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German Pages 217 [220] Year 1939
Das Werden als Geschichte Kurt Breysig in seinem Werk von
Dr. E r n s t H e r i n g
19 3 9
W a l t e r de G r u y t e r & Co. Berlin
Der Titel dieses Buches stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Lebenswerk eines Forschers und den Aufgaben einer Wissenschaft, der er als der zur Zeit wirkende Vertreter der entwickelnden Geschichtsforschung neue Maßstäbe und einen neuen Sinn gab. Weggenossen seines reichen Gelehrten leben s Max Planck, Werner Sombart, Gottfried Benn, Waldemar Mitscherlich, Jakob von Uexküll fanden sich mit Fritz Klatt, Mario Krammer, Werner Heider, Arndt Schreiber und anderen Folgern seines Werkes in einer Festschrift zusammen, die unter dem Titel „ F ü h r u n g u n d A u f b a u " , von Fritz Klatt und mir herausgegeben, das meisterliche Wirken Kurt Breysigs am 5. Juli 1936, am Tage seines s i e b e n z i g s t e n Geburtstages, ehrte und ihn an diesem Tage in seinem umfassenden Werke grüßte als einen schöpferischen Führer und Erneuerer bauender Wissenschaft. Kurt Breysig, der Geschichtsforscher, der Geschichtsdenker ist in seinem Lebenswerk ein einziges Zeugnis dafür, daß in den starken und schöpferischen Menschen die bewegende, prägende und Wandlung schaffende Kraft der Geschichte beruht. Er erwies sich in seinem Forschertum als der Bejaher des Lebensweges seines Volkes auch dort, wo er, wie im Stufenbau der Weltgeschichte, in reicher Architektonik das große Bild von der schiefen Schlachtordnung der Völker und Kulturen entwarf. Das unterscheidet ihn von allen Romantikern des Unterganges. Um die Erkenntnis des Werdeganges der Menschheit, um den Aufbau einer Geschichtslehre mit all ihren zusam-
Vorwort
IV
menfassenden und deutenden Aufgaben, um die Lehre vom Wesen und von den Formen des geschichtlichen Werdens, um die Verwirklichungen der Geschichte im Wege e i n e r Wissenschaft geht sein kraftvolles Mühen und sein tätiges Bauen. Der Welt als Totalität, als Werden, als Ereigniszusammenhang unter der Sicht e i n e r Gesetzeseinheit nachzuspüren, das bestimmt das Ethos seiner Forsch'erweise. So schaut er die lebens- und geschichtsgestaltenden Kräfte aus einem neuen, auf das Diesseits gerichteten Lebensgefühl. Entscheidend wird ihm immer wieder das Geschehen selber, das Werden. Geschichte wird ihm die Entfaltung der schöpferischen Menschenkräfte in der Zeit, in den Persönlichkeiten der Führervölker dieser Erde. Mit ihm schreitet nicht die blutrote Abenddämmerung einer versinkenden Welt, wohl aber das lichte Morgenrot ewigen Geschehens, ewigen Werdens. Berlin, am 7. Oktober
1939.
Ernst
Hering
Inhaltsverzeichnis Seite
I. Das Zeitalter und der Weg Im Kreise von Schmoller und Koser 2 — Geschichte der Brandenburgischen Finanzen 3 — Die Geschichte der Völker als Entwicklung aus der Einheit eines Geschehens 4—5 — Kulturgeschichte: Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung 6—7 — Versuch einer universalen Geistesgeschichte nicht von dem neutralen Boden eines Kleinstaates, sondern eben als Deutscher, als zugehörig durch Blut und Gesinnung einem der führenden Völker des Erdteils 8 - 1 2 — 1905. der Stufenbau der Weltgeschichte 13 — Die Formenfülle der Stufen in immer neuen Fragestellungen der Entwicklung 14—15 — Begriff der Entwicklung 16 — O r d n u n g s mittel der Geschichte: die Zeitenfolge, die O r d n u n g nach räumlichen — oder nach Gesichtspunkten der Bluts- und Rassenteilung 17—19 — Das Gesetz aller Geschichtsforschung: alle Geschichte ist Werden 20—21 — Das Maßwerk des Stufenbaues als Formenkunde der Geschichte unvergleichlich lebensnah 22—24. II. Die Form im Werk: D e r S t u f e n b a u u n d d i e Gesetze der Weltgeschichte Die Stufenteilung geht von den Germanen aus 25 — D a s Geschlecht ist der Keim f ü r Völkerschaft, Stamm, Volk und Rasse 26—27 — Der Glaube als Erzeugnis des menschlichen Geistes gehört der U r zeit an 28—29 — Vom Geister-, Tier- und Pflanzengeisterglauben zur Heilbringergestalt 30—31 — Die Altertumsstufe kennzeichnet d a s Aufkommen d e s Königtumes 32—33 — Der All-Eine d e r Inder und der christliche Gott 34—35 — Die Europäer f ü h r e n 36 — Die Stufe des Mittelalters 37 — Die neue Zeit, die Stufe der stärksten Steigerung
1—24
24—48
VI
Inhaltsverzeichnis Seite
des Staatsgedankens 38—39 — Alt- und neueuropäische Entwicklung 40 — Staatengesellschaft im neueuropäischen Völkerkreis 41 — Die neueste Zeit unter der Einwirkung des völkischen Bluts- und Nationalgedankens 42—43 — Regel und Ordnung geschichtlichen Geschehens 44 — Gesetze der Geschichte 45 — Der Schöpferische, der Führer im Werdegang der Völker 46—47—48. III. Die Form im Werk: — a l s D e u t u n g — D i e G e s c h i c h t e d e r S e e l e im Werdegang der Menschheit Die eine Natur, der eine Kosmos: die E i n h e i t des Werdens 48—49 — Die Einheit der Seele als bewegende Kraft 50—51 — Der Wandel der Seelenkräfte in den Entwicklungsaitern der Menschheit 52—53 — Altertumsstufe als Zeitalter des Willens 54 — Der König und die Gottesgestalt 55 — Bauende Kraft des Gefühles im Mittelalter 56 — Die Mystik als Glaubensform 57 — Stufenbild der neueren Zeit: der Verstand als herrschende Seelenkraft 58—59 — Luthers Reformation im Fortgang des deutschen Geistes? 60 — Daseinsforschung: von Kant zu Herder 61 — Gefühlsbestimmte Bewegungen im 18. Jahrhundert 62 — Blutgemeinschaft und Stammesverwandtschaft als Träger der Staatseinheit im Nationalismus 63—64 — Januskopf: Demokratismus — Liberalismus 65 — Die Kraft des schöpferischen Einzelnen im Geschehen der Gegenwart 66—67 — Der Führer in der Auslese der Schaffenden — schöpferischer Besitz seines Volkes 68—69 — Die Persönlichkeit als Kraft, als Zucht, als Leistung 70—71 — Das Vorbild eines starken Führenden 72 — Glauben an die Werdenskraft des deutschen Volkes 73 — Die Macht des Gedankens in der Geschichte 74 — Gegensatz: Stefan George — Kurt Breysig 75. IV. Die Form im Werk: D i e L e h r e v o m B a u d e r Persönlichkeit als G r u n d l a g e einer künftigen Geschichtslehre Von Sendung und Kraft der großen Persönlichkeit als Führung und Aufbau 76—77- — Der schöpferische Einzelne bewegt die Welt 78—79 — Wandel
48—76
76—98
vn
Inhaltsverzeichnis der Weltbilder in den Stufenaltern der Menschheit 80—81 — Die Kraft der Handelnden — die Großen der Tat 82—83 — Die Schöpferischen des Geistes: Michel Angelo, Shakespeare, Dante und Goethe 84—85 — Michel Angelo, Raffael und der Barock 86 — Kollektivismus und der schöpferische Einzelne 87 — Die schauende und bildende Kraft großer Zielsetzer und die Vollendung des Werkes 88—89 — Sinn der Gemeinschaft ruht im Gesamtgeschehen eines Volkes 90—91 — Der Wert der Persönlichkeit und die Gemeinschaft 9 2 — 9 3 — Die schaffende Kraft des Führer-Einzelnen und das Schicksal seines Volkes 94—95 — Das geschichtliche Recht der Gemeinschaft im Werdegang des Geschehens 96—97. V. Die Form im Werk: U m d i e E i n h e i t alles Geschehens. Naturgeschichte,Menschheitsgeschichte
Seit«
98—124
Naturgeschichte, Menschheitsgeschichte 98—99 — Die Einheit des Weltbildes im neu-europäisch-germanischen Weltalter 100—101 — Hegels Geistlehre und der Gegensatz von Natur und Geist? 102—103 — Daseinslehre als Metaphysik 104 — Die Träger alles Weltgeschehens 105 — Die physikalische, die biologische und die anthopologisclie Weltsicht 106—107 — Die Welt ist Geist 108 — Die Welt ist Seele 109 — Die Welt ist Vernunft 110 — Die Welt ist Werden 111 — Der einheitliche Sinn des Geschehens im Formenreichtum des Naturseins und Naturgeschehens führt zu einer Welteinheitslehre, zu monokosmischer Sicht 112—115 — Die Werke der menschlichen Vernunft' und die Werke der Weltvernunft 116—117 — Ist Werdenskraft das Einsetzen einer neuen Bewegungsquelle? 118—119 — Die Eigenkraft der Urkörper — eine Entmaterialisierung des Weltbildes? Die unverursachte Wirkung als Stammbaum von Geschehensformen der Einheit: Welt 122—124 VI. Die Form Im Werk: D i e W e l t eines schehens. Vom N a t u r g e s c h e h e n Geistgeschehen
Gezum
Vom Urgeschehen zum Spiegelgeschehen 124—125 — Ist der Geist von der Welt zu trennen und zum
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VITT
Inhältsverzeichnis Schöpfer auch der Weltordnung zu machen? 126— 127 — Die Welt gibt dem Menschen sein Ahnen, Forschen und Bilden 128—129 — Das Vorbild des Weltgeschehens vermittelte dem Menschen den Aufbau seiner Denkwelt 130—131 — Kunst als Heraussteigerung, als Stilisierung, als Menschentum 132— 133 — Die Formen des Glaubens als das immer neue Ichbewußtsein des Menschen bis zum reinen Ein-Gottes-Gedanken 134—135—136 — Mystik löst die Göttergestalten auf, führt zum Eins-Gefühl mit der Welt 137-138 — Die Einheit des Unendlichen und des Allerkleinsten in der Sicht eines Geschehens, eines Werdens 139—140 — Martin Luther und die Ein-Gotteslehre 141 — Mehr weltbestimmte Formungen des Gottesbildes als Geschichte des menschlichen Geistes 142—143 — Vom Glauben befreite Welterkenntnis Weltspiegelung 144—145 — Apriorismus 146 — Selbstspiegelung. Selbstregelung 147
Seite
— Anspruch des Geistes auf Regelung des Lebens: Staatslehre 148—149 — Bewußte Geschichtsgestaltung 150 — Selbstregelungen des Menschheitsgeschehens 151 - Verhältnis der Gemeinschaftsregelungen zum Einzelnen 152 — 153 — Nationalismus als Akt der Selbstregelung im Volksgeschehen 154—155 — Verhältnis zum Urgeschehen 156 — Verselbständigung in Geist und Tat 157 — Aufbau der Geisteswelt: Verselbständigung 158 — Erhebung des Geistes über die Welt 159 — Wertanspruch der Geistwelt 160 — Heraushebung aus der Erfahrung 161 — Ausschließlichkeit von Piatons Lehre 162 — Platonische Denkbilder — eine dritte Welt über der Spiegelwelt 163 — Ideen sind nur zeitbedingte ortsgebundene Verkörperungen, immer wieder von Menschen erzeugt 164—165 — Glaubensformen: Ideenhimmel 166 — Erneuerungen: Weltfrömmigkeit 167 — Eine dem Gottesbilde sich nähernde Überkraft 168 — Natur und Geist in neuer Einheit 169 — Erneuerungen: Das Vordringen des Kosmos in der Seele der Menschheit 170—171.
VII. Der Forscher und sein Volk Das Volk ist im einzelnen, im schaffenden Menschen eine ewige Aufgabe als Weg der Verwirklichung 171—173 — Kurt Breysig, der Forscher, als Bejaher
171—193
Inhaltsverzeichnis) des Lebensweges seines Volkes 174—175 — Rokoko, leidenschaftliche Bewegtheit ist deutsch in der Formbeherrschtheit 176—177 — Selbsterforschung, nicht Selbstberühmung 178 — Das leidenschaftlich Drängende: plus ultra 179 — Der Drang nach Süden im frühen und mittleren Mittelalter der deutschen Geschichte 180—181 — Nietzsche 182 — Der junge Goethe 183—184 — Hegel, George, Eckhart 185—186 — Das Menschenbild Georges 187 — Martin Luther 188 — Jakob Grimm 189 — Das Traumstarke: Mystik der Kunst 190 — Jakob Burckhardt, der Allemanne, ahnende, deutende, schauende Geschichtsforschung 191—192—193. VIII. Die Einheit des Werkes Leopold von Rankes universalhistorisches Mühen um Entdeckung der unbekannten Weltgeschichte 193—194 — Stoff sammelnde Einzelforschung und schöpferisch zusammenfassende Schau: entwickelnde Geschichtsschreibung 195—196—197 — Der Formenvorrat einer vergleichenden Menschheitsgeschichte als Grundveste einer Geschichtslehre 198—199 — Gobineau: Volk als Ganzes genommen, Geschichtliches Werden als ein Lebensganzes 200—201 — Kurt Breysig: Einheitsstreben der Wissenschaft 202 — Gemeinsame Ziele der Natur- und Geisteswissenschaften und eine allgemeine Geschichtslehre 203—204 — Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung 205 — Grundlegung einer Geschichtslehre aus der Einheitsschau der Welt 206—207 — Der Schaffende, seinem Volke auf der Lichtseite des Lebens 208.
IX Seite
193—206
I.
Das Zeitalter und der Weg. Biographen machen immer ernste Augen, wenn sie ihre Daten vorlegen und vergessen, daß die Daten nicht das Wichtige, daß sie für das lebendige Bild unwesentlich sind. Bei dem männlich schöpferischen Menschen entfallen uns die Daten. Wir spüren, wie er sein Wirken in die Zeit hineinstellt, wie sein Werk freigebig ausstrahlt und im Geben ständig wächst. Daß die Ahnenreihe Kurt Breysigs in die rheinische Weltweite weist, daß ein Großonkel von ihm schaffender Maler und Kunsttheoretiker, sein Vater und andere Männer der Familie der Wissenschaft ergebene Professoren waren, ist ein Erbe, das, als aus vielfältigen Kräften der Kultur gespendet, wichtig werden kann für ein geeintes Ich, für die Atemzüge des Werdens. Aber Erfurt ist die Stadt, Thüringen die freundliche Landschaft mit schlichter Anmut, in der Kurt Breysig seine Schülerzeit bis zum achtzehnten Jahre verlebte. Mächtige Männer des Geistes und der Tat trug diese Landschaft: Eckehart, Luther, Bach, Novalis und Nietzsche. Der junge Luther weilte in Erfurt. Eckehart hatte seinen Ausgang von Erfurt genommen, war früh zur Würde eines „Prior von Erfurt und Vikarius von Thüringen" aufgerückt, und in dem herrlichen Innenraum der Predigerkirche mit seinem frei und rein emporschwingenden Pfeilerrhythmus mag der wortgewaltige Meister Eckehart sein kühnes Wort erprobt haben. Auf diesem' stillen, von mächtigen Kastanien umschatteten Winkel an der Gera, zu dem das Langhaus der Barfüßerkirche vom anderen Ufer hinübergrüßt, wurden vielleicht um 1298 vom H e r i n g , Das Werden als (leschlohte
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Im Kreise von Schmoller und Koser.
Bruder Eckehart jene mystischen Tischgespräche geführt, die so innig von Gottes unermeßlicher Güte erzählen. Hier wirkten starke Landschaft und edle Vergangenheit auf eine empfängliche Jugend und bereiteten beglückende Ahnungen von der Fülle des Seins; und durch den begegnenden geistigen Überfluß, der als Geschenk empfunden wurde, den eine nie getrübte enge Freundschaft mit dem eigenen Vater erschloß, klang der Weckruf verantwortlichen Reifens: Werde, der du bist! Goethe, die reine Verkörperung des produktiven Menschen, wurde Kurt Breysig durch die mittelnde Hand des Vaters zu innerem Besitz und öffnete die Augen für eine lebendige Welt, in der W e r t e erstehen und wirken. So erschloß sich ihm der Herzgedanke des Lebens, ein schöpferisches Eigenleben. Im Herbst 1884 begann Kurt Breysig in Berlin seine Universitätsstudien; im Sommersemester 1885 und Wintersemester 1885/86 finden wir ihn in Tübingen, von da ab wieder in Berlin. Am 2. Juli 1889 erfolgt die Promotion Kurt Breysigs. Die Dissertation ist in den Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen (herausgegeben von Gustav Schmoller) erschienen: „Der Prozeß gegen Eberhard Dankelmann. Ein Beitrag zur Brandenburgischen Verwaltungsgeschichte von Curt Breysig". Im Vorwort wird Herrn Professor Dr. Schmoller und Herrn Professor Dr. Koser für vielfachen gütigen Rat und dem Herrn Direktor des geheimen Staatsarchives, Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat Professor Dr. von Sybel, aufrichtigster Dank ausgesprochen für die Liberalität, mit der die Benutzung der Akten ermöglicht wurde. Wir spüren in dieser Arbeit die Atmosphäre der Ranke- und Treitschke-Situation an der Berliner Universität, die große Blütezeit deutscher Geschichtsschreibung. Auf Ranke wird verschiedentlich verwiesen, auf Droysens Darstellung Bezug genommen. Es ist die Zeit, da in der Historie an die Stelle einer philosophisch-ästhetischen eine politisch-verfassungsgeschichtliche Atmosphäre trat. Die besten und fähigsten Kräfte dräng-
Geschichte
der
Brandenburgischen
3
Finanzer
ten in die Geschichtswissenschaft, die Menschen, die historischen Verhältnisse und Schicksale an den höchsten Maßstäben politisch-nationaler Tendenz zu messen. Wenn wir den Bericht der Kommission für die Urkunden und Aktenstücke des Kurfürsten Friedrich Wilhelm über ihre Tätigkeit in den Jahren 1861—95 lesen — der Bericht wird von Holtze, Schmoller und Koser gezeichnet —, zeigt die Forschung eine große Werkgemeinschaft, in der auch ein Vorschlag von Dr. Breysig angenommen wird, die Ausdehnung der Finanzbearbeitung auf die Dankelmannsche Verwaltung. Am 2. Juli 1892, also 3 Jahre nach der Promotion, erfolgt Kurt Breysigs Habilitation. Seine Habilitationsschrift ist die Geschichte der Brandenburgischen Finanzen, deren meisterliche Art nach ihrer Buchveröffentlichung 1 ) schon vier Jahre danach — im Februar 1896 — Kurt Breysigs Ernennung zum außerordentlichen Professor bewirkt. Nicht kalt deskriptiv, auch nicht erklärend, wohl aber nachlebend und verstehend die Vergangenheit der Völker und der Menschheit als Entwicklung aus der Einheit eines Geschehens, aus einem Lebensgrunde zu erkennen und zu deuten, war Kurt Breysigs Mühen seit seiner ersten forscherlichen Arbeit. Die Veröffentlichung über „Entwicklungsgeschichte" (1896) 2 ), die Arbeiten über „die soziale *) Die Habilitation Kurt Breysigs erfolgte für neuere, insbesondere preußische Geschichte. Das umfangreiche Werk, ein Vorbild entwickelnd verfahrender Darstellung, erschien 1895 bei Dunker u. Humblot unter dem Titel: Geschichte der brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640 bis 1697. Darstellung und Akten. Koser hatte drei Semester lang Breysig in seinem Seminar und verwies dann in höchst uneigennütziger Weise den geschätzten Schüler an Schmoller, s o daß wir sagen dürfen: von Koser erfuhr Breysig seine Einführung in die Technik der brauchlichen Methode und im Gefolge von Schmoller die entwicklungsgeschichtliche Auffassung der Wirtschafts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. - ) Über Entwicklungsgeschichte I , I I , Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1896, vor allem auch „Ich und Welt in der Ge1*
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Die Geschichte der Völker als Entwicklung
Entwicklung der führenden Völker Europas in der neuen und neuesten Zeit" zeigen night allein den fleißigen Gelehrten, vielmehr den kühn vermutenden Forscher, der mit starker Intuition über die Epochen des Vergangenen reichste Gesichte geschichtlichen Lebens als „geschichtliche Welt", aber aus der Totalität des Lebens heraus, erschaut. Wilhelm Nitzsch, dem Kurt Breysig die zweite Hälfte seines universalgeschichtlichen Versuches zur Erinnerung weiht 3 ), der Begründer der älteren deutschen Wirtschaftsgeschichte, mit seinen stets geistvollen Kombinationen, Gustav Schmoller, dessen Vorträge über preußische Verwaltungsgeschichte und allgemeine Anregungen führten ihn zu einem realistischen Erfassen der Tatsachen. Recht, Verfassung, Kunst, Literatur, soziale Zustände und Verwaltungseinrichtungen waren geschichtliche Erscheinungen, denen mit der bloß deskriptiven Wissenschaft nicht schichte", Schmollers Jahrbuch für Qesetzeskunde Bd. X X V I , 1902, S. 1361—1438 (als Untersuchung über den pendelschlagartigen Wechsel der gesellschaftsseelischen Triebe, von Ichhingabe und Ichbetonung, von Gemeinschaftstrieb und Persönlichkeitsdrang in der A b f o l g e der E n t w i c k l u n g s a l t e r der alt- und n e u e u r o p ä i s c h e n V ö l k e r , bedeutsam als frühzeitige seelengeschichtliche Betrachtung, die in der Geschichte der Seele im Werdegang der Menschheit ihren abschließenden Ausbau findet), sodann die soziale Entwicklung der führenden Völker Europas in der neuen und neuesten Zeit, ein Versuch (Jahrbuch für Gesetzgebung, herausgeg. v. Schmoller, X X , 1091 ff., X X I [1897], 1 ff., 1223 ff., X X I I [1898], 141 ff., ebenfalls hierher zu rechnen: Recht und Gericht im Jahre 1500, eine vergleichende sozialgeschichtliche Skizze (Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, herausgeg. v. Bauer u. Hartmann, VI [1898], 239 ff., VII [1899], 131 ff.). Die Entwicklung der europäischen Völkergesellschaft und die Entstehung des modernen Nationalismus (Zeitschrift für Kulturgeschichte, herausgeg. v. Steinhausen, VI [1899], 329 ff., 411 ff., VII [1899], 81 ff.). 3 ) Bd. I der Kulturgeschichte, Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung ist Gustav Schmoller dargebracht, Bd. II der Kulturgeschichte — Altertum und Mittelalter als Vorstufen der Neuzeit — ist zu Jacob Burckhardts Gedächtnis gereicht.
aus der Einheil eines Geschehens
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beizukommen ist, die vielmehr als große Zusammenhänge aufzuhellen waren. Von empirisch zuverlässigen Einzeluntersuchungen galt es zu allgemeinen Wahrheiten, zu gesetzmäßigen Zusammenhängen vorzustoßen. Zehn Jahre Tätigkeit des Sammeins und Ordnens, zehn Jahre spezialistischer Forschung — als Fundamentierungsarbeitert — unter dem Eindruck der meisterlichen Vorbilder — Nitzsch als Wirtschaftshistoriker des deutschen Mittelalters, Burckhardt als Kulturhistoriker, Heinrich von Treitschke, der klare politische Denker und Historiker und tapfere Charakter, Gustav Schmoller, der allumfassende Volkswirtschaftler und Verwaltungswissenschaftler, Hermann Grimm, der feinsinnige und lebensnahe Deuter künstlerischen Schaffens —, sie wurden die Grundlage für Kurt Breysigs universalgeschichtlichen Versuch, den er 1900 und 1901 unter dem zusammenfassenden Titel „Kulturgeschichte" vorlegt. „Die Bezeichnung Kulturgeschichte trägt es nicht", begründet Kurt Breysig im Vorwort des Buches, „weil ich etwa der Ansicht wäre, daß es eine spezifisch kulturgeschichtliche Methode gäbe, oder daß Kulturgeschichte und eigentliche Geschichte getrennt werden müßten, sondern nur, um nicht den Anschein zu erwecken, es sei hier im wesentlichen von äußerer Staatsgeschichte die Rede. Die Kultur, die ich meine, umfaßt im buchstäblichen Sinne des Wortes alle sozialen Institutionen wie alles geistige Schaffen. Ich möchte von Verfassung und Verwaltung der Staaten eben so viel, wie von Recht und Sitte der Gesellschaft, vom Schicksal der Klassen und Stände eben so viel, wie von dem äußeren Verhalten der politisch geeinten und aktionsfähigen Völker in Krieg und Frieden erzählen. Ich möchte die Geschichte der Dichtung und der bildenden Kunst, der Wissenschaft und des Glaubens gleichmäßig überliefern. Und ich möchte vor allem die Fäden aufdecken, die geistiges und soziales Leben der Völker miteinander verbunden und umsponnen halten. Beider W a n d lungen werden unendlich oft, wie mich dünkt, von einer
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Kulturgeschichte: Aufgaben und Maßstäbe
tieferen, sie gemeinsam tragenden Unterströmung Menschheitsentwicklung bewirkt und bedingt" 4 ).
der
4 ) Kulturgeschichte, Bd. I, Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung (Ziele der Forschung, Umrisse einer historischen Staats- und Gesellschafts-, Kunst- und Wissenschaftslehre, Vorwort S. VII, Berlin 1900). Im folgenden Jahr erschien als Band II: Altertum und Mittelalter als Vorstufen der Neureit, zwei Jahrtausende europäischer Geschichte im Oberblick; ein universalgeschichtlicher Versuch von Kurt Breysig, Erste Hälfte: Urzeit, Griechen, Römer. Berlin 1901. Die zweite Hälfte, unter gleichem Titel und im gleichen Jahr erschienen, umfaßt E n t s t e h u n g d e s C h r i s t e n t u m s — J u g e n d d e r G e r m a n e n . Das umfassende Werk gibt schon im äußeren U m f a n g von rund 1800 Seiten eine Vorstellung von der gewaltigen forscherlichen Kleinarbeit, die das unerschöpfliche Meer der Einzeltatsachen gleichsam hindurchleitet durch den sammelnden, zugleich verkleinernden H o h l s p i e g e l verglei chender und konstruktiver Tätigkeit der universalen Historie. Jenseits von allem alexandrinischen Kleinkram entwirft Kurt Breysig seine Bilder von herrlicher Farbigkeit, die politischen Machtentwicklungen und Charaktere, Entwicklungen des Wirtschaftslebens, Staat und Stände, geistiges Leben: die bildende Kunst, D i c h t u n g : Lyrik, Schöpfung des D r a m a s und die archaische Tragödie, Entstehung, Triumph und Niedergang der Komödie, Weltanschauung und Sittenlehre, die Entstehung der Geschichtsschreibung, Naturforschung, Staats- und Kunstlehre, Geist der griechischen Neuzeit, Ende und die geographische Bedingtheit der hellenischen Geschichte, der hellenistische Epilog der griechischen Geschichte: Imperialismus der Mazedonier und seine Staatengründungen — oder aus dem weiteren Inhalt vom Staat und von der Geschichte der Römer: der Kampf der Stände im alten Rom mit den wirtschaftlich - sozialen Unterströmungen, Neuere Zeit und Revolutionsepoche: vom Territorialstaat zur Weltmacht, demokratische und monarchisch-militaristische Umsturzbewegungen und Caesars Militärmonarchie, Ende der Republik — Ursachen Stadtstaatverfassung und Weltreich, Scheindemokratie und Militärdiktatur, aus der sozialen Entwicklung Roms u. a.: Absolutismus und Ausbildung eines Berufsbeamtentums, das künstliche Mittelalter der kaiserlichen Sozialpolitik, Rückbildung der Wirtschaftsformen usw. Aus der zweiten Hälfte: Entstehung des Christentumes: u. a. Festlegung und Fortbildung des Dogmas durch Griechen und Orientalen, Aus der Jugend der Germanen — griechisch-germanische Parallelen, Römisch-germanische Beeinflussungen: Akute Vergiftungspro-
einer allgemeinen
Geschichtsschreibung.
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Die rechte Vereinigung von S a m m l u n g und O r d n u n g , von E r f a h r u n g und kühn bauender Z u s a m m e n f a s s u n g bedeutet dabei nicht eine Addition vorhandener Ergebnisse, sondern es galt die Herstellung eines Neues, wirklich G a n zen, d a s etwas anderes ist als die Summe der Teile. Zweierlei sah Kurt Breysig als Geschichte in diesem W e r k : einmal Geschichte des sozialen Verhaltens der Völker und Menschen, und sodann Geschichte ihres geistigen Lebens: als Einheit begriffen aber kann sie nur eine Verschmelzung u n d V e r b i n d u n g beider sein 5 ). Diese Zweiteilung entspricht dem alten Unterschiede von H a n d e l n und Schauen: Religion und Kunst und Wissenschaft sind die Gebiete menschlicher Tätigkeit, in welchen der im Schauen schaffende Geist herrscht. Alles andere T u n der Menschen ist bestimmt vom handelnden Willen u n d spiegelt sich in der Entwicklung in Staat und Recht, in Gesellschaft und Wirtschaft. Können Staat und Gesellschaft, Recht und Wirtschaft, die als Realitäten so verschiedene Lebensgebiete sind, zu einer Einheit zusammengefaßt werden? Kurt Breysig bejaht die Frage; denn alle Arten von Tätigkeiten und H a n d lungen, von denen Staats- und Rechts-, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte berichten, gehen o h n e Umschweife auf die Zwecke aus, die menschlichem Streben als die zunächst begehrenswerten erscheinen: auf die E r w e r b u n g von Macht, Ruhm und Besitz und auf die Befriedigung von körperlicher und seelischer Geschlechtsneigung. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft sind die Tummelplätze dieser vier zesse: Ostgoten, Vandalen, Langobarden, Westgoten. Eigenwüchsigere und langsamere Entwicklung der Franken und Angelsachsen. Einheit und Spaltung der germanischen Völkergruppe, eigene und erborgte Kultur. D a s frühe Mittelalter der germanisch-romanischen Völker: Deutschland-Italien: Politische Verbindung Deutschlands und Italiens als Karolinger-Erbe. Frankreich, England, Italien, Skandinavien in Ständebildung und Volkswirtschaft usw. 5
) Kurt Breysig, Kulturgeschichte, Bd. I, Aufgaben, S. 7.
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Versuch einer universalen Geistesgeschichte
Grundformen der praktischen Betätigung, und das Recht, z. T. auch die Staatsordnung suchen diesem Treiben Regel und Schranken aufzuerlegen 6 ). Diese große Gruppe geschichtlichen Lebens heißt Sozialgeschichte; damit werden Gesellschafts- und Wirtschafts-, Verfassungs- und Verwaltungs-, Rechts- und auswärtige Staatsgeschichte als die eine Hälfte des geschichtlichen Lebens zusammengefaßt. Der im Schauen schaffende Geist des Menschen wirkt sich in gleicher Weise (als aus einer Einheit des geistigen Lebens herzuleiten) im religiösen, im künstlerischen und im wissenschaftlichen Schaffen aus: „Alle Wissenschaft ist Betrachtung und Wiederspiegelung der Welt, und alle Kunst ist es nicht minder; und noch jede Religion hat behauptet, daß sie vorhandene Wahrheiten verkünde und nach nichts anderem forsche als nach dem Woher und Wohin der Welt und Menschheit. Nach seinem Denkinhalt ist jedes Glaubensbekenntnis nichts anderes als Metaphysik und Ethik gewesen, kurz auch wieder Wissenschaft — trotz aller Beimischung von Gefühlen und der Phantasie entsprungenen Vorstellungen. Daß die Wissenschaft mit Einschluß dieser Wissenschaft von Gott die Kunde von der Realität der Dinge und ihre Berichterstattung damit aufs gewissenhafteste dieser Realität anzupassen und ihr auf das Engste anzunähern sucht, daß die Kunst sich von dieser Ängstlichkeit frei macht und sich vorbehält, die Wirklichkeit zu steigern und aufzuhöhen oder aus ihren Tatsachen auszuwählen, was ihr beliebt, dieser Unterschied ist wohl für Wesen und Form beider Geistestätigkeiten maßgebend geworden, aber er läßt doch auch noch die gemeinsame Wurzel erkennen" 7 ). Die an sich verschiedenen Tätigkeiten des Geistes und die im Geschehen erwachsenen Formen des Ausdruckes 6) Ebenda S. 8/9. 7 ) Kurt Breysig, Kulturgeschichte. Bd. I, S. 21/22.
nicht von dem neutralen Boden eines Kleinstaates
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e n t s t a m m e n e i n e r Wurzel, gleichsam einer geistigen Atm o s p h ä r e , die, an sich noch undifferenziert, d o c h alle einzelnen K ü n s t e u n d W i s s e n s c h a f t e n d u r c h d r i n g t u n d beherrscht. Es gibt bestimmte S c h w a n k u n g e n u n d W a n d lungen dieser A t m o s p h ä r e , deren W i r k u n g e n sich in einer g a n z e n Anzahl von Zeitalter in Kunst, Religion u n d W i s s e n s c h a f t gleichmäßig nachweisen lassen. Ein solcher Fall ist z. B. d a s Verhalten zur Realität: die g r ö ß e r e o d e r geringere A n n ä h e r u n g an die Wirklichkeit. Idealismus u n d Realismus sind so die Pole, zwischen d e n e n nicht n u r die K u n s t , s o n d e r n auch die W i s s e n s c h a f t s c h w a n k t . A u s dieser Einheit, die dem G e s c h e h e n d e r geistigen Wirklichkeit zugrundeliegt, folgert Kurt Breysig, d a ß es eine G e schichte der geistigen Kultur geben m u ß , die n i c h t n u r a u s e i n e r A d d i t i o n ihrer einzelnen Zweige b e s t e h t : wie es nicht n u r eine Geschichte der B a u k u n s t , der Bildhauerei, der Malerei und so fort, s o n d e r n auch eine allgemeine Geschichte der bildenden Kunst gibt, wie sich auch ü b e r der Geschichte der einzelnen Disziplinen, d e r Philosophie, der N a t u r f o r s c h u n g , der Geschichte, d e r Jurisp r u d e n z eine allgemeine W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e e r h e b e n m u ß , so wird alles dies u n d die Geschichte der religiösen A n s c h a u u n g in einer universalen Geistesgeschichte gipfeln 8 ). Sowohl die Sozial- wie die Geistesgeschichte d e r Kultur werden dergestalt in ihrer Einheit b e w a h r t bleiben m ü s s e n 9 ). Kurt Breysig u n t e r n a h m diesen Versuch einer Universalgeschichte nicht etwa .von dem neutralen B o d e n eines d e r e u r o p ä i s c h e n Kleinstaaten, s o n d e r n eben als D e u t s c h e r , als z u g e h ö r i g durch Blut und G e s i n n u n g einem d e r f ü h r e n d e n Völker des Erdteiles. Er vertritt den S t a n d p u n k t , d a ß die d e u t s c h e F o r s c h u n g a u s verantwortlichem nationalen Selbstg e f ü h l mit r u h i g e m Stolze ü b e r die Schwächen u n s e r e r 8 9
) Ebenda S. 24. ) Ebenda S. 25.
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sondern eben als Deutscher,
Entwicklung zu reden vermag, um so mehr, weil die deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit nicht im mindesten den Vergleich mit der französischen und englischen zu scheuen hat; denn alle drei Nationalentwicklungen, in Hinsicht auf ihre zugleich soziale und geistige Ausbildung unzweifelhaft die reichsten, weisen in gleicher Weise öde und unfruchtbare Strecken, Zeiten der Umwege und Irrungen auf, deren Erforschung gerade aus der wahrhaftigen Vergleichung zugunsten der Zukunft uns verpflichtet, wie sie am besten zu heilen oder zu meiden sind. Kurt Breysig gibt in den Maßstäben seine soziologische Verständigung, indem er den Begriff des Staates, des Standes, der Klasse, der Familie, erörtert und beantwortet damit die Frage, welche treibenden Kräfte das soziale Leben bewirken. Hierzu ist vorzumerken, daß jene von Kurt Breysig angestrebte Zusammenschau nicht den Sinnzusammenhang der Geschichte meint, wie ihn der Geist als Logos im Sinne der Hegeischen Philosophie darstellt. Seine Wissenschaftssystematik und Zusammenschau ist als Erkenntnishaltung durchaus empirisch orientiert. Eine ganze geschichtliche Wirklichkeit soll auch in der „Kulturgeschichte" als der Ausdruck geschehenen und gewordenen Lebens gelten. Vielmehr wendet er sich bereits im Aufbau der Kulturgeschichte gegen die einseitig nach dem Grundsatz der reinen Zeitordnung verfahrende Geschichtsschreibung, die alle Zweige der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung nach dem Gedanken der reinen Zeitenfolge ordnet. Das bedeutet im Jahre 1900 — als noch kein Oswald Spengler unter dem Aschenregen des Unterganges an eine Morphologie der Weltgeschichte dachte, — doch nichts anderes, daß mit dem Erscheinen der Kulturgeschichte Kurt Breysigs und dem 1905 erschienenen „Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte" ein nach den Grundsätzen der Entwicklung und des Werdens gegliederter Stufenbau der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt wurde. Es
als zugehörig durch Blut und Gesinnung
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erscheint darum unerfindlich, wie Oswald Spengler den~ noch diese Neuerung als zuerst seiner Forschung zueigen für sich in Anspruch nehmen durfte 10 ). Kein Geringerer als Gustav Schmoller charakterisiert Breysigs universalgeschichtlichen Versuch, die Seele, den Charakter, die Atmosphäre eines jeden Volkes und jeder 10 ) Es sei hier darum im Interesse künftiger Qeschichtsmethodik ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß Kurt Breysig bereits 1896, also vor nunmehr vierzig Jahren, mit den Abhandlungsreihen „Die soziale Entwicklung der führenden Völker Europas" (erschienen in Schmollers Jahrb. für Gesetzgebung XX [1896] bis XXIII [1899]) den Gedanken der allgemeinen Richtungsgleichheit der Völkerentwicklungen vertrat; vgl. auch die Abhandlung Kurt Breysigs über „Die Kulturgeschichte im Unterricht der höheren Schulen" (Pädagogisches Zentralblatt 1926, Heft 9), in der er schreibt: „Die Gleichläufigkeit zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte ist nicht, wie Spengler seltsamerweise entgegen dem klar vor aller Augen liegenden Tatbestand behauptet, durch seine im ganzen wie im einzelnen hundertfach anzufechtende Darstellung in die Wissenschaft eingeführt worden, sondern mehr als zwanzig Jahre vor ihm ausgebildet worden, ganz ebenso wie die ihr zugrundeliegende morphologische Auffassung der Geschichte, die nicht Zeiträume, sondern nach Merkmalen umschriebene Entwicklungsabschnitt zum Ausgang der Einteilung der Geschichte macht und die Spengler mit der gleichen Unbefangenheit als eine seiner Forschung zuzuordnende Neuerung in Anspruch nimmt, ohne dazu das mindeste Recht zu haben." Vgl. auch: „Der morphologische Gedanke, daß ein sachlich zu umschreibender Entwicklungszustand als Grundeinheit für die Teilung der Völkergeschichten im Längsschnitt benutzt wird an der Stelle von irgendwelchen rein chronologischen Abschnitten ist schon der tragende für den Drei-ReihenParallelismus der griechischen, römischen und germanisch-romanischen Geschichte, wie er in der Kulturgeschichte der Neuzeit (II,, 1, II, 2; 1901) aufgestellt ist. Er gab für die universalgeschichtliche Übersicht des hier vorgelegten Buches (1. Auflage, 1905, 2—9) (gemeint ist „Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte") das Gesetz der Einteilung her, und er ist zu einer Reihe von kurz, aber scharf umrissenen Stufenbildern entwickelt in der Geschichte der Menschheit I (1907), 76—78; vgl. auch die Spenglerkritik: Der Prophet des Unterganges (Velhagen und Klasings Monatshefte XXXV [1920], S. 261—270). Siehe auch Kurt Breysig, Der Stufenbau, 2. Auflage, S. 15—17.
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einem der führenden Völker des Erdteiles.
Zeit, alle Seiten ihres Handelns und ihres Schauens in gleichmäßigen Abfolgen abzuleiten. Er stellt fest, daß Kurt Breysig eine im ganzen übereinstimmende Entwicklung findet: Urzeit, Altertum, frühes und spätes Mittelalter, neue und neueste Zeit verläuft für ihn in analoger Abwandlung politischer und wirtschaftlicher Institutionen. Dazu gesellt sich ihm eine entsprechende Entwicklung des Glaubens, der Kunst, der Wissenschaft und der Literatur. Das Übereinstimmende in den politischen und wirtschaftlichen, kirchlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklungsreihen des Altertums bis zur neuesten Zeit wird von Kurt Breysig unter Zurückstellung des Abweichenden dargestellt. Aus dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft ergeben sich die inneren Wandlungen aller Gemeinschaft. Der Trieb zur Hingabe ist die letzte Ursache für die Entstehung aller sozialen Gebilde: „Familie, Staat, Stand, Klasse und zuletzt die Völkergesellschaft, sie danken dieser Kraft im Grunde selbst ihr Dasein" "). Überall erweist sich Kurt Breysig dabei als ein Schilderer von größter Anschauungskraft. Die von ihm als Gemeinsamkeiten erschauten Entwicklungsformen zeigen einen auf das Wesen und den Kern der Dinge dringenden Forscher. Gustav Schmoller sagt dazu: „Seine Geschichtsparallelen gehören zum lehrreichsten, was neuerdings auf dem Gebiete vergleichender Staatengeschichte geschaffen wurde. Und seine Antithese von Persönlichkeits- und Gemeinschaftsdrang trifft sicherlich einen Zentralpunkt menschlichen Seelenlebens" 1 2 ). Und an anderer Stelle setzt Schmoller Kurt Breysigs universalhistorischen Versuch in Vergleich zu Karl Lamprechts Geschichte der Kulturzeitalter und unterscheidet: „Er ist nicht Kollektivist wie Lamprecht, er erhebt mit Nietzsche die großen Männer " ) K. Breysig, Kulturgeschichte, I, 1, S . 8 7 . 12 ) Gustav Schmoller, Grundriß, S. 759.
1905.
Der Stufenbau
der
Weltgeschichte.
13
als die Leuchten und Ecksteine der Zeiten. Er räumt wohl der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eine Art kausalen Vorranges vor der geistigen Geschichte ein; aber er ist doch ein entschiedener Gegner des ökonomischen Materialismus von Marx." K u l t u r g e s c h i c h t e d e r N e u z e i t (1900), d e r Stufenbau und die G e s e t z e d e r Weltges c h i c h t e (1905), von denen in einem besonderen Kapitel gehandelt wird, und die G e s c h i c h t e d e r M e n s c h h e i t , deren erster Band unter dem Titel „Völker ewiger Urzeit" 1907 erschien, gehören einem Schaffenskreis Kurt Breysigs an 1 3 ). Es ist reizvoll zu erkennen, wie in diesem ersten Bande der Geschichte der Menschheit Breysig bereits von Grund aus in seiner Forscher- und Denkerarbeit das ungeheure Neuland seiner Aufgabe n i e von Teilaspekten her anpackt, sondern Weltgeschichte als Ganzes und aus seiner inneren Einheit als den unabgeschlossenen Werdegang einer Menschheit erkennt und der Fülle des Handelnden und schauenden Lebens und seinem Gestaltenreichtum gerecht wird. Was Hegel deduktiv erstrebte, das gelingt Breysig von der intuitiv, schöpferisch gestaltenden Empirie her. Er weiß den Begriff zum Leben zu erwecken, um mit ihm das Leben zu fassen, das er begreifen will. Immer fühlt er sich dabei einem Geschehen verpflichtet, das durch uns hindurch geschieht. Die Sinngebilde seines Bauens, die Formenfülle seiner Stufen er13 ) Es schien, daß jener erste Band der Menschheitsgeschichte in einem neuen Wissenslande der Forschung Anfang und Vorbild bleiben sollte fast über drei Jahrzehnte, bis Kurt Breysig 1935 die umfassenden Vorarbeiten und die in jahrzehntelanger Arbeit gesammelten Einzelergebnisse seiner Studien zur Geschichte der Menschheit wieder aufnahm. In acht Bänden wird nun dieses Werk einer Qeschichte der Menschheit in den nächsten Jahren erscheinen. Band I der Geschichte der Menschheit umfaßt die Anfänge der Menschheit (Urrassen, Nordasiaten, Australier, Südamerikaner), erschien im Juni 1936, der demnächst erscheinende zweite Band enthält die Nordländer, Nordwest- und Nordostamerikaner.
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D i e Formenfülle
der
Stufen
wächst aus der Bewegung der geschichtlichen Wirklichkeit in immer neuen Fragestellungen der Entwicklung. W i r empfinden siealsden geschichtlichen Unterbau unserer eigenen Wirklichkeit. Als höheren Maßstab, der dem handelnden und dem schauenden Leben gleich gerecht wird, sucht Kurt Breysig den innersten Kern des Menschen, die Seele auf, die freilich bei ihm in eigener Deutung für die Zwecke der Forschung eingesetzt wird: „Das Verhalten des Einzelnen, das Ich zu seiner Umwelt, ein Handeln selbst, beherrscht doch gleichermaßen alles Ahnen, Bilden, Forschen, wie alles Tun der Menschen. Und wer Geschichte als Kulturgeschichte, d. h. als Geschichte der Ichbildung erkennt, wird eine seltsam feine Stufenleiter der Einzelgeschichten aus ihrer näheren oder ferneren Lagerung um den Kern unseres Ichs ablesen können. Alle unmittelbaren Einwirkungen des Fühlens sind ihm am nächsten, so unzergliedert, unverstandesmäßig sie sein mögen: so Liebe, Freundschaft, Geselligkeit in jedem höheren Sinne im Bezirke des handelnden, so Glaube, Ton-, Bau- und Zierkunst im Bereiche des schauenden Lebens. Als immer weitere, aber auch immer fernere Ringe legen sich Stände- und Klassen-, Rechts- und Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte dort, Bildnerei-, Malerei-, Dichtungsgeschichte hier um den Kern des Kreises. Den Kreisrand aber hält die Forschung als die verstandeskühlste, die auswärtige Staats- und Kriegskunst als die härteste Form der Lebensbetätigung: Auswirkungen der Seele sind sie doch alle, und wer Sachgeschichte und Persönlichkeitsgeschichte gleichermaßen in diesen Ringen beobachtet, wird finden, daß die lebendigen Menschen als die alle Kreisgürtel quer durchschießenden Strahlen ,vom Mittelpunkt fort und auf ihn hinleiten: zu dem untersten, innersten Grunde unseres Seins, in dem jedes Schauen, jede Tat in Ahnung empfangen und gezeugt wird, d a wo Geist und Seele miteinander Brautnacht feiern. Tausend Ausdrucksformen hat dies innerste Leben, das
in immer neuen Fragestellungen der Entwicklung.
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doch der letzte und in Wahrheit einzige Gegenstand aller Geschichtsforschung ist, aber eine Zwiespältigkeit ist in allen ihren Äußerungen am deutlichsten zu erkennen: es ist das Schwanken zwischen den beiden Ausschlagspunkten völliger Hingabe des handelnden Ichs an die Welt als Menschheit, als Gemeinschaft, des schauenden Ichs an die Welt als Bild und ebenso völliger Selbstbehauptung des Ichs der Welt, der Gemeinschaft gegenüber 1 1 ). Die Aufgabe des Geschichtsforschers sieht Kurt Breysig in der Menschheitsgeschichte so: „Alle Geschichte ist Werden und so ist das geschichtlichste Amt der Geschichtsforschung, die Verkettung der seienden, der gewesenen Dinge, der Handlungen der Menschen aufzudecken. So ist der vornehmste ihrer Grundbegriffe der, der diese Verkettung, wenn nicht zu erklären, doch zu, kennzeichnen unternimmt: d e r E n t w i c k l u n g s g e d a n k e . Entwickelnd ist die Geschichtsauffassung, die, soweit das Vermögen menschlicher Einsicht reicht, die Verknüpfung der Ereignisse und Menschen unter sich in die Ferne und in die Tiefe zu erkennen sucht. Bisher hat die Geschichtsschreibung vornehmlich die äußere Staatsgeschichte bevorzugt. Sie hat seit Herodotos und Thukydides Zeiten auf ihren Gipfeln mit großer Feinheit und Sorgfalt die Kunst dieser Darstellung gepflegt. „Aber sie ist niemals auf den Gedanken gekommen, aus den einzelnen Handlungen eines Zeitalters auf seine Handlungsweise zu schließen, daraus große Zustandsbilder zu entwerfen und nun aus einer Reihe solcher Zustandsbilder die Geschichte des auswärtigen Verhaltens der Völker in einer Folge von Jahrhunderte herzustellen: was einer entwicklungsgeschichtlichen Erforschung dieser Bezirke des handelnden Lebens als das letzte, ja als d a s einzige Ziel ihres Mühens gelten müßte. Denn erst dann würde Wert und Eigentümlichkeit jeder einzelnen Handlung, jedes einzelnen Trägers auswärtiger Staatskunst fest14
) Kurt Breysig, Völker ewiger Urzeit, S. 41/42.
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Begriff der
Entwicklung.
zustellen und andererseits aus tausend Einzelheiten das entscheidende Gesamtbild zu gewinnen. Ja, selbst Fortschritte in anderer Richtung haben durch Verluste in diesem Stück bezahlt werden müssen. Als eine scharfsinnige Forschungsweise zur Herausstellung auch der einfachsten und äußerlichsten Tatsachen herausgebildet war, vergaß man der größeren Zusammenhänge vollends. Man hielt die Mühsal, die man für die Erlangung des Nachrichtenstoffes aufgewendet hatte, für hinlänglich und entschlug sich, wenn man sie überstanden, um so eher jeder ferneren Überbauung dieser festen Grundlage mit weiteren Zusammenhängen" 1 5 ). Hatte Mommsen, die Gesamtgeschichte der Römer mit großem Übergewicht der äußeren Staatskunst wesentlich beschreibend abgefaßt so schuf er doch in seinem Staatsrecht eines der Meisterwerke entwickelnder Geschichte, RSanke dagegen „blieb der große Schilderer: seine Geschichtsbilder ziehen weite Linien, aber sie umspannen die Zeiträume nur gelegentlich zu inneren Einheiten. Vergleicht man seine Beiträge zur Verfassungsgeschichte der spanischen Reiche mit der englischen Verfassungsgeschichte Gneists, so wird man inne, wie bei Ranke eine Fülle von Einzelheiten aneinander gereiht, wie bei Gneist die großen Verkettungen mit sicherer Kraft über den Wirrwarr der besonderen Tatsachen als haltendes Netz gebreitet sind: ein artvertretender Fall des Gegensatzes beschreibender und entwickelnder Geschichtsdarstellung, so gewiß auch die Forschungsweise Gneists in ihrer eigenen Richtung vielfacher Steigerung und Verdichtung fähig war. Fast alle Zweige der Gesellschaftsgeschichte, die neuen der Familienund Klassengeschichte, so gut wie die älteren der Rechtsund Wirtschafts- und Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, sind heute in höherem oder geringerem Maße dem Entwicklungsgedanken unterworfen; nur die Ge15
) Kurt Breysig, Völker ewiger Urzeit, S. 46/47.
O r d n u n g s i n i t t e l der G e s c h i c h t e : die Zeitenfolge
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schichte des auswärtigen Verhaltens der Völker widersteht noch" iß). „Der Begriff Entwicklung ist auf drei Urbestandteile zurückzuführen; er enthält erstens die Vorstellung der Veränderung, des Anderswerdens, er behauptet zweitens eine Verursachtheit des neuen Zustandes durch den alten, d. h. also eine Selbständigkeit, eine Selbstgenügsamkeit, eine Unabhängigkeit dieser Tatsachenreihe von jeder anderen, ja drittens, ein pflanzenmäßiges Wachstum, so daß teilweise der neue Zustand gleich dem alten ist, wie der Stoff der Blüte teilweise gleich dem der Knospe ist" 1 7 ). Das Wesen einer rechten Entwicklungsreihe besteht darin, daß sie in der Hauptsache aus sich selbst zureichend zu erklären ist. „So wie das Nebeneinander der Bezirke, in die wir das Leben und seine Geschichte teilen, ein Ergebnis begrifflicher Gruppenbildung ist, so ist auch unumgänglich das Nacheinander der Entwicklungen in Strecken zu zerlegen. Notbehelfe sind sie beide und mit mehr als einer Vergewaltigung der Wirklichkeiten verknüpft" 1 8 ). Von jeher hat der Geschichtsschreiber als Ordnungsmittel die Zeitenfolge benutzt. Besonders diente die Zahl für die Ereignisreihen der äußeren Geschichte und später auch für die Verfassungsgeschichte. Der Grundsatz der reinen Zeitordnung versagt aber, wenn es gilt, alle Zweige der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung eines Volkes nach ihm zu ordnen. Und ähnliche Schwierigkeiten erwachsen aus der Fülle der Geschichtsreihen der Völker und Volksgruppen auf der neu aufgetanen weiteren Bühne der wirklichen Weltgeschichte. Der Versuch, an die Stelle der zeitlichen Ordnung die räumliche zu setzen, also Ländergeschichte an die Stelle von Völkergeschichte zu setzen, führte zu gewaltsamen Verknüpfungen, indem man 16
) Ebenda S. 49. " ) Ebenda S. 53. 18 ) Ebenda S. 57.
tlering, Das Werden als Geschichte
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die O r d n u n g nach räumlichen — oder nach
die Geschichte nur halb reifer eingeborener Völker z. B. in Amerika und Australien mit der der eingedrungenen Europäer zu einer Einheit zusammendrängte, die jeder Daseinsberechtigung entbehrt. Der in dieser Richtung von Helmolt geleiteten Sammlung einer Anzahl von Volksgeschichten einzelner Verfasser (1899) weist neben überaus wichtigen Gesamtbetrachtungen von Kohler, Ratzel u. a. und gediegenen Einzelbetrachtungen u. a. von Häbler (Altanterika) und Winckler (Babylonien) sowohl in der englischen Besiedlungsgeschichte, als auch in der Berichterstattung über die Urbevölkerung der Erdteile erhebliche Lücken auf. Einen anderen Ausweg böte das Unternehmen, unter der Einwirkung der Kunde vom körperlichen Menschen auf eine Bluts- und Rassenteilung der Menschheitsgeschichte zu geraten. Große Einheiten ergäben sich da: die bescheidene Rasse der niederen Neger Afrikas, der Nigritier Südasiens und einiger indischer Inseln, der Australneger des Festlandes und der schwarzen Inseln könnte zusammengefaßt werden, die rote Rasse in ihrer Entwicklung von den Patagoniern des äußersten Südens bis zu den Reichen der Maya, Nahua und Aymara ebenso, die höhern Neger der Bantu-Stämme, die Malaien von der Osterinsel bis nach Japan und Madagaskar, die weitverästelte Völkerfamilie der Mongolen von Hunnen und Turkvölkern bis zu Türken und Chinesen, Japanern und Siamesen, und endlich und vor allem der dreigespaltene Völkerstamm der Kaukasier mit den Hamiten, Semiten und den asiatischen und neueuropäischen und alteuropäischen Ariern. Gobineaus Werk (Essai sur l'inégalité des races humaines, 1853), das eigentlich seinem Gepräge nach eine Gesellschaftslehre darstellt, würde da den ersten Ausgangspunkt bieten. Doch auch ein solches Beginnen würde innerhalb der Rassen doch nur die alte Aneinanderreihung von Volksgeschichten aufweisen und schwerlich' die verschiedene Entwicklung in gesellschaftlicher und geistiger Hinsicht überwinden.
Gesichtspunkten
der
Bluts-
und
Rassenteilung.
19
Die Mängel der drei Ordnungsmittel — der Zeitenfolge — der Ordnung nach räumlichen — oder nach Gesichtspunkten der Bluts- und Rassenteilung sucht Kurt Breysig durch die Einführung eines neuen Leitgedankens zu überwinden, durch den Gedanken der Stufenfolge. „Er beruht zuerst auf der vorläufig nur als Ausnahme zu unterstellenden Behauptung, daß die Entwicklungsbahnen aller Völker und Völkergruppen der Erde in gleicher oder wenig abweichender Richtung verlaufen, und daß ein sehr großer Teil der Verschiedenheiten, die das Bild der Menschheit heut wie zu fast allen Zeiten aufweist, nur durch die Verschiedenheit der Entwicklungsgeschwindigkeiten zu erklären ist, mit der die einzelnen Teile der Menschheit diese ihre Wege zurückgelegt haben. Zum zweiten zieht er aus der Voraussetzung, daß alle Bezirke des Lebens der Völker, des geistigen wie des gesellschaftlichen, der geschichtlichen Betrachtung zu unterwerfen sind, die Folgerung, daß auch jede dieser einzelnen Entwicklungsreihen Stufen aufweist, die sich wiederum durch alle Volksgeschichten hindurch untereinander zu gedanklichen Einheiten für die ganze Menschheit zusammen ordnen lassen. Damit ist ein Netz, ein ganzes Netz von teilenden und einigenden Linien über die Geschichte der Menschheit gespannt und in mehreren Lagen wiederholt. Die letzte Forderung geht so weit, daß die so entstehenden Würfelsteine des Gesamtbaues sich ebenso in den Längswänden der einzelnen Sachgeschichten, wie in den Querschichten der einzelnen Stufengeschichten, wie drittens den in die Breite aufsteigenden Wänden der Volksgeschichten einfügen lassen. Mit anderen Worten, das Ziel ist: die Bildeinheit des Rechtszustandes des mittelalterlichen Japans muß sich als Würfel erstens der Längswand von Würfeln der Gesamtrechtsgeschichte der Menschheit, zweitens der Querschicht von Würfeln einer Darstellung aller Mittelalter der Weltgeschichte und drittens der Breitenwand der japanischen Gesamtgeschichte gleichmäßig einfügen lassen. 2*
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D a s Gesetz aller
Geschichtsforschung:
Die Geschichte der Wirtschaft, der Leibes- und seelischen Sitten, der Familie, der Verfassung und Verwaltung, der Klassen und des Rechtes, der auswärtigen Staatskunst, der Kriegskunst, der Persönlichkeit des handelnden Menschen würden im Bezirk der Gesellschaftsgeschichte, die Geschichte des Glaubens, der bildenden Kunst, der Sprache, der Dicht-, Ton- und Tanzkunst, der Wissenschaft, der schauenden Persönlichkeit würden im Bereiche der Geistesgeschichte die weit in die Tiefe zurückreichenden Längswände für den Würfelbau der Weltgeschichte abgeben. Die in die Breite gehenden, doch ebenfalls aufwärtssteigenden Wände aber würden durch die Gesamtgeschichten aller Völkergruppen, Völker und Stämme der Menschheit hergestellt werden. Die Stufenalter der Menschheit endlich, die Urzeit, Altertum, Mittelalter, neue und neuere Zeit genannt sein mögen, würden die Querschichten des Würfelbaues darbieten. Immer von neuem würde auf jeder Stufe das gleiche Netz von Gevierten über Nachrichtenmasse der Weltgeschichte gebreitet, um die Masse der von der Überlieferung dargebotenen Nachrichten zu übersichtlicher Ordnung zu schlichten. Nach drei Richtungen hin müßte sich jede dieser so aufgehäuften Geschichtseinheiten verwenden lassen: Stufen-, Volks-, Sachgeschichte wären im Geist des Lesers leicht zusammenzustellen, wenn auch die gebundenere Ordnung des festen Buches einen wirklichen Stellungswechsel nicht zulassen würde. Die vierte letzte Möglichkeit, die Säule einer einzelnen Sachgeschichte innerhalb eines einzelnen Volkes aufzurichten, in dem soeben benutzten Beispielsfalle die Säule der japanischen Rechtsgeschichte, ist noch nebenher vorhanden" 1 9 ). Die Vorteile der Stufenanordnung vor anderen Leitgedanken sind offenbar. An die Stelle der äußern Ordnungs19
) Kurt Breysig, Völker ewiger Urzeit, S. 65, 66, Erörterung über die Grundbegriffe der Weltgeschichte.
