holismus in der ­Wiener Bevölkerung , sondern auch die erhöhte Aufmerksamkeit der Behörden gegenüber dieser Gruppe wider.740 Heinrich Schlöß erstellte akribisch Tabellen und sprach sich deutlich gegen die Unterbringung der von ihm sogenannten „Spitalsbrüder“ aus. „Diese Degenerierten“ wären seiner Ansicht nach in nicht-psychiatrischen Anstalten weitaus kostengünstiger zu verpflegen. Die Überfüllung der Institution Am Steinhof sollte mittels Transferierungen der „depravierten chronischen Alkoholiker und ähnlicher Elemente“ in die Landeszwangsarbeitsanstalt in Korneuburg behoben werden.741 Aktive Maßnahmen beschränkten sich darauf , diese Patienten und ihre Angehörigen bei der Entlassung darüber zu belehren , dass der Rückfall bereits beim Genuss geringster Mengen von Alkohol sehr wahrscheinlich sei. Für alle Betroffenen gab es das Angebot , sich einem Abstinenzverein anzuschließen , beziehungsweise übermittelte gar die Anstaltsleitung die Anschriften der ehemaligen Patienten an den Zentralverband der österreichischen Alkoholgegner.742 Das erste , den Gesundheitsbereich regelnde Gesetz , welches „Trunksüchtige“ explizit mit bedachte , war die Entmündigungsordnung von 1916. Für „Verschwender“, „Trunksüchtige“ und dem „Nervengift Ergebene“ war die beschränkte Vormundschaft vorgesehen. Ungleich der vollen Entmündigung konnte diese Form des teilweisen Entzugs der Vollrechtsfähigkeit auch in Form einer Androhung ausgesprochen werden : Wenn „zu erwarten ist“, dass der zu Entmündigende „sich bessern werde“, konnte dieser Beschluss mit der Auflage einer Heilbehandlung von mindestens sechs und höchstens zwölf Monaten in einer Entwöhnungsanstalt hintangehalten werden. 743 Mit diesem Gesetz wurden Alkoholiker und Alkoholikerinnen erstmals der medizinischen Kontrolle unterworfen , doch im Unterschied zu geistig Kranken nicht durch polizeilich durchsetzbaren Zwang , sondern mittels Ausübung von Druck. Das Gericht konnte eine Entmündigung auch nur über den Antrag eines Verwandten , eines Staatsanwaltes , eines Vorstehers der Aufenthalts- oder Heimatgemeinde oder eines Armenpflegers einleiten. Der Sonderstatus , den der Gesetzgeber dem Problem Alkoholismus beimaß , wurde in dem 1920 erlassenen Krankenanstaltengesetz noch deutlicher , denn dieses bestimmte Alkoholismus als eine regelrechte Erkrankung. Diese Regelung subsumierte Trinkerheilanstalten de jure dem medizinischen Bereich und legte fest , dass behandlungseinsichtige und behandlungswillige „Trunksüchtige“ in gesonderten Anstalten

740 Gemeinde ­Wien , Das Neue ­Wien 1927 , 518 f. Die dort angegebenen Zahlen stimmen exakt mit den in den Direktionsakten dokumentierten Angaben überein : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 148 / 1926. 741 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ 78 / 1910. 742 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Kranken-Angelegenheiten‘ o. Z. / 1912. 743 Dies besagte der § 36 der Entmündigungsordnung. In : Eisenbach-Stangl 1991 , 234 f.

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und ohne Zwangsvorschriften therapeutisch zu betreuen sind.744 Die grundsätzliche und als genuin ärztliche Aufgabe angesehene Maßnahme bestand in der Separierung „heilbarer“ und „nicht heilbarer Alkoholiker“. Dieses Vorgehen korrespondierte mit den gesetzlichen Vorgaben zum Umgang mit dem Alkoholismus. Die medizinische Zuständigkeit und Behandelbarkeit von Alkoholismus war auch der zentrale Ansatzpunkt des Physiologen Rudolf Wlassak ( 1865–1930 ).745 Er war Herausgeber der ab 1902 erschienenen Zeitschrift „Der Abstinent“ und Gründungsmitglied des 1905 initiierten Sozialdemokratischen Arbeiter-Abstinentenbundes in ­Wien. Der als einziger auch in einer Partei verankerte Abstinenzverein war zugleich der „Zentralverband der Alkoholgegner Österreichs“. Wlassak stellte sich in seinem Hauptwerk , dem „Grundriss zur Alkoholfrage“, ganz in die Tradition August Forels , der die Heilung vom Alkoholismus erstmals als ärztliche Aufgabe markiert hatte.746 Ein Zuständigkeitsanspruch der Mediziner dieser bis dato gesellschaftlichen und sozialen Problematik war nur möglich , wenn man von einer prinzipiellen Heilbarkeit der Sucht ausging. In die Therapien wurden Elemente von Behandlungsversuchen durch Laien übernommen , beispielsweise die Grundsätze – nun in deutlicher fachlicher Abgrenzung – des „Schuhmachermeisters und Blaukreuzmitgliedes“ Heinrich Boßhardt. Dieser hatte schon länger die völlige Abstinenz von Alkohol propagiert wie auch die „seelische Beeinflussung“ der Süchtigen als das Mittel der Wahl angepriesen. Er galt auch als derjenige , der Forel erst die Möglichkeit einer etwaigen Heilung vor Augen geführt hätte.747 Die für seine Zeit bahnbrechenden Leistungen des „Schuhmachermeisters“ wurden zwar anerkannt , dennoch drang man auf Professionalisierung : Laut Wlassak könne erst der „erfahrene Irrenarzt“ Grundsätze dieser Art vervollkommnen. Der nun dezidiert wissenschaftliche Anspruch begründete sich schlicht darauf , dass , im Unterschied zu bisherigen Modellen des Entzuges , die bislang als „Gesinnung“ bezeichnete Haltung der totalen Abstinenz aller an der Behandlung Beteiligten nun zum zentralen und vor allem „ärztlichen Grundsatz“ wurde. Weitere Strategien der professionellen Abgrenzung zu früheren Modellen der Behandlung von Alkoholikern betrafen die strikte Ablehnung von offenbar weitverbreiteten , die Nebenwirkungen des Vorgehens mäßigenden „Trunksuchtmitteln“, die , nun wenig überraschend , als „Scharlatanerie“ verpönt wurden und die Ablehnung von „Ner-

744 Ebd. 745 Wlassak war von 1918 bis 1919 Volontärassistent bei Eugen Bleuler am Burghölzli in Zürich gewesen. Vgl. die Angaben zu seiner Person in : Gabriel 2007 , 175 f. ; Kreuter 1996 , Bd. 3 , 1597 f. 746 Wlassak 1922 / 1929. Die folgenden Verweise aus dieser Studie stammen aus der Ausgabe von 1929. 747 Wlassak 1922 / 1929 , 183 f.

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vensanatorien“, die ebenfalls Entzugskuren anboten , aber einen gemäßigten Genuss von Alkohol tolerierten.748 Wlassak sah die gesetzliche Regelung von 1916 – und die damit gegebene , neuartige Möglichkeit der beschränkten Entmündigung für Süchtige – als ein äußerst zweckmäßiges Mittel an. Alkoholiker , die wegen ihrer wiederholten Rückfälligkeit als unheilbar eingestuft wurden , wären hingegen in sogenannten „Trinkerasylen“ unterzubringen. Die letztere Form der Internierung dürfe seiner Ansicht nach keinesfalls vor dem Ablauf von zwei Jahren enden , da sie nicht nur aus einer medizinischen Notwendigkeit heraus begründet sei. Hierbei solle vielmehr die soziale Indikation , nämlich der Schutz der Familie und der Gesellschaft , im Vordergrund stehen. In der Frage der Anhaltung sollte die psychiatrische Kompetenz entscheidend sein. So stellte Wlassak fest , dass das rechtliche Verfahren auch ganz kurz gehalten werden könne , wenn die medizinische Voruntersuchung bei diesen Kranken bereits einmal stattgefunden habe. Die Entlassung aus einem „Trinkerasyl“ dürfe auch nur probeweise erfolgen , dabei verstehe es sich wohl von selbst , wie der maßgebliche Vertreter der Abstinenzbewegung meinte , dass es bei vielen Betroffenen zu einer Internierung auf unbestimmte Zeit käme.749 Zudem müsse bei „deren Haltung und Disziplinierung auch eine viel schärfere Note angeschlagen werden , natürlich ohne irgendwie grausam zu werden“.750 Sentimentale Gründe bei solch einem Verfahren würden sich , so Wlassak , angesichts des Unheils , welches durch Alkoholiker angerichtet werde , ohnehin verbieten : „Nebenbei gesagt , spricht für eine derartige Anhaltung auch der rassenhygienische und kriminalpolitische Gesichtspunkt , da erstens die Zahl der Nachkommenschaft der Trinker durch diese Maßregel jedenfalls fühlbar herabgesetzt werden wird , zweitens eine Unzahl von Delikten unmöglich gemacht würde , da gerade unter den rückfälligen Trinkern sich eine große Zahl findet , die in irgendeiner Richtung kriminell veranlagt ist.“751

Einrichtungen wie diese müssten deutlich von Trinkerheilstätten zu differenzieren sein , bloß deren Existenz biete ein brauchbares Mittel zur Abschreckung behandlungsunwilliger Personen.752 748 Ebd. 749 Ebd., 200 f. 750 Ebd., 201. 751 Ebd. Seine Sichtweise zu den „rassenhygienischen Pflichten“ der Gesellschaft findet sich noch deutlicher formuliert in : Wlassak 1910. 752 In Salzburg gab es ein psychiatrisch geleitetes Heim für Alkoholkranke ; eine ähnliche Institution gab es auch in Klosterneuburg. 1931 wurde in Kärnten von der evangelischen Stiftung „de la Tour“ ein – allerdings nicht von Medizinern geleitetes – Heim gegründet. In : Eisenbach-Stangl 1991 , 255.

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Sowohl die stationäre Behandlung in der Trinkerheilstätte als auch die ambulante Fürsorge könnten jedoch der Problematik des weitverbreiteten Alkoholismus nur unzureichend gerecht werden. Wlassaks Engagement zur Lösung der „Alkoholfrage“ erstreckte sich auch weit über medizinische Belange hinaus. Er forderte sowohl ein Trinkerfürsorgegesetz zur dauernden Versorgung der als unheilbar klassifizierten Alkoholiker753 als auch die Einrichtung separierter Anstalten zur Versorgung von kriminellen Alkoholikern.754 Wlassak war der Ansicht , dass Kriminalität und Alkoholismus zwar nicht selten gepaart aufträten , betonte hierbei aber explizit die multifaktorielle Genese dieser Sucht. So sprach er sich gegen die deutsche Gesetzgebung aus , welche vorsah , Alkoholiker erst in eine Trinkerheilstätte einzuweisen , nachdem sie eine Straftat begangen hatten. Wlassaks Ansatz beruhte im Unterschied dazu auf der Notwendigkeit einer nun auch prononcierteren medizinischen Behandlung , nämlich bevor es überhaupt zu einer kriminellen Handlung kommen könnte.755 Der Einschluss von Alkoholikern in den medizinischen Zuständigkeitsbereich basierte auf institutionellen und juristischen Vorentscheidungen. Der psychiatrische Erfolgsanspruch beruhte maßgeblich darauf , nur einen sehr kleinen Teil der Alkoholiker in die Behandlung zu übernehmen. Die weitaus größere Zahl der Betroffenen sollte – gewissermaßen als Kehrseite der neuartigen Expertise – rigorosen Beschränkungen unterworfen werden. Wlassak bezeichnete chronische Alkoholiker prinzipiell als geisteskrank , auch wenn unmittelbare Symptome wie Halluzinationen oder Delirien fehlten. Wie er meinte , stelle für einen psychiatrisch gebildeten Arzt der Alkoholismus , auch ohne jede Sinnestäuschung oder in einer Phase von Nüchternheit , eine Geisteskrankheit dar.756 Als Beleg seiner Annahme zog er den Vergleich zu der Situation von Blutern : Menschen , die an Hämophilie litten , seien als potenziell krank zu definieren. Ähnlich gering der Gefahr , dass sie eine noch so kleine , für sie dennoch lebensgefährliche Verletzung vermeiden könnten , gelänge es , so sein Vergleich , einem Alkoholiker , sich selbstständig seiner Sucht zu entziehen. Polizei- und Gerichtsbehörden sei aber eben jene geistige Störung oft nicht verständlich. Behörden , die über eine Anstaltseinbringung zu entscheiden hätten , sollten sich 753 Wlassak 1929 , 29 f. 754 Diese auch als Trinkerdetentionsanstalten bezeichneten Einrichtungen wurden schon um die Wende zum 20. Jahrhundert beispielsweise von Wagner-Jauregg beim Obersten Sanitätsrat als notwendig eingefordert : Wagner-Jauregg , Diskussionsbeitrag. In : Wlassak 1902 , 243 f. 755 Ebd., 201 f. Wlassaks Vorstellungen von Anstalten für kriminelle Trinker entsprachen dem im Trinkerfürsorgegesetz von Zürich und St. Gallen bereits verankerten Versorgungsmodell ; dieses hatte auch im englischen Gesetzesentwurf Eingang gefunden. 756 Diese Ansicht vertrat auch der Wlassak nachfolgende Leiter der Trinkerheilstätte : Gabriel 1933.

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seiner Ansicht nach keinesfalls jener , als „Laienpsychiatrie“ bezeichneten Haltung beugen. Von dieser Analogie zur somatischen Erkrankung machte Wlassak einen Sprung in der Argumentation – denn maßgebende Gründe der Einweisung waren ihm wiederum soziale Indikationen , wie vor allem die Gefährdung der Angehörigen.757 Eben an diese Stelle der auch in der Fachwelt vielfach als ungeklärt geltenden Fragen , nämlich , ob es sich nun um eine geistige Erkrankung handle oder nicht , ob eine Einweisung zum Entzug zwangsweise oder freiwillig oder ob es sich um eine medizinische oder soziale Indikation handle , trat nun die ‚psychiatrische Erfahrung‘ , oftmals die Expertise einer einzelnen Person , die in der Praxis die für die Betroffenen essenziellen Fragen entschied.758 Im Oktober 1922 wurde Am Steinhof die Alkoholikerabteilung unter der Leitung von Rudolf Wlassak eröffnet. Die Abteilung für heilbare Alkoholiker , angegliedert an eine psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt , war in dieser institutionellen Verbindung die erste ihrer Art in Europa. Die wenigen bis zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden Trinkerheilstätten waren selbstständige Institute und unterstanden nicht unbedingt einem Mediziner.759 Insgesamt wurden an der neu etablierten Trinkerheilstätte pro Jahr etwa hundert Alkoholkranke aufgenommen. 760 Dieser Aspekt zeigt deutlich ein Auseinanderklaffen von Reformanspruch und – angesichts der bestehenden sozialen Problematik – der quantitativ wohl kaum befriedigenden Umsetzung des sozialistisch geprägten Reformprogramms. Die neue Abteilung wurde in den Räumlichkeiten der Aufnahmepavillons der Männerseite eingerichtet , die seit deren Verwendung zur Unterbringung verwundeter Soldaten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aus Ersparnisgründen ungenützt geblieben waren. Die Aufnahmewilligen mussten sich verpflichten , ein halbes Jahr lang an der Station zu bleiben , eine Zeit757 Wlassak 1922 / 1929 , 196. 758 Die Expertise der Abstinenzbewegung wurde auch medial untermauert : Am Steinhof wurde ein Propagandafilm gegen Alkoholmissbrauch und Geschlechtskrankheiten gedreht. Die Erlaubnis Julius Tandlers zu den kinematografischen Aufnahmen : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 138 / 1922. Die Angehörigen beziehungsweise die Kuratoren mussten die Teilnahme genehmigen , unklar ist , ob von den Kranken eine Zustimmung eingeholt wurde. Lediglich bei geschlechtskranken Patienten sollten Vorkehrungen getroffen werden , dass „nach Möglichkeit die Abgebildeten nicht zu erkennen sein sollten“. Ebd., 138 / 1922. 759 Die in Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden Institutionen unterstanden der Leitung eines sogenannten Hausvaters und waren zumeist in größerer Entfernung von Städten gelegen , um den Zugang zu Alkohol zu minimieren. Ähnlich der Konzeption der ­Wiener Trinkerheilstätte bestanden in den psychiatrischen Anstalten in Illenau ( Baden ) und in Konstanz angeschlossene Abteilungen und eine eigenständige , aber ähnlich geführte Einrichtung in Fürstenwalde bei Berlin. In : Wlassak 1922 / 1929 , 185. 760 Bis 1928 schwankte die Zahl der Aufnahmen zwischen 96 ( 1925 ) und 111 ( 1924 ). Eine exakte Auflistung findet sich in : Wlassak 1929 , 28.

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spanne , die unterhalb der im internationalen Vergleich üblichen Dauer lag , aufgrund der Übernahme der Verpflegungskosten durch die Stadtverwaltung aber als ein nötiger Kompromiss angesehen wurde.761 Die Etablierung der Trinkerheilstätte innerhalb einer Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke versprach mehrere Vorteile. Neben organisatorischen Gründen , wie die der bestehenden Verwaltung und Bewirtschaftung , wurde sowohl die medizinische Zuständigkeit für diesen Bereich an sich , als auch die bereits vorgegebene Selbstverständlichkeit der geordneten und disziplinierten Lebensführung – ein als wesentlich angesehener therapeutischer Aspekt für den Entzug – als vorteilhaft betrachtet. Die Patienten hatten alle eine sogenannte „freie Sperre“, mit dieser konnten sie sich innerhalb des Anstaltsgeländes autonom bewegen. Die Androhung der Versetzung auf eine psychiatrische Abteilung an Patienten , die sich nicht an die Bedingungen der Entzugskur hielten , war organisatorisch leicht durchführbar und galt Wlassak als ein ausgezeichnetes Mittel , um die Ordnung aufrechterhalten zu können. Die stadtnahe Lage der Trinkerheilstätte erlaubte einerseits , dass die Patienten häufig besucht und die Ärzte Kontakte zu den Angehörigen knüpfen konnten , andererseits die praktikable Organisation einer weitergehenden Fürsorge lange über die Entlassung hinaus. Als nachteilig für das Image der neuen Abteilung galten die bestehenden Vorurteile gegenüber der psychiatrischen Anstalt , doch diese seien , so meinte Wlassak zuversichtlich , mit verstärkter Aufklärung im Schwinden begriffen. Ohnehin dürfe , so die Regelung , zwischen den Patienten der unterschiedlichen Abteilungen keinerlei Kontakt bestehen , um die Möglichkeit der Beschaffung von Alkohol hintanzuhalten. Ebenso erfolgte auch die Arbeitstherapie streng getrennt von den übrigen Kranken in eigenen Werkstätten und Parkgebieten.762 Die örtlich nahe Verbindung der Trinkerheilstätte zu den Abteilungen für psychisch Kranke bot zudem die Möglichkeit der präzisen Auswahl der für eine Behandlung als geeignet angesehenen Alkoholiker. Die meisten dieser Patienten waren , wie die Krankenakten dokumentieren , bereits einige Tage in der Heil- und Pflegeanstalt , bevor sie auf die Trinkerheilstätte transferiert wurden. Innerhalb dieser Zeitspanne hatte Wlassak die Möglichkeit , Patienten , die zwangsweise interniert worden waren , für die – prinzipiell offene – Behandlung gezielt zu sondieren. Da Am Steinhof sehr viele Alkoholiker zur Aufnahme gekommen waren , für eine intensive Betreuung aber nur wenige Plätze zur Verfügung standen , traf man die Regelung , sämtliche Erstaufgenommene

761 Magistrat der Stadt ­Wien ( Hg. ), Die Verwaltung der Bundeshauptstadt ­Wien 1933 , 975. 762 Wlassak 1922 / 1929 , 187 f.

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auf der Trinkerheilstätte vorzustellen und dort auf ihre Eignung hin zu prüfen. Bereits einmal rückfällig gewesene Patienten waren nur in Ausnahmefällen aufzunehmen.763 Die Betreuung beschränkte sich in den ersten Jahren ausschließlich auf Männer. Lediglich einige Kriterien eines Ausschlussverfahrens wurden benannt : Als ungeeignet für eine Entziehungskur galten Patienten , die älter als 55 Jahre alt waren. Alkoholiker konnten auch als zu jung für eine solche Behandlung eingestuft werden , denn sie waren von vorneherein mit dem Stigma der Unverbesserlichkeit behaftet. Ebenfalls wenig Aussicht auf Erfolg bot den Verantwortlichen der „Typus eines einsam trinkenden Alkoholikers“, Personen , die als Autisten eingestuft wurden , ferner „schizoide Alkoholiker“ und diejenigen , die zudem an einem organischen Hirnleiden oder an einer psychischen Erkrankung litten. Neben diesen medizinisch definierten Kriterien waren es vor allem soziale Hintergründe , die Patienten als ungeeignet für eine Entzugskur erscheinen ließen. Dazu zählten Personen , die aus häuslich extrem zerrütteten Verhältnissen stammten , bei denen , wie angenommen wurde , auch eine weitere Fürsorge diesen Umständen nicht abhelfen könne. Insbesondere die Trennung einer Ehe galt als ungünstige Voraussetzung , da von den Frauen der seelische Beistand nach einer Entlassung erwartet wurde. Aber auch eine gegenüber der absoluten Abstinenz als einsichtslos angesehene Ehefrau war einer Aufnahme zur Entziehungskur hinderlich. Personen , die beruflich auf irgendeine Weise mit Alkohol zu tun hatten , wurde nur unter dem Versprechen , ihre Tätigkeit zu wechseln , Aufnahme in die Trinkerheilstätte gewährt.764 Als ein wichtiger Beleg für die Wahrhaftigkeit des Wunsches zur Entwöhnung galt die Einwilligung des Patienten , mindestens sechs Monate in der Trinkerheilstätte zu verbleiben.765 Neben diesem grundsätzlich notwendigen Einverständnis war jedoch vor allem ‚ärztliche Erfahrung‘ entscheidend , ob ein Patient zur Entwöhnungskur als geeignet erschien : „Für die Beurteilung , ob ein Trinker heilbar ist oder nicht , gibt es einige Anhaltspunkte , die leider nicht verlässlich sind , so dass man sich im Allgemeinen bei der Stellung der Voraussage hauptsächlich auf den allgemeinen Eindruck , den der Trinker macht , und auf das eigene Gefühl verlassen muss.“766 Hierzu wurden keine medizinischen Kriterien benannt , erst die praktische ‚Erfahrung‘ , ein im hohen Maße implizites Wissen , ermögliche die richtige Erfragung aller Umstände , wie beispielsweise der Trinkgewohnheiten. Lediglich eine psychiatrische Vorbildung ermögliche die „richtige Auswahl beziehungsweise die Abstoßung 763 764 765 766

WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 814 / 1928. Wlassak 1922 / 1929 , 185 f. Wlassak 1929 , 27. Gabriel 1931 , 241.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

der ungeeigneten Fälle“.767 Wie diese in der Praxis im Detail vonstattenging , ist jedoch der Dokumentation in den Krankenakten keineswegs zu entnehmen.768 Neben diesen als „geschlossen“ eingelieferten Patienten769 hatten Alkoholkranke auch die Möglichkeit zur „freiwilligen Aufnahme“. Dies bedeutete , dass die Verpflegungskosten privat oder aber von einer Krankenkasse übernommen wurden.770 Da die Trinkerheilstätte Teil der psychiatrischen Anstalt war , ließen sich , gemäß der Ansicht ihres Leiters , anfangs immer wieder Patienten von einer freiwilligen Aufnahme abschrecken. Doch deren Anteil war mit der zunehmenden Anerkennung dieser Abteilung deutlich gestiegen. Im Jahr 1923 war es noch weniger als ein Sechstel , fünf Jahre später bereits mehr als ein Drittel aller Pfleglinge , die entweder über die von der Abteilung abgehaltenen Sprechstunden oder die Trinkerfürsorge vermittelt wurden. Unter ihnen waren auch Patienten , die aus anderen Bundesländern oder dem Ausland kamen.771 Dem Leiter der Abteilung erschien es aber prinzipiell wünschenswert , dass die Patienten aus ­Wien stammten , da die nach der Entlassung andauernde Fürsorge einen wesentlichen Teil des Behandlungskonzeptes darstellte. Von den zwei benannten Arten der Aufnahme wurde eine dritte unterschieden , nämlich Patienten , die vom Polizeikommissariat als „geschlossen“ eingeliefert wurden und bereits dort von sich aus den Wunsch äußerten , in die Trinkerheilstätte aufgenommen werden zu wollen.772 Diese paradox anmutende „geschlossene Aufnahme auf eigenen Wunsch“ wurde mittels eines Erlasses der Sanitätsabteilung der Polizeidirektion vom März 1924 ermöglicht , welcher vorsah , Alkoholiker auch ohne bestehende Selbst- oder Fremdgefährdung auf die Trinkerheilstätte transferieren zu dürfen.773 Andererseits gab es auch Fälle , die auf der – prinzipiell offenen – Trinker767 Wlassak 1922 / 1929 , 188 f. 768 Im Jahr 1923 wurden über 32Prozent der Am Steinhof aufgenommenen Alkoholiker auf die Trinkerheilstätte transferiert , in den folgenden zwei Jahren sank diese Zahl auf knapp 15 beziehungsweise knapp 12 Prozent. In : Gemeinde ­Wien , Das Neue ­Wien ( Hg. ) 1927 , 518. 769 Behandelt wurden vorerst überwiegend Patienten , die primär in die psychiatrische Anstalt zwangsweise aufgenommen worden waren und dort ihren Heilungswillen bekundeten , somit aber nicht selbst ihre Behandlung finanzieren mussten. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 1023 / 1922. 770 Dazu zählten die ­Wiener städtische Krankenfürsorgeanstalt , die Krankenversicherungsanstalt der Bundesangestellten und die Krankenkasse der Bundesbahnen. Der großen Anzahl der bei der Arbeiterkrankenkasse Versicherten wurde der Aufenthalt in der Trinkerheilstätte nicht bezahlt. Dies war von Wlassaks Nachfolger Ernst Gabriel mit dem Argument kritisiert worden , dass der Alkoholismus von der Gesellschaft mit verursacht sei. In : Gabriel 1931 , 242. 771 Wlassak 1929 , 27 f. Im Jahr 1928 wurde die Aufnahme von nicht nach ­Wien zuständigen Alkoholikern wegen des allgemein bestehenden Platzmangels in der Anstalt untersagt : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 3187 / 1928. 772 Wlassak 1929 , 27 f. 773 Gemeinde ­Wien ( Hg. ), Das Neue ­Wien 1927 , 519.

