Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht: Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours 9783110629187, 9783110626131

The study examines the space of historical discourse in which the self-image of the Roman upper class developed in Gaul

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German Pages 240 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Einleitung
2. Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen zwischen Imperium Romanum und regna: Sidonius, Ruricius, Avitus
3. Zwischenräume
4. Fragmentierter Raum: Venantius Fortunatus’ Dichtung und Gregors von Tours Libri Historiarum Decem
5. Ausblick
6. Zusammenfassung
Abkürzungsverzeichnis
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Orts- und Personenregister
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Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht: Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours
 9783110629187, 9783110626131

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Hendrik Hess Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 111

Hendrik Hess

Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours

Zugleich Dissertation, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2017.

ISBN 978-3-11-062613-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062918-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062652-0 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2019944444 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine aktualisierte und geringfügig veränderte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2017/18 bei der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht wurde. Es ist mir eine große Freude, all jenen danken zu können, die an der Entstehung dieses Buches maßgeblichen Anteil hatten. An erster Stelle danke ich meinem Doktorvater, Professor Dr. Matthias Becher, dessen Lehrstuhl ich als meine akademische Heimat betrachten darf. Trotz vieler anderer Verpflichtungen hat er meine Arbeit stets konzentriert und interessiert begleitet; sie wurde durch seine Initiative, Anregungen, vielfältige Unterstützung, sein Wohlwollen und Vertrauen erst ermöglicht. Besonders danken möchte ich außerdem Herrn Professor Dr. Florian Hartmann nicht nur für seine Freundschaft, sondern auch für ehrliche, kritische und dabei immer ermutigende Ratschläge innerhalb und außerhalb von Universität und Wissenschaft sowie vor und nach Feierabend. Zudem bin ich Frau Professor Dr. Andrea Stieldorf wegen der Übernahme des Korreferats und wichtiger Anmerkungen und Herrn Professor Dr. Konrad Vössing ob der Übernahme des Vorsitzes der Prüfungskommission und hilfreicher Denkanstöße sehr verbunden. Die Möglichkeit, ein Promotionsstudium zu absolvieren, eröffneten mir meine Eltern, unterschiedliche Anstellungen in der Abteilung Matthias Bechers und vor allem ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Ich hatte das Glück, meine Überlegungen bei zahlreichen Colloquia, Tagungen und Workshops vortragen und zur Diskussion stellen zu können, die mir viele Impulse lieferten. Dafür bin ich u. a. Veronika Egetenmeyr, Professor Dr. Stefan Esders, Dr. Julian Führer, Dr. Lennart Gilhaus, Florian Hartmann, PD Dr. Alheydis Plassmann, Dr. Cornelia Scherer und PD Dr. Jürgen Strothmann sehr dankbar. Für kleinere und größere Anstöße bin ich außerdem den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Nomen-et-Gens-Jahrestreffen sowie Professor Dr. Gernot Michael Müller und Dr. Joop van Waarden zu großem Dank verpflichtet. Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde danke ich den Professoren Dr. Sebastian Brather, Dr. Wilhelm Heizmann und Dr. Steffen Patzold, dem ich zudem wertvolle Hinweise und Korrekturen verdanke. Für die zügige Drucklegung und kompetente Beratung habe ich Laura Burlon, David Jüngst und Dr. Elisabeth Kempf zu danken. Weiterhin begleiteten mich einige aktuelle und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus der Bonner Abteilung viele Jahre: Kim Alings, Tine Beyer, Dr. Linda Dohmen, Achim Fischelmanns, Katharina Gahbler, Dr. Elisabeth Richenhagen und Lisa Schroll, denen mein herzlicher Dank für unzählige Diskussionen und Hilfe in unterschiedlichsten Gestalten gilt, sei es im Rahmen des Doktorandenkolloquiums, beim gemeinsamen Mittagessen, zwischendurch oder nach Dienstschluss.

https://doi.org/10.1515/9783110629187-201

VI

Vorwort

Florian Hartmann, Petra Hengholt und Sebastian Pisi möchte ich danken, da sie die Arbeit im Vorfeld in Teilen oder ganz gelesen und mir mit vielen Verbesserungen geholfen haben. Um die Endkorrektur hat sich vor allem Nina Wellens verdient gemacht, der ich außerdem für ihre ausdauernde Nachsicht, Geduld und für ihre bedingungslose Unterstützung danke und dafür, dass sie mich eine ganz entscheidende Zeit mit meinen „Freunden“ Sidonius und Gregor geteilt hat. Köln/Bonn, im Juli 2019

Hendrik Hess

Inhalt Vorwort 1 1.1 1.2 1.3

V

Einleitung 1 Begriffe 5 Forschungsstand Methodik und Weg

10 19

2

Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen zwischen Imperium Romanum und regna: Sidonius, Ruricius, Avitus 27 2.1 Einführung 27 2.1.1 Sidonius Apollinaris 30 2.1.2 Ruricius von Limoges 38 2.1.3 Avitus von Vienne 39 2.1.4 Gallien im 5. Jahrhundert 40 2.2 Die römische Oberschicht und ihre Briefe 48 2.2.1 Weltliches Amt 49 2.2.2 Familiäre Abstammung 57 2.2.3 Amicitia 59 2.2.4 Luxus 63 2.2.5 Romanitas 66 2.2.5.1 Bildung und Sprache 69 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ 78 2.2.6 Christentum und Bischofsamt 99 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus 103 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.3 3.4 3.5

Zwischenräume 118 Leges 118 Visigotenreich 120 Burgunderreich 121 Frankenreich 122 Epitaphien 123 Epistolae Austrasicae 124 Die Chronik des Marius von Avenches Viten 129

4

Fragmentierter Raum: Venantius Fortunatus’ Dichtung und Gregors von Tours Libri Historiarum Decem 131 Einführung 131 Venantius Fortunatus 132

4.1 4.1.1

127

VIII

4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.3

Inhalt

Gregor von Tours 135 Gallien im 6. Jahrhundert 140 Der fränkische Episkopat 142 Romanitas bei Fortunatus und Gregor 143 Der Blick zurück: Das römische Reich 143 Die „Senatoren“ 145 Amt und Landbesitz 150 Amicitia und Briefverkehr 153 Nobilitas: Barbarisch und Römisch 155 Onomastik 163 Bildung 166 Latenzrömer 170

5

Ausblick

176

6

Zusammenfassung

Abkürzungsverzeichnis Quellenverzeichnis

184 185

Literaturverzeichnis Stellenregister

180

188

222

Orts- und Personenregister

228

1 Einleitung Sidonius Apollinaris, geboren um 430, Bischof von Clermont, schreibt einen Brief an seinen Freund Johannes: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse.1 Die Auvergne befindet sich unter der Herrschaft des visigotischen Königs Eurich; Kaiser Julius Nepos hat sie 475 an ihn abgetreten. Nun, so scheint es, blicken Sidonius, seine Standesgenossinnen und Standesgenossen auf eine unsichere Zukunft. Die römische Ämterlaufbahn ist ihnen unter der Herrschaft der Visigoten verschlossen, Landgüter und Reichtum sind verloren, reduziert oder bedroht, als einziger Ausweis ihrer nobilitas bleibt ihnen ihre Bildung. In ihr sieht Sidonius das Potential, die Integrität seiner gesellschaftlichen Gruppe zu bewahren, auch ohne den traditionellen Bezugsrahmen, den das Imperium, Rom oder der Kaiser zur Verfügung stellten. Über hundert Jahre später beginnt dann ein anderer gallischer Bischof, Gregor von Tours, seine Libri Historiarum Decem mit folgenden Worten, die – hätte er sie lesen können – Sidonius vermutlich einigermaßen schockiert hätten: Decedente atque immo potius pereunte ab urbibus Gallicanis liberalium cultura litterarum [. . .].2 Es besteht also eine offensichtliche Diskrepanz zwischen Sidonius’ Forderung für die Zukunft und Gregors späterer Wahrnehmung der Gegenwart.3 Die Bildung, die Sidonius noch als letzte Chance für das Überleben seiner gesellschaftlichen Gruppe ansah, liegt nach Gregors Worten im Frankenreich darnieder. Verlor die römische Oberschicht in Gallien ihre soziale Kohäsion und schwand dadurch nach und nach aus der Geschichte? Immerhin war Gallien im späten 5. und frühen 6. Jahrhundert wie kaum eine andere Provinz des Imperium Romanum ein Transgressionsraum heterogener politischer, religiöser, sozialer und kultureller Dynamiken. Die Macht und institutionelle Integrität des weströmischen Imperiums schwanden im 5. Jahrhundert zunehmend, so dass Bereiche, die ehemals zum Kerngebiet des Reiches 1 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 2, 2, S. 127. Übers. nach Köhler 2014, S. 245 f.: „Denn nachdem die alten Würdengrade aufgehoben sind, durch die einst der Oberste vom Niedrigsten unterschieden wurde, wird in Zukunft das einzige Kennzeichen des Adels die Bildung sein.“ In ausgewählten Fällen und bei längeren Passagen, die nicht ausführlicher besprochen werden, wird im Folgenden zur schnelleren Erschließbarkeit eine Übersetzung der Quellenausschnitte geliefert, fremde Übersetzungen werden dabei entsprechend angegeben. Falls nur kleinere sprachliche Glättungen vorgenommen oder kürzere Passagen eines längeren Textes geringfügig verändert wurden, ist dies durch ein „Übers. nach“ gekennzeichnet. Falls keine entsprechenden Angaben zu finden sind, handelt es sich um eigene Übersetzungen des jeweiligen Quellentextes. 2 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), praef., S. 1. Buchner 2000a, S. 3: „Da die Pflege der schönen Wissenschaften in den Städten Galliens in Verfall geraten, ja sogar im Untergang begriffen ist.“ 3 Beide Aussagen sind freilich klassische Topoi der Ermahnung bzw. Klage, fraglich ist jedoch, ob es sich tatsächlich nur um leere Worthülsen handelt. https://doi.org/10.1515/9783110629187-001

2

1 Einleitung

gehörten, zur Peripherie wurden. Die Aufmerksamkeit der bisweilen in schneller Abfolge wechselnden Kaiser war in den Augen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zusehends auf Italien beschränkt. Gallien wurde vernachlässigt, so weit, dass der Vorwurf erhoben wurde, die Imperatoren hätten es zeitweise völlig ignoriert.4 Diese sorgenvolle Mahnung stammt wiederum von Sidonius und damit natürlich nicht zufällig aus einer gallischen Bevölkerungsschicht, die aufgrund der Schwäche des Imperiums am meisten zu verlieren hatte. Parallel dazu begannen Visigoten, Burgunder und Franken, eigene Machtgebilde auf dem Territorium des weströmischen Reiches zu errichten. In dieser „Schwellenzeit“5 ist Gallien gleichsam Keimzelle für neue und im Entstehen begriffene Strukturen und den Bedeutungswandel soziopolitischer Konzepte, besonders mit Blick auf das Frankenreich des 6. Jahrhunderts. Alte Gewissheiten gingen verloren, neue entstanden, die Verfügungsmacht über materielle und immaterielle Ressourcen wechselte, Sinngehalte und Erfahrungsweisen änderten sich. Die vorliegende Studie untersucht die Auswirkungen dieser Prozesse auf die römische Oberschicht in Gallien. Dabei sind die Grenzen des Untersuchungszeitraums fließend. Es wird eine Entwicklung nachgezeichnet, deren Beginn nicht etwa erst 476 mit der erzwungenen Abdankung des letzten weströmischen Kaisers angesetzt werden kann, noch deren Ende mit der Etablierung der merowingischen Dynastie in Gallien. Die beiden zu Anfang zitierten Aussagen Sidonius’ und Gregors bilden also nur einen losen Rahmen, den es zu füllen gilt, ohne dass dieser dabei als statische Grenze zu begreifen ist. Mit den beiden Quellenzitaten stellt sich dennoch die Frage, was aus den Bewahrern jener Kultur und Bildung – die Sidonius noch als Rettung heraufbeschwor – geworden ist? Welchen Mentalitätswandel machten sie in der Phase der Neuordnung Galliens zwischen dem Ende der politischen und kulturellen Einheit des weströmischen Imperiums und der Bildung der Reiche der Visigoten, Burgunder und Franken in weitgehender Unabhängigkeit von Rom durch? Auf welche Weise waren die Mitglieder der Oberschicht also in ihren sozialen

4 Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), V, 354–363, S. 196: ex quo Theudosius communia iura fugato / reddidit auctoris fratri, cui guttura fregit / post in se vertenda manus, mea Gallia rerum / ignoratur adhuc dominis ignaraque servit. / ex illo multum periit, quia principe clauso, / quisquis erat, miseri diversis partibus orbis / vastari sollemne fuit. quae vita placeret, / cum rector moderandus erat? contempta tot annos / nobilitas iacuit: pretium res publica forti / rettulit invidiam. 5 Bei Koselleck/Dipper 1998, S. 195 wird der Begriff synonym zur „Sattelzeit“ verwendet. Vgl. dazu Koselleck 1972a, S. XV, der die „Sattelzeit“ für die Beschreibung des Zeitraums zwischen 1750 bis 1850 einführt, den er vor allem als durch den „Bedeutungswandel im Bereich der politisch-sozialen Terminologie“ (Koselleck 1972a, S. XV) geprägt begreift. Letztlich sei diese Prägung aber „für alle Epochenschwellen registrierbar“ (Koselleck 1972a, S. XV). Vgl. außerdem Koselleck 1972b, S. 13–15. Für die hier behandelte Phase scheint das Bild der „Schwelle“ zutreffender, wird dadurch doch besser ihr Charakter als Periode des Übergangs und des ‚Dazwischen‘ ausgedrückt (vgl. zuletzt auch allgemein mit der Präzedenz für „Schwellenzeit“ Fulda 2016, S. 3).

1 Einleitung

3

und kulturellen Kontext eingebunden, wie veränderten sich dieser Kontext und die Qualität des Eingebundenseins? Welche Werte fielen weg, wurden transformiert oder hybridisiert? Wie beschrieb sich diese Gruppe selbst und welchen Einfluss hatten diese Beschreibungen auf ihr Denken und Handeln? Inwiefern verstanden sie sich im Angesicht der Veränderungen ihrer Lebenswirklichkeit tatsächlich noch als ‚römisch‘? Beim Versuch der Beantwortung dieser Fragen muss freilich präsent bleiben, dass die Oberschicht in ihrer Gesamtheit und vollständigen gesellschaftlichen Komposition für die rückblickende Historikerin und den rückblickenden Historiker nicht zu erschließen sein wird. Eine prosopographische Herangehensweise liefert nur ein unsicheres Bild der tatsächlichen Verhältnisse, zu lückenhaft sind zumeist die überlieferten Informationen über historische Personen, um eine sichere Zuordnung zuzulassen. An die Erstellung aussagekräftiger Bevölkerungsstatistiken ist wegen des Mangels an Quellen ohnehin nicht zu denken. Letztlich kann die exakte Rekonstruktion der ‚Realität‘ der römischen Oberschicht in Gallien aber auch gar nicht Ziel einer modernen geschichtswissenschaftlichen Untersuchung sein. Was den heutigen Historikerinnen und Historikern als Quellenbasis bleibt, sind die Beschreibungen und Zuschreibungen der auf uns gekommenen Quellen: Ausschnitte aus der literarischen Hinterlassenschaft der römischen Oberschicht in Gallien, letztlich also Kommunikationsakte6 und damit keine ‚Fakten‘, sondern verarbeitete und wiedergegebene Wahrnehmung.7 Doch letztlich sind es gerade solche Wahrnehmungen, die in der Gruppe geteilten Vorstellungen und die gemeinsamen Werte, die hinter ihnen stehen, die das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien ausmachen. Damit bilden die Quellen einen Teil des Identitätsdiskurses dieser Gruppe ab und wirkten im gleichen Zuge aktiv auf ihn ein. Eine Analyse dieses Diskurses muss es also erlauben, dieses Selbstverständnis bis zu einem gewissen Grad zu erschließen. Die vorliegende Studie wird sich aber nicht auf eine klassische Diskursanalyse beschränken.8 Dies würde doch bedeuten, bei einer textimmanenten Untersuchung der Quellensprache stehen zu bleiben. Stattdessen sollen die Instrumentarien der Diskursanalyse durch ein quellenkritisches Vorgehen und die Untersuchung der historischen (Entstehungs-)Kontexte der spätantik-frühmittelalterlichen Texte ergänzt werden. Auch wenn nicht eindeutig zu klären ist, an welches Publikum genau sich etwa die Briefe des Sidonius, Ruricius und Avitus, die Geschichtswerke Marius’ von Avenches, Gregors oder die Dichtung eines Venantius Fortunatus richteten oder welche Formen von Öffentlichkeit ihre Schriften erreichten, so bedienten sich die Schreiber

6 Vgl. Pohl 2013b, S. 49–51. 7 Vgl. etwa prominent bei Patzold 2008, S. 37–39. 8 Hierzu und zum Folgenden ausführlich siehe 1.3 Methodik und Weg unten.

4

1 Einleitung

dennoch bewusst und unbewusst aus dem Sammelbecken des kulturellen, sozialen und politischen Wissens über die eigene Gruppe, das sie mit ihren Standesgenossinnen und Standesgenossen teilten. Wie gesagt wirkt der Diskurs über die römische Oberschicht, der sich in den Quellen greifen lässt, gleichzeitig wiederum selbst performativ auf seinen eigenen Entstehungshintergrund – der im Folgenden ‚historischer Diskursraum‘ genannt sei – zurück.9 Das Konzept des historischen Diskursraums soll dabei genauer den Bereich der Vorstellungen und Wahrnehmungsmuster der Schreiber, die sie mit ihren Standesgenossinnen und Standesgenossen teilten, des Abbildungs- und Wirkungscharakters der Texte in Bezug auf das Selbstverständnis der Oberschicht und der historischen Kontexte bezeichnen, in die die Quellen eingebettet sind und zu denen etwa auch ihre Entstehungsumstände zählen. Damit ist dies jener durch die überlieferten Kommunikationsakte der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu erschließende ‚Raum‘,10 über den sich das Phänomen ‚römische Oberschicht‘ durch die heutige Geschichtswissenschaft überhaupt nur greifen lässt. Insofern ist der performative Charakter der Quellen eine Grundlage der vorliegenden Arbeit, unter der „konstruktivistische[n] Prämisse, dass die soziale Realität von den Akteuren stets aufs Neue

9 Auch wenn sich das zeitgenössische Publikum der Quellen und der Grad der Akzeptanz ihrer Inhalte heute nicht mehr eindeutig feststellen lassen, so ist mit dem Begriff ‚Diskurs‘ bereits mehr angedeutet als eine bloße Geltung des Geschriebenen, die sich in der Beziehung zwischen Buchstabe und Papier erschöpft. Tatsächlich lassen sich über dieses Verhältnis hinaus durch die Analyse eines Diskurses performative Potentiale und Auswirkungen auf Wahrnehmung und Lebenswirklichkeit der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen erschließen. 10 Beim ‚historischen Diskursraum‘ handelt es sich also um einen virtuellen Resonanzraum des Sagbaren, der zugleich auf andere gesellschaftliche und politische Räume, Bereiche, Agenden usw. zurückwirkt. Nahe kommt diesem Verständnis Michel Foucaults Begriff der Heterotopie. Zur Illustration seines Konzepts benutzt er als Beispiel den Spiegel, was insofern schon im allgemeinen metaphorischen Sprachgebrauch der Geschichtswissenschaft seine Entsprechung findet, als dass oft (zumeist verkürzend und bewusst bildhaft) davon gesprochen wird, ein gewisses Phänomen ‚spiegele‘ sich in den Quellen wider. Heterotopien sind ‚Räume‘, „in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, beschritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (dieses und die folgenden Zitate aus Foucault 2002, S. 39). Ein Spiegel zeige nun einen solchen „unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut.“ Die semantischen Analogien zwischen Foucaults Text und der Untersuchung des ‚Selbstverständnisses‘ der römischen Oberschicht im Speziellen ließen sich noch weiter auf die Spitze treiben (wo sie dann aber auch zumindest im Konkreten vorläufig aufzuhören scheinen), denn Foucault betrachtet in seinem Beispiel natürlich sich ‚selbst‘ im Spiegel: „Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.“

1.1 Begriffe

5

geschaffen wird, und zwar durch performative Kommunikationsakte, also Handlungen, die selbst bewirken, was sie sprachlich bezeichnen oder symbolisch darstellen.“11 Die möglichst präzise Beschreibung des historischen Diskursraums und der durch ihn gegenwärtig gemachten römischen Oberschicht in Gallien ist dabei Ziel der vorliegenden Arbeit. Die kritische und kontextualisierende Lektüre der Quellen schließt dabei gleichsam die Tür zu jenem Raum auf. Zudem setzt sich die vorliegende Untersuchung durch das Konzept des historischen Diskursraums von der bisher weitgehend prosopographisch geprägten und im Untersuchungszeitraum selten ausschließlich auf Gallien konzentrierten Forschung zur römischen Oberschicht ab und betont gleichzeitig den Mehrertrag gegenüber einer klassischen Diskursanalyse.12 Die Studie wird so aufzeigen, dass – entgegen der weitgehend etablierten Forschungsmeinung – die römische Oberschicht keineswegs eine rückwärtsgewandte, konservative und dem kulturellen und politischen Ideal des Imperium Romanum nachtrauernde Gruppe von Patrioten war, die selbst noch zum Anfang des 7. Jahrhunderts in Gestalt eines Desiderius von Cahors die Konservierung und Tradierung alt-römischer aristokratischer Werte betrieb.13 Stattdessen wird sich zeigen, dass man schon mit Sidonius Apollinaris, wenn auch nicht gerade progressiv, aber zumindest pragmatisch nach Mitteln und Wegen suchte, sich mit dem status quo, der als irreversibel erkannten Fragmentierung der politischen Romanitas, auf das Bestmögliche zu arrangieren.14 Dabei wurden keine patriotischen Energien mehr zum Erhalt des vergangenen Imperiums aufgewandt, sondern es wurde allenfalls noch als Chiffre kultureller Werte betrachtet, die aber von ihrem politisch-ethnischen Identifikationspotential im Sinne eines gemeinsamen Ursprungs mehr und mehr entkleidet erschien.15 Wie relevant eine Abgrenzung nach ethnischen Gesichtspunkten für die historischen Akteurinnen und Akteure tatsächlich (noch) war, gilt es anhand der konkreten sozialen und kulturellen Kommunikations- und Interaktionspraxis in Form von Selbstzeugnissen nachzuvollziehen, in denen solche Differenzierungen ausgedrückt, konstituiert oder bekräftigt werden.