Alle G e s c h i c h t e ist
Werden
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grundsätze der Zeit, des Raumes und des Blutes tritt ein innerer, der der stufengeteilten Entwicklung, abgeleitet aus dem obersten und eigentümlichsten Gesetz aller Geschichtsforschung, d a ß a l l e G e s c h i c h t e Werden i s t . Ferner wird von einem einheitlichen Standpunkt her die Sach- und Volksgeschichte verknüpft und ihre Zerspaltenheit überwunden. Ein fester Bau stufengleicher, innerlich durchaus zusammengehöriger Einzelbilder wird an die Stelle des inneren Wirrwarrs und der sehr oft in Stich lassenden äußeren Berührungen der Zeitenfolge gesetzt. Ein Nachteil ergibt sich bei diesem stufenmäßigen Überschauen der Menschheitsgeschichte: sehr weite Zeiträume müssen zugunsten der Zusammenordnung stufengleicher Gruppen übersprungen werden; die Zeitspannung zwischen der alt- und neueuropäischen Geschichte reichen bis zu zwei Jahrtausenden; „an gewissen Punkten des Weges umfaßt der Abstand zwischen Persern und Germanen 1200, zwischen Babyloniern und Germanen ungefähr 3500, zwischen Ägyptern und Germanen ungefähr 3700, zwischen Chinesen und Germanen vielleicht gar 6700 Jahre, immer zu Ungunsten der Germanen. Diese dagegen haben Vorsprünge von 500 Jahren gegen die Araber, von etwa 750 Jahren gegen die Alt-Mexikaner, von 850 Jahren gegen die Alt-Peruaner" 2 0 ). Doch wird dafür dennoch zu sagen sein, daß der Verlust der reinen Gleichzeitigkeit auch unter dem Zeichen der reinen Zeitfolge-Ordnung sich ergibt. Bei einem Gesamtüberblick über die ganze Erdgeschichte ist eine so vorgesehene strenge Zeitfolge über die gesamtmenschliche Entwicklung ohnehin erforderlich. Einige Einbußen wird der reine Grundsatz der Stufenfolge ohnehin erleiden: „alle Geschichtseinheiten der einzelnen Stufen wird man nicht vereinigen können, jeder Stufe vielmehr nur die Entwicklungen zuweisen dürfen, die auf ihr enden. Denn es geht um gewisser, nicht zu 20) E b e n d a
S. 67.
22
Das
Maßwerk
des
Stufenbaues
vernachlässigender Ursachenverkettungen willen nicht an, etwa das germanische Mittelalter vor der neuesten Zeit der griechisch-römischen Völkergruppe zu behandeln, da es von ihr seinen höchsten Qesittungsbesitz, das Christentum, überkommen hat. Auch wird innerhalb der Stufen nicht die O r d n u n g der einzelnen Volksentwicklungen eingehalten werden können, die grundsätzlich die beste wäre, die der Höhe des erreichten Wachstumes. Erwägungen der räumlichen und der Blutszusammengehörigkeit werden hier zu an sich geringfügigen Abweichungen nötigen 2 1 ). Kurt Breysig ist sich bewußt, daß dieses sein Maß-Werk des Stufen-Baues — aus heftiger Liebe zur Form und aus dem riesenhaften, reichen Erbe geschichtlicher Menschheit erlebt, gestaltet, vergeistigt — wie eine schöpferische Gesamtwahrnehmung des Leibes „ M e n s c h h e i t " ihm sehend, denkend, schöpferisch denkend und schauend, von Raummaßen ausgehend, durch kraftgefüllte Qroßheit der Gesinnung und stärkste Seelenmaße erwächst. So darf er sagen: „Die Geschichte der Menschheit ist einem Baum — in Wahrheit einem Stammbaum — zu vergleichen, der von der großen, durchgehenden Hauptlinie streckenweise Äste entsendet, die nicht Kernholz genug haben, um so hoch aufwärts zu schießen wie der mittlere, der höchste Sproß, der Stamm selbst. Sie bleiben an Höhe weit hinter diesem zurück, aber sie treiben -doch geile Schößlinge, die an ihm fehlen. Dadurch aber wird die Tatsache, daß Stamm und Zweige allesamt in der gleichen Richtung aufwärts schießen, nicht in Frage gestellt. Nur daß freilich noch viel fehlt, ehe dieser Stammbaum der Formen des geistigen und des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit in solcher Folgerichtigkeit aufgestellt ist wie jener andere, den Darwins Ruhm und Name deckt" 22 ). 21
) Ebenda S. 69. Ebenda S. 70.
als Formenkunde der Geschichte
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Seine Konzeption der Stufenfolge der Weltgeschichte ist eine Formenkunde der Geschichte, erstmalig als Gedanke und als werktätiger Grundsatz, geboren aus dem starken Erkenntnis- und Willensmaß des meisterlichen, in Sicherheit und Unabhängigkeit wählenden und als Tat und Sache leistenden Forschers. Indes die zünftige Geschichtsschreibung sich in den Schranken der Weltgeschichtsauffassung Rlankes beschränkte, in kleine Bezirke des Beschreibens sich liebend versenkte, ja eine wahre Askese des schöpferischen Schauens übte, die einer Aussprache über Kurt Breysigs Forscherwerk einen kleinstaatlichen, aber hofrätlichen Ordinarius der Geschichte zu der Äußerung veranlaßte: „Der Geschichts-Schreiber soll nicht denken", die Formen des Forschens also ins Unendlich-Enge verschob, schritt Kurt Breysig in seinem Stufenbau (1905) und in seiner „Geschichte der Menschheit" (1907) zu Fülle und Gestalt. In einer Zeit, da man den Einfluß der großen Männer immer geringer schätzte gegenüber den geistigen Tendenzen, übte Kurt Breysig seine lebendige und bauende Kraft im Aufbau seiner Formenkunde der Geschichte: aus Unform zu Form. Sein Aufbau der Kulturgeschichte der Neuzeit schafft in den Maßstäben die Grundlagen für eine „Deutsche Gesellschaftslehre". Gegen die Formenfeindschaft der nur-deskriptiven Geschichtsschreiber — in launigen Stunden nannte Hermann Grimm, dem Kurt Breysig in freundschaftlicher Verehrung ein Lebensalter lang verbunden war, diese alexandrinischen Diener der Geschichte „Histrioken" — setzte Kurt Breysig führendes Erkennen im Aufbau der Stände, der Architekturstile und des seelischen Lebens für die gesamteuropäische Geschichte, deutete er im Aufbau der Geschichte der „Menschheit" die leis wachsenden Stammbäume der seelischen und gesellschaftsseelischen Seinsformen als bahnbestimmende Wegleistungen, unvergleichlich lebensnah, Werkwert und Entwicklungswert in rechter Abwägung für Zukünftiges. In
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unvergleichlich
lebensnah.
seinem gründenden Werk dieser Jahre, bis zu dem ins Soziale gewandten, ins Politische weisenden Weckruf an die Zeit, der Schaffende, Herrschende und Dienende fehlten als Helfer und Mittler zwischen dem Einzelnen und dem Volke, finden wir seinem Werke zugeordnet als seelische Geltung den Sinn für die Formen des menschlich Lebendigen, des Wesenhaften als Wuchs und Bewegung, als Formenaufgabe hinübergreifend in künftiges Geschehen.
IL
Die Form im Werk: Der Siufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte Wenn Kurt Breysig in der Stufenteilung der Weltgeschichte von den Germanen ausgeht, so leitet ihn diese Überzeugung: sie sind diejenige Völkergruppe, die anfangs langsam reifend, später die zäheste Lebensdauer, die zupackendste Staatskraft und die leidenschaftlichste, will sagen die fruchtbarste Fähigkeit des geistigen Schaffens bewährt hat. Sie eroberten den größeren Teil der Welt und haben nicht weniger, nein mehr, große und nicht geringere, nein, bedeutendere Werke des Bildens und Forschens ins Leben gerufen als die Griechen, von den Indern und allen anderen Adelsvölkern der Erdgeschichte zu schweigen. Ihm ist auch sicher, daß in der einen Menschheit, die sich aus dem sich immer einheitlicher zusammenschweißenden Gewirr der Völker formen wird, Germanengeist der führende sein wird. Nicht zuletzt hat die Geschichte der germanischen Gruppe den Vorzug, daß sie die ganze Fülle der Stufen im Bereich geschichtlicher Blickweite aufweist. Die Urzeit der Germanen reicht bis 410 unserer Zeitrechnung, also sehr weit hinein in den Raum der von uns überblickbaren Zeiten. Dagegen war die Urzeit der noch vereinigten Inder und Perser um 2000 vor Beginn unserer
Die S t u f e n t e i l u n g geht von den G e r m a n e n
aus.
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Zeitrechnung noch in voller Blüte, während die der Griechen um 1800 abgeschlossen sein mag. Babylonier treten um 3000, die Ägypter um 3300 als Völker auf, die die Urzeitstufe abgeschlossen haben. Aber allein bei den Oermanen ist die jüngste der Urzeiten von gänzlich ausgereiften Kulturvölkern durch den Bericht der „Germania" aufgehellt, den anderen Völkern erwuchs kein Tacitus. Die Naturvölker der heutigen Kulturverteilung werden als Völker der Urzeit bezeichnet. Man dürfte sagen Völker ewiger Urzeit mit dem Vorbehalt, daß damit keineswegs behauptet sein soll, sie würden bis an das Ende ihres Völkerlebens in diesem Zustande verharrt haben, wenn kein europäischer Kulturzwang ihre Entwicklung jäh und für alle Zeiten durchbrochen hätte. Denn um 1800, vielfach noch um 1850, war der größere Teil der Erdoberfläche noch fast ganz ohne tatsächlichen Druck der indogermanischen Kaukasier, der angelsächsischen und romanischen Europäer und ihrer Tochter- und Siedlungsvölker, die dem Namen nach auch damals schon eine Oberherrschaft über sie ausübten, in den Händen von lebenden Urzeitvölkern. Weite Landgebiete von Nord- und Südamerika, das festländische und das melanesische Australien, das nördliche Asien, Grönland, versprengte Landstücke von Afrika und Südasien setzen dieses Übergewicht von Urzeitländern zusammen. In der gesellschaftlichen Ordnung, die in der Regel die Geschlechtsverkehrs- und Blutsverbände umfaßt und zugleich die staatlichen und wirtschaftlichen Einungen darstellt, lassen sich drei Zeitalter der Urzeit unterscheiden: „zuerst das Zeitalter der Horde, die aus der Vereinigung einer Anzahl von 20 bis 200 Männern und Weibern in ganz freiem oder nur wenig eingeschränktem Geschlechtsverkehr und in wirtschaftlichem und staatlichem Zusammenschluß bestanden haben mag. Auch diese unterste Schicht der Urzeitgesellschaftsordnungen hat in den höheren Geschieben Restspuren hinter-
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D a s Geschlecht ist der Keim für
lassen: die Männerbünde und die ihnen nachgeahmten Frauengemeinschaften, der Aufbau der Altersklassen und das Flötenhaus können kein anderes Ursprungsalter als die Zeit der Horde gehabt haben, da sie diese voraussetzen und das Bestehen der Sonderfamilie ausschließen. Nichts aber liegt näher, als die Gesellschaftsordnung der Horde als die allen für uns zutage liegenden Ordnungen gemeinsame Stammwurzel anzusehen, auch für die andere große G r u p p e von Verfassungsformen, für den Siedlerschaftsstaat, d. h. die lediglich in Sonderfamilien geteilte Siedlerschaft, die an sich nicht mehr Geschlechtsverkehr-, sondern nur noch Staats- und Wirtschaftsverband ist. Sie umfaßt außer den Zwergrassen — den innerafrikanischen Zwergnegern, den Kubu auf Sumatra und einigen anderen versprengten Bruchstücken dieser vielleicht untersten Urschicht aller Erdbevölkerung — die sehr große Stämmefamilie der Eskimo und der Athaspaken im nördlichsten Nordamerika, die Urzeitvölker Südamerikas außer wenigen Geschlechterstaaten in Guyana, die mongolischen Nordasiaten. Die Grundform jeder höheren gesellschaftlichen Einung ist das Geschlecht, die Gemeinschaft aller, die sich noch lebendig als von einer Person abstammend empfinden. Als Zelle aller umfassenderen menschlichen Gemeinschaften ist sie der Keim, aus dem Völkerschaft, Stamm, Volk, Rasse hervorgegangen sind. Wie damals bei den Germanen ist sie bei zahllosen heutigen Urzeitvölkerschaften auch noch zum Teil Träger und Inhaber öffentlicher Rechte. „Die wichtigste Bestätigung erfährt die Beobachtung der schlechthin planetarischen Herrschaft der Geschlechterordnung über alle höheren Urzeitvölker und über die Urzeitalter der später zu höheren Stufen emporgestiegenen Völker dadurch, daß die Zusammenfassung von Sonderfamilien zu einem weiteren Blutsverband, das sie einende Infcuchtverbot und die Annahme der Blutszusammengehörigkeit aus der Wurzel der gemeinsamen Abstammung von einer
Völkerschaft, Stamm, Volk und Rasse
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Ahnin oder einem Ahnen nicht die einzigen Merkmale sind, die diesen Aufbau der Gesellschaft kennzeichnen, sondern daß ihnen in bedeutenden Fällen auch noch einzelne Bauformen zur Seite treten, die das Insgesamt der Völkerschafts-, Stammes-, Volkseinheit angehen. So vor allem die Doppelung der Geschlechterordnung, d. h. ihre Teilung in zwei einander entsprechende Hälften, zwei Bruderschaften — um den von Morgan der Einrichtung gegebenen Namen Phratrien aufrecht zu erhalten —, die aus den Entstehungszeiten dieser Gesellschaftsform aus den Zeiten des Übergangs von der Horden- in die Geschlechterverfassung herstammen m u ß " Erinnern wir uns auch des spät wieder aufgelebten Geschlechterstaates der Dittmarschen, so dürfte kein Zweifel zu hegen sein, daß einmal das Geschlecht weithin auf dem Erdenrunde die stärkste Form menschlicher Gemeinschaft und aus der Verbindung mehrerer von diesen Urzellen der älteste Staat entstanden ist. Wie man sich alle Geschichte nicht pflanzenhaft genug, nicht wachstumsmäßig genug vorstellen kann, immer ist an die wirtschaftlichen Verhältnisse und an die Lebensbedingungen dieser Völkerschaften der Urzeit zu denken. Reine Jäger und Fischer sind sie, aber auch solche Völkerschaften, die zu Seßhaftigkeit und fester Siedlung emporgestiegen sind, denen das Jäger- oder Hirtenleben nicht genügte, sondern Ackerbau und Seßhaftigkeit eine neue Form des Lebens und der Gesittung gab. Denn die äußere Gesittung, „das ist Kleidung, Wohnung, Bewaffnung und Werkzeug des Menschen, bedeutet nichts anderes als die Art und Weise, wie sich ein Vok mit der es umgebenden Natur abfindet. Diese Sitten und Bräuche des Leibes sind immer in irgendwelchem Sinne der Widerhall, den Boden und Himmel am äußeren Men1 ) Kurt Breysig, Stufenbau und die Gesetze der II. Auflage, S. 30.
Weltgeschichte,
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Der Glaube als Erzeugnis des menschlichen Geistes
sehen wecken. Neben ihnen entstehen die feineren Sitten und Bräuche der Seele, die freilich in kaum minderer Abhängigkeit von den Naturgewalten stehen: es sind die Feste und Feiern, es sind die Formen, in die man Freude und Leid, Reife und Tod, Heirat und Krankheit der Menschen kleidet, um ihnen höhere Bedeutung, um ihnen Weihe zu verleihen. Kein Zweifel, in diesem Zierat des Lebens ist mehr Eigenwerk des Menschen zu sehen, als in jenem äußeren Beiwerk. Denn dort handelt es sich eher um Abwehr und Anpassung, wenngleich es an ausschmückenden Beigaben nicht fehlt, in denen sich auch hier die nach Lust und Lustbezeigung ringende Seele Ausdruck schafft. Wohnung und Kleid, Waffe und Werkzeug werden fast immer auch Träger solches Schmuckes. Aber die Feste, selbst die des Todes, sind nur Schmuck, nur Zierat, in ihnen erhebt sich der Mensch der niedersten Stufen am weitesten über das Tier: Bienen haben sich einen Staat geschaffen, aber von Feiern der Tiere wissen wir nichts. Und sind all jene Bollwerke von Haus und Kleid, die wir um uns errichten, schon an sich Erzeugnisse eines schlechthin eigentümlichen Sinnens und Trachtens der Menschen, zu höherem Schwung erstarkt dies Herrengeschlecht der Erde erst da, wo es seine Seele in Freude spielen läßt. Freude und Spiel sind die Anfänge höheren Menschentumes in den Urzeiten, wie sie noch heute den um Speise und Trank Hastenden erst zum Menschen stempeln" 2). Nicht eng genug, nicht tief genug vermögen wir uns die Beziehungen vorzustellen, die zwischen Land und Seele eines Volkes fort und fort stattfinden: Stimmung und Sinnesart, das Schrittmaß des Lebens, die Färbung, die das Bild der Welt in unserem Hirn durch unser Herz gewinnt, sie sind sicher unter dem Einfluß von Boden und Himmel des Landes, das wir oder unsere Väter bewohnten, entstanden. Der Mittler ist auch hier der Leib, und seine Er2
) Die Völker ewiger Urzeit von Kurt Breysig,
1907, S. 117.
gehört der Urzeit an.
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nährung mag zuweilen der Weg sein, den diese Einwirkung einschlägt. Aber all jene anderen weiten Umwege über Wirtschafts-, Klassen- und Staatsordnung sind hier vermieden. Die Seele selbst und der m i t i h r u n l ö s l i c h v e r b u n d e n e L e i b sind mit soviel Werkzeugen der Empfängnis ausgestattet, daß sie nicht aus dritter und vierter Hand zu erhalten brauchen, was sie aus erster empfangen. Sonnenlicht und Nebel, sausender Nordwind oder früher Sommer hinterlassen ihnen nachhaltigeren und tieferen Eindruck, als vieles Geschehen des Völkerlebens oder als die sehr starken, aber auch sehr plumpen Vorbedingungen der wirtschaftlichen Ordnung. Wenn ein Erzeugnis des menschlichen Geistes einem Lebensalter der Menschheit zuzuschreiben ist, so gehört der Glaube der Urzeit an. In drei Schichten ist er erkennbar. Die unterste ist ein Allseelenglaube, der in allen Naturdingen, denen der belebten wie der unbelebten Welt, ihnen innewohnenden Kräfte annimmt, die sie alle dem Menschen, der durch seine Seele in ihre Reihe gehört, verwandt macht. Fels und Bach, See und Bucht, Wolke und Stern, Pflanze, Tier und Mensch sind alle beseelt aus einer Kraft. Dieses Welt-Anschauen, das eigentlich mehr als ein Glaube ist, erscheint dem Empfinden heutigen, weltfrommen, an das G a n z e d e s W e l t g e s c h e n s hingegebenen Weltglaubens ähnlicher und verwandter als irgendeine der sogenannten höheren Glaubensformen späterer Bekenntnisse. Fremd daran ist uns nur dieser Bestandteil, der Wunsch und die Kunst, diese so weit über die Welt zerstreuten Kräfte sich dienstbar zu machen d u r c h z a u b e r i s c h e B e s c h w ö r u n g , wobei nicht zu übersehen ist, daß gerade dies die Wurzel aller späteren und reiferen Glaubensformen ausmacht. Der mittleren Stufe des Urzeitglaubens gehört zu: der Geisterglauben, der Tier- und Pflanzengeisterglauben. In seltsamer Verflechtung mit den eigenen gesellschaftlichen Ordnungen des Menschen erscheint der Tierg^isterglauben:
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Vom Geister-, Tier- und Pflanzengeisterglauben
die Geschlechter machen einzelne Tiere zu ihren Schutzherrn. Tiergeister wachsen zu Gewalthabern der Seele empor. Oft erscheint das Verhältnis zwischen Mensch und dem geglaubten Tier echt brüderlich, zutraulich, einfach und traulich: bei den mittelaustralischen Aranda feiert das Ära-, d. h. das Känguruhgeschlecht, zu Ehren seines geliebten Tieres Feste, bei denen Tänze und Gesänge, nicht Bitten und Wünsche a n , sondern nur Bitten und Wünsche f ü r das Känguruh und sein Wohlergehn ausdrücken. Ja, das Tier, erfüllt von der Blutwärme eigener und dazu ihm angedichteter, menschenartiger Persönlichkeit, drang höher und höher. In der dritten und höchsten Schicht des Urzeitglaubens war das Tier nicht nur Sagenheld und Geschlechtsahn, dankbarer Erinnerung Ziel. Es wurde als Heilbringer Gegenstand stärkerer, oft launischer Verehrung, aus dem Tiergeist und Schutzherrn zum Heilbringer, endlich als aufsteigender und an den Himmel versetzter Gott ein Förderer und Empfänger hingebender Anbetung. Jelch der Rabe und Kanuk der Wolf schlugen bei den Tlmkit an der nordamerikanischen Nordwestküste zuerst, die Tiergeister der anderen Geschlechter sind: Bär, Adler, Lachs, Walfisch. Sie werden die maßgebenden Großgeschlechter, der beiden Bruderschaften, in die ihr Stamm zerfällt. Zuletzt aber wird Jelch der Rabe vollends Sieger und der Heilbringer seines Stammes. Halb Mensch, halb Tier, erscheint er nach Willkür bald als Rabe, bald als Mann; unverwundbar wie Siegfried, Feuerbringer wie Prometheus, von ungeschlechtlicher Geburt wie Jesus, wird er zum Bringer aller Segnungen der Kultur. Aber er bleibt doch noch Rabe, und man erzählt sich drollige Geschichten von ihm, noch ist keine Spur von Dienst oder priesterlicher Verehrung 3 ). Wie die Geschlechterverfassung über die Erde geht, so durchzieht die Heilbringergestalt die Urzeiten fast aller 3) Stufenbau S . 3 5 .
zur H e i l b r i n g e r g e s t a l t
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höher gediehenen Völker. Sintflut und Drachenkampf, Weltschöpfung und Menschenerschaffung: Ähnlichkeiten in den Einzelzügen finden sich in den Gebilden der schaffenden Einbildungskraft der Völker mit überraschender Zwangsläufigkeit. „Wer unter den germanischen Göttern nach dem durch spätere Hüllen blinkenden Kern des Heilbringers sucht, findet ihn in Wodan. Man hat den Versuch gemacht, die kriegerischen Eigenschaften des Gottes sinnbildlich zu deuten. Er sei der Tag, das Schwert aber die Waffe, mit der er seinen Gegner, die Finsternis, bekämpfte. Viel näher liegt doch, sie als letzten Nachhall des heldischen Bildes eines menschlichen Heilbringers zu sehen. Ein Nachhall, der noch bis in die Christenzeiten der Germanen tönt, da man ihn dem reisigen Sankt Michael gleichsetzt, der vielleicht mit dem heiligen Georg als Drachenkämpfer ein letzter Erbe uralter Heilbringer- und Kampfsagen ist! Im Norden, wo er als Tyr auftritt, lugt auch der Drachenkampf unmittelbar hervor: da wird er als einhändig geschildert; den Arm aber verlor er bei der Fesselung des Fenriswolfes, der in der nordischen Sage Träger der alten Drachenrolle ist" 4 ). Im Voluspasang der Edda tauchen Drachenkampf, Erd- und Menschenschöpfung auf. Das Amt des Drachens versieht der Riese Ymir, sein Gegner ist Odin, den seine Brüder Wili und We unterstützen. Die Odinsbrüder heben die Erde aus dem Meere. Die Menschen aber werden aus dem Holz der Bäume geschnitten. Der Übergang von der Urzeit in die Stufe des Altertums wird gekennzeichnet durch das Aufkommen des Königtumes. Das bedeutet nicht nur eine Tatsache der „Anmerkung" für den Staatsgeschichtsschreiber, sondern ist im Zuge der Geschichte des Handelns, der Gesellschaft, mehr noch d e r P e r s ö n l i c h k e i t die wichtigste Stufe. „Der Tag, an dem zuerst ein ganzes Volk dem Einen an 4
) Die Entstehung des Gottesgedankens von Kurt Breysig, 1905, S. 165 ff.
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Die Altertumsstufe kennzeichnet
seiner Spitze demütig huldigte, hat die Stärkefähigkeiten, die Entwicklungsmöglichkeiten in der Seele, im Willen der Menschen in das Ungemessene gesteigert. Gewiß, die Kosten waren nicht gering: damit der Einzige Großes gewann, mußten Tausende ebenso viel, vielleicht mehr verlieren: nicht an äußerem Reichtum und Besitz, sondern an dem viel höheren Gute der Ichstärke, der Selbstherrlichkeit, der machtvollen, in sich ruhenden Kraft des Einzelnen, die die Urzeit so hoch gehalten oder doch nur wenig gemindert hatte. Aber wer wollte heute um dieser Gewinstund Verlustrechnung willen den nie getrübten Fortbestand der alten Gemeinfreiheit, die ewige Unterdrückung aller Königsgedanken wünschen? Irgend ein bestehendes Herrschergeschlecht, ein Staatswesen von heute haben für den Forscher mit solchen Erwägungen nichts zu schaffen. Allein selbst der eifrigste Anhänger der Volksherrschaft müßte, dünkt mich, Dank dafür empfinden, daß je Könige in die Welt gekommen sind: dem Menschen selbst, jedem Starken wenigstens von heute und immerdar ist dadurch ein Kräftezuwachs geworden, den ihm ohne diese Durchgangsentwicklung der menschlichen Seele nachträglich keine Macht der Erde verschaffen könnte" 5 ). Die Merkmale des Altertumsstaates, der ersten Königsherrschaft, sind nicht zu verkennen: äußere Ausdehnung des Staatsgebietes, über die erste Zwergform eines Geschlechts — Dorf-, Völkerschafts- oder allenfalls Stammeskönigtum fort, fort bis zu dem riesenhaften Ausmaß weiter Reiche — und außerordentlicher Machtzuwachs des Staatsleiters auch den eigenen Volksgenossen gegenüber. Zwei Leistungen des Altertumsstaates treten hervor: die Fähigkeit, unterworfene Völkerschaften in geordneter Abhängigkeit zu erhalten, und zweitens, damit verbunden, die Schöpfung und Gliederung eines Heer- und Staatsbeamtentum. Der Altertumsstaat schuf ferner die scharf ausgeprägten Formen des Adels. 5) Stufenbau S. 42.
das Aufkommen des
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Königtumes.
Der Hochadel besteht aus den von dem neuen Königtum unterworfenen Häuptlingen, die halb hoher Adel, halb hohes Beamtentum werden. Ferner wird durch Aussonderung eines Krieger- und Beamtenstandes ein niederer Dienstadel geschaffen. Die Verfassungsstufe der Altertumsvölker weist als Ausgangspunkt für höhere Entwicklungen den Zustand reiner Ackerwirtschaft aus. Unter der starken Obhut der neigen Staatsgewalt bilden sich im Schatten hoher Tempel und unter dem Schutze mächtiger Priesterschaften Ansammlungen von Handwerkern und Kaufleuten, Märkte und Gewerbeplätze, Keime einer bürgerlichen Stadtwirtschaft, die sich in China, Ägypten und besonders früh in Babylop tntwickelten und durch Geldwirtschaft — im Gegensatz zur bisherigen Naturalwirtschaft — ein fast kapitalistisches Gepräge zeigte. Diese außereuropäischen Völker nahmen auf dieser Stufe eine Entwicklung vorweg, die von den in Staat und Gesellschaft zu höheren Stufen emporgestiegenen europäischen Völkern erst in ihrem Mittelalter erreicht wurde. Als die Arier in Indien eindrangen und diese arisch-iranischen Eindringlinge in langer Eroberungsarbeit das Stromgebiet des Ganges unterwarfen — in einem Jahrtausend zwischen 1500 und 500 —, ergab sich der Zustand, den das um 500 entstandene Gesetzbuch des Manu erkennen läßt, ein ganz mittelalterliches Bild: ein zahlreicher, waffenlustiger und beweglicher Adel und eine lange Reihe von mittleren und kleineren Fürstentümern, deren Glanz nur von der außerordentlichen Macht des neuen Priesterstandes der Brahmanen verdunkelt wird. Den wirtschaftsgeschichtlichen Entsprechungen dieses Stufenbildes gemäß ist in der indischen und japanischefi Geschichte langsames Aufwachsen städtisch bürgerlichen Wesens und damit abgesondert Handel und Gewerbe zu beobachten. Im Bezirke des geistigen Lebens als Merkmale mittelalterlicher Wegstrecken macht sich für die Dichtung geltend die höhere Ausbildung des Heldengesanges, die H «ring, Da* Warden ala Geichlehte
3
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Der All-Eine der Inder
Entstehung des Liedes, für die Baukunst eine seelisch und sinnlich bewegtere Weise als die Starrheit des Altertumes und seiner Königsbauten. Im Reiche des Glaubens aber gilt eine Form gläubiger Erregung, die den Mittelaltern der Weltgeschichte eigentümlich ist. „Von größter Schöpferkraft des Glaubens erwiesen sich die Arier, vor allen anderen die Inder. Der tiefste Bronnen gläubigen Ahnens, von dem die Weltgeschichte weiß, sprudelte aus ihrem Grunde völkischer Art. Die Lehre der Brahmanen ist der Gipfel dieser Entwicklung. Sie ist das abgründigste Denkeft über Gott und Welt, der umfassendste Allgottesglaube, der je in Menschenhirnen geboren wurde. Das Brahman, ursprünglich das Gebet, also der Glauben selbst, endgültig Weltseele und All zugleich, ist ohne Anfang, ohne Ende, zunächst seiner selbst nicht bewußt, unpersönlich. Erst als in ihm der Drang zum Tätigsein erwachte, wurde es zum persönlichen All-Vollbringer und schuf als solcher die Welt. Alle Götter, alle Menschen, alle Tiere bis zum Wurm herab sind Ausflüsse dieses Allwesens" 6 ). In der Abgrenzung mit den christlichen Gottesvorstellungen stellt Kurt Breysig fest, daß der christlichen Gottesvorstellung ganz die Tiefe und Unbegreiflichkeit der ins All verschwimmenden Gottanschauung der Brahmanen fehlt: so menschlich schön die Gedankenkreise des neuen Testamentes sind, so rein und väterlich die Stellung ist, die diesem liebenden Vater zugewiesen wird, sie erscheint ins Traulich-Kleine zusammengezogen neben dem unendlichen All-Einen der Inder. Er ist nicht zu klein für all die Vorstellungen unserer erfahrenden Wissenschaft von der Unermeßlichkeit unseres Sonnensternbereiches und von der Kleinheit wieder dieses Bereiches im Vergleich zu den niederschmetternden Fernen der dem bewaffneten Auge noch erreichbaren Sternenwelten. Der jüdisch-christliche 6
) Stufenbau S.82.
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und der christliche G o t t
Gott dagegen trägt viele Spuren des sehr begrenzten Umkreises, in dem sein Bild entstand. Wie immer man sein Bild steigern mag, er bleibt doch immer nur dem Schöpfergott gleichgestellt, den die Brahmanen als eine Verirdischung, Vermenschlichung, Vergröberung ihres höchsten Wesens empfanden 7 ). Die Zusammenhänge indischer und christlicher Glaubensüberlieferung werden heute in peinlicher Einzelforschung in hundert kleinen Einzelzügen nachgewiesen. Vielleicht, so hofft Kurt Breysig, kommt der Tag, wo anerkannt wird, daß einige der allerwesentlichsten Bestandteile des christlichen Glaubensbesitzes selbst auf Indien zurückgeführt werden können: ob der Gedanke der unbedingten, unbegrenzten Nächstenliebe ganz auf jüdischem Boden entstehen konnte, mag schon fraglich erscheinen. Daß aber die Vorstellung eines leidenden Gottes, die in der Überlieferung von Jesus' Tod so unbeschreiblich mächtig wurde, von Grund aus unjüdisch war, scheint ihm sicher. Noch bei Paulus war die Parousiehoffnung kein Himmels-, sondern ein E r d r e i c h s g e d a n k e , der ganz unmittelbar zusammenhing mit dem irdisch-staatlichen Traum der Juden von zukünftiger Weltherrschaft. Wie ein Despot des Orients hat Jesus in seiner Verkündung über seine Gegner, über die, die sein Wort nicht annehmen, die furchtbarsten, für uns um ihrer Grausamkeit willen unausdenkbaren Höllenpeinen verhängt. Es ist anzunehmen, daß Askese und Höllenstrafen über Ägypten ihren Eingang in Jesus' Lehre gefunden haben. Jesus' Abgekehrtheit von der Macht der Welt, von der gewollten Schönheit der Kunst und dem Herrenstolze der Wissenschaft ist nicht im mindesten jüdischsemitisch, sondern ganz indisch und bestärkt die Wahrheit, daß dieser Weltglaube nicht allein ein Erzeugnis jüdischsemitischen, sondern vielmehr indisch-arischen Geistes ist. Dieser Überschau über die Stufenformen dient als rechte Grundlage doch erst der Vorrang der europäischen Ge' ) E b e n d a S. 8 3 ff. 3*
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D i e Europäer führen.
schichte. Die Europäer, jene Doppelgruppe des gräkoitalischen und des germanischen Zweiges, sind ausnahmslos entwicklungsgeschichtlich viel höher gedrungen als alle außereuropäischen Völker. Die Kelten, jene erste Heersäule von den großen Völkerstämmen der kaukasisch-indogermanischen Welle, sind unter den Völkerfamilien des indo-germanischen Europas die tragische und schwächste. Einst saßen sie in Gallien und Oberitalien, in England und ihrem Stammsitz Belgien und führen nun in Hochschottland, Wales, Cornwallis und in der Bretagne ein hart genug bedrängtes Eigenleben. Für die Stufenform der Urzeit bleibt von ihnen zu erinnern, daß z. B. in Irland zur Zeit der Römerherrschaft in Britannien 184 Klane — Großgeschlechter — gezählt, die man auf 500 Familien schätzt, und die Geschlechter von etwa je 16 Sonderfamilien zerfallen. Auf dem Grund der Geschlechterverfassung — schon innerhalb der Klane — d.h. im Erbgang bei einer bevorzugten Sonderfamilie bildete sich die Einzelherrschaft. In den Bauformen des Geschlechterstaates sind die germanischen Ordnungen den keltischen sehr nah. Wie bei den Kelten erweist sich der Hervorgang des Königtumes aus dem Geschlechterbau. S t i r p s r e g i a — nennt Tacitus in seinen Annalen diesen Blutsverband, d. i. das Geschlecht, dessen Vormänner Kuninge, Geschlechtsmänner oder Fürsten, d. h. E r s t e heißen. Sie stellen einen Geschlechteradel dar, aus dem später das Königtum hervorwuchs. Für das frühe Mittelalter gestatten die homerischen Gedichte, einen anschaulichen Vergleich zwischen der griechischen und der germanischen Entwicklung zu ziehen. An Ähnlichkeiten in den Hauptzügen fällt auf: das Vordringen des Adels in Gesellschaft und Staat gegenüber der Königsmacht. Der im Altertum noch straff zusammengehaltene Adel bedroht fast überall die Staatseinheit und das Königtum. Die griechischen Kleinkönige wären zu vergleichen den Herzögen und Grafen in Deutschland, deutlicher noch den Hersen, den Häuptlingen der Hundertschaften und den
Die
Stufe
des
Mittelalters
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Fylkikönigen in Norwegen. Wem fiele nicht auf, wie im Kampfe um Troja die Vielköpfigkeit der Leitung — d e r schwache Oberbefehl den Zuständen im frühmittelalterlichen ersten Kreuzzug entspricht — allerdings mit d e m eindrucksvollen Sinnbild f ü r die Verschiedenheit heidnischhellenischer und christlich-germanischer W e l t a n s c h a u u n g : dort Meerfahrt, Ritterkämpfe und Völkerkrieg um ein schönes Weib, hier um ein düsteres G r a b ! In den wirtschaftlichen Verhältnissen zeigt sich in d e r griechischen wie germanischen Entwicklung noch ein vollkommenes Überwiegen der Natural- über die Geld-, d e r Land- über die Stadtwirtschaft. Den homerischen Gesängen dürfen wir die Nibelungen an die Seite stellen. D a s späte Mittelalter weist diesen G r u n d z u g a u f : einen neuen Stand, das empordringende Bürgertum. Die athenische und die römische Entwicklung beginnt auf dieser Stufe mit der jähen und vollkommenen Beseitigung des Königtumes und die Ersetzung durch eine Adelsherrschaft. Und war nicht auch im späten Mittelalter Deutschlands der fortschreitende Niedergang der Königsmacht? In England und Frankreich, wo sie bestehen bleibt, beweist die parlamentarische Mitregierung des englischen bzw. des französischen Adels die Stärke der Adelsströmung. Wirtschaftlich vollzieht sich der Übergang zu einer gemischten Natural- und Geldwirtschaft, der Aufstieg von Handel und Gewerbe und die Entstehung der Städte mit ihrem um Selbständigkeit ringenden Bürgertum. Der städtische Ständekampf in Rom ist ein Kampf um die Staatsgewalt. Der leidende Dritte ist überall der Rest der weder zum Adel, noch zum Bürgertum emporgestiegenen Freien: d e r Bauernstand. Schuldknechtschaft und Bauernlegen sind in Rom und Athen die grausamen Plagen d e s Bauern. Bei den germanischen Völkern führt die Hörigkeit des Bauern zu gewalttätigen Gegenbewegungen: zu Bauernnot u n d Bauernkrieg. D a s geistige Leben dieser Entwicklungsstufe wird in d e r
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Die neue Zeit, die Stufe
älteren Reihe, in der griechischen — das banausische Rom fällt fast immer aus — von Baukunst, Dichtung und Glaubensbewegung beherrscht wie im neuen Europa: die dorische und ionische Bauweise dort, die gotische hier als das wesentlichste Erzeugnis der geistigen Schaffenskraft dieses Zeitalters. Noch zeigt die nordfranzösisch-deutsche erzählende Heldendichtung viel von der homerischen Breite und Schilderungslust. Aber bei Chrestien und Gottfried und vollends bei dem Meister des hohen Mittelalters ist vieles Tiefste voll von den Entdeckungen neuer Lebens- und Liebeskräfte, oft dabei ganz in das eigene Ich zurückgewandt wie die besten Dichtungen der provenzalischen Troubadoure und Walthers von der Vogelweide. Im Anblick des Glaubenslebens dieser Stufe bei Germanen und Griechen die Richtungsähnlichkeit ohne Zweifel: die Mysterien der Orphiker und die Mystik von Franziskus bis zu Tauler. Die neue Zeit hebt sich in allen drei Geschichtsreihen in Hinsicht auf die staatliche Form der gesellschaftlichen Entwicklung am schärfsten vom Mittelalter ab: es ist die Stufe der stärksten Steigerung des Staatsg e d a n k e n s n a c h i n n e n w i e n a c h a u ß e n . Die griechischen Stadt- und Kleingebietsstaaten fließen zu einer wirksamen V o l k s e i n h e i t zusammen, Rom erobert Italien, führt die punischen Kriege und umklammert schon das halbe Mittelmeer. In der germanisch-romanischen Geschichte zähle man die vielen, kaum je abreißenden Staatskriege in der Zeit von 1500 bis 1750 und man erkennt das Gepräge dieses Zeitalters: es ist die Aufwärtsbewegung eines zu maßlosem auswärtigem Umsichgreifen geneigten Staatsgedankens! In der inneren Staatsgeschichte findet sich — trotz einiger Verschiedenheiten der Verfassungsform — im Kern der Sache fast dieselbe Ähnlichkeit. Es handelt sich um dieselbe Grundkraft: d a s Ü b e r m ä c h t i g w e r d e n d e s S t a a t s s i n n e s . In Rom leitet die neue, durch volks-
der stärksten Steigerung des Staatsgedankens.
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herrschaftliche Einrichtungen halb maskierte Adelsherrschaft den Staat mit unumschränkter Vollmacht, mit wachsender Ausbildung des Amts- und Heereswesens und unter Auferlegung der härtesten Opfer an Out und Blut. In Athen ist die Entwicklung von Rom nicht so abweichend, wie es scheinen möchte: alle großen Führer von Staat und Heer in den Perserkriegen gehörten dem alten Adel an, und auch in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts war es nicht viel anders. In fast allen Staaten der germanisch-romanischen Neuzeit weicht die Verfassungsform von den griechisch-römischen Freistaaten weit a b : die Königsgewalt tritt an die Stelle des Adels oder der adelig geleiteten Volksherrschaft und legt den Bürgern als Zwang auf, was in Rom und Griechenland sie in freiwilliger Huldigung darbrachten. Aber hier wie dort: Verfeinerung und Steigerung des Heereswesens und des Beamtenapparates, nur noch bei dem germanisch-romanischen Völkerkreis folgerichtiger zu berufsmäßiger Absonderung und Arbeitsteilung getrieben. In ansteigender Linie und tief eingreifend zeigt sich die Durchdringung des ganzen Lebens und aller Bestrebungen des einzelnen Menschen mit Staatsgedanken. Der Staat in seinen Zukunftsaufgaben steht über dem Wohl und dem eigennützigen Interesse des einzelnen. Auf der letzten Stufe der germanisch-romanischen Geschichte, in d e r n e u e s t e n Z e i t , erwächst das Maß der Gemeinsamkeiten zu einem völligen Parallelismus. D a s Jahrhundert der Revolutionen, das in Rom dieses Zeitalter eröffnet, hat mit der französischen Geschichte gleichen Entwicklungsabschnittes auffälligste Ähnlichkeit: volksherrschaftliche und militärisch-imperialistische Umsturzbewegungen im bunten Wechsel, wie überhaupt die Verbindung dieser zwei so entgegengesetzten Strebungen des Verfassungslebens das Losungswort zur Erkenntnis dieses Zeitalters ist. In Athen im Zeichen einer ganz friedensselig gewordene Volksherrschaft ganz der alten adeligen Zusätze
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Alt- und neueuropäische
Entwicklung.
entkleidet, ist der letzte große Staatslenker Eubolos, ein großer Finanzminister! Dann greift der Imperialismus um sich. Das halbbarbarische Macédonien wirft sich zum Führer und Alleinherrscher auf und gibt das Beispiel der zur Welteroberung gesteigerten Staatsausdehnung. Das Rom der Cäsaren hat im Welterobern noch größeren Erfolg. Die ganz undynastische, fast unmonarchische Unerblichkeit der höchsten Staatsgewalt zeigt eine Übermacht des Staatsapparates militärischer und bürokratischer Einrichtungen in seltener Konsequenz. Und die Ähnlichkeit unserer neuesten Zeit mit diesen Vorgängerinnen ist ganz offenbar: Imperialismus nach innen und nach außen seit 1850 und 1866, d . h . seit Napoleon III. und Disraeli noch mehr die Losung als seit 1800. Kolonisieren, Erobern nach außen, militärisch-bürokratische Ausbildung der Staatsgewalt nach innen ist für den Freistaat Frankreich und das parlamentarische England ebenso das Ziel einer starke^ Bewegung wie bei Deutschland, Rußland und anderen Staaten. Mit der Überschau über die alt- und neueuropäische Entwicklung ist der Lauf durch die Menschheitsgeschichte nicht vollendet. Wieviele außergermanische Völker weißer Herkunft in und außer Europa, Tochtervölker Europas in Amerika und nichtkaukasische Völker in Asien und Afrika haben sich angegliedert! Der Inbegriff der weitergehenden Entwicklung verbleibt bei den germanisch-romanischen Völkern der alten Völkergesellschaft. Es ist vor allem zu bemerken, daß das neueuropäische, in Wahrheit immer noch germanisch-romanische Weltalter jetzt Bahnen einschlägt, die über die von Griechen und Römern zurückgelegten h i n a u s r e i c h e n . Sie bezeugen einen Gewinst besserer Ordnungen des Lebens nicht nur, sondern auch von Lebenskraft, also deren beständig sich auswirkende Bezeugungen die besseren Ordnungen zu gelten haben. Täglich sehen wir das tätige Leben unserer, vornehmlich der germanischen Völker, am Werke mit
Staatengesellschaft im neueuropäischen Völkerkreis
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schlechthin überwältigender Überlegenheit an gespannter Kraft. Es ist nicht damit getan, daß unsere auf Arbeitsteilung erpichte Wissenschaft dies alles Wirtschaft riennt: die lebendige Arbeit, die in Maschinenbauhallen, Schmiedfehäusern und Bergwerken sich ebenso a u s dem innersten Wesenskern entfaltet wie hinter dem Pflug und in der alten Werkstatt, ist doch vielmehr zuerst und zuletzt Leben, d. h. a u s Sein in Wirken und Werden sich umsetzende Kraft. „Kein romantischer Historismus und keine Götzenverehr u n g der Antike wird uns einreden dürfen, d a ß der jammervolle Kräfteverfall der im Römerreich vereinigten alten Völker vom dritten Jahrhundert ab, der sich im Verwelken aller Wirtschaftsblüte am unzweideutigsten erwies, nicht das schlimmste Versagen an Kraft und Lebensentfaltung bedeutete, d a s Völkern überhaupt zustoßen kann. Man wolle doch endlich aufhören, uns Völker, die so kläglich auf ihrer Bahn scheiterten, als unübertreffliche Muster zu schildern. Die Wahrheit ist, unsere, vornehmlich die germanischen Völker, sind der Antike um ein mehrfaches an innerster Lebenskraft überlegen" 8 ). Der neueuropäische Völkerkreis erweiterte sich: zu seinen germanisch-romanischen Urmitgliedern traten von außen solche anderen Blutes, vom 15., 16. Jahrhundert ab Tschechen, Südslaven und Madjaren, alle drei dem habsburgischen Österreich einverleibt, vom 16. Jahrhundert Polen, vom 18. J a h r h u n dert a b Russen. Zu der Entfaltung und Ausgliederung einer wirklichen Staatengesellschaft im neueuropäischen Völkerkreise ist auch das Eroberungs- und Siedlungswerk zu rechnen, d a s Romanen und Germanen über See betrieben. Den Griechen in ihren Kolonialzeiten ähnlich haben Portugiesen und Holländer lediglich um des Handelsgewinnes willen kühne und wette Seefahrten unternommen und nicht allzu umfängliche und zerstreut liegende Küstenstriche besetzt. Später g r ü n 8
) Kurt
Breysig,
Stufenbau,
a.a.O.
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Die neueste Zeit unter d e r
Einwirkung
deten die Spanier, darin den Römern ähnlich, große Siedlungsreiche, in denen die Ausnutzung der Macht mit harter wirtschaftlicher Ausbeutung der Kolonialvölker verbunden war. Nach ihnen gründeten Franzosen und Engländer durch Entsendung von Tausenden von Ansiedlern weite Tochterreiche in Amerika. D i e A u s g l i e d e r u n g d e r Ei n ze 1 s t a a t en in d e r n e u e s t e n Z e i t geschah unter der Einwirkung des völkischen Bluts- und Nationalgedankens. Der völlig ausgeformte Nationalismus ist erst ein Erzeugnis dieser Stufe — zuerst durch den ersten Imperator Napoleon, später unter dem Schreckgespenst einer Legende, der Furcht vor dem deutschen Imperialismus. Die Freiheitskämpfe der Spanier, Tiroler und Preußen gegen Napoleon waren der Auftakt der nationalistischen Bewegung im neunzehnten Jahrhundert. Die schlimme Bedrückung durch die Türken entfesselte danach die völkischen Freiheitsbewegungen der Griechen, Serben, Bulgaren, Rumänen und Albanien Angst vor der deutschen Weltherrschaft beschwor den großen Krieg und ließ Tschechen, Kroaten und Polen von neuem als unabhängige Völker aus ihm hervorgehen. Das unwahr gewordene Sammelgebilde Österreich-Ungarn wurde zertrümmert, die Türkei fast ganz aus Europa verdrängt, und unter der Wirkung des europäischen Zusammenbruches wurden auch Finnen, Litauer, Esten und Letten frei. Denkwürdig für den Vergleich mit dem römischen Imperium, das durch Unterdrückung eine ganze Welt von Völkern ebenso einte wie versklavte, sind die zwei Versuche im neunzehnten Jahrhundert, die neueuropäische Entwicklung in die Richtung der alteuropäischen zurückzubiegen. Der erste, den der Klassizist Napoleon unternahm, hatte deutlich das Vorbild des römischen Weltreiches. Über Europas Grenzen hinaus bis Indien und Südamerika weisen die urkundlich nachweisbaren Pläne des großen Staatenzertrümmerers für die Errichtung eines neuen Imperiums der Welt. Der zweite Versuch rührte von dem Neffen Na-
des völkischen Bluts- und
Nationalgedankens.
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poleons, der unter der Hegemonie Frankreichs und seines Casars aus Europa einen Staatenbund machen wollte. Der Pariser Kongreß von 1856 und der geplante Kongreß von 1863 sollten Etappen auf dem Marsch zu diesem Ziele sein. Die Verfassung aber, die nach den Plänen seines Urhebers dieses neue Gebilde haben sollte, entsprach durchaus der Gestalt, die Napoleons innere Staatskunst Frankreich gegeben hatte: eine Scheindemokratie als Fassade, Cäsarismus als Wirklichkeit. Beide Versuche scheiterten ; der erste durch die Gewalt eines Bündniskrieges von fast ganz Europa, der zweite, den der zweite Napoleon listig von der Zustimmung der Großmächte erschleichen wollte, durch das kühle Nein Englands. Der Ring der europäischen Staatengesellschaft weitete sich über die Welt. Die beiden großen Siedlungsmächte, Rußland über Land, England über See, dehnten in unermeßlicher Ländergier ihre Herrschaft über Urzeit- und höhere Völker ohne Zahl aus. Wenn sich Mittel- und Südamerika von Spanien und Portugal trennten, wenn sich die Verbindung zwischen England und seinen Kolonialstaaten Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika auflockerte, so war das keine Trennung von der Staaten- und Völkergesellschaft Europas. Kurt Breysig sieht hinter diesem Stufenbau der Weltgeschichte R e g e l u n d O r d n u n g , denen der Rang von Gesetzen der Geschichte zuzusprechen ist. Es handelt sich dabei nicht um bläßlich und oberflächlich ersonnene Gedankengebäude, die willkürlich verfahren wie die Sätze Hegels oder die zum Teil auch in der begrifflichen Form nach unzulänglichen Gesetze Buckles. Er beruft sich auf den Vorgang Vicos, der seinen Regeln Wirksamkeit für alle die Fälle zusprach, in denen sich die Geschichte unseres Sternes im Weltenraum im ganzen wiederholen könnte. Jede seiner Regeln geschichtlichen Geschehens stellt einen Versuch dar, Regeln der Massenbewegung der Geschichte als Überschau über die Entwicklung von Geschichtsein-
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Regel und Ordnung geschichtlichen Geschehens
heiten zu geben von hinreichender Spannweite und Gültigkeit. Es kann sich dabei nie um vorschnell, in ungeduldiger Überstürzung gefaßte Formulierungen handeln wie bei den übertreibenden Einseitigkeiten der Materialisten und Ökonomisten. Es ist ihm nicht verborgen und wird mit der Freimütigkeit des ringenden Forschers eingeräumt, daß diese Gesetze nicht das Rätsel des Geschehens und des Ursachenzusammenhanges der Dinge selbst lösen oder auch nur daran rühren wollen 9 ). Sie buchen lediglich erfahrungsmäßig immer eingetretene Vorgangsfolgen, teils in einer an bestimmte Entwicklungsalter der Menschheit gebundenen Form — es sind jene Gesetze niederer Ordnung — teils mit dem Anspruch auf allgemeine, den Gesamtverlauf der Geschichte umfassende Gültigkeit: es sind die Gesetze des höheren Grades. Auch wird mit dieser Regelhaftigkeit heute durchaus noch nicht die Gesamtheit des geschichtlichen Geschehens umfaßt. Sie vermag zunächst nur das Knochengerüst der Weltgeschichte darzustellen. „Das Rätsel aller Geschichte würde nur der Forscher zu lösen vermögen, der noch alle die Geschehensverkettungen, die Buddha oder Jesus, Cäsar oder Napoleon, Michelangelo oder Shakespeare in den entscheidendsten ihrer Stunden in ihrem Handeln bestimmen, ans Tageslicht zu bringen, auch von ihnen im einzelnen ihre Gesetzhaftigkeit, die Zwangsläufigkeit, die Determiniertheit ihres Verlaufes nachzuweisen vermöchte. So großer Dinge dürfen wir heutigen uns wahrlich nicht vermessen" 1 0 ). Einer so verstandenen Forschung wird das Recht zugestanden werden müssen, Erdteile, Rassen und Rasseteile als Träger von Geschichtseinheiten zu durchforschen im Werdegang der Menschheit. Dabei bleibt doch das Augenfälligste vom Standpunkt der Geschichtsmechanik: daß nur der Europäer über das Mittelalter hinaus zu den höhe») Stufenbau S. 185. 10) Ebenda S. 193.
Gesetze der Geschichte.
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ren Stufenaltern gedrungen ist, das heißt, über das von den lebenskräftigsten Asiaten, von den Indern und Arabern ganz, von den Japanern und Chinesen halb — in Staat und Oesellschaft von den Japanern, im Geist von den Chinesen — erreichte Mittelalter fortgewachsen ist 1 1 ). Die Erdbedingtheiten — oder wie die Schulsprache vermutlich heute lieber sagen würde, die geohistorischen Voraussetzungen — für diese so außerordentlich erregenden Wirkungen auf die Spannkräfte des Wachsens der Europäer werden in der Nördlichkeit des herben und kühlen über Europa gespannten Himmels als in Meer, Küstenlänge und Küstengliederung zu suchen sein. Die abweichende Entwicklung der Oräko-Italer mag der Meereseinwirkung und der Küstengliederung ihrer Länder zugeschrieben sein. Doch der herbe Segen des Nordens und seine erzieherische Stärke war ihnen durch Sonne und Süden vermindert. Überwöge als Spannkraft das Blut, es hätte sie über diesen Reichtumsmangel hinwegheben müssen. In Wahrheit aber sind die Griechen nach einmaliger, die Italiener — aufgefrischt durch neu vom Norden einströmendes Germanenblut — nach zweimaliger Blüte zusammengesunken 1 2 ). Ein mehr geschickter, als tiefblickender Geschichtsliterat konnte sich unter diesem Aspekt als Prophet des Unterganges der abendländischen Völker auftun, erwies aber mit dieser Haupt- und Zielverkündung am schlagendsten gerade seine Unfähigkeit für die Erkenntnis der tiefen Geschichtszusammenhänge. Für den Sehenden und Wissenden erscheint keine Vermutung innerer Geschichte sö sicher gestellt, als daß unsere, die germanisch-romanischen Völker im Besitz aller Vollkraft und Lebensfähigkeit noch Jahrtausende ungeschwächten Fortlebens nicht nur, nein auch immer neues Werden vor sich haben, wie die gegenwärtige Entwicklung der neueuropäischen Völkergesell" ) Ebenda S. 196. 12 ) Ebenda S. 198.
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D e r Schöpferische, der Führer
schaft in der Auswirkung ihrer Werdenskraft über den Erdkreis dartut. Diese Abgrenzung von Qeschichts- und Werdenseinheiten in der Stufenfolge der Zeitalter bedeutet nicht die Einebnung der geschichtlichen Persönlichkeit in die Enge einer Massen- und Nichts-als-Massengeschichte. Vielmehr bekennt Kurt Breysig gerade in diesem Zusammenhang sich zu der Überzeugung, daß alles Neuern, alles Schaffen, alles Werden im Einzelnen, im starken und stärksten Einzelnen seinen Ursprung hat: „Der Staat, selber Erzeugnis und Erzeuger der straffsten und zugleich geordnetsten Form aller Tat bedeutet dann nichts anderes als die Verflechtung und die ordnende Vereinheitlichung sehr vieler Tatund Willenskräfte der einzelnen seiner Glieder. Kräfte, die in der Hand der einzelnen selbst oder sehr kleiner Einungen sich unendlich zersplittern und im Kampf gegeneinander sich ergebnislos aufreiben würden, werden im Staat zusammengefaßt, geordnet und so zu sehr viel stärkerer Auswirkung gebracht. Kein Zweifel, in den so vereinten und gegliederten Kräften löst sich ein sehr großer Teil der Seelenspannungen aus, über die die Zahl von Menschen, die einen Staat ausmachen, überhaupt verfügen. Die Größten aber der Geschichte sind die Umformer des Entwicklungsbildes der Völker. Die Losung, daß die großen Menschen die Geschichte sind, wird so zu verstehen sein: daß auch Tatmenschen höchsten Ausmaßes nur eben stark genug sind, um die Aufgaben zu erfüllen, die sich aus dem insgesamt des allgemeinen Werdeganges als Amt und Sendung ihres Zeitalters erkennen läßt. Am sinnfälligsten erscheint dies in der Stellung, die die großen Heraufführer von Cäsarismus und Imperialismus in allen drei Entwicklungsbahnen der europäischen Geschichte einnehmen: Alexander, der im griechischen, Cäsar, der in Rom, und Napoleon, der im germanisch-romanischen Völkerkreise diese ganz neue, ganz eigene Form der Einzelherrschaft begründet hat: auf ein Jahrtausend hin jeder in
im Werdegang
der
Völker
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seiner Entwicklungsbahn der sonder Zweifel Stärkste an Tat- und Willenskraft, und sie alle drei fast genau am gleichen Punkt in dieser Bahn stehend. Die völlige Ineinssetzung von Persönlichkeit und geschichtlicher Werdensmacht kann gar nicht deutlicher und doch auch wieder nicht geheimnisvoller erkennbar werden als durch dieses Zusammentreffen 1 3 ). In den großen Glaubensbildnern, die die drei weltbeherrschenden Qotteslehren verkündigt haben, Buddha, Jesus, Mohammed, erkennen wir ohne Zweifel die Menschen, in denen die höchste Schaffenskraft mächtig, von denen auch die höchste Wirkenskraft ausgegangen ist. Sie alle drei haben eine Macht geschichtlicher Wirkung ausgeübt, die über das Maß und die Kraft sonstiger geschichtlicher Bewegung hinausreicht. Daß der Schöpferische, der Führer im Geist, sein Volk bewirkt und gestaltet, das erwarten wir. Wenn er aber darüber hinaus andere Volkstümer, andere Rassen sich zu Anhängern wirbt, so kann das nur aus dem Einzigen und seiner Kraft erklärt werden, die über das eigene Volkstum hinauswächst. Es erscheint daher nicht verwunderlich, daß Buddha und Mohammed von der Verehrung ihrer Gläubigen weit über Menschenmaß hinaus in Gottesnähe gehoben wurden, daß Jesus zum Christus, ja zum Gott selbst von solchem Glauben erhöht wurde. Wer unbefangenen Auges die Reihen der Höchsten im Geist, der Führer der Tat in allen Völkern überschaut, wird zugestehen, daß diesem Erhabensten unter den Sterblichen mehr Seelenmacht gegeben war, sie auszustrahlen und mit ihr die edelsten Völker der Erde und in ihnen viele Tausende von Millionen von Einzelnen zu bezwingen und seinem Willen gefügig zu machen. Freilich haben weder der heiße Lebensdurst, noch Stolz, noch Kampfesfreude aller sozusagen christlichen Völker in der Tat und in der Wahrheit die Erdgebote dieses Glaubens angenommen. 13
) Stufenbau und Gesetze S. 334.