6.2 Alkoholismus als „der wunde Punkt der Irrenpflege“

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heilstätte als „geschlossen“ geführt wurden. Dieser Modus galt für Aufnahmesuchende , die keinen verlässlichen Eindruck machten , oder aber die Anhaltung aus anderen Gründen als notwendig erachtet wurde.774 Auf der Abteilung selbst galten für alle Kranken dieselben Prinzipien , sie mussten vor allem bereit sein , sich der strengen Hausordnung und Disziplin zu unterwerfen. Ziel war es , die Alkoholsüchtigen an eine geregelte Beschäftigung und eine geordnete Lebensführung zu gewöhnen , denn Unregelmäßigkeiten und häusliche Zwistigkeiten wurden als Gründe der erhöhten Reizbarkeit oder gar als Auslöser für den Alkoholismus angesehen. Leichte Gartenarbeit und der Aufenthalt an der frischen Luft wären , wie es hieß , auch den Kranken leicht als Heilmittel begreifbar. An die Trinkerheilstätte war eine , nur für diese Patienten bestimmte , Tischlerei angeschlossen. Das wichtigste – und unmittelbar bei der Aufnahme in die Trinkerheilstätte angewandte – Prinzip war jedoch der radikale Alkoholentzug und die Vermeidung der Gabe von Schlafmitteln oder Medikamenten zur Behandlung der verschiedenen typischen Symptome wie Schlafstörungen , Polyneuritis oder Gastritis. Wlassak verstand sich selbst als maßgebliches Vorbild , er wie auch alle anderen in der Trinkerheilstätte Angestellten waren überzeugte Antialkoholiker , sogenannte „Teetotale“.775 Waren die ersten Entzugserscheinungen abgeklungen , setzte die „psychische Behandlung“ der Patienten ein , deren Ziel es war , sie an die völlige Abstinenz zu gewöhnen und Rückfälle dauerhaft hintanzuhalten. Die „intensive Erziehung im Sinne der Alkoholgegnerschaft“ erfolgte , wie es hieß , bei jeder Gelegenheit , einzeln und in der Gruppe. An Sonntagen fanden Vorträge im Festsaal der Anstalt statt.776 Zur Behandlung zählte auch die Belehrung der Ehefrauen , die ebenfalls völlig abstinent leben sollten. Sie wurden auch dazu verpflichtet , jegliche Rückfälle nach der Entlassung sofort der Trinkerheilstätte zu melden. Die auch schon während des stationären Aufenthaltes einsetzende Fürsorge umfasste die Regelung aller Angelegenheiten des täglichen Lebens , bis hin zu familiären und ökonomischen Belangen der Patienten. Als besonders gefährlich sah man die offenbar weitverbreitete Ansicht an , dass ein ( ehemaliger ) Alkoholiker sich an ein „mäßiges Trinken“ gewöhnen könnte. Erst der

774 Gabriel 1931 , 242. 775 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 262 / 1922. Schreiben vom 8. August 1922. Zur Einrichtung dieser Station war kein weiteres Inventar notwendig. Aufgrund der Schließung des Sanatoriums wechselte Dr. Falla von dort auf die Trinkerheilstätte. 776 Eine ausführliche Beschreibung der Behandlung in der Trinkerheilstätte findet sich bezeichnenderweise in : Wlassak 1928. Vgl. auch Praetorius 1930. Der Autor beschreibt auch die dem ­Wiener Modell folgenden Trinkerheilstätten in Wittenau ( 1926 ), Konstanz ( 1927 ) und Allenberg ( 1929 ).

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

„Geist der Heilstätte“, die Mitarbeit und das Vorbild aller Beteiligten ermögliche , so das Ziel , die Wirksamkeit aller Prinzipien.777 In den ersten zwei Monaten des Aufenthaltes an der Trinkerheilstätte durfte diese nicht verlassen werden. An diese Zeit anschließend wurden bei ordnungsgemäßer Führung zwölf Ausgangsstunden pro Woche gewährt , die Ehefrau oder ein Angehöriger mussten den betreffenden Patienten abholen und auch wieder zur Heilstätte zurückbegleiten. Im vierten Monat wurden diese Ausgänge auf zwanzig Stunden und im letzten Monat auf 36 Stunden verlängert. Kam ein Patient alkoholisiert zurück , so wurden diese Ausgänge gesperrt.778 Im Anschluss an die Entlassung sollten die vom Alkohol Entwöhnten zwecks einer weitergehenden Fürsorge und auch Kontrolle einem Abstinenzverein beitreten , zumindest aber den dauernden Kontakt zur Heilstätte pflegen. Die Krankenakten belegen die regelmäßige Korrespondenz über die Zeit der Internierung hinaus , hier finden sich zahlreiche Briefe und Postkarten beziehungsweise umgekehrt auch Durchschriften von Sendungen an die Entlassenen. Es war vorgesehen , dass die ehemaligen Patienten und auch ihre Angehörigen regelmäßig die Abteilung besuchen und zu den , sowohl der Unterhaltung als auch einer weiteren Belehrung dienenden Veranstaltungsnachmittagen kamen. Diese enge Verzahnung der stationären Pflege mit einer weiteren Fürsorge zeigte sich auch an dem 1926 von Wlassak gegründeten Abstinenzverein namens „Zukunft“, über den ehemalige Insassen der Heilstätte und Patienten einander kennenlernen und unterstützen sollten , um ein alkoholfreies Leben gestalten zu können.779 Das Engagement seitens der Trinkerheilstätte schien innerhalb der Anstaltspsychiatrie nicht ganz unumstritten gewesen zu sein. Denn die Frage der Wirtschaftlichkeit dieser Einrichtung wurde an der Heilungsrate gemessen. Dementsprechend wichtig war die Auswahl zur Entwöhnung als geeignet erscheinender Patienten , die Rate der Erfolge beziehungsweise Misserfolge bedurfte eingehender Rechtfertigungen. Die anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Trinkerheilstätte erstellten Nachweise ihrer Arbeit lauteten wie folgt : Als „geheilt“ galten diejenigen , die mindestens zwei Jahre lang völlig abstinent lebten , dies waren über 30 Prozent. Zu den knapp 15 Prozent der „gebesserten Fällen“ zählten Patienten , die nach der Entziehungskur ihrem Beruf wieder nachgehen konnten , dem Alkohol nicht völlig entsagten , dabei aber nicht exzessiv wurden. Die Rate derjenigen , die bereits während ihres Aufenthaltes in der Heilstätte oder bald danach wieder rückfällig wurden , war am größten. Zu diesen zählten gar einige Todesfälle oder auch Patienten , die als „unbekannt“ verblie777 Wlassak 1922 / 1929 , 189 f. 778 Wlassak 1929 , 28. 779 Gabriel 1931 , 243.

6.2 Alkoholismus als „der wunde Punkt der Irrenpflege“

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ben , da sie sich einer weiteren Kontrolle oder Nachsorge der Heilstätte entzogen hatten. Bei Letzteren nahm man an , dass die Behandlung erfolglos war.780 Die stationäre Versorgung und Behandlung von Alkoholikern stellte jedoch nur einen Teil des im „Roten ­Wien“ umgesetzten Konzeptes dar. Das Engagement für eine ambulante Trinkerfürsorge setzte im Vergleich zu anderen Bereichen der öffentlichen Wohlfahrtspflege relativ spät ein. Die Bekämpfung des Alkoholismus blieb lange Zeit ein Anliegen verschiedener privater Vereine von Alkoholgegnern und Abstinenten : 1911 wurde eine Trinkerfürsorgestelle vom katholischen Wohltätigkeitsverband , 1917 die „Österreichische Vereinigung für Trinkerfürsorge“ begründet.781 Neben dem bereits erwähnten „Zentralverband der österreichischen Alkoholgegner“ engagierten sich auch einige weltanschauliche Vereine , wie das bereits seit 1901 bestehende katholische „Kreuzbündnis“ und der internationale Orden der „Guttempler“. Diese Vereinigungen hatten jedoch nur eine geringe Zahl an Mitgliedern , die weitaus mitgliederstärkste Vereinigung war der bereits erwähnte Arbeiter-Abstinentenbund.782 Auf Anregung und unter der Beratung Rudolf Wlassaks wurde 1925 eine Trinkerfürsorgestelle zur ambulanten Betreuung alkoholkranker Menschen im städtischen Gesundheitsamt in der Rathausstraße im ersten ­Wiener Gemeindebezirk eingerichtet.783 Der Vorteil von deren Eingliederung in die Organisation der städtischen Fürsorge sah Wlassak darin , dass die Einrichtung auch nach außen hin deutlich als eine medizinische erkannt werde.784 Diese Stelle wurde mit einem Arzt und einer Fürsorgerin und ab 1927 mit einer zweiten hauptamtlich angestellten Fürsorgerin und einer Kanzleihilfskraft besetzt.785 Die zweimal wöchentlich abgehaltenen Sprechstunden wurden von Beginn an stark frequentiert. Zielgruppe waren ambulant zu behandelnde Süchtige ; diese Einrichtung diente explizit nicht als Nachbetreuung für die aus der Trinkerheilstätte Entlassenen. So erstreckte sich ihr Aufgabengebiet vorrangig auf die Beratung von Alkoholsüchtigen und deren Angehörige , die eventuelle Vermittlung zu einem stationären Entzugsaufenthalt oder an Abstinenzvereine sowie 780 781 782 783

Gabriel 1932 , 501. Ein kurzer Überblick zu einigen österreichischen Abstinenzvereinen : 1996. Vgl. dazu auch : Anonym , Geschichte des Arbeiter-Abstinentenbundes 1964. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 805 / 1925. Schreiben vom 3. 6. 1925. Gerhard Melinz hat leider weder diese noch die im folgenden Abschnitt zu analysierende „Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke“ als einen wichtigen Teil der Erwachsenenfürsorge der Stadt ­Wien in seine Studie mit aufgenommen. Melinz 2003. 784 Wlassak 1922 / 1929 , 203. 785 Die Fürsorgerinnen hatten unter anderem die Aufgabe über alle ihre Erhebungen Bericht zu erstatten und von den betreuten Personen Akten zu führen : Vgl. Noe-Nordberg 1930 , hier : 266. Noe-Nordberg war der Leiter dieser städtischen Einrichtung.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Anzeigen bei den zuständigen Magistratsabteilungen zwecks Teilentmündigung , wenn beispielsweise die „Aberkennung der väterlichen Gewalt“ nötig erschien.786 Vorrangige Aufgabe dieser speziellen Fürsorge war es nach Wlassak , so viele Informationen wie möglich über die Alkoholiker zu ermitteln. Zu diesem Zweck wurde ein Fragebogen erstellt , welcher insbesondere weniger erfahrenen Fürsorgerinnen als Hilfsmittel dienen sollte. Aufgabe des Arztes war es , zu eruieren , welcher „Alkoholiker-Typus“ vorliege ; von diesen sollten „Psychopathen“ unterschieden und der „Psychopathenfürsorge“ – beziehungsweise geistig Kranke einer psychiatrischen Anstalt – zugewiesen werden. Denn die ärztlicherseits als gänzlich aussichtlos angesehenen Fälle sollten die ambulante Betreuung der Alkoholiker keineswegs unnötig belasten. Diejenigen Alkoholiker , die bereits schriftlich vorgeladen , aber nicht erschienen waren , sollten in ihren Wohnungen aufgesucht werden. Zweck dieser Besuche war es , relevante Informationen über die häuslichen Verhältnisse zu erlangen und die Ehefrauen über ein abstinentes Leben zu informieren. Wurden diese als unbelehrbar eingestuft , so galten die betroffenen Familien als hoffnungslose und nicht weiter zu betreuende Fälle. Den Alkoholikern wurde angeboten , sich der Überwachung der Fürsorgestelle zu unterstellen und sich dort einmal wöchentlich zu melden. Die stark geschlechtsspezifisch ausgerichtete Fürsorge arbeitete über Beratung und Belehrung. Die Fürsorgerinnen sollten Ansprechpartnerinnen für die Ehefrauen sein und über diese ermitteln , ob der Rat zur Enthaltsamkeit auch wirklich eingehalten werde. Als aussichtsreich eingestufte Kandidaten wurden einem Abstinenzverein zugewiesen , schwierigere Fälle wurden dazu bewogen , die Aufnahme in die Heilstätte anzustreben.787 Im Durchschnitt wurden pro Jahr etwa 200 – zumeist männliche – Alkoholiker von der Fürsorgestelle betreut. Deren Ergebnisse konnten aufgrund des häufigen Wechsels der Klientel – und mangels Möglichkeiten von deren Registrierung – erst gar nicht statistisch erfasst werden. Die Gefahr von Rückfällen in die Sucht war ständig gegeben , als Erfolge wurden demnach auch länger andauernde Zeiten der Abstinenz bewertet.788 Die Heilbehandlung der Trinkerfürsorge wurde nur als ein Teil ihres Aufgabengebietes definiert. In den vielen Fällen , in denen es gar nicht gelang , direkt zu helfen , sollten vor allem die betroffenen Familienmitglieder beschützt werden. Dazu zählte 786 Brunner 1996 , 455 f. 787 Wlassak 1922 / 1929 , 203 f. Die mittels Fragebögen ermittelten Informationen dienten nicht als Material zu wissenschaftlichen Zwecken. 788 Von den bis Ende des Jahres 1929 zur Anmeldung gelangten 1. 010 Fällen waren 83 Personen ohne jegliche Rückfälle völlig abstinent geblieben. 59 weitere Fälle konnten als gebessert angesehen werden , da sie trotz einiger Rückfälle wieder in ein geordnetes Arbeitsleben zurückkehren konnten. In : Noe-Nordberg 1930 , 267.

6.2 Alkoholismus als „der wunde Punkt der Irrenpflege“

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auch ein Lenken der Aufmerksamkeit der Polizei auf betroffene Familien , die Beratung in Ehescheidungs- oder Wohnungsangelegenheiten , in dringenden Fällen auch die Abnahme der Kinder und deren Übergabe an die städtische Fürsorge , die gegebenenfalls notwendige Internierung in eine psychiatrische Anstalt oder auch die Beantragung der Entmündigung , um weitere wirtschaftliche Schäden abzuwenden. Der „halbamtliche Charakter“ der Trinkerfürsorgestelle wurde , so ihr Leiter Noé-Nordberg , im Laufe ihres Bestehens zunehmend von öffentlichen Ämtern und auch privaten Unternehmen anerkannt. Ersichtlich werde dies mit deren Überweisungen von betroffenen Angestellten oder Arbeitern an die Fürsorge ; auf diese Weise konnten Entlassungen zumindest temporär verhindert werden.789 Neben der Gesundheitsbehörde entfaltete in W ­ ien ab 1922 auch die Polizei ihre Fürsorgetätigkeit für Alkoholiker. Die rechtliche Möglichkeit einer bedingten Verurteilung bot dazu Anlass und Rechtfertigung. Alkoholikern , die gegen das Gesetz verstoßen hatten , konnte die Weisung erteilt werden , sich einer polizeilichen Schutzaufsicht zu unterstellen. Diese Tätigkeit der Bezirkspolizeikommissariate wurde jedoch seitens der Psychiatrie äußerst kritisch beurteilt , da an diesen Stellen keineswegs ‚erfahrene‘ und nicht selbst der Abstinenz verpflichtete Ärzte und Fürsorger arbeiteten.790 Sowohl die vom Steinhof aus initiierte Alkoholikerfürsorge als auch der Betrieb der Trinkerheilstätte war eng an die Person Rudolf Wlassak gebunden. Nach seinem Tod im Jahre 1930 wurde die stationäre Einrichtung für die Dauer eines Jahres gesperrt , da die Aufnahmezahlen der restlichen Anstalt zudem stark angestiegen waren und die Räume der Trinkerheilstätte ihrem ursprünglichen Zweck rückgewidmet werden mussten.791 Die Überlegung , eine eigenständige Heilstätte unabhängig von der psychiatrischen Anstalt einzurichten , wurde nach einem Jahr doch zugunsten von deren Wiedereröffnung entschieden. Diese Ernst Gabriel ( 1899–1978 ) unterstellte Abteilung wurde in einem der beiden Pavillons des Wirtschaftsgebäudes untergebracht und nun auch Frauen zugänglich gemacht.792 In den neuen Räumlichkeiten konnte die 789 Noe-Nordberg 1930 , 267. Die Einrichtung der Trinkerfürsorge schien angesichts der Problematik des weitverbreiteten Alkoholismus jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen zu sein. Sie änderte auch nichts an der weiterhin bestehenden Forderung nach einer Institution für chronische Alkoholiker. Vgl. dazu : Dreikurs 1925 , 258 f. 790 Eisenbach-Stangl 1991 , 256 f. In ­Wien gab es zwanzig solche Stellen. Eine weitere Trinkerfürsorgestelle wurde seitens der Caritas eingerichtet. Zudem wurden ein Frauen- , ein Jugend- und ein Akademikerabstinentenverein begründet. In : Brunner , Über den Wandel im Umgang mit Armut , Krankheit und Abweichung , 456. 791 Die Sperre dieser Abteilung dauerte von April 1930 bis Mai 1931. 792 Wlassak 1922 / 1929 , 194. Alkoholsüchtige Frauen sollten keinesfalls kürzer als ein Jahr lang stationär bleiben , da , so die Vorannahme , bei ihnen die Krankheit besonders tief verwurzelt sei.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Beschäftigungstherapie besser ausgeübt und auch der Belegraum von 45 auf 61 Betten erhöht werden.793 Die psychiatrisch geprägte Abstinenzbewegung erstreckte ihr Engagement oftmals weit über medizinische und fürsorgerische Aspekte hinaus. Die eingangs benannte Problematik des Verhältnisses des Alkoholismus zu psychischen Krankheiten wurde auch noch 1932 von Ernst Gabriel als „eine alte Wunde“ bezeichnet.794 Dabei zielte er insbesondere darauf , ob ein Alkoholiker geisteskrank sei oder nicht. Dahinter verbarg sich nämlich die weiterhin ungelöste Frage der Anhaltung der Alkoholkranken , die nämlich vielfach als Voraussetzung für weitergehende Maßnahmen gegen den Alkoholismus gefordert wurde. Die Praxis war trotz der vielen Neuerungen in einer medizinisch-rechtlichen Grauzone verblieben. Sowohl das Entmündigungsgesetz von 1916 als auch die Etablierung der Trinkerheilstätte und deren Aufnahmeformalitäten konnten die Problematik der Anhaltung gegen den Willen der Betroffenen nicht lösen. Wenn ein Alkoholiker mit seiner Entziehungskur einverstanden war , bedurfte er einer Bestätigung der Gerichtskommission über das Vorliegen einer Geisteskrankheit. Alkoholische Psychosen wie Beziehungsideen , Halluzinationen oder Depressionen klangen im Verlauf einer Entziehungskur oft relativ rasch ab und stellten somit keine ausreichende Begründung für die geforderte Halbjahresfrist in einer psychiatrischen Anstalt dar. Die weithin angewandte Praxis der verantwortlichen Gerichtspsychiater , diese Patienten zur Ermöglichung einer Entwöhnungskur als „latent geisteskrank“ einzustufen , erfuhr jedoch Kritik. Die Tätigkeit der Trinkerheilstätte wäre ohne Hilfsmaßnahmen dieser Art grundsätzlich gefährdet gewesen , Entziehungskuren wären nur mehr über „freiwillige Aufnahmen“ ( Patienten , die ihre Verpflegungskosten entweder selbst oder über eine Versicherung bezahlen konnten ) möglich gewesen. Das Wohlfahrtsamt der Gemeinde ­Wien gewährte für „wirklich geeignete und erfolgversprechende Fälle“ Freiplätze , konnte aber auf diesem Wege die zugrundeliegende Problematik der sich auch während des Entzugs immer wieder neu stellenden Frage des Anhalterechtes auch nicht lösen.795 Der Rückgriff auf die Psychiatrie , der Versuch der Eingliederung eines neuen Tätigkeitsbereiches in die psychiatrische Disziplin ereignete sich somit an einer spezifischen , nämlich der von ihren Vertretern selbst als „wunden Punkt“ bezeichneten Stelle. Die fachliche Kompetenz – die viel 793 Mauczka 1932 , 495. Der andere dieser Pavillons wurde zu einer offenen Abteilung für Frauen umfunktioniert. Vgl. zu Ernst Gabriel : Czech 2003 , 49 f., beziehungsweise die von seinem Sohn verfassten biografischen Angaben : Gabriel 2007 , 173 ; WStLA , Personalakte Ernst Gabriel. In Letzterer ist zudem verzeichnet , dass Ernst Gabriel im September 1939 der stellvertretende Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof wurde. 794 Gabriel 1932 , 14. 795 Ebd., 14 f.

6.3 Der Ausbau der offenen Fürsorge

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zitierte ‚psychiatrische Erfahrung‘– sollte – für „geeignete Fälle“ – eben jene Lücke schließen , implizierte aber stets auch die Kehrseite , nämlich weitergehende Forderungen nach rigorosen rechtlichen Maßnahmen für die Vielzahl der als nicht therapierbar angesehenen chronischen Alkoholiker.