1.1 Begriffe Auch weil einheitliche normative Konzepte und Termini in den Quellen fehlen, wird in der Forschung zur Benennung der sozial, kulturell und politisch führenden Gruppe

11 Stollberg-Rilinger 2004, S. 495. 12 Zur Forschung siehe 1.2 Forschungsstand unten. 13 Vgl. stellvertretend und mit unterschiedlichen Nuancen aber stets ähnlichem Tenor u. a. Stroheker 1948, S. 3f., 134–136; Brennan 1985a; Barnish 1988, S. 134–138; Mathisen 1993, S. 15f., 145; Haverkamp/Prinz 2004, S. 475f.; Mathisen 2013. 14 Vgl. in diese Richtung ebenfalls bereits vorsichtig van Waarden 2010, S. 15f. 15 Vgl. zusammenfassend ohne genaueren Nachvollzug dieses Prozesses Brown 2000, S. 334f. Außerdem Drinkwater 2013.

6

1 Einleitung

Galliens eine Reihe von Begriffen parallel verwendet, ohne dass dabei ihr Bedeutungsgehalt immer klar bestimmt wird. Es fallen Bezeichnungen – teilweise auch mehrfach synonym verwendet – wie Adel, (Reichs-)Aristokratie, Elite, Oberschicht, Senatoren, Senatorenstand und ihre fremdsprachigen Äquivalente.16 Zuletzt wird auch der Plural benutzt, um auf die Dynamiken, Uneinheitlichkeiten und Fraktionierungen innerhalb der Gruppe aufmerksam zu machen.17 Letztlich stellen alle diese Begriffe eine für die geschichtswissenschaftliche Arbeit notwendige Verkürzung zur Beschreibung des gesellschaftlichen Gefüges dar.18 Auch wenn alle Bezeichnungen spezifische Vor- und Nachteile haben, sind sie also in gewisser Weise austauschbar. Wichtiger ist ihr Gehalt, den es im historischen Diskursraum zu greifen und auf möglichst präzise Art und Weise darzustellen gilt. Letztlich ist jegliche gesellschaftliche Gruppe ohnehin das Produkt der Wahrnehmung und Zuschreibung der Quellenverfasser, damit in letzter Instanz ein Konstrukt der interpretierenden Historikerin und des interpretierenden Historikers, und materialisiert sich gleichsam erst in der aktualisierenden Quellenlektüre und -deutung im Hier und Jetzt. Wenn man sich dieses Konstruktionscharakters geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis bei der Begriffswahl bewusst ist, erscheint es zunächst lediglich geboten zu betonen, dass mit der Wahl der Bezeichnung des Untersuchungsgegenstands – im vorliegenden Fall wird zumeist von ‚Oberschicht‘ die Rede sein – keine Vorfestlegung verbunden sein soll, um der Gefahr eines Zirkelschlusses zu entgehen. Die Entscheidung für ‚Oberschicht‘ ist auch deswegen sinnvoll, da die Quellen gleichfalls keine konsistente Terminologie zur Verfügung stellen. Auch wenn die Kontakte zwischen römischem Senat und Gallien in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nur noch spärlich waren,19 fanden sich in der Provinz dennoch zahlreiche Mitglieder der Oberschicht, die als clarissimi, spectabiles und illustres gemäß den senatorischen Rangstufen bezeichnet wurden.20 Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der senatorische Status des Vaters an seine Nachkommen vererbt wurde und die niedrigeren beiden Ränge der viri clarissimi und viri spectabiles durch eine Reihe administrativer Ämter auch auf Ebene der civitas oder ehrenhalber erreicht werden konnten.21 Für die

16 Siehe 1.2 Forschungsstand unten. Vgl. außerdem aus althistorischer Sicht Schlinkert 1996, S. 16–34. Dazu immer wieder die Abwägung, Problematisierung und Dekonstruktion einzelner Begriffe in der Forschung vgl. jüngst etwa z. B. Patzold 2011; van Wees/Fisher 2015. 17 Vgl. etwa Matthews 1975; Jones 2009. 18 Es handelt sich dabei also lediglich um Annäherungen an die historische Wirklichkeit des spätantik-frühmittelalterlichen Gallien, ähnlich eines Idealtypus im Sinne Max Webers. In der Untersuchung der Differenz zwischen spezifischer Ausprägung und Idealtypus vollzieht sich der geschichtswissenschaftliche Erkenntnisprozess im Hinblick auf das ‚reale‘ Phänomen (vgl. Weber 1904, S. 65). Dabei kann dieser Prozess mit Weber auch auf diachroner Ebene wie im vorliegenden Fall vonstattengehen (vgl. Weber 1904, S. 76 f.). 19 Vgl. Mathisen 1992; Mathisen 1993, S. 17–26. Zum cursus honorum in der Spätantike vgl. zusammenfassend Heather 1998. 20 Vgl. Isidor, Etym. (Lindsay 1911), IX, 4, 12; außerdem Mathisen 2001a. 21 Vgl. Barnish 1988, S. 121; Mathisen 1993, S. 10f.; Heinzelmann 2002, S. 20–24.

1.1 Begriffe

7

vorliegende Untersuchung ist jedoch zu beachten, dass der Bedeutungsgehalt von senator für Sidonius Apollinaris durchaus ein anderer war als etwa für Gregor von Tours.22 Somit scheint auch der Begriff der (senatorischen) Aristokratie oder des Adels, wie er etwa durch Karl Friedrich Stroheker geprägt wurde,23 mindestens im diachronen Blick a priori Kontinuitäten zu suggerieren, was der für diese Arbeit angestrebten terminologischen Neutralität entgegensteht. Hinzu tritt die Tatsache, dass bei vielen Personen eine senatorische Abkunft ohnehin nur vermutet oder indirekt erschlossen werden kann. Außerdem sollen in die Untersuchung auch die Beschreibungen solcher Akteurinnen und Akteure eingeschlossen werden, die aufgrund ihrer Bildung, geistlicher und/oder weltlicher Ämter an den Königshöfen der Visigoten, Burgunder und Franken und nicht nur aufgrund ihrer Abkunft zur römischen Oberschicht Galliens zu zählen wären.24 Da es der Arbeit ohnehin in erster Linie um die Erschließung des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien bestellt ist und weniger um die Erstellung eines personalen Tableaus, verliert die Dichotomie von ‚senatorisch‘/‚nicht-senatorisch‘ noch zusätzlich an Relevanz. Die Kriterien für die Zugehörigkeit zur obersten römischen Gesellschaftsschicht waren in der Untersuchungszeit im Fluss; unterschiedliche Eigenschaften konnten zur Mitgliedschaft in der Oberschicht qualifizieren. Die Begriffe der Quellen zur Bezeichnung der Eliten sind denn auch entsprechend vielfältig: boni, maiores, nobiles, optimi, potentes, primores, proceres, senatores etc. Inwiefern diese als Synonyme zu betrachten sind und tatsächlich auf die römische Oberschicht verweisen, ist im Einzelfall zu prüfen.25 Gerade diese Notwendigkeit zur Kontextualisierung fügt sich nahtlos in das Konzept des historischen Diskursraums der vorliegenden Arbeit ein. Wenn im Folgenden daher vor allem auf den Begriff ‚Oberschicht‘26 zurückgegriffen wird, so geschieht dies, da dieser Terminus hinreichend

22 Für einen eher geringen Bedeutungswandel plädiert noch Stroheker 1942. Anders dagegen einhellig die neuere Forschung: Gilliard 1979; Brennan 1985a; Barnish 1988, S. 137f.; Amory 1994b, S. 7; Patzold 2010, S. 125f. 23 Vgl. Stroheker 1948 und später etwa auch bei Näf 1995. 24 Die ansonsten scharfe Trennung von senatorischer Oberschicht und „Militäradel“ ist für Gallien ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nicht zu konstatieren, in Untersuchungsgebiet und -zeitraum gehen beide Gruppen ineinander über (vgl. Demandt 1980; zur Situation in Gallien: Demandt 1980, S. 624; Schwarcz 1995), weswegen es kaum sinnvoll wäre, lediglich von einer „senatorischen“ Oberschicht zu sprechen. 25 Vgl. Mathisen 1993, S. 9 f.; Salzman 2001, S. 360. Vgl. außerdem erneut die ausführliche Forschungsdiskussion bei Schlinkert 1996, S. 16–41. Ähnliches gilt im Übrigen auch für die Verwendung des Quellenterminus nobilitas im Untersuchungszeitraum, vgl. hier zum christlichen Einfluss auf das Verständnis und den Bedeutungswandel des Begriffs im 4. und 5. Jahrhundert Salzman 2000; Salzman 2001; Salzman 2002, S. 22, 213–218. 26 Zwar handelt es sich bei der ‚Oberschicht‘ um einen vergleichsweise modernen Begriff, zum Zweck der vorliegenden Arbeit soll jedoch eine einseitige ökonomische Interpretation des Begriffs vermieden werden. Vgl. auch die Überlegungen zur Verwendung des Terminus bei T. Schmitz 1997, S. 30 f.

8

1 Einleitung

neutral und unbelastet erscheint und dabei einen gewissen dynamischen (vielleicht sogar amorphen) Charakter einfängt.27 Ein differenziertes Bild der gallo-römischen Oberschicht und ihrer diachronen Entwicklung in der Untersuchungszeit ergibt sich aus der möglichst genauen Beschreibung der aus dem historischen Diskursraum zu rekonstruierenden (Gruppen-) Identität oder besser aus dem zu rekonstruierenden Selbstverständnis der Mitglieder als Teil der gesellschaftlichen Gruppe. Walter Pohl definiert „soziale Identität“ als das, was eine Gruppe für ihre Mitglieder zur Realität macht. Identität benennt den inneren Zusammenhalt von Gemeinschaften und ihre Abgrenzung nach außen [. . .]. Identität umschreibt einen sozialen Raum, in dem Bedeutungen materielle Kraft gewinnen und die Macht der Diskurse sich zu bewähren hat. Und sie verkörpert eine Kontinuität über die Zeit hinweg, indem sie die Einheit der Person über alle Wandlungen und Brüche hinweg, und ebenso die longue durée der Gemeinschaft weit über den Lebenshorizont ihrer Mitglieder hinaus definiert. Sie ist aber zugleich selbst wandelbar, von Krisen bedroht, ja nie vollständig erreichbar.28

Diese „soziale Identität“ war allerdings nicht Gegenstand des Wittgenstein-Projekts zu „Ethnischen Identitäten im Europa des Frühmittelalters“ (2005–2010), sondern – wie der Titel schon ankündigt – die „ethnische Identität“.29 Dabei ist ‚Identität‘ zunächst ebenfalls als ein Konstrukt der interpretierenden Wissenschaftlerin und des interpretierenden Wissenschaftlers zu verstehen, ein Schema, nach dem die Quellen

27 Trotz aller Konjunktur des Elitenbegriffs in der jüngeren mediävistischen Forschung (vgl. etwa Matthews 2000b; Feller 2006; Wickham 2011) wird im Folgenden von einer ausschließlichen und differenzierten Verwendung desselben abgesehen. Die Benutzung des Begriffs impliziert die moderne Differenzierung der Elite in politische Elite, Militärelite, Wirtschaftselite, Religionselite etc. Ein heuristischer Vorteil scheint sich durch diese Klassifizierung für die Erforschung von Spätantike und Frühmittelalter jedoch nicht zu ergeben, denn: „Mit den modernen Begriffen (Werte, Leistung, Geburt, Funktion) erfassen wir [. . .] durchaus wesentliche Kennzeichen auch frühmittelalterlicher Eliten, grenzen damit aber weniger verschiedene Eliten voneinander ab, sondern charakterisieren vielmehr Elitenstatus an sich, und zwar weit eher in Kumulation als in hierarchischer Stufung solcher Kriterien“ (Goetz 2011, S. 111). Vgl. dazu auch ähnlich vorsichtig Patzold 2011, S. 145 f. 28 Pohl 2004, S. 24. 29 Dies belegen die Einleitungen der entsprechenden Sammelbände, die zwar andere Spielarten von ‚Identität‘ durchaus benennen, allerdings immer wieder zu einer ethnischen Variante zurückkehren: Pohl 2012a; Pohl 2012b; Pohl 2013a; Pohl 2013b. Im Anschluss an die sog. Wiener Schule (siehe auch Anm. 89 unten) definiert Pohl „ethnisch“ dabei dann auch recht umfassend als „relational mode of social organization among a number of distinctive groups, which are perceived as being constituted by an ingrained common nature“ (Pohl 2013b, S. 2), vor allem um ein Verständnis auszuklammern, das um faktische biologische Abstammungsgemeinschaften kreist. Das Erkenntnisinteresse bleibt – auf die Ebene der Wahrnehmung und Imagination verschoben – zumindest metaphorisch auf eine „ingrained nature“ fokussiert. Die rezente Forschungsdiskussion mit Gegenpositionen fasste jüngst – bekennend in Wiener Tradition stehend – Buchberger 2017, S. 15–22 zusammen. Freilich könnte man sich damit auch die Frage stellen, ob das Forschungsmodell der „Identität“ methodisch noch weiter trägt, wenn es durch den Plural letztlich dekonstruiert wird (vgl. zuletzt Buchberger 2017, S. 22–24), oder ob man es dann nicht besser ganz meiden sollte.

1.1 Begriffe

9

befragt werden können,30 das nicht in erster Linie auf zeitgenössischen, sondern vielmehr auf modernen Vorstellungen fußt. Für die vorliegende Untersuchung erscheint es zudem wichtig zu betonen, dass sich das Erkenntnisinteresse nicht nur auf die ethnische Qualität, also die gefühlte oder zugeschriebene ethnische Zugehörigkeit, sondern auch auf viele weitere gesellschaftliche Aspekte richtet, die das elitäre Selbstverständnis der Mitglieder der römischen Oberschicht charakterisieren. In diesem Zusammenhang erscheint der Begriff ‚Selbstverständnis‘31 etwas unbelasteter als ‚Identität‘, die mittlerweile unweigerlich den Annex ‚ethnisch‘ (und dann zumal mit biologistischem Zungenschlag)32 mitdenken lässt.33 Was einer Umschreibung für Selbstverständnis (und vielleicht auch für Identität) in den Augen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wohl am nächsten kam, wäre der Terminus Romanitas.34 Es will scheinen, dass Romanitas in erster Linie ein kulturelles Konzept darstellte, das vor allem gegenüber den im weströmischen Reich zunehmend an Einfluss gewinnenden ‚Barbaren‘ ins Feld geführt wurde. Dabei wurde es aufgrund ihres Zugriffs auf kulturelle Ressourcen vor allem durch die römische Oberschicht propagiert und definierte sich etwa durch die Beherrschung der klassischen lateinischen Sprache und Bildung, ein Leben nach dem römischen Recht, die Identifikation mit dem Imperium und zunehmend auch durch eine christliche Lebensweise.35 Allerdings

30 Vgl. etwa zuletzt Pohl 2013b, S. 1f. 31 Dabei steht der Begriff in semantischer Nähe zu ‚Selbstbewusstsein‘ (vgl. Näf 1995, S. 4) und auch ‚Mentalität‘ (vgl. Salzman 2000, S. 349–354). Der fundierten Kritik an den epistemologischen Grenzen und der (unreflektierten) Verwendung von „Selbstverständnis“ im Kontext geschichtswissenschaftlicher Forschung (vgl. Borgolte 1997, bes. S. 204 f.) wird durch die methodische Engführung mit dem Konzept des ‚historischen Diskursraums‘ (siehe dazu 1 Einleitung mit Anm. 9 u. 10 oben sowie 1.3 Methodik und Weg unten) Rechnung getragen. 32 Vgl. zu dieser Problematik Pohl 2013b; jüngst außerdem mit einer scharfsinnigen Dekonstruktion des Komplexes Halsall 2018, S. 43–45. 33 Dazu verdeutlicht ‚Selbstverständnis‘ auch nochmals die Perspektive der vorliegenden Untersuchung, die vor allem auf die Wahrnehmungen und Vorstellungen der römischen Oberschicht gerichtet ist. Fragen nach der ‚Identität‘ werden zudem vergleichsweise selten auf Römer bezogen, sondern eben vor allem im Kontext der Entwicklung der gentes gestellt, was eine ethnische Konnotation gleichsam a priori zur Voraussetzung macht. Letztlich wird dabei die Ethnogenese als teleologischer Prozess betrachtet, wohingegen das antik-‚römische‘ Wesen auf lange Sicht dissoziierte. Durch das Determinans des Kompositums werden zudem – durchaus bewusst – der Blick (auf Selbstbilder und -inszenierungen), der (zeitgenössische) Konstruktionscharakter und damit auch ein Stück weit ein aktives und gestalterisches Moment betont. 34 Vgl. Giardina 1997; Woolf 1998; Revell 2008; Revell 2015; jetzt auch Pohl/Gantner/Grifoni/Pollheimer-Mohaupt (Hrsg.) 2018. 35 Vgl. dazu etwa Sivan 1983, S. 124–131; Harries 2000, bes. S. 45–47.

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1 Einleitung

schwankt auch Romanitas in der Bedeutungs- und Verwendungsweise im Untersuchungszeitraum.36 Diesem Konzept mit Hilfe der Untersuchung des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien auf den Grund zu gehen, wird eine der Aufgaben der vorliegenden Arbeit sein.