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Die e i n e
Natur, der e i n e
Kosmos
Aber als Bild und Zeichen herrscht er über sie und über die Erde bis heute 1 4 ). An den Großen der Menschheit aber, an ihren Werken, d. h. ihren Ausströmungen von Kraft und Geist begreifen wir, daß das Weltgeschehen nie im Einzelfall und für sich, vielmehr jedes zugleich für ein Späteres vor sich geht und daß im Werden für die Führung und Vollendung des großen Ganzen alle Möglichkeiten von Gesetz und Regel bereitet sind.
IU. Die Form im Werk: — als Deutung — Die Geschichte der Seele im Werdegang der Menschheit Was hat die Seele mit der Geschichtslehre zu t u n ? Will die Geschichte nun ihre Erfahrungen anwenden auf eine Seelenkunde und dem Bedeutungswandel des Seelenbegriffes eine geschichtliche Würdigung zuwenden? Und hieße das den Streit der Jahrtausende um das Innen und Außen von Körper und Seele von neuem auftun? Und es ergäbe die -Abwickelung eines langen Zwirnes, der die Scheinkämpfe zwischen Einheit und Zweiheit — in der Philosoiphensprache zwischen Monismus und Dualismus als ein wahrhaftes Maskenspiel an der Oberfläche des Weltverstehens zeigte, immer wieder unter Abwandlung des Wortpaares — Körper-Geist — den Körper durch den Geist und den Geist durch den Körper zu beschreiben — zu erklären. Als ob wir zwei Leben lebten und nicht die Einheit unseres Erlebens als Erkenntnis in uns innen wäre und von Naturwissen und Selbstbewußtsein, von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften die ewige Zertrenntheit des Weltbildes zu postulieren wäre! Das schlichte Gefühl Ebenda S. 335 u. 336.
die E i n h e i t
des
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Werdens.
seiner Zugehörigkeit zu der e i n e n Natur, zu dem e i n e n Kosmos beschenkt den weltfrommen Menschen mit der Einheit des Werdens und verleiht ihm die Ungespaltenheit des denkenden Ichs, das in undurchbrechbaren Verkettungen mit den anderen stofflichen Geschehensformen einzugliedern ist, d. i. daß unser Ichgeschehen sich, gleich jedem anderen, in das Weltgeschehen wie seine unmittelbare und selbstverständliche Fortsetzung einfügt 1 ). Aus diesem Drange der Vereinheitlichung geschichtlichen Geschehens, die Formen, aber auch die mannigfaltigsten, untereinander verschiedenen Formen des geschichtlichen Geschehens auf ein einziges Kern- und Grundgeschehen zurückzuleiten, erscheint bei Kurt Breysig in dem Maßwerk seines forscherlichen Sehens, in der Überschau seiner Gipfelwerke: von der Naturgeschichte zur Menschheitsgeschichte, von dem Naturgeschehen zum Geistgeschehen. Besonders eindrucksvoll wird die Dreifaltigkeit menschlichen Wesens als schlichte Naturgegebenheit, daß der Mensch — der einzige Inhaber der Fähigkeit, das Bild der Welt im Spiegel eines Bewußtseins aufzufangen — zwar als Geist, als Seele dem geistig-seelischen Geschehen im Menschen allein gewachsen ist, aber daß er dem Leibe nach dem biischen Reich der Tiere und Pflan! ) Kurt Breysig, P s y c h o l o g i e der Geschichte, 1936, nimmt die O e d a n k e n g ä n g e „der Geschichte der Seele im W e r d e g a n g der M e n s c h heit" auf, bietet in weitgespannten Überlegungen zur S e e l e n k u n d e der G e s c h i c h t e Beiträge zur Frage nach der Erfahrbarkeit d e r Welt. Wie B r e y s i g in der Geschichte der Seele im kunstvollen R a h m e n g e f ü g e einen Reichtum v o n Entwicklungsreihen und F o r m e n der Zeitalter bietet, kehrt er in der P s y c h o l o g i e der G e s c h i c h t e (Verlag D e Gruyter 1939) zur U n t e r s u c h u n g v o n Einzelfragen zurück. D i e Jahrhunderte alte L o s u n g cogito ergo s u m erweitert er zu d e m S e n t i o ergo sum. G e g e n Parallelismus und W e c h s e l b e z i e h u n g — den Fragenkreis v o n außen und innen — nimmt Breysig Leib und Seele als Einheit eines Gesamt-Ichs, und das Ineinanderfließen v o n D e n k g e s c h e h e n und W e l t g e s c h e h e n führt ihn zu den W i r k u n g s e i n h e i t e n in den höheren Stufen d e s biischen Reiches. H e r i n g , Das Werden als Geschichte
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Die
Einheit
Seele
zen, j a als die Summe von unbelebten Korpuskeln, die er als Leib ebenfalls darstellt, auch dem anorganischen Reich als ein jedesmal völlig eingeordneter Teil angehört 2 ). In diesen drei Bereichen einer Wirklichkeit gibt es für Kurt Breysig kein Sein, sondern nur ein Geschehen, dessen Formen wir in ihrer Ganzheit als Werden erkennen. So betrachten wir bereits im anorganischen Reich Gebilde von sehr verschiedenem Umfang als Einheiten und als Träger eines inneren Geschehens. (Echte Träger inneren Geschehens und echte Unteilbarkeiten sind im anorganischen Reich nur die letzten und kleinsten, die Elektronen.) Im geistig-seelischen, wie im eigentlichen Lebensbereich wohnt das innere Geschehen schon den Lebenseinheiten, den Lebewesen teils unmittelbar, teils als Trägern der Seele bei; im Leibesleben der Menschen, Tiere, Pflanzen zieht es sich bis zu den kleinsten Urbestandteilen, den Zellen, zurück. Ja, es macht auch bei ihnen noch nicht Halt, denn auch die Zelle hat sich näher zudringender Forschung als ein Gebilde erwiesen, das aus mannigfachen Untereinheiten zusammengesetzt ist. In der geistig-seelischen Welt des Menschen erscheint die Seele als das Summenwort für die gesamten Lebensäußerungen und Erfahrungen eines Ichs, eines Individuums. Als bewegende Kraft muß sie als eine unteilbare Einheit angesehen werden. Diese Einheit „Seele" umfaß.t alle Kräfte des außerleiblichen Ichs — nach der alten, immer noch unentbehrlichen Einteilung —, also Verstand, Willen, Einbildungskraft und Gefühl, dazu die unterhalb unseres Bewußtseins tätigen, beständig die oberen Fähigkeiten unseres Innenseins beeinflussenden und lenkenden Kräfte der Triebe, die Kurt Breysig den gesellschaftsseelischen Grundtrieben des menschlichen Ichs zurechnet. Es sind jene Urkräfte der Seele, die im Anziehen oder Abstoßen, im Sichhingeben oder Sichabschließen, wurzelhaft, als Ichtrieb und Hingabetrieb 2) Ebenda
S. 137 ff.
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als bewegende Kraft.
erscheinen und denen Persönlichkeitsdrang und Gemeinschaftstrieb als ihre Ausformungen entsprechen. Gerade diese beiden Ausformungen erweisen sich bei allen Formen menschlichen Tuns, im handelnden, wie im schauenden und bildenden Leben als starke Grundkräfte mitbeteiligt. Sie sind immer seelische Geschehensformen und scheiden sich dadurch von der Vermögenspsychologie. Sie sind zwar als Begriffe gewonnen — nicht zeitlose Begriffe, sondern im Sinne der natura naturans, der wirkenden Natur, Wirklichkeiten —, nicht Denkgebilde, sondern Urdinge. Für die beschreibende, die descriptive Geschichtsforschung ist der Einzelmensch und seine Tat Träger der Geschichte, für die entwickelnde Sach- und Gemeinschaftsgeschichte ist immer der Träger die Geschichtseinheit eines Volkes oder einer Gemeinschaft. Doch sind diese Teilbilder der Geschichte etwa als Staatsgeschichte, Klassen- und Wirtschafts-, Rechts- und Sittengeschichte Kreisausschnitte des geschichtlichen Lebens, die überreich an Einzelheiten, -die sie einigende Mitte: den Menschen als Träger des Geschehens, als Bekundungen des Lebens umspannt. Kurt Breysig, der Bauende an der Sachgeschichte seit vier Jahrzehnten, seit seiner Aufsatzfolge über die soziale Entwicklung der führenden Völker Europas (in Schmollers Jahrbüchern für Gesetzgebung 1 8 9 6!), übersah dabei nie, den Menschen, den deutschen Menschen als Mitte des Geschehens aufzusuchen, die Zeitalter nicht etwa unter dem Generalnenner der „Materialismen" einzuebnen mit dem ideologischen Überbau über den ökonomischen Verhältnissen und eine Massengeschichte farbloser Breite aneinanderzureihen — Kurt Breysig als der vorwärtsschreitende, die Irrtümer des geschichtlichen Kollektivismus weit hinter sich lassende Führer der allgemeinen Geschichtsforschung, begann sein Werk mit der Besinnung auf den Menschen, a u f d e n M e n s c h e n s c h l e c h t h i n als den Punkt, in dem sich alle die Sachlinien der Geschichte 4*
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Der Wandel der Seelenkräfte
überschnitten: „Gleichviel, ob er Sachgeschichte, die Verfassungsgeschichte — oder Wirtschafts-, Glaubens- oder Kunstentwicklung etwa des Deutschlands nach 1830 schildert, immer ist der Deutsche ihr Gegenstand: der Deutsche als Staatsbürger oder als Staatsmann, als schaffende^ Volkswirt oder nur als Verbraucher, als Glaubender oder als Glaubensformer, als Kunstgenießer oder als Künstler. Der Deutsche schlechthin ist in allen diesen Kreisausschnitten des Lebensinsgesamts teils Bewirkender, teils Bewirkter, teils Hervorbringer, teils Gegenstand der Geschichte" 3 ). Das verlockendste dabei war ihm stets, von den Großen, den Starken unter den Einzelmenschen auszugehen. Zu allen einzelnen Sachgeschichten trat bei ihm eine Geschichte der Persönlichkeit. Die Geschichte der Seele im Werdegang der Menschheit stellt im Gesamtwerk Kurt Breysigs, seit seinen „Aufgaben und Maßstäben einer allgemeinen Geschichtsschreibung", seit 1900, als er die „Umrisse einer historischen Staats- und Gesellschafts-, Kunstund Wissenschaftslehre" vorlegte, eine reiche Schau von geschichtlichen Lebensformen dar, die den je unter Menschen zur Entfaltung gekommenen Entwicklungen eine Fülle der Gesichte leiht. Wer unter Geschichte die Selbstdarstellung des Menschen sieht, dem erschließt sich das seelische Wesen eines Zeitalters, eines Volkes, einer Klasse erst recht, wenn er Gebärde, Haltung, Gang, Mienenspiel und Gesichtsgepräge, Kleider- und Haartracht der Angehörigen einer solchen Geschichts- und Gesellschaftseinheit als zugehörig für die Grundgestimmtheit eines Zeitalters wertet. In den einzelnen Entwicklungsaitern der Menschheit zeigt sich ein Wandel der Seelenkräfte, eine Rangordnung, die wesentlich ist in der Seelenkunde der Geschichte. Die Kräfte der unterbewußten Tiefe, die Schritt- und Zeitmaß, Bewegtheit und Leidenschaft einer Generation erzeugen, 3
) Kurt Breysig, Die Geschichte der Seele, S. 13.
in den Entwicklungsaitern der Menschheit.
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entsprechen der Zeitseele. Kreise und Gruppen eigens eng zusammengeschlossener Lebens- und Werkgemeinschaften sind die Empfänger und Träger der zu Tat und Gebild geformten Wirkungen und Werke, die die bevorzugten Starken aus sich erzeugt haben. Eine Übersicht über die Geschichte der Menschheit tut dar, daß die Seelenkräfte in den einzelnen Entwicklungsaitern der Menschheit von sehr verschiedener Bedeutung sind. Die Urzeit, der Menschheitsmorgen, zeigt sich von der Einbildungskraft beherrscht. Übermenschliche Gewalten dem eigenen Leben dienstbar zu machen, sie zu bannen, zu gewinnen oder abzuwehren, zeigt sich an den Zierlinien, mit denen der Urzeitmensch seine Waffen, Geräte, Boote und Häuser schmückte. Auch Reigen und Gesänge waren ein Hilfsmittel des Glaubens, die eigene Kraft, d. i. die Kraft der Gemeinschaft zu erhöhen. Die Sprache des Menschen ist eine Gipfelleistung der Urzeit, erzeugt von unendlich fruchtbarer Einbildungskraft und unermüdlich ordnendem Verstand. Gefühl aber ist die helfende Seelenkraft; denn Hingabe und Verbundenheit mit Welt und Wirklichkeit kommen vom Gefühl her. Mit liebendem G e fühl umspannt der Urzeitmensch seine Wirklichkeit, erhöht er sie zur Gottheit, zur Kunst und zum reinen Geist. Aus einem fast franziskanischen Bruderschaftsgefühl für alles Geschaffene, aus einem so warmen, lebensnahen und weltfrommen Urempfinden ging der Allseelenglauben hervor, der wie aller Glauben aus einer Sehnsucht nach Anlehnung, nach Bindung an außer- und zuletzt an übermenschliche Gewalten geboren wurde. Von anderem Gesicht ist die Altertumsstufe, das nächst höhere Entwicklungsalter. Sie ist das Zeitalter des Willens. Erst der Königsstaat der Altertumsstufe wurde Staat aus Absicht, als Willensäußerung. Er ist ein Erzeugnis von Willenspannung. Der Willensmächtigste zwischen den einzelnen bleibt Sieger. Ihm fällt die überstarke Gewalt zu, die anderen Einzelnen zu beherrschen. Sache des Willens
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Altertumsstufe als Zeitalter des
Willens.
auch ist die Ausübung der Herrschaft, die Verteidigung der Herrschaft im Kampfe und die Behauptung der Herrschaft. Der Unterworfene oder freiwillig sich Unterwerfende aber verzichtet. Er stellt seinen Willen völlig oder doch zum Teil in den Dienst eines anderen: er wird der Untertan des Herrschers. Die Errungenschaft aber des Geistes, die der anderen Halbkugel des Lebens, der des schauenden Schaffens, die geprägteste Form' aufdrückt, ist die Heraussteigerung der Gestalten, in die die Einbildung kraft der Urzeit bereits die übermenschlichen Gewalten eingekleidet hatte, zu Göttergestalten. Über Generationen, oft über Jahrhunderte ist jene Emportreibung hoher Tiergeister- und Heilbringerbilder zu Göttern vor sich gegangen. Als Gebilde des Geistes ist der zum Gott erhöhte Tiergeist das Seitenstück zu dem zum König erhöhten Häuptling. S o gewiß zwar hierbei Einbildungskraft Werkzeug und Träger ist, die vorwärtstreibende Ursache w a r der Wille, der Wille der Priester, der hinter dem Gotte steht. Er verkündet durch des Gottes Mund der gläubigen Gemeinde die Befehle, die doch seinem, des sterblichen Menschen Hirn entsprungen sind. Dabei legt die Herrschbegier der Priester, seltener wohl in absichtlicher Heuchelei, öfter vermutlich in wahrhaftem Ernst die Maske der Demut an. Denn als e r s t e r muß der Priester die Unterwerfung des Gläubigen vor der neuen Gottesgestalt mittun. Die Gläubigen aber, deren zeugende Einbildungskraft das Gottesbild hat schaffen und in Demut es auf den Thron des Altars hat höhen helfen, sind gleichfalls dadurch mit ihrem Willen beteiligt. Es tritt diese gesellschaftsseelische Grundstimmung hervor: beide, die Anhänger des Gottes und die Anhänger des Königs, wollen das Bild der Macht über sich. Sie freuen sich der Macht in eines Wesens Hand, seiner Herrschaft, seiner Herrlichkeit und Übermacht, der sie sich unterwerfen. Auswirkung von Macht, d. i. Anspannung des Willens, ist der herrschende Antrieb in diesem Zeitalter.
Der
K ö n i g und die
Gottesgestalt.
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Die beiden Gewalthaber, die jetzt in das Leben der Seele treten, der Priester und der Gott, stehen zueinander in einem Abhängigkeitsverhältnis, das dem zwischen dem König und seinem bevollmächtigten Statthalter nicht unähnlich ist. Zwar gehört der Gott einer Geistwelt an und nur der Priester der irdisch-menschlichen Wirklichkeit. Aber der Gott ist doch dem Ursprung nach ein Geschöpf des Priesters. Aber gemäß der nun einmal notwendigen Fiktion erscheint der Priester als der Geleitete, Gott aber als der Lenker. Im Erbgang fortschreitender Zeiten nimmt der Wille Gottes in Gestalt der Glaubenssatzung, des Dogmas feste Formen an. Dem Priester aber verbleibt die geistige und also sachliche Gewalt, Gottes Gebote auszulegen und für ihre Erfüllung zu sorgen. In vielen Jahrhunderten haben immer neue Priestergenerationen in Ägypten und Babylon daran gearbeitet, die Einzelgötter und Götterkreise der Gaue zu einem, dem ganzen Volk zugehörigen und gebietenden Kreis von Göttergestalten zu vereinheitlichen. Herrscherlicher, machtdurstiger Wille war der Antrieb. In dem Einzelfall des jüdischen Glaubens zeigt ein reiches Schrifttum die Spuren einer durch Generationen geschulten Denkkraft, die herrschen, d. h. die unbedingte Gewalt ausüben wollte. Würde zu fragen sein: und wie ist es mit den Zeugnissen germanisch-neueuropäischer Geschichte in diesem Zeitalter? Gewiß erscheint das Reich des Franken Karl als Erzeugnis, als Auswirkung der starken Persönlichkeit. Aber im Glauben und in der Kunst ist eigene Entwicklung hintangehalten und durch die Aufpfropfung griechisch-römischen Gutes verkümmert. Bauende Kraft erweist im Mittelalter vorherrschend das Gefühl. Freilich reichen die Reihen s t a r k e r Könige, die zugleich Träger einer höheren Persönlichkeitsform sind, bis tief in das späte Mittelalter. Es hat auch in den oberen Schichten des Adels dieses Zeitalters an selbstherrlicher Absonderung des Adels nicht gefehlt. Aber der vorwal-
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B a u e n d e K r a f t des G e f ü h l e s im Mittelalter.
tende Zug dieses Zeitalters ist vom Oemeinschaftsdrang, also vom Gefühl als Ausdruck der Hingabe oder der Anlehnung beherrscht. W o sich im Lande die Adelskörperschaften genossenschaftlich zusammenschließen, stehen sie wie im Bürgertum der Städte, von den Räten des Stadtadels bis zu den Zünften herab, der Herrschergewalt des Königs mit dem Drang der Selbständigkeit gegenüber. Unter der Wirkung dieser Kräfte vollzieht sich diese Wandlung: Das Königstum löst sich auf in Staatszersplitterung und Adelsherrschaft, und die e i n e Gottesgestalt wandelt sich zu Mystik und Vergottung des Alls. Im gesellschaftsseelischen Sinne des Geistes zeigt sich Ichhingabe an die zu schauende Welt. In den Gemeinschaften der Orden, der Werkstätten, der klösterlichen Gelehrten- und Künstlereinungen, in Bildnerei und Malerei erweist sich der Drang der Hingabe an die Wirklichkeit. Genossenschaftsdrang spiegelt sich so als Gemeinschaftsform und -haltung — trotz allem herrischen Zwang zu gewollter Form — in der Gotik, die doch wesentlich ein Werk der Gemeinschaften ist, jener vom höchsten Genossenschaftsdrang erfüllten Gemeinschaften, bei denen selbst der große Einzelne sich hinter der Gemeinschaft, hinter dem Werk verbirgt. Vornehmlich im Glauben erweist sich die Kraft des Fühlens in der Hingabe des schauenden Ichs an Welt und Wirklichkeit. In der Mystik erleben wir die selbständige Umformung des jüdisch-hellenistischen Christentums. Die Gestalten des alleinen Gottes und der Dreieinigkeit verblassen. Der Mensch erhöht sich, indem er die Seele mit Gott und Welt zu einer fast ebenbürtigen Dreiheit vereint. Das ist die große Mystik des deutschen Mittelalters — am stärksten in der Gewalt Meister Eckeharts —, daß die Seele, indem sie Gott und Welt in sich zieht, den Schöpfer und die Schöpfung in e i n s setzt mit sich selbst. Meister Eckhardts Grund aller Dinge, das Wesen, umspannt alles Sein in sich, Gottheit, Gott, Seele in sich begreifend und
Die Mystik als Glaubensform.
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nennt die Natur die erste Entäußerung des Wesens, und in dieser größten Einheit sind alle Gestalten und alle Dinge aufgelöst und einander ebenbürtig. Jetzt erst wird sich die Seele ihrer selbst ganz bewußt. Sie gibt sich der ihr eigensten Kraft, dem Gefühl, hin. Sie löst sich die überkommenen Glaubensgebilde in Gewalten auf, die ins Grenzenlose flutend, allbewirkend, und ganz umrißlos erahnt sind. Die innerste Überzeugung Meister Eckhardts ergibt diese letzte Formel: die Gottheit gilt ihm in dem Zustand, da sie noch nicht weder Gott noch Mensch von sich abgespalten, aus sich selbst entlassen hatte, als die höchste und verehrungswürdigste Macht, eine Gewalt, die keine Form hat, noch ein Wirken ist, und die ihre ungeheure Lebenskraft nur fühlt und in diesem Selbstfühlen von ihr beseligt ist." Alle Gottesverehrung des Menschen aber schmilzt sich ihm um in die tiefe Sehnsucht, wieder einzugehen in dies Ursein, das höchstes Sein ist, und das er doch selbst, gemessen an der irdischen Daseinsform, nichtseiend nennt. Es ist in Wahrheit die höchste Inthronisierung des G e fühles, von der die Menschheit weiß: das höchste Gut, das Eckehardt kennt, das Leben, will er nur als Teil jener Urseins-Gewalt, ganz stark, aber auch ganz ruhevoll, unbewegt und unausgewirkt erfühlen. Aller bunten Farben-, wirren Formenfülle des Urzeitglaubens ist Valet gegeben. Die einfach klare Königsgestalt des all-einen Gottes der Altertumsstufe ist nur eben noch als Ausfluß, fast wie ein Sinnbild gelitten. Die Einbildungskraft ist fast verbannt; wohl war ihre Hilfe noch einmal nötig, um diesen gewaltigen Welt- und Glaubenstraum zu träumen, aber er hat schon die blasseste, gedankennächste, farbenund linienfernste Form. Der Zwischenraum zwischen dem Glauben und aller Fülle und Vielzahl der Dinge ringsum, den tausendfach gestalteten Teilen und Trägern der unbelebten und belebten Welt, der in der Urzeit nur eine Spanne lang gewesen war, ist jetzt der denkbar weiteste.
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Stufenbild der neueren Zeit:
Das Leben, zwar noch immer heiß geliebt, ist auf seine stoffentlehrteste Formel gebracht: das Sein selbst, richtiger das Seinsgefühl. Dieser Lehre ist der Mensch eigentlich nur noch nötig als Träger ihres höchsten Gutes, des Lebensgefühls; aber auch ihm ersehnt und verheißt sie Rückkehr und Eingang in die Urkraft, die der Noch-Christ Eckehart Gottheit nennt. Die Welt aber fällt, wie eine überflüssige Kulisse in diesem tiefsten Drama fort, dessen einzige Personen Gottheit und Seele sind" 4 ). V e r s t a n d e s m ä ß i g k e i t , d.i. d e r Verstand als h e r r s c h e n d e S e e l e n k r a f t , ist als R a t i o n a l i s i e r u n g von Staat und W i r t s c h a f t d a s S t u f e n b i l d d e r n e u e r e n Z e i t . Nicht nur im geistigen Schaffen der höheren Völker setzt sich diese Wandlung durch. In den nach rein begrifflichen Ordnungen ausgebildeten Verfassungen in Athen wie in Rom zeigt sich auch im handelnden Leben der neueren Zeit des alteuropäischen Weltalters diese Wandlung. In der Manufaktur des Gewerbes, in Handel und Seeschiffahrt tritt der Übergang zu größeren Betrieben ein. Das Berufsbeamtentum setzt sich immer lückenloser und unbedingter gegen die mittelalterlichen Formen einer lockeren und regellosen Mitregierung von Einzelnen aus den herrschenden Ständen, dem Adel und der hohen Geistlichkeit, durch. In den Behörden findet sich die Einrichtung eines festen Vorsitzes, die Einteilung von Dezernaten, von Abteilungen mit bestimmten Zuständigkeitsbezirken, die Instruktionen der einzelnen Ämter werden immer folgerichtiger durchgebildet, Kanzleien und Aktengang in gleicher Weise. Es herrscht das Gesetz bewußter und durchdachter Zweckhaftigkeit, und das ist überwiegend Verstandesmäßigkeit, die Tat wie Geist des Zeitalters umspannt. Der Staat als Herrschaftsform ist vornehmlich in seiner Betätigung nach außen Ausfluß von Machttrieb und Willen. Der Staatskunst dieses Kurt Breysig,
Geschichte
der
Seele, S. 66/67.
der Verstand als herrschende Seelenkraft.
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Zeitalters aber wird nun in Zielsetzung und Technik ein M a ß von Vernunftbeherrschtheit aufgeprägt, das früheren Entwicklungsaitern fremd war. Ein ständiger diplomatischer Verkehr wird fortschreitend verfeinert und die Technik dieses Verkehrs immer mehr zugespitzt. Ein stehendes Heer als Werkzeug dieser Staatskunst wird ausgebildet. Die Diplomatie wurde im achtzehnten Jahrhundert ein Gemisch von höchstem Geistesspiel und verfeinertem, gänzlich verstandesmäßigem Künstlertum. Kabinette und Paläste entschieden ohne Anteilnahme des Volkes. Die Fahrt des Staatsschiffes, das Steuer der auswärtigen Staatslenkung, frei und unumschränkt, wurde gerichtet von der Ausschließlichkeit und Machtfülle der Wenigen wie eine Kunst des diplomatischen Schachspiels. Im wirtschaftlichen Leben dieser Jahrhunderte findet sich eine hohe Ähnlichkeit mit dem seelischen Bild des Staatswesens. Sombart hat 'die Grundeinstellung dieses Zeitalters Kapitalismus genannt und damit den Übergang zu einer Wirtschaftsform bezeichnet, die ihr Ziel in der Schaffung von immer größeren Vermögensbeständen, ihr Werkzeug in der auf dies Tun angewandten eigenen Technik des Wirtschaftens sucht und folgerichtig zu einer Wirtschaftsweise des Erwerbes um des Erwerbes willen führte. In der neueren Zeit. Alt-Griechenlands vollzieht sich unter dem Vordringen des Verstandes die Abwanderung des Geistes aus dem Reiche des Glaubens in das eines ganz neuen Verhältnisses zur Welt, in das der Philosophie. D a s auf das Sein und sein Geheimnis gerichtete Schauen der Griechen schuf neben dem Glauben, d. i. neben dem an unsichtbare Gewalten und Gestalten gebundenen Weltahnen, die Philosophie, ein an sich freies, nur aus Weltund Icherforschung schöpfendes Weltdenken. Die Griechen haben damit für den Westen, für den europäischen Zweig des indogermanischen Volksstammes als die ersten eine völlig von Glauben und Gefühl losgelöste Form des Weltdenkens erkämpft und erschaffen. Ihre dem tiefen Schauen
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Luthers Reformation im Fortgang des deutschen Geistes?
in Welt und Sein und Ich geweihten Gedanken biegen a b auf den Weg des neuen, wirklich ganz weltlichen Weltdenkens. Den Anteil, den das jugendliche Germanentum an Umund Aus- und Fortbildung des Christentums bis zum Ausgange des Mittelalters nahm, war alles andere als nüchtern und verstandesgemäß. Eine bunte Welt der unschuldigen Vielgötterei der Heiligenverehrung wie ein Mantel von unerhörtem Farbenreichtum, aber in Ehrfurcht und Liebe, erscheint uns Heutigen die mittelalterliche Form germanischen Christentums, religiöser als die johanneisch-paulinische oder gar die augustinische Glaubenslehre. Luthers Reformation bedeutet dagegen die entschiedene Abkehr zur Verstandesmäßigkeit. Wenn wir auch nicht das Recht haben, die Reformation Luthers als einen Abfall vom echten Germanentum anzuschuldigen, so erweist sich doch gerade an diesem Fortgang des deutschen Geistes bei einer neuen Wegstrecke, wie durch das fremde Erbgut, durch die opostolisch-patristische Gotteslehre griechisch-römischer Herkunft ein eigenwüchsiger Werdegang des deutschen Glaubens in diesem Stufengang gar nicht zum Leben kam. So erleben wir ein seltsames Schicksal: „einer der gewaltigsten und willensmächtigsten Deutschen, die je das geistige oder handelnde Leben ihres Volkes gelenkt haben, tilgt mit unermüdlichem haßvollem Eifer möglichst alle Spuren germanischer Einwirkung aus dem Glauben, den er gegen Rom reinigen will, und bewahrt in Ehrfurcht das gesamte weitläufige Lehrgebäude, das die Antike um diesen Glauben errichtet hat, bis in seine letzte Ausgliederung. Jedes Rätsel aber ist diesem Geschehen genommen, begreift man es als von der vorherrschenden Seelenkraft dieses Entwicklungsalters eingegeben: dem Glaubensformer, dem aller Glauben Gotteslehre, Glaubenswissenschaft wird, sind Augustinus, Johannes, Paulus zu innerst verwandt, die Theologen dem Theologen. Die Verkündigung, die Jesus selbst hinterlassen hatte, e r , d e n
Daseinsforschung: von Kant zu Herder
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a l s G l a u b e n s l e h r e r , a l s T h e o l o g e n zu b e z e i c h n e n , L ä s t e r u n g w ä r e , diese Verkündigung, die wahrlich primär aus den innersten Kraftquellen der Seele hervorgebrochen war, wurde jetzt wieder, wie einst durch Paulus, Johannes, durch die Väter, wie ein frei zu verwaltendes, mit einem hohen Maße von geistiger Willkür umzubildendes Erbgut angesehen" 5). Eine völlige Zersetzung des G l a u b e n k ö n n e n s u n d G l a u b e n w o l l e n s findet sich mehr oder weniger offen verkündet im S c h r i f t t u m d e r A u f k l ä r u n g . Das Gebäude der Folgerungen, mit denen man vernunftgemäß das Dasein Gottes zu stützen gedacht hatte, zerschlug Kant mit dem Hammer seines Erkennens. Was er als Wiederaufbau neben dem Trümmerfeld errichtete, nimmt den Eindruck jener Zerschlagung nicht zurück. Gotik und Quattrozento wollen in Leidenschaft des Gefühls die Seele in starkem Sturme mitreißen für die tiefen Güter des Glaubens und der Liebe, die Kunst der Renaissance tauschte dafür Ebenmaß, Gleichgewicht, Einklang, Symmetrie ein. Die Disputä und die Schule von Athen zeigen diese Kunstgedanken in ihrer typischen Wandlung. Das Maßespiel der Renaissance ist bis ins letzte durchrechnet und absichtsvoll und ebenso verstandesbeherrscht wie die in jedem Sinne auf staatsmännische Wirkung eingestellte kühle Vornehmheit der höfischen Ausbreitung von Prunk und Macht, die diese Werke ausstrahlen: der Verstand regiert selbstbewußte Pracht. Erst "Descartes gab dem gesamten germanisch-romanischen Weltalter die Grundveste der heutigen Daseinsforschung durch den Satz, der nur das denkende Ich als jedem Zweifel standhaltendes Sein anerkennt. Er machte damit den Verstand als das Werkzeug des Denkens zum Mittelpunkt und Schauplatz allen Daseins. Kant wie Herder sind die Vollender des begonnenen Weges. Herder als 5
) Geschichte der Seele, S. 93 ff.
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Gefühlsbestimmte Bewegungen im 18. Jahrhundert.
e r s t e r unter allen Sterblichen richtete sein ordnendes und schauendes Auge auf das Wirrsal des Weltgeschehens und versuchte — wie nun in umfassender Schau und von aufbauender Gewalt Kurt Breysig — alles wirkliche Geschehen in Natur und Menschheit mit der Vernunftmacht des erfahrenden Gedankens zu durchdringen, während Kant die Herrschaft des Verstandes in den menschlichen Geist zurückverlegte, dem allein er ordnende, sichtende, bauende Kraft gegenüber dem Wirrwarr der an sich ordnungslosen Wirklichkeit zuschrieb 6 ). Gefühlsbestimmter Bewegung ist zuzurechnen jene Gruppe von künstlerischen, wissenschaftlichen, staatlichen und noch rein seelisch-menschlicher Ausstrahlungen, die sich an den Namen Rousseaus knüpfen. Es ist jene Kultur der Jahrzehnte zwischen 1754 und 1789, die als das Zeitalter des Rousseau-Realismus — auch wohl Rousseau-Demokratismus — bezeichnet werden. Wir wissen, daß die Wirkung Rousseaus als Geistes- und Seelenmacht außerordentlich war. Es mag sein, daß die Seele dieses Zeitalters besonders bereit war für eine überwiegende Gefühlsmäßigkeit, kam doch auch von England ein Einstrom von Gefühlshaftigkeit, ja Gefühlsseligkeit, der als künstlerische Macht in Richardson Form und Gestalt gewann. Rousseau, der Staats- und Gesellschaftslehrer, der Jugendund Menschheitserzieher, der Einsiedler von Neufchatel, wurde der geistige Vater der Französischen Revolution. Die lange Reihe des -Ismen, der Liberalismen, Demokratismen, der Sozialismen und der Anarchismen — sie sind nicht denkbar ohne den Contrat sozial Rousseaus. Das nach Rousseau bezeichnete Zeitalter ist wie eine breite Grenzmark, die sich sichtbar abtrennt von dem geistigen und gesellschaftlichen Geschehen der neueren Zeit. In der Französischen Revolution war der Wille Werkzeug in den Männern harten Willens wie Robespierre, 6
) Ebenda S. 102/103.
Blutgemeinschaft und Stammesverwandtschaft
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Marat und Danton. Vernunftbegeisterte, die Rousseaus Verkündigung in Gestalt und Einrichtung zum Siege führten, schufen der Göttin der Vernunft das große Weihefest der neuen Republik. Anders wurde dies Bild, als Napoleon die Herrschaft antrat: Despotentum regierte in seinem demokratisch maskierten Cäsarismus, der sich als Imperator, als Eroberer höchster Sendung empfand. Der Klassizismus von David und Carstens, von Canova und Thorwaldsen, des Goethe von der Iphigenie bis zum Epimenides — es war entliehene, dem Antiken nachgeformte, geprägteste Ordnung, geometrische Raumbeherrschung. Ganz kodifiziertes Ebenmaß ist die Lösung dieses gefühlsentleerten Schönheitsideales. In Hegel erleben wir, wie der Wille als regierende Seelenkraft die Forschung bestimmt. Der Entzweiung von Ich und Welt, wie sie von Kants Dualismus geschaffen war, setzte Hegel die Einheitslehre entgegen, die Lehre von der Vergeistigung der Welt, bei der die Welt dem Geiste, nicht aber der Geist der Welt einverleibt wurde. Hegel schuf einen metaphysischen Mythos, aus der Macht des Gedankens eine zweite Welt neben der Welt. Im Anstieg neuer Entwicklungslinien bemerken wir im „Nationalismus" vorwaltend Gefühlsbestimmtheit, wobei der Nationalismus die Staatsanschauung heißt, die jeder Volks- und Blutseinheit das Recht und die Pflicht zur Erlangung oder zur Aufrechterhaltung ihrer staatlichen Selbständigkeit zuerkennt und die nur in einem blutmäßig einheitlichen Volkskörper den natürlichen und gesunden Träger einer Staatseinheit sieht. Blutgemeinschaft und Stamm es V e r w a n d t s c h a f t als die einzig berechtigte Grundlage für den Bau eines Staates regte sich elementar in dem Aufstand des spanischen Volkes gegen die Regierung des napoleonischen Satrapen staates, den der Welteroberer aus Spanien gemacht hatte. Die Nationalgesinnung ist die große Strömung neuer Gefühlsmäßigkeit des neunzehnten Jahr-
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als Träger der Staatseinlieit im Nationalismus.
hunderts geworden. Sie regte sich auf das lebendigste in den zerspaltenen oder unterdrückten Völkern, bei Deutschen, Italienern, Polen, Griechen und Serben und wuchs aus dem Volke, von unten her, wobei nicht zu übersehen ist, daß die Urheber dieser ganz gefühlsmäßigen Bewegung starke Einzelne, im Planen Schöpferische oder im Handeln Führende gewesen sind. Arndts im Jahre 1802 erschienenes Buch „Germanien und Europa" weist recht eigentlich darauf hin, wie der Nationalismus zu allen Zeiten sich an die Angehörigen eines Volkes wendet und jeden Angehörigen des Volkes zum nationalen Bewußtsein verpflichtet. Die zum Weltstaat strebende Erobererlust des napoleonischen Kaiserreiches hat bei den unterdrückten Völkern das Nationalgefühl überall herausgepeitscht und zum Nationalbewußtsein geformt. Gerade weil der Nationalismus aus der Gefühlshaftigkeit als Nährboden emporstieg, konnte er mit Wucht und Eifer zu nationalbestimmtem Handeln mit fortreißen, seine Forderungen wie ein Sittengesetz verkünden, das nicht zu erfüllen als schandbares und schmachvolles Sich-Versagen geächtet wurde. Einer vergleichenden Geschichtslehre wird in diesem Zusammenhang die Aufgabe zufallen, den Nationalismus vom Demokratismus abzugrenzen. Demos heißt Volk, und dem Worte Nation wird dieselbe Bedeutung zugemessen, nur weist in dem lateinischen Worte natio der Grundsinn auf den Blutzusammenhang einer körperlich-seelischen Ganzheit aller zu einem Volke zählenden Genossen hin. Der Unterschied wird deutlich in den Forderungen werktätiger Staatskunst und staatlicher Ordnungen, wenn der Nationalismus fordert: ein Staatsvolk muß überwiegend gleichen Blutes sein, und alle Menschen eines Blutes sollen einem Volksstaat angehören. Ganz anders sieht Kurt Breysig den Demokratismus: „er begreift im Grunde ein ganzes Gebäude von Staatslehren, im Planen von Staatseinrichtungen und in ihrer Verwirklichung, in sich. Die gleiche Anteilnahme aller
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Januskopf: Demokratismus—Liberalismus.
Staatsbürger an dem Insgesamt der Staatsgewalt: aus diesem einen Grundsatz lassen wohl alle Einzelforderungen der Volksherrschaft sich ableiten, aber diese selbst verzweigen sich auf das weiteste und mannigfaltigste und sind der verschiedensten Ausgestaltung fähig: der Aufbau der Volksvertretung, die Ausbildung der Volksabstimmungen, das Verhältnis der Volksvertretung zu der von ihr abhängigen Staatsregierung, die Abgrenzung zwischen Beamtenund Selbstverwaltung und so f o r t " 7 ) . Wichtiger als eine Ausgliederung in Verschiedenheiten der Entwicklungsgeschwindigkeit des vorwärtsschreitenden Demokratismus erscheint Kurt Breysig eine innere Spaltung dieses Geschehens. Die Gesamtbewegung, die seit den Revolutionen von 1848 mit Entschiedenheit auf die Einschränkung der alten Gewalten abzielt, trägt einen Januskopf: „sie ist in der Hauptsache Demokratismus, sie ist aber auch Liberalismus, und beide Formen von Staatsgesinnung sind wesentlich unterschieden, dann wenigstens, wenn — man mit den zwei Worten, die durchaus getrennte Begriffe bezeichnen, Ernst macht. Denn Demokratismus geht aus von dem Volke, will sagen der Gesamtheit aller Staatsbürger und macht diese zum Träger der Gewalt im Staate; Liberalismus aber meint das Verhältnis des einzelnen, zu öfters jedes einzelnen Staatsbürgers zum Staat und will ihn mehr oder minder aus den Fesseln lösen, in die ihn der an sich denkbar straffe Staatsbegriff des voraufgegangen Zeitalters geschlagen hatte, den auch im 19. Jahrhundert die alten Mächte im Staat nach Möglichkeit festhalten wollten" 8 ). Demokratie — insofern sie Gleichheit und Brüderlichkeit erkämpft, ist vom Gefühl bestimmt, die Freiheit aber als Anspruch freier Ichauswirkung und Ichgestaltung ist im Liberalismus eine Angelegenheit des Willens. 7 8
) Geschichte der Seele, S. 153. ) Ebenda S. 159/160.
H e r i n g , Das Werden als Gesohlchte
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D i e Kraft des schöpferischen Einzelnen
Freiheit als Machtbereich des Einzelnen führte in der Volkswirtschaft zur Befreiung der Einzelwirtschaft, seit Adam Smiths Lehre von 1776 das Recht auf freie Wirtschaft verkündet hatte. Nichts charakterisiert sichtbarer die stark um sich greifende Willenskraft der sich schpöferisch empfindenden Wirtschaft als die Ausbildung und Verstärkung des Großbetriebes und des Kapitalismus in Handel und Gewerbe des neunzehnten Jahrhunderts. Kurt Breysig kennzeichnet den neuen Imperialismus des Jahrhundertsende im Gegensatz zu dem alten und ursprünglichen napoleonischen des Jahrhundertsanfang als einen Imperialismus ohne Imperatoren. Seine erste starke Regung ging von England aus, das seit 1868 mit seiner Losung vom größeren Britannien, mit der Ausweitung seines Länderbestandes zu einem Imperium in des Wortes wahrster Bedeutung wurde. Frankreich, die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Belgien schlössen sich der imperialistischen Vorwärtsbewegung an. Die imperialistischen Antriebe hatten nicht mehr das eigene Volkstum und seine Durchsetzung zum Ziel, sondern die Machterweiterung des Staates. Unsere jüngste Zeit steht im Zeichen von Stoß und Gegenstoß gleichzeitig und dauernd wirkender Seelenkräfte, die im Imperialismus und Großunternehmertum, im Demokratismus und Sozialismus mancherlei Formen an Geschehensverkettungen aufweisen. Rußlands gewaltige Erschütterung unter der Auswirkung kommunistischer Ideale steht in seinem Gesamtbilde kämpferisch zwischen der europäischen Staatengesellschaft der Gegenwart, während einem unmächtigen Demokratismus Mussolini in Italien den Fascismus entgegensetzte. In Deutschland fand sich unter der Gewalt völkischer Besinnung der Führer Adolf Hitler, dem seine Herrschaft ganz aus eigener Kraft und Sendung erwuchs. Im s e e l e n g e s c h i c h t l i c h e n Grundgescheh e n u n s e r e r Z e i t f ä l l t im G e s c h i c h t s b i l d e e i n
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im Geschehen der Gegenwart.
s c h r o f f e s Neben- und G e g e n e i n a n d e r der S e e l e n k r ä f t e im v o r w ä r t s d r ä n g e n d e n Ges c h e h e n auf. Und fragen wir nach dem Anteil von Persönlichkeit und Gemeinschaft an der Auswirkung der Seelenkräfte, s o ist die n a t ü r l i c h e V o r h e r r s c h a f t d e r s t ä r k s t e n E i n z e l n e n n i c h t in F r a g e g e s t e l l t . Sie, die Schöpferischen im Geiste, auch die Reizbarsten und Regsamsten in der Seele, sind recht eigentlich die Willensvollstrecker der innersten Regungen und Erregungen des untersten und elementhaftesten Geschehens. Diese Kraft des Einzelnen, des schöpferischen und führenden Einzelmenschen, ist der Urquell alles neuernden geschichtlichen Geschehens. Er ist der Führende, weil alles Bestimmte ein Königsrecht hat gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen. So machtvoll die Kräfte und Strömungen sind, die den Gemeinschaften Leben und Bewegung geben, Gestalt von Tat und Werk finden sie erst in den Händen von starken Tätern, starken Bildnern. Gegen den breiten Strom des Naturalismus, des Geschehen-Lassens, stellte der Denker Nietzsche den Willen des schaffenden Ichs überlegen gegen die Übermacht von Welt und Wirklichkeit. Er, der entschlossenste Gegner aller Volksbewegungen, der Demokratie und mehr nöch des Sozialismus, wurde der Anwalt aller Formen des Machtund des Herrschaftstriebes. Übermächtig vordringende Willenskraft bestimmt sein Werk: „Gleichviel, ob das prüfende Augenmerk des Forschers sich allem rauschenden Ja dieses Denkers zuwendet — auch seine tiefe Weltfreudigkeit und noch seine Ablehnung des Gottesglaubens, die, aus dem stolzen Stärkegefühl des hohen Menschen erfließend, seiner Höhung dienen wollen, sind diesem Ja zuzuweisen — oder seinen schroffen Verneinungen, ihre Grundweise ist immer wieder auf die Durchsetzung des Primates für den Willen unter den Seelenkräften gerichtet. Das letzte, alle Grundabsichten Nietzsches zur Spitze zusammenfassende Werk, 5*
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Der Führer in der Auslese der Schaffenden
der Wille zur Macht, ist ja in Wahrheit ein hohes Lied auf die Macht des Willens" 9 ). Menschenbildner, Menschheitsformer im Sinne absichtlichen Führertums erschien das Werk Nietzsches, das sich gegen den Strom der Zeit stellte wie eine Felsenklippe, an der sich die Wellen der realistischen und der epigonischklassizistischen Strömungen brachen. So ist sein Werk — von der Seite der Kunst gesehen — stärkste Formgewalt in der Höhung des Wortgutes und der Formengebärde des Deutschen. Von seinem Wert gibt Kurt Breysig diese seelenkundliche Deutung des künstlerischen Geschehens: „An ihm, dessen Philosophie vom ersten bis zum letzten Buchstaben Menschenlehre und Menschenerziehung war, wird eigens offenbar, wie nahe alle Stil-, alle Formenkunst dem Willen gelagert ist: Stil ist Zwang zur Schönheit, Willen zur Form, und Nietzsches Botschaft verkündet nichts so stark als die Vorherrschaft des Willens unter den Seelenkräften, fordert nichts so unablässig wie die Zucht zu Willen und zu Willenskraft mit dem Ziel der Macht, die ihm als das Höchste der Menschengüter galt" 10 ). George, Führer der Formenkunst unter dem hohen Zwang der Schönheit, aus der Phalanx von 1890, wandte die Kraft des sich bejahenden Lebens nicht zu jenem weiten und starken Bau, wie es die tiefe Sehnsucht Nietzsches wollte, das Dasein groß zu fühlen und ihm alle Tore des Lebens zu höhen und zu befreien. Er wurde zum priesterlichen Ordner des Lebens. Das sektenhafte Gepräge seiner Bewegung hinderte ihn, seine wirkende Kraft einzusetzen für die Werdensart eines volklichen Lebens, dem als Quellpunkt die mannigfaltigen Formen der Entfaltung als Fülle eines Werdensstromes zugeordnet sind: Alles in allem eines Volkes wirkt und lebt. So ist er auch getrennt von jener neuen Ausdruckskunst, die um 1910 in 9
) Geschichte der Seele, S.278. ) Geschichte der Seele, S. 2 7 5 ^ 2 7 8 .
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schöpferischer Besitz seines Volkes.
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der redenden, wie in der bildenden Kunst als eine neue Kunstgesinnung hervortrat. I n j e n e n J a h r e n um Kurt 1 9 1 0 , 1 9 1 1 u n d 1 9 1 2 w u r d e im W e r k B r e y s i g s d e r G e g e n s a t z zu j e n e r v e r e n g e n den F o r m e n k u n s t des Qeorgekreises offenb a r , als Kurt Breysig, darin nicht a l l e i n G e s c h i c h t s f o r s c h e r , s o n d e r n d e u t s c h e r M e n s c h in s e i nem Volke, als geistiger F ü h r e r das Leben seines Vo1kesnichtnur anschauen,sondern a u c h b e w i r k e n w o l l t e zu n e u e r E r w e c k u n g , zu n e u e r W i r k l i c h k e i t . Sein 1912 erschienenes Werk „Von Gegenwart und Zukunft des deutschen Menschen" legt davon Zeugnis ab. Aus lebenswarmer Nähe fügte er den Gedanken der starken Persönlichkeit zum Grundstein neuen Wollens. Der Adel der starken Wirkenden, als Auslese der Schaffenden, Vorbild der Haltung, des Willens, der Gebärde sollte Führer des Volkes werden, nicht Besitz seiner Selbst in eitler Selbstherrlichkeit, nein schöpferscher Besitz seines Volkes. Nicht meinte er damit den Adel, der auf dem Erbe seiner Väter ruhte, sondern den Adel der Leistung. Wer sein Volk stark und reich wünscht, der lebt in seiner Persönlichkeit nicht um seiner selbst willen, sondern um des Volkes willen. Jenem Vielerlei der Parlamentarismen setzte er die natürliche Werkgenossenschaft zwischen Führern und Folgern (geschrieben 1912!) gegenüber, zwischen Meister und Gesellen, zwischen Fabrikleiter und Fabrikarbeitern. Und als ob er die Wirrungen zweier Jahrzehnte seherisch ahnte, warnte er: „Ihr werdet das Beste, das einzig Nährende vergessen: den Führer. Denn den Führer haßt Ihr: ihr wollt einen Leib ohne Haupt und ohne Herz!" 1 1 ). In jenen Tagen unsäglich wohlgesinnten und unsäglich kraftlosen Epigonentums galt Wildenbruch als Schauspieldichter, Geibel n
) Kurt Breysig, Von Gegenwart und Zukunft des deutschen Menschen, S. 117 u. a . a . O .
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D i e Persönlichkeit
und Greif als Liedkünstler. In der Forschung waren die Höhen Wilhelm Humboldts, Jakob Grimms u. a. vergessen, und in den Niederungen eifriger und genauer, aber kleinlicher und leerer Beschreibung nährte sich ein lahmer Deskriptivismus, der allen Ehrgeiz der großen Form vergessen hatte, der Nietzsche in dumpfer Verständnislosigkeit verschwieg und den Geist zu zerreibender und zerglättender Verwaschenheit und Linienlosigkeit verurteilte. So sah Kurt Breysig die deutsche Persönlichkeit als Reichtum des Willens und des Fühlens und der Vorstellungskraft und des Verstandes. In tausend Formen und über allen Abgrund zwischen Tat und Geist hinweg ist eines Sinn und Gepräg des Wirkenden, daß er Kraft ausschickt, Kraft, die ihr Tun gestalten, und Kraft, die das Gebot ihres Tuns mächtig machen will. Dieser Kraft setzt er das Bild eines stillsten und tiefsten Tuns zur Seite, vom Tun der Frau. Nicht meinte er jene eitle Gruppe, die den Mann nachahmt, sondern jene Frau, die ihres Geschlechtes rechter Sendung nicht die Treue versagt und ihr keinen Bruchteil ihres Seins entfremdet, jene Frau, die dem Manne, der seines Wirkens, seines Wesens Baum in sie gepflanzt hat, Garten und nährender, quillender Boden ist, die neue Schößlinge trägt und die ihres Schoßes Sprossen nährt und baut und baut, bis auch sie zu Bäumen gewachsen sind. Persönlichkeit ist ihm Zucht, das Gegenteil der lustbaren Zügellosigkeit. Sie hat jene Eigenkraft, sich zu finden und sich ihr Gesetz zu setzen. Zwei ungeschriebene Sittengesetze ergeben sich aus jener Freiheit, sich selbst Zucht aufzuerlegen. Das eine lautet: du sollst dein eigenes Sein und Wachsen hüten, pflegen und fördern, soviel du nur weißt und vermagst. Und jenes zweite: du sollst nicht fremdes Sein und Wachsen stören, noch zerstören — zwei Gesetze, deren letzter Grund und Ursache die gleiche ist: das höchste Gesetz des Lebens ist das Leben selbst. Dem Adel der Geburt setzte er den Adel der geistig Schaffenden und der werktätig Führenden entgegen, die
als Kraft, als Zucht, a l s L e i s t u n g .
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Persönlichkeit der Kraft-, der Zuchtvollen, die eine unsägliche Fülle von seelischen und geistigen Werten und schaffendes Werken als nährendes Blut an die Volksgemeinschaft verspenden. Drei Regeln erschaute er in schöpferischer Gesinnung für den stets andrängenden tätigen Oeist und seine neuen Inhalte, für das eine und ungeteilte Leben, das doch die geheime Werkstätte alles und jeden Werdens ist: Wir sollen das Leben ehren: dies sei unser erstes und höchstes Gebot. Das soll heißen: wir sollen das blühende, wachsende, Frucht tragende Sein an uns, in uns und um uns lieben und achten und heilig halten, das Leben um des Lebens willen. Wir sollen unser Werk nicht allein, nein auch unser Sein tief und wichtig nehmen, nicht sauer sehend und schwerfällig, sondern heiteren Sinnes und, wenn es sein kann, gar lachend. Wir sollen die Stunde ehren, das ist: wir sollen keinen Tropfen des uns zugeteilten Maßes von dem herrlichen Saft vergeuden durch ein gleichgültiges, ein nichtiges oder gar ein quälerisches Tun oder Sein. Und wir sollen durch das Tun unseres Heute all' unser zukünftiges Werden und Wachsen steigern und stärken. Das heißt die Stunde ehren, und wer sie pflegt, wird der Tage, Monde, der Jahre teilhaftig. Das heißt das Leben heilig halten, jedes Ding, das wir tun, so gewichtig und hingegeben und so stark tun, als nur irgend unserer Kraft verliehen ist. Damit dies wahr werde, legt uns das hohe, das heilige Leben ein zweites Gebot auf: es ist dieses, an unserem Ich zu bauen. Dazu bedürfte es weniger der groben, starken Gebote, die mit ihrem Netzwerk das feine Wirrsal der Fälle und Möglichkeiten des Lebens einzufangen trachten und zu einer starren Mechanisierung werden durch den Geist ihrer Gleichförmigkeit, ihrer Paragraphentausende und ihrer Prüfungen. Dagegen soll der Einzelne selbst sich um Recht und Schutz seines Ichs mühen. Er allein kann wissen, wohin die Zweige seines Wesens zu wachsen trachten. Freilich hat der Einzelne zu prüfen, ob er ein
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Das Vorbild eines starken Führenden.
Recht hat, ein Eigener, Wagender zu sein, oder ob es ein Wachsen und Reicherwerden für sein Ich bedeutet, wenn er sich dem Vorbild einer bestehenden, besser noch wachsenden Obereinkunft, dem Vorbilde eines starken Führenden hingibt, dem zu folgen seiner Seele wohl macht, gänzlich aufschließt und hingibt. Ein drittes Gebot sei dem Einzelnen: am Anderen zu bauen. Bauen heißt in diesem Zusammenhang schaffen, wirken, nicht verneinen, nicht verderben. Bauen am Ich des Anderen heißt so verstanden: nicht zerstören, nicht stören, sondern wahren, stärken, steigern, und zwar das reichste und wertvollste Gut, das der andere hat, seine Persönlichkeit. Das Amt, helfenden Bauens ausüben, will nicht sein ein Helfen an Leidenden, ausgeübt von Mitleidenden, sondern ein Helfen an Wachsenden, ausgeübt von Schenkenden, ein Fördern aus Besitz der eigenen Stärke. Dieses Tun am anderen wird den, der selbst als Persönlichkeit führt, daran erinnern müssen, daß auch in dem Anderen eine eigene Wesenheit nicht allein zu schonen, zu pflegen, sondern vielleicht noch zu stärken, erst noch zu entwickeln ist: „Der Lehrer, der seine Schüler, der Meister, der seine Folger formt — er sei Meister in was immer für einem Hand- oder Geistwerk — wird, wie so verfahren müssen, daß er allerdings, wie keinem Gesunden anders wird zuzumuten sein, alle Gabe, die er weiterreicht, mit seinem Sinn und seinem Sein durchtränkt. Andere Maße, andere Formen des Lebens als die von ihm selbst für recht erkannten, wird er nicht überliefern mögen, noch können. Aber was er an dem Zögling, dem Folger wird unantastbar sein und heilig halten müssen, das ist die Kraft zu eignem Wachstum selbst. Er wird das Was des Werdens nach dem eigenen Bild formen dürfen und sollen, aber er soll das Wie dieses Werdens nicht brechen oder auch nur biegen dürfen" 1 2 ). 12
) Von
Gegenwart
204—222 u. a.a.O.
und Zukunft
des
deutschen
Menschen,
S.
Glauben an die Werdenskraft des deutschen Volkes.
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Diese Weckrufe, Mahnworte gesprochen vor der Wende des Weltkrieges, entflossen dem l e i d e n s c h a f t l i c h e n G l a u b e n an die W e r d e n s k r a f t , an den A r b e i t s w i l l e n , an d a s A r b e i t s e t h o s s e i n e s d e u t s c h e n V o l k e s . Sie entströmten in eiferndem Glauben jener Volksverbundenheit, die das persönliche Ethos des Schaffenden und Wirkenden überkrönt mit g e h e i m n i s v o l l e m V e r b u n d e n s e i n m i t d e m V o l k s t u m , dessen zeugende Kraft — das Aufbrechen des geistigen Bodens in immer neuen Strömen der Fruchtbarkeit — ihm teilhaftig wurde für sein Werk; für sein dienendes und meisterliches Werk. Diese Blätter von Gegenwart und Zukunft des deutschen Menschen aus dem Jahre 1912 sind wie ein Akzent der Besinnung und T r i b u t d e s n e u e r n d e n W i l l e n s des deutschen Menschen Kurt Breysig, der eine neue G e s e l l s c h a f t s f o r m für sein Volk e r s e h n t u n d s c h o n im W e r d e n s p ü r t , eine durch Führertum und Gefolgschaft neu gerichtete Lebensform seines Volkes. Verbunden mit der Rahmensicht des grundlegenden Werkes aus dem Jahre 1904, dem Stufenbau und den Gesetzen der Weltgeschichte eröffnet sich ihm in diesen Vorkriegsjahren 1910—1914 die immer stärkere Schau, daß die Geschichte der Menschheit ein Verlauf ganz cui generis, ganz eigener Werdensweise ist, dessen Formen zu erkennen es galt, dem er im gestalteten Werk zum Deuter wurde. In jenen schweren Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit, da die Schaffenskraft der Kleinen und Verzagten in Dumpfheit und Bangen verging, wandte er seinen unversieglichen Arbeitswillen und die niemals müde werdende Energie an den Aufbau der langen Reihe von Werken, die im letzten Jahrzehnt Zeuge wurden für eine starke Schöpferkraft, deren Feuer, entnommen dem reinen Altar der Wissenschaft, zur beseelenden Lebensflamme wurde, die immer ein Ziel, ein Glauben, ein Wissen und einen Weg in die Ferne hält. Ihm, dem vom Schicksal zuge-
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Die Macht des Gedankens in der Geschichte.
wiesen ward, dem Werke seiner Forschung Weihe und Recht zu geben aus dem Erbe Nietzsches, war das Leuchtende einer Idee zur großen Kraft des Schaffens. Die Umrisse einer zukünftigen Geschichtslehre, der er als Grundlage die Lehre vom Bau der Persönlichkeit gab, zu der er die Lehre vom Verhalten der Gemeinschaft und ihrer Seelenkunde fügte, bezeichnen die weit und sicher gesetzten Maße seines Bauplanes. Die Macht des Gedankens in der Geschichte wurde in jenem Umriß einer zukünftigen Geschichtslehre, in der „Lehre vom geschichtlichen Werden", ein weiterer tragender Baustein einer positiven Geschichtslehre, der in der Hauptsache eine mittelbare Durchprüfung von Hegels Philosophieren über Geschichte, eine Auseinandersetzung mit dem Werdeprozeß des „absoluten Geistes ist". Für eine Erkenntnislehre der Geschichtswissenschaft wurde damit d e r erste G r u n d g e l e g t . Die Kritik am Werke Hegels, die Aufdeckung der Baufehler in seinem Gedankengebäude, seine künstliche Zweiheitslehre (bei grundsätzlich anerkannter Einheit), die der Menschheitsgeschichte den Trieb der Perfektibilität zuspricht, dem Naturgeschehen nur Kreislauf, stetige Wiederholung zugesteht, die In-Einssetzung von Geist und Geschichte als Setzung im Voraus, die eine Verbegrifflichung der Geschichte wird —, erfolgt nur aus dem der Haltung, der Verantwortung, damit dem Begriffsbau der Geschichte selbst zu dienen. Aber die prüfende Feststellung der Grenzen von Hegels Geschichtsdenken erfolgt mit meisterlichem Verstehen für das geistige Tun eines Großen der Vergangenheit, der die Lebensgeschichte des Geistes mit der Kraft eines Dichters erzählt. Mit Hingabe und Verehrung geschah dies Beginnen, und die unendliche seelische Feinheit seines Verfahrens ordnete Hegels Denkerwerk ein in die Sicht der Zielgedanken einer begrifflichen Lehre vom geschichtlichen Werden. Die Erkenntnis des Werdens, ein Postulat der germanischen Forschung, findet im Schlußband jenes vorbenannten Werkes Kurt
Gegensatz: Stefan George —Kurt
Breysig.