6.3 Der Ausbau der offenen Fürsorge Analog zu dem sowohl durch Ein- als auch durch Ausschlussverfahren geprägten Modell der Versorgung von Alkoholikern , entwickelte die Anstaltspsychiatrie zu Beginn der 1920er-Jahre alternative Formen zur stationären Versorgung psychisch kranker Menschen. Diese Strategie umfasste nun weniger Reformen innerhalb der Institution , sondern zielte vielmehr auf eine Öffnung zur städtischen Bevölkerung ab. Dabei sollten die Grenzen der Anstaltsmauern in zweifacher Hinsicht überwunden werden. Einerseits setzte man es sich zum Ziel , die Zahl der stationären Aufnahmen hintanzuhalten und die Entlassung von Anstaltsinsassen zu forcieren , andererseits sollte längerfristig ein neuartiges Erfassungssystem von als pathogen angesehenen Merkmalen etabliert werden. Die offene Fürsorge , als Teil eines funktional differenzierten Versorgungsangebots , schloss auch soziale Aspekte der Problematik im Umgang mit Geisteskranken mit ein und sollte nicht zuletzt zur Wahrung des ärztlichen Heilanspruchs auf organisatorischem Weg beitragen.796 Die Idee , psychisch Kranke jenseits der traditionellen stationären Betreuung unterbringen zu können , war bereits Teil des Konzeptes der 1902 eröffneten Anstalt in Mauer-Öhling. Damit hoffte man nicht zuletzt auf ein verbessertes Image der traditionell hermetisch abgeschlossenen Institutionen. Zu den alternativen Betreuungsmodellen zählte sowohl die eher in ländlichen Gebieten als realisierbar geltende „Familienpflege“797 als auch die sogenannte Außenfürsorge. Letztere umfasste die Beratung und Hilfeleistung bei Aufnahme und Entlassung , aber auch eine weitere Betreuung von psychisch Kranken , und beruhte auf Spendengeldern wie der Mitarbeit sogenannter „Vertrauensmänner“.798 Von der ­Wiener Anstalt Am Brünnlfeld wurde ab 1905 den Angehörigen mittelloser und unheilbarer Kranker eine – jeweils 796 Vgl. dazu ausführlicher und im Hinblick auf die Entwicklung in Deutschland : Roelcke 2007 , hier : 396. 797 Fedor Gerényi sah in der Einführung der Familienpflege ein deutliches Signal für das Ende des Baus groß dimensionierter Anstalten. In : Starlinger 1914 , 60 f. ; als deren prinzipielle Schwierigkeit erwies sich jedoch die allgemein bestehende Wohnungsnot und die Armut weiter Bevölkerungskreise. In : Dreikurs 1925 , 254. 798 Starlinger 1914 , 60 f. ; vgl. dazu auch Abschnitt 2.2 der vorliegenden Arbeit.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

zur Hälfte vom Niederösterreichischen Landesausschuss und der Armenbehörde finanzierte – Beihilfe gewährt. Diese Kranken wurden regelmäßig von einem Anstaltsarzt besucht und , so das Konzept , in ihrer häuslichen Pflege überwacht. Mittels dieser „Familienunterstützung“ sollte die Übernahme aus der Anstaltspflege in die Familien ermöglicht oder aber eine stationäre Aufnahme überhaupt vermieden werden.799 Dieses Engagement einer außerinstitutionellen Betreuung wurde erst einige Zeit später wieder aufgegriffen. Erste Maßnahmen zu einer weitergehenden Versorgung von Personen , die aus der stationären Behandlung entlassen waren , aber nicht von ihren Angehörigen gepflegt werden konnten , wurden 1924 im ­Wiener Gemeinderat beschlossen. Demnach war bereits vor der Entlassung Kontakt mit der zuständigen kommunalen Fürsorgestelle aufzunehmen. Die Gemeinde gewährte für diese Fälle eine vorübergehende finanzielle Unterstützung. Darüber hinaus versuchte man , Familien zu finden , welche sich bereit erklärten , „harmlose Geisteskranke“ gegen eine monatliche Entschädigung zu betreuen.800 Josef Berzes Vorschlag , Am Steinhof eine kleine „Pflegerkolonie“ einzurichten , um dort einzelne , weniger schwer Erkrankte unterbringen zu können , konnte sich jedoch nicht durchsetzen.801 Reformkonzepte , die sich gegen breite Internierungstendenzen wandten , waren somit keineswegs gänzlich neu.802 Entgegen bisheriger – und weniger systematisch organisierter – Versuche propagierte Gustav Kolb ( 1870–1930 ), Direktor der Heilund Pflegeanstalt in Erlangen , eine umfassende Reform der geschlossenen Anstaltspsychiatrie , die sowohl auf eine Ausweitung des Behandlungsangebotes als auch eine Verbesserung der Arbeitssituation der beteiligten Ärzte abzielte. Kolbs zweifacher Ansatz einer spezialisierten ambulant-psychiatrischen Versorgung ist in seiner Konzeption zwischen individueller psychiatrischer Therapie und kollektiver präventiver Ge-

799 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , Faszikel ‚Anstaltsdienst‘ D 23 /  3 / 1913. Landtagsbeschluss vom 8. Juni 1905. Die Auszahlung war sowohl von der Anstaltsdirektion als auch vom Landesausschuss zu genehmigen. Die betroffenen Patienten waren , soweit es die Umstände erlaubten , dem Wirtschaftsarzt vorzustellen. Die unterstützten Patienten wurden als „Externisten“ geführt. In einem zwei Jahrzehnte später verfassten Rückblick wurde dieses System als nur wenig effizient beurteilt. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 41 ( 1922 ), 209. Sitzungsbericht vom 14. Oktober 1919. 800 Gemeinde ­Wien ( Hg. ), Das Neue ­Wien 1927 , 362. Dieser neue Zweig der Fürsorgetätigkeit begegnete , wie es hieß , anfänglich einem großen Widerstand in der Bevölkerung ; die Verantwortlichen hofften , zukünftig dennoch eine ausreichende Zahl an Pflegefamilien finden zu können. WStLA , Mag.  Abt. 209 , A 1 , 1796 / 1925. Beschluss des Gemeinderatsausschusses III , 20. Februar 1924. Wenig später wurde deren Zahl auf 30 beziffert. 801 Dreikurs 1925 , 254. 802 Vgl. Schubert 1984.

6.3 Der Ausbau der offenen Fürsorge

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sundheitspflege zu verorten.803 Die von ihm vertretene medizinisch-therapeutische Ausrichtung der „angewandten Psychiatrie“ ist , wie bereits angedeutet , nicht zuletzt auch als Antwort auf die etwa seit 1910 in der Fachpresse artikulierte innerpsychiatrische Kritik am mangelnden Ansehen der Anstaltsärzte zu sehen.804 Kolb bezeichnete die komplementär zur stationären Versorgung einzurichtenden „Irrenfürsorgestellen“ gar als eine „Schicksalsfrage“ für die Anstaltspsychiatrie und ihren disziplinären Nachwuchs. Seiner Ansicht nach dürften diese auch nicht das Ziel haben , „lebensuntüchtige Menschen lange in den Anstalten zu konservieren , sondern [ sollten ] möglichst viele geistig anomale Menschen aufnehmen und möglichst rasch den Lebenden wiedergeben“.805 Darüber hinaus betonte Kolb , sein Programm erst gar nicht über den Weg einer legislativen Grundlage initiieren zu wollen , vielmehr so zu gestalten , wie es die Interessen der Irrenfürsorge dringlich erforderten. Diese Entwicklung sei aber nur da möglich , „wo die Psychiater von der Zweckmäßigkeit der Reform durchdrungen und bereit sind , in harter systematischer Arbeit die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen und zu entwickeln“.806 Hintergrund seiner Vehemenz waren die weit über den Ausbau der psychiatrischen Außenfürsorge hinaus reichenden Forderungen. Er propagierte den Ausbau der „freiheitlichen Behandlung“, welcher auf eine deutliche Einschränkung von Internierungen abzielte , darüber hinaus sollten aber auch die Vorrechte finanziell bessergestellter psychisch Kranker hintangehalten und der Rechtsschutz der Kranken mittels sogenannter „Irrenschutzgerichte“ verbessert werden. Das 1919 auch im ­Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie ausführlich diskutierte Reformkonzept807 fand , weitgehend ähnlich der Reaktion zahlreicher anderer Vertreter deutscher Anstalten , zwar keine breite Zustimmung seiner Vorschläge hinsicht-

803 Grundlegende Forderungen zur Öffnung der Anstalten und der Nachbetreuung ehemaliger Patienten publizierte Gustav Kolb bereits 1902 ; 1908 und 1911 präzisierte er seine Reformvorschläge ; 1919 trat er mit detaillierten Plänen zu einem „freiheitlicheren Ausbau des Irrenwesens“ an die Fachöffentlichkeit. 1927 publizierte er gemeinsam mit seinem Oberarzt Valentin Falthauser und dem badischen Psychiater Hans Roemer eine umfangreiche Schrift zur „offene( n ) Fürsorge in der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten“. In : Ley 2003 , 178–217. Vgl. allg. zur Anstaltsreform der 1920er-Jahre : Siemen 1987 ; Siemen 1991 ; Pötzl 1995 ; Vossen 2001 , 188–201. Eine Zusammenstellung der zahlreichen zeitgenössischen Publikationen : Bresler 1926 , hier : 277 f. 804 Nur beispielsweise : Starlinger 1911 / 12. Vgl. allg. : Schindler 1990. 805 Kolb 1920 /  21 , 168. 806 Ebd., 135. 807 Das umfangreiche , in sechs Punkte unterteilte Kolb’sche Reformprogramm wurde in mehreren Sitzungen von Josef Berze referiert und im Standesverein intensiv diskutiert. Sitzungsbericht des Vereins vom 14. Oktober 1919. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 41 ( 1922 ), 197–231 ; Sitzungsbericht vom 28. Oktober 1919. In : ebd., 234–236.

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lich der Demokratisierung des Anstaltsbetriebes ,808 sehr wohl aber hinsichtlich der Etablierung einer psychiatrischen Außenfürsorge.809 Kolbs sozialhygienisch motiviertes Reformkonzept sollte sich im Verlauf der 1920er-Jahren angesichts des erneuten Anstiegs der Patientenzahlen beziehungsweise der angespannten ökonomischen Situation auch in ­Wien als eine wichtige Alternative zur stationären Versorgung erweisen.810 Die von Josef Berze initiierte und im März 1926 eröffnete „Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke“ wurde in einer organisatorisch sehr engen Verbindung zur Anstalt in der Rathausstraße 9 im ­Wiener Gesundheitsamt eingerichtet. Sie war zwei Mal pro Woche abends geöffnet und mit anderen Einrichtungen der städtischen Gesundheitsfürsorge zwar örtlich verbunden , bildete aber einen gänzlich eigenständigen Bereich.811 Sowohl die Organisation als auch die personellen Besetzungen waren , entsprechend dem Erlanger Modell , direkt der Anstalt Am Steinhof unterstellt. Eine mehrjährige psychiatrische Erfahrung im Anstaltsdienst galt allgemein als unbedingte Voraussetzung für die dort tätigen Fürsorgeärzte.812 808 Kolbs Umfrage an 44 deutschen Anstalten ergab innerhalb der Hierarchie der Anstaltsärzte eine deutliche Differenz in der Akzeptanz zu den einzelnen Reformpunkten. Die angestellten Ärzte plädierten im Vergleich zu den Direktoren wesentlich häufiger für die von ihm propagierten Änderungen , da diese – in ihrer ursprünglichen Fassung – für sie eine verbesserte Stellung mit sich gebracht hätten. 809 Eine Zusammenfassung der Schlusssätze des W ­ iener Vereins für Psychiatrie und Neurologie zum Referat über Kolbs Reform findet sich in : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 21 ( 1919 /  20 ), 273 f. 810 Bis 1930 gab es in den meisten deutschen Anstalten eine Außenfürsorge : Ley 2003 , 185. Auch der Direktor der ­Wiener Anstalt unternahm eine Studienreise nach Erlangen , Nürnberg und Fürth. In : Mauczka 1932 , 496. Vgl. zu der Entwicklung der Fürsorge wie auch alternativer Vorschläge zum Kolb’schen Modell : Breuer 1925. 811 Der ­Wiener Gemeinderat beschloss die Einrichtung einer Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke bereits 1924. Der Grund der zeitlichen Differenz bis zu deren Eröffnung am 11. März 1926 ist nicht bekannt. Zudem gibt es Unklarheiten bezüglich des genauen Datums von deren Eröffnung. In der anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Institution verfassten Schrift wird das Jahr 1925 genannt. In : Mauczka 1932 , 496. Entgegen diesem Modell ging in Westfalen die Einrichtung einer offenen Fürsorge nicht von der Anstalt , sondern von der kommunalen Gesundheitsbehörde aus. Dieses „Gelsenkirchener Modell“ setzte sich in Deutschland früher durch , war aber ab Mitte der 1920er-Jahre weit weniger verbreitet als das Erlanger System : Vgl. Walter 1996 , 244–253 ; Vossen 2001 , 191 f. Vgl. auch : Dreikurs 1926b. Rudolf Dreikurs war Arzt an der von Emil Mattausschek geleiteten „Psychiatrisch-Neurologischen Filialabteilung“. Dort initiierte er bereits 1922 eine offene Fürsorge und kooperierte dabei mit der von Wagner-Jauregg geleiteten Psychiatrischen Klinik. 812 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 41 ( 1922 ), 211. Sitzungsbericht vom 14. Oktober 1919. Bis zur Bestellung eines eigens für diese Stelle verantwortlichen Arztes hatte Josef Berze selbst den Beratungsdienst inne. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 28 ( 1926 ), 101. Gustav Kolb hatte bei der Etablierung der Außenfürsorge in Erlangen , Furth und Nürnberg ebenso persönlich diese Stelle übernommen : Ley 2003 , 193.

6.3 Der Ausbau der offenen Fürsorge

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Die Leitung dieser Einrichtung wurde Alfons Huber übertragen , unterstützt wurde er von Karl Friedmann.813 Die Beratungsstelle diente der ambulanten und unentgeltlichen Betreuung und Fürsorge von psychisch Kranken und ihren Angehörigen , eine therapeutische Behandlung war jedoch ausdrücklich untersagt. Diese Einrichtung zielte auf eine Klientel , welche bislang nicht unbedingt von der stationären Versorgung erfasst worden war – Berze zählte dazu „Hysteriker und Epileptiker , Psychopathen , Neurastheniker und psychisch Impotente“. Die Fürsorge erstreckte sich über die unmittelbar Betroffenen hinaus auch auf die psychosoziale Betreuung der Angehörigen der Kranken :814 Die fachärztliche Beratung umfasste Fragen zur Vormundschaft , Hinweise auf Landaufenthalte und Erholungsheime , das Benennen von Kriterien für eine eventuell notwendige Anstaltspflege oder die Unterstützung in organisatorischen Angelegenheiten , beispielsweise der Arbeits- oder auch Wohnungssuche. Die Zahl der steigenden Konsultationen , wohl aber auch die umgekehrt daran ablesbare Not der Zeit verweisen unzweifelhaft auf die bittere Notwendigkeit dieser neuen städtischen Einrichtung.815 Der sozialpsychiatrische Aufgabenbereich der Fürsorge – deren Aufwendungen im Gegensatz zur stationären Anstaltspsychiatrie nach Julius Tandler als „produktive Ausgaben“ bezeichnet wurden – stand auch für Rudolf Dreikurs , Arzt an der „Psychiatrisch-Neurologischen Filialabteilung“, klar im Vordergrund.816 Er stellte fest , dass sich die Zahl der ( stationären ) Aufnahmen ab 1920 infolge der schwierigen sozialen Verhältnisse mehr als verdoppelt , dabei aber die Zahl der Schizophrenien oder zirkulären Psychosen unter den Aufnahmen relativ abgenommen habe. Die Zahl der „Psychopathen , Hysteriker und Süchtigen“ hätte sich jedoch fast verdreifacht : „Das Verhältnis der beiden Gruppen im Jahre 1920 betrug zueinander 1 :2 , während es jetzt bei 1 :5 ist. Dasselbe ergibt sich , wenn man die Gesamtzahl der Alkoholiker , Epileptiker , Imbezillen und Psychopathen , die eigentlich alle nicht in eine Irrenanstalt gehören , mit

813 Alfons Huber arbeitete seit 1912 Am Steinhof , die Beratungsstelle übernahm er nebenamtlich. Ab 1930 war er zudem Abteilungsvorstand der Pflegeanstalt für Männer. Huber war ab 1939 Gutachter für das GzVeN , aber nicht Mitglied der NSDAP. Vgl. zu seiner Person : Gabriel 2007 , 168 und auch : Spring 2009 , 161 f. 814 Berze 1927. 815 Die anfänglich festgesetzten Öffnungszeiten mussten bald erweitert werden , um auch nur einen Teil der Hilfesuchenden unterstützen zu können. Im Jahr 1926 konsultierten 316 Personen die Beratungsstelle , 1927 waren es 439 , drei Jahre später 634 und ab 1932 über 1. 000 Personen jährlich. In : Mitteilungen des Volksgesundheitsamtes 4 ( 1936 ), 61. 816 Dreikurs 1926b , 869. Vgl. auch : Herz 1924.

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den Schizophrenen und Manisch-Depressiven vergleicht , welche 1920 im Verhältnis 4 :1 und 1924 bereits bei 10 :1 standen.“817

Die soziale Indikation der Erkrankungen spreche somit für sich , die Etablierung ambulanter Einrichtungen sei dringend erforderlich. Mit der offenen Psychiatrie ergäbe sich zudem wie von selbst auch deren Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung. Denn im Rahmen ambulanter Einrichtungen wären „Patienten auch mitten im Leben“, also jenseits institutioneller Zwänge , in ihrer „natürlichen“ Umgebung zu beobachten. Auf diese doppelte Weise könnte die klinisch-soziale Prognostik in der Psychiatrie – deren praktische Wirkung Dreikurs im Vergleich zur klinisch-therapeutischen Effizienz als eine weit höhere einschätzte – deutlich gestärkt werden.818 Den Befürwortern der verstärkt ambulanten Versorgung standen Bedenken traditioneller Anstaltspsychiater gegenüber , dass mit der neuartigen Zusammensetzung der vergleichsweise schwerer erkrankten stationären Patienten das ökonomische Gleichgewicht ins Wanken geraten werde : „Nimmt man den Anstalten die letzten Insassen , so fehlt es ihr an Arbeitskräften , statt der billigen Kranken müssen teure Mägde , Knechte , Handwerker eingestellt werden.“ Darüber hinaus blieben , gemäß denjenigen , die für die traditionelle Anstaltsorganisation plädierten , auch nur diejenigen Patienten und Patientinnen zurück , die für die Betreuenden eine wesentliche Erschwernis ihres Dienstes nach sich ziehen würden : Denn erst die weniger schwer Erkrankten machten das Anstaltsleben erträglich , „sie erleichtern den Schwerkranken durch ihren Umgang die Genesung und sind zur Verdünnung der schweren Fälle unentbehrlich“.819 Doch das bereits bei Dreikurs durchklingende Bestreben nach einer sowohl quantitativen als auch qualitativen Veränderung des psychiatrischen Tätigkeitsbereichs war auch Josef Berze ein sehr wichtiges Anliegen. Denn die offene Fürsorge versprach nicht nur neue außerstationäre Aufgabenbereiche , sondern auch der stationären Psychiatrie selbst eine Verlagerung ihres Schwerpunktes , weg von einer vornehmlich versorgenden Einrichtung hin zu den Aufgaben eines Krankenhauses.820

817 Dreikurs 1925 , 248. 818 Ebd., 256. 819 Schaefer 1924 /  25. Vgl. zur umstrittenen Entlassung arbeitsfähiger Patienten und deren Bedeutung für die Ökonomie der Anstalt : Herting 1923 /  24. 820 Bereits bei der ersten Diskussion des Erlanger Reformprogramms im ­Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie konstatierte Berze , dass Kolb die „Nutzbarmachung des Materials [ der Patienten ; S. L. ] für die Wissenschaft“ zu wenig beachte. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 41 ( 1922 ), 198. Sitzungsbericht vom 14. Oktober 1919.

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Die Beratungstätigkeit galt nur als ein erster Schritt im Ausbau der offenen Fürsorge. Die im Mai 1927 in Erweiterung dieser Einrichtung etablierte sogenannte Außenfürsorge sollte gemäß Berze gleichermaßen humanen wie auch wirtschaftlichen Zwecken dienen : „Die moderne Psychiatrie , die jede Beschränkung möglichst zu vermeiden sucht , sieht auch mit Recht im Anstaltsaufenthalte eine solche und sucht sie tunlichst abzukürzen. Wer außerdem die Ueberfüllung , die derzeit in den Geisteskrankenanstalten herrscht , kennt , wird den Vorteil einschätzen können , den jeder gewonnene , nicht unbedingt notwendige Verpflegstag , jedes im Wege der Fürsorge freigemachte Bett bedeutet.“821

Für die – bezeichnenderweise auch als „nachgehende Fürsorge“ benannte – Versorgungsform wurden je ein Pfleger und eine Pflegerin hauptamtlich in der Beratungsstelle engagiert.822 Mit Hausbesuchen sollten nun auch diejenigen Kranken erreicht werden , die bislang nicht freiwillig die ambulante Einrichtung konsultiert hatten. Zudem sollte die frühere Entlassung aus der Anstalt weiter forciert werden. Aufgabe der Fürsorger und Fürsorgerinnen war es , hierfür die Einsicht der Angehörigen zu stärken und sie über ihre Aufsichtspflicht zu informieren.823 Bei weniger schwerwiegenden Erkrankungen waren die Patienten und ihre Angehörigen bei Beendigung des stationären Aufenthaltes darauf aufmerksam zu machen , dass bei auftretenden Schwierigkeiten die Fürsorgestelle zu kontaktieren sei ; bei „Entlassungen gegen Revers“ wurden die Angehörigen für den Fall einer auffälligen Veränderung des psychischen Zustandes des Pfleglings regelrecht dazu verpflichtet , die Beratungsstelle aufzusuchen. Darüber hinaus war den Fürsorgern und Fürsorgerinnen jederzeit Zutritt zu den Kranken zu gewähren.824 Die Kranken wurden teilweise von ihren Angehörigen gebracht oder suchten selbst die Fürsorgestelle 821 Huber 1929. Die hauptamtliche Anstellung Hubers als leitender Arzt war zu diesem Zeitpunkt erst in Planung. 822 Gemäß einer Weisung Tandlers sollte eine erfahrene Pflegerin angestellt werden. Die Direktion der Anstalt bat wegen der Schwierigkeiten dieses Dienstes darum , zusätzlich einen männlichen Fürsorger einzusetzen. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1707 / 1927. Schreiben vom 27. Juni 1927. Dieser Forderung wurde stattgegeben : ebd., 4263 / 1928. Schreiben vom 4. Dezember 1928. 823 Berze ging davon aus , dass sowohl die psychiatrische Klinik die Möglichkeit einer betreuten und besser organisierten Entlassung wählen werde , als auch , dass andere kommunale Fürsorgestellen entsprechende Fälle der Beratungsstelle überweisen werden. Dabei rechnete er , dass mittels dieser Maßnahmen etwa 500 Personen unter die Ägide der psychiatrischen Fürsorge gelangen werden. Darüber hinaus schätzte er in Anbetracht der Erfahrungen in Deutschland die Zahl der Personen , die nur eine geringe Betreuung bräuchten , auf etwa 1. 000 , die Zahl derjenigen , die nur selten eines fachärztlichen Rates bedürften , auf etwa 2000 : Berze 1927 , 32. 824 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 1195 / 1926.