1.2 Forschungsstand Die Anzahl der Studien zur Schwellenzeit des ausgehenden 5. Jahrhunderts ist kaum noch überschaubar.37 Viele Untersuchungen befassen sich dabei mit der politischen Geschichte, der Ablösung des weströmischen Imperiums durch die Errichtung ‚barbarischer‘ regna auf seinem Territorium und mit den ihr zugrunde liegenden Prozessen und greifen damit letztlich verfassungsgeschichtlich motivierte Fragestellungen auf. Diese Tendenz der Forschung – ausgehend vom Befund eines grundlegenden politischen Wandels oder der gegenteiligen Annahme von weitgehender Kontinuität – strahlt auf nahezu alle Studien aus, die sich nominell anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft widmen, wie etwa der Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Geistes-, Kirchen-, und Landesgeschichte, und bildet auch hier Anlass und Hintergrund des Erkenntnisinteresses.38 Das ältere Bild der Forschung im Hinblick auf den Untergang des weströmischen Imperiums hat sich durch das von der European Science Foundation von 1993 bis 1998 geförderte internationale Projekt „Transformation of the Roman World“ (TRW)39 grundlegend gewandelt.40 Wurde diese Zeit spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnend mit der einflussreichen Studie Edward Gibbons „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“41 zunächst mehrheitlich als eine Phase des Niedergangs, der Krise und Katastrophe auf nahezu allen Ebenen der Gesellschaft gedeutet,42 ist dieses Urteil im 20. Jahrhundert

36 Vgl. etwa Heather 1999; Heather 2005, S. 432–443; Chazelle 2007; Mitthof 2012; Pohl 2013b; von Rummel 2013a; Pohl 2014; Dewar 2014; Fischer 2014; Conant 2015; Halsall 2018; Mathisen 2018; Pohl 2018a. 37 Bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren für eine Zusammenfassung der Forschungsgeschichte und -tendenzen eine eigenständige Monographie und über 600 Seiten nötig. Vgl. Demandt 2014. 38 Vgl. Diefenbach/Müller 2013, S. 3f. 39 Als besonders relevant für die vorliegende Untersuchung können gelten: Pohl (Hrsg.) 1997; Pohl/Reimitz (Hrsg.) 1998; Pohl/Wood/Reimitz (Hrsg.) 2001; Corradini/Diesenberger/Reimitz (Hrsg.) 2003; Goetz/Jarnut/Pohl (Hrsg.) 2003. 40 Halsall 2007, S. 21: „It is fair to say that the ‚transformation‘ approach represents the currently dominant scholarly paradigm for work on this period.“ 41 Gibbon 1776–1788. 42 Vgl. aber auch Vertreter der Kontinuitätsthese aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Dopsch 1923; Dopsch 1924; Pirenne 1937; Jones 1964; Brown 1971; Goffart 1980.

1.2 Forschungsstand

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vor allem im Zuge eines wachsenden sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Erkenntnisinteresses relativiert worden. Der Frage nach Kontinuität oder Bruch wurde der Begriff der „Transformation“43 – vor allem schließlich durch TRW populär gemacht – entgegengesetzt, der keine der beiden Optionen ausschließt. Jedoch erwiesen sich die Vielzahl der anvisierten Untersuchungsgegenstände, -methoden, die betrachteten geographischen Räume und regionalen Traditionen als zu heterogen, um ein in sich konsistentes und allgemeingültiges Gesamtergebnis des langjährigen TRW-Projektes zu liefern.44 Im Zuge des Ausklangs des Forschungsverbunds mehrten sich zuletzt erneut Stimmen, die den katastrophischen Charakter der Entwicklungen betonten, wie bereits die sprechenden Titel der Monographien (beide aus dem Jahr 2005) von Brian WardPerkins, „The Fall of Rome and the End of Civilization“, und von Peter Heather, „The Fall of the Roman Empire“, deutlich machen.45 Auch im Hinblick auf wirtschaftsgeschichtliche Aspekte sprach Chris Wickham jüngst – wenn auch von Region zu Region qualitativ zu unterscheiden sei – von „a major change“46 zwischen römischer Welt und den Nachfolgereichen. Immer wieder im Mittelpunkt stehen Periodisierungsfragen von Spätantike und Mittelalter, wie etwa auch ein Sammelband demonstriert, der aus der Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte im Jahr 2007 zum Thema „Von der Spätantike zum Frühmittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde“47 hervorgegangen ist. Daneben häufig thematisiert ist außerdem die Frage nach Verwaltungs- und Rechtssystemen und ihrer Dynamik zwischen römischen und gentilen Einflüssen in der Übergangszeit. Nach dem Zerfall des weströmischen Imperiums hätten sich die administrativen Organisationsformen im Rahmen der neuentstanden regna graduell gewandelt und regionalisiert, so die Quintessenz der weitestgehend einhelligen Forschungsmeinungen.48 Konzentrierte sich die zuvor angeführte Überblicksliteratur zum größten Teil auf die gesamte (west)römische Welt, so existieren auch Studien zu einzelnen Regionen. Als späterer Kernraum des Frankenreichs hat Gallien dabei besonderes Interesse gefunden. So widmete etwa Raymond van Dam dem spätantiken Gallien eine Monographie, die vor allem die Bewohner des Gebiets, ihre religiöse Lebenswelt und soziopolitische Strukturen in den Mittelpunkt stellt, welche besonders in Bezug auf die Oberschicht zunehmend lokaleren Charakter trügen.49 Viele der 43 Zurückgehend auf White (Hrsg.) 1966. 44 Vgl. etwa auch die leise substantielle Kritik am Transformationsbegriff bei Meier 2012, S. 8 f. 45 Ward-Perkins 2005; Heather 2005. 46 Wickham 2005, S. 831. 47 Kölzer/Schieffer (Hrsg.) 2009. 48 Vgl. u. a. Ewig 1976a; Barnwell 1992; Esders 1997; Murray 1998; Heather 2000; Mathisen (Hrsg.) 2001; Maier 2005; Lütkenhaus 2012; Dilcher/Distler (Hrsg.) 2006; Strothmann 2008; Esders 2009; Esders 2010; Esders 2014a; Boschung/Danner/Radtki (Hrsg.) 2015. 49 Vgl. van Dam 1985; Lewis 2000; Brown 2003; Heather 2005, S. 437–443; Stadermann 2017, S. 206–218. Außerdem auch schon Dill 1926.

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1 Einleitung

bereits genannten Werke befassen sich zudem in einzelnen Kapiteln oder Aufsätzen mit Gallien in der Spätantike und in merowingischer Zeit.50 Einen allgemeinen Überblick zu den Entwicklungen von Aristokratie und Eliten im römischen Imperium im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert liefert zudem John Matthews in „Western Aristocracies and Imperial Court. A.D. 364–425“.51 Außerdem existieren grundlegende Studien zum Senatsadel am kaiserlichen Hof im Vergleich normativer und narrativer Quellen,52 zu Kaisertum und Eliten in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts,53 zur Herrschaftsorganisation in den vandalischen, burgundischen, west- und ostgotischen Nachfolgereichen54 und zu Usurpationen in der Spätantike.55 Speziell mit der Entstehung des Adelsstandes aus den Wurzeln der Spätantike hat sich des Weiteren Karl Ferdinand Werner in „Naissance de la noblesse. L’essor des élites politiques en Europe“56 befasst und dabei römische Kontinuitäten (über)betont.57 Jüngst gingen zudem aus dem internationalen Forschungsprojekt „Les élites dans le haut Moyen Âge“ eine Reihe von Sammelbänden hervor, die die Konstituierung von Eliten im Frühmittelalter untersuchen.58 Für die Erforschung speziell der römischen Oberschicht in Gallien muss gleichwohl immer noch Karl Friedrich Strohekers „Der senatorische Adel im spätantiken Gallien“59 als maßgeblich gelten. Strohekers Studie basiert in erster Linie auf prosopographischen Untersuchungen. Dabei geht er seit dem 4. und 5. Jahrhundert von einer vergleichsweise geschlossenen Schicht römischer Aristokraten in Gallien aus, die als solche zunächst auch in den Reichen der Visigoten, Burgunder und Franken bis ins Frühmittelalter Bestand hatte.60 Allerdings muss er auch einräumen, dass sein prosopographischer Ansatz in vielen Fällen keineswegs eine sichere Zuordnung einzelner Personen zur römischen Oberschicht zulässt, dies hänge etwa mit dem diachronen Bedeutungswandel der Begriffe senator und nobilis, der Unterschiedlichkeit des Quellenmaterials und des teilweise großen zeitlichen Abstands zwischen Bericht und Berichtetem zusammen,61 was insgesamt die Aussagekraft personengeschichtlich orientierter Erkenntnisse bezweifeln lässt.

50 Vgl. außerdem u. a. Mathisen/Shanzer (Hrsg.) 2001; Geary 1988; Wood 1994b; Kaiser 2004a; Becher 2011; Ewig 2012; Hartmann 2012; Jussen 2014b; Le Jan 2015; Scholz 2015; Lemas 2016. 51 Matthews 1975. 52 Vgl. Schlinkert 1996. 53 Vgl. Henning 1999. 54 Vgl. Maier 2005; Zerjadtke 2019. 55 Vgl. Szidat 2010. 56 Werner 1998. 57 Vgl. mit einem Überblick zur Kritik zuletzt Hechberger 2005, S. 76–78. 58 Vgl. hier etwa Bougard/Feller/Le Jan (Hrsg.) 2006; Bougard/Goetz/Le Jan (Hrsg.) 2011. 59 Stroheker 1948. 60 Vgl. z. B. Stroheker 1948, S. 3. 61 Vgl. Stroheker 1948, S. 137f.

1.2 Forschungsstand

13

In der Folge hat sich besonders Ralph Mathisen intensiv mit der römischen Oberschicht in Gallien in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhundert befasst. Er untersucht ihre Entwicklung im Zuge des Wandels der römischen Welt in zahlreichen Beiträgen.62 So verfolgt er etwa die Karrieren einzelner Akteurinnen und Akteure und die Auswirkungen der Etablierung vor allem des Visigotenreichs auf die römische Oberschicht.63 Dabei stehen die Briefsammlungen des Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne als Quellen zu Personen und Ereignissen, die gleichzeitig den Zusammenhalt der Gruppe demonstrieren, häufig im Zentrum der Analysen.64 Daneben existiert außerdem eine Reihe von Einzelbeiträgen zu verschiedenen Aspekten der Lebenswirklichkeit der römischen Oberschicht in Gallien.65 Ähnlich wie zuvor schon Stroheker widmet sich auch der Althistoriker Beat Näf in einer jüngeren Untersuchung dezidiert dem senatorischen Adel. Im Zentrum seiner Analyse steht dabei das „senatorische[] Standesbewusstsein“ der Gruppe im 5. und 6. Jahrhundert.66 Da er in seiner Studie das gesamte weströmische Reich in den Blick nimmt, bilden die Entwicklungen in Gallien nur einen Teil seiner Monographie. Sidonius Apollinaris’ Schriften betrachtet er noch verhältnismäßig ausführlich, wenn auch lediglich ausschnitthaft. Sein Werk wird vor allem als Ausdruck der „Auswirkungen des Wertewandels auf Vertreter des senatorischen Adels“67 gedeutet, Entstehungskontext und Aufbau der Briefsammlung werden allerdings dabei nicht näher untersucht. Ruricius von Limoges, Avitus von Vienne, Gregor von Tours und Venantius Fortunatus werden dann nur noch relativ knapp abgehandelt. Aus dem Blickwinkel der „Nicht-Eliten“ hat sich außerdem zuletzt Allen E. Jones auch mit den höheren Bevölkerungsschichten Galliens befasst und betont besonders die Dynamik der spätantiken Gesellschaft,68 was bereits darauf hindeutet, wie wenig verlässlich ‚harte‘ Kriterien wie etwa senatorische Würden für die Mitgliedschaft in der römischen Oberschicht sind. Wiederum dezidiert der senatorischen Aristokratie widmet sich Michèle Renée Salzman in mehreren Beiträgen. Sie blickt dabei jedoch vor allem auf den Prozess der Christianisierung der römischen Oberschicht im Westen im 4. und 5. Jahrhundert und umgekehrt auf den rückwirkenden Einfluss der Oberschicht auf die Entwicklung des Christentums.69

62 Vgl. daneben auch Barnish 1988. 63 Zu Letzterem vgl. auch Sivan 1983; Nixon 1992; Heather 1992, S. 84–94; Teitler 1992; Harries 1996. 64 Vgl. u. a. Mathisen 1979a; Mathisen 1979b; Mathisen 1981; Mathisen 1991a; Mathisen 1991b; Mathisen 1991d; Mathisen/Sivan 1999; Mathisen 2001b; außerdem zusammenfassend Mathisen 1993. 65 Vgl. u. a. Gassmann 1977; Demandt 1980; Heinzelmann 1992; Wes 1992; Baumgart 1995; Schwarcz 1995; Bartlett 2001; Styka 2011. 66 Näf 1995. 67 Näf 1995, S. 132 (Kapitelüberschrift). 68 Vgl. Jones 2009, S. 33f. 69 Vgl. Salzman 2000; Salzman 2001; Salzman 2002.

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1 Einleitung

Auch für die bisherige Forschung zur römischen Oberschicht im Frankenreich des 6. Jahrhunderts steht mittelbar das Christentum im Zentrum des Interesses. Man konzentrierte sich vor allem auf den gallischen Episkopat, der ab dem 5. Jahrhundert und vor allem in späterer Zeit zu einem Hauptbetätigungsfeld der römischen Elite geworden sei.70 Als Folge dessen richtete sich das Interesse an der römischen Aristokratie zuletzt auch auf die Veränderungen und Dynamiken von gesellschaftlichen Denkformen und Deutungsmustern in Bezug auf die geistliche Sphäre.71 Jüngst wies Steffen Patzold jedoch nach, dass sich die Vermutung einer Monopolisierung des Bischofsamtes durch die römische Aristokratie im Frankenreich statistisch nicht belegen lasse, wenn nicht sogar vollständig zu revidieren sei.72 Weitgehender Konsens herrscht in der Forschung, welche Eigenschaften und Qualitäten das Selbstverständnis der Mitglieder der römischen Oberschicht in Gallien auszeichneten. Es werden vor allem eine edle Geburt, klassische Bildung,73 Freundschaftskontakte74 und die Akzeptanz der Standesgenossinnen und Standesgenossen, Landbesitz und Reichtum, die Erfüllung eines prestigeträchtigen Amtes und eine aristokratische Lebens- und Verhaltensweise (die zunehmend durch die Werte des Christentums geprägt waren) genannt.75 Eine Reihe von Studien existieren außerdem zum Nachleben des Senatorenstandes im Frankenreich,76 zum Fortleben alter römischer Familien77 und der römischen Aristokratie in einzelnen Regionen.78 Außerdem spielen – freilich eher am Rande – Mitglieder der römischen Oberschicht immer dann eine Rolle, wenn es um die Frage nach der Existenz und Verfasstheit des ‚fränkischen Adels‘ geht.79 Jüngst wurden zudem zwei Studien vorgelegt, die den Blick u. a. auf allgemeine ethnische Diskurse (ohne expliziten Fokus auf die Oberschicht) im Gallien des 6. und 7. Jahrhunderts richten. Helmut Reimitz konstatiert, Gregor von Tours habe ethnische Identifizierungen bewusst vermieden, um sein Ideal einer christlichen 70 Vgl. u. a. Prinz 1974; Heinzelmann 1976; Mathisen 1979b; Heinzelmann 1988. 71 Vgl. Jussen 1995; Jussen 1997; Jussen 1998. 72 Daher auch die jüngste Kritik an der älteren Forschungsmeinung durch Patzold 2010; Patzold 2014a; Patzold 2014b; Walter/Patzold 2014. 73 Vgl. hierzu auch speziell neben zahlreichen Hinweisen in bereits aufgeführten oder im Folgenden genannten Publikationen Gemeinhardt 2007; Gerth 2013. 74 Auch die amicitia wird in zahlreichen der hier genannten Studien thematisiert. Vgl. hierzu grundlegend Epp 1999; Wood 2000. 75 Vgl. etwa zusammenfassend Mathisen 1993, S. 10–16; Näf 1995, S. 8–11; Rebenich 2008, S. 154. 76 Vgl. Stroheker 1942; Gilliard 1979; Brennan 1985a. 77 Vgl. Werner 1965; Werner 1998; Wood 2000. 78 Vgl. Geary 1985; Wood 2009. 79 Während etwa Grahn-Hoek 1976 vor allem mit verfassungsgeschichtlich begründeten Argumenten die Existenz eines fränkischen Adels anzweifelte, plädierte Irsigler 1969 hingegen aus sozialhistorischer Perspektive für sein Bestehen. Zur Kontroverse vgl. auch Schreiner 1981; Hechberger 2005, S. 105–183. Des Weiteren zur Oberschicht im Frankenreich und dem römischen Einfluss: Sprandel 1961; Weidemann 1993; Fouracre 2000; Harrison 2002; Patzold 2013.

1.2 Forschungsstand

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Gemeinschaft im Frankenreich zu propagieren.80 In der merowingischen Gesellschaft habe es mithin „Spielräume“ gegeben, in denen und mit deren Hilfe die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ethnische Identität(en) variabel hätten modellieren können.81 Auch Erica Buchberger hält an der ethnischen Identität als Leitkonzept fest.82 Sie erkennt allerdings die Suppression ethnischer Großkategorien bei Gregor zugunsten eher kleinräumiger „family, rank, and city identifiers“ als Ausdruck der zeitgenössischen Wahrnehmung sozialer und geographischer Parameter.83 Neben erzählenden Quellen von der und über die römische Oberschicht in Gallien wurden auch Inschriften und Sachzeugnisse hinterlassen. Die Epitaphien aus dem Untersuchungszeitraum weisen überwiegend lateinische Namen aus und deuten so möglicherweise auf die Fortführung römischer Traditionen in einer wohlhabenden Schicht hin, wobei die Überlieferung hier regional sehr unterschiedlich ist.84 Neben Spezialstudien wie der Philipp von Rummels zur Kleidung als Repräsentationsmittel der römischen Oberschicht85 existieren eine Reihe allgemeiner archäologischer Untersuchungen.86 Die Unterscheidung zwischen ‚Römern‘ und ‚Barbaren‘ oder ‚Germanen‘ wird im Kontext der Bewertung von Funden in spätantiken Gräbern kontrovers diskutiert. Im Zentrum stehen dabei die Verlässlichkeit ethnischer Zuordnung von Grabbeigaben und die Rückschlüsse, die aus ihnen auf das Selbstverständnis der Verstorbenen und der Gruppe, die die Bestattung durchführte, zu ziehen sind. Volker Bierbrauer etwa geht davon aus, aufgrund von Beigaben und Beigabenlosigkeit die Gräber von Romanen und Franken unterscheiden bzw. deren Akkulturationsprozess nachvollziehen zu können.87 Nachdrücklich weist hingegen Hubert Fehr in seiner Dissertation in diesem Zusammenhang auf die Problematik ethnischer Interpretation archäologischer Befunde hin, die schon zuvor durch Sebastian Brather betont wurde.88 Insgesamt erscheint die genaue Zuordnung der Hinterlassenschaften und der Grabgestaltung zu besonderen Bevölkerungsgruppen in den meisten Fällen wenig belastbar, weswegen archäologischer Erkenntnisgewinn bezüglich der römischen Oberschicht als eher gering einzuschätzen ist.

80 Vgl. Reimitz 2015, bes. S. 51–57, 116–120. 81 Vgl. etwa Reimitz 2015, S. 96 f., 115f. 82 Vgl. Buchberger 2017, S. 22–24. 83 Vgl. zusammenfassend Buchberger 2017, S. 25f., 109 f. (das Zitat: Buchberger 2017, S. 110). 84 Vgl. u. a. Heidrich 1968; Heinzelmann 1976; W. Schmitz 1997; Handley 2000; W. Schmitz 2001; W. Schmitz 2003. 85 Vgl. von Rummel 2007. 86 Vgl. Swift 2000; Cleary 2013. 87 Vgl. Bierbrauer 1996; Bierbrauer 2004; Bierbrauer 2005. 88 Vgl. Fehr 2010; Brather 2000; Brather 2004. Dazu außerdem: Brather 2014a; Brather 2014b. Ähnlich zuletzt: von Rummel 2013a.