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Breysigs, „Vom geschichtlichen Werden" im „Weg der Menschheit", ihre Ausgipfelung, indem er den Gesamtverlauf in den Entwicklungsreihen, in dem Gefüge des Bahnenverlaufes und des Wegegeflechtes sinnvolle Deutung gibt. Von 1912 bis zum Erscheinen der Geschichte der Seele 1931, von der Abkehr von der werktätigen, schildernden Geschichte bis zur Vorlage dieses Werkes, ist die Arbeit zweier Jahrzehnte der Lehre vom Wesen und den Formen des geschichtlichen Werdens zugewandt. Sein Zusammenhang mit den schöpferischen Gewalten geschichtlichen Werdens wird an dieser Wegkehre 1912 unverhüllt sichtbar: das in Reinheit und lichter Herkunft als Schau empfangene Bild des Werdens wurde Formung von größtem Gewicht. Im Gegensatz zu seinem Generationsgefährten Stefan George, über dessen Werk Kurt Breysig Unvergleichliches um die Jahrhundertwende zum Herrenanspruch neuerer Formenkunst gegenüber einem an der Oberfläche des Wirklichen haftenden Naturalismus verkündet hatte, ging er, der persönlichen Grundkraft seines Wesens gemäß, unerschöpflich in der Wirklichkeit des inneren Lebens, in der Eigenkraft des großen Erstaunens, das allem Schaffen und Schauen Beweger und Erreger ist, jenem Bilde des Werdens nach, das zu einem Wunderbau von Werdensformen und Werdenssichten im Verlaufe von zwei Jahrzehnten erwächst, wie ein Zyklus des Wachsens und Reifens. Fürwahr, ein seltsames Widerspiel: indes Georges Maße mit bedeutungsvollem Anspruch an das Absolute bei Lebzeiten schon im Zirkel der Eingeweihten mythologisierte: Führer, Haupt und Herr außerhalb des Zeitalters, erlebt Kurt Breysig in der Erkenntnis des „Werdens" eine neue Schöpfung im eigenen Innern. Das viel breitere Tor des Werdens hatte Raum für den Eingang mannigfaltiger Kräfte der Wirklichkeit: Werden erwächst ihm aus einer wirklichen Einheit der gestaltenden Kräfte des Geschehens. Das große Müssen, die innere Zwangsläufigkeit aller Ge-
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Von Sendung und Kraft der großen Persönlichkeit
schichte wird seiner Geschichtslehre Ausgang wie Ziel ihres Forschens. Aus machtvollem Einheitssinn, aus der Sehnsucht nach Klarheit und Ordnung, nach Ebenmaß und Harmonie — denn in allem guten Bauen steht doch die sinnvolle Welt —, schuf Kurt Breysig die Geschichte der Seele als eine Lehre vom Wandel der Seelenkräfte. Er erhebt dazu selbst die Frage: „Welche Geschichtserklärung kommt denn überhaupt weiter oder überhaupt nur so weit, wie der hier angestellte Versuch einer Seelengeschichte?" Und er antwortet: Gewiß, in die Gebirgskarte, die hier von der Geschichte des seelischen Verhaltens der Menschheit entworfen worden ist, sind nur die großen Züge, von denen selbst wieder jeder ein Gebirge darstellt, eingezeichnet worden. Wenn nun aber diese Bergzüge, die Entwicklungsalter der Seele, in Beziehung zueinander gesetzt worden sind, und wenn einige Flegelhaftigkeit für diese Beziehungen nachgewiesen werden konnten, so ist damit vielleicht an sich nur sehr wenig zu der Erklärung des Verlaufes der Geschichte beigetragen; aber steht es nicht so, daß das Einzelgeschehen als solches dem gleichen Bemühen noch jeden Widerstand entgegensetzt und im Grunde bis zum heutigen Tage von der Geschichtsforschung nicht irgendwie erklärt werden kann?" 1 3 ).
IV.
Die Förm im Werk: Die Lehre vom Bau der Persönlichkeit als Grundlage einer künftigen Geschichtslehre Alle großen Bewegungen in der Geschichte — vom Stamm, von dem alten Blutsverband an aufwärts, die Besonderheiten menschlichen Geschehens sich als eigene Ent13) Geschichte der Seele, S. 519.
als F ü h r u n g
und
Aufbau.
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faltüng und Verwirklichung formend und wandelnd in der lebendigen Einheit Volk, als Werdensgang eine Einheit dem Blute, dem Raum, der Kultur, der Religion und der Seele nach — wurden von Kurt Breysig 1901 bereits in seinem universalgeschichtlichen Versuch einer europäischen Kulturgeschichte dargetan als Stadien einer sozialen Entwicklung, die eine Auseinandersetzung sind zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen Persönlichkeitsdrang und Qenossenschaftsdrang, die als wirkende Kräfte dem sozialen Geschehen, als polare Gegensätze in lebhafter Wechselwirkung, dem Bilde der Geschichte Farbe und Abwechselung liehen. Kurt Breysig, der um die Jahrhundertwende im Jahre 1899 an dem Grabe Friedrich Nietzsches schöne und starke Worte sprach von Sendung und Kraft der großen Persönlichkeit, die dem Schicksal eines Volkes Führung und Aufbau gibt, nimmt nach einem Vierteljahrhundert, 1925 im „Geschichtlichen Werden", in den „Umrissen einer zukünftigen Geschichtslehre" diese Variante auf und spricht rückschauend von jener Generation um 1900, der Nietzsche die Botschaft von der Übermacht des Einzelnen gebracht hatte, des überstarken Einzelnen: Ihr Geist erhob sich unter dieser Losung, aber ihr Herz schlug mit dem Sozialismus. „Es ging ein Schwert durch unsere Seele", spricht er rückschauend, „Nietzsche schwang es, aber wir litten an ihm und dem Zwiespalt, den er uns brachte." Es bestätigt sich1 an seinem Forscherwerk, daß es immer das Werk des Einzelnen sein wird, der, seiner Zeit voraus, seinem Volke den Weg zeigt, wenn er 1925 zu den Weckrufen Nietzsches anmerkt für künftiges Geschehen: Der Gedanke des Führertums hat Fleisch und Blut angenommen, wächst und wirbt unablässig. Beiden Losungen: hier Kraft des Einzelnen, dort die Gemeinschaft, Sozialismus, geht er als Zielbildern des Lebens mit der ernsten Geneigtheit seines forscherlichen Willens nach. Seine Untersuchungen wollen Bote sein,
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Der
schöpferische
Einzelne
mehr Vorbereitung als Erfüllung, oft mehr Fragestellung als Beantwortung, aber doch ein Vordringen auf einem neuen Wege, bei dem selbst Um- und Irrwege noch denen nützen, die später dieses Weges ziehn. Unter den Trägern der geschichtlichen Bewegung sieht als bewegende und aussendende Kraft Kurt Breysig die Persönlichkeit, den starken, den schöpferischen Einzelnen, gleichviel, wie er die Welt bewegt, ob als Täter, als Schauender, ob als Feldherr, Staatsmann, Volkswirt, ob als Forscher oder Künstler: die Höhe seiner Leistung und sein Leistenkönnen wird mehr als von jedem anderen Ding von der Kraft abhängen, die in ihm, in, aus und hinter seinem Tun tätig ist. Sie wirkt sich außerhalb ihres Trägers aus im Werk. Doppeldeutig ist zunächst das Verhalten der Kraft. Höchst lebendig ist ihr Verhalten: Sie vermag sich über Räume, über Zeiten fortzupflanzen und Meilentausende hier, Jahrtausende dort zu umspannen. Sie vermag dies, weil sie die andere Eigenschaft hat, sich in den Seelen der Anderen, der nächsten, wie der fernsten festzusetzen, in ihnen ein Abbild, das dem Urbild ähnlich ist, zu zeugen, ja selbst in andere Kraft einzugehen, mit ihr zu untrennbarer, ununterscheidbarer Einung sich zu mischen und dergestaltbar neues Gebild zu gebären und wieder neues und immer neues. Ein noch rätselvolleres Geheimnis aber tut sich auf, wenn weiteres Spüren findet, daß Kraft auch dies vermag: sich dem von ihr geschaffenen Ding einzuspeichern, in ihm fortzuleben und weiter aus ihm zu wirken, gleich als ob das Ding sie selbst sei. Und ebenso rätselreich ist das letzte, verborgenste Tun der Kraft, wenn sie von einem Starken ausstrahlend, in die Seele eines Empfänglichen eindringt und dort nicht eigentlich Gebild, noch auch nur eine neue sich merkbar von seinem alten Wesen unterscheidende Kraft erzeugt, sondern leis und heimlich die Gesamtkraft des Anderen umwandelt und so ein Teil seines innersten Besitzes, ja seiner selbst wird, zumeist ihm unbewußt und eben darum
bewegt die Welt.
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um so triebhafter, um so stärker wirkend, bis zu gänzlicher Umgestaltung des Empfangenden nach dem Urbild des Zeugenden, dessen, von dem Kraft ausging" 1 ). Es gleicht dieses Bewirken des Nächsten einem tausendfach versponnenen Netz magischer, tief in das Geheimnis leiblich-seelischer Persönlichkeit eingebetteter Strahlungen von Mensch zu Mensch. „Nur die Meister unter den Wirkenden vermögen die seelisch elektrische Spannung ihres eigenen Ichs dem von ihnen geschaffenen Werk in solchem Maße einzugießen, daß es die empfangenen Strahlen wenig gemindert weiter zu geben vermag. Die Großen aber vermögen durch ihr Werk, sei es Gebild für Menschen, sei es Gefüge, aus Menschen gemacht, vielen Anderen oder sehr Vielen, die Größten aber ganzen Völkern, ganzen Zeitaltern einen Bruchteil ihres eigensten Seins und Wesens einzuhauchen, so wie nur der im Sturm der Wetter heranbrausende Gottvater Michel Angelos dem schlaftrunken erwachenden Adam den Odem und mit ihm einen Teil vom Teil seines Geistes einzublasen vermochte" 2). Unser Ich aber, das schon im Keim unterscheidbar uns Zugehörige und uns Eigentümliche, erhält seinen Stärkeund Machtgrad durch die Urkraft, durch die Kraft der Mitte. Sie bewegt, treibt und stößt und formt uns zur Persönlichkeit durch die Umwelt, auf die sie stößt, die den leiblichen und seelischen Wurzeln unseres Wesens durch ihre Einwirkung Form und Richtung gibt. Wir sind als lebende, fühlende, atmende, handelnde Wesen ohne die Umwelt, deren Bewirken wir mit dem Ausdruck „Wirklichkeit" besonders auszeichnen, nicht vorstellbar. Indem wir die Welt erleben, ist sie in uns als Wirklichkeit. Aber die dem Menschengeist zugängliche Umwelt hat Grenzen, die eng sind im Vergleich zum Ganzen der
2
Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden I, S. 3. ) Ebenda S. 4.
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Wandel der Weltbilder
Welt. Unsere Merkwelt, die Welt unseres Wahrnehmens und Erfahrens, wird begrenzt durch die Beschaffenheit unserer Sinne, und „unser Verstand, der soviel unzuverlässiger arbeitet als etwa unser Leib, versagt, wo die bauenden Schlußfolgerungen der Naturforschung ihm (gewissermaßen durch einen Gewaltakt' Erscheinungen, die außerhalb seiner natürlich gegebenen Umwelt liegen, wie den Äther oder die Elektrizität erschlossen haben" 3 ). Ausgehend von Kants Lehre von der Vorstellunghaftigkeit unseres Weltbildes folgert Kurt Breysig: „Wird nur begriffen, daß die Erkenntnisformen, als deren Erzeugnis er unsere Welt hat erkennen wollen, ebenfalls wie irgendwelche Reizempfänger der niedersten Tiere, unseren Werkzeugen, unserem Bauplan angehören, so ist alles Tun und Verhalten unseres Verstandes ebenfalls der Lebenslehre einverleibt. Er ist damit als Glied in die Kette alles natürlichen Geschehens gestellt. Das Weltbild, das wir uns mit Hilfe dieser Werkzeuge unseres Geistes machen können, unsere Gegenwelt — um mit Uexkülls glücklichem Ausdruck zu reden —, ist sicherlich verglichen mit der Welt selbst begrenzt genug: abhängig von der Auswahl, die Jene unserem Bauplan gemäß allein treffen können" 4 ). Es möchte scheinen, als wäre durch die Benutzung des Begriffes Umwelt, der als Übersetzung von m i 1 i e u einer Geschichtsauffassung als Losung diente, die alles Tun, auch das der Starken und Stärksten als Erzeugnis der Außenwelt erklärte, eben jener Geschichtsauffassung der „Milieugeschichte" zugestimmt. Aber mit dem Begriff „der Milieu-Umwelt" hat Kurt Breysigs Umwelt- und Merkweltbegriff nichts zu schaffen. Die Stufenalter der Menschheit weisen — nach seiner Lehre — sehr verschiedene Formen von Merkweltbildern auf, deren Entwicklungslinie in einer Bilderreihe angedeutet 3
) Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden I, S. 13. *) Ebenda S. 13.
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in den Stufenaltern der Menschheit.
sei: „Um von dem Greifbaren, dem Maß der äußeren Ausdehnung der Gegenwelt, auszugehen: welch einen weiten Weg hat die Vorstellung von der Größe der Erde, von der Zahl, der sie bewohnenden Menschheit durchmessen seit den Kindertagen der Urzeit! In Hunderten von lebenden Urzeitvölkern ist der Ausdruck für Menschen der gleiche wie der, den sie sich selbst als Namen beilegen, und ein Raum von fünfzig oder hundert Geviertmeilen gilt ihnen als die Welt. Langsam weiten sich die Reiche, dehnen sich die Eroberungszüge der Könige und mit ihnen die Bilder, die sich die Völker von der Welt machen — denn es ist nicht der Trieb nach Schauen, nach Erkenntnis, der die Grenzen der Umwelt hinausrückt, sondern der heiße Drang nach Tat und Macht. Und wieder dauert es lange, bis der Ehrgeiz der Könige so weit geht, daß er die angenommene Gesamtheit der bewohnten Welt umfassen will. Die Pharaonen hatten ihn noch nicht, die assyrischen Herrscher griffen stärker um sich, aber erst die Großkönige der Perser träumten von Weltherrschaft. Die späteren Staffeln der Ausweitung des Weltbildes über die Ellipse hinaus, die noch den späten Griechen als die Erde galt, zum Ganzen unserer Sternenkugel, dann über sie hinaus zum Sonnensystem, zu dem Sternhaufen des Milchstraßengebäudes und endlich bis zu den Sternnebeln, den als fernste Sternhaufen, als immer neue Milchstraßengebäude vorgestellten Weltentausenden, sind bekannt genug" 5 ). Eine gleichläufig begleitende Linie ist die staffelreiche Abwandlung der Vorstellungen der Völker vom Ort der Toten: das Jenseits — jenseits des großen Flusses, selige Inseln — bei Meervölkern, der Himmel als das Reich der Toten in gleichzeitiger Auffassung von einem Totenreich unter der Erde — bis zu der heutigen, ganz unörtlichen Vorstellung eines Irgendwo im Weltenraüm. Aus der Merkwelt des Schauens wenden wir unsere Sicht in das Reich 5
) Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden I, S. 15.
U e r i n g , Das Werden als Geschichte
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D i e Kraft der Handelnden —
der Tat: wie mfehrt sich in den Stufen der Menschheitsgeschichte die Herrschgewalt des einzelnen Menschen, gemessen an den Räumen der von ihr beherrschten Reiche, von dem Häuptling einer Siedlerschaft, zu den Dorfkönigtümern der afrikanischen Neger, zu den Großkönigtümern der Pharaonen und über sie hinaus zu den Weltreichen der Perser, Mazedonier, Römer und Briten! Gewiß erleben wir bei dem Einzelnen Wachstum und Ausformung der Kraft, die aus den Besonderheiten der Zeit, des Volkes, der Klasse und der Familie, in die der Einzelne hineingeboren wird, ihre Artung und Gestaltung erfährt. Keinesfalls aber ist damit gemeint, daß jene Kraft der Mitte in Abhängigkeit von der Umwelt zu denken ist. Sie ist in ihrem Grundbestand für selbständig anzusprechen. Sie beruht auf dem glückhaften Zusammenkommen günstiger Voraussetzungen des körperlich-seelischen Grundvermögens: seien sie nun Erbe des Blutes dieses oder dieses Ahnen, oder eben jetzt, eben hier, in diesem Einen aufspringende Besonderheit der Anlage 6 ), an der sich das Werk der Persönlichkeitsausbildung, der Kräfteausformung vollzieht. Alles Sein ist tot, und alles Werden ist Leben, Kraft, die in dem Gewordenen, in der Tat sichtbar wurde, bleibt nicht in dem Hervorgebrachten stehen, sondern verwandelt sich von neuem in Wirken, also in Werden. Zeugnis von diesem Wirken abzulegen, wetteifern Leben und Geschichte. Menschliche Größe in der Gestalt ihrer Träger wirkt Ehrfurcht in unseren Herzen, mag auch die Zeit in gleichmacherischem Wahn davon wenig wissen mögen. Das Werk aber, das aus der Kraft des Meisters erfließt, strahlt jene Kraft aus, die ihm von der schöpferischen Meisterhand einverleibt wurde. „Leben setzt sich in Leben um, und Kraft wirkt neue Kraft. Ein Werk der Kunst — wie auch der Forschung — wird sich immer zu einem 6
) Ebenda S . 2 2 .
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— die Großen der Tat.
Teil, kann sich ganz in Genuß umsetzen: das heißt, das Leben entzündet wohl Leben, neues flammendes Leben, aber die Kraft wird hier nur empfangen" 7 ). Die Kraft aber, „die aus dem Werke strahlt, hat vor allem Macht, die neue Kraft, auf die sie im anderen, als eine schon bereite, trifft, zu bewegen, zu richten, hierhin und hierin zu lenken, insofern sie sie zwingt, ihr nachzueifern. Und die neue Kraft ahmt der alten nach, indem sie einen Teil ihrer Leistung und damit ihres Leistens wiederholt, es steigernd, es verringernd, es abwandelnd oder nur erneuernd, je nach Vermögen" 8 ). „Die Werke, in denen sich die Kraft der Handelnden aufspeichert, aus denen sie fortzustrahlen vermag, weisen vielfach andere Formen, aber im Grunde kein anderes Wesen auf. Die Gesetze der Könige wie die der Glaubensformer, die ihnen beizugesellen sind, wollen viel deutlicher noch, viel ausgesprochener wirken, was die Werke der Geistigen viel verschwiegener müssen. Sie fordern sehr laut von denen, denen sie sich auferlegen, Nachfolge, und das ist nichts anderes als Fortleitung der von ihnen ausstrahlenden Kraft 9 ). Von Mensch zu Mensch fliegt der Funke der Kraft, mehrt sich, wandelt sich zu Neuem in dem Ich, das der Empfänger ihres Strahles wurde. Die aus dem schaffenden Ich strahlende Kraft gibt durch die Stärke ihrer Wirkung Zeugnis von dem Maß ihrer Stärke. Am Beispiel eines Großen der Tat, an Alexander, erläutert Kurt Breysig, wie sich die Kraft als Träger einer geschichtlichen Entwicklung auswirkt: „der eine Herrscher, der in seinen Händen soviel Macht versammelte, der sein Szepter über so weite Reiche schwang, wie nie zuvor im Abendland erhört gewesen war, fühlt sich den Göttern so nahe gehoben, daß er es wagt, sich zum Gott zu erklären. Und nur aus seiner Kraft 7
) Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden, S.38. ) Ebenda S.42. 9 ) Ebenda S. 42. 8
6*
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Die Schöpferischen
des
Geistes:
wuchs in seinen Folgern von neuem dieses übermenschliche Hinausrecken der Königsgetalt zu den Himmlischen h i n " 1 0 ) . So mächtig aber war die Gewalt und das Vorbild dieses Herrschers, daß ganze Reihen von Königen in den Teilstaaten drei Jahrhunderte lang ihre Throne aufrecht erhielten nach dem Vorbilde dieses Einen, der als erster unter den Westlandherrschern die Selbstvergottung wagte. D a s Werk Alexanders bietet Kurt Breysig Anlaß gegen jene einseitige Auffassung, die nur in den großen Gesamtbewegungen, in den Massenerscheinungen der Geschichte den Werdegang mächtig sehen wollen, zu erwidern, daß den schöpferischen Großen viele Einwirkungen seines — richtiger des voraufgehenden — Zeitalters treffen, aber im Kern seiner Gestalt und seiner Tat ist er der Schöpfer des Neuen: der Imperator schafft den Imperialismus, nicht aber der Imperialismus den Imperator. Diesem Großen im Staat, dem zeitlich Ersten vor Cäsar und Napoleon, stellt Breysig einen anderen Schöpferischen zur Seite einen Schöpfer des Geistes, nach Gestalt und Wirken der unstreitig der Gottheit nächste unter allen Bildnern: Michel Angelo, näher noch als Shakespeare und Dante und Goethe. Die Linie der Nachwirkung seines Tuns ist die längste, zweigereichste, von der die Geschichte der bildenden Kunst weiß: Michel Angelo steht als Beginner eines Zeitalters nicht an seiner Schwelle selbst, nicht auch an dem Ausgang des voraufgegangenen entgegengesetzten nur, sondern auf dessen Gipfel. Er ist mit gewisser B e dingnis der Gipfel der Renaissance neben Leonardo und dem Meister der Cancellaria, höher noch als Bramante und Raffael. Denn wo diese zwei die Reine, das Ebenmaß königlicher Verteilung der Linien, Flächen, Körper im Raum, jedoch mit Verzicht auf die drängende Fülle seelischer Bewegungen schufen, da goß er die Gewalt der höchsten Träume, die j e das Gehirn eines bildenden Künst10
) E b e n d a S. 52.
Michel Angelo, Shakespeare, Dante und Goethe.
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lers segneten, noch in die gebändigte Form. Und da dieser Riese alles Irdische, Geist und Seele darin eingeschlossen, durch eine übergewaltige Leiblichkeit auszudrücken liebt, da er auch die höchste Weisheit, die tiefste Weisheit in der ungebrochenen Einheit ihres körperhaften Spiegelbildes zu verleiblichen pflegt, so wird er nur in einem Stück von einem Meister dieser Zeit übertroffen: in den letzten Geheimnissen zerfaserter und zerteilter Seelenzusammengesetztheit, die Leonardo um die Mundwinkel der Mona Lisa und in die strengen Züge seines Jesus Christus zu gießen vermochte. So ist er der Vollender der Stilkunst dieses Zeitalters, ihrem Idol, der Antike, minder Untertan von Anbeginn, als irgend einer ihrer Führer. Aber zugleich ist er ihr Zerbrecher: denn als der gewaltige Rebell des germanischen Geistes wider die Antike, zerriß er das höchste Gesetz dieses Zeitalters, das der ruhevoll gehaltenen Ebenmäßigkeit, das sich in dem Sonderfall der Symmetrie am deutlichsten ausdrückt. Er läßt schon die höchsten Handlungen, aber auch so viele der Nebengestalten seines Kapellendaches in der höchsten Leidenschaft der Bewegung und zugleich in immer neuen Asymmetrien sich verkörpern. Wohin man schaut, von dem Gottvater, der im Sturm der Lüfte einherfährt und durch die herrscherische Gebärde seines Armes, seiner Hand Welten entstehen läßt, von diesem Gottvater, der die höchste Vorstellung der Gottheit ist, die sich je einem Sterblichen vom All-Einen enthüllt hat, bis zu den Jünglingen, die wie das leidenschaftlich zuckende Leben selbst auf den Konsolen zwischen den Szenen der Mittelreihe sitzen — immer der gleiche Grundzug der heftigsten, alles Gesetz des Ebenmaßes, der Gleichgemessenheit, der Ruhe und der feierlichen Stille durchbrechenden Gewalt. D. h. das Gesetz der Antike — so wie man damals, ohne des Skopas, ja nicht einmal des Praxiteles Züge, geschweige dehn die Art des Lysippos und der neubarocken Pergamener in das Gesamtbild zu tragen, Antike sah — und das Gesetz vor allem der zweiten
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Michel Angelo, Raffael und der Barock.
Antike, der Renaissance selbst wurde durch diese stürmisch-wilde, schnaubende Leidenschaft zerbrochen" 11 ). Die Folge aller dieser Taten im Geist, die als flammende, lodernde Auswürfe aus diesem Vulkan in Menschengestalt brachen, haben zwei Jahrhunderte europäischer Kunst überschattet. Was Barock heißt, ist im Urkern nicht der Stil einer Zeit, sondern der dieses einen gewaltigen Menschen. Die stärkste Wirkung war die auf die Genossen seiner Zeit und auf ihr Wirken. Raffael, in dessen Wesen und bisherigem Schaffen das Gegenteil all der dämonischen Leidenschaft des Größeren neben ihm mächtig gewesen war, ist von einer bestimmten Stelle seiner Entwicklung ab ein Umgewandelter: schon vor 1514 kündigen die vier Bilder des Heliodorzimmers fast gleichmäßig die Wendung an, im Burgbrand, in der Familie des Louvre, in der Kreuztragung des Prado, in der Transfiguration des Vatikan erscheint sie, sich immer noch steigernd, vollzogen: Leidenschaft der Bewegung, der Gebärde, der Handlung, Durchbrechung des Gleich- und Ebenmaßes der Raumverteilung halten ihren Einzug in die Sälereihen der schönen Feiern und der höfisch stillen Festlichkeit, die Raffael erbaut hatte. Die Kraft der Zentralsonne des Zeitalters zeigt sich in nichts stärker als darin, daß sie vermochte, dieses hohe Gestirn aus seiner Bahn, die es bisher so still gezogen war, zu zwingen und in die seine hineinzureißen. Wie hätte wohl ein Raffael, der so fortgeschritten wäre, um 1563 geschaffen!" 1 2 ). So stark war die von Michel Angelo ausgehende Kraft, daß über den Barock hinaus noch der höchste Meister des deutschen Rokoko, Balthasar Neumann, in seinen stärksten Werken, vornehmlich in Vierzehnheiligen, wie ein echter Enkel Michel Angelos anzuschauen ist: in seinem Geist löst er alles Innere der Kirche in Schwung und Schweiu
) Kurt Breys ig, Vom geschichtlichen Werden I, S. 55/56. ) Vom geschichtlichen Werden I, 55—57.
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Kollektivismus
und
der
schöpferische
Einzelne.
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fung, in Vor- und Rückwärtsschreiten der Mauern auf, während die Außenwände in schön erzwungenem Schein die gerade Ebene und den rechten Winkel aufrecht erhalten « ) . Erst in der neuen Antike des Klassizismus scheint dieser hohe Einfluß Michel Angelos zum Stillstand gekommen. Was in Überschau der Leistung des Einzelnen, Schöpferischen fast zur Sache, zur Übergewalt eines mächtigen Geistdinges wird, setzt sich bei den radikalen Kollektivisten in die Eingliederung, in die Übermacht der Vielen der Masse um, indem sie beweisführen: daß — freilich mit einigem Unterschiede — schließlich alle ungefähr gleich beteiligt sind an dem Werk, das durch die „ S t r ö m u n g " zustandekommt, daß der Mann wenig, die Masse alles sei. Als ob ein „-Ismus" eine neue große Bewegung hervorrufe, der zudem seine Begründung im Wirtschaftlichen finden müsse! Selbst Karl Lamprechts ökonomischer Materialismus konnte noch so „argumentieren", z. B. daß die neue deutsche Liedkunst des deutschen Mittelalters von der Oeldwirtschaft erzeugt wäre —, während doch in Wahrheit sie durch die Kraft des einen Walther von der Vogelweide und einiger weniger Weggenossen ins Leben trat, wobei die Bewirkung durch die hohen Vorbilder der Troubadoure nicht übersehn sein soll. Wozu ist es notwendig, daß in allen Schattierungen eines auf Massenerscheinungen eingestellten Kollektivismus dem wirkenden, schöpferischen Menschen eine verächtliche Abseitsstellung zugeteilt wird und im Gespinst von Massenzuständen die Kraft zersponnen oder ganz verschwunden gelten muß? Welche Mißachtung, welches Verkennen des wirklichen In- und Gegeneinanderwirkens von Einzelnem und Gemeinschaft, Schöpfertum und Nachahmung, bei dem doch Gemeinschaft und Nachahmung das starke BalEbenda S. 58.
88
Die schauende und bildende Kraft großer Zielsetzer
ken- und Rahmenwerk abgeben müssen für jedes Schaffen des Einzelnen! Oder gilt die fortschreitende Versachlichung der Kraft so gering, wenn sie als Bewegung von den Händen der einzelnen Schöpferischen in die der nachahmenden Masse übergeht? Der Traum von der Beherrschung der Luft und seine gewaltige Erfüllung in unseren Tagen möchte ich als Beispiel der Veranschaulichung des von Kurt Breysig gemeinten Verhältnisses zwischen dem schöpferischen Einzelnen und der von ihm und mit ihm empfangenden Gemeinschaft geben. Seit Dadalus und Ikarus in der griechischen Sage den Flug in die Luft mit künstlich bereiteten Flügeln wagten, berichtet die Geschichte von einsamen Menschen, die dem kühnen Traum, sich über die Erde hinaus in die Lüfte zu erheben, Wirklichkeit leihen wollten. Archytas, ein griechischer Philosoph und Zeitgenosse des Piaton, soll 400 vor Chr. eine künstliche Taube mit Luft gefüllt zum Aufsteigen gebracht haben. Rogerius Bacon schrieb 1250 in seinem Buche von künstlichen und wunderbaren Instrumenten von einer Maschine, in deren Mitte ein Mensch sitzt und sie mit Verstand regiert und mit künstlich bewegten Flügeln die Luft zerteilt nach Art eines fliegenden Vogels. Alle Künste der Zauberei sollten hinter diesem „Werke der Natur und Kunst" zurückstehn. Lauretus Lauro (1610—1658) erzählte von Säcken aus Leder, die infolge der durch Wärme verdünnten Luft zum Aufsteigen gebracht würden. Cyrano de Bergerac, sein Zeitgenosse, erzählte in seinem Mondroman, wie er durch mit Tau gefüllten Flaschen, die von der großen Glut der Sonne angezogen würden, gen Himmel flog. Seit dann Leonardo da Vinci in seiner Schrift vom Vogelflug eine Flugmaschine zeichnete und eine Luftschraube und die erste Zeichnung eines Fallschirmes entwarf, ruhte nie mehr das schöpferische Mühen Einzelner, die Luft zu bezwingen. Fauste Veranzio ließ sich als Erster vom Turm in Venedig (1551—1617) im Fallschirm herunter. Als 1783 die Ge-
und die Vollendung des Werkes.
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brüder Montgolfier ihren ersten Versuch mit dem Heißluftballon unternahmen, wirkte sein geheimnisvoller Transport zum Marsfelde, der von einer Kompagnie Infanterie und Kavallerie begleitet wurde, so feierlich, daß vorübergehende Menschen davor wie vor einer Prozession den Hut abnahmen. Ein Schrecken aber befiel die ehrsamen Handwerker des Dorfes Gonesse. Als die schwebende Kugel sich immer mehr zur Erde senkte gleich einem riesigen Vogel, holten die einfältigen Menschen Forken und Flegel, um dem Ballon den Garaus zu machen. Sie banden ihn an den Schweif eines Pferdes und schleiften ihn über die Felder, bis er in Stücke zerfetzt war. Der französische Physiker Pilätre de Rozier verunglückte 1785 bei Boulogne bei dem Versuch, den Kanal zu überfliegen. Goethe schreibt an Frau von Stein 1784 von einem Ballon auf Montgolfiersche Art, den sie in Weimar steigen ließen, der eine Viertelstunde Weges in 4 Minuten zurücklegte. Vom Schneider zu Ulm, der 1811 von der Stadtmauer aus am Donauufer den Versuch des Fliegens unternahm und dabei in die Donau fiel, ruhte nie mehr das Ringen um dies hohe Ziel, und immer weiter ging der schöpferische Weg der Bewältigung und Verwirklichung. Der Maler Arnold Böcklin entwarf 1853 einen Gleitflieger, mit dem er auf dem campo caldo bei Florenz einen Flugversuch unternehmen wollte. Der Apparat wurde von einer Bö erfaßt und vernichtet. Aber weiter stellte er Versuche und Berechnungen an, und 1894 kam Böcklin mit Otto Lilienthal zusammen und war Zeuge bei dessen Flugversuchen. Der alte Traum wurde Wahrheit: der Mensch konnte fliegen! Otto Lilientals erster Schwingenflieger mit eingebautem Motor wies seinen Folgern den Weg. Und der Weg um die endgültige und restlose Beherrschung des Luftraumes ist die Geschichte von der heldischen Größe menschlichen Wollens und Eiferns. Werkzeugkunst — auch darin bewähren sich die Kräfte der Schöpferischen — der Erfinder — wird Helferin der schauenden und bildenden Kraft großer Ziel-
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Sinn der G e m e i n s c h a f t
ruht
setzer f ü r die Vollendung eines Werkes, das Gewalt über die Wirkenden gewinnt zu immer neuer Heraussteigerung von Leistung und Fähigkeit. Die Kraft, die bei den starken, den schöpferischen Einzelnen f ü r Gestalt, Tat und Gebild den A u s g a n g hat und die Entwicklung, das Wachstum der Menschheit in Beweg u n g hält, ist u n t r e n n b a r verbunden mit außerpersönlichen Quellen der geschichtlichen Bewegung. Die Blutsgemeinschaften der Völker, Rassen, Stämme und Familien sind die Voraussetzung, o h n e die auch die stärksten Einzelmenschen in ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und Wirkensformen nicht vorstellbar sind: ein Cäsar nicht a n d e r s denn als Römer, ein Michel Angelo n u r als Italiener, Shakespeare n u r als Engländer und Goethe n u r als Deutscher. Rasse u n d Volk, Stamm und Familie sind N ä h r boden und W a c h s t u m s b e d i n g u n g für den Einzelnen. Aus dem Blutkörper des Volkes empfängt die Kraft, mehr noch die Kraftrichtung des Einzelnen N a h r u n g und Säfte. Volkstum reicht hinein bis in die letzten und feinsten Ausfaserungen des geistig-seelischen Gesamt-Ichs, und wer verm a g zu sagen, w o in Meister Eckhart oder bei Goethe d a s Deutsche a u f h ö r t ? Im Gesamtgeschehen eines Volkes, durch Überlieferung gefestigt, durch fest umgrenzte Gemeinschaften gehalten, kann von wirklichem Gesamthandeln gesprochen werden, und weite Bereiche des Handelns, auch des Schauens d e r Menschen, lassen die Urheberschaft des Einzelnen zurücktreten hinter einer überschattenden Sach- und Gemeinschaftshülle. Ja, die Übermacht eines Sach- und Gemeinschaftszweckes f ü h r t zur Selbstauslöschung des Einzelwirkens. Es entspricht dem genossenschaftlichen Geist, dem G e m e i n s c h a f t s d r a n g d e r großen Einungen, daß sich der Einzelne ganz a n die Gemeinschaft hingebe, und w o auch immer — ob bei Behörden, bei Truppenteilen der Heere, in Ständen, in Wirtschaftsgenossenschaften, in Zünften oder in gelehrten Körperschaften oder Künstler-
im Gesamtgeschehen eines Vtilkes.
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Verbindungen verkörpert, immer wirkt die Gemeinschaft darauf hin, daß die Werkleistung und das schöpferische T u n des Einzelnen mehr oder weniger verschwindet zum höheren R u h m e ihrer selbst, der Gemeinschaft. Das Aufkommen des Nationalgedankens seit etwa hundert Jahren zeigt die Überlegenheit des Begriffes Volk als Staats- und Gesellschaftsgesinnung, die in den großen Entscheidungen — z. B. der Kriege — von ihren Gliedern die Aufopferung, die D a h i n g a b e des Lebens fordert ohne jede Bedenken. So wächst G r ö ß e und Macht des Volkstumes und des völkischen Staates über den Einzelnen hinaus und zwingt sein Leisten und Schaffen in die H a l t u n g einer geschichtlichen Gemeinschaft. Unter „ G e m e i n s c h a f t " in diesen Ausführungen wird im Sinne der Gesellschaftslehre eine Anzahl von Menschen verstanden, die sich in Hinsicht auf eine oder mehrere oder alle Lebensbetätigungen zu vorübergehend oder d a u ernd gleicher A u s ü b u n g bestimmter Handlungsweisen verbunden haben. Der innerste Sinn der Gemeinschaft ist der geschichtlichen Entstehung nach in dem Urtrieb d e r Hingabe des Einzelnen an Andere zu suchen und in dem Bedürfnis des Einzelmenschen, Schutz und Verstärkung seiner als f ü r sich allein zu schwach befundenen Kraft zu finden im Anschluß an Andere. Von der schweifenden H o r d e bis zu den Gemeinwesen hochentwickelter Staatsgesittung vollzog sich folgerichtig in allen vom Gemeinschaftsdrang und von Genossenschaftsbildung beherrschten Entwicklungsabschnitten der V o r g a n g der Eingliederung der Einzelmenschen d u r c h Ausgleichung der Tätigkeiten und Fähigkeiten. Der Ausgleichung ging die Einübung einer Tätigkeit voran, die n u r durch aufgenötigte N a c h a h m u n g möglich wurde. Damit erwuchs die Sicherstellung d a u e r n d e r H a n d l u n g s weisen durch Übereinkunft. So folgert Kurt Breysig: „Ist N a c h a h m u n g , Angleichung die Losung und d a s Mittel d e r 14
) Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden I, S. 187.
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Der Wert der Persönlichkeit
Gemeinschaft, den eigenen Gesamtwillen, die Übereinkunft in dem Querschnitt jeder Gegenwart durchzusetzen, so muß N a c h a h m u n g wiederum in den H ä n d e n d e r Gemeinschaft sich ebenfalls in dem Längsschnitt der aufeinanderfolgenden Zeiten und Generationen übertragen und d a n n Überlieferung, Überlieferungstreue, Uberlieferungsstarre werden"15). Durch die Aufrechterhaltung der einmal durch Übereinkunft angenommenen und geübten Handlungsweisen und Persönlichkeitsformen ergibt sich in der Gemeinschaft die erhaltende und bewahrende H a l t u n g dem eigenen Erbe an Einrichtungs-, Tat-, Denk- und Kunstweisen gegenüber. „Alle die große weite Fülle der Übereinkünfte in Sitte und Glauben, in bildender und redender Kunst, in Tanz und Fest, in Technik und Wirtschaft, ganz ebenso wie in Staat und Recht, ist damals entsprungen, ist aus H a n d und Willen der Gemeinschaft erflossen. Denn allen diesen Formen menschlichen T u n s hat die Gemeinschaft ihren Stempel aufgeprägt, zu unverkennbar sind dessen Spuren; jede Übereinkunft kann sich n u r vollends befestigen, wenn sie zu der E i n ü b u n g bei den gleichzeitig lebenden Genossen einer Gemeinschaft noch die zähe Festhaltung nach d e m Ableben dieses ersten auch durch die nachfolgenden Geschlechter fügt, wenn sie Überlieferung w i r d " 1 6 ) . In Auseinandersetzung mit d e r M a s s e n h a n d l u n g und Massenbewegung, mit der Massengeschichtsanschauung von Karl Marx weist Kurt Breysig darauf hin, daß U n t e r suchungen von Karl Marx an sich gar nicht „geschichtlich anzusprechen sind im Sinne einer Lehre vom geschichtlichen Werden, sondern Volkswirtschaftslehre sind, recht eigentlich n u r die Lehre von der Bildung u n d den Wirkensformen des Kapitals. U n t e r der Vorherrschaft wirtschaftlichen Geschehens steht seine A n s c h a u u n g von der Gesell15) Ebenda S. 204, 205. 16 ) Kurt Breysig, Vom geschichtl. Werden I, S. 207.
und die Gemeinschaft.
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schaft, die ihm — Karl Marx — eine Gefüge von übereinander gelagerten, d. h. von einander getragenen, also von einander abhängigen Geschehenschichten sind. Die unterste dieser Schichten ist (durch die Gegegebenenheiten der Natur bedingt) die Summe der Produktivkräfte der Menschen, die sich in der „Arbeit" dieser Gegebenheiten bemächtigte. Ihr Spiel trägt und bringt alles Geschehen der Menschheit hervor, nicht allein der Wirtschaft, sondern des Gesamtlebens der Menschheit. Darüber breitet sich als zweite Schicht nach Karl Marx die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse aus, die als die ökonomische Struktur der Gesellschaft bezeichnet wird. Auf ihr aber erhebt sich der juristische und politische Überbau, alle Rechtsund Staatsordnung und damit auch der geistige Lebensprozeß der Menschheit. Wenn nach Karl Marx in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse eingehen, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktionskräfte entsprechen — so wird als die oberste bewegende Kraft aller Geschichte ein innerer Zwang ihres Verlaufes eingesetzt, dem gegenüber ,,im Grunde die Gemeinschaften ebenso wenig wie die führenden Einzelmenschen die Rolle der eigentlich Handelnden, der wahren Beweger in der Geschichte innehaben" 17 ). Marx sieht den Wert der Persönlichkeit für die Gesellschaft überhaupt n i c h t , und man könnte ihn als Verkünder der Sache gegen das Recht des Menschen, des schaffenden Menschen, als Apersonalisten angreifen. Im Grundgefüge von Marx' Lehre, die sich als eine Auflösung der Begriffe wie der Wirklichkeiten Kapital und Grundeigentum, Kapitalsbildung und Kapitalsumlauf, Ware und Wert in ihre Grundbestandteile darstellt, wird nur in einer Schicht einer Einwirkung des Menschen, in der des ab17
) Ebenda I, 260.
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Die
schaffende
Kraft
des
Führer-Einzelnen
hängigen Arbeiters, gedacht. „Die Einbildungskraft, den Verstand und den Wagemut des Unternehmers kennt diese Scheidekunst einer neuen Wirtschaftslehre so wenig, daß sie sie unter die Werte schaffenden Quellen des Kapitals nicht einreiht, ja, daß sie ihrer überhaupt nicht gedenkt" 1 8 ). „Als Schaffender, Führender, Planender, Vordenkender, Lenkender ist der Unternehmer nicht da, als Träger des heißhungrigsten, nie zu stillenden Erwerbsdurstes, zugleich auch als fauler, lediglich fremde Arbeitskraft ausbeutender, selbst aber müßiger Rentenempfänger, begegnet er dem Leser von Marx' Kapital auf jeder Seite" 1 9 ). „Man erwäge einmal, wie trübe und grau das Bild von allem Tun und Treiben des Menschen ist, das die Marxistische Lehre überhaupt entwirft. Denn daß sie die schaffende Kraft des Führer-Einzelnen aus dem Leben, daß sie damit den Frühling aus dem J a h r nimmt, das ist j a nicht das einzige, womit sie alle Lust am heutigen Menschentum ertöten will; ebenso furchtbar ist, daß sie auch auf Seiten der Geführten — wie Marx meint, der Unterdrückten — nichts anderes sieht als Elend. Das köstlichste Gut, das uns Kindern des Erdengeschlechtes geschenkt ist, die Arbeit, kennt sie als Segen überhaupt nicht; die Menschen der Gegenwart zerfallen in z w e i G r u p p e n : die einen, die Wenigen — die Grundeigentümer und die Kapitalisten —, vorwärtsgepeitscht von unstillbarer Gewinnsucht, nur bedacht darauf, die Millionen der Niederen auszubeuten, diese selbst aber daherkeuchend unter dem Joch unerträglichen Druckes, ohne einen Hauch von dem Atemzug des Triebes, der doch uns Menschen am tiefsten bewegt und am reichsten beglückt, die des Triebes zu wirken und zu schaffen. Und damit nicht genug, alle anderen guten Geister unseres Sternes sind aus diesem Weltbild ver18)
Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden I, 262. Ebenda I, 263. 20) Ebenda I, 265. 19)
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und das Schicksal seines Volkes.
trieben oder werden entwertet: denn alle Rechts-, alle Staatsbildung gilt ja nur als Hervorbringung der zugrundeliegenden Wirtschaftsverhältnisse, und wenn von den Gebilden des Geistes abgezogen wird, was an ihnen nur Ausdruck der gleichen Produktionsbedingungen ,in religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen' 2 1 ) ist, so mag wenig genug übrig bleiben, was noch das Leben lebenswert macht. Hat doch die Bourgeoisie ,den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt'" 22 ). Aus besonderer Höhe der Verantwortung und mit tief bewegter Eindringlichkeit aber stellt sich der um das Schicksal seines Volkes ringende Forscher Kurt Breysig, wenn er den Selbstwiderspruch der Geschichtslehre von Karl Marx mit neuerndem, aufbaulichem Denken und entschiedenem Scharfsinn durchleuchtet und mit freiem klarem Blick und aus ungewöhnlicher Kraft also kündet: „es bleibt bestehen, daß Karl Marx, dieser Mann der Schärfe, des scharfen Schließens und des scharfen Hassens, vielen Millionen von Handarbeitern unserer Völkergesellschaft die Vorstellung aufgeredet hat, als sei Geist und Führertum in der wirtschaftlichen Arbeit nichts, die Handarbeit der Geführten und wahrlich in jedem Schritt der Führung Bedürftigen alles: eine Umstülpung der Wahrheit, die für die Wissenschaft, die Beobachtung des Lebens eine verhängnisvolle Irreführung, für das Leben selbst aber eine Gefahr heraufbeschworen hat, die tausendmal furchtbarer ist: daß einer überaus mächtigen staatlichen Massen- und Parteibewegung schon heute das heiligste, ja man darf sagen, das einzige Gut der Menschheit in seinem Wert verdunkelt ist: die schöpferische Kraft, die 21
) Vorwort von Marx zur politischen Ökonomie S. LV. 22 ) Das kommunistische Manifest (1.847, 1917), 28.
(1859,
1909),
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Das geschichtliche Recht der Gemeinschaft
allein das Leben auf diesem Stern lebenswert macht. Denn die Sicherstellung der Vielen und schließlich aller, die Marx als das einzige Ziel der von ihm entdeckten Gesellschaftsentwicklung aufgestellt hat, ist im Grunde ebenso utilitarisch, ja noch utilitarischer als das Jagen nach Besitz und immer mehr Besitz, das Marx den Wenigen, den Besitzenden vorwirft. Jede noch so mangelhafte kapitalistische Gesellschaftsordnung würde vor einem durchgeführten sozialistisch-marxistischen Zustand immer den einen Vorzug haben, daß sie offensichtlich und nach der Bewährung von Jahrtausenden das Führeramt des Einzelnen und damit das Wirken der Kraft, der Quelle alles Schaffens, unangetastet läßt, ja unzweifelhaft fördert. Mit anderen Worten: für das Heil der zu Unrecht Bedrängten einzutreten, ist an sich recht und gut. Aber das Ziel ist zuletzt, an der höchsten Bestimmung unseres Geschlechtes gemessen, nur ein momentanes, subalternes, eine Utilität. Wird aber das Adelsrecht des starken Einzelnen in Frage gestellt, so wird damit die letzte, die tiefste Triebfeder alles Menschengeschehens gelähmt, dasjenige Schöpfertum, das an den Einzelnen gebunden ist, d. h. die Kraft, auf deren stete Gespanntheit alles ankommt — nicht aus Gründen irgend einer anthropozentrischen Sittlichkeit, sondern weil diese Kraft die Weltkraft in uns ist. Sie zu erhalten, zu fördern, zu steigern, heißt das Gebot des Lebens an uns erfüllen. Sie zu hüten, zu mehren, ist unsere einzige Sendung. Dies Amt recht zu versehen, gibt uns allein das Recht, uns — was doch Marx' innerste Meinung auch war — als höchste und feinste Blüte des Weltgeschehens anzusehen" 23 ). Denn so sieht Kurt Breysig aus der höheren Einheit, aus dem Lebensprinzip heraus des geschichtliche Recht der Gemeinschaft; er sieht in der Geschichte nicht nur Bewegung. Geschichte ist ihm Leben, das sich und sich allein 2S
) Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden I, 269 u. 270.
im Werdensgang des
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Geschehens.
leben will und deshalb beständig trachtet, seine Gestalt zu bewahren. „Geschichte schreitet tatsächlich vorwärts in einer Diagonale der Kräfte: Bewegung, ausgehend von den Einzelnen, den Bewegern und Erregern, wird immer nur die eine der Seiten des zu ihr gehörigen Parallélogrammes der beiden hier tätigen Kräfte sein; die andere aber ist die Liebe jeder erreichten, jeder wirklich gewordenen Form des Lebens zu sich selbst. Und diese Liebe, diesen freudig, gesättigt, stolz in sich, zu sich selbst zurückbezogenen Lebensdrang zu haben, zu vertreten, ist Sache der Gemeinschaft" 2 i ). Alles handelnde Leben, bemerkt Kurt Breysig in Abwägung der Spannungen zwischen den Kräften des Einzelnen und der Gemeinschaft, alle Geschichte des handelnden Lebens, d. i. alle Veränderung, vollzieht sich im Widerstreit zwischen den Führenden und dem Ganzen oder den Teilen der Gemeinschaft, ist ein ewiges Ringen um dieses Verhältnis. Aber so gewaltig der Widerstand der Gemeinschaft gegen den Einzelnen ist, es erwächst doch aus diesem Ringen eine Läuterung des Geschehens im Sinne der höchsten Lebensreinheit, die Schaffung von Bürgschaften für die Beständigkeit und das Gleichgewicht der neuen Wirtschaftsordnungen. Das wird durchaus keine Schwächung, sondern eine Verstärkung der Sache des Einzelnen, seines Planens, seines Wirkens, seines Werkes selbst sein. Vielmehr trägt es im stärkeren Sinne bejahend, nicht verneinend, zum Aufbau zuerst der immer neu werdenden Gesellschaft, demnächst der Geschichte, d . h . der Abfolge dieser Werdensvorgänge bei: „Gesellschaft wie Geschichte erhalten durch dies reinigende, siebende, auslesende Wirken der Gemeinschaft erst Standhaftigkeit und Beständigkeit" 26 ). 24
) Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden I, 272, 273. ) Ebenda I, 292. 26 ) Ebenda I, 299. aä
Hering, Das Werden als Gesohiohte
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D i e Einheit alles Geschehens.
Besteht ein innerer Gegensatz zwischen der Entwicklung und dem großen Schaffenden? Die Annahme wäre irrig; denn die schöpferischen Einzelnen sind die Entwicklung. Ihr Voranschreiten weist und bahnt der Menschheit den Weg: „Der schöpferische Einzelne reißt uns vorwärts, spendet uns das Werden. Die Gemeinschaft gibt dem Leben Sein und Stete, Gleichmaß und Sicherheit" 3 7 ).
y. Die Form im Werk: Um die Einheit alles Geschehens Naturgeschichte, Menschheitsgeschichte Jede Vereinheitlichung des Weltbildes zielt auf eine Einheit der waltenden Kräfte, die als lenkende Gesetze des Geschehens in allen Einzelgebieten der anorganischen und der organischen Welt wirksam sind und gewesen sind von Anbeginn. Es gibt in aller Wirklichkeit kein Sein, sondern nur ein Geschehen, das von allen Gebilden, vom Menschenreich ab, durch Tier- und Pflanzenreich bis in die letzten Ausläufer der anorganischen Welt Tatbestände als Entstehen, Sich-Wandeln und Vergehen erschließt. Diese Einheit ist eine geistige, eine seelische Macht. Doch nur an der Außenseite ihres Wirkens ist sie ein Gedanke, also ein Werkzeug des Denkens über die Dinge. Vielmehr noch ist sie ein Geschehen, das über uns Herr wurde und unsere Gedanken, unsere Begriffe m e i s t e r t e . Ja, der Gedanke Einheit, mehr noch das Geschehen Einheit, wenden ihre Kraft auf den größten Gegenstand unseres Denkens wie unseres Erlebens, auf das Ingesamt von Welt und Menschheit, auf das All. Sie offenbaren sich als ein Naturgeschehen, durch das sich die Welt am Menschen, im Menschen darstellt als die Einheit, von der er doch nur 27) Ebenda S.308.
Naturgeschichte,
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Menschheitsgeschichte.
ein Teil ist, und in dem sie ihn, den Teil zwingt, sich seiner Teilhaftigkeit bewußt zu werden und zu ihr, der Welt, sich als der höheren, ihn herrscherlich in sich begreifenden Einheit zu bekennen. Es gibt keine Form des Geschehens, die nicht an Stoffen gebunden, nicht von Stoffen verursacht und an Stoffen ausgewirkt wird, weder in der außermenschlichen Umwelt, noch im Geschehen zwischen den Menschen 1 ). Das Geschehen der Welt, das als Einheit den Wesenskern von a l l e m Werden in Menschheit und Natur umschließt, geschieht wahrlich nicht im freien Luftmeer der Gedanken, d. h. in einem wirklichkeitsfrei gemachten Raum, sondern fordert W e r d e n von grundauf. Indem der Mensch diesem Werden die Einheit setzt, wendet er sich gegen die Zweiteilung, die seit Piatos Philosophie einen Gegensatz setzt zwischen Begriff und Werden. Von dieser Zweiteilung, die doch und doch in der wirklichen Welt nur eine unvollkommene Gestaltung der Ideen sieht, denen sie herrscherliche Vollkommenheit im Sinne reiner Objektivität auch vor und außer dem menschlichen Geiste an und für sich zueignet, wird an anderer Stelle zu sprechen sein. Hier genüge zunächst der Hinweis. Der Mensch im Ringen, die Wirklichkeit als Daseinseinheit aufzufassen und zu erkennen, fand im Bilde der Gottesgestalten, die sich die Einbildungskraft der gläubigen Menschheit schuf, den Willensvollstrecker, den Willensträger des Geistes. Ihn machte er zur Spitze einer Pyramide, eines Weltbildes nämlich, das „in allen seinen auseinanderstrebenden Teilen doch von dieser e i n e n Gestalt seinen Ursprung nahm, seine Befehle empfing und dadurch übersichtlicher, vom Denken aus beherrschbarer gemacht wurde" 2 ). Dabei doch dient der Gott, scheinbar zum unumschränkten Herrscher der Welt gemacht, dem Geist doch auch als Werkzeug 1
) Kurt Breysig, Psychologie der Geschichte, S. 55. ) Kurt Breysig, Einheit als Geschehen, Jahrbuch für Soziologie, 1925, S. 122. 2
7*
100
Die
Einheit
des
Weltbildes
jenes Einigungswillens gegenüber der Verworrenheit und der Vielgestaltigkeit des Weltbildes, um das ein einigendes Band zu schlingen, der Geist in diesem Stufenalter seines Lebenslaufes sonst verzweifeln müßte. Der aus der Zerspaltenheit der Wirklichkeiten flüchtende Mensch rettet sich zu einem Willen Gottes, diesem Asyl der Unwissenheit, wie es im Gewände verzichtender Weltweisheit ein Zurückflüchten ad ignorantiae asylum gibt. So wird, von der Seele her gesehen, ein sehr demütiges, als von dem Geist her betrachtet, als ein bis zur Lässigkeit einfaches Auskunftsmittel die Erwägung immer von neuem zu Hilfe gerufen, was der Einzelerkenntnis des schwachen und beschränkten Menschengeistes entzogen sei, sei der Allweisheit und Allmacht des höchsten Gottes ohne Bedenken zuzuschreiben. Selbst die mit den Mitteln einer halb gottentfremdeten oder ganz weltlichen Daseinslehre verfeinerten Anschauungen des heutigen Christentums heben alle Gefährdungen der Einheit des Weltbildes, alle Rätsel und Widersprüche auf durch die Annahme der Lenkung des Alls durch einen Gott, für dessen Handeln und Tätigsein die Einzelzusammenhänge und die Einzelbegründungen zu erkennen, dem gläubigen Menschengeiste weder möglich, noch nötig ist 3 ). „Jugendliche Geistigkeit der Frühzeit wählte das Mittel der Aufstellung der Gottesgestalt, um durch ihr Mittleramt der Zerteiltheiten und Entgegengesetztheiten der Wirklichkeit Herr zu werden, indem sie dabei das Glaubensopfer der Demütigung vor diesem, von ihr zum Herrn der Welt eingesetzten, in der Gottesgestalt verleiblichten Gedanken brachte. Der hohe Stolz der Denker des reif-gewordenen, neu-europäisch-germanischen Weltalters suchte ohne solche Helfergewalt und -gestalt, dadurch, daß er sich selbst zum Herrn einer neuen begrifflichen Welt über der Welt erklärte, das gleiche Ziel zu erreichen." Der Substanz-Apri3
) Einheit als Geschehen,
S. 124 ff.
im neu-europäisch-germanischen Weltalter.