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auf. Der überwiegende Teil der Klienten kam allerdings nicht freiwillig , sondern musste von der offenen Fürsorge „erfasst“ werden. Auf diese Weise konnte , wie es seitens der Verantwortlichen erfolgsheischend hieß , der bislang übliche Weg der Aufnahme über die Polizei und der nachfolgenden stationären Aufnahme in vielen Fällen vermieden werden.825 Die „nachgehende Fürsorge“ zielte dezidiert sowohl auf eine quantitative als auch eine qualitative Ausweitung des bisherigen Tätigkeitsbereiches , die psychiatrische Aufmerksamkeit erstreckte sich nun auf eine deutlich erweiterte Klientel. Diese Form der Fürsorge war in den frühen Jahren ihres Bestehens sozialpsychiatrisch orientiert und war zwar von ökonomischen Kriterien geleitet , aber kaum von eugenischen Denkmustern geprägt.826 Die Erfassungsmethoden der offenen Fürsorge zeigen , dass die traditionelle Doppelfunktion des Anstaltswesens als Versorgungs- und Kontrollinstrument ungebrochen beibehalten worden war.827 Dies blieb in Fachkreisen keineswegs gänzlich unwidersprochen. Im Verein für Psychiatrie und Neurologie wurden bereits zum Zeitpunkt der ersten Debatten zur Öffnung der Anstalten Bedenken dahingehend geäußert , dass die offene Fürsorge „leicht den Charakter einer Art Polizeiaufsicht einnehmen könnte“. Das Modell von Kolb , gemäß dem „unauffällige Besuche der Fürsorgepfleger und der Fürsorgeärzte“ durchgeführt werden sollten , wurde von manchen Medizinern , die ihre Tätigkeit als eine beratende und helfende verstanden , als eine nicht angemessene Vorgehensweise betrachtet.828 Berze war sich dieser Gratwanderung zwar bewusst , indem er feststellte , dass „die Irrenpflege auf möglichste Vermeidung des Charakters der Polizeiaufsicht bedacht sein“ sollte. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen , dass die psychiatrische Fürsorge „ohne effektive Beaufsichtigung oder gelegentliches Zusammenarbeiten mit der Sicherheitsbehörde“ durchführbar wäre.829 Eben hier zeigt sich deutlich die Ambivalenz der Zielsetzungen des neuen Programms zwischen Fürsorge und psychiatrischer Erfassung einer bislang nicht institutionell betreuten Klientel. Diese Hoffnungen auf ein neues Aufgabengebiet wie dessen fürsorgerisch-überwachende Umsetzung erwiesen sich jedoch als trügerisch. Die von Gustav Kolb angestrebten „bald ziemlich vollständigen Ver825 Huber 1929 , 31. Ab 1928 wurden die Hilfesuchenden auch auf schriftlichem Wege beraten. 826 Dreikurs beispielsweise subsumierte die Kosten für die offene Fürsorge explizit unter die „produktiven Aufgaben“. Dreikurs 1926b , 870. 827 Ley 2003 , 192. Zur Erhebungspraxis , Erstellung von Fürsorgekarteien und der späteren Verwendung dieser Daten zur Erfassung von Personen , die im Zuge des GzVeN zwangssterilisiert wurden : ebd., 208 f. 828 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 41 ( 1922 ), 213 f. Sitzungsbericht vom 14. Oktober 1919. Berze nannte vor allem Franz Sickinger , der sich mit dieser Argumentation kritisch gegen die Kolb’schen Vorschläge wandte. 829 Ebd., 214. Die christlich-soziale Gemeinderätin Alma Motzko bezeichnete 1923 die städtische Fürsorge als ein „Spitzelsystem“. Zitiert nach : Sablik , 210.

6.4 Arbeitstherapie oder „Zimmer-Industrie“: Professionalisierung der Beschäftigungstherapie?

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zeichnisse der geistig anomalen Persönlichkeiten“830 und deren Erfassung innerhalb festzulegender Betreuungsgebiete gerieten insbesondere im städtischen Raum , wie Berzes nachfolgender Direktor Alfred Mauczka 1932 resignierend feststellte , keineswegs zu dem angestrebten , nämlich durchstrukturierten und vor allem „lückenlosen Netz“.831 Auch Josef Berze meinte 1937 rückblickend , dass er den weiteren Ausbau der psychiatrischen Fürsorge „zum Schutz der Gesellschaft“ nicht mehr durchzusetzen vermocht hatte. Ob er mit dieser Feststellung die aufgrund der personellen Unterbesetzung dieser Einrichtung vermutlich nur mangelhaft durchführbare Frühentlassung oder aber die nicht weiter vorangetriebene Erfassung der „geistig Abnormen“ und die von der praktischen Psychiatrie vielfach angestrebte Erforschung der „psychischen Grenzzustände“ meinte , ist seiner Rede im Detail leider nicht zu entnehmen.832 Neben und mit diesen auf eine Öffnung wie auch Erweiterung der Anstalt und ihres Aufgabenbereiches sich richtenden Maßnahmen veränderte sich auch das Leben innerhalb der Anstalt. Das Spektrum der stationär betreuten Personen blieb nicht unbeeinflusst und wirkte sich auf das wirtschaftliche Gefüge des Anstaltsbetriebes aus. Eben hier setzte , zeitlich nur wenig später , ein weiteres Reformprogramm an , mit welchem das Leben innerhalb der psychiatrischen Anstalt neu gestaltet werden sollte.

6.4 Arbeitstherapie oder „Zimmer-Industrie“: Professionalisierung der Beschäftigungstherapie? Der Beschäftigungstherapie wurde eine ordnende wie auch disziplinierende Funktion zugeschrieben , sowohl für das gemeinschaftliche Leben innerhalb der Anstalt , als auch für den Genesungsprozess selbst. Sie war inhärenter Teil der Anstaltspsychiatrie , aber nicht nur aus therapeutischen , sondern auch aus ökonomischen Gründen.833 In den 1920er-Jahren setzte sich eine nun verstärkt medizinisch indizierte Beschäftigungstherapie durch , die sich in einigen Punkten von der bisherigen Arbeitstherapie 830 Zitat Gustav Kolb. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 41 ( 1922 ), 208. Sitzungsbericht vom 14. Oktober 1919. Zur umfassenden Informationserhebung der Fürsorge sollten Formulare verwendet werden : Blätter für das Wohlfahrtswesen 26 ( 1927 ), 143. Ob diese auch tatsächlich Eingang in die Praxis der extramuralen Versorgung fanden , ist mir leider nicht bekannt. Über die normativen Vorgaben hinausgehende Quellen sind nicht erhalten ; in der Auflistung der Datenbasis zur Erstellung der „zentralen Erbkartei“ von 1938 finden sich keinerlei Hinweise zu Aufzeichnungen der psychiatrischen Außenfürsorge. Vgl. dazu : Czech 2003 , 44 f. 831 Mauczka 1932 , 496. 832 Berze 1937 , 284. Zu diesem Zeitpunkt war Berze aus Altersgründen nicht mehr Direktor der Anstalt Am Steinhof. 833 Vgl. dazu Abschnitt 3.2 der vorliegenden Arbeit.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

zu differenzieren suchte. Die sogenannte „aktive Krankenbehandlung“ sollte nicht mehr der bisherigen , von ökonomischen Aspekten geprägten Unterscheidung von „guten , verwendbaren“ und von zur Arbeit „unbrauchbaren“ Kranken folgen , sondern die „Beschäftigungstherapie“ zu einem medizinisch bestimmten Tätigkeitsbereich erheben.834 Hermann Simon , Direktor der Provinzialheilanstalt in Gütersloh , initiierte ein ausgeklügeltes System abgestufter Arbeitstherapie , mit der nun auch Patienten mit einbezogen wurden , die bislang als nicht beschäftigungsfähig galten.835 Im Unterschied zur traditionellen regelmäßigen Betätigung wurde beim Simon’schen Heilverfahren der psychotherapeutische Effekt verstärkt herausgehoben : „Üble Gewohnheiten können sich da , wo die aktivere Krankenbehandlung eingeführt ist , nicht mehr entwickeln ; wo sie sich früher entwickelt haben , werden sie wieder abgewöhnt. Unruhige Kranke beruhigen sich auffallend. [ … ] Das ganze Gesicht der Anstalt ist verändert worden. Auf den unruhigsten Wachabteilungen herrscht eine überraschende Ruhe.“836

Ziel der nun explizit ärztlichen Aufgabe war es , weitere Patientenkreise mit einzubeziehen und sowohl akute als auch chronische psychisch Kranke durch diese Therapie von ihren Sinnestäuschungen abzulenken und sie aus ihrer geistigen Abgeschlossenheit herauszuholen. Simon hielt 1924 in Innsbruck einen Vortrag über seine Methode der Behandlung Geisteskranker , erfuhr aber , so der Bericht im Organ der Standesvertretung , mit seinem neuen Ansatz lebhaften Widerspruch. Seine eigenen Behandlungserfolge sollten sich in den folgenden Jahren jedoch als überzeugend erweisen , regelmäßige Besichtigungsreisen von Fachkollegen in die von ihm geleitete Anstalt riefen zunehmend breitere Zustimmung hervor. Die allgemein übliche Bettbehandlung , aber auch die „Abteilungen für Unruhige mit ihren Dauerbädern , Einspritzungen und Packungen“ wären demnach nicht mehr nötig gewesen , mit der neuen Therapie ergebe sich „die Ordnung [ … ] wie von selbst“.837

834 Friedmann 1932 , hier : 498. 835 Vgl. ausführlicher zu der Selbst- , als auch der Anstalts- und der Gesellschaftsordnung als drei teilweise voneinander nicht zu unterscheidenden Referenzpunkten der Simon’schen Arbeitstherapie : Germann 2007. 836 Reiß 1929 , hier : 107. 837 Trapet 1926. Dem Pflegepersonal wurde hierbei große Bedeutung beigemessen ; dieses wurde von Hermann Simon ganz nach seinen Vorstellungen intern ausgebildet. Weitere wichtige Aspekte zur Umsetzung seines Programms waren entsprechende bauliche Voraussetzungen , eine ländliche Umgebung der Anstalt und eine nicht zu hohe Anzahl der Kranken.

6.4 Arbeitstherapie oder „Zimmer-Industrie“: Professionalisierung der Beschäftigungstherapie?

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Entgegen der vorherrschenden passiven Verwahrung sollten Simons Meinung nach die Kranken weit mehr als bislang angeregt und in das gesellschaftliche ( Arbeits- )Leben reintegriert werden. Der wirtschaftliche Nutzen und die möglichst gering zu haltenden Versorgungskosten waren aber auch hier ein gewichtiges Argument. In einem in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift abgedruckten Aufruf an alle Anstalten des deutschen Sprachgebietes bat Simon um die Mitarbeit an der 1926 in Düsseldorf stattfindenden „Gesolei“, der „Großen Ausstellung für Gesundheit , soziale Fürsorge und Leibesübungen“. Die im Rahmen der „aktiven Form der Beschäftigungstherapie“ produzierten Güter sollten dort entsprechend präsentiert werden. Die traditionelle „Hausindustrie“ – die Produktion und der profitorientierte Verkauf der Arbeiten – sollte nach Simon in den Anstalten zu einer „Zimmerindustrie“ transformiert werden. Der Unterschied zur traditionellen Beschäftigungstherapie in Landwirtschaft oder Gärtnerei – die bislang jede industrielle Beschäftigung als „gefängnismäßig“ verworfen hatte – bestand sowohl in der nun erhöhten pflegerischen Intensität als auch in der Art der Arbeit , welche „ohne Aufwand großer Geschicklichkeit , ohne Verwendung gefährlicher Werkzeuge und Maschinen und ohne Beschaffung wertvollen Materials“ zu gestalten sei.838 Simon charakterisierte seinen Reformansatz ausdrücklich nicht als Arbeit der Kranken , sondern als Arbeit an den Kranken , die aktivere Beschäftigungstherapie galt ihm auch nicht als eine ursächliche oder heilende , sondern als eine gleichermaßen die Ordnung in der Anstalt wie die Lebensführung der Kranken unterstützende Methode. Seine viel diskutierte und sich allgemein in der Anstaltspsychiatrie durchsetzende Reform erfuhr in späteren Jahren eine sozialdarwinistische Ideologisierung. Die Beschäftigungstherapie und die psychische Therapie im Allgemeinen sei der neuen Doktrin nach letztendlich Erziehung. Unsoziale Eigenschaften von psychisch Kranken gehörten nicht zur Grunderkrankung , sondern stellten , so Simon , lediglich Folgen verloren gegangener Anpassung an die Forderungen des Gemeinschaftslebens dar. Auch in Kulturstaaten sollten die zwei „Urgesetze“, die biologische Anpassungsfähigkeit und die Selbstverantwortung des Individuums , gelten. Diese könnten nur scheinbar vom Individuum auf die Gemeinschaft , Familie , Staat oder Krankenkassen übertragen werden. Die „Kunst des Anstaltspsychiaters“ bestehe demnach in der geeigneten „Lenkung , der erzieherischen Einwirkung auf die Kranken“. Der Anspruch an die Betreuenden war nun ein ganz anderer : Erst deren „Persönlichkeit , ihre Umsicht und ihre Erfahrung“ können die gesunden Anteile der Persönlichkeit der Kranken stärken. Demgegenüber „verhätschle die Fürsorge“ – und hierin besteht nun der zentrale 838 GESOLEI , An die Anstalten des deutschen Sprachgebietes. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 28 ( 1926 ), 39.

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ideologische Unterschied zwischen der traditionellen Beschäftigungstherapie und ihrer Reform – „die Vielzahl der Minderwertigen“. Der „Parasitismus socialis“ galt Simon als eine verderbliche Krankheit , die neue Form der Beschäftigungstherapie habe sich aber ganz andere Ziele gesetzt : „Der Kranke muss sich wieder darauf einstellen , dass er seine Ansprüche ans Leben nicht lediglich aus der Krankheit ableitet , sondern aus seinen Leistungen im weitesten Sinne des Wortes.“839 Angesichts der ökonomisch angespannten Situation wurden die finanzielle Vorteile des stets zur Verfügung „stehenden[ den ] Heer[ es ] von landwirtschaftlich tätigen Anstaltsinsassen“ nicht mehr bloß anstaltsintern verstärkt hervorgehoben. In der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift hieß es , dass „das Idyll der bisherigen Ideale abgedankt habe. An dessen Stelle erheben sich raue , aber klare Pflichten , die Pflicht der Leistungs- bzw. Rentabilitätssteigerung , die Pflicht der Sparsamkeit und die Pflicht zu einer gewissen psychiatrischen Robustheit“.840 In der für eine breitere Öffentlichkeit 1925 von Fritz Schulhof , Anstaltsarzt Am Steinhof , verfassten Schrift „Im Dienste der Geisteskranken“ wurde wiederum – und nur scheinbar gegensätzlich – die medizinische Zielsetzung des Simon’schen Ansatzes betont : „Jede Art von Arbeit ist imstande , den Kranken von seinen Leiden , seinen Ideen , selbst von seinen Halluzinationen abzulenken.“841 Sowohl der Anteil der arbeitenden Kranken im Vergleich zur Gesamtzahl der Patienten , die stets genau beachtete „Beschäftigungsrate“, als auch die Interaktion der Ärzte und des Pflegepersonals mit den Patienten und Patientinnen war aus „therapeutischen Gründen“ zu intensivieren. Ende des Jahres 1926 wurde in einer primarärztlichen Konferenz der Ausbau der Beschäftigungstherapie nun auch für die ­Wiener psychiatrische Institution beschlossen.842 Gemäß den Simon’schen Anregungen wurden ein Jahr später Heimwerkstätten in dreizehn Pavillons eingerichtet. Bislang von Pflegekräften bewohnte Räumlichkeiten , Untergeschoße der einzelnen Häuser und als Tagräume benutzte Flächen waren , soweit es die zu diesem Zeitpunkt bereits wieder stark angestiegene Zahl der Kranken zuließ , entsprechend zu adaptieren. Zudem waren für die Arbeitswerkstätten und die Landwirtschaft neue Maschinen anzuschaffen und der Obstgarten zu erweitern.843 Das grundsätzliche Problem , die aktive Beschäftigungstherapie gemäß den Simon’schen Vorgaben durchführen zu können , bestand im hohen personellen Aufwand und auch der – insbesondere im Vergleich zu 839 840 841 842 843

Simon 1930. Fuchs 1922 /  23. Schulhof 1925 , 75. Fritz Schulhof war von 1911 bis 1934 Anstaltsarzt Am Steinhof. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 2545 / 1926. Zirkular vom 17. Dezember 1926. Mauczka 1932 , 495 ; WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1445 / 1928. Vgl. zur Legitimierung der Anstaltspsychiatrie mittels fotografischer Aufnahmen von arbeitenden Patienten : Germann 2006.

6.4 Arbeitstherapie oder „Zimmer-Industrie“: Professionalisierung der Beschäftigungstherapie?

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ländlich gelegenen Anstalten – stärkeren Fluktuation der Kranken. Die Berichte anderer psychiatrischer Institutionen wiesen einen Anteil der arbeitenden Kranken von weit mehr als 90 Prozent aus und erweckten in ihrer Berichterstattung nachgerade den Eindruck eines Wettlaufes um diesbezügliche Raten zwischen den einzelnen Anstalten.844 Am Steinhof waren in den ersten Jahren nach Anstaltseröffnung durchschnittlich 24 Prozent der Männer und 13 Prozent der Frauen beschäftigt , vor dem Ersten Weltkrieg stiegen diese Zahlen auf 32 beziehungsweise 22 Prozent. Im Jahr 1932 , also einige Jahre nach der Etablierung dieser Simon’schen Methode , arbeitete etwa die Hälfte aller Kranken in der Anstalt.845 Offensichtlich erregte die von der Anstalt geforderte Arbeitsleistung auch Widerspruch seitens der Angehörigen , denn Pfleglinge , die in der Lage waren zu arbeiten , wurden von „medizinischen Laien“ als entlassungsfähig angesehen. Zur Rechtfertigung des Vorgehens betonte die Leitung stets , dass niemand zur Arbeit gezwungen werde. Dies erlaubte den Verantwortlichen , dass die als Heilmittel angesehene Arbeit auch nicht entlohnt wurde.846 Unabhängig von der tatsächlich erbrachten Leistung erhielten die arbeitenden Pfleglinge – 1922 waren dies rund 700 psychisch kranke Frauen und Männer – zur Abgeltung des erhöhten Kalorienverbrauchs beziehungsweise zur Anregung der Aufnahme einer Tätigkeit sogenannte „Kostzubußen“.847 Der finanzielle Anreiz stand insbesondere für schwere oder unangenehme Arbeiten , wie beispielsweise der „Reibpartie“, den zu Reinigungsarbeiten eingesetzten Frauen , in der Fassbinderei , am Geflügelhof , im Pferde- oder Schweinestall und in der Schmiede , weiterhin im Vordergrund. Als der Magistrat diese Begünstigungen streichen wollte , widersetzte sich die Anstaltsleitung mit dem Argument , dass ansonsten geeignete und arbeitswillige Patienten nicht zu gewinnen wären , bezahlte Arbeitskräfte aber aus finanziellen Gründen nicht eingestellt werden konnten.848 844 Die Beschäftigungstherapie wurde in Niedernhart ( Linz ) streng nach Simon ausgeführt. Dort haben 89 Prozent aller Patienten gearbeitet ( berechnet ohne die bettlägerigen Kranken ), sie deckten den gesamten anstaltsinternen Bedarf an Schuhen , Kleidern und Wäsche ab. Im Vergleich dazu arbeiteten in Salzburg 60 Prozent , in Feldhof 40 Prozent und in Klagenfurt , Mauer-Öhling , Gugging , Ybbs und Am Steinhof durchschnittlich ein Drittel aller Patienten. In der ­Wiener Anstalt wurde die gesamte Leib- und Bettwäsche auf diese Weise hergestellt. Darüber hinaus wurde eine beträchtliche Summe erwirtschaftet , mit der wiederum Beschäftigungsmöglichkeiten „unproduktiver Art“ finanziert werden konnten : Aiginger 1936. 845 Friedmann 1932 , 498. Inwiefern die ungleiche Rate arbeitender männlicher und weiblicher Patienten Ausdruck dafür sein könnte , dass bestimmte innerhäusliche Tätigkeiten erst gar nicht als „Arbeit“ angesehen wurden , ließ sich leider nicht eruieren. 846 Vgl. im Gegensatz dazu die entsprechenden Regelungen des Versorgungsheimes in Lainz : Ledebur 2005. 847 Schulhof 1925 , 75 f. ; WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 497 / 1922 ; ebd., Faszikel ‚Krankenangelegenheiten‘ o. Z. / 1920. Anfrage der Sanitätsabteilung für Slowenien und Istrien vom 31. Dezember 1919 an die Direktion Am Steinhof. Männliche Pfleglinge bekamen zudem Tabak. In : Friedmann 1932 , 498. 848 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , K 43 / 1922.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Ähnlich gestaltete sich dies bei der Beschäftigung von Patienten im Haushalt der angestellten Ärzte und Beamten. Diesbezügliche Regelungen sahen vor , dass bei den am Anstaltsgelände lebenden Familien jeweils höchstens ein Insasse arbeiten durfte. Insgesamt sollten die in Privathaushalten angestellten Patienten und Patientinnen die Gesamtzahl von 70 nicht überschreiten , außerdem durften für diese Tätigkeiten auch nicht die kräftigeren Pfleglinge herangezogen werden. Als Gegenleistung war , wie auch schon früher , eine festgelegte Summe an die sogenannte Krankenverdienstkasse zu bezahlen.849 Die Kontrolle über diese Angelegenheiten war der Direktion vorbehalten. Stets wurde betont , dass für die Beschäftigung „selbstverständlich therapeutische Gründe maßgebend sind“, wenn auch , wie eingeräumt wurde , „nicht zu übersehen ist , dass für die Angestellten aller Kategorien diese von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind“.850 Die Frage , inwiefern diese Form der „Patientenbeschäftigung“ auch den Aufnahmestatuten entsprochen habe , denen gemäß nur Kranke aufgenommen werden durften , die infolge ihrer Gebrechen arbeits- und erwerbsunfähig waren , wurde mittels einer ärztlich zu bestätigenden „teilweisen Arbeitsunfähigkeit“ umgangen. Die Tatsache , dass Patienten zu privaten häuslichen Tätigkeiten herangezogen werden durften , war auch immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen , da die Arbeitskraft der Patienten und Patientinnen primär der Anstalt – und somit zumindest indirekt der Öffentlichkeit – zugutekommen sollte.851 Aufgrund der immer wieder auftretenden Unregelmäßigkeiten und Überschreitungen der Vorschriften wurde die Beschäftigung von Patienten in den Privathaushalten der Ärzte , Angestellten und Beamten der Anstalt 1926 endgültig untersagt.852 Die rigorose Umsetzung der reformerischen Impulse rief auch medizinisch begründete Kritik hervor , da insbesondere für die als heilbar angesehenen Fälle Ruhe und Schonung weiterhin als wichtige therapeutische Aspekte der stationären Versorgung angesehen wurden. Johannes Bresler meinte beispielsweise , dass „dem Gehirn alle mögliche Ruhe gelassen werden solle“ und plädierte vielmehr alternativ für eine „Frei849 Vgl. dazu Abschnitt 3. 2.  850 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , o. Z. / 1922. Antwort vom 15. September 1922 auf eine Anfrage aus Brünn. In einem anstaltsinternen Rundschreiben wurde nach der Beschäftigung von Pfleglingen in den Privathaushalten von Anstaltsangestellten gefragt. Die nicht seltenen Überschreitungen der diesbezüglichen Bestimmungen waren dem Direktor Anlass , erneut ein Zirkular herauszugeben. So durften die Patienten nicht mehr bei den Ärzten arbeiten , auf deren Abteilung sie untergebracht waren. Es durften keinerlei Privatarbeiten , wie beispielsweise Nähereien , verrichtet werden. Prinzipiell war die Erlaubnis des Primars einzuholen. Ebd., A 714 / 1922. Vgl. auch zur Gleichsetzung von unbezahlter Arbeit und zeitgemäßer Therapie : Germann 2007 , 229. 851 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , D 54 / 1922. 852 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 2265 / 1926.