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1 Einleitung

Die mit diesem archäologischen Problem verbundene Ethnogenese der gentes in der römischen Welt stand von 2005 bis 2010 außerdem im Mittelpunkt des Wittgenstein-Projekts „Ethnische Prozesse im frühen Mittelalter“, zahlreicher Tagungen und der aus ihnen resultierenden Sammelbände.89 Eng verbunden mit Ethnizität sind auch Fragen der Identität, des Kulturtransfers, der Wahrnehmung und der Vorstellungen der spätantik-frühmittelalterlichen Zeitgenossinnen, Zeitgenossen und Gruppen.90 Dabei rückt die überwiegende Mehrheit der Studien in erster Linie die Perspektive der gentes in den Mittelpunkt, weniger die römische.91 Eine Ausnahme von dieser allgemeinen Tendenz bildet erst jüngst der von Walter Pohl, Clemens Gantner, Cinzia Grifoni und Marianne Pollheimer-Mohaupt verantwortete Sammelband „Transformations of Romanness“,92 der das ‚Römertum‘ chronologisch, regional und gesellschaftlich weit gefasst zum Zentrum der Beiträge macht. Einen rein gallischen Fokus bietet bis jetzt der Sammelband von John Drinkwater und Hugh Elton mit der Frage „A Crisis of Identity?“.93 Die Beiträge bilden dabei ein breites Spektrum an Untersuchungen ab, die sich mit den Auswirkungen der politischen und sozialen Veränderungen in Gallien seit Anfang des 5. Jahrhunderts auf die Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen als Teil des römischen Imperiums befassen. In der Folge versammelte der Band „Society and Culture in Late Antique Gaul“94 mehr oder weniger lose zusammenhängende Beiträge, die sich thematisch und chronologisch etwas weniger begrenzt, aber mit vergleichbaren Fragestellungen dem gallischen Raum zuwenden. Zuletzt wurde diese Palette an Publikationen durch einen Sammelband zur Tagung „Gallien in Spätantike und Frühmittelalter (5.-7. Jh.). Kulturgeschichte einer Region“ von Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller ergänzt.95 Ziel der zugrunde liegenden interdisziplinären Tagung war es, „die regionale Transformation Galliens als einen umfassenden und langfristigen kulturgeschichtlichen Prozess in den Blick zu nehmen“96 und dabei traditionelle Forschungsansätze 89 Die sog. Wiener Schule gründet auf den Forschungen Reinhard Wenskus’ (Wenskus 1961) und Herwig Wolframs (Wolfram 2001). Ein aktueller Forschungsüberblick findet sich außerdem bei Koch 2012, S. 9–24; jüngst auch Pohl 2018b. Zu neuesten Erscheinungen des Wittgenstein-Projekts und der Reihe „Forschungen zur Geschichte des Mittelalters“ mit für die vorliegende Arbeit relevanten Beiträgen gehören: Pohl/Gantner/Payne (Hrsg.) 2012; Pohl/Heydemann (Hrsg.) 2013a; Pohl/Heydemann (Hrsg.) 2013b; Pohl (Hrsg.) 2004; Pohl/Wieser (Hrsg.) 2009; Corradini/Gillis/McKitterick/van Renswoude (Hrsg.) 2010; Pohl/Zeller (Hrsg.) 2012. 90 Vgl. etwa Miles (Hrsg.) 1999; Mitchell/Greatrex (Hrsg.) 2000; Hägermann/Haubrichs/Jarnut (Hrsg.) 2004; Becher/Dick (Hrsg.) 2010. 91 Dabei ist die genaue Bestimmung ethnischer Identität mit Schwierigkeiten behaftet, vgl. Geary 1983; Amory 1994b. Dennoch erfreut sich das Forschungsfeld ungebrochenen Interesses, vgl. z. B. jüngst instruktiv Reimitz 2015. 92 Pohl/Gantner/Grifoni/Pollheimer-Mohaupt (Hrsg.) 2018. 93 Drinkwater/Elton (Hrsg.) 1992. 94 Mathisen/Shanzer (Hrsg.) 2001. 95 Diefenbach/Müller (Hrsg.) 2013. 96 Diefenbach/Müller 2013, S. 5.

1.2 Forschungsstand

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zu verbinden „und im Sinne einer umfassenden Kulturgeschichte auch des Politischen zu integrieren“.97 Die Beiträge wollen „‚Kultur‘ nicht als einen bestimmten gesellschaftlichen Sektor neben anderen wie z. B. Politik, Wirtschaft oder Religion, sondern als die Summe mentaler Dispositionen begreifen, die in unterschiedlichen Feldern des gesellschaftlichen Lebens wirksam werden.“98 Dabei wird aus altertumswissenschaftlicher Perspektive ein breites Spektrum „unterschiedliche[r] Aspekte kollektiver Identitätsstiftung am Beispiel des Kulturraums Gallien“99 abgebildet. Der obige Überblick zeigt, dass die meisten ausführlicheren Studien zur römischen Oberschicht einen stark prosopographisch geprägten Zugang wählen.100 Ausgehend von der systematischen Erforschung historischer Personen sollen Erkenntnisse über Mentalität, Identität und Selbstverständnis der Gruppe gewonnen werden. Ein solcher Blickwinkel kann jedoch unversehens zu einem gewissen Positivismus führen, obgleich die tatsächlichen Personen kaum zu greifen sind, sondern eben nur Berichte über sie. Daher wird in der vorliegenden Arbeit ein anderer methodischer Zugriff gewählt. Durch die Analyse des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien soll ein genaueres Bild dieser Gruppe entworfen werden. Zu Recht verweisen Diefenbach und Müller auf die Tatsache, dass die Untersuchung des „spätantiken Strukturwandel[s] [. . .] sehr stark durch spezifisch mediävistische Interessen geprägt ist. So stehen Fragen der Ethnogenese und der gentilen Herrschaftsstrukturen eindeutig im Vordergrund [. . .]. Aspekte der literarischen Kommunikation und der Poetik finden hingegen deutlich geringere Beachtung.“101 Wenn in der vorliegenden Arbeit vor allem Fragen der literarischen Verarbeitung des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien im Mittelpunkt stehen, ist genau diesem Einwand Rechnung getragen. Bedingt durch den prosopographisch geprägten Ansatz legt Stroheker etwa über den Befund der genealogischen Kontinuität vieler „gallische[r] Adelshäuser [. . .], die, im vierten und fünften Jahrhundert groß geworden, sich auch unter westgotischer und burgundischer Herrschaft behaupten konnten und dann im sechsten Jahrhundert im Leben des Frankenreichs erneut eine bedeutende Stellung einnahmen“,102 auch eine Kontinuität ihres römisch-aristokratischen Selbstverständnisses nahe, das sich analog von Generation zu Generation weiter vererbt habe. Stroheker

97 Diefenbach/Müller 2013, S. 4. 98 Diefenbach/Müller 2013, S. 5. 99 Diefenbach/Müller 2013, S. 6. 100 Vgl. etwa Stroheker 1948; Mathisen 1979b; Henning 1999; Salzman 2002; Jones 2009. Dazu auch die monumentale PLRE: Jones/Martindale/Morris (Hrsg.) 1971; Martindale (Hrsg.) 1980; Martindale (Hrsg.) 1992a; Martindale (Hrsg.) 1992b. 101 Diefenbach/Müller 2013, S. 3. 102 Stroheker 1948, S. 3.

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1 Einleitung

beobachtet zwar auch einen „tiefen Wandel des Lebensgefühls“, sieht aber mindestens bis Gregor von Tours die Oberschicht im Kern als eine „am Alten hängende Aristokratie“.103 Tatsächlich scheint dem prosopographischen Ansatz die Unsicherheit der Korrelation von genealogischer Kontinuität und mentaler Kontinuität geradezu axiomatisch inhärent. Die vorliegende Arbeit begegnet dieser Problematik durch eine Konzentration auf den historischen Diskursraum, die zeigen wird, dass ein einschneidender Wandel des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien nicht etwa erst am Zeugnis Gregors von Tours oder später zu beobachten, sondern bereits viel früher in der Zeit des Sidonius anzusetzen ist. Ähnlich wie Stroheker bewertet auch Mathisen die Ausrichtung der römischen Oberschicht im Gallien des 5. Jahrhundert: „One of their most critical concerns was a desire for self-preservation“.104 Dabei bleibt er in seiner Beurteilung möglicherweise etwas oberflächlich. Wie sich durch die Untersuchung des historischen Diskursraums aufzeigen lassen wird, war die Oberschicht zwar durchaus an einer Tradierung einiger ihrer klassischen Werte und Güter interessiert. Es bedürfte aber einer weitergehenden Begründung, warum dies als ein Reflex zur Bewahrung dezidiert ‚römischer‘ Identität gedeutet werden sollte und nicht vielmehr lediglich als bloßen Versuch, politische und soziale Ressourcen zu bewahren, da sie sich auch in den Nachfolgereichen des Imperiums als nützlich zur Statussicherung erwiesen. Dass dieser Status kontinuierlich als ‚römisch‘ empfunden wurde, ist zunächst ein nicht hinreichend begründetes Postulat. Es sollte hinterfragt werden, ob das „surviving Roman element in barbarian Europe“105 von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen tatsächlich noch als ‚römisch‘ im Sinne einer ethnischen und kulturellen Differenzierung wahrgenommen wurde, wie die Forschung bisher (mindestens indirekt) nahelegt. Die Untersuchung des historischen Diskursraums wird vor solchen methodisch bedingten Zirkelschlüssen schützen und noch dazu mehr Platz für die Analyse des Aufbaus und narrativer Elemente der Quellen bieten, als dies in der Forschung bisher der Fall ist. Die Untersuchung des historischen Diskursraums in Gallien ist insofern auch ergebnisoffen, als dass so nicht nur ein Bereich des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht zu erschließen ist, sondern seine volle Bandbreite. Wenn Salzman etwa die Mentalität der römischen Oberschicht im gesamten Westen im 4. und 5. Jahrhundert in den Blick nimmt, muss sie diesen notwendigerweise beschränken. Indem sie den Einfluss der Christianisierung auf den Wertewandel der Aristokratie in den Mittelpunkt stellt, den sie im Übrigen als eher gering einschätzt,106 sind ihre Beobachtungen schon durch die Untersuchungsanlage perspektivisch eingeengt und

103 Stroheker 1948, S. 3. 104 Mathisen 1993, S. 15. Vgl. außerdem zum Fortleben der ‚römischen‘ Oberschicht in Gallien bis ins 7. Jahrhundert zuletzt Mathisen 2013b. 105 Mathisen 2013b, S. 145. 106 Vgl. Salzman 2000, S. 360–362; Salzman 2001, S. 373f., 354f.; Salzman 2002, S. 218f.

1.3 Methodik und Weg

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erfassen die Aspekte des Selbstverständnisses der Gruppe nur vor diesem bestimmten Hintergrund.107 Grundsätzlich scheint in der Forschung die Tendenz zu dominieren, die römische Oberschicht gleichsam von außen zu betrachten und a priori gebildete oder als allgemein anerkannt betrachtete jedoch anachronistische Modelle, dessen was ‚römisch‘ ist und war, an die geschichtswissenschaftliche Analyse und Darstellung heranzutragen, um eine Entsprechung dieser Modelle dann – wenig verwunderlich – bis ins Frankenreich des 6. und 7. Jahrhunderts hinein auch scheinbar in den Quellen bestätigt zu finden. Die Wahrnehmung der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen spielt höchstens eine untergeordnete Rolle. So verfolgt Wickham zwar tiefenscharf den politischen und sozialen Übergang von Gallia zu Francia,108 kommt aber letztlich (analog zu einem Großteil der übrigen Forschung) zu dem Schluss, dass es sich um eine der Regionen handle, „which continued longest to operate inside a broadly defined Roman sociopolitical habitus“.109 Ob dies tatsächlich eine valide Beobachtung ist, die mit dem Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure übereinstimmte, oder vielmehr lediglich einem Darstellungsmodell der Forschung folgt, kann und soll mit Hilfe der Untersuchung des historischen Diskursraums überprüft werden.

1.3 Methodik und Weg Eine soziale Gruppe wie die römische Oberschicht Galliens konstituiert sich nach Otto Gerhard Oexle anhand einer Reihe von Bedingungen.110 Dazu zählt – neben der Rollenverteilung und Wahrnehmung bestimmter Funktionen ihrer Mitglieder sowie zeitlicher Beständigkeit – das Zusammengehörigkeitsgefühl oder Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure als Teil der Gruppe, das sich etwa durch gemeinsame Ansichten, Werte und Vorstellungen äußert. Dieses geteilte Selbstverständnis wirkt dabei nicht nur nach innen, sondern auch nach außen in Abgrenzung zu anderen Gruppen und trägt so zur Etablierung und Festigung des eigenen Gruppenbewusstseins bei. Das Selbstverständnis einer Gruppe in Unterscheidung zu Außenstehenden zeigt sich außerdem durch bestimmte äußere Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder. In Bezug auf gehobene Gesellschaftsschichten benennt Timothy Reuter etwa mit dem Aussehen, der Sprache, der Kleidung, der Ernährung und bestimmten Ritualen der Interaktion solche „social markers“,111 die den elitären Status sozialer Gruppen kennzeichnen. In

107 Ganz ähnlich verhält es sich mit der Studie Näfs, der sich aufgrund des großen Untersuchungsraumes (auch hier das ganze weströmische Imperium) in seiner Analyse auf den „Stand“ der senatorischen Mitglieder der römischen Oberschicht beschränkt. Vgl. Näf 1995. 108 Vgl. Wickham 2005, S. 168–203. 109 Wickham 2005, S. 257. 110 Vgl. zum Folgenden Oexle 1998, S. 17. 111 Reuter 2000, S. 89.

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1 Einleitung

der Forschung wurden einige dieser äußeren Aspekte in Bezug auf die römische Oberschicht in Gallien in der Schwellenzeit des 5. und 6. Jahrhunderts112 bereits mehr oder weniger ausführlich behandelt.113 Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist hingegen in erster Linie das, was gleichsam hinter diesen „social markers“ steht, die gemeinsame mentale Disposition der gallo-römischen Oberschicht, das Selbstverständnis ihrer Mitglieder und dessen Wandel im Zuge der Ablösung des westlichen Imperium Romanum durch seine gentil geprägten Nachfolgereiche auf gallischem Boden. Jene Aspekte realisieren sich im durch die Quellen kritisch zu erschließenden historischen Diskursraum der römischen Oberschicht, d. h. unter Einbeziehung von Darstellungsabsicht und -hintergrund der Verfasser und der Entstehungsumstände der Texte. Diese Ebene bildet damit gleichsam das ‚historische‘ Element des ‚historischen Diskursraums‘. Freilich sind die Parameter des Selbstverständnisses, das die römische Oberschicht als Gruppe konstituiert, nicht als gegeben oder gar statisch zu betrachten, sondern einem steten Aushandlungs- und Wandlungsprozess unterworfen. Selbstverständnis ist in dem Sinne relational, als dass es der kontinuierlichen Kommunikation bedarf, um sein Potential zu wahren, Gemeinsamkeit und Differenz zu modulieren.114 Spuren dieser Kommunikation gilt es aus den Quellen zu extrahieren.115 Bei der Erforschung historischer sozialer Gruppen werden die Quellen damit gleichsam zum Sprecher der Gruppe. Im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie zählt Bruno Latour die Existenz von Sprechern zu den zentralen Merkmalen für die Etablierung von Gruppen: „Um eine Gruppe abzugrenzen, [. . .] braucht man Sprecher, die für die Existenz der Gruppe ‚sprechen‘ – und die manchmal sehr geschwätzig sind“.116 Vor allem im 5. Jahrhundert steht mit den Briefsammlungen des Sidonius Apollinaris, des Ruricius von Limoges und des Avitus von Vienne eine vergleichsweise reichhaltige Überlieferung zur Verfügung, die Zeugnis von der kulturellen Produktion der römischen Oberschicht in Gallien ablegt. Im 6. Jahrhundert fließt der Strom der Quellen

112 Vgl. zur Bedeutung des Wandels im ausgehenden 5. Jahrhundert in Bezug auf soziale Gruppen auch Oexle 1998, S. 36f. 113 Vgl. u. a. Amory 1994a; Salzman 2000; Swift 2000, S. 27–65; Halsall 2007, S. 468–488; von Rummel 2007; Postel 2011. 114 Offensichtlich herrscht hier eine grundsätzliche Dialektik vor: Aus dem Selbstverständnis der Oberschicht erwächst das Bedürfnis, eben dieses zu demonstrieren und zu festigen, gerade dieser performative Prozess wiederum führt zur Konstituierung von Selbstverständnis. Selbstverständnis, so wie es aus dem historischen Diskursraum zu greifen ist, ist durch eine grundsätzliche Reziprozität geprägt. Selbstverständnis ist mithin etwas Konstruiertes: Einmal auf Seiten der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die (unbewusst) ihr Selbstverständnis in einem reziproken Prozess selbst (re-)produzieren und auf der Seite der modernen Wissenschaft, die Diskurse des Selbstverständnisses zum Gegenstand ihrer Analyse erhebt. Vgl. zur Reziprozität performativer Kommunikation, Gruppenkonstituierung in der Vormoderne und zum Verhältnis der heutigen Forschung zu den Quellen Stollberg-Rilinger 2004, bes. S. 489–496. 115 Vgl. hierzu in Bezug auf soziale Identität Pohl 2013b, S. 49. 116 Latour 2007, S. 57.

1.3 Methodik und Weg

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spärlicher. Erst mit den Werken des Gregor von Tours und des aus Italien immigrierten Venantius Fortunatus stehen wieder Texte zur Verfügung, die – unter geänderten Vorzeichen – aus einem vergleichbaren kulturellen Umfeld stammen wie ihre Vorgänger aus dem 5. Jahrhundert. Inwiefern sich das Selbstverständnis dieser Autoren und der hinter ihnen stehenden sozialen Gruppe im historischen Diskursraum gewandelt hatte und durch was es beeinflusst wurde, soll im Zuge dieser Untersuchung analysiert werden. Die Quellen sind dabei jedoch kaum als getreues Abbild der sozialen Wirklichkeit ihrer Zeit und des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien zu betrachten. Im Zuge des ‚linguistic turn‘ der Geisteswissenschaft117 ist es mit Johannes Fried vielmehr eher „eine Geschichte des praktischen Denkens, des sozialen Wissens, des geistigen Habits und Verhaltens sozialer Gruppen“,118 die aus den Quellen abzuleiten ist. Damit sind die kulturelle Produktion der römischen Oberschicht und die soziale Realität keineswegs als gegeneinander abgeschlossen zu betrachten, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Ein Text „kann demnach weder als autonome Erscheinung interpretiert werden noch als bloße Reperkussion einer wie auch immer gearteten soziohistorischen Realität“,119 sondern nimmt eine vermittelnde Stellung ein, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit im historischen Diskursraum der römischen Oberschicht zu verorten ist. Eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen (Quellen-)Text und Realität zu beschreiben, liefert Michel Foucault mit dem Begriff des Diskurses. Diese Analysekategorie umreißt keine wie auch immer geartete Wirklichkeit, sondern bietet ein Hilfsmittel, um die Aussagen der Quellen zu strukturieren. Diskurse sind „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.120 „Diskurse regeln also das Sagbare, Denkbare und Machbare. Sie organisieren Wirklichkeit. Offensichtlich geht diese diskursive Produktion von Wirklichkeit jedoch nicht willkürlich vonstatten, sondern unterliegt gewissen Regeln, die es den Beteiligten ermöglichen, im Rahmen eines Diskurses korrekt zu sprechen, zu denken und zu handeln.“121 In diesem Sinne ist zu untersuchen, welchen Status die überlieferten Quellen im Kontext des Diskurses über das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien einnahmen und wie dadurch Wissen geformt wurde.122 117 Vgl. zu den Implikationen für die Geschichtswissenschaft mit weiterführenden Literaturangaben u. a. Oexle 2000. 118 Fried 2003b, S. 304. Zur anthropologischen Wende in der Geschichtswissenschaft vgl. u. a. Osterhammel 1996; Assmann/Fried/Wenzel 1997; van Dülmen 2000; Landwehr 2001, S. 54–62; Fried 2003a; Winterling (Hrsg.) 2006. 119 Gaul 2011, S. 8. 120 Foucault 1981, S. 74. 121 Landwehr 2009, S. 21. 122 Als methodisch anregend haben sich hierbei einige jüngere geschichtswissenschaftliche Arbeiten erwiesen, die sich ebenfalls (im weiteren Sinne) mit epistemologischen Fragestellungen befassen: Patzold 2008; Gaul 2011; Hartmann 2013.