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orismus bei Leibnitz besagt doch im Grunde nur diese Seite der Zuwendung zu einem einheitlichen Weltbilde, daß in Gott die Welt zusammengefaltet liegt wie die Keimblättchen im Samen. Darum konnte auch die Welt aus Gott hervorgehen, indem Leibnitz in der prästabilierten Harmonie behauptete, daß die Welt implicite in Gott gelegen hat: „Der Form-Apriorismus bei Kant, d . h . die Setzung im voraus, beschränkt auf die Ordnungsformen des erfahrenden Verstandes, und mit gewissen Einschränkungen noch die Wesensschau der Husserlschen Phänomenologie: sie alle machen das schauende Ich zum scheinbar völlig unumschränkten Herrn einer im Denkbild aufgebauten z w e i t e n W e l t . " Wenn diese Begriffswelten darauf verzichten, zuverlässig aufgenommene Abbilder der wirklichen Welt zu sein, so spricht aus dieser Haltung der Stolz und das noch schroffere und bewußtere Selbstgefühl des Geistes, der sich bei Formung seines Weltbildes so weit selbst genug ist, daß er auf jede Stützung durch die Erfahrung verzichtet. Indem Kant der Spiegelung der Welt in dem Erfahrungsbilde der überlieferten Wissenschaft doch allen hohen Wert absprach, schuf er die tiefe Kluft zwischen Denkbild und Welt, an deren Überwindung jedes Streben zur Einheit seither arbeitet. Fichte unternahm es nach ihm, von der Seite des Geistes her die Einheit des Weltbildes zu schaffen, von dem absoluten Ich, das sich selbst und die Welt setzt. Er glaubte, Kant richtig verstanden zu haben, indem, als er nicht nur die F o r m , sondern auch den S t o f f d e r W e l t vom I c h setzen ließ. Seine Setzung ist dieselbe forscherliche Unmöglichkeit, wie Hegels Stellungnahme zur Natur. Gewiß ist jener Scherz übertrieben, der oft erzählt wird, wonach jemand behauptet habe, die Natur stimme nicht ganz mit Hegels Naturphilosophie überein, worauf jener geantwortet habe: Desto schlimmer für die Natur! Doch gerade einer Werdenslehre, die den innersten Wesenseigenschaften des Weltgeschehens ein-
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Hegels Geistlehre
heitlichen Sinn durch das Erkennen von Wirklichkeiten geben will, muß sich bewußt sein, wie sehr die einseitige Handhabe von Begriffen, wirklichkeitsfern, ja, naturfeindlich eingestellt ist. In Hegels „Encyklopädie" lesen wir: „Dies ist die O h n m a c h t der Natur, den Begriffsbestimmungen nicht treu zu bleiben und ihnen gemäß ihre Gebilde zu bestimmen und zu erhalten." Oder: „Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Grenzen, und das Abgeschmackteste ist, von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen... Die Natur vermischt allenthalben die wesentlichen Grenzen durch mittlere und schlechte Gebilde." An Schopenhauers Niederschrift: „Die Hegeische Weisheit kurz ausgedrückt, ist, daß die Welt ein kristallisierter Syllogismus sei", werden wir erinnert, wenn wir bei Hegel über die Natur lesen: „Die Natur ist nach ihrer bestimmten Existenz, wodurch sie eben Natur ist, nicht zu vergöttern, noch sind Sonne, Mond, Tiere, Pflanzen usw. vorzugsweise vor menschlichen Taten und Begebenheiten als Werke Gottes zu betrachten und anzuführen. Die Natur ist a n s i c h in der Idee göttlich, aber in dieser ist ihre bestimmte Art und Weise, wodurch sie Natur ist, aufgehoben. Wie sie ist, entspricht ihr Sein ihrem Beglriffe nicht; ihre existierende Wirklichkeit hat daher keine W a h r h e i t." Und wir denken an Goethe, dem nichts über die Anschauung der Natur ging, der dem Gegensatz von Natur und Geist nur mit einem Lächeln begegnen konnte, mit jener diesseitigen Weltgläubigkeit, die sagen durfte: „In der Natur ist alles, was im Subjekt ist, und etwas darüber. Im Subjekt ist alles, was in der Natur ist, und etwas darüber." So ist Hegels Geistlehre als Versuch einer Einheit des Weltbildes doch nur ein Mythos vom Geist, von einem objektiven Gesamtgeist, der auf eine Logifizierung, auf eine Verbegrifflichung der Wirklichkeit hinzielt, auf eine Vergewaltigung der Natur durch eine einseitige Bevorzugung des Geistes.
und der Gegensatz von Natur und Geist?
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Also wäre dem Mythos des Geistes nun ein Mythos von der Natur entgegenzusetzen? Kurt Breysigs Antwort bewegt sich in der Linie der dargetanen Haltung Goethes, der einen Gegensatz zwischen Natur und Mensch nicht kannte: Forschung soll nur erkennen, soll nur Wahrheit wissen wollen. Weltbilder aus einem Grundstock von dilettierender Wissenschaft und technisch virtuoser Sensation herzustellen, soll sie den Schriftstellern überlassen, die der Belustigung des nach wissenschaftlichen Unterhaltungsschriften hungrigen Publikums dienen wollen, oder den noch schwächeren Halbdichtern, die vom tönenden Licht oder von der geschichtslosen, werdensfreien Geschichte zeugen, von der Geschichte, die nur aus Sein und Sonnenbällen, d. h. den wenigen Gipfel-Einzelnen der Weltgeschichte, um derentwillen allein es sich verlohnt, Geschichte zu schreiben, besteht. Es handelt sich nicht darum, ein Weltbild hinzustellen, weil es geistreich, d. h. willkürlich ersonnen und durch Schillern in Doppelsinn, Spielen in Zerrbildern bestechend ist. Ebenso wenig wird möglich sein, in den angeblichen Götterglauben jener Dichter einzustimmen, die aus historisierender Romantik die Welt mit Göttern bevölkern, zu denen sie nicht beten und denen sie keine Tempel errichten, oder in die Gottespredigt jener Denker, die von einem Gotte zeugen, von dem ihr eigenes Ich nichts weiß, etwa weil es eine begriffliche Notwendigkeit sei, einen Weltschöpfer zu fordern oder einen Gott zu verkünden, weil das Volk ihn als Zuchtmeister nötig habe. Nie wird wahre Wissenschaft Freude daran haben, den im Herzen Gottesgläubigen ihre Ehrfurcht anzutasten, denn Glauben ist eine Sache des Gemütes und nicht des Verstandes und also auch nicht der Forschung. Aber mit den in Wahrheit Frommen haben weder jene Dichter, noch diese Denker auch nur das Geringste gemein. Nur dem Sein wollen wir nachsinnen, nur das Werden wissen, ein Bild aus Wahrheit, Welt, Wirklichkeit weben. Und niemals wollen wir uns davor scheuen, es so zu be-
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Daseinslehre als Metaphysik.
zeugen, wie es sich unseren Augen zeigt, auch dann, wenn uns das Gesehene, Erahnte nicht ein einmaliges Geschehen, sondern eine ewige Wiederholtheit in der Folge der Zeit, in der Weite der Räume vermuten läßt. Nicht schimmernd im Sinne geistigen Spieles, nicht gestalthaft schön im Sinne der Kunst soll unser Weltbild sein, sondern wahr, wahr, wahr. In den Zeiten seines Anstiegs zur reifsten Kraft hat Kant als angeblicher Anwalt der reinen Erfahrungswissenschaft nicht nur den Namen, nein auch das Tun jeder Metaphysik, jeder bauenden Daseinslehre mit dem Bannfluch seines höchsten Zornes belegt, und Nietzsche hat mit beißendem Hohn von solchen Lehren als dem Machwerk von Hinterwäldlern gesprochen. Solch Schelten und Verschmähen kann nicht die Sache ruhevoll sicherer Forschung nach dem Sinn der Welt sein: sie wird weder echtem Glauben, noch echter glaubensartig setzender Daseinslehre ihre Achtung versagen dürfen, ja, sie wird sie als geistiges Vermögen verehren auch dann, wenn sie wie die Verkündung des Gründers der Phänomenologie oder einzelner starker Neuplatoniker in den Einzelwissenschaften ungefähr dem Gegenpol ihrer eigenen Überzeugung zustrebt. Aber so wenig wie einen Mythus wird sie eine Metaphysik, eine Daseinslehre im alten aprioristischen, analytischen und deduktiven Sinn, im Sinn der Setzung im voraus also und des von oben her ableitenden Auflösens allgemeinster, aus dem Recht des Begriffs hingestellter Weltbilder schaffen wollen. Nicht Überbauten über dem Sein, sondern Enthüllungen der Tiefen, der Kerne des Seins wird sie schaffen wollen: nicht Metaphysik, sondern Endophysik, nicht willkürlich bauende Daseinslehre, sondern Urseinslehre. Sie wird nicht Begriffe enthüllen wollen, sondern Seinskerne, Urdinge" 4 ). Kurt Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. 15.
Die Träger alles Weltgeschehens.
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Eine Geschichtslehre, die auf d a s Werden gerichtet ist, kann es wagen, dem eigenen Bau als Qrundveste eine Weltlehre oder doch die Elemente einer Weltlehre zu errichten. So wird sie Welt und Menschheit nur als ein Gewordenes, Werdendes begreifen können. In drei Reiche zerlegt sich der Schauplatz, in drei G r u p p e n teilen sich die Träger alles Weltgeschehens. Das anorganische Reich: das Reich der unbelebten Körper, der kleinsten und der größten Welteinheiten, der Elektronen und der Gestirne; das biische Reich der belebten und der erst unvollkommen beseelten Leiber der Pflanzen und der Tiere; das menschliche Reich der bewußten Leibseelen. Alle drei stehen in ihrem Übereinander in engster Verb i n d u n g : in die Schicht des Anorganischen, die unterste, sind beide andern tief verwurzelt: denn jeder lebendige Leib des Pflanzen-, Tier- wie des Menschenreiches ist erstens auch ein anorganischer Körper, insofern er sich aus anorganischen Bestandteilen zusammensetzt, u n d ist zweitens als solcher, wie noch mehr als lebendiger Leib a b h ä n g i g von seiner unbelebten Umwelt. Im selben Maße ist die Menschheit, insofern sie ein seelisch-bewußtes D a sein f ü h r t , also mit den ihr allein zugemessenen Fähigkeiten und Tätigkeiten, tief eingebunden in das biische Reich, dem sie mit dem Leibe ganz angehört. Man kann sich das gegenseitige Verhältnis der drei Reiche sinnfällig in der Gestalt vor Augen stellen, d a ß man drei Keile — drei gleichschenklige, spitzwinklige, basislose Dreiecke also — in der Weise aufeinander baut, daß sich in d e n untersten, den anorganischen Keil, der biische tief einschiebt, so tief, daß d e r anorganische Keil auch den innersten, den menschheitlichen Keil noch mit den oberen Enden seiner Schenkel umschließt. Dieses Bild macht am deutlichsten, wie d a s menschheitliche Sein zuerst in d a s leiblich-biische, d a n n durch dieses hindurch in d a s anorganische Geschehen eingebettet und zugleich zuerst
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Die physikalische, die biologische
von dem einen, dann durch seine Vermittlung von dem anderen abhängig gemacht ist" 5 ). Heutiger Erfahrungswissenschaft sollte nahe liegen, jedem dieser drei Reiche des Weltgeschehens eine ihm gemäße Weltsicht anzupassen: dem anorganischen Reich eine physikalische, dem organisch biischen Reich eine biologische und erst dem menschlichen Reich eine anthropologische Weltsicht. Der Aufbau von jedem der drei Reiche wäre nach dem ihm innewohnenden Gesetz, nach den seinem Sein und Werden gemäßen Regeln zu begreifen. Begriff und Notwendigkeit einer wirklichen Welt-Geschichte hätte die Verpflichtung, sich bei Abschätzung der Welt ihres Gewordenseins zu erinnern. Welt-Geschichte würde dann so verstanden: als die Summe der Abwandlungen des Weltgeschehens in der Abfolge aller Zeiten und in allen seinen Schichten und Formen, mit Einschluß, aber nicht unter Bevorzugung der Menschheitsgeschichte, die nur eine der Teilschichten des Weltgeschehens angeht, nicht unwichtiger, aber auch nicht wichtiger als die Geschichte der anorganischen und der biischen Welt. Elementarste Beziehungen bestehen zwischen Welt und Menschheit, sowie auch zwischen den einzelnen Reichen der außermenschlichen Welt. Das mächtigste dieser drei Reiche ist sonder Zweifel das anorganische. Würde doch alles Gedeihen der Menschheit in Frage gestellt, wenn die Temperatur unseres Sternes sich in Jahresabständen um zehn Grad senkte, ihr Dasein, wenn die Abkühlung fünfzig Grade erreichte. Grundstürzend würde ein Sternengeschehen, das die Oberfläche der Erde eingreifend und dauernd umwandelte, etwa im Sinne der Marszustände, den Sinn und die Richtung der Geschichte unseres Geschlechtes verändern. Elementar und stark bis zur brutalen Überlegenheit ist die Macht, die das Geschehen dieser untersten Schicht auf die biischen und damit auch auf die seelisch5
) Kurt Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. 15.
und die anthropologische Weltsicht.
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menschlichen Verhältnisse ausübt. Wie gering sind dagegen die Möglichkeiten einer Bewirkung des anorganischen Reiches durch den Menschen! Was sind die Veränderungen, die der Mensch bisher an der Oberfläche der Erde hat vornehmen können, gegenüber der Ganzheit des Erdballs? Indem Kurt Breysig alle Streitfragen der Erkenntnislehre, die aus einem angeblich unüberwindlichen Gegensatz zwischen Geist und Natur erwachsen, vorläufig beiseiteschiebt, bereitet er weltisch, weltfroh und weltfromm den Weg zu einer kosmozentrischen Deutung des Menschheitsgeschehens und von da aus seine Angleichung an das Weltgeschehen: „Aus dem vollkommenen Gleichgewicht eines ganz unbefangenen Sehens 6 ) muß es möglich sein, stoffliches und biisches und beseelt bewußtes Geschehen zu einer Ureinheit zu vereinigen und doch die Grade der Besonderheit ihres Wesens nicht zu verwischen, sie vielmehr eigens scharf hervortreten zu lassen." Dabei hat als erste Regel zu gelten, daß in das Bild des Geschehens im anorganischen Reich zwar nicht das geringste Maß von Menschenähnlichkeit hineingetragen werden darf, doch muß in ihm jedes Geschehen ausgesondert werden, zu dem sich eine Form menschlichen Verhaltens als Seitenstück auffinden läßt. Zweitens würde als Regel zu setzen sein: wir haben das Recht, menschliches Tun so zu sehen, als sei es nicht von der besonderen, seelisch bewußten Weise unseres Geschlechtes eingegeben, sondern als unterstünde es lediglich dem Gesetz des Reiches der unbelebten Körper — dies nicht in dem Sinne, als sei dieses Gesetz ein anderes, als das den Menschen regiere, sondern als sei es dessen Ur- und Kernbestandteil und werde nur von seiner weiteren Einheit überdeckt. Wie das forscherliche Bemühen Kurt Breysigs, das ganze, einheitlich erschaute Da6 ) Für diese und die folgenden Ausführungen Kurt Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. 19 ff.
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Die Welt ist Geist.
Sein der Welt und der Menschheit als Werdensweg zu begreifen, ihn dazu führt, unerschrockenen und ehrfürchtigen Blickes die Grundverhältnisse zwischen Welt und Seele unvoreingenommen und reinen Sinnes im Gesamtraum eines Geschehens zu erkennen, werde im Folgenden dargetan. Aller Zweiheitslehre fester Glauben ist dieser: die Welt ist nicht Geist, weil sie keine Vernunft hat. Dem setzt Kurt Breysig entgegen: „die Welt ist Geist, denn sie ist Ordnung, ist Gesetz; dem Geist aber ist in die Welt hinein keine größere Gewalt gegeben, als ihre Ordnung, ihr Gesetz zu erkennen. Er ist imstande, Ordnung und Gesetz zu schaffen, aber nur in seinem Herrschaftsbezirk, der gegen die Welt verglichen, zwerghaft klein ist, und die Ordnung, das Gesetz, die er dort schafft, sind verglichen gegen die Ordnung, gegen das Gesetz der Welt unsäglich schwach und überrasch vergänglich. Wie überhob doch den Menschen sein Dünkel, daß er, der Spätling von gestern, der Schwache auch noch von morgen, sich gegen die unendliche, gegen die ewige Welt stellte und sagte: weit bin ich erhaben über dich, denn ich bin das Licht und du das Dunkel, ich bin Herr, du ein Werkzeug; ich bin der Geist und du der Stoff; ich bin fast ein Gott und du der Staub zu meinen Füßen. Und als ihn zuletzt der Wahn seiner Größe vollends mit Rausch erfüllte, sprach er: ich bin nicht nur der Geist, ich bin auch die Ordnung, das Gesetz, ohne mich bist du ein Haufen von Schutt und Geröll. Die aber sagen, die Welt ist nicht Geist, denn sie hat kein Gedächtnis, entgegnet er: die Welt ist Geist, denn sie hat Erinnerung. Wie wenig ist Bewußtheit: denn sie ist nur ein Spiegel, vorgehalten dem eigenen Geschehen; aber wie groß ist die Erinnerung, wenn sie ohne Erinnerung nur in der Tat sich äußert, wenn sie Erinnerung des Geschehens, Gedächtnis der Wiederkehr ist. Dem Einwurf: die Welt ist nicht Geist, denn sie hat
D i e Welt ist Seele.
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keine Einbildungskraft, entgegnet er: die Welt ist Geist, denn sie hat Schaffenskraft. Sie schafft ohne Unterlaß; sie schafft nichts Neues außer sich, aber sie schafft rastlos Neues aus sich, in sich und an sich. Sie schafft sich beständig um, sie der Schöpfer, sie das Geschöpf. Was ist mehr: eine Welt schaffen, die in dem kleinsten ihrer Gestirne tausend Zusammengesetztheiten des Seins, tausend Verflochtenheiten des Geschehens birgt, oder ganze Weltsichten eröffnen, ganze Daseinslehren erbauen, die in ihrem Insgesamt von kindlicher Einfachheit, von überheller Durchschaubarkeit sind, verglichen mit den Geheimnissen des Seins, den Verschleierungen des Geschehens noch im kleinsten Zwerggestirn? Auch Einbildungskraft ist nur ein Spiegel, gehalten vor die Möglichkeiten des zukünftigen Geschehens, Schaffenskraft aber macht ohne Besinnen, ohne Planen, ohne Schwanken aus der Zukunft Gegenwart, aus der Möglichkeit Geschehen. Der Behauptung: die Welt ist nicht Seele, denn sie hat nicht Willen, begegnet er mit diesem: Die Welt ist Seele, denn ihr Wirken ist ihr Wille. Ist Wille, menschlich und allzu menschlich gesprochen, nur der Wille, der ins Bewußtsein tritt, der bewußt gewollt wird, bewußt will, so ist Wille nur Eigentum und Eigenschaft des Menschen. Ist aber Wille, höher gesprochen, der Wille, der will, der Wille, der sich durch die Stärke und Stetigkeit seines Tuns bezeugt, der sich durch die Richtungseinheit und die Dauer seines Geschehens bewährt, dann will die Welt zu jeder Stunde. Denn was ist stärker als der mit Lichtes Geschwindigkeit durch den Weltraum zuckende Strahl, was ist steter als das Kreisen der Elektronen und der Planeten um ihre Kerne und ihre Sonnen, was ist folgerichtiger als die gerade Linie, in der die Welt — wie die Urkörper sich bewegen, und was ist ewiger als die Gesetze ihrer Bewegung? Die aber sagen: die Welt ist nicht Seele, denn sie hat nicht Gefühl — denen entgegnet er: die Welt ist Seele,
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Die Welt ist Vernunft.
denn sie handelt, wie Fühlen handelt. Auch Fühlen ist in uns Menschen ein Doppeltes: einmal das Gefühl zu fühlen, zum zweiten aber Gefühltes zu tun. Die Welt hat nicht Gefühl, das sein Fühlen fühlt, aber die Welt handelt beständig Gefühltes. Liebe ist in ihrem innersten Kern nichts anderes als das Beieinanderbleiben-Müssen zweier Menschen. Freundschaft, Treue sind ingleichen Vereintsein-Müssen. Kein Menschen-, kein Tierschicksal weist ein so unverbrüchliches Verharren beieinander auf wie die Verbundenheit des Elektron mit seinem Kern, kein menschlicher Bund ist so unzerreißbar wie der zwischen Wandel- und Sonnenstern. Jenes andere Gefühl, das die Menschen allein besitzen, ist es nicht nur wieder wie der bewußte Wille Spiegelung? Und was ist wichtiger: das Geschehen selbst oder die Spiegelung? Und wenn Spiegelung wirklich Verstärkung bedeutet, ist dann nicht das Handeln, das keiner Spiegelung und also keiner Verstärkung bedarf, das kräftigere, das echtere? Dem Einwände, daß d i e W e l t n i c h t G e i s t u n d n i c h t S e e l e s e i n k ö n n e , weil sie Gott weder wisse, noch fühle, erwidert er aus der ganzen Kraft seiner Einheit setzenden Schau frei und ehrlich: die Welt ist Gott, und um so viel Gott-Sein mehr ist als Gott wissen, um so viel höher ist Welt als Glauben. Mehr noch, das Denkbild Welt ist mehr als das Denkbild Gott, denn sie ist Gewalt und Gott ist Gestalt, Gewalt aber ist mehr als Gestalt, denn Gestalt ist nur Menschentum, gehöhtes Menschentum, vervielfachtes Menschentum. Die Gewalt der Welt aber ist um so viel stärker, denn Menschentum, und sei es vergottetes Menschentum, als die Sonne heller ist als ein Menschenlicht, und sei es die Fackel des Prometheus. Den Eiferern aber, die der Welt Geist und Seele absprechen wollen, weil sie nicht den Willen zum Guten habe und der Tugend ermangele, sagt er aus der Kraft bejahender Weltgläubigkeit, d i e W e l t i s t G e i s t u n d ist Seele, d e n n sie i s t d e r W i l l e zum B e s s e r e n ,
Die Welt ist
Werden.
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z u m E t h o s s e l b s t . Kein Sittenlehrer hat je seine Tafeln über das Tun der Menschen gehängt, der wahrer gesprochen, höher gefordert hätte als das Oesetz, das die Welt uns mit lauter Stimme predigt, falls unsere Ohren nur ihr offen sind und wir ihr Wort recht auslegen, denn „der Wille der Welt an uns ist geoffenbart". I h r G e s c h e h e n i s t i h r W i l l e a n i h r s e l b s t , und wenn wir uns fromm und gläubig in sie senken, so ist uns nur not, dem Willen, den sie an ihrem Geschehen hat, auch unser Tun zu unterwerfen. Es gibt nur ein Out der Menschen, das ist ihr Schaffen. Die Welt aber ist das stete Schaffen, das ewige Schaffen. Es gibt nur eine Tugend, das ist die Kraft, die zu schaffen, zu wirken weiß, die immer baut, niemals zerstört. Die Welt aber ist selbst diese Kraft weil sie zuletzt auch baut, wo sie zerstört. Die Welt ist der Wille zum Outen, zum Besseren, denn sie steigt immer sie wird immer reicher. Sie ist die Tugend, das Ethos, denn sie wird. Der Tatenmensch und der Künstler, der schauende und daher bauende Forscher aus einer Sehnsucht, aus einer Kraft, aus einem Willen und aus einem Oeist-, der die Nähe des Menschen am Weltgeschehen spürt, spricht aus ihm, wenn er aller Scholastik zum Trotz seinen Glauben an das Fortschreiten wissenschaftlichen Geistes setzt: Also ist Welt Vernunft, also ist Welt die Schaffenskraft, die mehr ist als Einbildungskraft, also ist die Welt Wille, also handelt die Welt Gefühl, also ist die Welt Tugend, denn sie ist Werden, also ist die Welt Geist und mehr als Geist, also ist die Welt Seele und mehr als Seele, also ist die Welt Gewalt und mehr als Gestalt, auch als die Gottesgestalt. Die Menschheit steht mit ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Erkenntnis in dieser Welt der Wirklichkeit, des Geschehens, des Werdens und hat ihre Welterkenntnis aufgespeichert für Mit- und Nachwelt, geordnet in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, und wir spüren, daß diese Einteilung nach Oeist und Natur längst veraltet
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Der
einheitliche
Sinn
des
Geschehens
ist. Fast meinen wir, daß selbst eine reiche und schöpferische Lebenszeit und eine vielfältige, immer zur Aufnahme bereite Fassungskraft eines Menschen nicht hinreiche zur Aufnahme des ungeheuren Wissens, das erforderlich ist, eine Geschichte zu schreiben, die nicht allein die Geschichte der Menschheit in der Abfolge der Kriege und Schlachten sieht, sondern die Kulturgeschichte der Menschheit schreibt und die Geschichte der Wissenschaften so, daß e s d i e G e s c h i c h t e d e r M e n s c h h e i t darstellt. Wir begreifen das unermüdliche Ringen und die Kraft eines überlegenen Menschen recht, wenn wir Bild und Gleichnis seines Mühens als Persönlichkeitshaltung, als Persönlichkeitskraft bei Kurt Breysig deuten. Jahrtausende blieben die Erscheinungen am Magneteisenstein und am Bernstein Erscheinungen, die diese unsere Welt erfüllen wie Licht und Schall, dem Menschen nicht wahrnehmbar, bis er sie sehen und hören lernte. Nichts ist Erkenntnis im menschlichen Denken, was nicht vorher in den Sinnen war. Daher kommt nichts in die Sinne hinein, was nicht die Form dieser Sinne anzunehmen imstande ist. Es heißt aber nicht, die Wertigkeit des Geistes herabsetzen, wenn wir, der Erkenntniskraft unserer Sinne vertrauend, aus dem Formenreichtum des Naturseins und des Naturgeschehens den einheitlichen Sinn des Geschehens der Welt in seinem Werdensweg uns zu eigen machen wollen. So begreifen wir auch die herrscherliche Größe eines Lebenswerkes, das alle Kraft, aber auch alle Kraft eines Menschenlebens ehrfurchtsvoll und verantwortlich an diese Aufgabe setzt. Um so wichtiger ist zu der von Kurt Breysig gleichnishaft dargetanen Einheit von Welt und Seele erläuternd zu sagen, daß ihre Worte nicht mehr zu umfassen scheinen, als sie umfassen sollen. Er fügt hinzu: „Nennen wir Seele die Summe aller überkörperlichen Kräfte, Geist die Summe von Verstandes- und Einbildungskraft in einem Menschen, so leuchtet ein, daß wir der Welt nur in einem übertragenen Sinn Seele, Geist zusprechen können. Das gleiche
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im Formenreichtum des Naturseins und Naturgeschehens.
gilt von den einzelnen Seelenkräften. Ist die Vernunft diejenige überkörperliche Kraft in uns, die die von der Wirklichkeit empfangenen Eindrucks- und Erinnerungsbilder in Gedanken umzuformen und diese Gedanken zu ordnen und weiter zu bilden vermag, ist die Einbildungskraft diejenige überkörperliche Kraft in uns, die die von der. Wirklichkeit empfangenen Eindrucks- und Erinnerungsbilder willkürlich von neuem hervorzurufen vermag und frei umzuformen; ist der Wille diejenige überkörperliche Kraft in uns, die unserem Tun, Denken, Einbilden, Fühlen bestimmte Wege anzuweisen und das Fortschreiten auf ihnen festzuhalten, zu unterbrechen oder zu beenden vermag; ist das Gefühl diejenige überkörperliche Kraft in uns, die übet körperliche und überkörperliche Erfahrungen, überkörperliche Freude oder überkörperlichen Schmerz oder alle die zwischen diesen beiden Polen liegenden Lust- oder Unlustgrade empfindet, so können auch alle diese Kräfte n i c h t der Welt zugeschrieben werden. Ist Bewußtheit diejenige Kraft der menschlichen Vernuft, welche sie. in Stand setzt, unser Denken, unser Einbilden, unser Wollen, unser Fühlen im Spiegel unseres Denkens als in uns vorgehend gewahr zu werden; ist die Erinnerung die Fähigkeit unserer Seele, empfangene Eindrucksbilder nur als solche oder in ihrer Umformung in Gedanken oder Gebilde, ebenso getane Handlungen oder vergangene Wollensregungen, erlebte Gefühle im Spiegelbild unseres Denkens, unserer Einbildung, unseres Wollens, unseres Gefühles aufzubewahren und willkürlich in uns heraufrufen zu können, so kann der Welt, wie unter allen Umständen keine Bewußtheit, so auch keine Erinnerung beigemessen werden." Die Geschehensform der Welt offenbart Eigenschaften, die wir den Werken menschlichen Verstandes nachrühmen, in einem Maße, hinter dem die gepriesensten Werke menschlicher Weltweisheit weit zurückbleiben. Die kleinsten Lebenserscheinungen, seien es organische Veränderungen H e r i n g , Das Werden sie Geschichte
8
114
führt zu einer Welteinheitslehre,
im Stoffe oder in der Energie oder in der Form; sie wandern trotz allen Mikroskopen nicht früher in unsere Sinne, in unsere Bewußtheit, in unser Denken hinein, als bis sie f ü r »uns die Erscheinung der Sichtbarkeit angenommen haben. Das Bleiatom nach dem Atommodell von Niels Bohr zählt 82 negative Elektronen, die seine Kernsonne, auf fünf Bahnschichten verteilt, als Planeten umkreisen. Der Kern des Bleiatoms besteht aus 207 Wasserstoffprotonen und 125 negativen Elektronen, die wieder der größeren Hälfte dieser positiven Kernbestandteile, nämlich 125, die Waage halten, so kann man ermessen, wie außerordentlich zahlreich und verwickelt die Beziehungen der Anziehung, Abstoßung, der Bahn- und der Geschwindigkeitswirkung und so fort sind, die in einem Bleiatom Gültigkeit haben. Dabei kann das, was heute die letzte Antwort schien, morgen eine neue Frage sein. Wieviel Zusammengesetztheit und Verflochtenheit des Wirkens bei einem Bleiatom. Sie übertrifft um ein mehrfaches z. B. die von Leibnitz versuchte Daseinslehre, die Monadenlehre und die Summe der von ihr hergestellten Beziehungen. Wie unzureichend sind wir unterrichtet, noch unterrichtet über den Formenreichtum des Naturseins und Naturgeschehens ! Dabei kommt aller monokosmischen Sicht, aller Welteinheitslehre die Bestätigung von der Seite der Gottesverehrung, die als Beweisgrund für das Dasein Gottes die unendliche Weisheit der Welteinrichtung und die immer wiederkehrende Behauptung beansprucht, daß kein Menschenwerk an sie heranreiche. Hegel, indem er von Anaxagoras spricht, nimmt ohne jedes Bedenken den Satz an, daß Vernunft in der Natur sei und von allgemeinen Gesetzen unabänderlich regiert wird. Die tiefste Setzung seiner großen Daseins-Lehre: Geist wird Welt, Welt ist Geist, sagt im Grunde nur auf einer noch allgemeineren Ebene dasselbe. Dabei sollten wir uns bewußt bleiben, daß alle unsere Vernunft nur von dem Sein und Geschehen der Welt abgeleitet ist.
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zu monokosmischer Sicht.
Will man der Weltvernunft als Nachteil gegenüber der menschlichen Vernunft anrechnen, daß das Hervorgehen neuer Geschehensformen im Geschehen der Welt sich nicht bewußt und auf Grund denkenden Überlegens und Vergleichens vollzieht? Das Geschehen der Welt prüft und wählt in der Weise, die ihr allein gegeben ist, durch Geschehen selbst. Dabei ist das eigene große Geschehen, das sich an und durch Menschen vollzieht, in weitem Zuge dem anorganischen und biischen Geschehen in manchen Entwicklungsreihen durchaus ähnlich, da die bewußten und gewollten Handlungen des menschlichen Geistes durchaus nicht immer das Ganze oder auch nur den Kern des eigentlichen Geschehens umfassen. Das Vermögen des Geistes, sich über die Dinge zu erheben, sie und sich in sich zu spiegeln und mit ihnen und sich in einem bestimmt abgegrenzten inneren Kreis zu schalten, bleibt als weit über die unbelebte und die belebte, außermenschliche Welt hinaus führend das Vorrecht unseres Geschlechtes, aber dies steht für Kurt Breysig in diesem Zusammenhang nicht in Frage, sondern nur, ob und inwieweit im außermenschlichen, vornehmlich im anorganischen Geschehen ein Kern steckt, der dem vernunftbestimmten Handeln der Menschen, soweit es ein reines, weder bespiegeltes, noch frei bestimmtes Geschehen ist, entspricht. Erkennt man die Verursachtheit nur für einen Teil des Geschehens, die Zielstrebigkeit für einen noch viel begrenzteren Bruchteil des Geschehens als bedingend an und die Eigenbewegtheit als die Form der Verkettung für alles Geschehen, die weder der Verursachung noch der Zielstrebigkeit als eines Bewegers bedarf — so sind alle drei Reiche, das anorganische, das biische, wie das menschliche, an diesen Grundformen der Geschehensverkettung beteiligt. Die menschliche Vernunft teilt mit der des biischen Reiches alle drei Verkettungsformen, auch die Zielstrebigkeit, mit der des anorganischen Reiches we8*
116
Die
Werke der menschlichen
Vernunft
nigstens die beiden anderen: Eigenbewegtheit und Verursachtheit. Menschlicher Vernunft schreiben wir drei Fähigkeiten zu: das Vermögen, die Welt in Denkbildern in sich wiederzuspiegeln, die zweite viel weiterführende, diese Denkbilder zu ordnen, und das dritte, diesen Denkbildern gemäß auch dem menschlichen Handeln, Ahnen und Bilden Richtlinien zu setzen, ihnen Ordnungen zu geben. Dem anorganischen Geschehen fehlen gänzlich die spiegelnden Fähigkeiten, durch die unsere Vernunft das ihr von den Sinnen überlieferte und von der Einbildungskraft festgehaltene Bild in Denkgebilde umformt und — als Gedächtnis festhält. Die außermenschliche Welt denkt und forscht nicht, d. h. sie vermag nicht, Denkbilder zu neuen, nur gedachten Verbindungen zu vereinigen oder in neue Teile zu zerlegen. Damit ist auch der Punkt erreicht, wo die Wesenslinien der Welt-Vernunft und der menschlichen nicht mehr verschiedenen Richtlinien folgen, sondern gleichläufig nebeneinander gehen. Kommt es mehr auf Ordnungen an, die in Geschehen umgewandelt, also verwirklicht sind, oder mehr auf solche, die auf das Handeln bezogen, nur ein Plan sind? Dann dürfen wir der anorganischen Vernunft mindestens den dritten Urbestandteil der menschlichen Vernunft zusprechen: sie vermag wie diese als handelnde, praktische Vernunft Ordnungen in Geschehen umzusetzen, die allen, auch den höchsten Anforderungen an Zusammengesetztheit und Folgerichtigkeit genügen. Die Natur ist in ihren Wunderwerken unfehlbar. Macht die Natur im anorganischen, wie im biischen Reich jene Vorstöße, die als Proben und Experimente den Vorerwägungen des Verstandes entsprechen, und entscheidet sie sich für ein Gebilde, so sind ihre Schöpfungen von eiserner Festigkeit und wenigstens im anorganischen Reich von ewiger Beständigkeit. Die Werke der menschlichen Vernunft stehen weit hinter den Werken der Weltvernunft, die jene an Widerstands-
und die Werke der Weltvernunft.
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fähigkeit und Dauerhaftigkeit übertreffen: Jahrmillionen stehen gegen Jahrzehnte, höchstens Jahrhunderte, selten Jahrtausende, sehr oft nur Monate. Die Bewegtheit der für das h e u t i g e Sehen kleinsten Urkörper als eine universale Geschehensform ändern das Wie und das Was unseres Weltbildes. Das Geschehen wandelt sich in Werden um, wenn es eine neue Geschehensform heraufführt. Es erweist sich als eine gesteigerte Form des Geschehens, und alle seine Ausgliederungen sind recht eigentlich nur eine Ausgliederung der Bewegtheit der Urkörper. Ob Erdkunde, Erdgeschichte, Pétrographie, Mineralogie, Geologie, ob Sterngeschichte und Sternkunde — Kosmogonie, Astrophysik, Astronomie —, vom Standpunkt einer reinen Welt- und Naturgeschichte, die ja jede Werdenslehre sein muß, sind sie immer neue Bildungen von Geschehensformen. „Die Allbewegtheit als die von Anbeginn auftretende und nie rastende, stets sich steigernde, immer von neuem sich ausgliedernde Geschehensform ist als vorherrschende Erscheinung für alles Geschehen nirgends zu verkennen" 7 ). Mögen auch im Sinne sicherer Erfahrungswissenschaft sehr viele Übergänge zwischen der Allbewegtheit der Urkörper und den Vorgängen etwa der Erdgeschichte, der Entstehung der Erdkruste und der Oberfläche der Erde heute noch ganz unerweisbar sein — gleichwohl, das Denken, das Einheitsstreben unseres Denken, das ja selbst nur Spiegelbild und Erzeugnis der Einheit des Weltgeschehens ist, drängt dazu, die fehlenden Glieder in diesen weitgedehnten und vielverflochtenen Kettengefügen in Vermutungen zu ergänzen. Wird angenommen, daß im Insgesamt des anorganischen Weltgeschehens und insbesondere im Kernbezirk der Urkörper überall Bewegung herrsche, die Abfolge der immer neu sich aufeinander türmenden Formen der Bewegtheit im anorganischen Reich sich keineswegs zu einer von Glied 7
) Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. 263.
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Ist Werdenskraft das
Einsetzen
zu Glied festgeschlossenen Kette von Geschehensweisen zusammenzufügen ist, so erhebt sich doch kein denkmäßiges Hindernis, das wirksame Ineinander dieser Zusammenhänge zu bezweifeln, sondern die Lücken den Unzulänglichkeiten der bisherigen Forschung zuzuschreiben. Zwei Formen des Geschehens, das einfache, aus reiner Bewegung bestehende Geschehen, z. B. bei den freien Elektronen, die noch ohne jede Bindung den Raum durcheilen — und das neue, eine neue Bewegensform schaffende Geschehen, das Werden, sind schwer auseinander zu halten; denn die Wandlung, die eintritt, wenn die einfachen Urkörper sich als Glieder des neuen zusammengesetzten Einungskörper einfügen, nimmt ihnen nicht die ihnen ursprünglich innewohnenden Bewegungen, die nur Richtung und Geschwindigkeit wechseln. Die Eigenbewegtheit bleibt als Kerngeschehen auch beim Werden. Eine solche Werdenskraft, als das Vermögen der Urkörper, aus einer Ordnung des Geschehens in eine andere, also etwa aus der des Wasserstoffatoms in die des Heliumsatoms überzugehen, hat als Tatsache dasselbe Gewicht der Unerklärbarkeit, wie die Anziehungskraft der Elektrizität zwischen positiven und negativen Elektronen und die der Gravitation zwischen Weltkörpern. Diese Werdenskraft als das Einsetzen einer eigenen Bewegungsquelle zu mutmaßen, wenn die Bewegtheitsformen des organisch-biischen Reiches in Betracht gezogen werden, liegt besonders nahe. Sie ist das Seitenstück der besonderen Wachstumskraft innerhalb der Pflanzen- und Tierwelt, die Hans Driesch in seiner vitalistischen Lehre als Entelechie bezeichnet. Auch die Formen der Bewegtheit im biischen Reich, ihre einfache, wie ihre Werdensbewegtheit sind zurückzuleiten auf den Urkern der Eigenbewegtheit der elektrophysischen Urkörper. Jene Form aber der inneren Bewegtheit, die dem Wachstum des Einzelwesens oder im Gipfelfall dem Werden einer neuen Art dient, hat als Grundstock immer die Eigenbewegtheit,
einer neuen
Bewegungsquelle?
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der sich die Wachstums- und Werdenserscheinungen einfügen. Zwei Wesenszüge sind es, „die das Wesen und Wirken aller Bewegtheitsformen — im anorganischen wie im biischen Reich — kennzeichnen — einmal, daß die ursprünglich einfache Form der Eigenbewegtheit zwar im Kernbezirk der Urkörper unberührt fortbesteht, daß sie aber im Verlauf einer immer neuen Bündelung der Urkörper zu Sammelkörpern die Fähigkeit erweist, sich in neue Formen der Bewegtheit umzuwandeln; zum.zweiten, daß Antriebe von vorläufig unerkanntem Ursprung und Wesen zu den Formen der ursprünglich einfachen Eigenbewegtheit, wie der in einem ganzen Stammbaum von neuen, abgewandelten, aber von ihr abzuleitenden Arten der Eigenbewegtheit hinzutreten und sich mit ihnen zu den Gattungen der gesteigerten Bewegtheit, wie namentlich des Lebens der Pflanzen und Tiere vereinigen können" 8 ). Diese sich in Selbstbeschränkung bescheidende Feststellung vermeidet die Übertreibungen, die einerseits von einer ausschließlich biologischen Sehweise in der vitalistischen Deutung des Lebens begangen werden, die andererseits bei der nur-mechanischen Erklärung der Entstehung des Lebens mit rein physikalisch-chemischen Mitteln vorliegen. Es ergibt sich diese Entwicklungslinie für die als Werdenskraft gegen sich selbst gekehrte Eigenbewegtheit: von der anorganischen zur inneren Lebensbewegtheit, vom Werden zum Wachstum, zur Artentstehung, von dem örtlich festgehaltenen zum frei schweifenden Leben, von dem unbewußten zum halbbewußten und halb willensbestimmten nach außen gerichteten Handeln. Die Grundeigenschaft aller dieser Umformungen ist die Fähigkeit d e s eigenbewegten Geschehens, sich in neue Bewegtheitsformen umzusetzen. 8
) Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. 304.
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Die Eigenkraft der Urkörper —
Das letzte Glied aber in dieser hier angenommenen Kette von Umformungen ist die Entstehung des Insgesamts der leiblich-seelischen Fähigkeiten des Menschen. „Im Sinne erfahrungswissenschaftlicher Gewißheit kann der Übergang vom Tier zum Menschen heut noch nicht nachgewiesen werden, soviele Ergebnisse vergleichender Anatomie ihn auch wahrscheinlich machen. Auch die auf Vereinheitlichung gestellte Weltsicht, die hier auf diesen Blättern verflochten wird, wird hier nur eine Unterstellung, wenngleich eine von höchster wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit, vornehmen können" 9 ). Um die Eigenkraft der Urkörper als Wurzel der Urkraft des Menschen darzutun, rückt Kurt Breysig das Geschehen der Urkörper und das durch Menschen sich vollziehende unter eine Sicht des unmittelbaren Vergleiches. Er folgert, daß der Eigenbewegtheit der Urkörper eine Eigenkraft entsprechen muß, die mannigfaltigen Verwandlungen, Bindungen und insofern auch Minderungen unterworfen ist. Wird doch die herrlichste, freieste und stärkste ihrer Äußerungsformen, das unaufhaltsame, unaufhörliche, gradlinige Dahinschießen der freien, noch unverbundenen Elektronen im Weltenraum mit einer Geschwindigkeit, die der des Lichtstrahles gleichkommt, durch keine der späteren, gefesselten wieder erreicht. Den beiden unendlichen Beschaffenheiten der Welt, dem unendlichen Raum und der unendlichen Zeit, gesellt sich als drittes unbegrenztes Geschehensmaß die unendliche, von jeher wirkende und nie endende Eigenkraft und die von ihr hervorgebrachte und ebenso wenig je beginnende, noch je endende Eigenbewegtheit der Urkörper. Ist diese Eigenkraft die Grundmacht des anorganischen Geschehens, wie nicht minder im biischen Reich die des belebten Geschehens, so liegt nichts näher, als daß sie auch im Bezirke des menschlich-seelischen Geschehens, also auch in der Geschichte ein unmittelbares Seitenstück hat. 9
) Naturgeschichte
und
Menschheitsgeschichte,
S. 313.
eine Entmaterialisierung des Weltbildes?
121
„Daß Menschentun und Menschentum geschieht, ist eine nicht ihm selbst zuzurechnende Form seines Wesens, sondern eine ihm als einem Teil der Welt eingeborene Eigenschaft. Es ist der kosmische Kern seines Daseins" 10). Es ist der Drang zur Welt-Einheitssicht, zur monokosmischen Sicht, der den Menschen leitet, im Anschluß an das Naturgeschehen eine zum Ganzen geschlossene Weltsicht herzustellen aus Naturgeschehen und Menschheitsgeschehen, aus Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte. Die Lehre von der Kausalität, von der Verursachtheit offenbart sich in diesem Kreise als eine von Begriffen ausgehende Erkenntnislehre, von oben her, d . h . deduktiv gesetzt. Der Verursachtheit liegt die Auffassung zugrunde, daß ein Geschehen nur durch ein voraufgehendes Geschehen ermöglicht und herbeigeführt wird. Sie ist vom menschlichen Denken an die Dinge herangetragen, also eine Kategorie, wie Kant es nennt, eine vom Verstand festgesetzte Ordnungsform für das Geschehen. Sie entstammt dem Anschauungskreis einer noch rein mechanischen Physik. In ihr findet denn auch diese falsche Anschauungsweise ihren Ausgangspunkt: der Irrtum von der Allgewalt einer die Dinge von außen vorwärtsstoßenden Verursachtheit des Geschehens! Ein großes, gewaltiges Geistgeschehen begibt sich da vor unseren Augen: Was anderes als Entmaterialisierung des Weltbildes war denn in Jahrhundertereihen das Streben und die Sehnsucht aller Metaphysiker, aller derer, die eine Geistwelt über der Erden weit aufrichten wollten, sei es im Dienste des Glaubens, sei es in dem des frei bauenden Gedankens? Und nun geschah das Seltsame, Unerwartete, daß dieselbe Naturforschung, deren beklagtes oder verfluchtes, oft bekämpftes und zum mindesten als fremd angestarrtes Werk das ganz irdisch aufgefaßte Weltbild war, das man, wenn nicht aufzulösen, so doch zu entwerfen trachtete, mit ihren eigensten Werkzeugen, ihren strengsten 10
) Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte,
S. 331.
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D i e unverursachte Wirkung als Stammbaum
Forschungsweisen, die unterste Schicht, den innersten Kern alles Weltgeschehens ihrer materiellen Greifbarkeit entkleidete. Es war, als wollte die Physik das Amt der Entstofflichung der Welt, das bisher unbestritten und allein in den Händen der Metaphysik gewesen war, dieser entfremden und, freilich auf ihre ganz andere Weise, sich aneignen" u ) . Unser Sehen der Welt erfährt tiefgreifende Veränderungen: wir müssen einsehen, daß das Geschehen der Welt in seinem Kern nicht aus irgendwelchen Bewegungen von Stoffteilchen besteht, sondern aus einer Abfolge von Wirkungen. Mit anderen Worten: die Bewegtheit der Urkörper hat keinerlei, wenn auch noch so kleine Stoff-Teilchen zu Trägern, sondern besteht nur aus Wirkungen 12 ). Diese Umänderung des Bildes vom Weltgeschehen bleibt nicht auf den Kernbezirk der Urkörper beschränkt. Da die Körper aller höheren Ordnungen von den Atomen und Molekülen aufwärts nur Verbände von Urkörpern sind, und zwar bis zu den größten Einheiten des anorganischen Reiches, etwa den Weltkörpern der Gestirne oder bis zu den größten Einheiten der organisch-biischen Welt, den Pflanzen- und Tierleibern hinauf, so kann auch deren Geschehen, das sich unserem bisherigen Sehen als ein unbedingt und greifbar stoffliches darstellt, nichts anderes sein als eine, wenn auch in zahlreichen Schichten aufgetürmte, in noch mehr Formen zusammengefaltete Einheit von Bewirktheiten, d. h. also wiederum von einseitig erduldeten, objektiv erlittenen Vorgängen, nicht aber von Handlungen aktiver Körper-Subjekte 1 3 ). Am Anfang der Welt steht eine unverursachte Wirkung, die, wie aus dem Nichts geboren, den unendlich verzweigten Stammbaum von Geschehensformen, den wir die Welt u ) Naturgeschichte, S. 364/65. « ) Ebenda S.367. « ) Ebenda S.367.
von Geschehensformen der Einheit: W e l t .
123
nennen, aus sich hat entstehen lassen. Die Welt ist Bewirktheit ohne Ursache, und da sie zugleich ein Geschehen, ein Ding ohne Stoff ist, — so werden an unser, in ganz anderer Richtung gewöhntes Denken harte Anforderungen gestellt. So erleben wir, wie innerstes Urgeschehen, also im Grunde alles Geschehen der Welt, stoff- und ursachlos ist und die Geschehensform Wirkung im höchsten Maße aktive, handelnde Geschehensform, die Eigenbewegtheit, in sich schließt. Die Geschehensform Wirkung erscheint als causa movens, als die Endursache alles Geschehens. Sie ist nicht durch irgendein anderes Geschehen heraufgerufen: „Stofflos und doch die Grundlage legend für alles Geschehen und Sein, das von uns als Stoff angesehen wird, alles Geschehen verursachend und selbst ursachlos, uns die im Geist das Weltgeschehen Erlebenden als Wirklichkeit bewirkend und selbst im Grunde wirklichkeitslos: Urrätsel der Welt" 1 1 ). „Wenn wir der Geschehenseinheit der Welt und der Deutung der im Bereich unserer Überschaubarkeit liegenden Geschehensreihen nachgehen, so sei im Gegensatz zu mehrtausendjähriger Gewohnheit des Sehens ein Satz als Ziel der Beweisführung vorangesetzt: Es gibt nur ein Ding Welt, es gibt nicht eine Mehrzahl von selbständigen, untereinander unabhängigen Einzeldingen, wie unsere Namengebung, aber auch unsere Begriffssetzung uns erscheinen lassen" 1 5 ). Die Welt ist Eines, und jedes von uns sogenannte Einzelding oder Einzelwesen ist ein Teil des Weltganzen. In diesem Sinne ist auch das Ich — dem wir von jeher Selbständigkeit zuzusprechen gewohnt sind — ein Teilding der Welt und ihm zugehörig wie ein Baum mit Krone, Stamm und Wurzelwerk eine Einheit für uns ist. Gerade u
) Naturgeschichte, S.371. ) Ebenda S.373.
15
124
Vom Urgeschehen
aus diesem unbefangenen Verhältnis zur Welt müssen wir uns bewußt sein, daß unser Ich — nicht in der Welt der Wirklichkeiten — wohl aber in der Welt des Phänomenalismus — oder wie immer wir das Begriffsnetz einer formalen Erkenntnislehre bezeichnen mögen — seine begrifflichen Prägungen empfängt: in der es zugerechnet wird einem physikalischen, einem physiologisch-biologischen und einem psychologischen Kreise. Unser leibliches Ich ist nirgends erfolgreich abgeschlossen gegen die übermächtigen Einwirkungen der Welt. Eine Klimaveränderung — etwa das Absinken der Temperatur um 15 Grad — würde dem Dasein des Menschengeschlechtes in kürzester Zeit ein Ende bereiten. Tiefer noch dringt das Wirken der Welt in unser geistiges, unser seelisches Sondersein. Unser Denken ist seiner leiblichen Hälfte nach angewiesen auf die Engramme, die unseren Hirnganglien eingeprägten Restspuren, die die Einzelstücke unserer Merkwelt nach ihrem Eindringen zurückgelassen haben. Auch die kühnsten Verbindungen bauender Forscher und phantasiestarker Künstler sind doch nur Leihgut, geschenkt von der großen Spenderin Welt. Unser Ich ist doch nur Schauplatz, Werkzeug des Wirkens der Welt, das sich in uns zu einzigartigen Wirkensformen sammelt.
VI.
Die Form im Werk: Die Welt eines Geschehens Vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen Im Gesamtschaffen Kurt Breysigs bildet die Durchforschung der Erfahrung in den Geschehenszügen von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte ein Bauwerk von höchster Denkmalkraft. Monumentale, klar beherrschende Baustufen schafft nur ein großer Bausinn, der aus einer gemeinsamen Ganzheit her die Maße stuft und sichtbar rieh-
zum Spiegelgeschehen.
125
tet. Es wurden die Eigenschaften, die das Menschheitsgeschehen mit dem Naturgeschehen teilt, unter dem Namen Urgeschehen zusammengefaßt. Es gibt nur ein Verfahren, wie es nur eine Wirklichkeit und nur eine Welt gibt, die als die Einheit einer Gesamtanschauung dem Bild der Welt Licht, Form und Sinn leiht. Alle Menschheitsgeschichte hat einen inneren Kern, der sich in seiner Naturgewachsenheit wie eine unmittelbare und fast wesensgleiche Fortsetzung des Naturgeschehens ausnimmt, der als Urgeschehen bezeichnet wurde. Von ihm setzt sich im geistigen Schaffen grundsätzlich das Spiegelgeschehen ab, das aus der Nachbildung alles Außengeschehens im Geist entsteht. Die eine Welt, auf die notwendig alles Erfahren bezogen werden muß, gibt dem Menschen doch erst aus der Idee ihrer höchsten Ganzheit die unendliche Reihe von Erfüllungen in der Form der Spiegelung. Ein großer Teil alles geistigen Dichtens und Trachtens geht in der Spiegelung des Welt- — wie auch des eigenen — Geschehens auf; Gefühl und Empfinden ist nur die Form-Spiegelung, die wir mit den Tieren teilen, Gedächtnis ist Spiegelung und selbst unsere Einbildungskraft, so stark und frei sie sich dünken mag, ist nur imstande, Welt und Wirklichkeit zu spiegeln. Pflanzen, Tiere und Menschen als Summen anorganischer Körper und anorganischer Geschehensverläufe teilen das Schicksal dieser ihrer tiefsten Ursprungsschicht: sie sind tatsächlich auch anorganische Körper 1 ). Wenn wir als organisch das Ganze bezeichnen, bei dem die Teile durch das Ganze ihre Zuordnung erfahren und als Einheit eines Lebendigen wirksam sind, so läßt in der organischen Einheit Mensch der Geist eine dritte Form von Geschehen entstehen: das Spiegelgeschehen. Seine Weise ist es, in dem Bewußtsein, das durch den Menschen in die Wirklichkeit eintritt, zuerst der Welt ringsum, dem1
) Vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen, S. 13.
Ist der Geist von der Welt zu trennen und z u m
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nächst sich selbst einen Spiegel vorzuhalten, indem er beider, der Welt und des Menschen Bild aufzufangen trachtet. Dabei ist nicht anzunehmen, als ob dies Geschehen durch den Qeist wie aus dem Nichts geschaffen und völlig neu aufgetreten wäre. Eine Weise der Spiegelung geht dem Bewußtsein vorauf: die Empfindung des Leibes, das Gefühl der Seele, nicht erst der Menschen-, nein auch schon der Tierseele. Diese müssen als ihre dumpfere Vor- und Keimform angesehen werden und tragen als Empfindungs- und Gefühlsmächte doppeltes Geschehen in sich: sie sind Urgeschehen und Spiegelgeschehen. „Urgeschehen sind sie als Verbindungsdränge — d. h. also als der tatsächliche Geschehenskern des Empfindungs- und des Gefühlslebens, der sich bewegend-motorisch in uns regt und unser Handeln, etwa in der Form des erst leiblichen, dann seelischen Geschlechtstriebes, bewirkt, Spiegelgeschehen sind sie, insofern sie unserm Leib, unserer Seele empfindbar, fühlbar werden, insofern wir sie also erleben. Denn für das Weltgeschehen in uns, durch uns ist diese zweite Auswirkung von Empfindung und Gefühl an sich völlig unerheblich. Sie stellt an sich lediglich eine Bekanntgabe dieser Ereignisse an unseren Leib, unsere Seele — mit den für uns sehr wichtigen, für das Weltgeschehen ebenfalls gleichgültigen Vorzeichen von Lust und Unlust — d a r " 2). Als Wirklichkeit nachweisen läßt sich dieser Zusammenhang nur in dem Sinne, wie etwa im Keim einer Pflanze etwas geschieht, das eins bleibt und doch immer anders ist, einer Entwicklung Einheit ist, zu deren Wesen es gehört, immer zu werden. Die Kraft der Bespiegelung, die erst im bewußten, dem seiner selbst und der Welt bewußt werdenden Geist der Menschheit aufsteigt, ist ein Teil des einen Wirklichen, auf dessen unendliche Tiefe sie hinweist. Sie ist aber nicht die Tiefe selbst, die in ihrer Ganzheit 2
) Vom
Naturgeschehen
zum
Geistgeschehen,
S. 17,
Schöpfer auch der Weltordnung zu machen?