6.5 Fürsorge oder medizinische Behandlung? Der institutionelle Fokus auf die Epilepsie

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heitstherapie“, die ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen der Zahl der arbeitenden Kranken und denjenigen , die , wie es in manchen Anstalten in „offenen Abteilungen“ auch schon praktiziert wurde , freien Ausgang hatten und in weit weniger rigidem Ausmaße dem strengen Regime unterworfen waren.853 Was sich hier insgesamt zeigt , ist das Auseinanderklaffen eines Konzeptes , welches einerseits die „Beschäftigungstherapie“ als eine medizinisch-therapeutische Maßnahme zu etablieren versuchte , andererseits weiterhin ökonomischen Notwendigkeiten verpflichtet war. Das Modell der Simon’schen Arbeitstherapie war gegenüber den nach Julius Tandler als „produktive Kosten“ bezeichneten Zielvorstellungen ins Hintertreffen geraten. Im Vergleich zur traditionellen Integration der Patienten im Anstaltsbetrieb blieb der therapeutische Aspekt ein lediglich vordergründiger. Die zahlreichen Quellen zu der Am Steinhof nur ansatzweise etablierten intensivierten Beschäftigungstherapie nach Simon dokumentieren vielmehr deutlich , dass die finanziellen Aspekte dominierten und die kosteneffiziente Mitarbeit der Patienten und Patientinnen ein wesentlicher Aspekt des Funktionierens des Anstaltsbetriebes war.854 Entsprechend dieser Logik wurde auch der „nützlichen Arbeit“ ein größerer therapeutischer Wert als anderen , bloß der reinen Beschäftigung dienenden Tätigkeiten zugeschrieben , indem man meinte : „Die günstige Wirkung auf die Psyche der Kranken wird durch das in ihnen geweckte Bewusstsein , nutzbringende Arbeit zu leisten , zweifellos wesentlich vertieft.“855 Analog diesem Versuch der Verwissenschaftlichung bestimmter Aspekte der stationären psychiatrischen Versorgung zählte auch die im Folgenden zu behandelnde Frage der Unterbringung von Epilepsieerkrankten zu den vielfältigen Versuchen der Bemächtigung eines bislang nicht zum engeren Kanon der Disziplin gehörenden Gebietes.

6.5 Fürsorge oder medizinische Behandlung? Der institutionelle Fokus auf die Epilepsie Analog dem Behandlungsangebot für Alkoholiker wurde im Roten ­Wien die Betreuung für Menschen , die an Epilepsie litten , erweitert. Die zu Beginn dieses Kapitels festgehaltene Forderung nach separaten Versorgungseinrichtungen für spezielle Er853 Bresler 1926 , hier : 351. Von anderer Seite wurde eingemahnt , dass nicht zu sehr die für die Gesellschaft nützliche Arbeitsleistung gezählt , sondern vielmehr die handwerklich-künstlerische Auseinandersetzung gefördert werden solle. Dies bedinge aber einen höheren pflegerischen Aufwand : Illberg 1926. 854 Friedmann 1932 , 499. Dies zeigt sich unter anderem auch an den Angeboten , welche Arbeit ergriffen werden konnte. Frauen wurden , wohl entsprechend dem Leben außerhalb der Anstalt , insgesamt deutlich weniger Möglichkeiten zur „Beschäftigung“ gegeben. 855 Gemeinde ­Wien ( Hg. ), Das Neue ­Wien 1927 , 514.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

krankungsformen zeigt auch in diesem Fall sowohl die neuartige psychiatrische Aufmerksamkeit als auch den Versuch einer professionspolitischen Etablierung. Ähnlich wie beim Alkoholismus wurden Ursachen , Verlauf , Prognose wie auch mögliche Therapien der Epilepsie intensiv erforscht , führten aber in diesem Bereich zu divergierenden Theorien. Eine weitere Differenz zwischen diesen beiden Gebieten bestand in der Versorgung der Epilepsiekranken. Denn im Gegensatz zur Betreuung von Alkoholikern wurde diese innerhalb der Profession sehr kontrovers diskutiert. Die Betreuung von den an unterschiedlichsten Formen der Epilepsie erkrankten Menschen erfolgte lange Zeit keineswegs einheitlich. Teilweise waren diese in Kranken- , Versorgungs- , oder auch Armenhäusern oder , wie diejenigen , die infolge der Symptomatik auch geistig erkrankt waren , in psychiatrischen Institutionen untergebracht.856 Die seitens der Psychiatrie gestellte Forderung nach einer Institution eigens für Epilepsiekranke zielte auf zwei Personengruppen. Erstens waren die aufgrund ihrer Anfälle pflegeintensiven Patienten zu versorgen , zweitens auch diejenigen stationär unterzubringen , die zwar über längere Intervalle als anfallsfrei , aber dennoch als überwachungsbedürftig angesehen wurden. Zudem sollten die Versorgungshäuser von ihrer Verantwortung für diese Patienten enthoben werden. Im Niederösterreichischen Landtag wurde anlässlich des Patientenanstiegs in der Anstalt Am Brünnlfeld bereits um 1900 die Einrichtung einer sehr einfachen und vor allem kostengünstigen Institution für Epilepsiekranke diskutiert. In dem daran anzuschließenden landwirtschaftlichen Betrieb könnten , wie Steiner , der in dieser Agenda zuständige Landtagsabgeordnete , äußerst pragmatisch argumentierte , „diese Epileptiker zur Arbeit verwendet werden“.857 Im Jahre 1910 wurde zur Einrichtung einer Pflegeanstalt für Epilepsiekranke vom ­Wiener Stadtphysikat ein entsprechendes Gutachten erstellt. Die Pläne zu der aus humanitären Gründen als dringend notwendig angesehenen Einrichtung scheiterten jedoch aus finanziellen Gründen.858 Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden die bis dato nicht realisierten Vorhaben erneut aufgegriffen. In Ermangelung einer speziellen Institution wäre , so die Intention , die „geeignete fachärztliche Behandlung“ Am Steinhof zumindest ansatzweise in Form von Übergangslösungen zu gewährleisten : Ein Erlass von 1920 legte fest , geis856 Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erste Ansätze zu einer gedanklichen Trennung von Epilepsie und Geisteskrankheit. Heute sind die epileptischen Erkrankungen der Neurologie zugeordnet. Vgl. : Berrios 1995. 857 STPNÖ , Stellungnahme in der 8. Sitzung der IV. Session am 5. Juni 1905 , 192. Der Kredit von 350. 000 Kronen war bereits bewilligt. In : ebd., 6. Sitzung der IV. Session am 2. Juni 1905. Vermutlich scheiterte dieses Vorhaben an der bereits in Bau befindlichen Anstalt Am Steinhof , deren Kapazität alternative Versorgungsformen vorerst nicht nötig erschienen ließ. 858 Dreikurs 1926a.

6.5 Fürsorge oder medizinische Behandlung? Der institutionelle Fokus auf die Epilepsie

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teskranke Epileptiker ausschließlich auf geschlossenen Abteilungen und erwerbsunfähige wie pflegebedürftige Epileptiker in Versorgungs- und Siechenanstalten aufzunehmen. Novum dieser Regelung war das erweiterte Betreuungsangebot , nämlich dass Am Steinhof nun auch diejenigen stationär verpflegt werden konnten , die einer fachärztlichen Behandlung bedurften , welche ambulant nicht möglich gewesen wäre.859 Zudem wurden hier auch an Epilepsie erkrankte Frauen aufgenommen , die ( noch ) keine psychischen Symptome hatten.860 Diesen wurde eine Hälfte des für Frauen bestimmten Aufnahmepavillons zugewiesen und ausdrücklich festgelegt , dass die sonst in der Anstalt geltenden Freiheitsbeschränkungen hier nicht gültig seien.861 Trotz der abgesonderten Lage im Eingangsbereich des Anstaltsgeländes erwies sich dieses Angebot als wenig ideal , da , wie Erwin Stransky feststellte , „viele Patienten dieser Art von der an den Steinhof angegliederten Abteilung nichts wissen wollen , da diese [ Institution ; S. L. ] nun einmal als reine Irrenanstalt gilt“.862 Zudem gab es neben dieser , auch quantitativ unbefriedigenden Lösung , für männliche Epileptiker keinerlei stationäre Betreuung in besonders anfallsreichen Phasen , ohne sich in eine dauerhafte Versorgung begeben zu müssen.863 Bisherige Initiativen zielten vor allem auf Fragen der adäquaten Form der Unterbringung und Pflege ab , welche bloß nach Stadium und Art der Erkrankung divergierten. Dies änderte sich in weiterer Folge signifikant , denn die medizinische Behandlung der Kranken sollte nun in den Vordergrund treten. Im Juni 1925 wurde Am Steinhof eine „therapeutische Versuchsstation für Epilepsiekranke“ eröffnet. Die Leitung der vom ­Wiener Gemeinderat nur vorläufig bewilligten864 und anstelle der bisherigen stationären Versorgung für „geistesgesunde Epileptikerinnen“ tretenden

859 WStLA , Mag. Abt. 209 , Faszikel ‚Krankenangelegenheiten‘ K 145 / 1920. Stand die epileptische Erkrankung im Zusammenhang mit einer Kriegsverletzung , so musste die Behandlung von der Invalidenentschädigungskommission finanziert werden. 860 Anonym , Epileptikerfürsorge in Niederösterreich 1920 /  21. Der Niederösterreichische Landesrat bewilligte zur Einrichtung dieser Abteilung 40. 000 Kronen. Die Aufnahme der Kranken erfolgte ausschließlich über den Steinhof , die meisten wurden aber nur kurze Zeit beobachtet und anschließend nach Gugging transferiert. Dort wurden auch an Epilepsie erkrankte Kinder betreut. 861 Magistrat der Stadt ­Wien ( Hg. ), Die Gemeindeverwaltung 1927 , 356. 862 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 45 ( 1927 ), 87. Sitzungsbericht vom 10. November 1925. Diskussion zum Vortrag von Rudolf Dreikurs zur sozialen Fürsorge in der Psychiatrie. Die Freiwilligkeit der Aufnahme mag gemäß einer späteren Aussage ( von Felix Frisch , s. u. ) auch nicht ganz zugetroffen haben. Hintergrund war , dass viele der medikamentösen Behandlungen nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt und diese Patienten mit deren Aufnahme Am Steinhof stattdessen der Gemeinde ­Wien überantwortet werden konnten. In : ebd., 321. Sitzungsbericht vom 25. Jänner 1927. 863 Dreikurs 1925 , 259 f. 864 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 207 / 1925.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Einrichtung wurde dem Neurologen Felix Frisch übertragen. Frisch zählte nicht zum Ärztestand der Anstalt und übernahm diese Stelle unentgeltlich.865 Diese von der restlichen Anstalt relativ unabhängige und mit einem eigenen Labor versehene Abteilung wurde für achtzehn Personen konzipiert und rasch auf 25 Betten erweitert. Die Hoffnungen auf die Forschungsergebnisse der „Versuchsstation“ waren hochgesteckt , die Verwaltung propagierte diese Einrichtung als einen für ­Wien zukünftigen „Kristallisationspunkt einer ausgedehnten Epileptikerfürsorge“: Deren Grundlagen wären die in den Jahren zuvor erarbeiteten „wissenschaftlichen Erkenntnisse der neueren Zeit über die große Bedeutung , welche Stoffwechselstörungen und konstitutionelle Anomalien bei der Entstehung epileptischer Anfallszustände besitzen“. Ziel der Arbeiten an der Versuchsstation war es , „die im individuellen Falle maßgebende Störung festzustellen , zu analysieren und durch ihre Bekämpfung eine therapeutische Beeinflussung dieser Krankheit zu erwirken“.866 Die Erklärungen möglicher Ursachen der Epilepsie waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts ebenso unterschiedlich wie ihre Behandlungsarten. 867 Die Heredität der Epilepsie und deren angebliche degenerative Eigenschaften wurden ebenso debattiert wie die sich auf die ungeklärten Zusammenhänge zwischen Epilepsie und Geisteskrankheit richtende „Frage der kombinierten Psychosen“.868 Um die Jahrhundertwende wurde diese Erkrankung intensiv erforscht ; dies zeigt sich nicht zuletzt an der 1909 in Budapest begründeten Internationalen Liga gegen Epilepsie869 und an den in Fachzeitschriften zunehmend häufigeren theoretischen und kasuistischen Ausführungen zu diesem Themenkomplex. Die Vielfalt der Beiträge zeichnet sich durch ihr Nicht-Wissen aus , die Hoffnung auf zukünftige Forschungen wurde stets zum Ausdruck gebracht. Johannes Bresler meinte beispielsweise , dass diese jedoch „Aufschlüsse erwarten lassen , die weit hinein ins dunkle Gebiet der allgemeinen Psychopatholo-

865 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 384 / 1925. Unterstützt wurde er von Karl Walter , der dafür die Position eines Vertragsarztes erhielt und während der Dauer seiner Anstellung auf die Ausübung seiner Privatpraxis verzichten musste. Ernst Fried war Assistent am Laboratorium dieser Station : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 299 / 1926 ; Verlängerung seines Vertrages : ebd., 1505 / 1926. Vom 1879 geborenen Neurologen Felix Frisch ist leider nur wenig bekannt. 1905 promovierte er in ­Wien , er war Konsiliararzt im Spital der Israelitischen Kultusgemeinde , 1938 ist er in die USA ausgewandert. In : Feikes 1999 , 167. 866 Gemeinde ­Wien ( Hg. ), Das Neue ­Wien 1927 , 520. 867 Überblicke bei : Dwyer 1992 ; Berrios 1995. Vgl. zu den zahlreichen mit dieser Erkrankung verbundenen moralischen und stigmatisierenden Aspekten : Porter 1995. 868 Gaupp 1903 ; Stransky 1906. 869 Die daraus hervorgegangene und bis heute regelmäßig erscheinende Zeitschrift „Epilepsia“ widmete sich dem „Studium der Pathologie und Therapie , der sozialen und der juristischen Aspekte der Epilepsie“. Sie stand unter dem Patronat von Wladimir M. Bechterew , Otto Binswanger , Joseph J. Déjérine , Hughlings Jackson und Heinrich Obersteiner. Ein kurzer Überblick bei : Janz 2007.

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gie führen“.870 Eben jenes Bewusstsein , erst ganz am Beginn der klinischen Forschung eines Spezialgebietes zu stehen , zeigt sich bereits an der Benennung der Am Steinhof neu eingerichteten Station. Der erste offizielle Bericht zu deren Tätigkeit erschien , wie bereits zitiert , im „Neuen ­Wien“. Dieser Darlegung liegt ein in den Direktionsakten archiviertes und unveröffentlichtes Schreiben zugrunde. Darin festgehaltene medizinische Details wurden für die weitere Leserschaft des „Städtewerks“ herausgenommen , dabei aber eine einzelne und signifikante Passage für die Veröffentlichung zensuriert : „Auch darf nicht übersehen werden , dass es sich hier um ein erstmaliges vorsichtiges Tasten handelt , für welches so gut wie gar keine Erfahrungen vorliegen.“871 Forschungsschwerpunkt des verantwortlichen Leiters der neuen Abteilung waren Stoffwechseluntersuchungen. Zur Verfügung standen ihm dazu 22 Frauen und drei Männer aus der Anstalt und weitere drei ambulant behandelte Personen. Felix Frisch und sein Assistent , der Chemiker Ernst Fried , führten zahlreiche vergleichende Blutuntersuchungen , wie beispielsweise auf Blutzucker , Reststickstoffe , Elektrolytverhältnisse von Kalium , Calcium und Chloride und die Wasserstoffionenkonzentration in Phasen mit selteneren und vergleichsweise zahlreichen epileptischen Anfällen durch , prüften die elektrische Erregbarkeit und nahmen Überventilationsversuche unmittelbar vor und nach den Anfällen vor.872 Die lebensgefährliche Komplikation der Epilepsie , der status epilepticus , galt als bereits beherrschbar ,873 und die „systematisch durchgeführten Untersuchungen“ wurden als so weit fortgeschritten eingeschätzt , dass mit „rationellen , durch fortlaufende Stoffwechselbestimmungen stetig kontrollierten therapeutischen Versuchen“ begonnen werden könne.874 Als ein die aufwändige Arbeit hindernder Faktor sah Frisch jedoch das ihm zur Verfügung stehende „Krankenmaterial“ an , zumeist alte , aus Versorgungshäusern stammende Patienten , welche seiner Ansicht nach „durchwegs nicht geeignet und den Problemstellungen angepasst“ waren.875 870 Bresler 1908 /  09a , hier : 246. 871 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 961 / 1926. Bericht der Versuchsstation nach dreimonatiger Arbeitszeit. 872 Ebd. In weiterer Folge waren Untersuchungen zur Abderhald’schen Fermentreaktion , die Eiweißfraktionen und die physikalischen Änderungen des Serums geplant. Eine frühe und gemeinsame Publikation : Frisch , Fried 1926. 873 Frisch 1929. Die Therapie beruhte auf Aderlass und gleichzeitiger Infusion von Traubenzuckerlösung. 874 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 961 / 1926. Im November dieses Jahres war eigens die Zahl der internierten Epileptiker erhoben worden : Unterschieden wurde nach „geisteskranken“ ( 174 ) und „freiwilligen“ ( 27 ) Epileptikern. Der überwiegende Teil war in der Pflegeanstalt ( 91 Männer , 79 Frauen ), die restlichen Patienten am Pavillon 23 untergebracht. In der Heilanstalt waren insgesamt neun männliche und acht weibliche Epilepsiekranke zur „freiwilligen“ Aufnahme gekommen. In : WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , A 1926 / 1925. 875 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1892 / 1925. Inwiefern dieser spezielle , wenn nicht gar prekäre Aspekt die Durchführung der Versuche erst möglich machte , findet sich weder in den Akten der Direktionsregist-

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

Ansatzpunkt der Forschungen von Felix Frisch waren die von ihm beobachteten , als charakteristisch für die Epilepsie angesehenen Stoffwechselstörungen , welche bis dato in der Pathologie dieser Erkrankung wenig beachtet worden waren. Damit wandte er sich auch gegen die Differenzierung als einer entweder „symptomatischen“ oder „genuinen“ Epilepsie. Diese erst post mortem zu treffende Unterscheidung beruhte darauf , dass bei ersterer Form anatomische Veränderungen der Hirnsubstanz erkennbar beziehungsweise bei letzterer solche Änderungen nicht nachweisbar waren.876 Für die klinische Forschung war diese morphologische Differenzierung schlicht irrelevant. Ziel des Leiters der Versuchsabteilung war es , möglichst zahlreiche vegetative Funktionen zu messen , um ein komplexes Bild der individuellen Störungen zu gewinnen. Dabei grenzte er sich von früheren Untersuchungen der Stoffwechselvorgänge in der Pathogenese der Epilepsie und der sogenannten Intoxikationshypothese ab , mit der man lange Zeit nach einem spezifischen Giftstoff als Auslöser von Anfällen gesucht hatte. Dabei warnte er , vorschnell gedankliche Verbindungen zwischen den abnormen chemischen Befunden und den jeweiligen Symptomen und Messungen zu erstellen.877 Die sich im Zuge von Frischs Forschung zeigenden „charakteristischen Schwankungen“ der seriellen Versuche wären , so der Leiter der Versuchsabteilung , in eine „verständliche Ordnung“ zu bringen. Abgesehen von einigen Fällen , die aufgrund der Vorgabe seiner Methode „versagten“, somit vermutlich nicht die gewünschten Ergebnisse zeigten , meinte er , von diesen Daten und den von ihm ermittelten „krankhaften Zusammenhängen“ ausgehen und zu einem aktiven therapeutischen Verfahren schreiten zu können.878 Seine Studien ergaben auch weiterhin sehr breit gestreute Stoffwechselveränderungen , die Frisch in einem Umkehrschluss als charakteristisch für die labile Konstitution der Epileptiker ansah und welche der Grund sowohl für das klinisch sehr heterogene Erkrankungsbild als auch das „charakteristische Wesen“ der Kranken seien. Zudem erlaubte diese Erklärung die Periodizität der Anfälle wie auch die objektiven und subjektiven , während der Intervalle erlebten Gefühle von Gesundheit zu integrieren.879 Ausgehend von der Konstitutionslehre erklärte Frisch , dass die Anlage zur Epilepsie vererblich sei. Auslöser des Ausbruchs der Erkrankung wären aber „konditionelle Hirnreize“, die er als unspezifisch , zugleich aber auch als substituierbar bezeichnete.

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ratur noch in den Publikationen von Felix Frisch eigens benannt. Vgl. allg. zu dieser Thematik : Griesecke , Krause , Pethes , Sabisch 2009. Frisch 1937 , 71 ; vgl. dazu auch : Redlich 1909. Frisch 1937 , 26 f. WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 961 / 1926. Frisch 1937 , 26 f.

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Seine Therapie zielte auf eine Beeinflussung beider dieser Faktoren ab.880 Gegenüber der traditionellen und symptomatisch ausgerichteten Behandlung mit Brom und ihren Derivaten war Frisch generell sehr skeptisch eingestellt. Dezidiert wandte er sich gegen chirurgische und hormonelle therapeutische Ansätze.881 An Epilepsie leidende Kinder , vor allem diejenigen , die zahlreiche kleinere Anfälle hatten – eine Form , die allgemein als therapieresistent galt – wurden von ihm angeblich erfolgreich mit endolumbalen Lufteinblasungen behandelt.882 Frisch zielte vor allem aber darauf ab , eine ursächliche Therapie zu entwickeln , welche auf den zur Maxime seiner Theorie erhobenen Veränderungen des Serumeiweißbildes basieren sollte.883 Dieser bei Epileptikern generell erhöhte Faktor veränderte sich prä- und postparoxysmal auf charakteristische Weise. Eine Verringerung des körpereigenen Eiweißes , beziehungsweise eine Verhinderung epileptischer Anfälle konnte mittels Diäten , wie der ( nach Toulouse-Richet ) schon länger praktizierten kochsalzarmen Kost , oder auch mittels rigoroser Hungerkuren erreicht werden. Frisch suchte darüber hinaus , die von ihm im Tierversuch bereits erlangte Bestätigung seiner Theorie in alternative therapeutische Verfahren umzusetzen. Einerseits basierte seine Behandlung auf verschiedenen , jeweils individuell verordneten Diäten und auch auf psychischen Beeinflussungen , andererseits intendierte er – analog zu der populären Impftherapie der progressiven Paralyse von Wagner-Jauregg – , eine „Reizkörpertherapie“ zu etablieren.884 Schwer demente und aufgrund der Aussichtslosigkeit des Stadiums ihrer Erkrankung nicht mehr therapierte Epileptiker wurden versuchsweise mit Ricin immunisiert. Frisch berichtete von durchweg guten Erfolgen , nämlich deren weitgehende Immunität gegenüber weiteren epileptischen Anfällen.885 Der Grund , warum er die Untersuchungsergebnisse in diesem frühen Stadium seiner Forschungen veröffentlichte , war vermutlich der jähe Abbruch seiner erst am Beginn stehenden Arbeit. Ende des Jahres 1927 wurde die „therapeutische Versuchsstation“ geschlossen.886 Der nur wenige Jahre zuvor im „Neuen ­Wien“ enthusiastisch formulierten Hoffnung steht in späteren Anstaltsberichten kaum mehr als eine Erwäh880 Frisch 1928b , 52 ; Frisch 1928c. 881 Eine ausführliche Stellungnahme bei : Frisch 1934. 882 Frisch 1929 , 627. Diese seit 1926 von ihm praktizierte Methode wurde vorwiegend bei Fällen von Hydrocephalus ( in Kombination mit der Diagnose Epilepsie ) angewandt : Frisch 1937 ; Frisch 1930. 883 Ähnliche Beobachtungen machte auch schon Starlinger bei seinen Patienten und Patientinnen in Mauer-Öhling. In : Frisch 1928a , hier : 839. 884 Die Verminderung beziehungsweise das gänzliche Sistieren epileptischer Anfälle bei Fieber , akuten oder chronischen Infektionskrankheiten , Entzündungen und Eiterungen war schon lange beobachtet worden. 885 Frisch 1928a , 841. 886 WStLA , Mag. Abt. 209 , A 1 , 1273 / 1928.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

nung dieser Einrichtung gegenüber.887 Es finden sich , außer resignierenden Stellungnahmen seitens Felix Frischs ,888 keinerlei weitere Hinweise. Anzunehmen ist , dass deren Schließung im Zusammenhang mit dem Ende der 1920er-Jahre und dem nicht zuletzt ökonomisch bedingten , starken Anstieg der Patientenzahlen Am Steinhof stand , welche Programme einer kurzfristiger wirksamen und somit praktikableren Lösung , nämlich primär die Versorgung der vielen Kranken , an deren Stelle treten ließ. Erste Ideen einer „fachlichen Fürsorge“ für Epilepsiekranke formulierte 1919 Otto Marburg , Nachfolger Heinrich Obersteiners in der Leitung des Neurologischen Instituts in ­Wien. Dabei fokussierte er auf die Verhütung der Krankheitsentstehung , die seiner Ansicht nach „vornehmste Aufgabe der modernen Medizin“.889 Seiner Ansicht nach war diese Erkrankung sowohl von konstitutionellen ( nach Tandler ) als auch durch konditionelle , also umweltbedingte Faktoren verursacht und könnte in ihrer Häufigkeit teilweise über Eheverbote verringert werden. Dabei warnte er aber vor dem Unwissen der Vererbungswege. Marburgs Forderung nach einer spezifischen Fürsorge und der Unterbringung beziehungsweise Betreuung von Epileptikern in eigens einzurichtenden Anstalten wurde erst wieder 1926 von Rudolf Dreikurs aufgegriffen. Dieser begründete sein Engagement für eine neuartige Institution vor allem mit der Existenz zweier unversorgter Gruppen. Dies wären zum einen Kinder , die wegen ihrer epileptischen Anfälle vom Schulbesuch ausgeschlossen , aber nicht so schwer krank waren , um sie in „Idioten- oder Irrenanstalten“ unterzubringen , somit seiner Meinung nach ohne eine spezielle Versorgung unrettbar der Verwahrlosung anheimfallen würden. Zum anderen wiesen Epileptiker im Vergleich zu anderen psychisch Erkrankten die höchste Verbrechensquote auf und müssten folglich prophylaktisch besser versorgt werden. Insbesondere die Ausgaben für die an Epilepsie erkrankten Kinder seien , wie Dreikurs ganz im Denken seiner Zeit argumentierte , als produktive Ausgaben zu verbuchen , da sie in einer separaten Institution einer „systematischen Behandlung“ zugeführt und somit die drohenden Gefahren abgewehrt werden könnten.890 Weiters sei weder die Unterbringung psychisch gesunder Epileptiker in einer psychiatrischen Anstalt wünschenswert , noch befördere umgekehrt die Anwesenheit von Patienten mit häufig auftretenden Anfällen die nötige Ruhe auf solchen Abteilungen.891 Die noch großen Unklarheiten auf diesem Gebiet sollten mit887 Mauczka 1932 , 496 ; Magistrat der Stadt ­Wien ( Hg. ), Die Verwaltung der Bundeshauptstadt ­Wien 1933 , 974. 888 Frisch 1928a , 843 ; Frisch 1934 , 875. 889 Marburg 1919. 890 Dreikurs 1926b , 871 f. Eine weitere von ihm benannte Teilgruppe waren die während des Ersten Weltkrieges Verletzten und in der Folge an epileptischen Anfällen Leidenden. 891 Dreikurs 1926a , 602 f.