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1 Einleitung

Damit nimmt die vorliegende Arbeit Anleihen am Instrumentarium der historischen Diskursanalyse,123 indem anhand der Quellen nicht etwa festzustellen versucht wird, „wie es eigentlich gewesen“124 ist, sondern um mit Hilfe der Quellen zu erarbeiten, was man erschließen kann. Damit sei deutlich gemacht, dass es der vorliegenden Studie nicht darum geht, die Aussagen der Quellen zu entwerten, deren Sinn zu dekonstruieren und am Ende mit leeren Händen dazustehen, sondern das Erkenntnisinteresse auf eine andere Ebene zu verschieben. Die Untersuchung des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien hat zum Ziel, die impliziten Regeln dessen offenzulegen, was in ihrem Kontext mittels Sprache sagbar, denkbar und machbar ist und damit eine durch die Quellen greifbare Form von Wirklichkeit organisiert. Der für die vorliegende Arbeit zur Untersuchung der römischen Oberschicht in Gallien eingeführte Begriff des historischen Diskursraums ähnelt dabei Pierre Bourdieus Feldtheorie,125 unterscheidet sich jedoch von diesem Konzept durch sein mit ihm verbundenes explizit geschichtswissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Im Feld ist die Kontrolle des Diskurses nach Bourdieu durch die Besetzung von Sprecherpositionen möglich, die durch das Feld autorisiert sind. Insofern vermag eine Gruppe, den Diskurs durch „die Besetzung der Positionen, auf denen man spricht, mit Leuten, die nur das sagen, was das Feld autorisiert und verlangt“126 zu kontrollieren. Im Kontext der rückschauenden geschichtswissenschaftlichen Analyse kann nur den Quellen diese Funktion des Sprechers zukommen. Somit ist in ihrem „Wort das symbolische Kapital konzentriert [. . .], das von der Gruppe akkumuliert wurde“.127 Hier findet also durch die Einführung des historischen Diskursraums unter Adaption des bourdieuschen Konzepts eine notwendige Verschiebung von soziologischer Analyseebene moderner Gesellschaften statt auf die historische Analyseebene vormoderner Gesellschaften (und im vorliegenden Fall bezogen auf das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht zwischen Spätantike und Frühmittelalter). Mit Bourdieu ist es der von den Mitgliedern einer Gruppe (unbewusst) geteilte Habitus – kollektive Denk-, Wahrnehmungs- und Reproduktionsmuster von Wirklichkeit –, der performatives Sprechen ermöglicht. Der Habitus wird dabei durch den historischen Diskursraum strukturiert und wirkt gleichzeitig strukturierend auf ihn zurück.128 Die Quellen sind somit durchdrungen vom Habitus ihrer Verfasser. Auf dieses

123 Vgl. zur Einführung in die Methodik Landwehr 2001, S. 103–134. 124 Ranke 1824, S. VI. 125 Vgl. etwa Bourdieu 1982; Bourdieu 1993c. 126 Bourdieu 1993a, S. 134. 127 Bourdieu 1990, S. 75. 128 Zum Habitus vgl. Bourdieu 1974, S. 125–158; Bourdieu 1982, bes. S. 278–282; Bourdieu 1992b, S. 72f., 142–153; Bourdieu 1993b, S. 97–121.

1.3 Methodik und Weg

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Konzept sind damit letztlich auch die bereits erwähnten Überlegungen Oexles, Reuters, Frieds und Anderer zurückzuführen.129 Einer ähnlichen Herangehensweise bedient sich auch die literaturwissenschaftliche Theorierichtung des „New Historicism“.130 In Bezug auf das Verhältnis von literarischer Produktion und Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien lassen sich etwa Parallelen zu dem von Stephen Greenblatt eingeführten Konzept des „self-fashioning“ der Renaissance-Eliten ziehen.131 Für Greenblatt funktioniert Literatur „as a manifestation of the concrete behavior of its particular author, as itself the expression of the codes by which behavior is shaped, and as a reflection upon those codes.“132 Auch hier sind demnach Text und Gesellschaft keine gegeneinander abgeschlossene Sphären, sondern miteinander verschränkt und beeinflussen sich wechselseitig. Die Wirkung ist also reziprok: Sidonius, seine Zeitgenossen und Nachfolger formten die Diskurse und Vorstellungen ihrer Zeit, ebenso wie sie analog durch sie geprägt waren. Mit Brian Stocks Konzept der „textual community“ können Anleihen von einem weiteren vergleichbaren Modell bezogen werden, entwickelt vor allem am Beispiel der Konstituierung sozialer Gruppierungen um Texte im 11. und 12. Jahrhundert. Häretikergruppen etwa „demonstrated a parallel use of texts, both to structure the internal behaviour of the groups’ members and to provide solidarity against the outside world.“133 Die vorgestellten Konzepte und Instrumentarien nutzen auf die eine oder andere Weise diskursanalytische Methodiken, dabei liegt eine der zentralen Interdependenzen der Diskursanalyse für die Beziehung zwischen sozialem Wissen und Macht vor.134 So hat etwa Jan Assmann auf die Bedeutung der „Zirkulation des formativen identitätssichernden Wissens“135 für die Ausbildung des „kulturellen Gedächtnisses“ und kollektiven Selbstverständnisses von Gruppen als Teil des gesellschaftlichen Stratifikationsprozesses hingewiesen. Aus diesen Überlegungen lassen sich einige Arbeitshypothesen für die Untersuchung der römischen Oberschicht in Gallien ableiten. Das Konzept eines als dezidiert ‚römisch‘ empfundenen Selbstverständnisses verliert schon in der Zeit des Sidonius – und im entstehenden Frankenreich umso schneller – an Bedeutung. Den Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Wissen folgend ergeben sich dafür einige denkbare Erklärungen. Es ist anzunehmen, dass die vormals ‚römischen‘ Kreise schlicht an politischer Macht verloren und daher ihr Selbstverständnis gleichsam mit ihnen in der

129 Vgl. außerdem grundsätzlich zur Verbindung von Diskurs, Habitus, Performanz und Identität auf methodischer Ebene Haslinger 2006. 130 Vgl. mit einem Überblick Landwehr 2001, S. 62–64. 131 Vgl. Greenblatt 1980. 132 Greenblatt 1980, S. 4. 133 Stock 1983, S. 90. 134 Vgl. vor allem mit weiterer theoretischer Literatur Patzold 2008, S. 39–43. 135 Assmann 2013, S. 143.

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1 Einleitung

Bedeutungslosigkeit versank. Parallel mit diesem politischen Prozess büßte die römische Oberschicht ihre kulturelle Souveränität ein. Mit dem Verlust politischer Macht werden Konzepte wie das der Romanitas mehr und mehr beispielsweise durch die Franken vereinnahmt und verlieren an Zug- und Distinktionskraft.136 Freilich muss dieser Vorgang nicht unbedingt negativ im Sinne eines Verschwindens gedeutet, sondern kann auch als ein gradueller Wandel des Selbstverständnisses interpretiert werden, das etwa durch den Verlust seines politischen Rahmens – des Imperium Romanum – nach und nach nicht mehr als dezidiert römisch empfunden wurde und sich in einem Prozess der Hybridisierung den veränderten (und sich verändernden) gesellschaftlichen Gegebenheiten des Frankenreichs anpasste. Vor dem Hintergrund der methodischen Anregungen fragt die vorliegende Untersuchung nach den Parametern des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien, ihrer Selbstdarstellung und Repräsentation in den schriftlichen Quellen – mit anderen Worten: nach ihrem historischen Diskursraum – während der Schwellenzeit des Übergangs vom weströmischen Imperium zu seinen Nachfolgereichen. Selbstverständnis wird dabei als soziales Phänomen eines übergreifenden Zusammengehörigkeitsgefühls einer gesellschaftlichen Gruppe betrachtet, das sich für die rückblickende Geschichtswissenschaft über den historischen Diskursraum kritisch erschließen lässt. Dabei wird anhand der Zeugnisse verschiedener Zeitgenossen ein exemplarisches diachrones Bild der Eigensicht der römischen Oberschicht entworfen. Fragen, die sich im Zuge dessen stellen, lauten etwa: Wie grenzte sich die römische Oberschicht gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen ab – seien es andere ‚Römer/Romanen‘ oder die ‚Barbaren‘? Welche Möglichkeiten zur Konstituierung eines Selbstverständnisses boten sich in den Quellen überhaupt? Wie veränderten sich diese Möglichkeiten? Wie wirkten diese Veränderungen wiederum auf die Oberschicht zurück? Zur Beantwortung dieser Fragen wird ein diachroner vergleichender Blick auf den Selbstverständnisdiskurs der gallischen Oberschicht geworfen und damit letztlich vor allem untersucht, wie die Oberschicht über sich selbst kommunizierte. Mit der Untersuchung des historischen Diskursraums wird dabei ein methodischer Zugang eingeführt, der über die bisherigen Ansätze der Forschung hinausgeht. Vor allem ist mit ihm ein reflektierter Umgang mit den Konzepten des ‚Römischen‘ und ‚Romanischen‘ verknüpft. Wenn die frühere Forschung die Handlungen von Mitgliedern der römischen Oberschicht in Gallien vor allem auf einer vermeintlich faktualen Ebene vor dem Hintergrund methodischer Prämissen und Zuschreibungen bewertete, so eröffnet die Untersuchung des historischen Diskursraums den Blick auf das dahinterstehende Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure. Zirkelschlüsse, die eine Kausalität von Kontinuitäten postulieren, werden

136 Vgl. McCormick 1989; Fanning 1992; Murray 1998; Mathisen/Sivan 1999; Harries 2000; Harries 2001; Maier 2005; Wolfram 2006.

1.3 Methodik und Weg

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dadurch verhindert. Sicherlich überdauerten gewisse ‚römische‘ Elemente den Übergang vom imperium zu den regna, aber ob die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen diese Elemente tatsächlich noch als ‚römisch‘ wahrnahmen (so wie es jedoch die rückblickende Etikettierung durch die Forschung unweigerlich nahelegt), kann bezweifelt werden. Als Mittel zur gesellschaftlichen Distinktion und Identifikation der Oberschicht verloren sie rasch an Bedeutung. Vor allem dürften es pragmatische Gründe gewesen sein, die zu einem Festhalten etwa am klassischen Bildungsideal führten. Ein regelrechtes Programm der Oberschicht zur Bewahrung des ‚Römischen‘ wird man ihr jedenfalls nicht ohne weiteres unterstellen dürfen und dies soll im Zuge der vorliegenden Arbeit stärker als bislang zur Diskussion gestellt werden. Die Untersuchung des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien wird es dabei ermöglichen, hinter die Fassade der Quellenaussagen zu blicken, die durch die Forschung vor dem Hintergrund weitgehend unreflektierter Prämissen zu einem Bild konstruiert wurden, das bisher nicht in der Lage ist, die diachrone Entwicklung der mentalen Disposition dieser gesellschaftlichen Gruppe an die Oberfläche zu bringen. Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile, die chronologisch aufeinander folgen. Bei den ‚Sprechern‘ des ersten Abschnitts handelt es sich um die Briefsammlungen der drei gallischen Bischöfe Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne, die nicht einzeln für sich, sondern systematisch erschlossen werden. Ein motivgeleitetes Vorgehen bietet sich hier vor allem deswegen an, weil die drei Bischöfe, wenn auch ihre Wirkungszeiten nicht vollständig übereinstimmen, Teil desselben Kommunikationsraums und -netzwerks der römischen Oberschicht in Gallien waren und miteinander auf verschiedenen Ebenen in Kontakt standen. Die systematische Analyse der konstitutiven Elemente des Selbstverständnisses der Oberschicht wird die Unterschiede und Wandlungen im diachronen Vergleich der drei Briefsammlungen aufzeigen. Gleichzeitig werden jedoch auch immer wieder mögliche Entwicklungen innerhalb der Texte in den Blick genommen, deren Grundlage schließlich Briefe aus unterschiedlichen Lebensphasen der Verfasser waren. Dabei werden die Vorortung der Briefsammlungen, ihre Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge, Performanzen und Kontexte kontinuierlich im Fokus der Erschließung des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien stehen. Insgesamt entsteht so das Bild eines vor allem durch Pragmatismus geprägten Selbstverständnisses epistolographischer Übergangsrömer. Es folgte eine Zeit in Gallien, in der der Strom der Quellen nur noch spärlich fließt. Bis zur zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts liegen nur noch wenige und sehr disparate Quellen vor, deren Aussagekraft eher schwach oder schwierig zu beurteilen ist. Sie bilden in mehrfacher Hinsicht „Zwischenräume“, die nur geringen Einfluss auf die Konstituierung eines historischen Diskursraums hatten, in dem sich ein etwaiges Selbstverständnis einer nunmehr höchstens als ‚hybridrömisch‘ zu bezeichnenden Oberschicht in Gallien hätte wahrnehmbar behaupten können. In eigenen Unterkapiteln – gewissermaßen exkurshaft – behandelt werden: zeitgenössische

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1 Einleitung

Rechtstexte, Grabinschriften, die Briefsammlung der Epistolae Austrasicae, die Chronik des Marius von Avenches und hagiographische Texte des 6. Jahrhunderts. Der dritte Teil widmet sich schließlich den Werken des Venantius Fortunatus und des Gregor von Tours. Obwohl die beiden Autoren persönlich eng miteinander verbunden waren, erscheint ihr historischer Diskursraum am Ende des 6. Jahrhunderts in Bezug auf ein Selbstverständnis der ‚römischen Oberschicht‘ fragmentiert. Aufgrund seiner italischen Abkunft scheint das römische Erbe stärker in Fortunatus’ Dichtung eingeflossen zu sein als in die Geschichtsschreibung seines Freundes. Allerdings tritt die Romanitas bei Fortunatus in einer topischen Form auf und eher als ein individuelles Merkmal im Wortsinn, ohne dabei ein Gemeinschaftsgefühl einer sich abgrenzenden gesellschaftlichen Gruppe zu transportieren. Bei Gregor hingegen erscheinen ethnische Zuordnungen selten und verschleiert,137 so dass sich der Eindruck verfestigt, das Römertum sei im Gallien des späten 6. Jahrhunderts in einen Zustand der Latenz geraten und Adjektive wie ‚senatorisch‘ oder ‚römisch‘ stellen nur noch Hülsen dar. Die Arbeit beschließt – neben einer Zusammenfassung – ein Ausblick, in dem die Überreste des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien und ihres Selbstverständnisses etwa in der Briefsammlung des Desiderius von Cahors oder der Chronik des sog. Fredegar und ihr Nachwirken bis in die Karolingerzeit punktuell verfolgt werden.

137 Zu den möglichen Gründen jüngst: Reimitz 2015; Buchberger 2017.

2 Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen zwischen Imperium Romanum und regna: Sidonius, Ruricius, Avitus 2.1 Einführung Mit den Briefsammlungen des Sidonius Apollinaris, des Ruricius von Limoges und des Avitus von Vienne sind ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ertragreiche Selbstzeugnisse der römischen Oberschicht Galliens überliefert. Diese Zeit stellte – zumal in Gallien – eine gewisse Hochphase der Gattung Briefsammlung dar.1 Am bekanntesten ist sicherlich das Werk des Sidonius Apollinaris, der einen Teil seiner Korrespondenz in insgesamt neun Büchern arrangierte und sich ganz bewusst in die klassische Tradition eines Plinius und des Symmachus stellte.2 Aber auch Sidonius’ Bischofskollege Ruricius von Limoges hinterließ eine Briefsammlung, zudem schrieben sie sich gegenseitig. Schon dieser durch die Briefsammlungen überlieferte Ausschnitt aus der Korrespondenz der beiden ist Sinnbild für die geistige und literarische Kultur der gallo-römischen Oberschicht des 5. Jahrhunderts. So rühmt Sidonius Ruricius etwa überschwänglich für dessen schriftstellerische Kunstfertigkeit und Bildung, mit deren Hilfe dieser wiederum wohl zuvor ein briefliches Lob des Charakters seines Korrespondenzpartners formuliert hatte,3 das Sidonius im gleichen Federstrich mit topischer Bescheidenheit zurückweist.4 In einem überlieferten Brief des Ruricius an Sidonius entschuldigt er sich gespielt reumütig für das Kopieren eines Buches aus dem Besitz des Freundes, ohne zuvor dessen Erlaubnis eingeholt zu haben.5 Daraufhin wird er im Antwortschreiben wiederum nachdrücklich von Sidonius für seine literarische Geschicklichkeit und Studien gelobt.6 An der Demonstration klassischer Rhetorik und stilistischer Kunstfertigkeit in diesen und anderen Briefen hatten durch die Zirkulation der Briefsammlungen auch die Standesgenossinnen und Standesgenossen des Sidonius und des

1 Vgl. Müller 2018, S. 12–15. 2 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 1, 1, S. 36. 3 Dass Ruricius in Sidonius durchaus eine Art Vorbild sah, zeigt sich etwa in einem an ihn gerichteten Brief, in dem Ruricius ankündigt, Sidonius unterstützt durch dessen Patronage (patrocinia) nacheifern zu wollen (Ruricius, Ep. [Demeulenaere 1985], I, 9, S. 323; vgl. auch Ruricius, Ep. [Demeulenaere 1985], II, 26, S. 367f.). 4 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 10, S. 138. 5 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 8, S. 321f. In einem anderen Fall schickt Sidonius über einen bybliopola Abschriften biblischer Texte an Ruricius (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], V, 15, S. 88). Vgl. zur Tätigkeit der bibliopolae Schipke 2013, S. 54–56, 177 f. 6 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 16, S. 67. https://doi.org/10.1515/9783110629187-002

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2 Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen

Ruricius Anteil.7 Wie eng dieses Netzwerk geflochten war, zeigt etwa auch, dass sich die Adressatenkreise der beiden Bischöfe teilweise überschnitten.8 Zweifellos waren Sidonius, Ruricius und auch der Kreis der Adressatinnen und Adressaten ihrer Briefe und der Rezipientinnen und Rezipienten ihrer Briefsammlungen Teil des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht Galliens. Zu diesem zählte mit Avitus von Vienne zudem noch ein dritter gallischer Bischof, von dem eine Briefsammlung überliefert ist.9 Neben diese diskursive Verbundenheit traten außerdem verwandtschaftliche Beziehungen, die die drei Bischöfe und teilweise auch ihre Adressatinnen und Adressaten aus der römischen Oberschicht verbanden.10 Sidonius war vermutlich Onkel des Avitus mütterlicherseits.11 In Avitus’ Briefsammlung sind überdies vier Briefe an seinen Cousin Apollinaris, Sidonius’ Sohn, überliefert,12 mit dem wiederum auch Ruricius in brieflichem Austausch stand.13 Dieser verfügte wohl ebenfalls über indirekte verwandtschaftliche Beziehungen zu Sidonius, wie Ruricius’ Brief an Agricola nahelegt, bei dem es sich um Sidonius’ Schwager gleichen Namens und Sohn des Eparchius Avitus handeln könnte.14 Die Briefsammlungen selber sind freilich in erster Linie als literarische Arrangements zu betrachten und haben einen eher artifiziellen Charakter.15 Trotzdem (oder