127
größer ist als jeder menschliche Versuch, den Geist von der Welt zu trennen und die Welt zum Chaos zu entwerten, den Geist zum Schöpfer auch der Weltordnung zu machen. So verstandener Geist, indem er die Welt spiegelt, gibt er sich an sie hin, will er nicht Herr, will er Teil von ihr sein; denn aus dem „innersten Kern von Wissenschaft, Wissenwollen um die Welt spricht Weltgefühl, Allgefühl." Seit Glauben unter den Menschen aufgekommen ist, behauptete noch jede seiner Verkündigungen, die Wahrheit der Welt zu enthüllen. Er ist in seinem eigentlich geistigen Kern Daseinslehre, genauer gesagt Daseinsahnung. Um zwei Pole sind alle Glaubensformen geordnet: Mensch Mitte und Welt Mitte. Der Allseelenglauben der Urzeit und die erste, noch ganz naive Mystik neigen der Welt zu. Die Verpersönlichung und Vermenschlichung, die bei Pflanzenund Tiergeistern einsetzt und schnell zu Heilbringern und wachsenden Göttern emporleitet, strebt dem anderen Pole zu, Mensch Mitte, der dann durch die Gottesgestalten der Altertumsstufe voll erreicht wird. Der Gott, der erst zum Einzigen, dann zum Schöpfer der Welt aus dem Nichts gesteigert wird, rückt aus der gestalthaft sinnlichen in eine gedanklich begriffsmäßige Ebene, in der er vom Menschen entfernt und zu einem Prinzip, zum Inbegriff einer Gewalt wird. In aller Kunst hat die Einbildungs- und die Bildnerkraft von Menschen das Bild der Welt aufzufangen gesucht. Mit kühner Willkür und großer Freiheit formt die starke Kunst der Altertumsstufe ihre Gebilde. Sie stilisiert. Das Wissenschaftsbild dieser Stufe erschaut das straffe Gesetz, die feste Ordnung der Himmelskörper." Der Stil ist der Mensch, aber der Mensch selbst fügt sieht jetzt dem Gesetz und also der Welt, von der ihm der Gedanke des Gesetzes kommt. Der Stil ist Wille, aber auch Welt. Er ist ganz ichmäßig und menschlich, doch auch weltisch, kosmisch. Immer aber vollzieht sich so das Grundverhältnis zwischen der Welt und dem Geist: der Gegenstand alles, aber auch
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Die Welt gibt dem Menschen
alles geistigen Schaffens ist die Welt. Indem sie ihr Bild dem Menschen einprägt, gibt sie ihm den Gegenstand alles seines Ahnens, Forschens und Bildens. Die Schulung des Verstandes durch das Vorbild der Welt bedeutet die Summe der Einwirkungen, die das Ich des Menschen in seinem Unterbewußtsein erfährt. Durch sie ist das menschliche Tun mit der außermenschlichen Welt verbunden. Aus ihr erwächst die Einheit des Menschen, die sich im Denken entfaltet, über die eigenen körperlichen Grenzen hinausgreift nach der Umwelt und in den Kündungsformen der Sprache und anderer Ausdrucksweisen die Synthesis des Lebendigen darstellen. Diese Vorgänge im Reich des Unterbewußten werden angenommen, werden gesetzt, da sie nicht erfahrbar sind. Aber für Kurt Breysig geschehen diese Setzungen nicht „im Voraus" nach Art der Logizisten. Die Einheit Mensch ist ihm die Einheit eines Lebensablaufes, der uns aus eindringlicher körperlicher Erfahrung — im Kreisrund des Lebens, vom Geborenwerden bis in die Unvermeidlichkeit des Todes — als ein Insgesamt des Geschehens zur Tatsache, als Erfahrungsergebnis erwächst. Im Ich, im Bewußtsein erwächst dem empirischen Menschen, da ihm Erfahrungen möglich sind, zunächst E r f a h r b a r k e i t u n d d a n a c h G e w i ß h e i t , die uns die mit den Sinnen empfangende Erfahrung in Naturdingen gibt. Der Mensch ist nicht die Welt. Er ist nur ein Teil von dem unendlichen Abgesang des Geschehens, das durch ihn wie durch alles Endliche hindurchgeht. Schaut man so das Verhältnis zwischen Weltgeschehen und Vernunft von seiten der Welt an, so entspricht für den Empiriker Kurt Breysig dieser Sicht folgerichtig auf selten unseres Verstandes die Annahme, daß dieses unser Denkvermögen auf dem langen Wege der Entwicklung, den es von der Abtrennung der Art Mensch aus dem Tierreich zurückgelegt hat, die allerwesentlichsten Förderungen von
sein A h n e n , F o r s c h e n
und
129
Bilden.
dem Vorbild erhalten haben muß, das ihm die Welt in ihrem eigenen Sein vor die Augen hielt. In dem Prozeß, der durch lange Jahrhunderte-Reihen sich fortsetzenden Ausbildung unserer Verstandes-, d. h. Begriffswerkzeuge ist niemals Protokoll geführt worden, es sei denn, wir nähmen die Entwicklung des Begriffsvorrates der Sprache dieser Erde als Ausgangspunkt. Sie geben in ihrem Werdegang Zeugnis dafür, wie der menschliche Geist durch die Beobachtung der Natur zu einer ersten Anwendung der Identität. Wissen wir doch von mehr als einem der lebenden Urzeitvölker, daß ihnen keineswegs die Dasselbigkeit der Sonne von heute mit der Sonne von gestern oder die des Mondes im letzten Viertel mit dem des ersten schon zur Überzeugung geworden ist. Wenn die Tasmanier, denen doch schon eine Vorstellung von der Sonnenbewegung aufgegangen ist, einem europäischen Forscher klarmachen wollten, daß eine Reise zwei Tage erfordern würde, so hoben sie an einer Hand zwei Finger in die Höhe und machten mit der anderen Hand eine zweimal kreisende Armbewegung, die den Lauf der Sonne darstellen sollte. Aus dieser Gebärdensprache wird deutlich, wie der erste Schritt zur Erkenntnis einer Identität getan ist, die an sich nicht für die Sinne erkennbar ist. Schrittweise mag sich der Umfang dieser Identitätserkenntnis — die wir doch als Leihgut der Natur an den Menschen empfangen — erweitert haben, bis er etwa den Ägyptern ermöglichte — vermutlich vom Jahre 2781 vor Christus ab —, dem Sirius für eine Periode von 1461 Jahren seine Identität zuzugestehen. Im Verein mit seiner Einbildungskraft hat der Verstand des Menschen aus den Eindrücken, die ihm von dem Weltgeschehen kamen, mit den Mitteln der von unten her bauenden, der induktiven Erfahrungswissenschaft die Begriffe aus ihrer Zugehörigkeit zu dem raumzeitlichen Zusammenhang des Geschehens, das wir Wirklichkeit nennen, für sich erworben. Langsam, unmerklich und doch unwiderstehlich hat das Vorbild des H e r i n g , Das Werden als Geschichte
9
130
D a s Vorbild des Weltgeschehens
vermittelte
Weltgeschehens dem Menschen die Bildung dieser Denkformen in die Hand gedrängt. Durch sie wuchs er hinaus über seine animalische Funktion. Im Aufbau seiner Denkwelt erwuchs dem Menschen — weitab von allem Körperlichen — ein neues Reich. Ein neues Leben wurde erobert. Wenn Begriffswissenschaft von heute den Satz von der Identität als a priori gefunden, als Setzung — im Voraus behandelt, so übersieht sie, daß kein einziges a priori ohne eine, wenn auch noch so schmale Erfahrungsgrundlage entstanden zu denken ist. In das Reich des unterbewußten Geschehens gehört auch die Bewirkung der Einbildungskraft durch das Weltgeschehen. Nicht fertig, wie Athene aus dem Kopf des Zeus, ist die Kunst aus dem Haupte der Menschheit hervorgegangen. Versteht man unter Kunst erstens — als freie Kunst — die Schaffung von Spiegelbildern der Welt und des Lebens in Stoff und Ton, die dazu bestimmt sind, eine freudig erregende Wirkung auf den sie empfangenden Menschen herbeizuführen und zweitens — als angewandte Kunst —, die Umformung von Lebensnotwendigkeiten — Haus und Qerät — zu Gegenständen von ähnlich anmutender Form, so erweist sich schnell, daß das Tun der Urzeitvölker zwar vieles geschaffen hat, was auf unser Empfangen und gewiß auch auf ihr eigenes durchaus den freudig erregenden Eindruck gemacht hat, daß aber diesem Wirken ganz und gar die Absicht abging, ohne die nicht nur nach der hier umrissenen Begriffsumgrenzung, nein auch nach dem allgemeinen Empfinden Kunst nicht Kunst ist. Ja, noch mehr, man wird sagen dürfen, daß die Erzeugnisse der Urzeitgesittung, an denen sich dergleichen unabsichtliches Kunstvermögen betätigte, von ganz anderen und zwar völlig bewußten Absichten beherrscht und geformt waren. Der Glauben hat so die Urzeitmenschen bestimmt, den Boden ihrer Boote oder ihre Waffen und ihr Gewand und ihr Werkzeug mit Sinnbildern zu schmücken, die feind-
dem Menschen den Aufbau seiner Denkwelt.
131
liehen Gewalten wehren, günstige zum Schutz anlocken sollten. Die Tierbilder auf dem Boden eines Bootes sollten als Gewalten, deren Gleichnis sie waren, gegen Sturm und Wogenprall schützen. Ebenso sollte der fast turmhohe Wappenpfahl, nur bestehend aus den Totemzeichen des eigenen und verwandter Geschlechter, den Schutz der in ihnen dargestellten Tiergeister gewinnen. Der beinerne Zauberstab in der Hand des Sehers sollte Wunder wirken, und Totenmasken wurden von lebenden Menschen (als Stellvertreter der Toten) im Reigen getragen. Das geschah alles zu Zwecken des lebendigen Lebens, nicht aber der Kunst. Ganz gewiß war es eine der ersten Aufstufungen menschlicher Lebensbeherrschung, als der frühe Urzeitmensch das erste Werkzeug formte. Aber ein weiterer Schritt war es, altgewohnten Werkzeugen durch Bemalung oder Schnitzerei, also durch Bilder und Zeichen übermenschlicher Gewalten, eine Kraft beizugeben, von der Schutz und Schirm im Kampf des Lebens zu erwarten war. Dabei hegte der Urzeitmensch die Überzeugung, daß der zauberische Zweck nur durch möglichst getreue Nachformung der Urbilder in der Natur erreicht werden könnte; denn wenn die Träger außermenschlicher Gewalten ihre wohltätigen und schützenden Wirkungen auf ihre Abbilder übertragen sollten, so mußten diese ihren Mustern möglichst gleichen. Was für unser Sehen an diesen frühen Erzeugnissen der Kunst so häufig als absichtsvolle Vereinfachung oder Steigerung — also Stilisierung — erscheint, ist weit mehr ein Versagen des technischen Könnens in der Wiedergabe des Urbildes, als eine absichtliche Steigerung. Man schuf in der Urzeit Bildwerk und Maske zu Zwecken des Lebens, des Lebensschutzes, indem man Naturdinge „noch einmal" abbilden, sie widerspiegeln wollte, und erfuhr dabei die breiteste und unbedingteste Beeindruckung durch die Natur. Die Scheidung in der Kunst, der Gegensatz von anthro9*
132
Kunst als Heraussteigerung,
pologischen und kosmologischen Zielsetzungen, von eigenmenschlichen und von außenweltischen Antrieben bestimmt zu werden, trat deutlich erst auf der Altertumsstufe der Entwicklung auf. „Alle die Willensmächte, aber auch alle die Verstandeskräfte, die in Staat und Tat dieses Entwicklungsalters das Königtum und so oft das Qroßkönigtum und die erste Form absichtvollen und durchgeordneten Staatsbaues haben entstehen lassen, haben sich auch in der Kunst dieses Zeitalters offenbart und ihre Spannungen waren durchweg auf zwangvolle Umformung des von der Außenwelt dargebotenen Urbildes gerichtet. Daß alle die Grundzüge der in Wahrheit hohen Kunst dieser Stufe das Gepräge einer unnaturalistischen, ja gegennaturalistischen Gerichtetheit tragen, wird nicht in Zweifel zu ziehen sein" 3 ). Der Grundkern alles ihres Wollens und Vollbringens war eben ein Gegenausschlag zu Stil und gewollter Schönheit. Richtunggebende Kraft war nicht wie bisher als stärkste Kraft die Natur, sondern das Menschentum selbst, die eigenwillige Herrscherlichkeit des Menschen. Jetzt erst entstand im eigentlichen Sinn Kunst, weil jetzt mit Absicht Schönheit geschaffen wurde. Wenn auch noch immer die Kunstübung tief in Lebenszwecke eingebettet erscheint — zur Verherrlichung von Götter- und Königsmacht —, so wird sie doch infolge der gewaltigen Heraussteigerung dieser Zwecke zum absichtsvollen Tun weit vorwärtsgetrieben. Aller Wahrscheinlichkeit nach kam von jetzt ab Künstlertum als besonderer Beruf auf. „Es begann das Erstreben von Schönheit, d. h. einer von Menschen — in den Zeiten wechselnd — gewählten und gewollten Form der Widerspiegelung von außermenschlicher oder menschlicher Umwelt in den sogenannten freien Künsten und einer ebenso absichtsvoll von Menschen gewollten Ausformung von Haus und Gerät in den ange3
) Kurt
S. 110.
Breysig,
Vom
Naturgeschehen
zum
Geistgeschehen,
als Stilisierung, als Menschentum.
133
wandten Künsten" 4 ). Die Formen der Umwandlung, die nunmehr in der Kunst an den Urbildern der Natur vorgenommen werden, bezeugen das Empordrängen des Eigenmenschlichen im Kunstgeschehen. Das schauende und bildende Ich des kunstschaffenden Menschen wagt es, sich frei und herrscherlich der Fülle der Wirklichkeiten gegenüberzustellen und hier die eine hervorzuheben, dort die andere zu verwerfen. Der Dienst der Götter und der Lebenszweck der Königsherrschaft gaben dem Kunstschaffen die Note der absichtsvoll bewußten Kunst in der Altertumsstufe der Menschheit. Dazu tritt die Steigerung im geistig-seelischen Sinne, die Heraustreibung großer und bedeutender Züge in dem Spiegelbild des von der Kunst wiedergegebenen Menschentumes. Die ungeheuren Standbilder von Ramses II., am Eingang des Tempels von Abusimbel in den Felsen gehauen, zeigen neben der Nachbildung des von der Natur gebotenen Urbildes, als eigenmenschliche Zutat den Willen zur Vergrößerung, und zwar ungeheurer Vergrößerung. Willensmäßig tritt die Vereinfachung, die Oeometrisierung hervor in dem Terrassentempel Babylons, mehr noch in dem Pyramidenbau der Ägypter. Die Pyramide ist die Grundform für Königsgräber, und wenn die Pyramide des Cheops 233 Meter in der Breite und 145 Meter in der Höhe mißt (fast das Dreifache der Höhe der Türme des Kölner Doms), so spricht aus ihrer einfachsten Form der Stilisierung die Majestät des Königs, dessen Größe sie im sinnlichen Eindruck Gleichnis sein will. Als ein anderes Mittel der Stilisierung, d . h . der absichtsvollen Entwicklung, findet sich die absichtliche Wiederholung gleicher Einzelstücke. Ihr entspricht die im strengsten Schrittmaß erscheinende Wiederholung im Weltgeschehen, das auf Sinne und Seele unseres Geschlechtes von allen Seiten seiner Umwelt eindringt. Das Gleichmaß Ebenda S. 111—112.
134
Die Formen des Glaubens
zeitlicher Wiederholung, das von dem Lauf der Sonne und der Gestirne, von Ebbe und Flut, vom Pulsschlag unseres Blutes und vom Schrittmaß unseres Ganges auf uns einströmt, hat unsere Ton-, Dicht- und Tanzkunst beeindruckt und sich ihnen als Grund ihres Aufbaues eingeprägt. Keine Form geistigen Schaffens ist neben der Kunst so erfüllt von Auswirkungen der Einbildungskraft, und von ihnen so abhängig wie der Glauben. Zwar ist er eine lebendige Tat, indem er eine zweite, seiende Welt neben der ersten, der rein erfahrbaren, entdecken will, doch kann diese zweite Welt nur geahnt und nicht aufgesucht werden, ihr Bild nur mit den Mitteln der Einbildungskraft erschaut und allenfalls mit denen des Verstandes geordnet und gefestigt werden. Den ersten Ansätzen des Glaubens gab nicht die Furcht die Richtung, sondern das immer neue Ichbewußtsein des Menschen gab sich hin an seine Umwelt, versenkte sich in die Formenvielfalt der Natur, in ihr weites Leben, Sterben und Werden, nahm teil an den Spiegelungen der Welt, die im Ablauf des Geschehens und seiner Wiederkehr den Menschen zwang zur Frage nach dem Werden und Entstehen. U n d der -Mensch begriff die Natur, soweit er das vermochte, soweit ihm sein Erfahren in dem sinnlichen Weltbild Deutung und Antwort sagte. Es war eine Annahme der Allbeseeltheit der Welt, die einer Gesamtgemeinschaft mit dem Kosmos zugrunde lag. D a man Fels und Fluß, Bucht und Wolke, Stock und Stein, Sonne und Sterne, Pflanzen und Tiere als von Gewalten besessen ansah, denen sich der Mensch nebenordnete. Man schrieb den Dingen und den Wesen dieselbe Gewalt zu, die man über und neben dem Leib im eigenen Sein annahm, eine Seele. Die Geister, die in weiterer Entwicklung losgelöst von den Dingen ihr Wesen trieben, kamen doch wohl von jenen Dinggeistern her. Die Pflanzen-, die Tiergeister, halb menschliche, halb tierische Geister, wie ein buntes Bilder-
als das immer neue Ichbewußtsein des Menschen
135
buch der Welt, aus dem sich der Mensch auf staunende Fragen Antwort holte, — fanden ihre Aufhöhung in dem Heilbringer, der aus den vielen Göttern der Weltschöpfer, der Regierer von Welt und Menschheit wurde 5 ). An den Tierköpfen so vieler Gestalten des ägyptischen Götterhimmels erkennen wir noch den Tierursprung, also den betont naturbestimmten Ursprung der Götter. Aber es entspricht der Glaubensform der Göttergebilde der Altertumsstufe der Menschheit, wenn ihre Macht über das Geschick der Menschen gesteigert erscheint und der Gläubige in demütig hingegebener Unterwerfung vor dem Gotte erscheint. Eine neue, daseinswissenschaftliche, schlechthin metaphysische Welle setzt ein: die Gottesmacht wird durch das in Jahrhunderte-Reihen fortgesetzte Glaubensdenken auch aus rein geistigen Gründen immer weiter gesteigert, die Macht des Gedankens verbindet sich mit dem seelischen Reiz immer tieferer Unterwerfung unter die Herrschaft von erträumten Gestalten. In Fällen äußerster Ausgipfelung dieses Geschehens verbinden sich Beweggründe eigenmenschlich-staatlichen Ursprungs und eigenmenschlich-gei5
) Vgl. Kurt Breysig, Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer, Berlin 1905. In dieser vergleichend und entwickelnd verfahrenden Untersuchung zur Formenlehre des Glaubens bietet Kurt Breysig bereits 1905 die Grundlagen für eine allgemeine und vergleichende Glaubensgeschichte, die unter Ausscheidung falscher Übertragungen christlicher Anschauungen nicht nur die Entstehung des Gottesgedankens bei noch lebenden Urzeitvölkern untersucht, sondern die Glaubensentwicklung der Semiten und Hamiten (Jahwe, den Heilbringer und seine Steigerung zum All-Einen) stufenmäßig einordnet und in einem dritten Teil den Anteil der Arier — Inder, Griechen und Germanen — an den Glaubensgebilden der Menschheit aufweist. Die Triebkräfte der Entwicklung im Wachstum der Heilbringergestalten, die Zusammenhänge von Tierwesen, Heilbringern und Göttern, die Umwandlung der Glaubensbilder ins Zeitgemäße u.a., finden in diesem Werk in der A u s p r ä g u n g allgemeiner Begriffsformen ihre Grundlegung für eine Wissenschaft v o m Wesen und Werden des Glaubens.
136
bis zum reinen Ein-Qottes-Qedanken.
stigen Ursprunges zu überstarker Wirkung, so als Amenhotep IV., um 1450 Großkönig von Ägypten, sich den Beinamen Chuen Aten, Abglanz der Sonnenscheibe, beilegte und das Königtum nicht aus eigener, sondern nur mit erborgter Kraft die Herrscherwürde der Sonne am gestirnten Himmel als Urbild für die eigene auf Erden auf sich wirken ließ. Als Huiracocha, Großkönig von Peru — 1450 nach Beginn unserer Zeitrechnung —, eben diesen Namen des Sonnengottes für sich annahm, zeigte sich in gleicher Weise, wie stark die Macht dieses zu seiner höchsten Kraft gediehenen Königtumes auch in Sachen des Glaubens war: Die Rangerhöhung, die diese Könige sich verliehen, sich selbst verliehen, war nur die Geleiterscheinung eines viel stärkeren Unternehmens, nämlich den Glauben mit den Machtmitteln und nach dem Vorbilde des Königtumes umzugestalten. Der reine Ein-GottesGedanke sollte den Priestern und den Gläubigen aufgenötigt werden, und in deren Gefolge erfolgte die SelbstUmnennung der Herrscher. In dem unumschränkten Herrschertum der neueren Zeit erscheint die Wiederholung des Großkönigtumes der Altertumsstufe wie ein Nachhall, wenn Ludwig XIV., den die Franzosen Louis le Grand und Roi Soleil — König Sonne — nannten, sich als ein wahrhaft gleicher Bruder des Königsgestirnes unter den Himmelskörpern feiern ließ 6 ). Die dem Mittelalter eigentümliche Form der Mystiken zeigt eine Abkehr von den Menschlichkeiten des Götterglaubens der Altertumsstufe und eine Hinwendung zu den Vorstellungen eines Allgottesglaubens. Die damit eintretende Entpersönlichung der Göttergestalten führte zuweilen zu ihrer völligen Auflösung und Leugnung. Gestalten werden durch Gewalten ersetzt. Es tritt wieder wie bei dem Allbeseeltheitsglauben der Urzeit eine Vorherrschaft des ®),.Vom u. a. O.
Naturgeschehen
zum
Geistgeschehen,
S. 128,
129,
s.
Mystik löst die G ö t t e r g e s t a l t e n auf,
137
Weltgeschehens über die Glauben schaffende Einbildungskraft zutage. Doch verteilt die mittelalterliche Mystik nicht wie die Urzeitmystik die unsichtbaren, ungreifbaren Gewalten auf die einzelnen Teilstücke der Natur, auf Einzeldinge und Einzelwesen, sondern faßt sie in einem hohen Weltbegriff z u s a m m e n ; sie hat in sehr hohem Maße die Denkkraft einer Daseinslehre, einer Metaphysik ausgebildet. Die Mystik des spätbrahminischen und des buddhistischen Indien löste s o g a r nicht nur alle Gestalthaftigkeit der Götter, nein auch die der Menschen und selbst noch der Dinge auf und setzte an den Anfang wie an d a s Ende von allem Menschenerlebnis ein nicht-seiendes Sein, d a s Nirwana — ein gestaltloses, ein bewußtloses, aber fühlfähiges Ällwesen. Laotses Tao ist die Rettung der ewigen Sehnsucht in d a s Einsgefühl mit einer Welt ohne G o t t : Tao ist der W e g zum letzten Ziele und zugleich der erste G r u n d des Weges und des Zieles: ,,Du suchst das Tao, und du siehst es nicht; es ist farblos. Du horchst und du hörst es nicht, es ist stimmlos. D u willst es berühren und erreichst es nicht; es ist körperlos." Von der letzten Ursache der Natur und unseres Lebens innerhalb dieser N a t u r kennen wir nichts als T a o : „Tatenlos weiß T a o . . . Es kann nicht gesagt werden. W a s gesagt werden kann, ist nicht Tao. W a s den Gestalten Gestalt gibt, ist selbst gestaltlos; also ist Tao namenlos. W e r einem antwortet, der nach Tao fragt, kennt Tao nicht." Die hohen und reinen Gedanken Meister Eckeharts — sein Nicht-Seiendes-Sein — mit der Seele und mit dem Gott in eines verschmolzen — sind, d a s sei zunächst a n gemerkt, die große Form des Weltanschauens und der Aussprache, die d e u t s c h e s Philosophieren (in deutscher Sprache) überhaupt erst ermöglichten. Sie bedeuten aber zugleich eine Ausgipfelung deutschen Geistes, die Haß und Nichtachtung d e r zünftigen Theologie und professorablen Philosophie wahrlich nicht verdient hat.
138
führt zum
Eins-Gefühl mit der Welt.
Sein Welt-Anschauen 7), sein Eins-Gefühl mit der Welt, hat nichts zu schaffen mit den Niederungen scholastischer Welterklärungen. Aus dem Urfeuer des Werdens entsteigt sein „Gewirke". Es ist e i n e s und ist viel zu unnennbar, denn daß es einen Namen haben könnte (Pf. S. 261). Denn Gott ist ohne Sprache, „ist unnamelich und über alle Worte in Lauterkeit seines Wesens, da Gott weder Rede noch Wort haben kann, da er unsprechlich ist allen Kreaturen (Pf. 162). Dies aber sagt er von der Werdenskraft, von der ungenaturten Natur, die nur soviel naturet, als sie sich lässet naturen: „Das eine Korn trachtet danach, Roggen zu werden, das andere hat es in sich, Weizen zu werden. Es ruht nicht, bis es in seine Natur kommt. Das Weizenkorn hat es z u g l e i c h in seiner Natur, daß es alle Dinge werden kann. Darum setzt es sich völlig daran und gibt sich in den Tod, auf daß es alle Dinge werde." „Oder das Kupfererz, das hat in seiner Natur, daß es Silber werden kann, und das Silber hat es in seiner Natur, daß es Gold werden kann; darum ruht es nimmer, es komme denn in dieselbe Natur. Ja, auch das Holz hat es in seiner Natur, daß es Stein werden kann; ich sage noch mehr: es kann alle Dinge werden, es gibt sich dem Feuer hin und läßt sich verbrennen, auf daß es in des Feuers Natur verwandelt werde, — d a wird es eins mit dem e i n e n und hat nun ein ewiglich Wesen. Ja, Holz und Stein und Knochen und alle Gräslein, die haben dort im e i n e n allesamt ein Wesen" (Pf. 334). „Erstekeit" nannte Eckehart diese „Eine", in dem er bereits Form und Weise des Weltgeschehens in einem AllSein sah, wie sein neues Lebensgefühl einer kosmischen Sicht entsprach: eine lebendige Welt, wunderbarer als der ewige Reigen von Blühen und Werden, der im Ganzen 7
) Ich folge hier (trotz einzelner Einwände gegen die Zusammenstellung) dem deutschen Werk seiner Predigten in der Ausgabe von Franz Pfeiffer, erstmalig 1857.
D i e Einheit des Unendlichen und des Allerkleinsten
139
als Bestehendes wirkt und den Rhythmus des W e r d e n s abteilt. Deutsch ist dieses Stürmen zu den Himmelstoren, zum Unendlichen, darin der Anfang und die W u n d e r alles Lebens schlummern. Deutsch und in der Ebene denkerischer Kraft Meister Eckeharts ist die Schau Kurt Breysigs, den U r o r d n u n g e n und Urkräften des Weltgeschehens die Einheit des Unendlichen und des Allerkleinsten in e i n e r Sicht als Menschheitsgeschichte, als Wissen um die Welt und I h r Werden zuzuweisen. Aber das tiefe Pathos seiner schöpferischen Kraft schreitet im Gefühl des großen Zus a m m e n h a n g e s mit dem kosmischen Geschehen vorwärts. Schaffendes Werden ist sich selbst Weg, Wert und Sinn. Die geschichtliche Welt als das Gestaltenreich d e r geschaffenen Formen e m p f ä n g t f ü r die Lebensringe des Geschehens die Stufenzuweisungen. Geschehen ist ihm mehr als Sein. Geschehen ist ihm das Werden der e i n e n Welt, die über alle Erreichungen zu neuen Formen drängt. Zu ihr gehören wir als zu e i n e m Ganzen, und wie immer unser Erfahren vom Geschehen zu Gesetzen schreiten wird: die Einheit aller Wahrheiten wird die e i n e Wahrheit sein, die Mannigfaltigkeit der Gesetze wird in dem e i n e n ihre G e setzlichkeit finden als höchste Einheit. Es möchte scheinen, als wären die letzten Darlegungen über den Rahmen des Gesamtgewebes dieses Abschnittes hinausgewachsen. Dem ist nicht so. Der All-Sinn, die Seele dieses E i n e n , findet bei Breysig in allen seinen Vollendungen die Bejahung aus dem Glauben an d a s Schöpferische des E i n e n über alles Menschlich-Schöpferische hinaus. Sein schlichtes Ja ist die vollkommene Selbstgenügsamkeit, die den Menschen hineinstellt in die Dynamik des e i n e n W e r d e n s . Und nichts außerdem! Die W e l t a n s c h a u u n g Meister Eckeharts endet im Verzicht, nicht in der Bejahung. Das hebt ihn a b von der Gegenwelt Kurt Breysigs. Bei ihm gehört d a s Werden zum Horizont der e i n e n Welt, des e i n e n Geschehens, d a s Werden in seiner eigenen, einzigen, schöpferischen Kon-
140
in der Sicht e i n e s
Geschehens, e i n e s
Werdens.
stante. Meister Eckehart mahnt zwar in seiner großen Predigt von dem Sohne (Pf. 64): ,,Wirke alles aus deinem innersten Grunde sonder Warum. Wer Gott o h n e W e i s e sucht, der ergreift ihn, wie er in sich selber ist, — und solch ein Mensch lebt mit dem Sohne und ist das Leben selber. Wenn einer tausend Jahre lang das Leben fragte: Warum lebst du?, gäbe es ihm Antwort, es würde nur das e i n e sagen: Ich lebe, um zu leben." Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt: darum lebt es ohne Warum, eben weil es sich selbst lebt. W o die Kreatur endet, d a fängt Gottes Sein bei Eckehart an. Das „Einfaltige E i n e — jenseits von aller Geschöpflichkeit" fließt ihm zurück in das Nichts; denn alle Dinge sind aus dem Nichts geschaffen, darum ist ihr eigentlicher Ursprung das Nichts. Sofern sich dieser edle Wille zu den Kreaturen herabneigt, zerfließt er mit den Kreaturen zu i h r e m Nichts (Pf.64). Jenes Nichtsein erscheint als Quell alles Seins, zu dem es als Nicht-Seiendes zurückdrängt. Für Kurt Breysig hingegen ersteht. — aus tiefstem forscherlichen Eigenerleben, in dem er den Brennpunkt des Geistes und den Brennpunkt der Sinne in einer Einheit sucht — in der Anerkennung des Geschehens der Welt als des e i n e n Zusammenhanges, das er in seinen Formen als Werden bejaht, der Kosmos — der Ethos. „Nicht Buddha, nicht Muhammed, die beiden Einzigen unter den Erdensöhnen, die des Vergleiches wert sein könnten, haben Teil an diesem Gottmenschentum von Jesus. Nur weil er in Wahrheit der Gewaltigste unter den Sterblichen war, fiel ihm dieser höchste und einzige Preis zu. Dasselbe Geschehen aber, das diesen einzig zur Göttlichkeit Erkorenen so hoch in die andere, die obere Welt erhob, es hat doch auch das Bild des höchsten Gottes selbst näher an die Erde gebunden. Es war, als ob die Menschheit in diesem Stärksten, den ihr Schoß hervorgebracht hatte, mit saugenden Organen, mit umfangenden Armen
141
Martin Luther und die Ein-Gottes-Lehre.
den erschauten Gott enger an sich gepreßt hätte. Auch sein Wesen ist durch diesen Vorgang, der einen Menschen zur Höhe seines Thrones hob, vermenschlicht worden. Die paulinische und johanneische Lehre, die der Väter und der alten Kirche haben diesen Grundzug von reiner Weltbestimmtheit fort zur Menschennähe viel öfter verstärkt, als — wie es etwa die Gnosis tat — in Frage gestellt" 8 ). Aus der Kraft unseres edelsten Mystikers, des Meister Eckehart, ist keine Kirche deutsch hervorgegangen. Zwar war Luther in der Vorrede zur Deutschen Theologie 1517 noch der deutschen Mystik verpflichtet, aber als er wenige Jahre später im vollen Gefühle seiner Macht und Verantwortung zum Handelnden in der Geschichte wurde, war er ein Staatsmann und ein Realpolitiker, der den Aufbau einer neuen Kirche erkämpfte. Augenfällig ist in Luthers Glaubenslehre die Lehre von dem Wesen und der Gewalt Gottes des Sohnes, die Christologie. Der Eingottesgedanke, hinter dem doch auf dieser höchsten Entwicklungsstufe der kosmische, der Weltgedanken steht, weicht zurück. Von einem an sich daseienden Gott will Luther nichts wissen. Der hinter Jesus stehende Gott ist in seiner Gerechtigkeit furchtbar, vor dessen Richteramt die sündhafte Menschheit nie bestehen würde, wenn nicht Jesus durch sein Leben und Sterben den Zorn Gottes versöhnt und für die Menschheit Vergebung der Sünden erwirkt hätte. Kurt Breysig weist darauf hin, wie wenig diese in der Zeit sich vollziehende Geschichte zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn einer folgerichtigen Ein-Gottes-Lehre entspricht. In der nachreformatorischen Glaubensgeschichte vollzog sich als Folge der Aufklärung im Glauben eine Rückwandlung von den Vermenschlichungen fort, die Luther und die Reformation am Gottesbilde der Christenheit ver8
) Kurt Breysig, Naturgeschehen
9
) Kurt Breysig, Naturgeschehen,
und Geistgeschehen, S. 140/141, Geistgeschehen,
S. 142.
142
Mehr weltbestimmte Formungen des
Oottesbildes
fochten hatten. Eine mehr kosmische, mehr weltbestimmte Formung des Gottesbildes deutet sich bei Herder an. Oft tritt bei ihm an die Stelle des persönlichen Gottes als Lenkers der Menschheitsgeschichte die Vorsehung. Der von Herder selbst schon wie probeweise zurückgelegte Weg zu dem Begriff der Entwicklung als eines der Geschichte der Menschheit einwohnenden Gesetzes war nicht mehr weit. Aber schon eine Gleichsetzung vom Wirken Gottes mit dem Weltgeschehen, wenigstens soweit es sich innerhalb der Grenzen der Menschheit vollzieht, hätte ein Weiterschreiten auf diesem Wege bis zum Ziele bedeutet. Aus eigener Kraft haben weder das neunzehnte, noch das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht 1 0 ). Sie bleiben in Geschichtsabhängigkeit, sind als Historismus Betätigungen eines Vergangenheitsdienstes. „Die dritte Mystik des frühen neunzehnten Jahrhunderts ist, wo sie philosophierend auftrat, wie bei Schelling, Baader, Steffens vom Bild der Welt in hohem Maß bestimmt, während sie dort, wo sie in den Grenzen christlicher, vornehmlich katholischer Gläubigkeit verharrt, wie bei Görres, ganz menschhaft blieb" 1 1 ). Der von Baur und Strauß herkommende, ganz geschichtlich gebundene kirchliche Liberalismus bleibt menschhaft in der vollen Hingabe an Jesus eigenste Verkündung, an des Paulus und des Augustinus Lehre. Und die rechtgläubige Gegenbewegung machte vornehmlich in Anlehnung an Luther durchaus anthropozentrisch den Einzelmenschen ganz und gar zum Träger und zum Gegenstand des Verhältnisses zwischen Gott und Menschheit. „An einer Welle von weltbestimmten Anschauungen vom übersinnlichen Reich hat es der Gegenwart nicht gefehlt; aber sie brandete an der Insel des Glaubens nur em10
) Es sei denn, daß aus den „volkskirchlichen" und deutsch-christlichen Glaubenskämpfen eine neue Glaubensform voiksmäßiger Gebundenheit sich in kirchenbildender, kirchenüberwindender Kraft durch-
setzte. " ) Ebenda S. 143.
als Geschichte des menschlichen Geistes.
143
por und ist nicht in ihr festes Land gedrungen. Denn sie kam von außen, aus der Sphäre der Naturerkenntni§, und wollte nur Glauben verneinen, nicht Glauben schaffen. Die Bewegung des materialistischen Monismus, der von Feuerbach bis zu Haeckel und Ostwald doch nicht nur den Namen, sondern auch den Gehalt seiner Verkündung nach nichts eifervoller verteidigen wollte, als die Wesenseinheit zwischen Welt und Menschheit, zwischen Leib und Seele, hat wahrlich eine tiefe Hingabe an die Welt bewährt und ihr sinnlich-geistiges B i l d " 1 2 ) . Nicht allein Kunst und Glauben sind ihrem Wesen nach die Bezirke, in denen sich die Einbildungskraft als Mittlerin zwischen Welt und Menschheit am ehesten auswirken kann. Auch Forschung und Tat haben daran teil. Der Bemühungen von langen Jahrhunderte-Reihen bedurfte es in der Geschichte des menschlichen Geistes, in wahrer Empfängnis des Eindrucks der Welt große Anschauungen vom Wesen der außermenschlichen Wirklichkeit in sich wachsen zu lassen. Oft haben die Teilaufnahmen von der Umwelt des Menschen völlig phantastische Gebilde menschlichen Weltwissens oder Weltwähnens erzeugt. Die Anfänge von Erdkunde, Geschichte, Sternkunde, Zeitmessung, Tier- und Pflanzenlehre blieben in der Urzeit und zumeist auch in den mittleren Entwicklungsaitern der großen Völker im Grunde nur vorforscherliche Erzeugnisse eines noch regellosen Wissens. Dabei sind die Spuren des menschlichen Geistes, seines Vermutens und seiner Gefühlsumsetzungen uns lesbar wie ein reiches Bilderbuch von bunter Schilderungsfülle, das die Elemente und den Menschen, Himmel und Universum, Leben und Sterben, Werden und kosmische Mächte aufeinander bezieht. Denn der Mensch ist wie ein Spiegelbild der ganzen großen Welt, und Kälte und Wärme sind in der Edda (Lied von Wafthrudnir) die Bildner des ersten Geschöpfes, des Riesen Ymir. Feuer, 12
) Ebenda a.a.O.
144
Vom
Glauben
befreite
Welterkenntnis
Wasser, Luft und Erde umspannen in der Lehre von der Entstehung der Welt das doch vom Glauben abgetrennte, selbständig gewordene Wissenschaftsbild: Irdisches und Kosmisches sind darin Spiegelbilder. Das vom Glauben befreite Philosophieren erwies, daß diese Form der Welterkenntnis, die immer auch Schau war, ganz wie der Glauben seine Nahrung aus der außermenschlichen Welt oder aus der Selbstbetrachtung der menschlichen Seele zog. So das Denken der Griechen in seinem ersten Entwicklungsalter von Herakleitos bis zu Anaxagoras in Weltgefühl und Erkenntniswillen das Insgesamt aller Wirklichkeit umspannte. Die von Sokrates und Plato beherrschte Entwicklung ist so anthropologisch, eigenmenschlich bestimmt, wie die Zeit zuvor weltbestimmt; denn vom Menschen und seiner Seele als der Mitte aller vom Wissen zu umspannenden Wirklichkeit eröffnen sich diese beiden Sichten, die weit-bestimmte als mittefliehend, die andere, die eigenmenschliche, als mittesuchend. So erweist sich die Linie Descartes—Hume—Kant, je weiter fortschreitend, desto entschiedener in mittesuchender Richtung. Descartes Naturphilosophie bedeutet im Grunde doch, daß wir von dem einzig gewissen, nämlich von unserem Selbstbewußtsein ausgehen müssen, wenn wir aus der Wirklichkeitswelt ein Wissen aufrichten wollen. Der Zweifel ist ihm dabei eine Hilfe zum Wissen. Aber das sum cogitans, ich weiß etwa — ich weiß mich — und stehe einem von außen kommenden Weltbild gegenüber — erfuhr bei Spinoza jene einmalige Setzung: er setzte einmal, was er zweimal benannte — deus sive natura —, seine Substanz ist ein Gebilde von weltbestimmter, mittefliehender Art. Die Monadenlehre von Leibnitz, von der bewußtlosen Körpermonade, die etwa dem bewußtlosen Atom des Descartes entspricht, der bewußten Tiermonade, der vernünftigen, aber endlichen Menschenmonade bis zur vollkommenen Monade, der Monas monadum, ist doch ein Versuch, die Einigkeit mit der Natur zu erstreben, und im
145
Weltspiegelung.
tiefsten Sinne bestimmt von Weltgefühl und Weltbewußtsein. Fichtes Identität von Ich und Welt wendet alle guten Kräfte seines Denkens auf, die Mitte Mensch und die Mitte Geist zu suchen. Hegels weit umfassendes Denkgebäude gab die irrationale Weltvernunft in den Gesetzen der Weltgeschichte, aber in der Wirklichkeit als Gehalt eines Weltplanes. Am Ende des neunzehnten und am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, das Philosophieren mit eigenem Stolz und Größe in Nietzsches Lebenslehre und Husserls Phänomenologie — soweit sie untereinander verschieden sind —, Nietzsches Sehnsucht nach einem neuen Menschenideal und Husserls Formen des Sehens und Denkens sind allein aus der Mitte Mensch zu begreifen und nirgends kosmisch beeindruckt, weltbestimmt, wirklichkeitsbestimmt. Das Geschehen Spiegelung ist entscheidend nicht nur für das geistige Tun, indem die Vorgänge von Spiegelung durch ein sinnliches Ausdrucksmittel — Sprache, Schrift, Bild, Tonbild — anderen Menschen weitergegeben, für sie nachgeschaffen werden, sondern eben so sehr für das werktätige Verhalten, für das Handeln des Menschen, das die ihm eigentümliche Weise der bewußten Gestaltung seines Lebens ausmacht. Dabei ist noch nichts über den Tatbestand des menschlichen Geschehens ausgesagt, das als menschliches Tun wie alles außenmenschliches Geschehen ebenso Weltgeschehen ist. Die in die Besonderheiten der Menschheitsgeschichte eingehende Frage ist nur die nach den Bestandteilen des Handelns der Menschheit, in denen sich ein absichtsvolles Leitenwollen dieses Handelns durch die Menschheit selbst oder ihre Führer auswirkt. Ist eine solche Absicht immer dagewesen oder greift sie erst von bestimmten Punkten der Menschheitsentwicklung regelnd und leitend in das menschliche Handeln ein? Alles Menschengeschehen aus dem Zusammenhang des Weltgeschehens herausgerissen und aller anderen WirklichHering, Das Verden als Geschichte
10
146
ApriorismuS.
keit eine unübersteigliche Kluft aufgerissen zu haben, blieb Kant vorbehalten. „In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht erklärt er kurzab und ohne auch nur den Versuch einer Begründung: die Natur hat gewollt, daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei vom Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft hat. So unmöglich diese Behauptung in jedem Buchstaben ist, so unmöglich ist die Begründung, die aus einem anderen, freilich kaum minder reichlich sprudelnden Fehlerquell der Geistigkeit dieses Zeitalters entnommen ist — ihrem Zielstrebigkeitsglauben, ihrem Theologismus — : die Natur tut nämlich nichts überflüssig, so fährt Kant fort; da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab, so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht seiner Ausstattung. Er sollte nämlich nun nicht durch Instinkt geleitet oder durch anerschaffene Kenntnis versorgt und unterrichtet sein; er sollte vielmehr alles aus sich selbst herausbringen" l i t t ). Und Breysig fährt fort: „noch aprioristischer, d.h. noch unbewiesener kann man Geschichte, kann man Erfahrungswissenschaft nicht treiben, als hier geschieht. Die Seelenkunde wird den Grund, aus dem der Forscher so verfuhr, leicht auffinden: er hätte wohl geglaubt, der Selbstherrlichkeit der menschlichen Vernunft, die ihm nicht die Erkennerin, sondern die Erzeugerin aller Ordnung der Welt war, nahe zu treten, hätte er nicht die menschliche Geschichte von Anbeginn als nur aus der Vernunft geboren erscheinen lassen. Wie eine Selbstverspottung wider Willen aber mutet es den naturgeschichtlich denkenden Leser von heute an, daß Kant die Gewalt, von der dieser seltsame Vorgang angeordnet wird, die Natur nennt. Wir möchten denken, 12a
) Kurt
Breysig,
Naturgeschehen,
Oeistgeschehen,
S. 156,
157.
Selbstspiegelung
147
— Selbstregelung.
der Natur hätte an nichts mehr gelegen, als auch diese Geschehen möglichst natürlich zugehen zu lassen. Nach Kants Bedünken aber hat die Natur offensichtlich zu Königsberg Erkenntnislehre studiert und deshalb alles a priori eingerichtet" 1 3 ). Die gelegentlichen Vorstöße zu einem Erfassen und Regeln des Menschheitsgeschehens sind durchaus noch nicht bewußte Zielhaftigkeit. Im germanisch-romanischen Mittelalter unseres Völkerkreises hätte der Aufeinanderprall der christlich-priesterlichen und der weltlich-staatlichen Weltund Gesellschaftsanschauung die Formung eines Zielbildes und das Vorwärtsschreiten der christlich-germanischen Völker zur Folge haben müssen. Die Reife dieses Lebensalters gab dergleichen Möglichkeiten noch nicht her. Selbst ein Thomas von Aquino prägte nur zag und unvollkommen die Vorstellungen von der Zwei-Schwerter-Lehre zu einer völligen Vorherrschaft von Kirche und Papst in den Dingen der Welt. Erst Dante, der Verehrer des allmächtigen Staates, forderte die Universalmonarchie, die den vollkommenen Frieden und gemäß den Grundsätzen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Liebe einen Zustand der Beglückung des Menschengeschlechtes durch die Betätigung des Geistes heraufführen sollte. Beginnt der Mensch im Spiegel seiner Weltanschauung sein Selbst, sein Tun und sein Sein aufzufangen, so nimmt er dem Weltbild einen Teil von Raum und Anteilnahme in seiner spiegelnden Seele. „Es ist ein erstes Fortschwingen des Pendels von dem Pol Mitte Welt zu dem anderen Mitte Mensch hin. Ehe die Menschheit begann, ihr Tun als ein unabhängiges anzusehen und es in eigene Regie zu nehmen, mußte sie erst sich selbst bemerken, ihrer selbst inne werden" 14 ). Das Emporkeimen des Entschlusses der Menschheit, sich selbst Weg und Richtung ihres Schreitens 13 14
) Naturgeschehen, Geistgeschehen, S. 156, 157. ) Naturgeschehen, Geistgeschehen, S. 167.
10*
148
Anspruch des Geistes
zu bestimmen, findet sich im griechischen Denken in der Selbstbesinnung des Menschen auf den Menschen. Den Sophisten war es vorbehalten, die Wendung zum Menschen zu vollziehen. Von Sokrates stammt der Anspruch des reinen Geistes auf das Recht, verbindliche Regeln für das Leben aufzustellen. In ihnen wurde zum ersten Male eine Menschen- und Lebenslehre — Anthropologie und Ethik — begründet, die ihr Recht und ihr Ziel lediglich aus dem unabhängigen freien Geist ableitete, die danach von Plato und Aristoteles zu einem wohlgegliederten, reichen Lehrund Regelbau entfaltet wurde. Doch haben weder der schöpferische Gedankenbau eines Staates von Piatos starker Hand — und noch weniger die begriffliche Durchdringung aller vorhandenen und geschichtlichen Begebenheiten durch Aristoteles —, die doch beide der Verwirklichung einer idealen Staatsform dienen wollten, eine Umformung der staatlichen Wirklichkeit für ihre Zeit durchgesetzt. Nichts spricht so stark für die erlahmende Lebenskraft des alteuropäischen Weltalters als diese Tatsache, daß weder Griechen noch Römer fähig waren, einen Weg eigener Lebensregelung erst zu wählen und dann auch wirklich einzuschlagen. Ihre Stärke reichte nicht zu, ein neues Urgeschehen innerhalb des Menschheitsgeschehens heraufzuführen. Das stärkere Vollbringen blieb dem neueuropäischen Weltalter vorbehalten. Die amerikanische Revolution hatte als werktätige und doch auch schöpferische Staatskunst der französischen Revolution vorgearbeitet. Durch die Erklärung der Menschenrechte hat sie im äußeren und inneren Sinne weltgeschichtliche Bedeutung erlangt. Hier wurde zum ersten Male eine Summe von Rechten für den Einzelnen in seiner Eigenschaft als Mensch — nicht als Staatsbürger — in Anspruch genommen, die eine außerordentliche Erweiterung des Grundverhältnisses zwischen Mensch und Staat bedeutete und diese Festsetzung sofort verwirklichte. Das bedeutete einen Bruch mit der alten Unbewußtheit alles
auf
Regelung des Lebens:
Staatslehre.
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staatlichen Geschehens. Hier wurde zum ersten Male Geschichte gemacht aus den großen Grundsätzen einer wissenschaftlichen und also höchst bewußten Menschheitsregelung. Die Losungen der französischen Revolution — der Dreiklang Liberté, Egalité, Fraternité — stammen aus der Interessensphäre der Menschenrechte, wenn auch den lenkenden Staatsmännern an der Erlangung der tatsächlichen Macht und an den eigentlich staatlichen Ordnungen weit mehr lag. Die seelisch stärksten Antriebe gingen von jenen Losungen aus, und in den Propagandakriegen des revolutionären Frankreichs im Angriff auf das alte Europa sollten jene Menschentumslosungen die wirksamsten Werber und Träger sein. Als Menschentumsangelegenheiten richteten sie sich an die Menschheit, und ihre Zielrichtung war S e l b s t r e g e l u n g d e s M e n s c h h e i t s g e s c h e h e n s. Für diese Beurteilung, die Menschheitsgeschichte als Naturgeschehen verfolgt, kommt es lediglich auf die Bewußtheit und Absichtlichkeit des Geschehens an und hält sich im Sinne allgemeiner geschichtlicher Unbefangenheit von jeder Parteinahme frei. Wenn die Revolution sich in der Richtung von Demokratie und Liberalismus bewegte und als Ereignis von so ungeheurer Umsturzgewalt aus ihrer Eigenschaft als Repuls-, als Rückschlagbewegung gegen drei Jahrhunderte unumschränkter Königs- und Beamten-, Adels- und Militärherrschaft den Antrieb nahm, so liegt darin nicht der Geschichts-, der Werdenswert ihres Geschehens. Der wäre derselbe gewesen, wenn sie sich in einer in irgend einem neuen Sinne aristokratischen Grundrichtung — nur mit der gleichen Heftigkeit — vorwärts bewegt hätte. Vom Liberalismus und Demokratismus ist zu sagen, daß er, teils nach vollkommenem Sieg wie in Italien, teils nach halben Sieg und halber Niederlage wie in Deutschland, einen Zustand der Sättigung und des Stillstandes erreichte, der neue oder gar schöpferische Seiten ihres Wesens nicht zeigte. Neue und andere Bewegungen traten auf, die in
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Bewußte
Geschichtsgestaltung
gleichem Sinne zu bewußten Regelungen von Menschheitszuständen und Menschentums-Formen hinstrebten. Der Nationalismus scheint zunächst nicht in diese Reihe geistigstaatlicher Regungen hineinzugehören. Da er sich auf das eigene Volk mit äußerster Ausschließlichkeit beschränkt, scheint ihm die Eigenschaft des Menschheitlichen abzugehen, ohne die wir uns eine Selbstregelung des Menschengeschehens nicht vorstellen mögen. Denn für den Körper, als welcher die Oesamtmenschheit von dem Nationalismus aufgefaßt wird, ist immer der Teil, das einzelne Volksglied wichtiger als das Ganze und der einzelne Mensch, der zu einem einzelnen bestimmten Volk gehört, ist doch gehalten, alle anderen Völker zunächst als fremd und fern und ihnen gegenüber sich als Gegner anzusehen. Von einem Nationalbewußtsein im Sinne des geordneten und geschlossenen Gedankenbaus einer Staatsgesinnung kann — bei aller Würdigung des zuvor schon vorhandenen Nationalgefühls — doch erst im neunzehnten Jahrhundert gesprochen werden. Nationalismus ist die bewußt gewollte Bluts- und Kultureinheit, die eine neue Menschentumsform und eine neue Menschheitsordnung herbeiführen will. Die bis dahin fehlende oder nur mangelhaft ausgebildete Staatseinheit dem Volke zu geben, führte in diesem Sinne in Italien zum Fascismus, in Deutschland zum Nationalsozialismus, im ersteren Fall mit der Diktatur als Staatsform und mit einer äußersten Zusammenraffung des Volkskörpers, im zweiten Fall im Plan wie im Werk durch Zusammenschluß mit der Führeridee und mit dem Staatssozialismus 1B). Diese Versuche der Selbstregelung des Menschengeschehens wandten sich auf das Entschiedenste von den Freiheitsgedanken des Liberalismus und Demokratismus ab und setzten der Selbstherrlichkeit und Unabhängigkeit des Einzelnen Schranken aller Art, um mit dieser Um15
) Naturgeschehen,
S. 202 ff.
Selbstregelungen des Menschheitsgeschehens.
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biegung erst recht neue Formen des Volkstumes heraufführen zu können. Sie liegen in der Richtung der Versuche geistig-seelischer und körperlicher Höherzüchtung des Menschengeschlechtes. Nietzsches Sendung liegt schöpferisch in diesen Versuchen der Selbstregelung des Menschheitsgeschehens. War seine Lehre doch der denkbar stärkste Rückschlag gegen die Oedanken von 1789, insofern sie den Adel der Starken gegen die Masse der Mittleren und Niederen ausspielte. Es bleibe dahingestellt, ob Nietzsche in seinem Ja zum Willen und zu Persönlichkeitsdrang, in seinem Übermenschen an ein Züchten im biologisch-physiologischen Sinne dachte, im Sinne also einer philosophisch geleiteten Leibes- und Lebenslehre. Es ist wichtiger zu bedenken, daß alle Schwergewichte von Nietzsches Denken dem geistig-seelischen Emporkommen des Menschen galten. „Dies gewollt zu haben, war an sich etwas Ungeheures, und wie schicksalwendend richtiggebend für Jahrhunderte der hier gegebene Antrieb sein wird, ist heut noch kaum abzusehen. Selbst in den kurzen vier Jahrzehnten, die seit Nietzsches geistigem Tod verflossen sind, war die Einwirkung nicht auf das geistige Sehen nur, nein, auf das gelebte, das in Staat und Staat sich ausformende Leben sehr groß. Weder der Fascismus, noch der Nationalismus und die ihm verwandten Bewegungen sind zu denken ohne die geistige Wurzel, die ihnen Nietzsches Lehre gegeben hat. Noch feinere und im Grunde noch wirksamere Antriebe haben Geschichte, Gesellschaftslehre und Dichtung von Nietzsche erhalten: alle im starken Sinn bauende Forschung und Kunst ist von ihm bestärkt und befruchtet worden" 1 6 ). Nietzsches Verkündung ist in der inneren Stärke, der Gefaßtheit und Geschlossenheit der allgemeinen Absicht und der besonderen Zielsetzung den Zielsetzungen von Rousseau und Karl Marx weit überlegen. Diese haben im « ) Naturgeschehen, S.209.
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Verhältnis der Gemeinschaftsregelungen
Grunde nur die Lebensbedingungen des Menschen ändern, Nietzsche aber hat das Maß seiner Kräfte vermehren und steigern wollen. Als Versuch der Selbstregelung durch Revolution, durch bewußte Gesellschaftsplanung nach einem sozialistischen Menschheitsprogramm stellt sich die nach Marx' Vorschriften durchgeführte Umbildung Rußlands in eine kommunistische Republik dar — gewiß nach Ausbreitung und Wucht der Durchführung der radikalste Versuch eines völligen Neubaues der Gesellschaft! „Der russische Kommunismus stellt buchstäblich eine Verkörperung der von Marx und seinen nächsten Anhängern gestellten Forderungen dar; der von Mussolini geschaffene und fortgebildete Fascismus aber stellt eine Form des imperialistischen Cäsarismus dar, die zwar ganz gewiß nicht nur als eine Nachahmung des römischen Cäsarentumes aufzufassen ist, die aber mit diesem genug Ähnlichkeiten aufweist, um den Namen mit ihm zu teilen. Er hat mit ihm die diktatorische Spitze gemein, neben der die Beibehaltung des Erbkönigtumes als eine nicht eigentlich dem Grundkern des neuen Gebildes angehörige Nebenerscheinung beiseite gestellt werden darf 1 7 ). Die dritte von diesen, unsere Gegenwart abstempelnden Bewegungen ist der Nationalsozialismus Adolf Hitlers. Eine Geschichtsbetrachtung, die den Nationalsozialismus lediglich wie eine Legierung sozialistischen und cäsaristischer Urbestandteile ansehen wollte, würde völlig in die Irre gehen. „Die Bevorzugtheit der dritten und jüngsten der drei revolutionären Bewegungen an Geschichtsmacht, an Ursprünglichkeit ist darin zu suchen, daß sie zwar die beiden einander so entgegengesetzten Grundgedanken, die das Zeitalter darbot, miteinander verband, daß sie aber aus dieser Verschmelzung ein Drittes hervorgehen ließ, das durch seine Eigentümlichkeit die anderen übertraf. Den Kern des Nationalsozialismus bildet der wirtschaftlich-so" ) Ebenda S.212.
zum
Einzelnen.
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ziale Zielgedanke, den Individualismus des freien Unternehmertums zu erhalten, ihn aber mit sozialen, d. h. gemeinschaftsfreundlichen Gesinnungen in Hinsicht auf die Ordnung der in selbständigen Betrieben vereinten Arbeitsgenossenschaften und auf die Einteilung des Arbeitsgewinns zu erfüllen. Dieser Zielgedanke schließt die Beseitigung der schwersten Gefahr in sich ein, die aller Kommunismus verwirklicht und die jeder Sozialismus im Keim in sich birgt: der Lähmung, wenn nicht der Ertötung des Persönlichkeitsdranges, der das beste Teil des freien Unternehmertums ausmacht. Er benimmt dem wirtschaftlichen Individualismus die Möglichkeit, der reinen Gewinngier zu frönen, die sein schlimmster Fehler ist, und der er nur allzu leicht verfällt. Er vermag den sozialen und wirtschaftlichen Neid zu schwichtigen, der unter allen seelischen Antrieben des Sozialismus der unedelste, aber vielleicht auch der wirksamste ist. Er kann zu wahrer Gemeinschaftsgesinnung erziehen und beläßt doch den stärksten Antrieb zu gesundem Persönlichkeitsdrang, das Streben nach Auszeichnung durch Leistung, in voller Würde und Wirksamkeit. Man kann sagen, die Erreichung dieser Ziele würde die Lösung der schwersten Aufgaben bedeuten, die das Zeitalter unserer Generation stellt, einen ersten großen Friedensschluß in dem schlimmsten der Kämpfe, die sie bedrohen: in dem sozialen Kriege" 1 8 ). „Ohne irgend einen europäischen Vorgang ist die Hineintragung des Züchtungsgedankens in den Gesamtplan der Bewegung. Der Nationalismus, der als Gegenenthusiasmus dem Sozialismus entgegengestellt wird, wird zum Blutsgedanken gesteigert: die Liebe des Volkes zu seiner eigenen Wesenheit wird bis in ihre letzten Folgerungen vorgetrieben, bis zu der Überzeugung, daß nur ein Volkskörper, der ganz eines ungemischten Blutes ist, der echte Träger seiner Gesittung sein könne. Eine Anzahl sehr ernstlicher Ebenda
S.214.
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Nationalismus
Bemühungen um die Freihaltung des Volkskörpers von gesundheitlichen Schädigungen machen sich geltend, doch läßt sich heut kaum sagen, wie weit die Entwicklung auf diesem Weg fortschreiten kann" 19 ). Als Selbstregelung erscheint diese deutsche Revolution Kurt Breysig dahin wirkend, daß sie die äußersten Gegensätze staatlichen und wirtschaftlichen Wollens zu einer im Innersten neuen Verbindung zusammenschließt, darin s. E. unvergleichlich viel positiver und produktiver als die russisch-kommunistische, gesellschaftsseelisch umfassender und darum viel stärker als die französisch-demokratische und beide aller Vermutung nach an Wirkung und Dauer übertreffen wird. Ihre Zielsetzung zur letzten Formel erhoben, lautet: nicht Gemeinschaft allein, wie sie Demokratie und Kommunismus zur Herrschaft bringen wollen, noch Persönlichkeit allein, wie sie der Cäsarismus auf den Thron! erheben will, sondern Persönlichkeit u n d Gemeinschaft. „Diese Losung mag, zum mindesten für unser Zeitalter, die Lösung bedeuten" 2 0 ). Wenn in den vorstehenden Darlegungen der Versuch eines Bildes der in Spiegel- und Regelgeschehen Bewußtheit und Tat gewordenen Geschichte gegeben wurde, so erhebt sich dabei die Frage, wie sich die Kernschicht des Urgeschehens zu den sie umlagernden Deckschichten des Spiegel- und Regelgeschehens verhält. Im Gesamtanblick aller Geschichte fällt seit der letzten Wegkehre von 1789, an allen überhaupt seit 1791 entstandenen Verfassungen der Januskopf ihrer Prägung auf: das liberale, gesellschaftliche Gesicht und das staatliche, demokratische; das eine wacht über die Rechte, die dem Einzelmenschen als solchem zuerkannt werden, das andere schaut auf den Aufbau des Staates. Die angelsächsisch-amerikanische Errungenschaft der Menschenrechte, als das grundsätzlich Neueste, erwies
20
Ebenda S.214. ) Ebenda S. 219.
als Akt der Selbstregelung im Volksgeschehen.
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sich als eine für die Menschheit gültige Forderung, die den staatlichen Forderungen des demokratischen Bauplanes die Grundlage boten in den unveräußerlichen und natürlichen Rechten des Menschen: der Freiheit, dem Eigentum, der Sicherheit und dem Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung, wobei unter Freiheit die Berechtigung verstanden wurde, alles zu tun, was andere Glieder der Staatsgemeinschaft nicht schädigt. In der Staatslehre Rousseaus wurde die Volksgemeinschaft zum einzigen Inhaber aller öffentlichen Gewalt erklärt, aber ihr allgemeiner Wille wurde als zusammengesetzt aus der Willensausübung aller Einzelnen verkündet. Ihr liegt doch über alle vorgehenden Entwicklungsalter der Menschheit ein U r r e c h t des Einzelnen zugrunde, das einem Urzeitalter frühester Form einem Zeitalter des Einzelnen den unverständlichen Kern der Persönlichkeitsform als Träger des Freiheitsdranges und der Rechte des Einzelmenschen zuweist. Rückschlüsse aus reiferen und späteren Urzeitverfassungen rechtfertigen diese Annahme. Nationalismus als Akt der Selbstregelung im Volksgeschehen ist als Tatsache des Blutes genau so als bestanden anzunehmen, wie der Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang des Einzelnen in der Urzeit. „Als scharf umrissene, und nicht nur in das Bewußtsein, sondern in eine fast wissenschaftlich sichere Selbstgewißheit und Selbstbespiegelung hinein gesteigerte Gedankenwelt von Volkstum und Volksstaat, ist er erst von den polnischen Unabhängigkeitskriegen, dem spanischen und dem preußischen Befreiungskampf ab entstanden und im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts weiter ausgeformt word e n " 2 1 ) . Der Nationalismus, die Blutgeschlossenheit der Staatsgemeinschaft der Urzeit ist als der Vorgänger des Nationalismus der Gegenwart anzusehen. Die Weite des Bereiches der Auswirkung und die Klar21
) Menschheitsgeschehen, S. 229/230.