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tels statistischer Erhebungen untermauert werden , Beginn und Dauer der Erkrankung , Häufigkeit und Art der Anfälle und die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen wären dringend zu erfassen. Dabei war jedoch keineswegs klar , wie diese Daten überhaupt erhoben werden könnten , da , wie die Verantwortlichen meinten , von den Angehörigen Epilepsie vielfach verschwiegen , mit anderen Krankheiten verwechselt oder auch gar nicht erkannt werde.892 Österreichs Fürsorge wurde hinsichtlich dieses speziellen Bereichs als besonders rückständig bezeichnet. Die in Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden öffentlichen und teilweise – wie in Wuhlgarten bei Berlin – sehr großen und am Lande gelegenen Anstalten für Epilepsiekranke galten als Vorbild , waren jedoch nicht gänzlich unumstritten. Deren Befürworter wollten die sehr unterschiedlich Erkrankten innerhalb einer Institution getrennt je nach der Art ihres Leidens unterbringen. Nach Dreikurs sollte eine solche gesonderte Institution keineswegs eine „reine Verwahranstalt“ sein , sondern vielmehr der Therapie , wie auch der wissenschaftlichen Forschung dienen. Ein Komitee zur Erörterung der , wie Emil Redlich meinte , „allgemeinen Ratlosigkeit gegenüber der großen Menge der Epileptiker“ sollte entsprechende Vorschläge für den kommenden „Irrenärztetag“ ausarbeiten.893 Einer der Hintergründe der angeblichen Notwendigkeit spezialisierter Anstalten nur für diese Patientengruppe war das weitverbreitete Vorurteil eines spezifischen „epileptischen Wesens“ oder „epileptischen Charakters“, welcher in seiner letzten Ausformung , wie bereits erwähnt , auch mit der besonderen Häufung von Verbrechern im Zusammenhang mit der epileptischen Symptomatik begründet wurde. Wie von der historischen Forschung aufgezeigt werden konnte , ist dieser diskriminierende Diskurs der Verbreitung angeblicher spezifischer Charaktereigenschaften zeitgleich mit der seit den 1860er-Jahren allgemein üblichen Behandlung der Epilepsie mit Bromiden aufgekommen. Die teilweise sehr hohen Bromdosierungen zogen erhebliche psychische und kognitive Nebenwirkungen nach sich. Die seitens der Profession vielfach gezielt betriebene Stabilisierung und weitere Verbreitung der Ressentiments ge892 Wie die – auch im internationalen Vergleich stark schwankenden – Daten verlässlich erhoben werden könnten , blieb unklar. Es gab Vorschläge , diese über Schulen , Musterungen , Fürsorgeeinrichtungen und Obduktionen zu gewinnen. Als eine „ideale , aber zunächst wohl kaum durchzuführende“ Lösung dieser Problematik galt die Erstellung eines Gesundheitskatasters , welcher zudem die „hereditären Faktoren“ mit erfassen könnte. In : Redlich 1927. Nach den Berechnungen des ­Wiener Magistrats fanden zwischen 1903 und 1906 jährlich etwa 400 Epileptiker Aufnahme in öffentlichen Anstalten. Eine Schätzung aus dem Jahr 1925 belief sich auf rund 1. 000 Erkrankungen , wobei diese überwiegend keine psychischen Komplikationen hatten. In : Dreikurs 1926a , 602. 893 Eine ausführliche Diskussion findet sich bei : Redlich 1927. Dreikurs’ Vorschläge dienten dabei als Ausgangspunkt der Diskussion. Hier : 319. Vgl. die Auseinandersetzung zu den Vor- und Nachteilen einer gesonderten Institution : Marburg 1919 , 217 f.

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6. Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er-Jahren

genüber den an Epilepsie Erkrankten diente der Abwehr der ohnehin nur geringen fachinternen Kritik an dieser Medikation , vielmehr aber noch zur Sicherung des Gegenstandsbereichs Epilepsie innerhalb der Psychiatrie.894 Die von Emil Redlich im Verein für Psychiatrie und Neurologie geforderte , für etwa sechs- bis achthundert Personen zu dimensionierende Einrichtung sollte nicht bloß betreuende Funktionen übernehmen , sondern darüber hinaus auch der Forschung dienen. Zudem plädierte Redlich für eine unentgeltliche Abgabe von Medikamenten , die via der Fürsorgestelle für psychisch Kranke organisiert werden sollte.895 Sein Vortrag wurde allerdings kontrovers diskutiert. Dem Modell spezialisierter Anstalten stand das sogenannte „Verdünnungsprinzip“ gegenüber , welches beispielsweise in Mauer-Öhling seit der Eröffnung 1902 praktiziert wurde. Josef Starlinger , Leiter dieser niederösterreichischen Einrichtung , berichtete von durchweg guten Erfahrungen der gemeinsamen Unterbringung von psychisch Kranken und Epileptikern. Letztere waren auf unterschiedliche Abteilungen aufgeteilt , und die Kinder konnten sogar eine Schule besuchen.896 Ob nun seine im Verein vehement vertretene Stellungnahme oder aber die zu diesem Zeitpunkt bereits drastischen finanziellen Schwierigkeiten der öffentlichen Versorgungseinrichtungen letztendlich den Ausschlag gegen eine spezialisierte Einrichtung für Epilepsiekranke gaben , ist nicht im Detail bekannt. Ähnlich dieser Entwicklung blieb auch die geforderte Intensivierung der Beschäftigungstherapie an die restriktive Finanzierung der Anstaltspsychiatrie gebunden. Die Behandlung der Alkoholsüchtigen und die Forschungstätigkeit zu Ursache und Therapie der Epilepsie konnten – insbesondere gemessen am Ausmaß der bestehenden sozialen Problematik – die neuen Ansätze in einer quantitativ wohl nur unzureichenden Weise umsetzen. Die mit großen Erwartungen verbundene , sowohl auf Ein- als auch Ausschlussverfahren basierende Weiterentwicklung der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ blieb vielfach ein bloß technizistisches Einteilungsdenken. Dieses sollte jedoch dramatische Folgen nach sich ziehen. Der Fokus der Psychiatrie auf die an Epilepsie Erkrankten , ebenso wie der auf die Alkoholsüchtigen und die Klientel der offenen Fürsorge , welche zu weiten Teilen der Über-

894 Vgl. dazu : Möller 2006. Das Vorurteil eines angeblichen „epileptischen Wesens“ wurde erst ab den 1980er-Jahren kritisiert. 895 Redlich 1927 , 1361. In der daran anschließenden Diskussion im Verein der Standesvertreter forderte man die Verbilligung von Luminal , einer ersten Alternative zu den Brompräparaten. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 46 ( 1929 ), 174–176. Sitzungsberichtsbericht vom 12. September 1927. Die Krankenkassen finanzierten diese Medikamente zumeist nicht über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg : Redlich 1927 , 321. 896 Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 46 ( 1929 ), 174–176. Sitzungsberichtsbericht vom 12. September 1927.

6.5 Fürsorge oder medizinische Behandlung? Der institutionelle Fokus auf die Epilepsie

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gangszone zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit beziehungsweise ( scheinbar ) konkret dem größeren Diagnosekomplex der „Psychopathie“ zugeordnet wurde , sollte sich im NS-Regime wieder zeigen , jedoch unter veränderten Vorzeichen und entblößt von jeglichem sozialen Engagement und Empathie für die Betroffenen.

7. Zusammenfassung Man kann „Wissen“ eng definieren und darunter nur intersubjektiv ausweisbare Tatsachenbehauptungen verstehen – sei es über physische oder mentale ( „innere“ ) Sachverhalte. Über intersubjektiv kriteriell überprüfbare Gegebenheiten hinaus kann „Wissen“ jedoch auch weiter gefasst werden und beispielsweise weltanschauliche Überzeugungen oder praktische Kompetenzen mit umschließen. In der Tat sprechen die Quellen dieser großen Institution jenseits der Dokumentation konkreter organisatorischer Veränderungen und institutioneller Neuerungen vielfach mit nur leiser Stimme. Der weite , von Michel Foucault geprägte und die Kulturwissenschaften maßgeblich beeinflussende „Wissens“-Begriff zielt über ein bloß nachweisbares Tatsachenwissen hinaus auf ein , beispielsweise im Alltag institutioneller Abläufe zutage tretendes praktisches Wissen , welches vielfach nicht explizit gemacht wurde. Wissen in diesem umfassenden Sinne zeigt sich an den An-Ordnungen und auch Artefakten der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ , ihren topografischen Strukturen , betriebswirtschaftlichen Kalkülen , der Pflege und Verwaltung und den Debatten um die Grenzen der Zuständigkeit der Wissenschaft. Doch auch dieser weiter gefasste Wissensbegriff genügt nicht , wie wir sahen : Die Organisation und Selbstthematisierung der Anstalt kreiste immer wieder auch um den Gegenpart , das Nicht-Wissen beispielsweise dort , wo eigentlich die Grenze zwischen Normalität und Nicht-Normalität verläuft , oder auch ein Nicht-Wissen , wie man bestimmte Krankheitsbilder abgrenzt und kausal deutet. Die vorliegende Arbeit versuchte , die primär versorgungstechnisch ausgerichteten Praktiken und scheinbar selbstverständlichen Wissensanwendungen zu rekonstruieren und diese , soweit es die Dokumente zulassen , immer zugleich in einem weiteren Kontext der Anstaltsarchitektur , -planung und -verwaltung wie auch der psychiatrischen und sozialhygienischen Kontroversen jener Zeit zu zeigen. Die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ erstreckte sich auf eine im Vergleich zum 19. Jahrhundert wesentlich erweiterte Klientel. Der Grund des Patientenzuwachses wurde von Zeitgenossen sehr unterschiedlich diskutiert. Zum einen stand die Angst vor einer angeblich rasant steigenden Zahl der Kranken in einem engen Zusammenhang mit dem Diskurs von der Degenerationstheorie. Zum anderen waren es vielfältige Bemühungen der Psychiatrie selbst , welche auf den verstärkten Einschluss von nunmehr Kranken zielten. Sowohl die klinische als auch die weiter versorgende Ausrichtung der Disziplin waren insbesondere an einem früheren Zeitpunkt des Behandlungsbeginns ihrer Patienten interessiert , da sie sich davon bessere Möglichkeiten zur Beobachtung und höhere Heilungschancen innerhalb ihrer im Allgemeinen nicht sehr prestigereichen Disziplin erhofften.

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Ab den 1870er-Jahren wurden zahlreiche Statistiken sowohl innerhalb als auch außerhalb der institutionellen Versorgung befindlicher psychisch Kranker erstellt. Das Streben nach Daten und der Versuch eines Erfassens des Gesundheitszustandes der Bevölkerung offenbart vor allem eine neuartige Aufmerksamkeit der Landesverwaltung und auch der Psychiatrie selbst , welche aber nicht notwendigerweise dem Bedrohungsszenario der Degenerationstheoretiker entsprechen musste. An dieser Stelle setze ich mich auch deutlich von der längere Zeit in der Psychiatriegeschichte vorherrschenden These der Sozialdisziplinierung ab. Demgegenüber ist auf die tatsächliche Veränderung eines Verwaltungswissens von bestimmten psychischen Besonderheiten aufmerksam zu machen , welches zwar mit dem Versuch der Psychiatrie korrespondierte , ein Wissen um Vorstellungen geistiger Gesundheit und Krankheit zu etablieren und zu standardisieren , aber in seiner vielfachen Unbestimmtheit auf einem rein statistischen Erfassen basierte. Die Zahl der internierten Kranken stieg jedoch auch wegen des allgemeinen Bevölkerungswachstums jener Zeit , weit mehr aber noch aufgrund der Verlagerung der Versorgungskosten von den Gemeinden auf das Land Niederösterreich. Die zunehmend spezifischeren Versorgungsangebote verweisen in ihrer Gesamtheit auf die Etablierung einer neuartigen Zuständigkeit für einen im Vergleich zum späten 19. Jahrhundert deutlich erweiterten Personenkreis. Eben an jener Stelle sind die Charakteristika eines Wissens der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ zu benennen , die hier und auch an anderen Stellen immer wieder auf spezifische Weise zutage traten. Dieses ist – wie auch das Überwiegen der Reformen im Bereich der Pflege , die strukturellen Änderungen , die administrativen Modifikationen und die bürokratische Durchdringung bislang nicht registrierter Bereiche deutlich machen – ein an der Praxis orientiertes Wissen , welches sich nicht notwendigerweise fundamental gewandelt hat , sondern vielmehr Teil eines länger andauernden Umbruchs war. Doch zeigt sich eben hier ein sehr charakteristischer Zug der modernen Versorgung psychisch Kranker : Sie vermochte nämlich , auf nicht eindeutige Zusammenhänge , Verflechtungen oder Unbestimmtheiten mit weitreichenden prospektiven Versprechungen zu reagieren und eine neue ‚Wissens-Ordnung‘ zu etablieren , welche in der neu erbauten Institution ihren Ort und ihre Bedeutung zugleich erhalten sollte. Dieser Ambivalenz zwischen einer realen und einer in naher Zukunft vermuteten Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus der stationären Versorgung wurde mit „psychiatrischer Polytechnik“ begegnet. Diese begründete sich erstens auf der ästhetischen Gestaltung des gesamten Anstaltsgeländes , welche nach außen einen geordneten und humanen Umgang mit psychisch Kranken klar ersichtlich vermitteln wollte. Zweitens sollte dem Leben innerhalb der Institution mittels Neustrukturierung der vielfältigen Arbeitsabläufe und den zahlreichen Möglichkeiten zur differenzierten Unter-

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bringung der Kranken auf möglichst rationelle Weise begegnet werden. Die spezifischen Strukturen und Merkmale dieses „Ortes der Moderne“ wurden jedoch erst im Zusammenwirken beider benannter Aspekte erzeugt und wirkten wiederum auf sein inneres Funktionieren zurück. Die Gründung der Anstalt Am Steinhof vermochte den vielfältigen , bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in Grundzügen vorhandenen Reformansätzen der stationären psychiatrischen Behandlung eine nun auch räumlich adäquate Basis zu geben. Hierzu zählte die Weiterentwicklung unterschiedlicher therapeutischer Konzepte , die unter dem zeitgenössischen Stichwort „von der Isolierung zur Individualisierung“ zusammengefasst und argumentativ zur Abgrenzung von früheren Formen der psychiatrischen Versorgung eingesetzt wurden. Mittels baulicher Maßnahmen sollten – so die normativen Vorgaben – die Beschränkungen durch Zwangsjacken und das Weg­ sperren agitierter Kranker in Zellen weitestgehend vermieden und durch individuelle Behandlung und Bädertherapien ersetzt werden. Die Bettbehandlung , welche vor allem unmittelbar nach der Aufnahme und in der ersten Zeit der stationären Betreuung zur besseren Beobachtung und Überwachung angewandt wurde , sollte nicht zuletzt den Kranken den Eindruck vermitteln , nicht mehr in einer „Irrenanstalt“, sondern nunmehr in einem Krankenhaus zur aktiven Behandlung psychischer Leiden untergebracht zu sein. Ein weiterer wesentlicher Eckpfeiler der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ war die den Anstaltsalltag maßgeblich prägende „angemessene Beschäftigung der Kranken“. Auf dem weitläufig ummauerten Anstaltsgelände wurden zahlreiche Möglichkeiten zur Beschäftigungs- und Arbeitstherapie geschaffen. Diesem Konzept lag das Ideal der bürgerlichen Welt zugrunde , die Trennung des Tages in Phasen der Erwerbsarbeit und Phasen der Freizeit – innerhalb der geschlossenen Welt der Anstalt und unter ärztlicher Aufsicht. Dem so geordneten , durchstrukturierten , stationären Alltagsleben wurde per se eine therapeutische Wirksamkeit zugeschrieben. Obwohl sich die Patienten einem strengen Reglement zu unterwerfen hatten , gehörte zur ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ ganz wesentlich die Abkehr von stark restriktiven Methoden des Isolierens , Einsperrens und aller möglichen Arten der Zwangsbehandlung. Das auch in anderen Anstalten der Zeit realisierte architektonische Prinzip der in viel freie , gärtnerisch gestaltete Fläche gesetzten Einzelpavillons , die idyllische Hanglage , die Öffnung in den umgebenden Raum , kurz , das gesamte Ensemble der Anstalt wie auch die hoch ästhetisierte Kirche waren Ausdruck dieser nunmehr nicht mehr auf das Wegsperren , Ruhigstellen und Unschädlichmachen für die Mitmenschen fokussierten Konzeption der stationären Psychiatrie. Diese räumliche Trennung von ­Wien demonstrierte zudem die Trennung der psychiatrischen Anstalt von der Klinik , welche sich ab diesem Zeitpunkt ganz der Forschung und Lehre wid-

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mete. Diese Trennung bedeutete keineswegs die Loslösung vom Anspruch , das Behandeln psychisch Kranker auf eine moderne und fortlaufend durch Forschung zu erneuernde , wissenschaftliche Basis zu stellen. Die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ bestimmte die Konzeption der Institution Am Steinhof maßgeblich und war dezidiert und progammatisch eine Bewegung , die an den wissenschaftlichen Fortschritt glaubte und von diesem her ihre Konzepte gewann und auch weiter legitimierte. Im Zuge dieser Entwicklung etablierte sie sich in Abgrenzung von der psychiatrischen Klinik als ein nun eigenständiger Wissensraum. Die beiden eingangs gestellten Fragen , inwiefern sich mit der Gründung der Anlage Am Steinhof ein spezifischer „Ort der Moderne“ herausbildete und um welche Art des Wissens es sich bei der enorm erweiterten stationären psychiatrischen Versorgung handelte – dem praktischen Wissen kommt hierbei eine ungleich bedeutendere Rolle zu als in der forschungsorientieren psychiatrischen Klinik – , sind , wie die vorliegende Arbeit zu zeigen versucht , untrennbar miteinander verbunden. Als paradigmatisches Modell einer realisierten Utopie sollte die enorme Anstaltsanlage heilende Kräfte spenden , indem sie zugleich die Ambivalenzen beunruhigender Großstadterfahrung für die internierten Kranken klar zu ordnen vorgab. Ein „Ort der Moderne“ war Steinhof , weil sich hier verschiedene , teils widersprüchliche Kräfte jener Zeit begegneten und das Konzept zum Zeitpunkt der Gründung , wie auch die weitere Entwicklung der Anstalt maßgeblich bestimmten. Jene Kräfte , die oben als Kräfte der Öffnung und Individualisierung beschrieben wurden , kann man vielleicht sogar als Vorboten heutiger Ideale verstehen , der „Patientenzentrierung“ und dem Ziel des Wiedergewinns von Selbstbestimmungsfähigkeit. Gleichzeitig wurde der Anstaltsalltag von einem strikten , die Autonomie der Patienten weitgehend beschränkenden Konzept der Unterwerfung unter ein strenges Reglement , unbedingte ärztliche Autorität und die Einteilung der Zeit in nützliche Erwerbsarbeit determiniert – Letztere sollte nicht zuletzt verhindern , dass der einzelne Mensch nicht einmal im Krankheitszustand der Gemeinschaft finanziell zur Last fällt. Die strenge Reglementierung und Rationalisierung des Alltags ging über in moderne Formen der Formalisierung und Bürokratisierung der Verfahren – etwa der Aufnahme , der Diagnose , der Führung von Krankenakten und der Verrechtlichung und Arbeitsteilung vieler Anstaltsvorgänge. Sie zeigte sich auch in Form vielfältiger struktureller Systematisierungen , die in ihren standardisierten Verfahren , Normen und Organisationsweisen das Wissen des auf die Versorgung ausgerichteten Teils der Disziplin speicherten. Die anvisierten psychiatrischen Wahrheitsansprüche wurden in der Praxis ihres Tuns erzeugt : Ein auch für längere Zeit vorrangig bleibendes Ziel der Anstaltspsychiatrie war die weitgehende Differenzierung ihrer Insassen. Diese wurden schicht- und geschlechtsspezifisch , gesondert nach „ruhigem“, „halbruhigem“