7 Zur wohl nicht unbeträchtlichen Verbreitung der Briefsammlung des Sidonius bei seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen vgl. Mathisen 2013a, S. 224f. mit Anm. 12; Schipke 2013, S. 166f., 176f.; Köhler 2014, S. XXVIf. Für die Ruricius-Sammlung ist wohl eine geringere Stückzahl anzunehmen (zumal der überlieferte Text auf ein singuläres aber auch späteres Manuskript zurückgeht, siehe auch 2.1.1 Sidonius Apollinaris unten), allerdings dürften auch hier schon einige zeitgenössische Kopien kursiert sein und die Briefsammlung (oder Teile von ihr) nicht nur ein Archivdasein geführt haben (vgl. Mathisen 1999, S. 63–76). 8 Vgl. die Tabelle der Adressaten, die sowohl von Sidonius als auch von Ruricius Briefe empfingen, die Eingang in die beiden Briefsammlungen fanden bei Mathisen 1999, S. 32. 9 Vgl. auch Wood 2018b, S. 46f. 10 Vgl. Wood 2000. 11 Vgl. Mathisen 1981, S. 100. 12 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 24, S. 56; 36, S. 66; 51, S. 79–81 u. 52, S. 81. 13 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 26, S. 365f.; 27, S. 366f. u. 41, S. 379f. 14 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 32, S. 370f. Eine genauere Bestimmung der Verbindung zwischen Ruricius und Agricola versucht Mathisen 1981, S. 102f., muss sich dabei allerdings auf spekulative Argumente zu Namenvergabe, -gleichheit und -häufigkeit stützen. Möglich ist auch, dass es sich bei Ruricius’ Adressaten und Sidonius’ Schwager um zwei verschiedene Personen mit dem gleichen Namen handelt. Vgl. etwa Heinzelmann 1982, 2, S. 547; Kaufmann 1995, Nr. 1, S. 275f. Bei Heinzelmann 1982 und Kaufmann 1995 handelt es sich um die aktuellsten Prosopographien, die auf ihre Vorgänger wie Stroheker 1948 und PLRE (Jones/Martindale/Morris [Hrsg.] 1971; Martindale [Hrsg.] 1980; Martindale [Hrsg.] 1992) verweisen (Kaufmann 1995 jedoch nicht auf Heinzelmann 1982), weswegen hier und im Folgenden in der Regel auf die Angabe der entsprechenden Stellen in den älteren Nachschlagewerken verzichtet wird. 15 Immer noch grundlegend u. a. mit typologischen Überlegungen zu den Quellengattungen ‚Brief‘ und ‚Briefsammlung‘ ist Constable 1976; außerdem Thraede 1970. Vgl. auch zuletzt Herold 2007; Neil 2015, S. 4–15; Allen 2015; Schwitter 2017 und der Überblick bei Zingg 2012, S. 65–72; nochmals

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gerade deswegen) verraten sie viel über kulturelle und gesellschaftliche Aspekte des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien.16 Es gilt bei der Untersuchung der Briefsammlungen stets zu beachten, dass es sich bei den enthaltenen Schriftstücken nicht notwendigerweise um klassische Briefe im eigentlichen Sinn handeln muss, die tatsächlich abgeschickt wurden oder dafür vorgesehen waren. Der tatsächliche Status der einzelnen Briefe wird sich jedoch in der Rückschau nur in den allerwenigsten Ausnahmen präzise bestimmen lassen. Entwürfe und Abschriften könnten – neben eigens für eine Sammlung verfassten (Kunst-) Briefen – weit nach ihrem ursprünglichen Entstehungszeitpunkt, bevor sie zusammengestellt wurden, noch einige Redaktionsstufen durchlaufen haben. Die Briefe werden somit durch die Zusammenstellung und Herausgabe der Briefsammlung in einen neuen Kontext eingeordnet, ihr Quellenwert wird gleichsam aktualisiert.17 Zuletzt hat Roy Gibson die Aussagekraft von Briefsammlungen in Bezug auf geschichtswissenschaftliche Fragestellungen in Zweifel gezogen. Vor allem durch ihren literarischen Charakter, den Umstand, dass die in ihnen enthaltenen Briefe in vielen Fällen kaum als Originale anzusehen seien, sondern vermutlich Redaktion und Interpolation durchlaufen hätten, bevor sie als Teil einer Sammlung veröffentlicht wurden, und durch die Tatsache, dass sie nicht mit autobiographischer oder historiographischer Absicht entstanden seien, sei ihr Wert vor allem im Hinblick auf die Rekonstruktion ereignisgeschichtlicher Umstände im Gegensatz etwa zu ihren modernen Äquivalenten gering.18 Gibsons Einwände charakterisieren zwar treffend den weitgehend unkritischen Umgang vor allem der älteren Forschung mit den gallischen Briefsammlungen, blenden aber aus, dass die Briefsammlungen durchaus über eine erhebliche Aussagekraft in Bezug auf die kulturellen und sozialen Verhältnisse zu ihrem Veröffentlichungszeitpunkt verfügen, wie im Folgenden gezeigt wird. Darüber hinaus lassen sich außerdem durchaus Wege finden, um nicht vor der Datierungsproblematik der in den Sammlungen zusammengestellten Briefe zu kapitulieren, sondern belastbare Deutungsangebote zu machen.

Zingg 2018. Vgl. zu Fragen der Materialität und zur Verbreitung von Büchern in der Spätantike allgemein Bertelli 1998; Mratschek 2000; Schipke 2013. 16 Jüngst konstatiert in Bezug auf die manierierte Sprache der Briefe zudem Schwitter 2017, S. 64: „Amongst the late Roman elite a highly elaborate style was commonly deployed in everyday writing. This leads to a simple conclusion: in late antique letter-writing practical objectives, intimacy and rhethorical form did not preclude each other in any way. An elaborate epistolary style, therefore, does not automatically indicate that an author aimed at a literary audience rather than a single person in a strictly private or functional matter.“ 17 Vgl. zuletzt mit Hinweisen zur Bewertung des Verhältnisses von Einzelbrief und Sammlung Sogno/Storin/Watts 2017, S. 2f. Zum „Privatbrief in der Spätantike“ vgl. jüngst auch Schwitter 2018. 18 „There is no systematic or straightforward association between ancient letter collections and biographical or historical narration“ (Gibson 2012, S. 57). Gibsons Hauptargument ist jedoch, dass die innere Ordnung von Briefsammlungen häufig durch moderne Editorinnen und Editoren verfälscht werde, daher sei Vorsicht geboten.

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2.1.1 Sidonius Apollinaris Viel Gesichertes ist nicht bekannt über Gaius Sollius Apollinaris Sidonius, obwohl er zu seinen Lebzeiten und darüber hinaus zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten im spätantik-frühmittelalterlichen Gallien zählte. Das Wenige, was es über Sidonius’ Leben zu erfahren gibt, findet sich zum größten Teil in seinen eigenen Schriften. Die moderne Forschung hat zwei einschlägige Biographien hervorgebracht, deren Erscheinungsdaten allerdings weit auseinanderliegen – beide stammen aus dem englischen Sprachraum.19 Courtenay Edward Stevens etwa veröffentlichte 1933 eine Monographie mit dem Titel „Sidonius Apollinaris and his Age“.20 Ähnlich wie Stevens verfolgt auch Jill Harries in ihrer 1994 erschienenen Biographie Sidonius’ Leben vor allem vor dem Hintergrund seiner Perzeption des Untergangs des weströmischen Imperiums.21 Sidonius wurde um 430 als Sprössling einer einflussreichen und wohlhabenden Familie in Lyon geboren.22 Sidonius’ Vater, Großvater, Urgroßvater und sein späterer Schwiegervater hatten hohe Ämter im römischen Reich inne, wie er selbst in einem seiner Briefe berichtet.23 Die Besitzungen der Familie in und um seine Geburtsstadt umfassten mehrere Häuser.24 Über Sidonius’ jugendliche Ausbildung ist wenig bekannt. Es steht zu vermuten, dass er – wie sein eigener Sohn – zu Hause in klassischer Literatur geschult wurde, was den Grundstein zu seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit in späterer Zeit legte.25 Ähnlich wie einer oder mehrere Söhne seines jüngeren Freundes Ruricius von Limoges durch den Lehrmeister Hesperius26 unterrichtet

19 Vgl. zur französisch-, deutsch- und italienischsprachigen Forschung jüngst die Forschungsüberblicke Amherdt 2013; Köhler 2013; Santelia 2013. 20 Stevens 1933. 21 Vgl. Harries 1994, S. v. Andere Studien wie etwa Rutherford 1938 oder Le Guillou 2001 basieren stark auf Stevens 1933 oder fügen den Ergänzungen von Harries 1994 zu Sidonius’ Leben nichts Wesentliches hinzu. Vgl. allerdings auch Gualandri 1979. 22 Sidonius’ genaues Geburtsjahr lässt sich nur indirekt herleiten, vgl. Kaufmann 1995, S. 41 mit Anm. 10. 23 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 3, 1, S. 48: pater socer avus proavus praefecturis urbanis praetorianisque magisteriis palatinis militaribusque micuerunt. Außerdem kündet auch u. a. Gregor von Tours von Sidonius’ edler Familie Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 21, S. 67: vir secundum saeculi dignitatem nobilissimus et de primis Galliarum senatoribus. 24 Vgl. zur Familie des Sidonius Harries 1994, S. 26–29; Kaufmann 1995, S. 42 f. 25 Zur häuslichen Lektüre von Sidonius und seinem Sohn vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 12, 1, S. 64. 26 Vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 623; Kaufmann 1995, Nr. 52, S. 313. Weitere grammatici aus dem Adressatenkreis des Sidonius sind Domitius (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], II, 2, S. 22–27; vgl. Heinzelmann 1982, S. 592; Kaufmann 1995, Nr. 27, S. 295), Johannes (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 2, S. 127; vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 629; Kaufmann 1995, Nr. 56, S. 315) und Lampridius (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 9, S. 135–137; vgl. Heinzelmann 1982, S. 633; Kaufmann 1995, Nr. 59, S. 316f.).

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wurden,27 könnte dies auch bei Sidonius der Fall gewesen sein. Zumindest lobt Sidonius in einem Brief an eben jenen Hesperius dessen Lehrtätigkeit und deutet an, selbst durch eine vergleichbare Schule gegangen zu sein. Dies illustriert er mit einem Juvenal-Zitat: „derentwegen auch ‚ich selbst die Hand unter der Rute weggezogen‘ habe“.28 Seine Jugend verbrachte Sidonius jedoch nicht nur in Lyon, sondern vor allem aufgrund der Stellung seines Vaters als praefectus praetorio Galliarum vermutlich auch in der Präfekturhauptstadt Arles.29 Anfang der 450er Jahre heiratete Sidonius Papianilla, die Tochter des Eparchius Avitus, Oberhaupt einer der einflussreichsten gallischen Familien mit engen Beziehungen zur imperialen Spitze des Reiches.30 Für Sidonius war die Heirat ein folgerichtiger Schritt auf seinem Weg der klassischen Laufbahn im Dienste des Imperiums. Im Jahr 455 erklomm Avitus mit Hilfe des visigotischen Königs Theoderich II. den Kaiserthron. Sidonius begleitete seinen Schwiegervater nach Rom, doch auch sein Panegyricus zur Unterstützung des neuen Kaisers31 verhinderte nicht, dass die Herrschaft des Avitus nur von kurzer Dauer war.32 Auch dem Nachfolger seines Schwiegervaters, Majorian, widmete Sidonius ein Lobgedicht.33 Unter ihm hielt er den Posten eines comes – in einem seiner Briefe spricht der Kaiser ihn zumindest nach Sidonius’ Darstellung als comes34 an. Mit dem Sturz Majorians 461 zog sich Sidonius jedoch zunächst aus der Politik zurück und erfüllte sein otium durch literarische Beschäftigungen.35 Sidonius’ weltliche Karriere nahm wieder Fahrt auf, als er 468 einen Panegyricus auf den neuen Kaiser Anthemius in Rom hielt.36 Dies brachte ihm das Amt des

27 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 3, S. 316f., die folgenden Briefe in der Sammlung sind ebenfalls an Hesperius adressiert, thematisieren allerdings nicht mehr die Ausbildung der Söhne des Ruricius (vgl. Ruricius, Ep. [Demeulenaere 1985], I, 4, S. 318; 5, S. 319f.). 28 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 10, 1, S. 33: propter quam nos quoque subduximus ferulae manum. Übers. in Köhler 2014, S. 61; Juvenal, Sat. (Willis 1997), I, 15, S. 1. Vgl. zur Ausbildung des Sidonius außerdem Stevens 1933, S. 3–12. Kaufmann 1995, S. 44–46 mit weiterer Literatur zum ‚gallo-römischen Unterricht‘. 29 Vgl. Harries 1994, S. 47–53. In Arles wurde Sidonius im Haus des Eusebius (vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 602) gemeinsam mit anderen Schülern unterrichtet (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], IV, 1, 3, S. 52f.). Außerdem wird in Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), IX, 312f., S. 225 der grammaticus Hoenius (vgl. Heinzelmann 1982, S. 626) als Lehrer erwähnt. 30 Vgl. Stevens 1933, S. 19f. 31 Vgl. Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), VI u. VII, S. 202–218. Vgl. zur Panegyrik als Form der politischen Kommunikation und zu Sidonius’ Vorbildern auch Gillett 2012. 32 Vgl. Stevens 1933, S. 19–35; Harries 1994, S. 54–81. 33 Vgl. Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), IV u. V, S. 187–202. Zur Beziehung Majorians zur gallischen Oberschicht nach dem Sturz des Avitus vgl. vor allem Mathisen 1979a; zuletzt auch Salzman 2017. 34 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 11, 13, S. 92. 35 Vgl. Stevens 1933, S. 60; Harries 1994, S. 103. 36 Vgl. Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), I u. II, S. 173–186.

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praefectus urbi ein – wie er selbst schreibt, „mit Christi und meines Griffels Hilfe“.37 Nach seinem Aufenthalt in Rom kehrte er jedoch nach Gallien zurück und ließ seine weltliche Laufbahn hinter sich. 469 oder 47038 wurde er zum Bischof von Clermont geweiht. Sidonius’ Schriften kommentieren diesen Kurswechsel nicht eindeutig, so dass seine Motivation zu diesem Schritt im Dunkel bleibt.39 Im Jahr 469 gab Sidonius außerdem seine Carmina heraus, die neben jene Panegyrici traten, die der Öffentlichkeit bereits bekannt waren.40 Sidonius’ erste Jahre als Bischof waren allerdings von weltlichen Bedrängnissen geprägt. Ab 471 belagerten die Visigoten unter König Eurich wiederholt Clermont und versuchten, ihr bisheriges Machtgebiet auszuweiten.41 Unterstützt durch die Burgunder und gemeinsam mit seinem Schwager Ecdicius, dem Sohn des Avitus und magister militum,42 leistete der Bischof bis 475 erbitterten Widerstand und zählte zu den prominentesten Gegnern Eurichs.43 Die Abtretung der Auvergne durch Kaiser Julius Nepos, vereinbart in einem Vertrag mit dem visigotischen Herrscher Eurich, konnte Sidonius jedoch nicht verhindern.44 Seine Haltung im Kampf gegen die Visigoten führte im Gegenteil dazu, dass Eurich den feindlich gesinnten Bischof zunächst ins Exil verbannte. Sidonius verbrachte knapp zwei Jahre auf der Festung Livia in der Nähe von Carcassonne.45 Offensichtlich war er jedoch bald bereit, seine Feindschaft mit Eurich zu begraben. Freunde am Hof des visigotischen Königs, wie dessen Ratgeber Leo von Narbonne und Lampridius,46 setzten sich für Sidonius und eine Aussöhnung mit Eurich ein.47 Die Gnade des Königs, möglicherweise begünstigt durch einen 37 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 9, 8, S. 80: cum ad praefecturam sub ope Christi stili occasione pervenerim. Übers. in Köhler 2014, S. 30. Vgl. zu Sidonius’ Amtszeit in Rom Stevens 1933, S. 96–107; Harries 1994, S. 143–166. 38 Vgl. Kaufmann 1995, S. 54 f. mit Anm. 71. 39 Vgl. aber die Spekulationen über die Hintergründe von Sidonius’ Schritt bei Stevens 1993, S. 113–129; Harries 1994, S. 169–186 und zuletzt Gotoh 1997. 40 Vgl. Stevens 1933, S. 108; Harries 1994, S. 3–7. 41 Vgl. zuletzt Delaplace 2012; Delaplace 2015, S. 238–281, die die Auseinandersetzung vor allem als Stellvertreterkampf gallischer Fraktionen zwischen Heermeistern, römischen Kaisern, Visigoten und Burgundern deutet, bei dem es vor allem um Einfluss in Italien ging. 42 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 594; Kaufmann 1995, Nr. 31, S. 297–299. 43 Zu Sidonius’ Auseinandersetzung mit den Visigoten vgl. Stevens 1933, S. 139–160; Harries 1994, S. 224–238. Vgl. auch Jordanes’ Bericht zu Ecdicius’ Kampf Jordanes, Get. (Mommsen 1882), XLV, 240 f., S. 119f. 44 Sidonius’ Reaktion auf den Friedensvertrag – ausgehandelt von einer Delegation von vier gallischen Bischofskollegen – fällt entsprechend entrüstet aus: Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 7, S. 110f. 45 Vgl. Kaufmann 1995, S. 59 mit Anm. 86. Vgl. außerdem zur Zeit des Exils Harries 1994, S. 238–242. 46 Vgl. zu Leo: Heinzelmann 1982, 2, S. 635; Kaufmann 1995, Nr. 60, S. 317f. Zu Lampridius: siehe Anm. 26 oben. 47 Vgl. Sidonius’ Brief an Leo von Narbonne mit dem Dank für dessen Unterstützung Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 3, 1, S. 127.

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Panegyricus, den er auf Eurich verfasst hatte,48 erlaubte Sidonius, Ende 476 oder Anfang 477 nach Clermont und auf seinen Bischofsstuhl zurückzukehren. So verbrachte Sidonius seinen Lebensabend unter visigotischer Herrschaft. Im Jahrzehnt zwischen 480 und 490 muss Sidonius gestorben sein, doch auch hier sind die Nachrichten, die sich aus seinem Werk erschließen lassen, spärlich, so dass Sidonius’ genaues Todesjahr nicht zu ermitteln ist.49 Im Folgenden soll vor allem Sidonius’ Briefsammlung analysiert werden, daher sei kurz auf ihre Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte eingegangen. Die Briefsammlung enthält knapp 150 Briefe, die mutmaßlich in einem Zeitraum zwischen 455 und 482 entstanden und in insgesamt neun Büchern von Sidonius zusammengestellt wurden. Seine Korrespondenz richtete sich vornehmlich an Standesgenossen in ganz Gallien. Mit letzter Sicherheit sind die Entstehungsgeschichte und die genauen Editionsjahre der Bücher nicht zu rekonstruieren.50 Die Bücher I bis VII sind jedoch offensichtlich als Einheit konzipiert. Sie beginnen mit einem Widmungsbrief an Sidonius’ Freund Constantius51 und enden auch mit einem solchen, der mit dem Vergil-Zitat anfängt: „‚Mit dir habe ich begonnen, mit dir will ich enden.‘“52 Zudem blickt Sidonius im ersten Brief des neunten und letzten Buchs auf die Gesamtsammlung zurück und spricht in diesem Zusammenhang von einem Prolog (gemeint ist der erste Brief des ersten Buches), der drei Epilogen (die jeweils letzten Briefe der Bücher VII, VIII und IX) gegenüberstehe,53 was die ursprünglich geplante Abgeschlossenheit der Bücher I bis VII andeutet.54 Das Konvolut der Bücher I bis VII wurde wahrscheinlich um 477/78 nach Sidonius’ Rückkehr aus dem Exil in Clermont fertiggestellt. In einem Brief an Leo von Narbonne im vierten Buch ist von der Beendigung der „Ausgabe meiner Briefbücher“55 die Rede, an

48 Von Bordeaux aus schickt Sidonius einen Brief mit dem Gedicht an Lampridius, vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 9, S. 135–137. 49 Vgl. Kaufmann 1995, S. 63f. Zu Sidonius’ Epitaph vgl. jüngst Furbetta 2015. 50 Vgl. zum Folgenden auch mit Hinweisen zu alternativen Datierungsversuchen der Forschung Mathisen 2013a, S. 224–231; außerdem Mratschek 2017, S. 312. 51 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 1, S. 36–38. Zu Constantius vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 587; Kaufmann 1995, Nr. 25, S. 294f. 52 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 18, 1, S. 124: A te principium, tibi desinet. Übers. in Köhler 2014, S. 242. Vgl. Vergil, Ecl. (Mynors 1969), VIII, 11, S. 20. 53 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 1, 2, S. 149: simplex principium, triplices epilogos. 54 Vgl. Harries 1994, S. 8 f. 55 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 22, 1, S. 72: Hesperius [. . .] praecipere te dixit, ut epistularum curam iam terminatis libris earum converteremus ad stilum historiae. Übers. in Köhler 2014, S. 136. Siehe zu Leos Aufforderung sich in der „Geschichtsschreibung“ zu versuchen auch 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ mit Anm. 469 unten.