156
Verhältnis
zum
Urgeschehen.
heit der Bewußtheit spiegelt sich in unserer heutigen Wissenschaft, die sich als Staats-, als Wirtschafts-, als Gesellschaftslehre in den Dienst der von ihnen gepflegten Tatbezirke gestellt hat. Als Endergebnis einer Durchprüfung dieser letzten Entwicklungsstufe des fortschreitenden Wachstums des Menschengeschlechtes stellt sich heraus, daß „der innere Kern auch in dieser Form von Selbstregelung und Bewußtheit unseres geschichtlichen Lebens Urgeschehen ist. Denn der Mantel, der Kreisrandgürtel von Bedachtheit und Gewolltheit, der allerdings dem besonderen Grundzug dieses Lebensalters der Menschheit entsprechend, seinen Kern umhüllt und verdeckt, ist in Wahrheit doch nur ein Gewand, durch das der Leib und die Bewegungen des Kerngeschehens hindurchschimmern. Und auf sie kommt es letzten Endes an, und sie können nicht von irgendeiner Spiegelung herkommen, sondern nur vom Triebwerk der Seele selbst. Noch ihre wachsten Bewußtsein svorgänge, noch die ungeformten Befehle, die sie sich selbst erteilt, müssen aus diesem völlig unbewußten Wurzelboden stammen" 22 ). Die Welt, die in ihrem Geschehen dem Menschen gegenübersteht und von dem er zugleich doch ein Teil ist, wird im Spiegelgeschehen durch den bewußten Geist des Menschen noch einmal zu einem neuen und zweiten Leben erweckt. Es ist nicht erster Hand und erster Form, wie alles außermenschliche Weltgeschehen und dennoch glutvoll. Denn es ist genährt mit dem Blut der lebendigen Menschenseelen und von diesen geformt als das gesteigerte und aufgehöhte Weltbild, das von den frühen Formen an im unmittelbaren Dienst des Lebens stand. Alles Wissen wollte als Erkunden z. B. als allereinfachstes Wissen von der umgebenden Landschaft der Jagd oder dem Kriege oder der Wanderung dienen. Der Glauben wollte die überund außermenschlichen Gewalten zum eigenen Vorteil zu 22
) Ebenda S.241.
Verselbständigung
in Geist
und Tat.
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Bund und Schutz gewinnen, wie alle Kunst etwa dem Glauben als Malerei in Zauberzeichen oder als Ton- oder Tanzkunst den Beschwörungen der Geister dienen wollte. Der vielfach sich steigernde und adelnde Glauben erhöhte wohl die Götterbilder, die er schuf und vor denen er sich niederwarf, aber ihre Hilfe beanspruchte er durchaus; indem er diese erahnten Gewalten als Hilfe für die Zwecke des eigenen irdischen Wollens zu gewinnen suchte. Diese Gewalten sollen eine Macht haben, d. h. ein Können und ein Wollen der Einwirkung auf das Welt- und das Menschengeschehen. Bei den Glaubensgebilden höchster Ordnung, den Erlösungsreligionen wird der Lebenszweck eigens deutlich, indem der irdische, naturgegebene Zustand des Menschen — im Gegensatz zu dem geträumten Jenseitsbild eines gottähnlichen, gottnahen Zustandes — als Elend und Unglück empfunden wird. Die wieder fast Daseinslehre gewordene Glaubensform höchster Stufe aber braucht den Gott als Erklärungsmittel der Welträtsel, als höchsten Richter und Gesetzgeber. So ergibt sich die Erdgebundenheit — oder die Weltverbundenheit, wie es weiter gefaßt bei Breysig heißt — alles Menschengeschehens von den wandernden und nach Jagdgebieten gierigen Völkerschaften bis zu den in den Staaten geleiteten Völkern unserer Tage, denen doch alles Bluten, Kämpfen und Wachsen eng verflochten ist mit der notwendigen Spiegelung der Länder und aller ihrer natürlichen Bedingungen. Auch die ganz persönlichen Verhaltensformen von Mensch zu Mensch — der Inhalt aller Familien —, Geselligkeits- und Sittengeschichte: immer bedient sich alles Urgeschehen der Tat beständig der Spiegelung der Welt und davon abgeleitet der Spiegelung des Menschen als seines Wies und Werkzeuges. So finden wir auch am Eingang griechischer Daseinsforscher die Welteinheitslehre als eine monokosmische Sicht. Anaxagoras, der den Begriff Geist — als Sinn, Einsicht und dann erst Verstand — zu einem mäch-
158
Aufbau der Geisteswelt:
Verselbständigung.
tigen Denkbild ausgestaltete, meinte damit nicht die menschliche Geisteskraft, sondern die der geordneten Welt innewohnende Urgewalt, wie denn auch Hegel diesen Gedanken des Anaxagoras aufnimmt, daß die Bewegung des Sonnensystems nach unveränderlichen Gesetzen erfolgt und diese Gesetze die V e r n u n f t desselben sind. Zwar benutzten auch die griechischen Denker vor Anaxagoras Ausdrücke für den Geist, aber doch in einem unsicherem, weniger abgegrenztem Sinne wie Anaximanders pneuma — Luft — als Hauch — als Geist und des Herakleitos Logos als Wort, Gesetz, Vernunft ausgedeutet wurde. Bei Anaxagoras ist die Vernunft mit Schärfe als Weltkraft erkannt worden, bevor spätere Denker sie als Menschenkraft beanspruchten 23 ). Hierin ist er nur auf dem Wege weiter geschritten, den Herakleitos mit seinem Begriff des Logos anstrebte, der doch schon die Grundvesten unseres Weltbaues erkannte: die Unerschaffenheit und die Unaufhörlichkeit des Weltgeschehens, seine Ewigkeit also in alle Vergangenheit, in alle Zukunft hinein und damit die Leugnung der wesentlichen Folgerung allen Verursachtheitsglaubens: eines Gottschöpfers; denn diese Weltordnung hier, so spricht Herakleitos, dieselbe von allen Dingen, hat nicht einer der Götter noch einer der Menschen gemacht, sondern sie war immer, ist immer und wird sein immer lebend Feuer, Maße sich fangend und Maße wieder vergehen lassend. Das immer lebendige Feuer treibt die Welt, aber einer ist weise, den Sinn der Welt zu erkennen, der alles durch alles lenkte. Sokrates in voller, ganz an das Wirkliche hingegebener Sachlichkeit mühte sich um die Festlegung und Umschreibung des Wesenskernes jeden Dinges. Er zielte auf eine Verdinglichung des Geistes, wie Kant als der Vollender der Verstandesherrschaft im gleichläufigen Entwicklungsabschnitt der germanisch-romanischen Geschichte die Vergeistigung des Dinges weiter zum „Ding 23) Ebenda S. 263 ff.
Erhebung des Geistes über die Welt.
159
an sich" trieb. Aber bei Sokrates spüren wir in seiner Ironie, daß seinem Mühen um den Wesenskern der Dinge das Begreifen zugrundelag, über jeden neuen Sinneneindruck, über jede neue Wahrnehmung zu neuer Frage, zu bester Antwort über die Erfahrungswelt zu gelangen. Sokrates war auf dem Wege, die Natur der Dinge nach den Analogien seines eigenen, menschlichen Geistes zu begreifen, im Ringen um beide aber den Wesenskern aller Dinge zu begreifen. Er starb, getötet von dem dumpfen Haß der Vielen gegen die schöpferischen Neuerer. Aber die Wirkung seiner begrifflichen Leidenschaft im Sinne dichterisch-bildnerischen Schaffens erwies sich bei seinem Schüler und Folger Piaton in eigenster Weise. Dieser, ein anderer Prometheus, schuf eine zweite Daseinslehre, ein Überhinaus über diese Welt, eine Welt über der Welt, die Lehre von einem höheren, überwirklichen Sein, eine neue Welt, die Oeistwelt. Dieses Traumbild der Geistwelt — entgegen der erfahrungs- und wirklichkeitsfrohen Forschung bisherigen Welt-Anschauens — erschuf Bilder der Dinge, die reiner, stärker, höher und ewiger sein sollten als ihre Urbilder auf Erden, denen allein wahres Sein zukäme. In dieser neuen, dritten Welt über der Ur- und Spiegelwelt gab es keine Anlehnung an die Schaffensweisen des Glaubens, auch keine Nebenabsichten für das Leben, für das Wohl der Seele. Sie war gewiß nicht eine Zufluchtsstätte der hier Bedrängten, die dort in einem Jenseits für alle Erdennot und den hier unten nicht zur Auszahlung gekommenen Tugendlohn entschädigen soll. Wie Piatons Ideenlehre irgendwelche Verlängerungen des irdischen Seins des Einzelnen nicht gibt, so gründet sie ihre Erkenntnis nur aus dem Bedürfnis der Forschung und des Forschers. Wider alle Erfahrung sich nur verlassend auf die eigene Vorstellungs- und Einbildungskraft, kam durch Piaton ein neues und wirklich selbständiges Geistgeschehen auf, das als reine Geistgesinnung — bei aller hohen und hochmütigen Steigerung über die erfahrbare Welt
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Wertanspruch
der
Oeistwelt:
hinaus — dennoch nichts mit den Gehalten vieler Glaubensdaseinslehren gemeinsam hat. Piaton vollzog damit die Entgötterung der Welt in einem Lande, dem eine Überzahl von Göttern, Hunderte von Tempeln und Tausende von Standbildern Zeugnis war von ahnender, glaubenserfüllter Sinnesrichtung. Freilich ist Piatons Ideenhimmel nicht wie alle Glaubenshimmel vermischt mit der schlecht verborgenen Selbstliebe, mit der sich die Gläubigen diese Überwelten ausmalen als Lebensverlängerung über dieses Erdenleben hinaus und als- Tugendlohn für die Einzelmenschen. Die einzige Genugtuung, die Piaton den Verehrern seiner Denkbilder gönnt, ist die Freude des Denkers am Gedanken als solchen. Weil der menschliche Geist das Maß seiner selbst ist, nicht das Maß der Natur, findet wohl der im Ich des Menschen zur Selbständigkeit erhobene Geist, wenn er sich entwirklicht, nicht das reine Licht der tiefen und furchtbaren Hingabe an die Welt, wie es Kurt Breysig doch dem Ich und seiner Freude an Leben und Dasein auch innerhalb von Piatons Lehre zusprechen möchte, dem doch nach seinen eigenen Darlegungen die Übersteigerung und Überschätzung des Gedankens als eines Mittels der Welterkenntnis verhängnisvoll entgegensteht. Wenn Piaton wie ein Erbgut von seinem geistigen Vater Sokrates den Begriff — „Begriff" — handhabt, verändert er den Grundsinn, den jener mit diesem Wort verband; denn unter „Begriff nämlich wird jede erfahrungsmäßig und insbesondere geschichtlich denkende Erkenntnislehre die Wesensumschreibung eines Dinges oder Geschehens verstehen, die einige bestimmte seiner Eigenschaften als sein Wesen kennzeichnend heraushebt, die aber in dieser ihrer Wesensbestimmung und insbesondere in der Auswahl der sie umschreibenden, grenzsetzenden Eigenschaften wie selbstverständlich von der Einsicht und der Forschungsrichtung der den Begriff Festsetzenden abhängig und deshalb an geschichtliche Voraussetzungen gebunden
Heraushebung
aus der E r f a h r u n g .
161
und für die Zukunft geschichtlichen Veränderungen ausgesetzt ist" 2 4 ). Indem Piaton den Begriff das Bild — eidos — oder das Gebilde — das Bildtum — idea — nennt, schafft er ihm mit diesem halb künstlerischen, halb priesterlichen Namen eine Bedeutung von höchstem Wertmaß. Der Begriff wird aller Zufälligkeit seiner geistesgeschichtlichen Entstehung und jeder Fortbildung für die Zukunft entrückt. Der Begriff als Urbild wird unabhängig, wird absolut, zu etwas Übererfahrungsmäßigem, Überwirklichem aufgehöht. Und wenn wir zu dieser Hinaussteigerung des Begriffes — Begriff — aus der Ebene der Erfahrungsmäßigkeit, wie sie Kurt Breysig analysiert, noch etwas fragend hinzufügen: also wären die platonischen Ideen die unsichtbaren Mütter der wirklichen Dinge? —• so dürften wir ebenso fragen: also wäre der Mensch zweimal da, den eine Mutter sichtbar nur einmal das Leben gab, nur einmal gebären konnte? So gewiß sich der Mensch mit dieser seiner einmaligen Tatsache des Qeborenseins in diesem Leben abfinden muß, um sich in dieser seiner Lebensform als Wirklichkeit zu begreifen, so sicher wäre sein zweites erträumtes Sein auf irgend einem Stern nicht zuvor absolut und von ihm erfahren. Die höchste Einheit des ewigen Werdens, hinter der als Inhalt alles Geschehens die Einheit des Kosmos steht, wenn sie als die sich entfaltende Form Formen schafft — wer vermag zu sagen von dem in seinem Blätterwerk entfalteten Baum, ob eines seiner Blätter, und sei es das schönste, des Baumes Ziel sei? Das im Werden geschehende Leben ist im Baum nicht die geschaffene Form des Gedankens, der Idee Baum, sondern aller Früchte, Blüten, Blätter, Äste, Stamm und Wurzel Zusammenhang im Geschehen der Zeit, würden wir im Sinne des Sokrates, im Sinne erfahrender Wissenschaft erschauen als das leben2i
) Ebenda
S.290.
H e r l n g , Das Werden als Geschichte
11
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Ausschließlichkeit
von
Platons
Lehre.
dig werdende, werdend sich formende Sein, das im Baum Ereignis wird. Und diese unausschöpfliche Tiefe des Erschauens, das unerreichbare Maß seiner Form bedarf in keinem Augenblick eines Höchsten der logischsten Götter, da sie als Denkbilder, als ewig seiende dem Werden und als einzig-einheitliche der Verschiedenheit der Dinge in der Erfahrungswelt entrückt werden. Piaton schuf eine allen irdischen Zwecken entbundene Geistwelt. Seine Überseinslehre gleicht einem Ikarusflug, die in Wahrheit keine Lehre, sondern Traum und Dichtung ist. Sie streifte alle Erfahrung als lästige Fessel ab und wollte den Geist nur aus dem Geiste nähren. Seine, ihren freien Gedanken folgende Daseinslehre wurde ein Werk schöner Willkür, eine Dichtung, eine Metaphysik. Über alle irdische und also auch erfahrbare Wirklichkeit erhebt sich sein Denkbild. Auf diese niedere und unvollkommene Wirklichkeit kommt es dem sich vollendenden Geist nicht mehr an. Sie sinkt für den Dichterdenker Piaton ins Wesenlos-Gemeine zurück. Seine Begriffsvergottung gab den Denkbildern, den Urbildern, den Ideen der Dinge Alleingültigkeit als einem höheren Weltbild, ewig unveränderlich, demgegenüber den Dingen der sinnlich wahrnehmbaren Welt nur eine Kümmerform des Daseins zukommt. Der Einsicht in das Wesen und das Wie des geschichtlichen Werdens wurde mit der werdensfeindlichen Ideenlehre Piatons auf viele Jahrhunderte die freie Entwicklung verriegelt. Hätte sich die eiserne Starrheit der Denkbilder Piatons siegreich durchgesetzt, nie wäre offenbar geworden, das Welt Werden ist, beständiges, rastloses Geschehen und immer neues Werden von Geschehensformen, daß Welt wie Menschheit, Tat, Gedanke, Gebild in beständigem Geschehen, nie in ruhendem oder zur Endgültigkeit gestillten Sein sich darstellen. Die tiefe Sicht des, an Piaton gemessen, so viel weltsicheren Herakleitos, sein Glaube an die ewig lebendige Flamme des Urgeschehens wäre auf immer verschüttet geblieben.
Platonische Denkbilder
eine dritte Welt über der Spiegelwelt.
163
Kurt Breysig wendet sich in seiner Stellungnahme nicht gegen den einmalig geschichtlichen Piaton, der ihm ein Höchstmaß von Sein und Wirken menschlichen Vermögens darstellt. O b diese in allem Menschentum einzigartige Erscheinung in ihren Fähigkeiten die des Künstlers oder Forschers, des Bildners oder Dichters im Übergewicht zeigt oder in diesem einem der Geist der Menschheit als Übermaß von Kraft und Wirkung einen Gleichklang von unvergänglichem Wohllaut fand — die geschichtliche Gestalt des einmal dagewesenen Piaton, der lebendige, in seiner Lebenszeit auf Lebende wirkende Piaton bleibt als Gestalt höchsten Ranges als Mensch und Forscher unantastbar. Ihm erscheinen die platonischen Denkbilder in ihrer innersten Wesenheit als der erste wirkliche Versuch, eine dritte Welt über der Spiegel weit — sei es der Forschung, sei es der Kunst, sei es des Geistes an sich — zu schaffen. Es ist das Hinübergreifen menschlichen Wollens in das Tun, das bisher den Göttern vorbehalten war und wie eine Forderung des Menschengeschlechtes auf Teilhaberschaft am Weltgeschehen. In den trügerischen Hüllen von Dichtung, Phantasie und Mythos stellt Piaton die eben erst von seinem Meister und Lehrer gefundenen „Begriffe" als Bilder, als Gestalten, halb statuarische, halb dichterische Gebilde vor, halb Bildsäulen, halb Gestalten des Heldengesanges oder des Schauspieles. Hier wirkte ein Traumdenker, der es wagte, durch seinen Geistbau an den Bau der Welt selbst Hand anzulegen, ihn zu ändern und zu mehren. Als „Wirklichkeiten" verkündet er seine Denkbilder und behauptet von ihnen eine solche Gewißheit, wie nur ein Gottesbild von seinen Gläubigen verkündet worden ist. Hier unternahm ein Mensch, der Welt ihre Gebilde vorzudenken. Ihre in der Wirklichkeit erwachsenden Gebilde sollen in ihnen ihre Vorbilder haben, ihre überlegenen Vorbilder, denen gegenüber die Dinge der wirklichen Welt nur als unvollkom11*
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Ideen sind nur zeitbedingte, ortsgebundene Verkörperungen,
mene, kümmerliche Nachbilder der — von ihm, Piaton — ersonnenen Muster erscheinen. Aber die Herrscherlichkeit und Absolutheit dieser Denkbilder sind Wissenssymbole, die nicht mehr werden, weil sie ja grundsätzlich die allein wirklich seienden Bestandteile der Welt zu sein beanspruchten. Dabei hatte PLaton doch nur einzelne dieser Ideen umrissen und so schon recht eigentlich die Zeitbedingtheit seines Wirkens vorgebildet, wie sie sich im nachfolgenden Geschehen an ihm selbst erwies. In jenem kleinen, auserwählten Freundeskreis der Akademie Piatons strebten sie danach, sich von dem blinden Erdenleben zu wahrer Anschauung zu erlösen. Eine Erlösungssekte strebte dem überhimmlischen Orte zu. Doch was jener dem Sokrates war, der mythische Verewiger der Lehre des Meisters, — es fand sich niemand, der an die Gestaltenkette des Mythos als weiteres Glied den Piaton — wie jener ehedem dem Sokrates —, als ein weiteres Glied anzuwirken erstrebte. Waren die Mythen der Akademie doch nicht tief genug aus dem Wirklichen heraus geschaut, daß ein Schüler im Meisterwerden in Piaton das hohe personalmythische Zentrum geschaffen hätte? Die welthafte Einheit aller Dinge erwies sich, daß die Ideen nur die zeitbedingten, ortsgebundenen Verkörperungen sind, in den Denkbildern immer wieder von Menschen erzeugt. Aristoteles, der sich als den getreuesten Schüler des Meisters ansah, griff ihn an und wandte sich am schärfsten gegen Piatons Denkbilder, gegen ihr Sein, ihr selbständiges Für-sich-Sein. „Er legt mit vollem Rechte dar, daß die Annahme dieses Eigendaseins an sich jeder wissenschaftlichen Begründung entbehre. Der Grundkern von rein dichterischer Gestaltung der Denkbilder ist ihm, dem Manne reiner Forschung, unerträglich, weil sie ein Erzeugnis reiner Vorstellungskraft ist. Und der entscheidende Streich in diesem Kampfe — einem der schicksalsvollsten und gewaltigsten, von dem die Geschichte des
immer wieder von Menschen
erzeugt.
165
menschlichen Geistes weiß — fällt mit der Erklärung des Aristoteles, daß es undenkbar sei, den Gattungsbegriff von dem Ding, dessen Wesen er zum Teil aussagt, zu trennen und zu behaupten, er könne ein von ihm gesondertes Dasein führen. Und er legt rücksichtslos die kleinen Mängel der platonischen Denkbilderlehre dar, die aus der noch naiven Ungeschultheit des Meisters hervorgegangen waren und doch auch wesentliche Abirrungen in sich schlössen: daß, wenn den Begriffen der Naturdinge ein Sonderdasein zukomme, es auch für die allgemeinen — wir würden sagen, die abgezogenen — Begriffe gefordert werden müsse: für die verneinenden, die Verhältnisbegriffe, für die Kunstgebilde, für die höheren, die Gattungsbegriffe. Mit einigen für unsere Begriffe elementaren Handgriffen führt der denkstärkere Schüler den großen Lehrer wie spielend ad absurdum. Und ausschließlich begegnet er der Seinsannahme Piatons für seine Denkbilder mit den wahrlich ganz einfachen Einwänden: daß dieses Sonderdasein die Denkbilder gerade unfähig mache, auch Begriffe zu sein und daß die Überwirklichkeit der Denkbilder, die noch dazu als stofflich — materiell — gedacht würden, die von ihnen gedeckten Einzeldinge, namentlich die Naturdinge, ihres Grundwesens beraube, ohne daß sie gar nicht sein können" 25). Uns, denen immer eindrucksvoller die denkerische Kraft und Sprachgewalt Meister Eckeharts aufgeht, wir sehen zugleich die Tragik eines Geschehens, das die jugendlichen romanisch-germanischen Völker mit dem Erbgut der Alten überschüttete und bis auf jenen Meister deutschen Welt-Anschauens, bis auf Meister Eckehart aus dem Griechenschicksal ein Menschheitsschicksal werden ließ. Vergessen wir doch nicht, daß die Renaissance mit ihrer Vergötterung der Antike zuliebe der griechischen Kunst der germanischen Gotik einen gewaltsamen Tod bereitete. Auf 25
) Ebenda S.358, 359.
166
Olaubensformen:
Ideenhimmel.
das jugendliche Germanentum wirkte in gleicher Weise die platonische Hellenisierung wie die jüdisch-hellenistische Christianisierung ein. Als ein von außen gekommene Daseinslehren beeindrucken sie das jugendliche, noch freie und unbefangene Welt-Denken. Im Heliand erkennen wir noch die Naivität einer jugendlichen Sehweise. Die deutsche Königsgestalt Christi, der Volksherr und kühne Heerführer, zieht mit seinen zwölf reckenhaften Degen das Land von Bethlehemburg nach Jerusalemburg, und wie zur Bergpredigt sich das Volk um den Herrscher sammelt, wie bei der Hochzeit zu Cana die Schenken mit Bechern klaren Weines umhergehen und die Lust des Volkes von den Bänken schallt, das zeigt die Kluft zwischen germanischer Weltfreudigkeit und Welthingabe und christlicher Weltentsagung. Wir übersehen allzuleicht die unbewußt und unabsichtlich schaffende Macht gläubiger Einbildungskraft, die sich in den Glaubensgebilden bis in die Anfänge der Urzeit zurückverfolgen läßt. Die Engel, die zur Wache an das Tor des heiligen Gartens gestellt sind, die Cheruben, sie sind Greifen, teils Adler, teils Löwe, teils Mensch. Kurt Breysig sieht in dieser Entwicklungsreihe des christlichen Glaubens äußerste Vermenschlichung, die bis in die Tierverehrung ältester Urzeit zurückreicht. Dahinter steht für den Gesellschaftsforscher Breysig immer wieder der menschliche Drang, eine höhere Seinswelt über der menschlich-irdischen aufzurichten. Er bezeichnet diesen Drang nach der Erzeugung solcher Bilder von Übermenschentum und dritten Welten als metaphysisch-transzendentale Bildenskraft. Sie wäre, um es auszulegen, eine allem sonstigen Naturdasein überlegene bildnerische Sinn-, Wert- und Wirkform, die sich der Mensch als Ordnung über die Dinge setzt: ein über dieses Leben Hinaus! Ein Streben nach Vervollkommnung des Seins durch den Geist! So wollen jene Glaubensvorstellungen, die auf ein Jenseits zielen, das Erdensein, das sie als schön und herrlich empfinden, in ihrer Geisteswelt fortsetzen,
Erneuerungen:
Weltfrömmigkeit.
167
nur befreit von Mängeln und Unzulänglichkeiten. Dahin weist das Walhallabild unserer Vorvorderen und in anderer Form der christliche Himmel mit seiner Vereinigung von Seligen und Engeln. Der Buddhismus weiß hingegen von keiner besseren Lösung als von dem Versinken in ein Ursein-Nichtsein, in das Nirwana. Die Geistwelt als Mittel der Selbstregelung des Geistes, wie sie Kurt Breysig, der weltfromm Schauende, sieht — ruht nicht in der Ebene eines flügellahmen Materialismus. Er, dem Erbe Friedrich Nietzsches über vier Jahrzehnte in Freundestreue innigst und dem Dienst am Leben erdnahest verbunden, im Tun unseres Heute künftiges Werden und Wachsen zu steigern und zu stärken, drängt in seiner schöpferischen Schau aus der Fülle des Erlebens zum Werden. Wie das Wort „Leben" hat das Wort „Werden" einen tiefen Goldklang: das ins Unermeßliche hinströmende und in Strömen sich fortwährend im Werden sich wandelnde Geschehen, erschließt seine Rätseltiefe in der Wirklichkeit als lebendigen Sinnzusammenhang. Das Lebendige nährt sich, weil es wächst, und Werden ist Aufgang. Gram jener Denkrichtung, die den Sinn der „Welt" fälschte, in der Leben niedergeht, sieht er die Wachstums- und Entfaltungs- und Entwicklungsformen, dem das Werden doch und doch primum movens ist. Wie er — als Gelehrter — in seinem Fleiß um die Sicherheit des kleinsten Ergebnisses bemüht — als Ahnender, Deutender, als Meister bauender Kraft — voll großer Intuition und sinnlich zupackender Stärke stets das Ganze beim Erforschen von Welt und Menschheit wahrt, fügt er die Haltung des Menschen zur Welt und zum Geiste in eine neue Grundrichtung welthingegebener, weltaufgeschlossener Art. Ihm erwächst eine Weise der Weltliebe und der Weltfrömmigkeit, die, ganz fern und fremd jeder Gotteslehre, es an Innigkeit und Hingabe der stilleren Wärme reifer und ruhevoller Gläubigkeit gleichtut.
168
Eine dem Gottesbilde sich nähernde
Überkraft.
Aus dieser Einstellung darf er sprechen: „Und den Erregungen und Erschütterungen des Glaubens mit seinen Bezeugungen von Demut und unterwürfigem Schutzbedürfnis hat das Weltgefühl, das von keiner Lenkung des außermenschlichen Geschehens oder des menschlichen Schicksals durch persönliche Gewalten hören will, den Stolz einer Gesinnung entgegenzusetzen, die Wert und Glanz der nur irdischen Güter von Geist und Tat ins Unerhörte zu steigern gewußt hat. Und es ist nicht der Mensch an sich, der Mensch Masse allein, dem diese Werterhöhung widerfährt, sondern mehr noch die hohen Gestalten der Führer und Bildner unseres Geschlechtes. Wenn gläubige Hingabe Jesus zum Gott gehöht hat, so ist das nicht allein ein glaubensgeschichtliches Geschehen, sondern Bild und Zeichen für die Gottnähe aller höchsten Menschen. Was als Wertanspruch für den Stärksten der Menschen die vollste Wahrheit war, muß in Stufen und Graden auch seinem Nächst-Gleichen oder Nächst-Ähnlichen zuerkannt werden, muß von Buddha und Mohammed bis zu Michelangelo und Dante, zu Shakespeare und Goethe, Bach und Beethoven allen über Menschenmaß ragenden SterblichUnsterblichen zugemessen werden: eine dem Gottesbilde sich nähernde Überkraft. Ja, noch in jedem schöpferischen Entsenden neu aufspringenden Gebildes in Tat und Geist wird man einen Hauch von dem Gottes-Sein, wie der Glaube, also doch auch Menschensinn es sich schuf, verspüren können. Das aber heißt, daß auch eine Spiegelwelt, die nichts von Gottesgestalten weiß, das Menschendasein nicht entgöttert, sondern es recht eigentlich mit gottnaher Wirklichkeit erfüllt. Es ist doch so, als hätte die Bildnerkraft der Menschheit, die schaffende Gewalt, die sie in ihren früheren Zeiten vornehmlich an ihre Gottesbilder ausgab, diesen ihren belebenden Atem wieder in sich gesogen und ihn nunmehr dem eigenen Wesen einverleibt und ihn in den Teilstücken eines höchsten, eines gottnahen
N a t u r u n d Geist in n e u e r
Einheit.
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Menschentypus von neuem aus diesem Wesen entströmen lassen" 2 e ). Das Leben ehren heißt unter dieser Sicht, der Einzigkeit und Unwiederbringlichkeit ihm eigens leuchtende Gluten der Freude leihen, und die selbstbewußte Abwehr aller außerirdischen, aller überirdischen Straf- und Lohnverkündigungen bedeutet nicht die Abnahme straffer sittlicher Zucht, sondern stärkt das hohe Bewußtsein, das Linde und Starke, das Gute oder das Hohe um dieser Güter selbst willen zu tun, — nicht aus zitternder Angst oder in Aussicht auf ein Wohlergehen des Ichs im Diesseits oder Jenseits. Im Ringen um die Geist-Welt — eine vom Erleben der Wesensgehalte der Welt ausgehende Philosophie nach dem Vorbilde der Platonischen Ideen — stellt die von Husserl ausgebaute Phänomenologie dar. Einzig auf dem Wege der Schau erwachsen die von Husserl erschauten Bilder — eida genannt im nahen Anklang an Piatons ideai. Eng verbunden ist aber Husserls Erkenntnislehre auch einer anderen Forschungsweise, der des Descartes. Darum weist Kurt Breysig diese unter dem Einfluß der Wirklichkeit stehende Forschungsweise nicht der Aufrichtung einer Geistwelt im platonischen Sinne zu. Sie dient zuletzt und im wesentlichen doch der Erkenntnis einer letzten, äußersten Form der Spiegelwelt. Es ist das Glück des der Spiegelwelt, der Weltsicht hingegebenen Forschers, aus Treue und Hingabe an die Welt eine neue, ganze, ungeteilte, lebendige Einheit erwächst, die beide Reiche, Natur u n d Geist, zu einer Einheit forscherlichen Sehens zusammenschmilzt. Auf diesem Wege einer solchen universalen Erfahrungswissenschaft lag als Versuch Alexander Humboldts Kosmos, wie auch Herders Ideen zu der Ganzheit von Natur- und Menschheitsgeschichte strebte. Wer als Geschichtsforscher dem Schicksal der Zeit in das ernste Antlitz schaut und die Zwitter26
) Ebenda S.412.
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Erneuerungen: Das Vordringen des Kosmos
läge eines menschlichen Übergangsstadiums spürt in der Befehdung zweier Welten, in den Spaltungen von „Körper und Geist", von „Inhalt und Form", von „reinem Glauben und reinem Wissen", dem geziemt es, ohne über Recht und Unrecht der streitenden Parteien abzuurteilen, darzutun, wie weit sie ihren Gegnern jeweils nicht gerecht werden. Alle Verfechter einer im reinen Denken verwurzelten Geistwelt sehen allzuoft herab auf die Anwälte einer rein erfahrungsmäßigen Sicht. Diese könnten für sich beanspruchen: das Wissen um die Welt mit dem Vorzeichen der denkbar unbedingtesten Treue ist ein so starkes Lebens* und Seelenbedürfnis der Menschheit, daß es Schutz fordern kann für eine Arbeit, gleichviel wie die Ergebnisse dieser Arbeit ausfallen 27). Kurt Breysig erwähnt in diesem Zusammenhang Franz Marcs ganz tief dringendes Wort von der Keuschheit der Wissenschaft, das jener so still und fein meint, wie etwa Franziskus von Assissi, wenn er in seinem Hymnus auf die Sonne von der Keuschheit unseres Bruders des Wassers spricht. Gibt es eine tiefere Erfüllung am ungehobenen Werk des Lebens als, wenn Forscher und Forschung sich mühen, in Reinheit und Ichhingabe ihres Willens Spiegel der Welt zu sein? Wie Ranke in dieser Sicht 1860 im zweiten Band der Englischen Geschichte schreiben konnte: „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen." Die glückliche Geistwelt weiß alles, ohne Frage, ohne Vorfrage. Sie will Endgültigkeit, will Sein. Die Spiegelwelt führt zu einer wechselnden Folge von Bildern, die sich der Veränderung, des Werdens rühmt. Die Einsicht in diesen innersten Kern des Gegensatzes zwischen Geist-Welt und Spiegel-Welt sollte jedoch beide Lager daran mahnen, * 7 ) Ebenda
a.a.O.
in
der
Seele
der
Menschheit.
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daß beide Sehweisen aus einer Urwurzel, als Grundgeschehen ihre Nahrung nehmen, aus der Liebe. Sie ist der seelische Beweger, der die Unterwerfung unter die Geistgewalten des Glaubens mit dem Antrieb der Hingabe durchsetzt. Das Werden der Spiegelwelt geschah durch l i e b e n d e Versenkung in die wirkliche Welt, und jede Form der Spiegelung der Wirklichkeit, ob forscherlicher oder künstlerischer Art, wird maßgebend beherrscht vom liebenden Gefühl. Unter diesem gemeinsamen seelischen Grundverhältnis der Liebe stehen beide, sonst so entgegen wirkenden Sehweisen. Unter dem Einverständnis dieser Gemeinsamkeit sollte der geistigen Menschheit ein Frieden erwachsen. Der Wille der Welt und seine Majestät — wird er erkannt im Menschheitsbewußtsein als Zugehörigkeit zu dem Weltgeschehen, dann erwächst im Strome des Lebens aus der Fülle des Erlebens jenes ewige „Hinaus" des Lebens über sich selbst. Das „Werden" tut sich uns auf und grüßt uns hell — den Menschen Weg und Aufgabe zugleich.
VII.
Der Forscher und sein Volk Wer Volk will, der muß es in seiner Ganzheit und in seiner Wirklichkeit, in der Fülle seiner Erscheinungen aufsuchen, durch die das ewige Volk in das Unendliche drängt. Volk ist mehr als der Einzelne. Die Ganzheit ist die innere Gesetzlichkeit, die sich durch die Folge von Generationen vollzieht, wie das Leben des Baumes die Jahrgänge seiner Blätter bestimmt. Aber der Baum ist mehr als die Summe seiner Blätter. So wenig wie bei einer Pflanze die Blüte oder die Frucht als das Ziel der Pflanze bezeichnet werden darf, so wenig ihr Weg vom Samen bis zur neuen Frucht in der
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D a s „ V o l k " ist im einzelnen, im s c h a f f e n d e n
Menschen
Betrachtung des Lebendigen auch dann nicht als Abschluß, sondern nur als ein Abschnitt eines viel weiter gespannten Geschehens. Freilich scheint jede Blüte für sich ein Leben für sich und eine eigene Geschichte zu haben, aber doch ist jenes Leben nur ein Stadium des Gesamtlebens, das durch sie hindurchgeht.. Der Raum einer Erde wird zum Schicksal, in dem sich Volkes-Einheit in der Einheit des Raumes zur Einheit von Rasse und Kultur formt. Er bietet die Umwelt für das Werden eines Volkes, für seine Eigenart, die sich in seiner Kultur als das Erwerben von Lebensformen und als die Kraft, geschaffene Formen weiter zu bilden, dartut. Der Fisch lebt im Wasser als seinem Element, so der Vogel die freie Luft als Voraussetzung seines Fluges braucht, so der Mensch nur leben kann als Glied seines Volkes. In ihm entfaltet er sein Leben als Tätigsein, als Wirken und Schaffen. Er, der Einzelne ist der Träger der Kraft des drängenden Willens im Volke, die Kraft der ungeheuren Bejahung, die der Bewegung eines ganzen Volkes in den Wegbahnen der Geschichte Kraft der eigenen Entfaltung und der Verwirklichung leiht. So ist das Volk im einzelnen, im schaffenden Menschen eine ewige Aufgabe, die sich lebend, sich immer wieder neu stellt und über sich selbst als Weg der Verwirklichung hinausdrängt. Die Kultur des Volkes aber lebt als lebendige Gemeinschaft in der schöpferischen Kraft der einzelnen Glieder des Volkes in dem unermeßlichen Reich eines Ineinander von Lebensformen, darin wir ahnend ein geheimes Gesetz des Werdens als das Wunder einer inneren Einheit verehren: die Einheit einer Entwicklung, in welcher ein neues Reich des Geistes und ein neues Leben Form wird. Der einzelne Baum, der durch die eigene Keimkraft emporwächst und s e l b s t in der Erde wurzelt, ist wie der Einzelne im Walde Volk. Aber der Wille ist die Kraft der Persönlichkeit, die sich im Laufe des Lebens stärker und
eine ewige Aufgabe als Weg der Verwirklichung.
173
einheitlicher erschafft. In der Gemeinschaft lebt der schöpferische Mensch von innen nach außen als schöpferisches Eigenleben. Seiner Eigenart bewußt werden dünkt ihn eine tief berechtigte Kraft, die sich selbst Gesetz sein will und muß. Dabei gilt es ihm nicht allein, sich gegen die Macht der Welt zu behaupten, sondern in seinem Tiefsten das Gesetz der Welt spüren und sein Soll des Werdens. Von Heinrich von Stein stammt dieser beziehungsvolle Hinweis: „Der deutsche Denker führt es mit gutem Recht als den Vorzug seines Gedankens an, daß derselbe die Welt aus dem Menschen erkläre. Das Wort Welt weist einzig "hierauf als auf eine Erklärung seines Inhaltes hin. Es ist Wirklichkeit (Werlde, weralt) mit Werah, Werk, verwandt; aber noch mit deutlicher Beziehung auf dieses Werk Wirkenden, die Männer, den Menschen: wer" 1 ). Der Schaffende lehrt durch das, was noch niemals gesagt wurde. Sein Leben ist ein beständiges Bauen, ein Umwandeln des Gestern in das Licht des Heute. Wie das Leben eines jeden Menschen auf Tun und Leisten gestellt ist, etwas zu treiben, das Erwerb oder Ehre abwirft, und eine Notwendigkeit für gesunde, wohlorganisierte Naturen ist — so erwächst die zu voller Würde und Kraft bewußt gewordene Eigenart einer edlen Volksgemeinschaft aus der Kraft, die in dem Schöpferischen wohnt. Und „nur Kraft, die sich entsendet, zwingt auf die Knie, nur der Leben schaffende Hauch, der aus Geist in Geist strömt, ist heilig" 2). Aus dem Unendlichen strömt das Leben wie eine Woge mächtig heran, und das Leben der Völker gleicht einem Festzug über diese Erde in die Zukunft hinein. Das Werk eines Einzelnen zeigt seinem Volke den Weg, aber das Volk ist es, das in ihm wirkt und durch ihn sich entfaltet. Und Zur Kultur der Seele, gesammelte Aufsätze von Heinrich von Stein, 1906, S.284. 2 ) Kurt EJreysig, Vom geschichtlichen Werden, I, 144,
174
Kurt Breysig, der Forscher,
in dem volklichen Werden, in Freude und Leid, welche beide eines Gottes sind, erfüllt sich uns der Sinn des Daseins. Unsere großen Meister aber und Vorbilder sind die Handelnden und Schaffenden, die Schauenden und Bauenden. Sie führen zu der eigenen, noch unerfüllten Wesenheit und locken zu neuen Erfüllungen auf dem Wege zur Menschheit, welcher das Volk ist. In den Schöpfungen aber seiner Kultur lebt ein Volk das Pathos seines Werdens und baut in seiner Kunst und Wissenschaft eine zweite Welt und strebt zu seinem höchsten Ausdruck, und schafft seine Welt, als wollte sie den Sinn der Welten Schöpfung im Spiegel als Einheit vollenden. Und es ist wichtig für ein Volk, daß es dieses sein Bild recht erkenne. Und will es sein Wesen ergründen, so muß es ein Bild gewinnen, dem Kern seiner Wesenheit zugehörig; bei uns deutschen nicht das Bild des Deutschen von heute, sondern ein Bild von sich, dem ewigen Deutschen ! Kurt Breysig, der Geschichtsforscher — wir dürfen uns hier einer großen Erscheinung freuen, eines deutschen Menschen, der überreich ist an Gedanken und Wahrheiten, die schönste Blüte und die reifste Frucht: offenbart in der Kraft dieses Einzelnen und erfüllt im Kreislauf seines Volkes, an dem die Bewunderung und als Letztes und ITiefstes die Ehrfurcht spendet, die unendliche Welt im Spiegel des Schaffens, dieses meisterlichen Schaffens zu erschauen wie eine werdende Welt. Frei, und rein entwickelte sich sein Denken. Er wurde der unerschrockene und selbständige Forscher, der je und je die besten seines Weges zum Aufhorchen zwang. Die mitbauen wollen an der neuen Kultur unseres Volkes und der Menschheit, sie finden in seinem Werk Erkennen und Gestalten von bewegender Gewalt. Noch ist sein umfassendes Werk nicht ganz erschienen, das in schöpferischer Ausdeutung die Einheit eines Weges erbaute, der das beseelte Leben im Menschen des diessei-
als Bejaher des Lebensweges seines Volkes:
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tigen Kosmos und der sittlichen Tatkraft recht suchte und recht zu deuten verstand. Was dem Deutschen, dem beständigen Deutschen zuzumessen ist, was also Wert und Wucht, Würde und Kraft ist, und was jeder im Geist und als Möglichkeit besitzt, das gestaltete Kurt Breysig in seinem Werk: Vom Deutschen Geist und seiner Wesensart (1932). Das Wort Leopold Rankes aus der Frankfurter Rede von 1818 ist ihm Geleit: „Immer wird durch die Geschichte jedes Volkes etwas hindurchgehen, das da ewig ist und ursprünglich, das ihr nicht zu erklären vermögt, noch abzuleiten, sondern nur zu erkennen." In das Heiligtum der Wesenheit eines großen, tiefen und starken Volkes dringt nur vor, das ewige Antlitz eines Volkes aber schaut nur, der so verfährt: er wird jedem Zeitalter sein besonderes, nur ihm eigentümliches Gesicht ablauschen müssen, aber er wird aus der Summe dieser Einzelbilder auch ein höchstes einziges gewinnen, das das Urbild des Deutschen darstellt, den Gedanken, den die Geschichte selbst hatte, als sie unser Volk schuf. Wie Kurt Breysig dieses Amtes waltete, der Forscher als Bejaher des Lebensweges seines Volkes, wie er rechtes Wissen und Können und Schauen spendete am Gnadenmittag seiner Überschau, geschehe in der Kraft seines Sagens 3 ): Rokoko, leidenschaftliche
Bewegtheit.
Das Grundgesetz aller Zierkunst des Rokoko ist die Auflösung der alten Übereinkünfte in der Linienführung, in Willkür, Freiheit, in schweifende, irrende Gebilde; der Scheitelpunkt ihrer Bahn ist die Asymmetrie. Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, muß man nicht einen Innenraum, eine Kirche, einen Saal, oder auch nur eine 3
) Die Auswahl entstammt dem 1932 erschienenen Werk: V o m d e u t s c h e n G e i s t und s e i n e r Wesensart.
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Rokoko, leidenschaftliche
Bewegtheit,
Kapelle, ein Gemach im ganzen sehen. Wer an einem Deckenzierat, einer Türfüllung nur eine Ecke, ein Liniengefüge, wenige Geviertfuß umspannend, ins Auge faßt, der wird Wunder schauen, die ihm keine Erinnerung trüben kann. Nur das Wellengekräusel der Meeresbrandung, der Saum, den auf den sich folgende Wellenbergen der weiße Schaum ihrer Grate bildet, zerstört und wieder bildet, nur die Panzerlinien der Krustentiere auf dem Grunde der Tiefsee, die Fangarme der Tintenfische haben ähnliche Reize betörend willkürlicher und dennoch ihrer Schönheit stets gewisser Linienfolgen aufzuweisen. Und die Räume, die Balthasar Neumanns unerschöpflich spendender Reichtum in der Residenz, in der Wallfahrtskirche von Würzburg und die noch von seinem Geist geführte Hand in dem Bischofspalast von Bruchsal schmückt, haben solche Wunder verschwenderisch ausgestreut. Zu den alten, jetzt nach Karlsruhe entführten Beständen des Schlosses von Bruchsal gehört eine Spiegelkonsole, die an Reiz, an Leben, an Schönheit ausstrahlender Kraft solcher Einzelformung einem Gemälde höchsten Ranges gleichkommt. Die klippenreichen Flüsse, auf denen sich der Baldachin über dem geweihten Erdfleck inmitten der Wallfahrtskirche von Vierzehnheiligen erhebt, ein Märchen des Südmeeres selber in unseren Norden verschlagen, leiten von dem Reiz der Linie und der Ebene zu dem körperhafteren oder bildwerkhafteren Bestandteil dieser Kunst und endlich zu dem letzten Zauber, den sie am Außenbau ihrer Dome und Paläste fortspielen lassen: zu den Schwellungen, Schweifungen einzelner Mauerteile, zuletzt ganzer Wände, ganzer Turmhauben, schließlich zu dem Vor- und Rückspringen, Aus- und Einwärtsbiegen ganzer Stirnseiten, zu Durchbrechung aller Überlieferungen, insonderheit aller ehrsamen Gradlinigkeit und Rechteckigkeit auch hier, die man im übrigen, wo immer es Zweck und Willkür des Meisters gebieten, festhält. Diese Umwälzung der Baukunst ist eine völlig deutsche
Ist deutsch in der
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Formbeherrschthelt.
Tat, trotz mannigfacher Vorbereitungen im römischen Barock, und jene andere der Zierkunst, trotz stärkerer Anregung von Frankreich her, doch zum wenigsten in ihren letzten Tiefen und Zaubern deutsche Errungenschaft. W o Rokoko und Rocaille nur anmutig sind, sind sie französisch, wo sie — wie im Stuck- und Schnitzwerk von Bruchsal, in dem Eisenlettner von Amorbach — Wirrsal, Rausch und Rätsel werden — da sind sie deutsch. Ist nicht eben jene launische Willkür, die in der deutschen Gotik nur Fehler, nur Übertretung sein durfte, im deutschen Rokoko zu Ziel und Gesetz erhoben? Und wieder ist doch über alles Schweifen, alles Wirrsal der Zaum einer Regel geworfen. Darin treffen Rokoko und Gotik ebenfalls zusammen: Herrschaft und letzte Sicherheit im Bereich des selbstgesetzten Zwanges leiten auch dieser noch viel willkürlicheren Kunst die Hand. Ein Höchstmaß von Selbstbeherrschung zeichnet sie, die stets in ausgelassener Laune zu rasen scheint, vor vielen anderen Kunstweisen aus; ein Ziel höchster Vornehmheit der Kunst wie des Lebens ist erreicht: noch in den Stunden entspanntester Lust die volle, ja die höchste Gewalt über das eigene Selbst zu haben. Man vergleiche nur: wieviel mehr Lässigkeiten, Schlaffheiten, Mängel, Fehler hat jene unselige Frühzeit des Barock begehen dürfen, die man deutsche Renaissance nennt, wie wenige das Rokoko." (S. 13, 14.) Selbsterforschung, nicht Selbstberühmung (S. 125, 26.) So vorsichtig man den weiteren germanischen, den engeren deutschen Anteil an der Gotik abgrenzen mag, für das deutsche Wesen muß diese Kunstweise in ihrem- germanischen Ursprung, in dem besonderen Gepräge, das Deutsche ihr gaben, in Anspruch genommen werden. Anderes Kulturgut des Mittelalters ist in einem noch weiteren, im germanisch-romanischen Rahmen erwachsen: H e r i n g , Das Werden als Geschichte
12
178
Selbsterforschung,
nicht
Selbstberühmung.
denn bis zum Ausgang des Mittelalters haben Germanen und Romanen viel mehr Züge ihres Geistes, wie ihrer gesellschaftlich-staatlichen Ordnungen geteilt, haben sich überhaupt aus dieser größeren Gemeinschaft die einzelnen Volkstümer und ihre Eigenart nur erst zum Teil abgegliedert. Die Gotik aber läßt sich als eigens germanisch und bis zu einer bestimmten, sehr viel engeren Grenze eigens deutsch abgrenzen, darf also und muß also eine der tiefsten Bezeugungen des deutschen Geistes begriffen werden. Und gerade sie bietet das schlagendste, das im Grunde für alle anderen maßgebende Beispiel jenes Zuges zum Unregelhaft-Bindungslosen. Keineswegs ohne Regel, vielmehr in tausend kleinen und großen Grundgeboten der Kunstform an die strengsten Gesetze geschmiedet, ist recht eigentlich ihre Absicht, das Auge, den Sinn nicht zu überzeugen durch klare, feste, leicht überschaubare und eindrucksvoll sicher geordnete Maße und Massen, sondern durch unzählig mannigfache Gliederung, durch rastlosen Wechsel zu verwirren, zu berauschen. In festester Regelung jedes einzelnen Schrittes durch einen wirbelnden Tanz von Linien, Ebenen, Körpern entstehen zu lassen, das ist recht eigentlich Sinn und Ziel der gotischen Bauweise. Und nun das Rokoko: eine Auswirkung des innersten Kernes deutschen Wesens in seinem ewigen Sinn, obgleich es, wie keine andere deutsche Baukunst in der tiefsten Bedeutung des Wortes zeitgemäß, an die kurzen Jahrzehnte seines Wachstumes, seiner Blüte und seines jähen Endes — von etwa 1711 bis um 1755 — gebunden war. Aber vielleicht ist das am wenigsten ein Widerspruch: diese Baukunst, die in dem wundergleich plötzlichen Emporschießen ihrer völlig freien und eigenen Blühweise über Nacht aufbrach, wie die Dolde einer neuen, ganz ungekannten Pflanzenart, ist freilich nur in einem Menschenalter zum vollen, so lange allerdings um so reicheren Auswirken ihres Lebens gekommen und ist, von dem allmählich um sich greifenden Frost nach kurzer Übergangszeit
179
D a s leidenschaftlich Drängende: plus ultra.
getötet worden. Und so gewiß ihre späten, in dem kunstund schaffensarmen neunzehnten Jahrhundert wieder und wieder auftauchenden, noch heute nicht endgültig abgelegten Nachahmungen auch ebenso viel Huldigungen vor dem Gedächtnis dieser letzten echten Kunstweise' bedeuten, so wenig selbständiges Recht haben sie in ihrer eigenen Zeit oder gar in der Reihe der starken Bezeugungen deutschen Geistes. Die Baukunst des deutschen Rokoko ist vielmehr wie ein junger Meister von raffaelisch-kurzer Lebensdauer in ihrer Blüte hingestorben, und wenn man gesagt hat, daß die Dauer des Lebens eines bedeutenden Menschen nichts weniger als zufällig und gar nicht fortzudenken sei aus den gründenden Eigenschaften, den Komponenten seines Daseins, so gilt diese Beobachtung im gleichen Grade von dieser Baukunst, die wie ein Rausch, wie ein Tanz über Deutschland geschritten ist. Wie sollte ein junger zarter Frühlingstag nicht schnell dahingehen! Und wie sollte der Umstand, daß diese zarteste und seltsamste Blüte am Baum deutscher Kunst ebenso rasch zerfiel, wie sie aufgebrochen war, als Zeugnis gegen die zuinnerst deutsche Springkraft gelten, der sie doch ihr Dasein verdankte! (S. 127/128.) Das leidenschaftlich D r ä n g e n d e : plus ultra. In aller Romfahrt, in allem Drang unserer drei großen Kaisergeschlechter nach dem Süden hat dieser tragische Akzent des stets Vollenden-Wollens, nie ganz VollendenKönnens, endlich des letzten Scheiterns wahrlich nicht gefehlt. Ein Teil des Verhängnis ist Gut, im Erbgang aus dem Vermächtnis Karls erworben. Den Ehrgeiz, die Würde, die Macht der Cäsaren zu besitzen, und damit den Anspruch einer Erhebung des eigenen Herrschertums über alle Könige der Christenheit hin hatte er in die Welt dieses Völkerkreises gebracht. Aber es war freie Wahl der deutschen Könige, daß sie nach der Aufteilung des Großreichs die Hand an dieses Zepter legten, das dem Nordland an 12*
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Der Drang nach Süden im frühen und mittleren
sich nicht zugefallen war. Gewiß war auch dieser Machtdrang ins Weite und Oberweite ein Rest noch des Staatsgeistes des archaisch-despotischen Zeitalters der Karolinger, die ganz ebenso wie west- oder ostasiatische Großkönige ihrer Stufe den höchsten Preis ihres Erdentrachtens in der Dehnung ihres Machtbereiches über alle Maße und Grenzen hinaus gesehen hatten. Aber das Festhalten der deutschen Königsgeschlechter über mehr als ein halbes Jahrtausend hin war, da es gegen Geist und Brauch ihres Stufenalters geschah, recht eigentlich Sondergut und Kennzeichen der deutschen Art. Denn die Kraft der besten englischen, ebenso aber auch der stärksten französischen Herrscher ist in denselben Jahrhunderten ganz gesammelt auf die Erreichung des viel näheren, aber auch viel wirklicheren und im rein staatsmännischen Sinne viel ertragreicheren Zieles der Zusammenschließung eines viel engeren Königstaates gerichtet geblieben. Fast die gleiche Wucht haben alle drei Könighäuser in dem frühen und mittleren Mittelalter der deutschen Geschichte auf die Wagschale dieses Geschehens geworfen. Denn wenn die Sachsen gemäß ihrem nüchternen, sicherer rechnenden Staatssinn auch in diesem Tun sich eigens straff im Zügel gehalten und über dem Drang nach Süden die Ausweitung der deutschen Herrschaft in der viel gemäßeren und viel natürlicheren Richtung nach Osten nicht vergessen haben, so war ihr Anteil doch um so schicksalhafter, als sie den Ehrgeiz des deutschen Königtums diesen Weg zuerst gewiesen haben. Und auch ihrem Wirken läßt sich nachrechnen, daß es gerade um seiner stärkeren Straffheit und bewußten Folgerichtigkeit willen im Kampf gegen die Slaven und bei Durchsetzung der Reichsgewalt im Innern nicht nur größere, nein auch wetterbeständigere, gegen Angriff härtere Bauten hätte errichten können. Und wenigstens in dem letzten der Ottonen ist die kennzeichnende Mischung von weitausgreifender Einbildungskraft des Wünschens und des Wollens mit
Mittelalter
der
deutschen
Geschichte
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einem fast verzweifelten Versagen des Vermögens zu tun und zu vollbringen, Fleisch geworden, die recht eigentlich die tragischste Form des deutschen Romantikers auch im Königsmantel darstellt. In den Saliern hat sich aller Ehrgeiz kaiserhaften Trachtens in den leidenschaftlich heißen und ebenso leidenschaftlich hochfliegenden Drang ihres Kampfes mit den Nebenbuhlern in Cäsarenreich und Chri» stenheitsmacht, mit den Päpsten geworfen, in dem doch der Erfolg noch fragwürdiger und. unbeständiger war als in dem um Italien. In den Staufern endlich ist der innere Zwiespalt dieses seelischen Geschehens in eigener, neuer Form verhängvoll geworden. In Friedrich I. und gar in Friedrich II. hat sich die Umgestaltung des mittelalterlichen zum neuzeitlichen Herrscher, die die Staatsgewalt mit so vielen neuen, feineren und wirksameren Werkzeugen ausrüstete, in so absichtlicher Verstandesmäßigkeit, in so sieghafter Folgerichtigkeit vollzogen, wie in irgendeinem der großen Staatsordner unter den französischen und englischen Herrschern des späten Mittelalters bis in seine letzten Ausgänge. Und dennoch hat auch sie der in den deutschen Staatsmännern nicht nur dieses Zeitalters lebendige Schicksalszug in eine unumfaßbare Weite übermocht. Während alle ihre öffentlichen Ordnungen im Süden, vorzüglich in Unteritalien, darauf ausgingen, die Kraft eines angespannten Staatswillens mit der höchsten Verstandesmäßigkeit einer neuen Verwaltungskunst zu verbinden, haben sie in ihrem eigentlichen, ihnen von Blut und Schicksal zugewiesenen Reiche dem Endergebnis nach noch die elementarsten Forderungen nicht erfüllen können, die ihr Herrscheramt ihnen im Kampf um die Erhaltung der Königsmacht und gegen Auflösung und Zersetzung der einheitlichen Staatsgewalt gestellt hat. Die Verletzung, die dem lebendigen Wachstum des deutschen Staates durch dieses Verhalten zugefügt worden ist, wurde erst recht sichtbar gemacht durch die Nachwirkung, die es auf die
182
Nietzsche.
nächstfolgenden Jahrhunderte ausgeübt hat. Die Anschauung des großen Werkes bauender Staatskunst, das Friedrich II. in Unteritalien aufgerichtet hat, hinterläßt den Eindruck, als ob hier eine Kraft ordnenden Herrschertums sich ausgewirkt habe, die der Summe dessen, was Ludwig VII., Philipp August, Philipp der Schöne und Ludwig XI. insgesamt am Aufbau französischen Staatswesens geleistet haben, gleichgekommen wäre. Es ist nicht abzusehen, welche ändernden Wirkungen dieses Werk auf die Entwicklung des deutschen Staates im späten Mittelalter als Ur- und Vorbild getan haben könnte, wenn es nicht Apulien, Sizilien und Kalabrien, sondern dem deutschen Lande zugute gekommen wäre. So stark und starr sich die heutige Geschichtsschreibung versenkt in die gründende Feststellung der Einzeltatsachen und der Einzelzusammenhänge, dagegen sträubt: es ist doch erlaubt, ja geboten, auch ein durch Jahrhunderte hin sich streckendes und in sehr verschiedenen Einzelformen ausgewirktes Oesamtgeschehen als das Handeln des einen, einzigen und einheitlichen Volkes, als eine aus der Tiefe brechende Bezeugung seiner Wesenheit anzusehen und auszulegen. So muß gesagt werden, daß alle Römerfahrt und aller Südenzug der deutschen Könige und ihrer Ritterheere anzusehen ist als die augenfälligste und folgenreichste Äußerung der einen Grundeigenschaft deutschen Seins und Wollens, die immer plus ultra, d. h. bis an und weit über die Grenzen des eigenen Könnens und Vermögens sich getrieben fühlt. (154.) Böcklin, Nietzsche. Neben Böcklins Gestalt steht die Nietzsches als die eines völlig Gleichgeordneten: auch er ein Schwimmer gegen den Strom, auch er ein Kämpfer gegen seine Zeit. Der eine ebenso ein Schildhalter der neuen Formenkunst gegen den Naturalismus, wie der andere ein Streiter für die Königsmacht der großen Baukunst des Gedankens gegen Er-
Der junge
Goethe.