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oder „unruhigem“ Verhalten , säuberlich getrennt nach hygienischen Erfordernissen und gemäß ihrer Pflege- oder Überwachungsbedürftigkeit , vor allem aber nach ihrer prognostizierten Heil- oder Unheilbarkeit untergebracht. Mit dem Pavillonstil waren vielfältige Möglichkeiten zur Differenzierung gegeben , die die traditionelle ( innerfachliche ) Bedeutungszuschreibung der stationären Behandlung als ein wesentliches Moment zur Heilung psychisch Kranker – nun im wahrsten Sinne des Wortes – weiter untermauerten. Diese Formen der Strukturierung erlaubten der Anstaltspsychiatrie der Furcht vor den steigenden Patientenzahlen ( scheinbar ) aktive und rationell begründete Maßnahmen entgegenzusetzen. Von diesen Pavillons räumlich etwas abgesetzt befand sich das Sanatorium. Dessen Einrichtung innerhalb einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt war auch im internationalen Vergleich gänzlich neu. Die äußerst luxuriöse Ausstattung sollte der in der Bevölkerung weitverbreiteten Skepsis , wenn nicht gar Ablehnung der stationären psychiatrischen Versorgung auf imposante Weise entgegenwirken. Die differenzierte Anordnung der Kranken korrespondierte mit der streng hierarchischen Ordnung aller Angestellten. Die meisten davon lebten auf dem Anstaltsgelände und bildeten gemeinsam mit der von den arbeitenden Kranken aufrechtzuerhaltenden und weitgehend als Selbstversorgungsbetrieb konzipierten Or­ga­ni­sa­tionsstruktur in der Tat eine ‚Insel‘ am Rande der Stadt. Wesentliche Voraus­setz­ungen zur Durchführung vieler , der Modernisierung verpflichteter Reformen waren die Organisation einer ( anstaltsinternen ) Ausbildung der Pflegenden und Maßnahmen zu deren sozialer und wirtschaftlicher Besserstellung. Aber auch die in der Anstalt angestellten Mediziner mussten um das Ansehen ihrer Arbeit kämpfen. Im Zuge der Trennung der versorgenden Psychiatrie von der klinischen Ausrichtung der Disziplin wurden kritische Stimmen gegenüber der sonst vielfach gepriesenen ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ laut. Denn die Anstaltspsychiater hatten einerseits kaum noch Möglichkeiten , eigenständig wissenschaftlich zu arbeiten , andererseits drohte der tägliche Dienst aufgrund der stetig steigenden Patientenzahlen zur reinen Verwaltungsroutine zu werden. Ein nicht unwesentlicher Teil der ärztlichen Tätigkeit bestand in der Führung der Krankenakten. Diese auch heute noch in vielen Archivmetern dokumentierten Informationen zeugen von einer längeren und kontinuierlichen Entwicklung , von einer vorwiegend administrativen hin zu einer ab etwa 1900 verstärkt wissenschaftlichen Funktion dieser Dokumente. Der Blick auf die Medialität und Materialität der Akten offenbart die institutionellen Vorgaben ihrer Verfasstheit. Erstens zeigt sich in dieser ab der Jahrhundertwende eine deutlich zunehmende Aufmerksamkeit auf die Dokumentation der sowohl ärztlichen Tätigkeit als auch einer stringenteren Verwaltung der Vielzahl an Kranken. Das Erstellen einer Krankenakte in den jeweils für Männer und Frauen getrennten Aufnahmepavillons diente nicht nur der Erhebung

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der ersten Daten und Informationen , sondern erweist sich in seiner vollzogenen Ordnung und formulargesteuerten Korrektheit selbst auch als Quelle der Legitimation des Anstaltsaufenthaltes : Die Formalisierung der Verfahren insinuierte Rationalität , Überprüfbarkeit , Objektivität , kurz , es generierte intersubjektiv verbindliches und scheinbar herrschaftsfreies Wissen. Dieser zweifache und auch in den frühen Jahrzehnten nach Anstaltsgründung ambivalent bleibende Charakter zwischen einem administrativ geprägten und einem psychiatrisch-wissenschaftlichen Wissen zeigt sich deutlich am Deckblatt der Krankenakte. Anhand der Veränderungen dieser Vordrucke lässt sich ein zunehmendes Interesse am Erheben von Daten zur Frage der Erblichkeit psychischer Erkrankungen erkennen. Diese lange Zeit relativ unsystematisch , im Rahmen unterschiedlich ausführlicher Anamnesen erhobenen Informationen konnten – trotz ihrer vielfach bestehenden Unbestimmtheiten – mittels des Formulars hervorgehoben und auf diese Weise zu zählbaren und somit vergleichbaren Daten werden. Während klinische Aufzeichnungen primär der psychiatrischen Forschung dienten , kam den Krankenakten der Anstaltspsychiatrie eine Doppelfunktion zu , nämlich eine administrative und eine wissenschaftliche. Sie umfassten sowohl fachlich relevante , dabei weitgehend deskriptive und mitunter relativ kurze Krankheitsbeschreibungen als auch darüber hinaus die für Verwaltung , Versicherung oder zur Rechtfertigung gegenüber Dritten notwendigen Informationen. Bloß ganz bestimmte Teile des auf Formalisierung geeichten psychiatrischen ‚Erfassungswissens‘ fand Eingang in Statistiken oder die jährlich von der Anstaltsleitung herauszugebenden Jahresberichte. Umgekehrt offenbart diese Formalisierung , dass der Aufschreibvorgang , also die Übersetzung von Beobachtungen an den Kranken in knappe Notate , alles andere als ein objektives Aufzeichnen von bloßen Beobachtungen war. Die Krankenakten wurden häufig erst nachträglich und oftmals von rangniederen Ärzten verfertigt. In den Dokumenten wurden stets auch nur diejenigen Besonderheiten vermerkt , die für die Aufzeichnenden selbst und die Verwaltung ihrer Institution relevant waren. Doch es war paradoxerweise gerade diese Reduktion der Notizen auf scheinbar deutungsfreie Beobachtungen , die das dahinter stehende , anstaltsinterne Wissen verbirgt – und nur dieses implizite Wissen macht , wie man im Nachhinein sieht , diese Dokumente letztlich „lesbar“ und gibt den knappen Notaten ihre ganz eigene Bedeutung. Dass die scheinbar zweifellosen , keiner Deutung bedürfenden Notationen nur in ihrem institutionellen Kontext lesbar sind , zeigt sich unter anderem auch daran , dass sie in den nachfolgenden Jahrzehnten für andere Zwecke missbraucht werden konnten. Die sich etablierende Eugenik und die spätestens ab dem Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme rassenhygienisch ausgerichtete Ordnung des Wissens bediente sich der enorm großen Datensammlung. Zwar hat die systematisierende ,

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formalisierende Anlage und Archivierung der Krankenakten ursprünglich nichts mit der nachmals so fatal wirkenden rassenhygienischen Ideologie zu tun ; doch konnten die solcherart gesammelten und archivierten , sich subjekt- und herrschaftsfrei gebärdenden Akteneinträge widerstandslos für Heils- und Herrschaftsideologien benutzt werden – und auch diese gaben sich rein „wissenschaftlich“ und „objektiv“. Die Dokumentation des Krankheitsverlaufs , in dem die Individualität der Patienten praktisch vollständig erlischt und nur noch als Verwaltungsgröße auftaucht , war auch praktischen Nöten geschuldet. In der zwar von vorneherein als erweiterbar konzipierten Institution war schon bald nach deren Eröffnung in einzelnen Pavillons die Zahl der Kranken auf das Doppelte der ursprünglich vorgesehenen Belegzahl gestiegen. Auch die unterschiedlichen Versuche , die Patientenströme auf alternative Weise zu lenken und die in einzelnen der Häuser veranlassten Umbaumaßnahmen ließen die hehren Ideen einer „individualisierenden Behandlung“ als immer weniger realisierbar erscheinen. Man muss , um den Planern der Steinhof-Anlage historisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen , wohl sogar sagen : Der Druck der hohen Patientenzahl hat die ursprünglich durchaus humanistisch-aufklärerische , sich gegen die ältere , primär auf Verwahrung und Sicherung wendende ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ geradezu auf den Kopf gestellt. Diese schwierigen Bedingungen machten die Anstaltspsychiatrie in der Praxis zu einem nur wenig attraktiven Arbeitsumfeld. Das blieb der öffentlichen Berichterstattung nicht verborgen und beschäftigte die Anstaltsleitung nachhaltig. Für die Mediziner waren nicht nur die belastenden Arbeitsverhältnisse selbst unattraktiv ; wer Ursachenforschung und therapeutische Anwendung psychiatrischen Wissens suchte , wurde vom tatsächlichen Anstaltsalltag notwendigerweise enttäuscht. Wider alle anderslautende Programmatik drohte realiter die reine Verwahranstalt. Mit der Rationalisierung der Abläufe gingen , wie gezeigt , lebhafte Debatten ideologischer , ethischer , juristischer und wissenschaftlicher Art einher , um die Funktion der Anstalt innerhalb der Gesellschaft als Ganzes neu zu bestimmen. Überraschenderweise beschäftigte die Beteiligten , obwohl die Frage der Masse einen permanenten Reformdruck ausübte , nicht das Gros der Patienten und potenziellen Patienten , sondern eine kleine Randgruppe ihrer Insassen , nämlich die der straffälligen psychisch Kranken. Das wiederum war kein Zufall , denn eben sie konfrontierten die Verantwortlichen mit vielen sehr grundsätzlichen Fragen. Die stationäre Psychiatrie sah sich veranlasst , ein wissenschaftlich wie juristisch objektivierbares und ethisch legitimierbares Konzept zu entwickeln , resultierte aber in einer Position , welche Einund Ausschlussverfahren gleichermaßen zu integrieren versuchte. Die komplexen Debatten , sowohl rechtlicher als auch institutioneller Probleme im Umgang mit diesen Personen , nahmen ihren Anfang bereits etwa ab der Wende zum 20. Jahrhundert.

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Die zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit geratenden Kranken oder Devianten befanden sich oftmals in wechselseitiger psychiatrischer und juristischer Zuständigkeit. Seitens der Psychiatrie wurde versucht , die vielfach nicht eindeutigen Grenzfälle zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit terminologisch verbindlich zu strukturieren. Umgekehrt aber galt die Aufnahme der straffällig gewordenen , und daher zu internierenden , Personen als völlig unvereinbar mit dem Freizügigkeitsgrundsatz der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘. Viele ihrer Vertreter strebten die Unterbringung der vielfach als „Psychopathen“ oder einfach nur als „Minderwertige“ benannten Personen in eigens zu erbauenden und staatlich geführten Institutionen an , um den komplexen , sowohl juristischen als auch psychiatrischen Problemen – aus ihrer Sicht – gerecht werden zu können. Die neuartige psychiatrische und vielfach eng mit der Degenerationstheorie verbundene Terminologie und die Vorschläge zu einer spezifischen Unterbringung dieser Personen korrespondierten mit der seitens der Strafrechtsreformbewegung propagierten Einführung einer „verminderten Zurechnungsfähigkeit“. Mit dieser sollte die bisherige dichotome Trennung zwischen geistesgesund – und somit vor dem Gesetz voll verantwortlich – oder aber geisteskrank – und somit gänzlich unzurechnungsfähig – aufgeweicht und Zwischenstufen sollten zugelassen werden. Das Engagement einiger Juristen traf dabei auf den Versuch , kriminelles Verhalten psychiatrisch erklärbar zu machen. Mittels institutioneller und legislativer Modelle versuchte man , zum „Schutz der Gesellschaft“ den Zugriff auf bestimmte Personen zu erlangen und diese mit Verweis auf deren soziale Unverträglichkeit einzuweisen. Die zunehmend eugenisch motivierten Forderungen gingen sogar so weit , auch „potenziell gefährliche Personen“ auf unbefristete Zeit zwangsweise internieren zu wollen. Die zahlreichen , allerdings allesamt im Entwurfsstadium verbliebenen Vorschläge der Psychiatrie zur Strafrechtsreform waren teilweise eng an eine weitere gesetzlich ungeregelte Problematik der stationären Versorgung gebunden. Die sich auch international um die Jahrhundertwende mit großer medialer Aufmerksamkeit formierende psychiatriekritische Bewegung wandte sich vor allem gegen unrechtmäßige Anstaltsinternierungen und erzeugte somit einen Legitimationsdruck der gängigen Praxis. Tatsächlich umfassten die bis dahin bestehenden rechtlichen Regelungen lediglich Fragen zur Vormundschaft. Stand jemand unter Kuratel , so konnte die betroffene Person auch gegen ihren Willen jederzeit in einer psychiatrischen Institution untergebracht werden. War dies aber nicht der Fall , so lagen jegliche Befugnisse hinsichtlich der Aufnahme- und Entlassungskriterien im Zuständigkeitsbereich der Anstalt. Sie wurden über deren Statuten verbindlich kodifiziert , die Psychiatrie hatte darüber somit eine erhebliche Machtfülle. Diese weitreichenden Zuständigkeiten provozierten öffentliche Kritik , der die Psychiatrie wiederum entgegentrat mit Vorschlägen ,

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das Verhältnis von Kuratel und Anstaltsbedürftigkeit differenzierter zu betrachten. An die Stelle der zuvor praktizierten , grob dualen Einteilung nach „Wahnsinn“ ( der in die alleinige Zuständigkeit der Psychiater fiel ) und „Blödsinn“ ( der nicht in die Zuständigkeit von psychiatrischen , sondern von Versorgungseinrichtungen fiel ) sollte nun eine differenziertere psychiatrische Beurteilung treten , die eine etwaige Notwendigkeit der stationären Betreuung unabhängig von einer Verhängung der Vormundschaft aussprechen konnte. Mit der 1916 inmitten des Ersten Weltkrieges erlassenen „Entmündigungsordnung“ konnten zwar viele dieser drängenden und über lange Zeit ungeklärten rechtlichen Fragen einer Regelung zugeführt werden ; die Anstaltspsychiater aber sahen sich wegen der ihnen entzogenen Kompetenzen als Gutachter bitter enttäuscht und in ihrem Tätigkeitsbereich massiv zurückgesetzt. Unabhängig von den Folgen des auch als „Entwürdigungsordnung“ bezeichneten Erlasses kam es Am Steinhof zu einer Vielzahl kriegsbedingter Umstrukturierungen. Mit der Einberufung weiter Teile der männlichen Angestellten wurde die bis dato geschlechtsspezifisch organisierte Pflege für die Dauer des Krieges nahezu vollständig weiblichen Kräften übertragen. Insgesamt verringerte sich der Personalstand sowohl bei den Pflegenden als auch bei den Ärzten auf drastische Weise. Die bereits bestehende Überbelegung wurde infolge von Patiententransferierungen aus umkämpften Gebieten , durch fehlende Möglichkeiten zur Entlassung oder Weiterleitung an die zuständigen Gemeinden noch verstärkt. Zudem wurden sowohl verwundete als auch psychisch erkrankte Soldaten und Offiziere Am Steinhof untergebracht. Die im Jahr 1915 auf über 4. 000 Patienten gestiegene Zahl der Insassen ging jedoch ab Anfang 1916 dramatisch zurück. Die Zahl der Aufnahmen war gesunken , vor allem aber war die Mortalitätsrate aufgrund der mangelhaften Versorgung mit Nahrungsmitteln dramatisch angestiegen. Im Jahre 1917 lag sie bei 26,7 Prozent und führte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu einer regelrechten Entvölkerung der Anstalt. In der Nachkriegszeit wurden in der nunmehr vergleichsweise gering besetzten Anstalt Am Steinhof zahlreiche strukturelle Veränderungen vorgenommen. Zu diesen zählte die aus finanziellen Gründen notwendig gewordene Schließung des Sanatoriums , die Übernahme der Anstalt in die ­Wiener Landesverwaltung , die weitere Ausbildung des Pflegepersonals und die sozialdemokratisch motivierten Reformen der Arbeitszeiten. Die Zahl der Patienten war im Vergleich zu Vorkriegszeiten relativ gering und die Mortalitätsrate sollte sich auch erst in den folgenden Jahren auf das Vorkriegsniveau einpendeln. Aus dieser diffizilen Lage heraus formulierte die Psychiatrie umso weitreichendere , sowohl fachliche als auch bevölkerungspolitische , zunehmend an der Eugenik orientierte , nun deutlich erweiterte Kompetenzansprüche : Als Antwort auf die allgemein schwierige soziale Lage reagierten vor allem führende Vertreter der ( Anstalts- )Psychiatrie mit großen Versprechungen und zukünftigen Lösungsmodellen.

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7. Zusammenfassung

Bedingt durch das sozialreformerisch aufgeladene Klima der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden für die weitere Entwicklung der Anstalt nun sozialhygienische Motive bestimmend. Das sozialreformerische und demokratische Erneuerung verlangende Klima hatte paradoxerweise für psychiatrisch Erkrankte in vieler Hinsicht gerade keine Stärkung ihrer Rechte und keine Liberalisierung des Psychiatriewesens zur Folge : Die sozialhygienischen Motive führten dazu , dass psychische Erkrankungen gerade nicht mehr vom je eigenen Recht , den je eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen eines jeden Kranken her gedacht , sondern in Bildern des Parasiten in einem Gemeinschaftskörper oder gar der Degeneration ganzer Milieus beschrieben wurden. Diese Motive traten im Gewand fortschrittlicher Wissenschaft , häufig im Glauben an die Verbesserbarkeit des Menschen und der Gesellschaft durch wissenschaftlich gesichertes Wissen auf. Die ‚moderne Anstaltspsychiatrie‘ blieb von diesen Vorstellungen keineswegs unbeeinflusst. Die nun gestellten Forderungen zur unterschiedlichen Versorgung bestimmter Krankentypen waren jedoch keineswegs vollkommen neu ; sie knüpften vielmehr am traditionellen Modell der Einteilung ihrer Insassen und entsprechender Zuordnung zu verschiedenen Anstaltssektionen und Therapiekonzepten an. Das neue Selbstverständnis der Aufgaben und Möglichkeiten von Anstalt und Psychiatrie ließ nun fordern , die schon zuvor als Randgruppen betrachteten Patienten sowie die auch bislang viel beklagten Alkoholkranken , die an epileptischen Anfällen Leidenden und die als Grenzfälle zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit verorteten „Psychopathen“ und „minderwertigen Personen“ endgültig anderweitig zu versorgen. Die unter maßgeblicher Prägung und Leitung von Julius Tandler entwickelte kommunale Fürsorgepolitik konnte im „Roten ­Wien“ der Zwischenkriegszeit im Vergleich zu den agrarisch geprägten Bundesländern einen Sonderweg einschlagen. Die zahlreichen Reformen im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens fußten auf dem Prinzip eines Anrechts auf Fürsorge , orientierten sich dabei aber an einer binären Scheidung in „bevölkerungspolitisch produktive“ und „bevölkerungspolitisch unproduktive“ Ausgaben. Die in den 1920er-Jahren von Sparmaßnahmen stark betroffene stationäre Versorgung der psychisch Kranken war eine einschlägige Folge der Zuordnung zu letzterer Kategorie. Auch die Intensivierung der Arbeitstherapie bis hin zur sogenannten „Zimmerindustrie“ zielte zwar als theoretisches Konzept auf die Aktivierung ihrer Patienten ab , musste sich aber in der Praxis – und nicht zuletzt deutlich erkennbar an ihren Artefakten – weitgehend an ökonomischen Notwendigkeiten orientieren. Die in der ideologischen Ausrichtung liegende Ambivalenz des Reformprogramms der Anstaltspsychiatrie sollte sich auch an ganz spezifischen Stellen zeigen. Die angestrebte Wissenschaftlichkeit als gemeinsame Funktionsbasis der sozialdemokratischen Gesellschaft im Allgemeinen und des Wohlfahrtswesens im Besonderen korrespondierte mit vielen und teilweise auch schon länger bestehenden Reformwünschen der

7. Zusammenfassung

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Anstaltspsychiatrie. Bereits 1922 konnte Am Steinhof eine Abteilung als „Trinkerheilstätte“ unter der Leitung von Rudolf Wlassak eröffnet werden. Der institutionelle Zugriff auf Alkoholsüchtige basierte auf der Entmündigungsverordnung von 1916. Dieser Erlass sah insbesondere für Alkoholiker und auch andere Suchtkranke die Möglichkeit einer beschränkten Vormundschaft vor , welche aber mit der Einwilligung der Betroffenen zu einer sechsmonatigen Entzugsbehandlung hintangehalten werden konnte. Diese Regelung ermöglichte eine praktikable Alternative zu der lange Zeit umstrittenen Frage , ob zwangsweise oder freiwillige Entwöhnungskuren erfolgversprechender seien. Zudem unterstellte sie medizinische Zuständigkeit , was bislang eine gesellschaftliche und soziale Problematik gewesen war. Der Betrieb der erstmals in Europa in unmittelbarer Verbindung zu einer psychiatrischen Anstalt stehenden Trinkerheilstätte wurde systematisch organisiert. Die der institutionellen Organisation des Steinhofs inhärente , nämlich streng geordnete und disziplinierte Lebensführung , aber auch die Einbindung in bereits gegebene administrative und organisatorische Strukturen boten hierzu beste Rahmenbedingungen. Anstelle der keineswegs neuartigen ‚Gesinnung‘ , die zur Vermeidung von Rückfälligkeit Totalabstinenz verlangte , trat nun ein sich als programmatisch neu verstehender , sogenannter ‚ärztlicher Grundsatz‘ zur Regelung des Entzugs. Die eigentliche Alkoholentwöhnung wurde nun mit der strikt planmäßigen Regelung des Alltags , mit regelmäßiger Beschäftigung und einer intensiven psychologischen , deutlich ideologisch gefärbten Betreuung , aber auch mit dem Ausbau der weitergehenden Begleitung in Abstinenzvereinen verbunden. Die Gratwanderung zwischen einem autoritativ verordneten Entzug und dem Willen der Betroffenen blieb schwierig. Ein wesentlicher Aspekt für den therapeutischen Erfolg der Trinkerheilstätte war die richtige , nicht nach offiziellen oder gar wissenschaftlich gesicherten Kriterienkatalogen , sondern in hohem Maße auf Erfahrungswissen des ( leitenden ) Arztes beruhende Auswahl hierzu „geeigneter Patienten“ aus der Vielzahl der Am Steinhof internierten Alkoholiker. Die Treffsicherheit der Auswahl erfolgversprechender Patienten war die Bedingung des Erfolgs der neuen therapeutischen Ansätze , denn Betroffene konnten nur in Ausnahmefällen zwangsweise eingewiesen und den Entzugsmaßnahmen unterworfen werden. Ohne das Vorliegen von Krankheitseinsicht und der Bereitschaft , sich für die Heilung in einen rigiden Anstaltsalltag einzugliedern , bestand wenig Hoffnung auf ein Gelingen. Der nur geringen Anzahl der in der Trinkerheilstätte Aufnahme findenden Alkoholkranken stand eine wesentlich größere Zahl an sogenannten „unheilbaren“ Alkoholikern gegenüber. Zwar verstand sich das Konzept als ein wissenschaftlich fundiertes und humanistisch motiviertes , doch hätte es , wenn es konsequent in die Praxis umgesetzt worden wäre , für die als nicht behandelbar angesehene und quantitativ weit größere Zahl der chronischen Alkoholiker eine bittere Kehrseite gehabt. Diese

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sollten – nicht zum Zweck der medizinischen Behandlung , sondern vielmehr zum „Schutz der Gesellschaft“ – in psychiatrisch geleiteten „Trinkerasylen“ untergebracht werden. Diese Forderungen wurden ebenso wenig wie die nach einer unbefristeten und zwangsweisen Unterbringung von straffälligen psychisch Kranken umgesetzt und mit Gesetzesnovellen unterfüttert. In der Praxis blieb der institutionelle Umgang in den 1920er-Jahren weitgehend von sozialpsychiatrischen Maßnahmen bestimmt. Strukturelle Ähnlichkeiten zur Behandlung und Fürsorge von Alkoholkranken lassen sich ebenso beim Ausbau der sogenannten „offenen Fürsorge“ erkennen. Auch hier handelte es sich keineswegs um gänzlich neue Überlegungen. Alternativen zur stationären Betreuung wie die Familienpflege , vereinzelte Versuche von Ausgleichszahlungen und sogenannte „Pflegerkolonien“ gab es teilweise auch schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Verwaltung der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aufgrund schwieriger sozialer Lebensumstände wieder überfüllten Anstalt sah sich auch aus finanziellen Gründen gezwungen , den bisherigen , im engeren Sinne therapeutischen Anspruch an den Anstaltsaufenthalt aufzugeben. Die ideologische „Überwindung der Anstaltsmauern“ wurde auf zweifache Weise durchgeführt : Einerseits wurden stationäre Aufnahmen nicht mehr mit gleicher Selbstverständlichkeit und Häufigkeit vorgenommen , andererseits drang die Anstaltsleitung auf raschere Entlassungen. Mit der 1926 eröffneten und in enger , sowohl administrativer als auch personeller Verbindung zur Anstalt Am Steinhof stehenden „Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke“ wurde hierzu die organisatorische Basis geschaffen. Die im „Roten ­Wien“ als „produktive Ausgabe“ verbuchte unentgeltliche Beratungstätigkeit ermöglichte es , die vor allem psychosoziale Zuständigkeit auf weitere Bevölkerungskreise auszudehnen. Gleichzeitig änderte sich die Zusammensetzung der stationären Patienten , bei denen nun weniger die Versorgung als vielmehr die medizinische Behandlung im Vordergrund stehen sollte. Mit dem 1927 forcierten Ausbau des ambulanten Tätigkeitsbereiches hin zu einer sogenannten „nachgehenden Fürsorge“ strebte man danach , nun auch Personen zu erreichen , die bislang nicht freiwillig in die Beratungsstelle gekommen waren. Die von ökonomischen und sozialpsychiatrischen Bestrebungen geleitete Fürsorge behielt zwar nominell ihren Anspruch auf eine individuelle Betreuung bei , änderte jedoch in praxi ihr Profil : Spätestens Ende der 1920er-Jahre zielte die ambulante Betreuung zuallererst auf eine kollektive Gesundheitspflege , deren Zweck auch hier euphemistisch „Schutz der Gesellschaft“ genannt wurde. Diese ideologische Neuausrichtung und die mit ihr ( anvisierte ) Neuausrichtung der Datenerfassung legte erste strukturelle Fundamente für den späteren , alle humanen Motive der Sozialfürsorge austreibenden , nicht mehr von den individuellen Bedürfnissen und Rechten des Individuums , sondern autoritär von der Gesundheit des Kollektivs her operierenden staatlichen Umgang mit psychisch Kranken.