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denen er wohl bereits während seines Exils arbeitete, aus dem heraus er besagten Brief an Leo schrieb.56 Dabei ist es freilich nicht ausgeschlossen, dass einzelne Bücher (oder Kombinationen mehrerer Bücher) schon vor 477 unter den Bekannten des Sidonius kursierten. Wenigstens für das erste Buch ist dies sogar sehr wahrscheinlich. Keiner der in ihm enthaltenen Briefe ist mit der Zeit nach 469 in Verbindung zu bringen,57 und in einem Brief – ebenfalls aus dem vierten Buch – an (Magnus) Felix58 rekurriert Sidonius auf einen libellus, der „ein wenig sorgfältiger stilisiert ist“59 und der mit Buch I identifiziert werden könnte, das damit wohl bereits 469 oder kurz darauf zirkulierte.60 Mathisen meint zwar, „there also seems no reason not to believe that the liber of the letter to Leo is not the same as the libellus of the letter to Felix, both referring to Books 1–7.“61 Allerdings liefert er im Gegenzug keinen Beleg, warum man in den beiden Briefen an eine äquipollente Bedeutung der Begriffe glauben sollte und hier mit libellus nicht doch das allein stehende Buch I (und/oder die Bücher II und III) gemeint ist. Tatsächlich schreibt Sidonius im Brief an Leo ja auch nicht von einem liber, wie Mathisen andeutet, sondern von libri im Plural,62 meint in diesem Fall also wohl wirklich eine Sammlung. Dass Sidonius die Summe der libri als libellus – als Büchlein – bezeichnen sollte, erscheint trotz aller Bescheidenheitspreziosität, die man ihm unterstellen mag, doch sehr fragwürdig. Zumal sich Sidonius im abschließenden Brief des siebten Buches, als er von einem libellus spricht, wohl nur auf dieses siebte Buch als Einzelband bezieht63 – unbenommen der intendierten Einheit der Bücher I bis VII, die im gleichen Brief deutlich wird.64 Er schreibt in jenem Zusammenhang denn auch von nur wenigen Briefen, die hastig ausgewählt und im libellus zusammengefasst wurden.65 Das Buch – später im Brief

56 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 22, 4, S. 73. 57 Vgl. Harries 1994, S. 7. 58 Vgl. Heinzelmann 1982, 1, S. 607; Kaufmann 1995, Nr. 42, S. 306–308. 59 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 10, 2, S. 61f.: excusatio istaec, etiamsi fuisset vera, transierat, quia post terminatum libellum, qui parum cultior est, reliquas denuo litteras usuali, licet accuratus mihi melior non sit, sermone contexo; non enim tanti est poliri formulas editione carituras. Übers. in Köhler 2014, S. 115. 60 Harries 1994, S. 10 geht davon aus, dass zusätzlich zu Buch I auch noch Buch II gemeint sein könnte. Köhler 2014, S. 115 mit Anm. 2 folgt wohl Anderson 1965, S. 101 mit Anm. 2 in der Annahme, es handle sich hier um die Bücher I bis III. 61 Mathisen 2013a, S. 228. 62 Siehe Anm. 55 oben. 63 Vgl. Köhler 2014, S. 242 mit Anm. 1. 64 Siehe Anm. 52 oben. 65 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 18, 1, S. 124 f.: nam petitum misimus opus raptim electis exemplaribus, quae ob hoc in manus pauca venerunt, quia mihi nil de libelli huiusce conscriptione meditanti hactenus incustodita nequeunt inveniri. sane ista pauca, quae quidem et levia sunt, celeriter absolvi.

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allerdings wieder liber – solle zudem habilis sein.66 Damit ist wohl kaum das umfangreiche Konvolut der Bücher I bis VII gemeint.67 Mit diesen Referenzen auf Einzelbände innerhalb der Briefsammlung ist auch Mathisens Argument falsifiziert, „that none of them [die Bücher II bis VII] includes any internal reference, such as a dedicatory or cover letter, to such circulation“,68 das mit Ausnahme von Buch I getrennt zirkulierende Bücher oder weitere größere Zusammenstellungen vor 477 bezweifelt.69 Auf Bitten von Freunden blieb es allerdings nicht bei der Edition von nur sieben Büchern mit Briefen,70 sondern es folgten noch ein achtes und ein neuntes Buch. Klar ist, dass beide Bücher nacheinander und nach dem Konvolut von 477/78 zusammengestellt wurden. In beiden Büchern finden sich Referenzen auf die Sammlung der Bücher I bis VII. Im Widmungsbrief des achten Buches schreibt Sidonius von seiner Absicht, seine epistularum series durch einen weiteren Band ergänzen zu wollen.71 In einem weiteren Brief spricht er von den Büchern I bis VII als volumina seines opusculum.72 Auch zur Eröffnung des neunten Buches erwähnt Sidonius wieder sein opusculum.73 Damit sind, wie es scheint, diesmal nicht nur das Briefkorpus von I bis VII, sondern auch schon die Erweiterung des Buchs VIII gemeint, so heißt es, der liber nonus octo superiorum voluminibus accrescat.74 Ähnliches findet sich auch im letzten Brief des neunten Buches, wo erneut betont wird, dass der nonus

66 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 18, 2, S. 125: pariter et censui librum, quem lector delicatissimus desiderares, et satis habilem nec parum excusabilem fore, si, quoniam te sensuum structurarumque levitas poterat offendere, membranarum certe fascibus minus onerarere. 67 Auch im neunten Buch erwähnt Sidonius einen libellus und meint damit wohl erneut ein einzelnes Buch aus seiner Sammlung, das durch die Hände des Adressaten ging (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], IX, 11, 1, S. 159: propter libellum, quem non ad vos magis quam per vos missum putastis). Wenige Zeilen später schreibt er dann vom Büchlein als ipsum volumen im Kontext seines opus (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], IX, 11, 2, S. 159f.: fateor tamen in voluminis ipsius operisque reseratu illam mihi fuisse plus oneri quam praetenditis caritatem). Schon Loyen 1970, S. XLVI sieht libellus, wenn es um die Edition der Briefe geht, stets auf einen Einzelband bezogen. 68 Mathisen 2013a, S. 226. 69 So zuvor Amherdt 2001, S. 27 f. für Buch IV sowie Stevens 1933, S. 167–174 und Loyen 1970, S. XLVI-XLIX für Einzelzirkulationen; siehe außerdem Anm. 60 oben. Auch die nugae auf chartulae aus Sidonius’ Feder, mit denen sich der Adressat eines Briefes aus dem dritten Buch sein otium erfüllt hat (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], III, 14, 1, S. 51), könnten auf einzelne Briefbände verweisen. 70 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 1, S. 126; IX, 1, S. 149f. 71 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 1, 1, S. 126: itaque morem geremus iniunctis, actionem tamen stili eatenus prorogaturi, ut epistularum seriem nimirum a primordio voluminis inchoatarum in extimo fine parvi adhuc numeri summa protendat, opus videlicet explicitum quodam quasi marginis sui limbo coronatura. Später im Brief bezieht sich Sidonius auf das Konvolut der Bücher I bis VII als volumen (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 1, 2, S. 126). 72 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 2, S. 130. Vgl. dazu Kaufmann 1995, S. 165 f. mit Anm. 459. 73 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 1, 2, S. 149. 74 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 1, 1, S. 149.

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libellus mit den ceteri octo verbunden werden solle (copularetur).75 Wann genau die beiden abschließenden Bände zusammengestellt wurden, lässt sich kaum mit Exaktheit rekonstruieren. Gemeinhin wird angenommen, das achte Buch sei spätestens 480 abgeschlossen gewesen und das neunte um 482.76 Auch wenn das epistolographische Werk des Sidonius Apollinaris also vermutlich in mehreren Editionsphasen entstand,77 so darf dennoch kein Zweifel daran bestehen, dass es zumindest in den Augen seines Urhebers eine Einheit darstellte.78 Nicht nur, dass das Korpus der Bücher I bis VII deutlich durch Prolog und Epilog gerahmt ist, sondern auch die Tatsache, dass die beiden nachfolgenden Bücher VIII und IX ausdrücklich als einem Gesamtwerk angehörig gedacht werden sollten, belegt dies. So heißt es zunächst, das achte Buch solle dem vorhergehenden Konvolut der Bände I bis VII nachfolgen, um es „sozusagen mit einem gewissen Saum an seinem Rand zu krönen“ (quasi marginis sui limbo coronatura).79 Später dann im letzten Buch schreibt Sidonius in Bezug auf die Sammlung der nun insgesamt neun Bücher von materia una,80 angefügt werde nun an das achte Buch.81 In Sidonius’ eigenen Worten wird deutlich, dass die Editionsarbeit auch eine Redaktion seiner Brieftexte beinhaltete. So schreibt er etwa schon im ersten Brief, dass er sich die „Abschriften noch einmal vorgenommen und sie überarbeitet habe“ (retractata exemplaria enucleataque).82 Sogar seinen Adressaten Constantius bat er

75 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 16, 1, S. 170. Vgl. insgesamt auch jüngst van Waarden 2016, S. 32–40 mit dem Versuch einer semantischen Interpretation von liber, libellus etc. bei Sidonius. 76 Vgl. die Spekulation bei Mathisen 2013a, S. 230 f. 77 Möglich ist natürlich auch, die entsprechenden Hinweise innerhalb der Briefsammlung als „literarische Fiktion“ (Zelzer 1995, S. 542) zu deuten, durch die Sidonius verschleiern wollte, dass er tatsächlich alle neun Bücher zeitgleich zusammengestellt hatte. Allerdings bleibt offen, warum Sidonius seine angeblich so „überdeutliche Betonung der Publikation in Raten“ (Zelzer 1995, S. 549) nicht strukturierter und einfacher nachzuvollziehen formuliert hat (siehe die umständlichen Rekonstruktionsversuche oben), wenn sie schon vollständig seiner Fantasie entsprungen sein soll. Dem kritischen Blick vermag zudem der mögliche Anlass für Sidonius’ „Fiktion“ nicht standzuhalten. Zelzer 1995, S. 549 vermutet „einen raffinierten Schachzug“, Sidonius könne so „offen seine eigenen Urteile publizieren, ohne es sich mit dem neuen Herrscher des Arvernerlandes zu verscherzen.“ Der gemeinte visigotische König Eurich dürfte jedoch kaum zur intendierten Leserschaft der Briefsammlung gehört haben und selbst wenn ihm der Inhalt zu Ohren gekommen wäre, er daran Anstoß genommen und Vorwürfe gegenüber Sidonius erhoben hätte, dann hätte ihn wohl kaum eine doch etwas lahme Entschuldigung des Bischofs von Clermont besänftigt, es handle sich ja lediglich um alte Briefe und Veröffentlichungen, denn schließlich hätte dies ja nichts an ihrer aktuellen Brisanz geändert oder den Ärger des Herrschers über sie irgendwie zerstreuen können. 78 Vgl. Gibson 2013; van Waarden 2016, S. 27–31. 79 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 1, 1, S. 126. 80 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 1, 2, S. 149. 81 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 1, 4, S. 149: nos vero, si quod exemplar manibus occurrerit, libri marginibus octavi celeriter addemus. Vgl. außerdem Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 16, S. 170. 82 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 1, 1, S. 36. Übers. in Köhler 2014, S. 3.

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um Korrekturen (defaecandas [. . .] limandasque)83 – wie ernst auch immer es ihm damit gewesen sein mag. An eine Redaktion mag man auch beim libellus aus dem zehnten Brief des vierten Buches denken, der „ein wenig sorgfältiger stilisiert ist“.84 Bei der Auswertung muss also beachtet werden, dass die Briefe im Vergleich zu ihren eventuell tatsächlich verschickten Vorlagen möglicherweise verändert und angepasst wurden. Für die Bücher I bis VII könnte dies, sollten einige von ihnen bereits zuvor kursiert sein, sogar mit der Sammeledition von 477/78, ein zweites Mal der Fall gewesen sein, die eine erneute Möglichkeit zur Redaktion eröffnete. Im Zusammenhang mit der Briefsammlung des Sidonius sind Begriffe wie ‚Publikation‘, ‚Herausgabe‘ und ‚Veröffentlichung‘ mit Vorsicht zu verwenden und nicht im modernen Sinne zu verstehen. Die Briefsammlung zirkulierte im ‚privaten‘ Kreis der römischen Oberschicht Galliens und wurde von Hand zu Hand weitergegeben. Gut möglich, dass die Bekannten des Sidonius eigene Kopien der Briefsammlung oder von Teilen anfertigen ließen, die natürlich wiederum auch verliehen werden konnten, so dass weitere ‚Ausgaben‘ auch unterschiedlichen Zuschnitts entstanden, die sich nach und nach verbreiteten.85 Die Schriften des Sidonius Apollinaris sind nicht autograph oder in einer zeitgenössischen Abschrift überliefert. Die modernen Editionen, Textausgaben, Übersetzungen und Teilkommentare der Briefe des Sidonius86 stützen sich alle in weiten Teilen auf ein einzelnes Manuskript aus der Karolingerzeit.87 Dieses wiederum scheint auf einen Archetypus zurück zu gehen, der dem spätantiken Text sehr nahe kam.88

83 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 1, 3, S. 36. Vgl. zur captatio benevolentiae Schwitter 2017, S. 67. 84 Siehe Anm. 59 oben. 85 Vgl. mit Belegen für diese Praxis Mathisen 2013a, S. 224f., Anm. 12. Zur Art und Weise der Verbreitung vgl. außerdem Schipke 2013, S. 166f., 176f. 86 Ohne Berücksichtigung kleinerer Beiträge sind dies Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887); Sidonius, Ep. (Mohr 1895); Dalton 1915a; Dalton 1915b; Anderson 1956; Anderson 1965; Loyen 1960; Loyen 1970a; Loyen 1970b; Sidonius, Ep. (Köhler 1995); Bellès 1997; Bellès 1998; Bellès 1999; Amherdt 2001; van Waarden 2010; Köhler 2014; Giannotti 2016; van Waarden 2016. 87 Zur Überlieferung und Editionsgeschichte vgl. zuletzt Köhler 1995, S. 25–30; van Waarden 2010, S. 34; Mratschek 2017, S. 310; Stadermann 2017, S. 79, Anm. 170. 88 Vgl. Köhler 1995, S. 25f., 28 mit Anm. 144. Zur zeitgenössischen Verbreitung siehe bereits Anm. 7 oben. Lediglich aufgrund der leichteren Verfügbarkeit wird in dieser Arbeit in erster Linie auf die Edition Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887) zurückgegriffen (für das erste Buch Sidonius, Ep. [Köhler 1995] mit kritischer Relektüre der wichtigsten Handschriften), die geringfügig bessere Lesung von Sidonius, Ep. (Mohr 1895) wurde jedoch an entscheidenden Stellen konsultiert, mit dem Ergebnis, dass sich in diesen Fällen keine Sinn verzerrenden Unterschiede zwischen den beiden Textfassungen ergaben (vgl. zur Editionslage Köhler 1995, S. 25–30).

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2.1.2 Ruricius von Limoges Die Biographie des Ruricius von Limoges ist noch lückenhafter als die seines Freundes Sidonius Apollinaris. So gut wie alle Eckdaten seines Lebens müssen geschätzt werden. Ruricius wurde vermutlich um 440 geboren.89 Seine literarische Ausbildung erhielt er möglicherweise ähnlich wie seine eigenen Söhne durch einen Hauslehrer.90 Um 460 heiratete Ruricius Hibernia, zu deren Vorfahren wohl auch der ehemalige Kaiser Eparchius Avitus gehörte, der Schwiegervater des Sidonius Apollinaris.91 Aus der Ehe gingen mehrere Söhne hervor. In den 470er Jahren wandte sich Ruricius der geistlichen Laufbahn zu und suchte spirituellen Rat bei Bischof Faustus von Riez,92 möglicherweise vermittelt durch Sidonius. Wann Ruricius schließlich zum Bischof von Limoges aufstieg, das unter visigotischer Herrschaft stand, ist ebenfalls unklar. Seine Ordination erfolgte frühestens 485 und das Amt bekleidete er mindestens bis ins Jahr 506, aus dem seine letzten überlieferten Briefe stammen, die sich auf das kurz zuvor stattgefundene Konzil von Agde beziehen.93 Dieses Jahr wäre auch der früheste Zeitpunkt seines Todes, möglich ist aber auch, dass ihn dieser erst 510 ereilte.94 Das Überleben von insgesamt 83 Briefen aus Ruricius’ Korrespondenz ist einer einzelnen Handschrift zu verdanken. Im Codex Sangallensis 190 – vermutlich entstanden im späten 8. oder frühen 9. Jahrhundert – sind neben anderen Schriften die Briefe des Ruricius in zwei Büchern zu 18 und 65 sortiert.95 Mit guten Gründen vermutet Ralph Mathisen, dass das erste Buch der Briefe zunächst losgelöst von dem ihm nachfolgenden Band zusammengestellt wurde (vielleicht sogar von Ruricius selbst). Dafür könnte die Anordnung der Briefe sprechen: Die ersten beiden Briefe an Faustus von Riez, in denen Ruricius’ Aufnahme einer klerikalen Laufbahn thematisiert wird,96 finden ihre Entsprechung im letzten Brief an seinen Sohn Ommatius,97 der wie sein Vater ebenfalls den geistlichen Weg gewählt hat,98 was

89 Vgl. hierzu und zum Folgenden zuletzt Mathisen 1999, S. 19–31. 90 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 3, S. 316f. 91 Weitere Spekulationen zu Ruricius’ Verwandtschaftsverhältnissen finden sich bei Mommaerts/ Kelley 1992. 92 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 1, S. 313f.; 2, S. 314–316. Zu Faustus von Riez vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 607; Kaufmann 1995, Nr. 41, S. 304–306; Weigel 1938. 93 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 33, S. 371f.; 35, S. 374f. 94 Vgl. Mathisen 1999, S. 44–49. 95 Für eine Besprechung des Manuskripts vgl. Mathisen 1999, S. 63–76 und zuletzt Mathisen 2017, S. 344–349; vgl. auch zusammenfassend Müller 2013, S. 429, Anm. 23. Mit Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985) liegt die aktuellste Edition vor, die auch hier Verwendung findet. 96 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 1, S. 313f.; 2, S. 314–316. 97 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 659. 98 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 18, S. 331.

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das erste Buch gleichsam rahmt. Zudem scheint keiner der 18 Briefe aus der Zeit vor 490 zu stammen, was vermuten lässt, dieser Teil der Sammlung sei bereits separat zirkuliert.99 Das zweite Buch hat mit seinen 65 Briefen eine ungewöhnliche Länge, was schon der einfache Vergleich mit dem Umfang der Briefbücher des Sidonius zeigt. Doch auch hier finden sich nach Mathisen gewisse Merkmale eines Auswahl- und Ordnungsprozesses. Die Anordnung könnte auf Dossiers zurückgehen, die Briefgruppen aufgrund chronologischer und/oder inhaltlicher Merkmale ebenso wie nach Adressatengruppen, Begrüßungs- und Abschiedsformeln organisierten.100 Dies führt Mathisen zu der Vermutung: „Ultimately, it may be that the mammoth second book was assembled after Ruricius’ death, with the compiler bringing together several small dossiers that were found in Ruricius’ desk.“101 In einigen Beziehungen verhält sich die Ruricius-Sammlung komplementär zu der des Sidonius. Sidonius stellte seine Briefe selbst zusammen und ließ sie unter seinen Freunden zirkulieren. Ruricius folgte diesem Beispiel, wenn überhaupt, nur im Fall des ersten Buches; vermutlich wurde der größte Teil seines epistolographischen Werkes erst nach seinem Tod kompiliert. Ruricius’ Herkunft scheint nicht ganz so vornehm wie die des Sidonius gewesen zu sein. Zudem liegen seine Tätigkeiten vor seiner Bischofsweihe im Dunkeln, während sein Amtsbruder höchste weltliche Würden erlangt hatte, bevor er Bischof von Clermont wurde. Anders als Sidonius stieg Ruricius erst als Teil einer jüngeren Generation in einer Welt unter visigotischer Herrschaft zum kirchlichen Amtsträger auf. Ruricius’ überlieferte Korrespondenz richtete sich eher an einen regionalen Kreis, sie enthält kaum Anspielungen auf die politische Lage, anders als bei Sidonius der Fall, dessen Briefe außerdem nach ganz Gallien und über die Provinzgrenzen hinaus gingen.102

2.1.3 Avitus von Vienne Einer der berühmtesten gallischen Bischöfe seiner Zeit war Alcimus Ecdicius Avitus und auch von ihm ist eine Reihe von Briefen überliefert. Wie Sidonius und Ruricius stammte Avitus aus einem vornehmen gallischen Geschlecht.103 Doch ganz ähnlich wie im Fall des Ruricius von Limoges ist über das Leben des Avitus von Vienne kaum etwas bekannt. Seine Weihe zum Bischof von Vienne fand wohl Mitte der 490er Jahre statt.104 Neben seiner Tätigkeit als Bischof im

99 Vgl. Mathisen 1999, S. 56f. 100 Vgl. Mathisen 1999, S. 57–61. 101 Mathisen 1999, S. 61. 102 Einen thematischen Überblick lieferte zuletzt Mathisen 2017. 103 Vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 4f. 104 Vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 7, Rosenberg 1982, S. 5 mit Anm. 11.