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fahrungs- und beschreibende Wissenschaft: beide fechtend für den Herrenanspruch des schauenden Ichs gegen das Übergewicht der Wirklichkeiten und ihrer getreuen, aber nur oft nur allzu demütigen Abschilderung. Aber Nietzsches Gedankenmacht hatte die Grenzen der Besonderheit seines Zeitalters: der Kraftabnahme der Philosophie, die sich in nichts deutlicher erwies, als in ihrer Auflösung in Geschichte, hat auch er seinen Tribut zollen müssen. Wohl errang er dafür die äußerste Höherspannung des Menschheits- und Volkserziehungsamts, das er ihr, ein erster seit Piaton, eroberte, aber er vermochte nicht, auch die feinere begrifflichere Baukunst der alten Erkenntnis- und Daseinswissenschaft zu erneuern. Die Einzelwissenschaften hat er wohl mit dem Samen seines Geistes befruchtet, aber er war zu wenig der Gegenwart oder der Vergangenheit kundig, zu wenig auch Ordner und Baumeister der Gedanken, um etwa eine neue Gesellschaftsseelenkunde als Wissenschaft auszubauen — sein Ja zu allem Bruchstück, zum Baustein sein Nein zu allem Begriff, zu jedem Begriffsbau läßt dieses sein Nicht-geneigt- und damit auch sein Nicht-geeignet-sein deutlich erkennen. (S. 73, 74. Nietzsche.) Der junge
Goethe.
Die Rede zum Shakespeare-Tag und der Aufsatz „Von deutscher Baukunst", mit denen der junge Goethe in die Arena sprang wie ein ungezähmter Panther, sprechen, nein rufen, nein schreien die schroffste Absage aus gegen alle Regelzwänge, die damals die größte Macht über die deutsche Kunst hatten, gegen die französische Dramatik und gegen die unebenbürtige Nachahmung der Antike. Und sie nahmen mit flammender Inbrunst Partei für die Gotik, für Shakespeare. Und wenn es geschah um aller Wildheit ihres Wachstums willen, so gelang diesem Zweiundzwanzigjährigen, es in einer Sprache, einer Haltung der Seele zu tun, die an lodernder, zündender Entflammtheit, an.
184
Der junge Goethe.
wilder, oft rasender Entfesseltheit, vor allem aber an blutvoller Lebensmacht nie wieder übertroffen worden sind, nicht einmal von Goethe selbst. Hier trat ein Redner vor seine Zuhörer, der mit den erregtesten Gebärden sprach und bereit schien, sich sein schlagendes, zuckendes Herz aus der Brust zu reißen, um es Zeugnis ablegen zu lassen für die Sache des blut- und glutvollen Lebens. Dies geschah mit einer Kraft der seelischen Selbstenthüllung und des erschütternden Eindringens, die alle Kunst des reifen und des späten Goethe nie wieder hat erreichen können. Und fast scheint es, als hätte selbst dieser späte höchste Meister deutscher Form durch die Überkraft seiner ersten Jahre nur beweisen wollen, daß seine vollste Macht sich allein dann entfalten konnte, wenn ihm nicht die mindesten Rücksichten auf Bindung und Regel in Schranken hielten. W a s jene ersten Verkündungen nur als Losung aussprachen, wurde Wahrheit im Werk; von den Sesenheimer Liebesliedern bis zum Wanderer, vom Urgötz bis zum Urfaust, vom Werther bis zum Urmeister stehen alle Schöpfungen dieses reichsten, dieses jüngsten Goethe unter Stern und Segen jener göttlichen Freiheit, die sich von tausend Vorschriften losgemacht hatte und sich so oft in Wiedergabe alles regellosen, wild, j a wirrwachsenden Lebens gar nicht genug tun konnte. Von der Gewitterszene in Werther bis zu Gretchens schrankenlosem Bekenntnislied, von Götzens Reiterflüchen bis zur ersten Walpurgisnacht zieht sich eine Perlenschnur solcher Seele und Sinnlichkeit offenbarenden Bezeugungen ganz freien, j a nackten Menschentumes, die zugleich höchste Schöpfungen formbefreiter Kunst waren. Der Gesamtentwurf des Faust, des ersten wie des zweiten — auch er war dem jungen Goethe zugehörig — ist vollends in allen seinen Willküren und Zerklüftungen das Gipfelwerk dieser ganz regelwidrigen, ganz bindungslosen Art. An ihm haben dann Jahrzehnte des reifen, des späten Goethe fortgebildet; und als
Hegel, George,
Eckhart.
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das Ganze vollendet war, stand es da wie ein gotischer Dom, an dem Zeiten und Zeiten in immer neuen Formen gebaut, in den Einzelgliederungen und noch im Grundriß ein Wirrsal voll von Willkür und Widerspruch und doch gerade darum mit dem Stempel des frühesten, des Urgoethe gezeichnet und doch gerade darum in alle Zukunft und Ewigkeit ragend als das tiefste, das leidenschaftlichste, das größte Werk der deutschen Kunst. (S. 137/38.) Z u s a m m e n s c h a u von Hegel, G e o r g e , E c k h a r t Unter den Denkern ist Hegel der Verwalter dieses Gutes gewesen: am unvergleichlichsten, da er den Grundplan seines Gedankendoms, den Mythos vom Geiste entwarf, aber auch überall dort, wo er seinem Schöpfertum alle die Einzelformen seiner vielverschlungenen, tiefgestalteten und immer wieder in das Geheimnis einer ganz eigenen Sprache gehüllten Denkerkunst ablockte. Hegel hat wahrlich nicht den Vielen diese Gaben gereicht, sondern nur denen, die mit gesammeltem Geiste, mit geübtem Denken und mit der tiefen Lust an der eisklaren, aber auch eiskalten Luft, die in der Firnen- und Gletscherwelt des reinen Gedankens weht, sich ihm nahen. Selbst vom Adel der im Geiste Schaffenden müssen viele an den Toren verharren: alle die nur in der Welt der greifbaren Gewachsenheiten leben, die Forscher, die nur das Erfahrbare erkennen wollen, die Künstler, die nur, was ihnen die Sinne reichen, zu fassen vermögen, haben nicht Einlaß in den Tempel seines hohen Den'kertumes. Unter den Dichtern aber ist George dieser Gabe des Tiefdunklen am innersten teilhaftig geworden. Wahrlich von einer ganz anderen Seite her als jener Denker, der ein Weltbaumeister sein wollte und wurde, fern von allem Philosophieren, von aller Wissenschaft, dem Forschertum mehr feind als nur fremd, aber um die Rätsel des Lebens bemüht und vornehmlich bedacht, zwischen seinem Werk und den Scharen der kurzatmig Genießenden eine weite
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Hegel, George,
Eckhart.
Ferne zu schaffen, hat er nicht um solcher Zwecke willen oder gar aus klüglich berechneter Absicht, sondern aus der freien Gnade seiner Sendung um den Bezirk seiner Dichtung einen Wall gezogen, der, für die Wohlvorbereiteten und zu gefaßtem Empfange Willigen übersteigbar, doch alle Bequemen, alle läßlich Genüßlichen fernhielt. Diese nach außen hart bewehrte Veste war, wie bei dem alten Denker, die eigene Sprache, die sich der neue Dichter schuf und die, wie jener eigenen Worten eigene Begriffe unterlegte, so jetzt eigene Bilder mit dem neuen Gewand umkleidete. Es entstand eine Welt von Szenen und Gestalten, die am meisten zu Anfang vornehmlich holder und zarter Schönheit dienen sollte und die doch aus der inneren Gewalt und Wucht ihres künstlerischen Willens von jedem, der hier wahr und wirklich genießen wollte, den Zoll von Hingabe und Verehrung, ja von Ehrfurcht forderte und selbst da noch, wo sie die leichte Anmut eines Liebesspieles oder den Allbesitz eines goldenen Herbstes ins Leben rief, den Schauplatz solcher Dichtung zu Tempel und Heiltum werden ließ. Als vollends die Schatten immer ernster, immer schwerer wurden, als aus dem Poeten der Prophet hervorwuchs und der Dienst an der Schönheit zu strenger Forderung an den Adel starken und schönen Menschentumes wurde, den dieser stärkste der NietzscheSöhne heranziehen wollte, da wurde die Färbung von Bild und Sprache immer schwerer und das Dunkel ihrer edlen Hülle immer tiefer. Aber George hat sich in seinem Werk nie als einen Mystiker gegeben. Er war von Anbeginn zu sehr der Verkünder ganz irdischer, heidnischer Sinnlichkeit, er hat, wo er sich bekenntnishaft äußerte, die Verehrung von Göttern gefordert, wie in jener Anrufung einer Götter-Vierzahl von Bacchus bis zu Baidur, die sich schon durch ihre seltsame Zusammenstellung wie dichterische Willkür, nicht aber wie eine Glaubensurkunde von dem einer solchen zukommenden Lebensernst darstellt, und er hat in den viel
Das Menschenbild
Georges.
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wesentlicheren und vermutlich dem Sinn seiner Weltsicht viel näher kommenden Gedichten am Schluß der Reihe, die er „Der Stern des Bundes" genannt hat, eine Vergottung des Ichs gefordert, die mit dem Bekenntnis großer Mystiker, etwa dem des Meisters Eckehart, wohl einen Urbestandteil gemein hat, ihm aber sonst ganz fremd und fern bleibt. Denn wohl war es Eckeharts Stolz, den Gott, dem er als Herrn der Welt nicht wenige Macht zu nehmen bereit war, in sein Ich einzuschärfen und ihn der Seele einzuverleiben. Aber diese In-Eins-Setzung des Ichs mit dem Gott bei dem alten Gläubigen ist durch die Weite einer Welt getrennt von jener, die der Dichter unserer Zeit für sich und die Seinigen forderte. Denn er, wie noch mehr als e i n Starker dieser Tage, wußte nichts von der Gottheit, die Meister Eckhart inbrünstig zu verehren nicht müde wurde, und noch weniger von der damals wie heut aus Asien uns gepredigten, ganz müden Weisheit, daß Tat und Unrast Verderben, daß das nicht seiende Sein Heil und Ziel unseres Geschlechtes sein müsse, wie es einst der Mutterschoß gewesen sei, aus dem Gott und Ich und Welt emporgestiegen seien. Das Menschenbild, an das George zu glauben befahl, ist von so festen, so bildhaftwerk sicheren Umrissen, daß es nichts gemein hat mit den Auflösungen von Gestalt, Geist und Tat, in denen die Sehnsucht aller Mystiken ihr Ziel sieht und die in Wahrheit nichts anderes sind als die Ausgeburten einer selig ins Nichts und in ein entleibtes Allgefühl hinsinkenden Schwäche. Es gibt tiefe Mängel, klaffende Lücken, schwere, aus allzusehr geliebter Vergangenheit aufsteigende Gebundenheiten, die auch ein weltfrommer, dem Geiste treuer, im Leben freudiger Sinn in dem Weltbild, dem Lebensgebot vermissen muß, das aus Georges Dichtung aufsteigt; mit der Unkraft, die im Grunde aller Mystik eigen ist, wenn sie aus den Schranken des Glaubens, aus der künstlerischen Einbildungskraft in das Leben übergreift und sich zu seinem Herrn aufwirft, hat der Dichter, hat sein Wirken nie etwas zu schaffen gehabt. (230—232.)
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Martin Luther.
Martin
Luther.
. . . Aber wenn so auf mancherlei Wegen das Werk Luthers zum Werkzeug wurde, sein Wesen uns, den Nachlebenden zu verhüllen, so kann es doch auch zum Offenbarer seines Menschentumes werden. Nur muß es in allernächster Nähe zum lebendigen, strömenden, lodernden Leben angeschaut werden, nicht aber, wie es Geistesgeschichte nur allzuoft tut, in allerfernster Ferne von ihm, ganz enthoben in die Gipfel und Gletscher ihrer Begrifflichkeit. Wird aber Luthers Tat in diese Sicht gezwungen, so bedarf es noch kaum eines Eingehens auf die Grundpfeiler seiner Glaubens- und Gotteslehre, an ihr müssen nur Maß, Grad und Rang der Lebenskraft und Lebenswucht recht erkannt werden, mit der sie ihr Ziel erstrebt und erreicht hat. Sie aber bezeugen, daß hier nicht nur ein Denkender, ein Bauender im Geist von außerordentlicher Kühnheit, sondern auch, und noch viel mehr, einer der heftigsten, der leidenschaftlichsten Tat-Menschen am Werke war, ein Führer von ungeheurer Kraft, der Folgerscharen in tausendfache Not und, wäre er ein Feldherr gewesen, in den Tod zu führen vermocht hätte. Luther war einer von den Jahrtausendmenschen, die ein ganzes Volk und fast einen Erdteil für ihr und für manches folgende Zeitalter in eine andere Schicksalsbahn zu reißen vermögen. Nichts sticht an dem in seinem Werk geoffenbarten Menschentum Luthers so unmittelbar in die Augen wie seine furchtbare Gewalt. • Luther war ein wandelnder Vulkan; er war einer von den wenigen im Menschengeschlecht, aus denen die Stimme des Weltgeschehens mit dem dröhnenden Donnerton eines Ausbruches vom Erdkern her laut wird, die nicht Wesen unsersgleichen, sondern Elemente, Urgewalten zu sein scheinen. Die Protestanten haben sein Werk Reformation, Rückbildung, Wiederher-
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Jakob Orimm.
Stellung eines alten, zu Unrecht veränderten Zustandes genannt. Die Anhänger der alten Kirche aber haben es eine Revolution gescholten. Des Was des Glaubensgehaltes nach mögen die Protestanten Recht haben, dem Wie, das heißt der Heftigkeit des Geschehens nach haben die Gegner sicher das Richtige getroffen. Wenn je ein Tun im Glauben Umwälzung, Umsturz bedeutete, so sicherlich Luthers Tat. Jakob
Grimm.
So endlich hat Jakob Grimm, die höchste, die deutscheste Gestalt von ihnen allen, mit dem schweren Hammerschlag seiner starken Hand all die luftigen Bauten der deutschen Sprachgeschichtsforscher vor ihm zertrümmert, dann aber aus Kraft des dennoch ganz bildnerischen, des ahnenden Geistes bauender Forschung einen Stufenbau der Geschichte unserer Sprache aufgerichtet. Aus Wurzel und Wortton, aus Lautfarbe und Lautumfärbung, aus tausend mal tausend Einzeltatsachen, die für Jahrhunderte der Gelehrsamkeit ein totes Trümmerfeld von unverbindbaren Bruchstücken gewesen waren, führt er die stolze, dreigestufte Pyramide seiner durch zwei Jahrtausende reichenden Sprachgeschichte auf. Jede feinste Formenschönheit bis zum Klang des Selbstlautes aufzufassen befähigt, alle Wirrsal dieses Urwalds des geistigsten und doch fühlhaftesten, triebmäßigsten Gebilde unseres Volkes umfassend, schlichtend, ordnend, deutend, hat er hoch über ihren millionenfachen Formenreichtum die Tafeln der in ihm gefundenen großen Entwicklungsgesetze gehoben, die erst aus dieser drängenden Überfülle des Stoffes ein planvoll geordnetes Gebild machen. Ein Meister bauender Kraft des forschenden Geistes, und dazu doch um die Sicherheit jedes kleinsten Ergebnisses bemüht und besorgt. Gleich als müsse er alle Schwestergebilde seiner geliebten Sprache auch erkennen, hat er die heilige Sage und das nicht minder heilige Recht durchforscht, um dann doch die ganze zweite Hälfte seines Gelehrtenlebens an die übermenschliche Ar-
190
Das
Traumstarke:
Mystik der
Kunst.
beit einer Sammlung des gesamten Wortschatzes unserer Sprache zu setzen, damit freilich offenbarend, daß kein großer forscher geboren wird, in dem nicht die Freude unendlichen Sammlerfleißes ebenso mächtig ist, wie die der kunstverwandten Flugkraft der bindenden, bildenden Baugedanken. Und welche Spannweite umfaßt dieser Mann geistiger Art. Seine Seele liebt das Volk und dessen Kindereinfachheit, den alten Mütterchen lauscht er die Mären vom Munde ab, damit einen Schatz aus der Tiefe hebend. Denn es gibt keine gewisseren Urkunden von Brauch und Glauben noch der frühesten Jugend unseres Volkes: selbst aus der Zeit, d a die Deutschen menschenfressende Wilde waren, plaudert der Kindermund des Märchens sein unbefangen ehrliches Zeugnis aus. Und wie zärtlich liebkosend ordnen Jakob Grimms Hand und die seines Bruders, der ihm Helfer und Geselle war, jeden Fund in das unabsehbar weiträumige und vielgestaltete Gefach seines Wörterbuches ein, ihn liebkosend wie die sanfte Hand des Sammlers, der Kleinod auf Kleinod in die Schatzkammern seines Schreines trägt. Wer unter uns die Feder führt und sich einen fröhlichen Tag bereiten will, sollte aus diesen edlen Bänden immer wieder zur Morgenstunde einen Abschnitt lesen, und sei es nur, soweit ein Wort oder eines Wortes einmalige Wandlung reicht. Hier ist unsere Mutter Erde, an deren Brust ruhend wir immer neue Kraft und Stärke gewinnen können. Das
Traumstarke:
Mystik
der
Kunst.
Ganz unberührt von diesen schroffen inneren Widersprüchen, äußeren Kämpfen bleibt das seelische Bild dieser Bewegung als einer starken Zeugin für das Vermögen auch noch der Gegenwart, das Dunkel-Tiefe des deutschen Wesens in Werk des Geistes und in Sprache der Kunst umzuformen. Denn von allen ihren Meistern, insonderheit von Marc und Nolde, hat als Zeichen ihrer stärksten Kraft
Jakob Burckhardt, der Alemanne,
191
zu gelten, daß ihr Wirken stets ein Deuten von den Empfangenden fordert und eben darum sich als bedeutend zu erkennen gibt. Wie es aus der Tiefe und den Gründen der Seele stammt, so rückt es das Werk nie in das überklare Licht des Alltags, sondern beläßt ihm die schweren Schlagschatten, das dämmernde Zwielicht seelischer Leidenschaft, geistiger Verkämpftheit. Und dies geschieht,, und damit wird das gewichtigste Lob zu ihrem Preise und zum Ruhm unseres Zeitalters ausgesprochen, ohne jede Anleihe von alten Zeiten oder gar von einer Mystik, sei es des Glaubens, sei es der Kunst, die, für irgendwelche längst entschwundene Vergangenheit oder für irgendeine Fremde des Bluts, irgendeine Ferne des Raums geschaffen, unserm eigenen Alter, unserem eigenen Volk gar nicht zugehört. Was ihnen an dem ungewissen Dämmerschein uralter Glaubens- oder Kunstgebilde und an dem ähnlichen Reiz fremdartiger Kulturen abgeht, das gleicht aus und übertrifft an Gewinst die Ursprünglichkeit eines wahrhaft eigenen, wahrhaft neuen, unerborgten Gestaltens, das noch immer sich als das unwiderleglichste Zeugnis echter Schöpferkraft erwiesen hat. „Auch aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ragen einige solcher hohen Werke auf: Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance als große Empfängnis des Geistes einer Zeit, Jakob Burckhardts Geschichte der italienischen Baukunst im Zeitalter der Renaissance als strengste Ausführung des Entwicklungsgedankens auf einem reichen, weiten Felde, Jakob Burckhardts Vorlesungen über griechische Kultur als die sehr freie, sehr ichmäßige und vielleicht allzu Schopenhauerisch geschaute Sicht über Geist und Seele eines hohen Volkes. Und Karl Wilhelm Nitzsch' Deutsches Mittelalter, Mommsens Römisches Staatsrecht reihen sich an. Aber bezeichnend ist in dieser Kette das Überwiegen der Leistungen eines einzigen Mannes, von dessen Weltgeschichtlichen Betrachtungen dabei noch geschwiegen ist
192
ahnende, deutende, schauende Geschichtsforschung.
und der doch in ihnen sich als der einzige Geschichtsforscher offenbart, der tiefer selbst als Herder und Ranke — auch der seherischste Ranke der Tagebuchblätter nach 1831 — sich lauschend zum Herzschlag der Menschheit niederbeugte. Jakob Burckhardt hat als der Oberdeutsche, der Alemanne, der er war, ein neues Stück vom deutschen Geist offenbart: denn er verband vielleicht als der erste und bis auf den heutigen Tag einzige von allen Großen der Geisteswissenschaft sinnliches und begriffliches Schauen und wurde so nicht Schilderer von Bildern, nicht Ordner von Erkenntnissen nur, sondern darüber hinaus noch Ahnender, Deutender, Schauender, noch der Prophet der Vergangenheit, der dem alten Worte nach in jedem Geschichtsforscher wohnen soll und der doch so in wenigen sich regt. Und all die Eckigkeit und Knorrigkeit, die aus den alten Zeiten die beiden dem deutschen Leben am meisten abgewandten Stämme, Schweizer und Elsässer, bewahrt haben, ist in ihm. Sein Verhältnis zum Barock, über das er nicht müde wird, witzig und zornig abzusprechen und dem er doch zu allerletzt, vor Balthasar Neumanns größtem Werk stehend, einige Anerkennung zu zollen nicht umhin kann, ist eine Geschichte für sich: drollig, tragisch und jedenfalls ganz deutsch, aus kollerndem Zürnen und einer fast an sich selbst leidenden Ungerechtigkeit zusammengesetzt. Und auch er war der Deutsche der Romantiker; diesmal aller auf einmal: der Mann der Sehnsucht nach Hellas, nach Italien, und abermals nicht nach dem germanischen Italien, nach dem Italien der Gotik oder nach dem Italien des Barock, sondern durchaus nur und ganz ausschließlich nach dem Italien der Renaissance. Und selbst von ihren Werken ist diesem seltsam und gerade darum so ganz deutsch den eigenen Gegensatz liebenden Kunstgenießer nicht die frühe, noch gotisch, oder die späte, schon barock beeinflußte Renaissance genehm, sondern eigentlich nur jene zwei oder höchstens drei Jahrzehnte, die unter Bramantes, Raffaels, Lionardos Schatten stehen. So wenig aber
Leopold von Rankes universalhistorisches Mühen
103
etwa Burckhardts eigenes Adlergesicht zu der raffaelitischen Madonnennorm oder sein Behaben, sein Gewand zu dem römischer Kardinäle gepaßt hätte, so wenig war sein geistiges Ich dem Wesen der Zeit und des Volkes gleich, die er mit so leidenschaftlicher Ausschließlichkeit liebte. Deutsches Schicksal zum andern oder besser zum dritten, zum vierten und wer weiß noch zum wievielten Mal!
VIII.
Die Einheit des Werkes In der Überschau seines Werkes wächst der große Bau seiner Formen wie ein mächtiges Gefüge, Symbolgefüge, gruppiert um den Lichtstrahl des Werdens und entwickelnde Geschichtsschreibung genannt. Wie Leben des Weltalls ein unerschöpfliches Bauen ist, so erweckten die besten Kräfte meisterlicher Tradition der Geschichtsschreibung in Kurt Breysig den Forscher mit seinem lautersten Ringen und erregten ihn zu seinen edelsten Bildungen: Unendlichkeitsweg — Geschichte der Menschheit, welche Fülle von Sinn wächst da empor I Gustav Schmoller erzählt von Ranke, wie er als 33jähriger schreibt, die Entdeckung der unbekannten Weltgeschichte wäre mein größtes G l ü c k u n d wie er einmal sagte, er (Ranke) wolle zur Erfüllung seines universalhistorischen Zweckes gelangen durch den Weg, den Niebuhr einschlug, und zugleich durch die Tendenz, die Hegel vorschwebte. So weit Auseinanderliegendes strebte Ranke in sich zu vereinigen und unternahm auf der einen Seite klar, voraussetzungslos und nüchtern die politischen Machtentwickl ) Gustav Schmoller, Gedächtnisrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke, Berlin 1896. Hering, Das Werden ala Geschieht«
13
194
um die Entdeckung der unbekannten Weltgeschichte.
lungen und Charaktere zu zeichnen und auf der anderen Seite, die letzten Ursachen alles historischen Geschehens in grandiosen Ideenbildern, Ideenkämpfen wie Ideenrevolutionen zusammenzufassen. So mochte er dem Einen als Mystiker, dem Anderen als sittlich und politisch indifferenter Realist erscheinen. Lag doch in seinem Wesen das höchste Maß von historischer Objektivität, aber aufgebaut auf einer religiös-philosophischen, von der Gegenwart abgewandten quietistischen Grundstimmung. Und bei allem Andersgerichtetsein des Weges Kurt Breysigs, und eben darum um so lieber vernehmen wir aus seinem Munde Worte der Verehrung über Ranke, den er den erlauchten Wegweiser und Wegeüberwinder der neuen Geschichtsforschung nennt, der eine Schönheit zeichnerischer Form für seine Einzelschilderung aus dem Geiste der deutschen Romantik gewann, die ihn als Künstler des Wortes und der Abspiegelung der Tat und der bewegenden Kräfte im Täter hoch über alle späteren, alle früheren Geschichtsschreiber hebt: „Eine unendliche Vornehmheit ist das wesentlichste Merkmal Rankescher Geschichtsauffassung: wer sein wägendes Urteil mit Kaisern und Päpsten spielen sieht, gerät zuweilen in Zweifel, wer hier die königlichere Gebärde hat, die Herrscher oder der herrschergleiche Mann, der ihren Namen verewigt. Die Voraussetzung dieses Adels der Haltung, der vorzüglich in der sicheren und beständigen Fernhaltung des Ichs von dem betrachteten Gegenstand und des Gegenstandes von dem betrachtenden Ich besteht, ist freilich die Beiseitesetzung vieles Alltäglichen und vieles Gemeinen — die dem, der sie übt, von Seiten des gebildeten Pöbels in der Regel den Vorwurf der Weltfremdheit einträgt, da dieser sich nicht vorstellen kann, daß ein Hoher das Niedrige zwar sieht, aber nicht widerzuspiegeln liebt. Aber welch ragende Höhe der Persönlichkeit allein so starke Kraft geben kann, wird ersichtlich, wenn man die abwechselnd klein- oder mittelbürgerliche Befangenheit und Untergeordnetheit ermißt, in der Geschichtsschreiber
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Stoff sammelnde Einzelforschung
von geringen Graden sich vor wie nach Ranke so oft ihrem Gegenstand genaht h a b e n " 2 ) . Einer Anmerkung aus Rankes „12 Büchern preußischer Geschichte" entstammte Kurt Breysigs Doktordissertation: Der Prozeß gegen Eberhard Danckelmann. Und es ist eine eigenartige Verknüpfung Kurt Breysigs mit dem Höhepunkt deutscher Historie von Ranke bis Treitschke, wenn letzterer den jungen Forscher, der eben in seiner „Geschichte der brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640 bis 1697" dargetan hat, daß er die Schatzkammer der Archive und Urkunden mit einem Höchstmaß rankescher Objekthaftigkeit auszunutzen und dem spröden Stoff die Darstellung vergleichender, fortschreitender Entwicklung zu leihen vermag, im Februar 1896 zum außerordentlichen Professor vorschlägt. Aus dieser Verbindung mit den besten Kräften forscherlicher Repräsentation erwuchs Kurt Breysig in Fleiß und Selbstzucht die klare Handschrift anschaulichen Erzählens, die mit dem Reichtum eigenen Künstlertums seinem Werke Profil und Leuchtkraft leiht. Der Sinn alles Ereignens, allen Geschehens, allen Werdens wird viel erfragt. Wie immer eine überwiegend erfahrungswissenschaftlich eingestellte Forschung in dem Zeitalter überwiegend Stoff sammelnder und Stoff siebender Einzelforschung notwendig erscheinen mag, so ragen doch aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Werke frei waltenden Schaffens hervor: Jacob Burckhardts Geschichte der italienischen Baukunst erweist sich als strengste Ausführung des Entwicklungsgedankens auf einem weiten und reichen Felde. Mommsens römisches Staatsrecht und Karl Wilhelm' Nitzschs Mittelalter weisen die Vorteile des entwicklungsgeschichtlichen Verfahrens im Gegensatz zu jener zwar gewissenhaften, aber oft pedantischen Akribie, die sich in ihrer Spezialisierung und Arbeitsteilung doch und doch 2
) Kurt
65/66.
Breysig,
Vom deutschen
Geist
und seiner
Wesensart, 13*
106
und schöpferisch zusammenfassende Schau:
in einer gewissen Enge des Horizontes gefällt. Aber Mommsen wie Karl Wilhelm Nitzsch und Jakob Burckhardt waren Gipfel. Die Forschergeneration von 1890 und 1900 blieben in den Schranken emsiger Kleinarbeit und erlagen dem Naturalismus in der Einzelabspiegelung der gegebenen Wirklichkeiten. Karl Lamprechts Versuch einer Geschichte der Kulturzeitalter ragt über die Ebene der Fachgelehrsamkeit hervor wie ein Zentaur; der aber in seinem geschichtlichen Sehen der Suggestion des Massengedankens unterlag. Und doch erscheint seine Gesamtgeschichte des deutschen Volkes dennoch halbgötterlich in der Umgebung der Deskriptivisten. Er versuchte das Riesenwerk der Zusammenfassung der Geschichte eines Volkes im Nebeneinander aller seiner Betätigungen und im Nacheinander der langen Entwicklungszüge dieser Teile. Aber es wirkt wie eine v ö l l i g ü n s i n n l i c h e F r e s k o m a l e r e i : er erreicht nicht die Strenge der geistigen Form, die Einzelheiten bleiben Naturalismus. Wo er sich, wie in den Forschungen über das deutsche Wirtschaftsleben des Mittelalters, als der gelehrige Schüler von Karl Wilhelm Nitzsch bewährt, zeigt er in den Einzelheiten gediegene Bauglieder. Seine aus der Kunstgeschichte entliehenen Begriffe — er unterscheidet ein symbolisches, typisches, konventionalistisches, individualistisches und subjektivistisches Zeitalter — schaffen manchen Irrtum, und zu sehr ist er dem Massendienst und dem Massenglauben verhaftet, und zu wenig ist er Bildner und Former, dem mächtigen Strom des Geschehens die anschaulichen Zäsuren zu geben, die dem/ großen Geschichtsgemälde der Deutschen Gliederung, Übersicht und anschauliche Folgerichtigkeit verleihen könnten. Dem setzte Kurt Breysig um die Jahrhundertwende die „Kulturgeschichte der Neuzeit" entgegen. Sein Werk steht wahrlich nicht unter der Romantik des Unterganges des Abendlandes, wie es auch weit entfernt ist, jenen müden Zweifeln eines Theodor Lessing, der seine Menschheits-
Entwickelnde
Geschichtsschreibung.
197
geschichte im Bilde von Europa und Asien als „Untergang der Erde am Geist" sah. Kurt Breysig ist in Hinsicht auf Werkesart und Werkesmaß „der geistigste Geschichtsforscher" bezeichnet worden, der schöpferisch den Naturalismus überwand. In jenen drei Werken Kulturgeschichte 1900, Stufenbau und Gesetze der Weltgeschichte 1905, die Geschichte der Menschheit, Bd. I, 1907, schreitet Kurt Breysig von der lediglich oder wesentlich erzählenden Geschichtsschreibung zu einer zweiten, sehr viel mittelbareren Form der Geschichtsschreibung, zur ordnenden: „Es ist diejenige, der es auf die Aufdeckung von Zusammenhängen, sei es der Verursachung, sei es wenigstens der Verkettung durch Sacheinheit der Ereignisse ankommt. Man hat diese Form auch wohl entwickelnde Geschichtsschreibung genannt, und man ist dazu berechtigt, da es sich in aller ordnenden Geschichtsforschung um die Herstellung von LängsschnittSichten, von in der Zeitfolge geordneten Geschehenseinheiten handelt, für die dann wieder der aus der Biologie entnommene Gleichnisbegriff Entwicklung einen vortrefflichen Träger des Teilbegriffes der innersten Längsschnittund Zeitenverkettung hergibt. Aber für das hier obschwebende Denkerfordernis ist die etwas minder ansprüchliche Bezeichnung ordnende Geschichte, die sich weniger in die Tiefe, mehr in die Weite des umfaßten Gebietes erstreckt, die geeignetere. Sie ist ordnend im doppelten Sinne: zuerst im Querschnitt des Nebeneinanders der Lebensdinge, insofern sie alles Geschehen in Sachbezirke aufteilt, von den großen Bereichen der äußeren und inneren Staats-, der Klassen- und Wirtschafts-, der Rechts- und Sittengeschichte, der Glaubens-, Kunst- oder Wissenschaftsgeschichte abwärts bis zu den besondersten Sach- und Fachgebieten einer Behördengattung, einer Einrichtung des Rechts oder der Geselligkeit. Und sie ist ordnend zum zweiten im Längsschnitt der Zeiten, insofern sie grundsätzlich und immerdar den ursächlichen oder doch wenigstens sachlich
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Der Formenvorrat
einer vergleichenden
Menschheitsgeschichte.
verketteten Zusammenhang der auf- und auseinander folgenden Handlungen und Handlungsweisen aufzudecken trachtet, von der einfachsten Abfolge zweier Geschehnisse bis zu den denkbar längsten Geschehensreihen der Völker-, der Menschheitsgeschichte" 3 ). Vereinzelt stand sein Werk — unabhängig von jeder politischen Partei, selbständig auch von einer wissenschaftlichen oder literarischen Schule — neben Schattengöttern derzeitiger Gelehrsamkeit: sein Bild einer neuen Welt deutscher Geschichte — ein großer Bau deutschen Werdens, der den Maßstab künftiger Zeit aus der engen Verbundenheit mit dem Werke Friedrich Nietzsches schöpferisch bewirkte, vielgestaltig, aus dem Elementaren aufsteigend, klar sich tragend aus der Hoheit einer starken Persönlichkeitskraft, aus innerlichstem Willenswirken sehr weise abgewogen, geoffenbarte geistige Form, in tätiger Richtung von innen nach außen. Die Schönheit großer Lebensformen des Werdens vollenden im Stufenbau der Geschichte den Stufenbau voller Menschenbildung. Wer ohne Zugeständnisse und ohne Vorurteile eine wahre universitas litterarum richtungweisend, gesetzgebend am Werke sein läßt, sprengt durch Strenge, Gehalt und Wucht die Krisenstimmungen des Niederganges. Der Forscher, dem sein Werk aus leidenschaftlicher Liebe und Hingabe an dem Erbe deutscher Vergangenheit erwuchs, wird zum geistigen Führer seines Volkes. Es ist, als ob in seinen ansteigenden Mannesjahren die glutvolle eifernde Liebe um sein Volk — wie sie sein meisterlicher Lehrer Heinrich von Treitschke vorlebte — in ihm Gestalt gewönne, als er in den Blättern von Gegenwart und Zukunft des deutschen Menschen mit dem schweren Rüstzeug forscherlicher Pflicht und wissenschaftlicher Verantwortung zum Gesellschaftsordner wird und die Lo3 ) Kurt Breysig, Menschheit, S. 23.
die
Geschichte
der
Seele im
Werdegang
der
als Grundveste einer
Geschichtslehre.
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sung setzt von der Verantwortung der schaffenden und leistenden Persönlichkeit und ihrer Einordnung in den Volkskörper: er will den Führer zum Führer, den Folger als Folger eingeordnet sehen. Die Folger aber sind nicht Knechte, sondern freie und selbstbewußte Helfer und Gesellen des Einen am Werke. Denn die großen Gesellschaftsformer und Menschheitsbildner sind Tatmenschen höchster Ordnung, die den Völkern die Ziele setzen und sie die Wege führen. Die Schöpferischen der höchsten Grade im Geist, und die Männer der stärksten Tat werden die Bahnbestimmer geschichtlicher Bewegungen. Zwei Jahrzehnte zurückgezogener Forschung — das Alleinstehen in der Zeit wird seinem Lebensgefühl ein Innewerden der eigenen Kräfte —, e s g i b t i h m z u der W i l l e n s s t ä r k e die W e s e n s f ü l l e seines z w e i t e n S c h ö p f u n g s k r e i s e s . Die Werke vom G e schichtlichen Werden sind seine architektonische Grundlegung. Gestraffte, klare Architektur, Urgefüge, Erzgefüge, dem universalen Kräftespiel des Werdens Formen-Synkopierung! Aus dem Formenvorrat einer vergleichenden Menschheitsgeschichte fügt Kurt Breysig die Grundveste einer Geschichtslehre. Er führt sie auf mit einem Höchstmaß von begrifflicher Strenge und folgerichtiger Anwendung der immer gleichen Regeln. Hier offenbart sich recht der ringende und suchende Forscher, der aus der Sehnsucht nach Klarheit und Ordnung, nach Ebenmaß und sieghafter Harmonie sich von der reinen oder halben B e schreibung abwandte, um an ihre Stelle die entwickelnde Betrachtung zu setzen, um „den Geheimnissen der Tiefe nachzuspüren", der „unterhalb der Oberfläche" des Einzelgeschehens und seines „weit mannigfaltigeren Spiels" ziehenden „großen Strömungen", da die „Auffindung des Werdeganges alles Geschehens das Ziel sein m ü s s e " mit 4 ) Vgl. Kurt Breysig, Die soziale Entwicklung der führendenvVölker Europas in der neueren und neuesten Zeit: Schmollers Jahrb. für Ge-
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Gobineau: Volk als Ganzes genommen,
dem hohen Ziel: der Erkenntnis des Werdeganges der Menschheit. Die Spirale als geometrisches Gleichnisbild des Oeschichtsverlaufes wird Sinnbild für Bahn, Weg, also für Werdegang, Fortschritt und Verlauf der Geschichte, und das Bahnengewinde der Geschichte — auch der außergermanischen und außereuropäischen Entwicklungen gibt Kurt Breysigs von unten her bauender, induktiver Forschung die Möglichkeit der Bahnbestimmung. Joseph Arthur Graf von Gobineau hat 1867 in Athen in deutscher Sprache eine „Untersuchung über verschiedene Äußerungen des sporadischen Lebens" 5 ) niedergeschrieben, indem er vornehmlich als Ergebnis aussprach, daß die Geschicke der Menschheit nicht durch Einzelne allein, sondern außerdem durch Volksseele und Rassenmischung in Wechselwirkung dieser drei Faktoren aufeinander bestimmt werden. Nur wenn und wo dies beachtet werde, sei Wissen um das Geschehene, wissenschaftliche Geschichtsforschung möglich. Es gälte, führt Gobineau aus, der Geschichte den Eintritt in die Familie der Naturwissenschaften zu erwirken, ihr die ganze Genauigkeit dieser Klasse von Kenntnissen zu verleihen. Zu diesem Zwecke müsse man sie nur auf Tatsachen aus allen Vorstellungskreisen, die solche zu liefern vermögen, stützen und sie damit der interessierten Gerichtsbarkeit entziehen, deren Willkür ihr die politischen Parteien bis auf den heutigen Tag auferlegen. Unter sporadischem Leben versteht er persönliches individuelles Leben, wie es sich in einzelnen Lebenszentren kristallisiert. In ihnen vollziehen sich die von dem Leben im Räume und in der Zeit hervorgebrachten organischen Manifestationen. Die Gesamtvereinigung menschlicher Willensäußerungen sind das Volk, das an sich selbst einen Willen, seine Leisetzgebung, XX, 1896. Die mit Anführungsstrichen versehenen Teile sind dieser Darstellung entnommen. 5 ) Untersuchungen über verschiedene Äußerungen des sporadischen Lebens. Vom Grafen Gobineau, 3 Teile, in der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", 1868, Bd. 52/53.
Geschichtliches Werden als ein Lebensganzes.
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denschaften und seinen Geist habe. In diesem Volk — V o l k a l s G a n z e s g e n o m m e n — sieht Gobineau ein ebenso tatsächliches Wesen, als wenn man es zu einem einzigen Körper verdichtet sähe. Und über das Verhältnis zwischen dem Einzelnen, Führenden und seinem Volke sieht Gobineau diese Linie: e i n V o l k b e d a r f i m m e r e i n e s M a n n e s , der seinen Willen zusammenfaßt, erklärt und dahin lenkt, wo seine Bestimmung liegt. Wenn dieser Mann sich irrt, leistet das Volk Widerstand und folgt dem, der nicht irrt. So sieht er Volk und Einzelnen im Austausch zwischen dem Kollektivwillen und dem Individualwillen. Aus ihrer Vereinigung folgt für das geschichtliche Geschehen ein positives Ergebnis. Er ahnt das einheitliche geschichtliche Werden als e i n L e b e n s g a n z e s und will zu dieser Erkenntnis durch Vereinfachung vorstoßen, indem er alles ausmerzt, was den Blick verwirrt, um in den wirklichen Sinn des Ganzen einzudringen. Überschauen wir unter der Sicht dieses Frühversuches, der Geschichte die Wirklichkeitssicherung nach Art der Naturwissenschaften zu ermöglichen, Kurt Breysigs Einheitss t r e b e n d e r W i s s e n s c h a f t , wie er das angedeutete Rahmenwerk füllte in dem weitgespannten Versuch, in seinen beiden Werken: Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (1934) und „Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen" die Tatbestände der Natur als Weltgeschehen in einer E i n h e i t mit dem Menschheitsgeschehen auf der Ebene eines Weltbildes zu ergründen! Er gab damit der Formenkunde der Entwicklung als E i n h e i t d e r B e w e g u n g i m W e l t geschehen und Menschheitsgeschehen für künftige Forschung erst recht die Grundlage. Ein Werk nicht für den Tag, sondern für Reihen von Zeitaltern der Ausgangspunkt! Wenn Schaffen das A und O des Kosmos darstellt, so vermittelte Kurt Breysig in diesen beiden Werken aus mächtigem, unerschütterlichem Einheitsstreben eine in welthingegebener Ehrfurcht errichtete Komposition
202
Kurt Breysig: Einheitsstreben der Wissenschaft.
von großer Tiefenklarheit, empfangen aus der Kraft, die selber wesend, selber Strom ist. Nicht um die Ehrfurcht zu verweigern den Größten im Geist, zu denen Kant mehr als ein anderer deutscher Forscher gehört, sondern auch seinem Werke durch die Wahrheit forscherlicher Überzeugungen zu dienen, in seelengeschichtlicher Auswertung von Kants geistigem Bilde, Kant als Analytiker und Synthetiker, untersucht Kurt Breysig 6 ) die Irrwege der Postulate, Kants Setzungen — im Voraus, Kants apriori der Aprioris. Er stellt Kant den Empiriker dem Kant der aprioristischen Denkweise als entgegengegesetzt gegenüber. Aus der Setzung, daß die Welt ein für uns unerfahrenes Ding an sich sei, müßten Folgerungen gezogen werden, die den von Kant gemachten entgegengesetzt wären. Kants Verfahren bringt in alles Erkennen einen Bruch, den unser auf Einheit hinstrebender Verstand als eine unerträgliche Beeinträchtigung empfinden muß. Für Kurt Breysig ist die Einheitlichkeit der Forschung eine Gabe des Weltgeschehens. So stark erschaut seine große und freie Daseinsart den Bau erfahrender Wissenschaft als die meisterliche Form aller inwendigen Weltweite des Menschheitsganzen, daß er d e n S i n n u n s e r e s Z e i t a l t e r s , dessen Wissen noch immer nur auf Erfahrung vertraut, n e u s e t z t über sammelnde und beschreibende Erfahrungswissenschaft hinaus unter Hinwendung zum Begriff „von dem festen Boden der erfahrbaren Wirklichkeit Werke bauender, von unten her bauender Forschung zu errichten, deren Krönung e i n e W e l t w i s s e n s c h a f t sein muß, die an Anspruch und Reichweite jeder von begrifflichen Setzungen ausgehenden Daseinslehre ebenbürtig sein m u ß " 7). Aus der Einheitlichkeit des ordnenden Gedankens, aus der Unterwerfung unter ein Gesetz und eine Regel erwächst ®) Kurt Breysig, Der Aufbau der Persönlichkeit von Kant, 1931. 7 ) Kurt Breysig, Kant, S. 97.
Gemeinsame Ziele der Natur- und Geisteswissenschaften
203
Bau und Gliederung des Ganzen: „Wie es keine Logik in unserem Denkbild von der Welt gibt, die nicht kosmologischen, richtiger gesagt, kosmischen Ursprungs ist, so ist die Einheit, als Denkform angewandt auf weite und vielfach zusammengesetzte Seins- und Geschehenszusammenhänge, von Ursprung selbst ein Geschehen, erst zuletzt ein Gedanke, ein aus dem Geschehen aufgestiegener Gedanke. Sie ist für die Forschung eine Grundregel, der sie nie und nirgends entweichen kann, weil nur solche Einheitlichkeit, die der Natur die Voraussetzung aller ihrer Seinsverbundenheiten, ihrer Geschehensverkettungen ist, dem Forscher allein die Gewähr gibt, daß seiner Arbeit auch bei weitem Umfang die innere Geschlossenheit gewahrt bleibt. Und diese Einheitlichkeit hat nicht nur das Ganze jeder Wissenschaft zu umspannen, nein auch das Verhältnis ihrer Teile zueinander zu bestimmen. Es ist nicht angängig, daß, wie in der Sittenlehre Kants, die eine Hälfte des Gedankengebäudes den Regeln einer auflösenden, abwärts leitenden — analytisch deduktiven Forschungsweise, die andere, denen einer aufwärts bauenden — synthetischen — unterworfen ist. Daß Kants eigene Erkenntnislehre im Grunde dieselbe Forderung hätte erheben müssen, bedarf keines Wortes zum Beweise" 8 ). Es erscheint im Gesamtschaffen Kurt Breysigs höchst bemerkenswert — und ich wüßte aus der Vergangenheit der Geschichtsschreibung nur Heinrich von Sybel in Parallele zu stellen, der um die Wende seines 70. Lebensjahres in voller Schaffenskraft in sieben Bänden „die Begründung des Deutschen Reiches" vorlegte, die an Kraft der Charakteristik und Farbigkeit des Stiles für alle Zeiten zu den Edelsteinen der geschichtlichen Literatur zählen wird, — wie schöpferisch Kurt Breysig in seiner Schaffenszeit der letzten zehn Jahre in meisterhafter und lückenloser Gestaltung sein Gesamtwerk vollendet und einer künftigen Ge8
) Ebenda S. 97/98.
204
und eine allgemeine
Geschichtslehre.
schichtslehre sichere Fundamente errichtet. Erlebten wir im Ausbau der Persönlichkeitsvorstellung den Fortführer des Werkes Nietzsches und den Erfüller einer n e u e n W i r k l i c h k e i t , so spüren wir in seinem Ausbau des 1905 vorgelegten Stufenbaues der Weltgeschichte eine erstaunliche Aktivität höchsten Grades in der Vollendung und folgerichtigen Ausgipfelung seiner Geschichtslehre, bei der wir uns erinnern, was Georg Brandes vom Werke Goethes sagte, daß in dem Eden, das er erschließe, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis eines seien. Seine im Jahre 1935 erschienene „Psychologie der Geschichte" in Ausweitung und Weiterführung von Untersuchungen aus dem „Geschichtlichen Werden" und aus „Naturgeschichte und Menschheitgeschichte" geht den gemeinsamen Zielen der Natur- und Geisteswissenschaften nach und gibt Sichten in ein demnächst vorzulegenden weiteren. Baustein für eine allgemeine Geschichtslehre. „Werden, Wachstum und Entwicklung" sind Größenordnungen für die Entfaltungen der Fülle des Geschehens, gesehen von dem schöpferischen Grundgedanken der Einheit her. Welchen Anteil bisherige Geschichtsschreibung an der Gan'zheitsvorstellung einer „Entwicklung" hatte, stellt Kurt Breysig in dem soeben veröffentlichten zweiten Bande dieser Reihe dar, in den „Meistern der Geschichtsschreibung". In diesem Werke wird erstmalig — das erweist u.a. ein Vergleich mit der 1936 erschienenen Geschichte der Geschichtsphilosophie von Johannes Thyssen — die philosophische Spekulation über Geschichte, die entsprechend dem doppeldeutigen Sinn des Wortes Geschichte (Geschehen und das Wie dieses Geschehens) bisher der Geschichtswissenschaft das spekulative Anhängsel „Geschichtsphilosophie" beigab, als ein selbständiger Teil der Geschichtsforschung — neben der rein beschreibenden Geschichtsdarstellung — in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Damit wird in der Geschichte
Die
Meister
der
entwickelnden
Geschichtsforschung.
205
der Geschichtsschreibung endlich mit dem Wirrwarr von Kultursoziologismen, Geschichtsphilosophismen, dem Durcheinander von Psychologie, Soziologie und Ökonomie aufgeräumt. Das ganz unschöpferische Hinüber und Herüber von Dogma, Metaphysik und kategorialen Prinzipieneitelkeiten, von Politismus, Ökonomosmismus, usw., das dem totalen Wirklichkeitszusammenhang der Welt in die Etikettierung von so viel Liebhaber-I s m e n der großen Narren und Kinder zerspaltete, wird abgetan. Für Kurt Breysig gilt das Wesenswissen über die Struktur des Weltganzen, wie es sich im geschichtlichen Werden als Geschichtslehre, als Ergebnis bauender Erfahrungswissen schaft dartut. Von dieser Grundeinstellung her zeigt er, wie eine tiefere und höhere Ordnung, .für den geschichtlichen Stoff als die der schlichten Zeitordnung bei den werktätigen Geschichtsforschern und den Theoretikern einer neu entstehenden Geschichtslehre durch all die Jahrhunderte seit Aristoteles geahnt, angestrebt und in gewissem Umfang gestaltet wurde. Die großen Ahnungen dieser „neuen Wissenschaft" beginnen in Piatons Gespräch über den Staat, als er ein System der Staatsverfassungen — fünf an der Zahl — nicht zu dem Zwecke eines Nacheinander, um der Abfolge willen, sondern nach der V o r z ü g l i c h k e i t mit der Möglichkeit Aristokratie oder Monarchie entfaltet. Nach ihm behandelte Aristoteles in der Verfassungsgeschichte Athens die Einrichtungen und Veränderungen im Staat der Athener durchaus entwicklungsgeschichtlich. Giambattisto Vico verkündete als erster den neueuropäischen Völkern die Botschaft des Entwicklungsgedankens in der Geschichte und wurde damit der erste Ordner und Wegweiser für eine universale Entwicklungsgeschichte. In der romanischen Geschichtsforschung — von Montesquieu ab zu Voltaire und Turgot bis zu Condorcet immer neue Anläufe zu entwickelnder Geschichtsforschung, bis zum Eintritt Deutschlands in die Geschichte der entwickelnden Geschichtsforschung, das durch drei
206
Grundlegung einer Geschichtslehre
Forscher des höchsten Ranges in der Geschichte des forscherlichen Geistes führend wird: durch Winckelmann, Moser und Herder; Winckelmann und Moser, ganze Segmente von Volksgeschichten umfassend, Herder aber sogar das volle Kreisrund einer Menschheitsgeschichte umgreifend. Die „Meister der entwickelnden Geschichtsforschung" sind neben der Psychologie der Geschichte und den „neuen Gestaltungen des Entwicklungsgedankens" und der „Theorie der entwickelnden Geschichtsforschung" (die beiden letzten Teile im Erscheinen) 9 ) einem Zusammenhang zugehörig: K u r t B r e y s i g s G r u n d l e g u n g e i n e r „ G e schichtslehre". In der Überschau eines vier Jahrzehnte umfassenden Forscherlebens im Ringen um das Wie des Weltgewebes um die kosmische Grundweise des Werdens, erinnern wir uns der Grundeinstellung seiner forscherlichen Art, die am Anfang des Weges einmal sprach: „Jedesmal führt die Frage nach dem Wie der Entwicklung zu den Grenzmarken zwischen Nichtwissen und Wissen, immer weist sie in Fernen und Tiefen, von denen die stärksten Wirkungen auf die erkennbare Geschichte unseres Geschlechtes ausströmen und von denen wir doch nie wissen werden. Aber soll man den Entwicklungsgedanken darob schelten, soll rriari ihn nicht eher darum rühmen? — Vielleicht ist aller zarteste Reiz der Forschung daran gebunden, daß sie von Rätsel und Dunkel umgeben ist. Es gibt nicht allein eine Halbbildung, es gibt auch eine Halbwissenschaft, die das leugnen will, die von allen Fäden des Seins das kurze und das lange mit Händen zu greifen glaubt. Alle wahre Forschung wird freilich unermüdlich den Kampf gegen das Dunkel der ungewußten Dinge führen; aber dies ist ein Streit, in dem Sieg und Niederlage gleich schön sind, und die Schauer des Unwißbaren, die uns durchrieseln, sind 9
) Vgl. Neuerscheinung von Werken Kurt Breysigs im Verlag De^ Grüyter 1939,
aus der Einheitsschau der Welt.
207
eines der köstlichsten Güter nicht nur des Lebens, nein auch des Forschens" 10 ). Das aber macht danach die Wanderung auf seinem Forscherwege zu einem so überreichen Erleben: Eng verbunden mit den Gewalten dieser Erde, mit Heimat, Himmel, Volkstum, Gemeinschaft und allen Gebilden der Wissenschaft und Kunst führt er uns durch die Palastsäle und Dome der Geschichte. Immer sind seine Gesichte des Geistes gestaltet aus dem Reiche des Erfahrbaren, des Deutbaren: aus der g r o ß e n W i r k l i c h k e i t : W E L T . Die hohe Schönheit seiner Formen steht unter der Hoheit einer unwiderstehlichen Willenswürde, die mit Strenge und Milde, Kraft und Zartheit, Ernst und Weite die Weise des Lebens kündet. Die rätselhafte Blüte, die das Leben treibt, die Seele und ihre Weise: Liebe und Verstehen, Abschied und Tod, Schmerz und Vergessen, sie bleibt das Kind der Erde, aber der Hauch eines lebendigen, fast pflanzlichen Wesens lebt in i h r . . Sie ist wie ein Stern, der von dieser Erde aufstieg. Darum ist die Weise seiner Sprache Erneuerung, sie ist Schöpfung. Sein Anschaun der Welt wandelt das Sagen. Ihm eignet Geist, aber dieser Geist formte sich auf dieser Erde, und er konnte sich formen, weil abgetan ist alle Unruhe und Furcht, weil er weiß, die Ordnung der Welt hat sich „als das Urbild aller O r d n u n g in unserem Geist eingeprägt". Die ganze Welt ruht in des Menschen Sinn und Forschen. Wer sagt, daß diese Weise weniger Geist und weniger schön sei? Weil sie bunt sein kann wie Frühling und Schmetterlinge? Nur der vollendete Mensch kann vor seinem Volke bestehen und wird Führer sein. Noch gehn die Gotiker von heute unerkannt, aber Pfeiler und Wände und Türme ihrer Dome haben die Einheit des Werdens als Zeugnis des Lebens und zugleich als Zeuge ihrer eigenen Weite, ihrer eigenen Kraft und ihrer eigenen Formenfülle. 10
) Kurt
Breysig,
Völker
ewiger Urzeit,
1907.
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Der Schaffende, seinem
Volke auf der Lichtseite des
Lebens.
Kurt Breysig: der sprachmächtige Meister von seltener Vollkommenheit, in seinem denkmächtigen Ringen um die Einheitsschau der Welt, in dieser Schau stets Historiker und Dynamiker zugleich, sprach ehdem am Grabe Friedrich Nietzsches im engen Freundeskreise mahnende Worte vom Führertum und der Sendung der Großen in Geist und Tat. Er empfing sein kosmisches Schauen wie ein Gnadengeschenk, als freies Gnadengeschenk im Sonnenfeuer des Werdens nicht auf gewaltsame Weise, sondern als Selbstverwirklichung der in ihm wirkenden Kraft. Er schaut nicht vom Menschen aus auf die Welt, sondern ihm ward gegeben, wiedergegeben, was einst aller Menschen Besitz war, von der Welt aus auf die Menschen zu schauen. Wie einst Goethe zum jungen Schopenhauer sagen konnte: „das Licht sollte d a sein, insofern Sie es sehen? Nein, Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe!" Sein Weltgefühl ist so stark, aufgetan, hingegeben, seine unermeßliche Kraft schafft, wie die Kräfte in der Natur wirken. Die je in seine menschliche Nähe kamen, spüren sein unablässiges Aufgeschlossensein, das jeden Frühling neu in seinem Herzen jährt als Kraft der immer NeuBeseelung. Tätig, sinnend, denkend, bildend und empfangend steht er der Welt gegenüber, und nichts steht zwischen ihm und der Welt, zwischen ihm und den Menschen. Er fand sich in der Welt, und die Welt (als Kosmos) durchwirkt und beseelt in strömender Lebendigkeit sein Werk. Die Kerze, in die einer sinnend schaut, ist wie ein Phönix dem, der schaut. Die Kerze vernichtet nicht, sie brennt und hat ihren Sinn im Glänze des Lichtes. So der Schaffende, der Wirkende seinem Volke auf der Lichtseite des Lebens: Der Schenkende widerspricht nie der Natur und der Seele und ist neu aus Reichtum und Freude und wie die Sonne belebend.
P r o f . Dr. K u r t B r e y s i g Geschichte der Menschheit I. B a n d :
Die Anfänge
Urrassen
— Nordasiaten
der
Menschheit
— Australier
Qroß-Oktav. XV, 440 Seiten. 1936.
II. B a n d : V ö l k e r Nordländer
— Südamerikaner.
RM. 1 6 . - , geb. 1 8 . -
ewiger
Urzeit
— Nordwestamerikaner
Qroß-Oktav. XII, 374 Seiten. 1939.
— Nordostamerikaner. RM. 1 6 . - , geb. 1 8 . -
Die Geschichte der Seele im Werdegang der Menschheit Qroß-Oktav. XXXVIII, 526 Seiten.
1931.
RM. 1 0 . - , geb. 1 2 . -
Das unendliche Wirrsal der Einzeltatsachen, die die Geschichte zu bewältigen hat, m u ß durch große, zwingende Zusammenfassungen überwunden werden. Sie werden hier von einer neuen Psychologie der Geschichte dargeboten.
Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte Groß-Oktav. XXXII, 476 Seiten. 1933. Aus dem
RM. 1 0 . - , geb. 1 2 . -
Inhalt:
Die Einheit von Welt und Seele — Vernunft und Welt — Urkörper und Weltkörper - Wille und Welt - Das Gedächtnis der Natur und das Gedächtnis des Menschen — Macht und Liebe als Gefühlskräfte — Die Überlegenheit des Naturschaffens über das Menschenschaffen - Namenlose Gewalten — Planeten, Monde, Elektronen: Bahnläufe und Bahngeschwindigkeiten.
Verlag Walter de Gruyter & Co. / Berlin W 35
P r o f . Dr. K u r t B r e y s i g Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen Groß-Oktav. XXVIII, 444 Seiten. 1935.
RM. 1 0 . - , geb. 1 2 . -
Aus dem Inhalt: Das Hinüberfließen des Weltgeschehens in das Menschheitsgeschehen — Kämpfe und Friedensschlüsse zwischen Mann und Frau in der Geschichte - Die Schulung des Verstandes durch das Vorbild der Welt - Entstehung und Ausbildung der Kunst — Revolutionen zum Zweck der Selbstregelung — Glauben und Denken — Das Schicksal der Geistwelt Das Vordringen des Kosmos in die Seele der Menschheit.
Psychologie und Geschichte Groß-Oktav. XX, 194 Seiten. 1935. Aus dem
RM. 6 . -
Inhalt:
Das denkende Ich - Die Werkzeuge des Denkens — Die Forschungswege zur Natur und zum Geist — Gemeinsame Ziele der Natur- und Geisteswissenschaften.
Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung Groß-Oktav. XIX, 267 Seiten. 1936. Aus dem
RM. 8 . -
Inhalt:
Entstehung und erste Ausbildungen des Entwicklungsgedankens — Die großen Geschichtswerke der Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts.
Geist und Gesellschaft Eine Festgabe in 3 Bänden für Prof. Kurt Breysig zum 60. Geburtstag. Alle drei Bände zusammen in Ganzleinen gebunden RM. 1 8 . broschiert RM. 1 6 . I. Band: Geschichtsphilosophie und Soziologie. II. Band: Geschiche der Gesellschaft. III. Band: Vom Denken über Geschichte.
Verlag Walter de Gruyter & Co. / Berlin W 35
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