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Die Fürsorge und Behandlung von an Epilepsie erkrankten Personen ähnelte partiell der fachlichen Betreuung von Alkoholikern und psychisch Kranken , die nicht zwingend einer stationären Aufnahme bedurften. Auch in diesem Bereich bezeugt die etwa ab der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmende Publikationsaktivität von einer neuartigen Aufmerksamkeit seitens der ( Anstalts- )Psychiatrie – und wie im Falle der Alkoholiker war es ein aus praktischen wie auch aus wissenschaftlichen Gründen drängendes Problem , das das verstärkte Interesse für diese Gruppe auslöste. Die Besonderheit oder vielmehr Schwierigkeit dieser Erkrankung war die lange Zeit offene und umstrittene Frage , wie diejenigen Personen versorgt werden sollten , die zwar regelmäßig epileptische Anfälle hatten , aber ( noch ) nicht in dem Krankheitsstadium waren , welches psychische Symptome mit sich brachte , und die daher noch , allenfalls eingeschränkt , selbstverantwortlich handeln konnten. Für diese Kranken erklärte sich die Anstaltspsychiatrie für unzuständig , was sie auch tat , weil Epileptiker als charakterschwierig galten und im Falle auftretender Anfälle besondere Betreuungsintensität verlangten. Die auch schon im frühen 20. Jahrhundert diskutierten Betreuungsmodelle – als ideale Variante galt wiederum eine eigens zu schaffende Institution – konnten nicht realisiert werden. Nach Kriegsende wurde , vermutlich aufgrund freier Kapazitäten , sogenannten „geistesgesunden Epileptikerinnen“ im Aufnahmepavillon der Frauenseite Aufnahme gewährt. Das war quantitativ eine unbefriedigende Notlösung und wurde von den Betroffenen häufig schon des Ortes wegen abgelehnt. Bis in die frühen 1920er-Jahre stand vor allem die Frage der adäquaten Versorgung im Vordergrund. Mit der 1925 Am Steinhof eröffneten „therapeutischen Versuchsstation für Epilepsiekranke“ vollzog sich eine signifikante Änderung hin zu einer nun klinisch ausgerichteten Abteilung. Die Leitung dieser Station war , ähnlich der Trinkerheilstätte , ganz an eine einzelne , von außerhalb der Anstalt kommende Person gebunden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden relativ kleinen Spezialabteilungen bestand allerdings darin , dass die völlig neuartige und noch im Versuchsstadium begriffene Behandlung der Epileptiker nun weniger mit einer gesellschaftspolitischen Aufgabe verbunden war , somit deren Etablierung keine weitergehende Unterstützung seitens des sozialreformerischen „Roten ­Wien“ erfahren hatte. Felix Frisch , Physiologe und Leiter dieser Versuchsabteilung , war – auch das im Gegensatz zum Gesamtkonzept der Anstalt – als Forscher aktiv : Er konzentrierte sich dabei ganz auf die Untersuchung des Stoffwechsels der Epileptiker. Aus den beobachteten und als ursächlich betrachteten Schwankungen des körpereigenen Eiweißhaushaltes versuchte er , ein therapeutisches Verfahren zu entwickeln. Analog der populären Impftherapie der progressiven Paralyse von Wagner-Jauregg hoffte er , eine im Tierversuch angeblich erfolgreiche „Reizkörpertherapie“ zu etablieren. Hierzu immunisierte er schwer demente und aufgrund der Aussichtslosigkeit des Stadiums ih-

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rer Erkrankung nicht mehr therapierbare Epileptiker versuchsweise mit Ricin. Diese Forschungen fanden bereits nach zwei Jahren ihr Ende , die „therapeutische Versuchsstation“ wurde – vermutlich im Zusammenhang mit den stark ansteigenden Patientenzahlen Am Steinhof und den allgemeinen Sparmaßnahmen – 1927 geschlossen. In den Folgejahren stand statt der Behandlung einiger weniger Epilepsiekranken nun verstärkt die Frage nach der institutionellen Versorgung eines größeren Teiles der davon betroffenen Personen im Mittelpunkt. An deren traditioneller Unterbringung in psychiatrischen oder Versorgungsanstalten sollte sich trotz Reformvorschlägen auch noch länger nichts ändern. Die Entwicklung der ­Wiener Anstaltspsychiatrie in den beiden ersten Jahrzehnten nach ihrer Gründung war , wiewohl in großem Stil und mit Systemanspruch geplant , in der Praxis alles andere als eine gradlinige Entfaltung eines Konzeptes. Sie war vielmehr eine von vielen Ambivalenzen , Konflikten und Richtungswechseln geprägte Entwicklung , in der ökonomische , wissenschaftliche , politische , moralische , juristische und ideologische Interessen ineinandergriffen. Die interne Organisation der Anstalt ist nie unabhängig von der Veränderung anderer Teilsysteme der Gesellschaft zu verstehen – die Binnenstruktur des Systems Steinhof und seine Umwelten interagierten permanent. Die eigentliche Entwicklung ist nicht in einer Außenschau nachvollziehbar , sondern nur in einer ( in der vorliegenden Arbeit hypothetisch versuchten ) Innensicht – zu der immer auch die imaginierte Außensicht auf diese Innenwelt gehört , wie umgekehrt der Blick aus der Anstalt auf die Außenwelt des täglichen , normalen Lebens bewusst gestaltet wurde. Diese Binnenorganisation erschließt sich zu erheblichen Teilen nicht aus den für die Außen- und Nachwelt bestimmten Dokumenten , sondern nur aus der Sicht des praktisch bewältigten Anstaltsalltages. Sowohl die Großdimensionierung der Institution Am Steinhof als auch die für ihre Konzeption entscheidende Reformbewegung der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ wollten demonstrativ etwas Neues schaffen , knüpften dabei jedoch an Konzepte des 19. Jahrhunderts an , die in der stationären Versorgung selbst bereits eine primäre Aufgabe und Therapie sahen. In den 1920er-Jahren wurde mit unterschiedlichen Erfolgen versucht , dieses Generalkonzept in Richtung einer Spezialisierung einzelner Bereiche weiterzuentwickeln. Maßgeblich wurde hierfür die Budgetpolitik des „Roten ­Wien“: Die bestehende , auch und gerade räumlich durchgeführte Trennung in verschiedene Abteilungen wurde in ein neues , sozioökonomisches Unterscheidungskriterium „produktiver“ und „unproduktiver“ Ausgaben des Sozial- und Gesundheitswesens transferiert. Trotz der schon in diesen frühen 1920er-Jahren vielfach starken Einflüsse der Eugenik blieb die Praxis während dieser Zeit primär sozialpsychiatrisch ausgerichtet. Die Reformer der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ versuchten unter dem Einfluss des an den wissenschaftlichen , sozialen Fortschritt und die Verbesserbarkeit

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des Menschen glaubenden Zeitgeistes spätestens ab den 1920er-Jahren ihre Zuständigkeiten zu erweitern. Die einstmals , mit Vorsicht „spätaufklärerisch“ zu nennende Reformbewegung mutierte unmerklich zu einer mehr und mehr autoritär denkenden , die Bevölkerung flächendeckend erfassenden und unter staatliche Aufsicht stellen wollende Bewegung. Sie ist damit ein Musterbeispiel für etwas , das man unter Vorbehalt mit einem großen und sicher diskussionsbedürftigen Schlagwort „Dialektik der Aufklärung“ nennen könnte : Die Leitprinzipien der Vernunft , der Gleichheit , der Befreiung aus Unmündigkeit und Unwissenheit , der wissenschaftsgeleiteten Verbesserung des Menschen waren ursprünglich noch deutlich spürbar in den Anliegen der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘. Sie entwickelte sich mehr und mehr zu einer Bewegung , die immer größere Zuständigkeiten für eine utopisch projektierte , wissenschaftsgeleitete , therapeutische Verbesserung des Gesellschaft beanspruchte , welche rigoros von oben her und durch das Instrument einer flächendeckenden Überwachung und fürsorgenden Bevormundung der Bürger durchgesetzt werden sollte. Die Kehrseite vieler der Reformprojekte der ‚modernen Anstaltspsychiatrie‘ beinhaltete Exklusionsverfahren , die weit über die Belange ihrer medizinischen Tätigkeit hinausgingen. Dieses im hohen Maße ambivalente ‚Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne‘ umfasste sowohl materielle als auch strukturelle und ideologische Faktoren , die dem nur wenige Jahre späteren , menschenverachtenden und inhumanen Umgang mit psychisch Kranken den Boden zu bereiten vermochten. Mit diesen schrecklichen Geschehnissen sollte jedoch die Anstalt Am Steinhof keine zum Schutz ihrer Kranken abgeschlossene und schon gar keine rettende Insel mehr sein.

8. Quellen- und Literaturverzeichnis Unpublizierte Quellen ­Wiener Stadt- und Landesarchiv ( WStLA ): Mag. Abt. 209 : Serie A 1 , Allgemeines Verwaltungsprotokoll Baumgartner Höhe ( Direktionsakten ): 1904 bis 1930 Krankenakten A 11. 1. ( 1918–1927 ) A 11. 2. ( 1928–1938 ) B 5 , Standesprotokolle , Nr. 1 bis 57 ( 1907–1930 ) Indizes zu den Krankenakten : B 6.1 ; B 6.2 ; B 11.1 ; B 11.2 ; B 13 ; B 14 B 12 , Hauptstandesprotokoll des Sanatoriums , Nr. 1 bis 3 ( 1907–1922 ) Personalakte Ernst Gabriel Staatsarchiv ( ÖStA ): Kriegsarchiv ( K A ), Generalkomm. ­Wien , Präs. 47 , 1917 , Karton 821 , Erlass des k. u. k. Kriegsministerium , Abt. 1 , Nr. 5025 Kriegsarchiv (KA), Verlustunterlagen , Spitäler 1914–1918 , Karton 237 ( Nr. 1339– 1344 ) und 238 ( Nr. 1345–1348 ) Universitätsarchiv ­Wien (  UAW ): Medizinische Dekanatsakten : 233 / 1869 314 / 1869 403 / 1870 7088 / 1870 16469 / 1873 38 / 1873 und 1874 109 / 1873 und 1874 Personalakten : Moriz Benedikt , Josef Berze , Emil Raimann Otto Wagner Spital der Stadt ­Wien ( ehemals : Am Steinhof ): Normaliensammlung der Anstalt Am Steinhof

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8. Quellen- und Literaturverzeichnis

Handschriftlich verfasstes Konferenzprotokoll ( vom 31. Jänner 1908 bis 16. Februar 1921 ) Stenographische Protokolle des Niederösterreichischen Landtags ( STPNÖ ): 1903–1905 1915

Publizierte Quellen Aiginger , Josef : Der Einfluß der Arbeit auf die Psyche des Menschen. In : ­Wiener Klinische Wochenschrift 41 ( 1936 ), 1256–1258. Anonym : Ärztliche Berichte über die kaiserlich-königliche Irren- , Heil- und Pflegeanstalt zu ­Wien in den Jahren 1853 bis 1856 ( ­Wien 1858 ) Anonym : Die Ausstellung der ­Wiener Landes-Irrenanstalt zur Feier des 25-jährigen Jubiläums 1878. In : Psychiatrisches Centralblatt 8 ( 1878 ), 121–124. Anonym : Über die Erhebung der Geisteskranken außerhalb der Anstalten. Bericht über den österreichisch-ungarischen Psychiatertag. In : Jahrbücher für Psychiatrie 6 ( 1886 ), 225–233. Anonym : Die Trinkerfrage im Lande Niederösterreich. In : Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 56 ( 1899 ), 303–305. Anonym : Die Kaiser-Franz-Joseph-Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Öhling. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 4 ( 1902 /  03 ), 251–260. Anonym : Erläuterungen zur Bauvollendung der Kirche der niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalten ( ­Wien 1907 ). Sonderabdruck am ­Wiener Institut für Geschichte der Medizin. Anonym : Zum Bau von Irrenanstalten. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 10 ( 1908 /  09 ), 53–55. Anonym : Bericht über den österreichischen Irrenärztetag , Oktober 1907. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29 ( 1909 ), 376–412. Anonym : In : Zeitschrift für Krankenanstalten. Halbmonatsschrift für Bau , Einrichtung , Ausstattung , wirtschaftlicher Betrieb , Organisation und Verwaltung 5 ( 1909 ), 367. Anonym : Über die Vorlagen eines Entmündigungs- und Irrenfürsorgegesetzes in Österreich. Resolution der österreichischen Anstaltsärzte vom 12. Jänner 1910 in Hall in Tirol. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 439–442. Anonym : Bericht der statistischen Kommission des Deutschen Vereins für Psychiatrie. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 15 ( 1913 / 14 ), 1–4.

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schen kriminalistischen Vereinigung ). In : Archiv für Kriminalanthropologie 30 ( 1908b ), 123–151 Berze , Josef : Dubief und die französischen Anstaltsärzte. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 ( 1909 / 10 ), 245–250. Berze , Josef : Die hereditären Beziehungen der Dementia praecox. Beitrag zur Hereditätslehre ( Leipzig-­Wien 1910 ). Berze , Josef : Die primäre Insuffizienz der psychischen Aktivität ( Leipzig-­Wien 1914 ). Berze , Josef : Über die Bedeutung der Psychologie für die Psychiatrie. Vortrag , gehalten auf der 3. Hauptversammlung des Österreichischen Psychiatrischen Verbandes in Görz , Oktober 1913. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 16 ( 1914 / 15 ), 182–186 und 194–196. Berze , Josef : Die neue Entmündigungsordnung und die Irrenanstalten. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 19 ( 1917 / 18 ), 305–307. Berze , Josef : Die Entmündigungsordnung und die Irrenanstalten. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 39 ( 1919 ), 47–116. Berze , Josef : Die Reform der Irrenfürsorge. Protokoll der Sitzung des Vereins vom 14. Oktober 1919. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 41 ( 1922 ), 197–231. Berze , Josef : Die städtische Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke. In : Blätter für das Wohlfahrtswesen 26 ( 1927 ), 30–33. Berze , Josef , Gruhle /  Hans W. : Psychologie der Schizophrenie ( Berlin 1929 ). Berze , Josef : Zur Frage des Schutzes der Gesellschaft vor gemeingefährlichen Kranken. In : ­Wiener Klinische Wochenschrift Band 50 ( 1937 ), 280–285. Bischoff , Ernst : Lehrbuch der Gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen ( Berlin-­Wien 1912 ). Böck , Ernst : Ideen zu einer Grundreform des Irrenpflegewesens. Bericht über die Wanderversammlung des psychiatrischen Vereins am 5. und 6. Oktober 1891. In : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 10 ( 1892 ), 295–298. Bogdan , Theophil : Reisebericht anlässlich des geplanten Neubaus der Anstalten Am Steinhof. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 5 ( 1903 /  04 ), 333–339. Bresler , Johannes : Zur Eröffnung der niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke „am Steinhof “ in ­Wien XIII. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 9 ( 1907 /  08 ), 213–215. Bresler , Johannes : Zur Symptomatologie der Epilepsie. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 10 ( 1908 /  09a ), 245–246. Bresler , Johannes : Gegenwärtiger Stand des Irrenwesens. Zusammenfassender Bericht , erstattet dem III. internationalen Kongress für Irrenpflege in ­Wien , 7. Oktober 1908. In : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 10 ( 1908 /  09b ), 253– 262.

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Personenregister Alt , Konrad  99 Alzheimer , Alois  170 Anton , Gabriel  125 , 126 Aschaffenburg , Gustav  132 Bachelard , Gaston  144 Bartl , Julius  108 Bauchinger , Matthias  57 Bechterew , Wladimir M.  252 Benedikt  , Moriz  54  , 124  , 131  , 133  , 134 , 135 , 277 Berger , Franz  65 Bernet , Brigitta  16 Bernhard , Thomas  9 Bertgen , Franz  65 Berze , Josef  31 , 105 , 108 , 112 , 124 , 126 , 129 , 133 , 140 , 186 , 187 , 193 , 197 , 198 , 202 , 236 , 237 , 238 , 239 , 240 , 241 , 242 , 243 , 277 Bielohlawek , Hermann  114 , 197 Binswanger , Otto  252 Bischoff , Ernst  125 Blasius , Dirk  51 Bleuler , Eugen  43 , 132 , 216 , 219 , 222 Boog , Carlo von  65 Boßhardt , Heinrich  222 Boyer , John  65 Bresler , Johannes  111 , 248 Bruck , Felix  139 Castel , Robert  77 Connolly , John  42 Damerow , Heinrich  30 Déjérine , Joseph J.  252 Delbrück , Anton  219 Dörner , Klaus  51 Dom Osen , Erwin  9 Douglas , Mary  22

Drastich , Bruno  191 Dreikurs , Rudolf  238 , 239 , 240 , 251 , 256 , 257 Dubach , Roswitha  16 Eissler , Kurt  190 Elisabeth von Österreich  73 Engstrom , Eric  92 Esquirol , Jean-Étienne  41 Falthauser , Valentin  237 Fischer , Max   161 Fleck , Ludwik  144 Forel , August  73 , 216 , 217 , 219 , 222 Foucault , Michel  15 , 16 , 51 , 62 , 76 , 77 , 79 , 80 , 81 , 146 , 177 , 261 Friedmann , Karl  239 Frank , Johann Peter  29 Frank , Ludwig  120 Franz Ferdinand von Österreich-Este  67 Franz Joseph I.  67 , 73 Fried , Ernst  252 , 253 Friedland , Franz  108 Frisch , Felix  521 , 252 , 253 , 254 , 255 , 256 , 273 Fritsch , Johann  32 , 125 , 131 Gabriel , Eberhard 117 , 140 , 175 Gabriel , Ernst  173 , 228 , 233 , 234 , 277 Gauster , Moriz  31 , 32 , 53 , 54 Gerényi , Fedor  11 , 44 , 65 , 105 , 116 , 139 , 218 , 235 Germann , Urs  16 Girardi , Alexander  73 Goffmann , Erving  16 , 195 Griesinger , Wilhelm  30 , 31 , 54 , 125 Groß , Hans  139 Haberda , Albin  140 , 171 Hamel , Gerard Anton van  122

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Personenregister

Herschmann , Heinrich  127 Hinterstoisser , Josef  131 Hörning , Karl  77 Hoevel , Hermann  131 , 133 Hofer , Hans-Georg  190 Hoff , Hans  150 , 163 Hofmann , Eduard  171 , 180 Holub , Edmund  74 , 75 , 136 , 137 , 205 , 206 Huber , Alfons  239 , 241 Jackson , Hughlings  252 Janikowski , Ludwig von  9 Jaspers , Karl  50 , 110 Koch , August Julius  127 , 128 Kolb , Gustav  207 , 236 , 237 , 238 , 240 , 242 Kokoschka , Oskar  9 Kraepelin , Emil  58 , 127 , 139 , 145 , 170 , 215 , 216 Krafft-Ebing , Richard von  32 , 34 , 38 , 58 , 131 , 167 , 171 Krayatsch , Josef  66 Lang , Arend  172 Leidesdorf , Maximilian  32 , 36 , 37 , 180 Lepenies , Wolf  144 Lindheim , Ritter von  57 Liszt , Franz von  122 Lombroso , Cesare  50 , 124 , 125 , 139 Lorenz , Wilhelm  183 Luhmann , Niklas  153 Luxenburger , Hans  208 Marburg , Otto  256 Mauczka , Alfred  193 , 243 Meier , Marietta  16 Melinz , Gerhard  231 Meynert , Theodor  32 , 33 , 35 , 37 , 38 , 54 , 131 , 158 Moebius , Paul Julius  50 , 121

Morel , Bénédict Augustin  50 , 125 Mundy , Jaromir  48 , 54 , 180 Musil , Robert  9 Näcke , Paul  139 Noé-Nordberg , Carl  233 Nolte , Karen  50 Nord , Franz  29 Obersteiner , Heinrich  175 , 199 , 252 , 256 Oppolzer , Johann  36 Pattai , Robert  65 Pendl , Erwin  66 Pick , Arnold  131 Pilcz , Alexander  37 , 38 , 70 , 87 , 112 Pinel , Philippe  41 , 145 Pötzl , Otto  197 Polanyi , Michael  14 Porter , Roy  145 Prichard , James  125 Prins , Adolphe  122 Quirchtmayer , Josef  183 Raimann , Emil  73 , 128 , 133 , 134 , 139 , 277 Raimann , Johann Nepomuk  30 Raphael , Lutz  21 Redlich , Emil  191,257 , 258 Richter , Karl  198 Riedel , Joseph Gottfried  31 , 32 , 42 Roemer , Hans  161 , 237 Rokitansky , Carl von  37 Roller , Christian  54 Roth , Joseph  9 , 11 Rüdin , Ernst  126 , 140 , 171 Scherrer , Thomas  197 Schlager , Ludwig  31 , 36 , 37 , 38 , 42 , 54 , 180 Schlöß , Heinrich  66 , 74 , 86 , 88 , 95 , 101 , 105 , 109 , 110 , 111 , 113 114 ,

Personenregister

116 , 117 , 118 , 137 , 139 , 183 , 186 , 188 , 189 195 , 197 , 221 Schneider , Ulrich Johannes  16 Schnopfhagen , Franz  182 Schratt , Katharina  73 Schroff , August  36 Schulhof , Fritz  246 Schweighofer , Josef  140 Shorter , Edward  51 Sickinger , Franz  183 , 242 Silberer , Victor  65 , 75 Simon , Hermann  244 , 245 , 246 , 247 , 249 Skoda , Josef  36 Sölder , Friedrich von  127 , 185 Sommer , Robert  162 , 170 Spurzheim , Karl  31 , 32 Starlinger , Josef  66 , 113 , 183 , 184 , 211 , 258 Steiner , Leopold  63 , 65 , 74 , 132 , 250 Stransky , Erwin  23 , 98 , 162 , 166 , 206 , 207 , 251 Strobach , Josef  64 Sturm , Josef  197 Tandler , Julius  25 , 154 , 198 , 203 , 204 , 213 , 239 , 241 , 249 , 256 270 Tanner , Jakob  16 , 22 Telke , ( Vorname unbekannt )  32 Tilkowsky , Adalbert  31 , 65 , 123 , 124 , 128 , 131 , 132 , 216 , 218 , 219 Topp , Leslie  75 Türkel, Siegfried  125, 140 Vismann, Cornelia  150 Viszanik, Michael  29, 31, 42, 149 Volkert, Karl  197 Wagner, Otto  10, 20, 64, 65, 75 Wagner-Jauregg, Julius von  38, 73, 111, 127, 131, 133, 134, 139, 171, 179

319

190, 196, 197, 217, 219, 238, 255, 273 Walter, Karl  252 Weiskirchner, Richard   195 Weismann, August  162, 171 Weiss, Siegfried  183 Westphal, Carl  33 Wetzell, Richard  139 Wieg-Wickenthal, Karl  111 Wlassak, Rudolf  217, 222, 223, 224, 225, 226, 228, 229, 230, 231 232, 233, 271