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burgundischen Herrschaftsgebiet ist er vor allem als Ratgeber des Königs Gundobad und seines Sohnes und Nachfolgers Sigismund berühmt. Im Namen beider Herrscher verfasste er Briefe, die in seiner Briefsammlung überliefert sind. Avitus’ Todesjahr kann frühestens 517 gewesen sein, in diesem Jahr nahm er am Konzil von Epao teil, ist danach jedoch nicht mehr belegt.105 Auch im Falle der Briefsammlung des Avitus von Vienne ist die handschriftliche Überlieferungslage ungünstig und verworren.106 Es gibt zwar einen Papyrus aus dem 6. Jahrhundert, allerdings ist dieser – ebenso wie andere Zeugnisse – fragmentarisch,107 so dass der Nachwelt die Briefsammlung kaum vollständig erhalten geblieben sein dürfte.108 Die Anordnung der Briefe in den Handschriften scheint keinem systematischen Prinzip zu folgen, allenfalls sind bisweilen einzelne Arrangements von Briefen etwa thematisch oder nach dem Empfänger gruppiert auszumachen.109 In Anbetracht dieses Befundes erscheint es denkbar, dass die älteren Handschriften auf vergleichsweise ungeordnete ‚Loseblattsammlungen‘ aus dem Nachlass des Avitus zurückgehen und von einem solchen Stapel abgeschrieben wurde.110 Damit wäre die Briefsammlung des Avitus noch einmal auf andere Art und Weise zustande gekommen als die Briefsammlungen des Ruricius und des Sidonius. Unter Avitus’ Korrespondenz finden sich zahlreiche Briefe an die burgundischen Könige Gundobad und Sigismund, genauso wie gleichsam offizielle Briefe, die er in ihrem Namen verfasste. Zu seinen Kommunikationspartnern zählten so etwa auch der oströmische Kaiser, der Patriarch von Konstantinopel, die römischen Päpste, gallische und italische Bischofskollegen, mit denen er religiöse und kirchenpolitische Fragen diskutierte, und Laien.

2.1.4 Gallien im 5. Jahrhundert Vor allem im Rückblick scheinen sich schon zu Beginn des 5. Jahrhunderts einschneidende Veränderungen in Gallien anzukündigen.111 Anfang 407 versagte

105 Vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 9f., insgesamt zuletzt auch Heil 2011, S. 30–35, die den spärlichen Informationen aber auch nichts Neues hinzufügen kann. 106 Vgl. die jüngste ausführliche Diskussion zur Überlieferung im Rahmen der Übersetzung von Shanzer/Wood 2002, S. 28–57; zuletzt auch McCarthy 2017, S. 358f. Als Textgrundlage dient im Übrigen dort wie in dieser Arbeit die MGH-Edition Avitus, Ep. (Peiper 1883). Vgl. außerdem zur Briefsammlung des Avitus Burckhardt 1938. 107 Vgl. auch die Vermutungen zur zeitgenössischen Verwendung des Papyrus bei Wood 1993b. 108 Wood 1993b, S. 32: „As it survives, the Avitus collection is unquestionably incomplete.“ 109 Vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 97–39; ergänzend McCarthy 2017, S. 359. 110 Vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 56f. 111 Vgl. zum folgenden schematischen Abriss die informationsreichen Überblickswerke zur sog. Völkerwanderung (zum Begriff, seiner Tradition und Problematisierung vgl. Goffart 1989c; Borgolte 2010; Halsall 2014; Meier 2016; Steinacher 2017, S. 37–41) jüngeren Datums Postel 2004; Heather

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die römische Grenzverteidigung am Rhein, die zuvor weitestgehend erfolgreich unwillkommene Eindringlinge vom gallischen Kernland und dem Vordringen nach Hispanien und Italien abgehalten hatte. Vandalische, suebische und alanische Gruppenverbände überquerten am letzten Tag des Jahres 406 den gefrorenen Rhein bei Mainz und zogen plündernd durch die Region.112 In einem Brief an einen Freund schildert der Kirchenvater Hieronymus das Unglück – im Rückblick den katastrophischen Charakter der Ereignisse möglicherweise etwas übertreibend.113 Unsichere Verhältnisse in Gallien waren die Folge und der Zugriff des Imperiums auf die wichtigen (fiskalischen) Strukturen der Provinzen wurde zunehmend schwächer.114 Der Usurpator Konstantin (aus Britannien übersetzend) konnte sich kurzzeitig unter Duldung Ostroms – und schließlich auch 409 zum Mitkaiser erhoben – in Gallien niederlassen. Dort hatte er sich jedoch u. a. mit den nach wie vor rührigen Kriegergruppen auseinanderzusetzen und wurde schließlich von Constantius, dem Heerführer des weströmischen Kaisers Honorius, gestürzt. 115 Während Alarichs Visigoten 410 Rom plünderten,116 erhob sich in Gallien mit Jovinus der nächste Usurpator, der ähnlich wie Konstantin recht schnell regionale Unterstützung der römischen Oberschicht erfuhr.117 Nach anfänglichen Erfolgen

2005; Pohl 2005; Ward-Perkins 2005; Wickham 2005; Rosen 2006; Halsall 2007; Heather 2009; Maas (Hrsg.) 2015; dort finden sich auch weitere Hinweise zu Literatur und Quellen, die über Gallien hinausgreifen oder spezielle Themen ausführlicher behandeln. Mit der Konzentration auf Gallien vgl. zuletzt konzise Becher 2011, S. 72–102. 112 Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1230, S. 80: Vandali et Halani Gallias traiecto Rheno ingressi II Kal. Ian. Vgl. auch Prosp. Cont. Hav. (Mommsen 1882), 406, S. 299. Denkbar ist auch, dass Prosper sich auf 405/06 bezieht, wie Kulikowski 2000, S. 325–331 aufgezeigt hat. 113 Hieronymus, Ep. (Hilberg 1918), 123, 15, S. 92: innumerabiles et ferocissimae nationes uniuersas Gallias occuparunt. quicquid inter Alpes et Pyrenaeum est, quod oceano Rhenoque concluditur, Quadus, Uandalus, Sarmata, Halani, Gypedes, Heruli, Saxones, Burgundiones, Alamanni et – o lugenda res publica! – hostes Pannonii uastauerunt. etenim Assur uenit cum illis. Mogontiacus, nobilis quondam ciuitas, capta atque subuersa est et in ecclesia multa hominum milia trucidata, Uangiones longa obsidione finiti, Remorum urbs praepotens, Ambiani, Atrabatae extremique hominum Morini, Tornacus, Nemetae, Argentoratus translatae in Germaniam, Aquitaniae Nouemque populorum, Lugdunensis, et Narbonensis prouinciae praeter paucas urbes cuncta populata sunt, quas et ipsas foris gladius, intus uastat fames. non possum absque lacrimis Tolosae facere mentionem, quae ut hucusque non rueret, sancti episcopi Exsuperii merita praestiterunt. ipsae Hispaniae iam iamque periturae cotidie contremescunt recordantes inruptionis Cymbricae et, quicquid alii semel passi sunt, illae semper timore patiuntur. 114 Vgl. Zosimos, Hist. nov. (Mendelssohn 1963), VI, 5, 2f., S. 286f. 115 Vgl. Prokop, BV (Haury 1962), I, 2, 31, S. 316; 37f., S. 317; Prosp. Cont. Hav. (Mommsen 1882), 411, S. 300; Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1243, S. 84. Vgl. außerdem Ehling 1996. Zur Usurpation im 5. Jahrhundert vgl. Szidat 2010. 116 Vgl. die wohl berühmteste (indirekte) Reaktion Augustinus, De civitate Dei (Dombart/Kalb 1955), bes. I, 7, S. 6f. Zur vieldiskutierten Deutung und Tragweite des Ereignisses vgl. zuletzt u. a. Meier 2007; Meier/Patzold 2010; Lipps/Machado/von Rummel (Hrsg.) 2013. 117 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 9, S. 56.

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wurde er 413 jedoch von den Visigoten besiegt, die nun wieder als Verbündete des Honorius agierten.118 Spätestens zu diesem Zeitpunkt erlangten die Burgunder Foederatenstatus119 und wurden vermutlich am Oberrhein als Ersatz für die römischen Truppen angesiedelt.120 Ähnliches widerfuhr auch den Visigoten 418,121 nachdem sie erneut vom Kaiser abgefallen und zunächst nach Hispanien gedrängt worden waren. Honorius’ Heerführer Constantius holte sie schließlich nach Gallien zurück und siedelte sie in Aquitanica a Tolosa usque ad Oceanum122 an. Auch sie sollten vor allem die gallischen Grenzen schützen, man hoffte offenbar, ihr unstetes Verhalten durch einen Vertragsschluss zu beenden.123 Das etwas Paradoxe an dieser Entwicklung ist leicht auszumachen: Das Imperium war vor allem in Gallien nicht mehr in der Lage, seine Grenzen aus eigener Kraft wirkungsvoll gegen ‚barbarische‘ Gruppen zu verteidigen. Teile dieser Unruhestifter wurden schließlich angeworben, um die bedrohten Gebiete vor Eindringlingen abzuschirmen; so wurden aus Grenzverletzern Grenzschützer. Der Machtverfall der Zentrale wird an diesem Vorgang deutlich, von Italien und Konstantinopel aus betrachtet, wurde Gallien zunehmend peripherer. Zwar begann die Geschichte der gentes auf gallischem Boden und damit ihr Aufstieg zu maßgeblichen Akteuren nicht erst 418,124 aber vor allem im Rückblick stellte dieses Jahr mit der Ansiedlung der Visigoten in Aquitanien eine Zäsur im Prozess der Reichsbildung nicht-römischer Herrschaft dar – ein Prozess, der naturgemäß Auswirkungen auf alle Gesellschaftsschichten des Imperium Romanum hatte,125 insbesondere auf die römische Oberschicht in Gallien. Unabhängig davon, wie die Modalitäten der ‚Ansiedlung‘ realiter aussahen, ob es sich um Landzuweisungen (auf Kosten römischer Grundbesitzer) und Einquartierung

118 Vgl. Chron. Gall. (Mommsen 1882), 68f., S. 654. Zum Eindruck der Visigoten in Gallien vgl. Jordanes, Get. (Mommsen 1882), XXXI, 161, S. 100. 119 Vgl. Chrysos 1989; Heather 1997; Scharf 2001. 120 Vgl. Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1250, S. 86. Zur ersten Ansiedlung der Burgunder vgl. zudem Wood 2004a, S. 141f. 121 Vgl. ein Plädoyer für Sommer 419 bei Schwarcz 2001. 122 Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1271, S. 92: Constantius patricius pacem firmat cum Vallia data ei ad inhabitandum secunda Aquitanica et quibusdam civitatibus confinium provinciarum. Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 69, S. 19: Gothi intermisso certamine quod agebant per Constantium ad Gallias revocati sedes in Aquitanica a Tolosa usque ad Oceanum acceperunt. 123 Vgl. Burns 1992. Vgl. zur Programmatik gegenüber der römischen Bevölkerung auch Kulikowski 2001. 124 Vgl. etwa die lange Tradition gentiler Militärs, die sich über ihre Stellung in das Gesellschaftsgefügte einbanden, dazu Demandt 1989. Vgl. auch Krautschick 1989; Wirth 1997. 125 Vgl. dazu etwa auch das Auftreten von Bagauden-Gruppen – „rejecting Romanitas at the earliest opportunity“ (Heather 1999, S. 245). Zum genauen Profil und Hintergrund der Bagauden vgl. kontrovers vor allem van Dam 1985, S. 25–56; Drinkwater 1992; zuletzt Lambert 2013.

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handelte oder ob auf direktem oder indirektem Weg Steuern abgeführt wurden,126 die ‚Barbaren‘ waren unverrückbarer Teil der Lebenswirklichkeit der unmittelbar betroffenen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen und verfügten in ihren eigenen Angelegenheiten wie auch in Bezug auf die Kooperation mit den Römern in ihrem Gebiet über vergleichsweise große Autonomie.127 Ein letztes Aufflackern imperialer Potenz in Gallien ging vom Heermeister Aetius aus.128 Er verzeichnete in den 420er und 430er Jahren mit hunnischer Unterstützung militärische Erfolge gegen die erneut umtriebigen Visigoten,129 Franken,130 Alemannen131 und besonders die Burgunder,132 die schließlich 443 im Rhônetal angesiedelt wurden.133 Aetius war es auch, der mit Hilfe einer aus Galliern, Franken, Burgundern, Sachsen und Visigoten geschmiedeten Koalition134 Attilas Hunnen besiegen konnte, die 451 bis tief nach Gallien eingedrungen waren.135 Doch auf seinem Zenit stürzte der Stern des Aetius kurz darauf ab. Die Machtfülle des Heermeisters war den Kreisen um Valentinian III. und dem Kaiser selbst offenbar zu groß geworden, so dass er Aetius bei einer Audienz wohl 126 Vgl. Gaupp 1844, S. 394–399, der in Anlehnung an die Institution der hospitalitas von einer Landzuteilung ausging. Dem widersprachen Goffart 1980; Durliat 1988; Durliat 1997 und nochmals Goffart 2013, die eine Umverteilung von Steuergeldern wahrscheinlich machten; ablehnend Krieger 1992; Liebeschütz 1997. Wolfram 2004 vermutet zusammenfassend eine Mischform aus beidem. Vgl. außerdem Chrysos 1997; Schwarcz 2011. 127 Vgl. zur frühen Zusammenarbeit mit der römischen Oberschicht in den entstehenden Reichen, zu Akkulturations- und Transformationsprozessen u.a. Wolfram 1979; Wolfram 1983; Wickham 1984; Barnish 1988; Mathisen 1991a; Heather 1992; Nixon 1992; Schwarcz 1995; Pohl 1997; Mathisen/Sivan 1999; Scheibelreiter 1999; Heather 2000; Harrison 2002. 128 Zu Aetius vgl. Stickler 2002; Börm 2013, S. 64–93; Meier 2016, S. 58–61. 129 Vgl. Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1290, S. 98; Chron. Gall. (Mommsen 1882), 102, S. 658; etwas später Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 92, S. 21; erneut Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 112, S. 23; schließlich mit einem Friedensschluss: Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1338, S. 116; Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 117, S. 23; Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), VII, 297–309, S. 210f. 130 Vgl. Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1298, S. 102; Cassiodor, Chron. (Mommsen 1894), 1217, S. 156; außerdem Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 98, S. 22. Vgl. zudem zu den fränkischen Umtrieben in Mainz, Köln und Trier Salvian, De gubernatione Dei (Lagarrigue 1975), VI, 39, S. 388; Salvian, Ep. (Lagarrigue 1975), I, 5f., S. 78. 131 Vgl. Chron. Gall. (Mommsen 1882), 106, S. 658; Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 93, S. 22; Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), VII, 233, S. 209. 132 Vgl. Prosper Tiro, Chron. (Becker 2016), 1322, S. 108; Cassiodor, Chron. (Mommsen 1894), 1226, S. 156; Chron. Gall. (Mommsen 1882), 118, S. 660; Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 108, S. 22; 110, S. 23; Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), VII, 234f., S. 209; Merobaudes, Rel. (Vollmer 1905), II, 5–7, S. 11. 133 Zu den Umständen und den Problemen mit der Bestimmung des Siedlungsgebiets vgl. den Überblick bei Kaiser 2004b, S. 38–46; zuletzt Wood 2014, S. 387f. 134 Vgl. Jordanes, Get. (Mommsen 1882), XXXVI, 190f., S. 107f. 135 Zu den Quellen vgl. Barnish 1992. Vgl. jüngst mit teilweise neuen Bewertungen der kurz- und mittelfristigen Folgen für Gallien und das Imperium Maas (Hrsg.) 2015.

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eigenhändig ermordete.136 Diese Tat bekam allerdings auch Valentinian III. nicht gut, der kurz darauf der Rache zweier ehemaliger Gefolgsleute des Aetius zum Opfer fiel.137 In den darauffolgenden Wirren zeigte sich, dass die gentes, insbesondere die Visigoten, in Gallien vermehrt das Zünglein an der Waage waren. Doch auch der ‚gallische‘ Kaiser Eparchius Avitus, der laut seinem Schwiegersohn Sidonius Apollinaris vor allem vom visigotischen König Theoderich II. zur Annahme der Würde gedrängt wurde,138 blieb Episode.139 Wirkliches Profil erlangten auch seine Nachfolger nicht mehr.140 In Gallien verstärkten sich nun die sezessionistischen Tendenzen, nicht nur in Bezug auf die Herrschaftsgebiete der Visigoten, Burgunder und im Norden der Franken. Der Einfluss der Zentrale blieb schwankend oder war kaum noch vorhanden, so dass Gruppen und Akteure in Gallien weitestgehend souverän agieren konnten. So errichtete der vom Imperium abgefallene frühere römische Heermeister Aegidius im nördlichen Gallien eine Herrschaft, die wohl vor allem auf ihm treu ergebene Kämpfer gestützt war.141 Im gleichen Raum und wohl auf ähnliche Weise agierte der fränkische König Childerich142 und zumindest zu Anfang auch sein Sohn Chlodwig.143 In der Forschung sind im Zusammenhang mit diesen Akteuren die Bezeichnungen „warlords“ und „warlordism“ populär geworden,144 zu denen auch Personen wie Aegidius’ Sohn Syagrius,145 der römische comes Paulus und eventuell andere Anführer zu zählen sind, die wohl über kleinere Kampfverbände verfügten, die situationsweise zwischen den verschiedenen Lagern in Gallien wechselten.146

136 Vgl. Priscus, Frag. (Blockley 1983), 30, 1, 1–38, S. 326–238; Hydatius, Cont. Chron. Hier. (Mommsen 1894), 160, S. 27. 137 Vgl. Priscus, Frag. (Blockley 1983), 30, 1, 58–72, S. 330. 138 Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), VII, 504–511, S. 215: me pacem servare tibi vel velle abolere / quae noster peccavit avus, quem fuscat id unum, / quod te, Roma, capit; sed di si vota secundant, / excidii veteris crimen purgare valebit / ultio praesentis, si tu, dux inclite, solum / Augusti subeas nomen. quid lumina flectis? / invitum plus esse decet. non cogimus istud, / sed contestamur: Romae sum te duce amicus, / principe te miles. 139 Vgl. zu den Auswirkungen der kurzen Regentschaft des Avitus auf Gallien und die Oberschicht Mathisen 1979a; Mathisen 1991b; Heather 1992, S. 92f.; Henning 1999, S. 32–36, 122–134, 288–293; Mathisen/Sivan 1999, S. 17–19; Koch 2012, S. 105f. 140 Vgl. Börm 2013, S. 102–114. 141 Vgl. Priscus, Frag. (Blockley 1983), 39, 1, 1–6, S. 342. Vgl. zu Aegidius Henning 1999, S. 293–299. 142 Vgl. auch zum unklaren Verhältnis der Franken zu Aegidius Geary 1988, S. 80–82; Halsall 2007, S. 266–270; Becher 2011, S. 123–127. 143 Vgl. Becher 2011, S. 123–132, 144–152. 144 Vgl. MacGeorge 2002, S. 71–164; Jussen 2007; Jäger 2017. 145 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 27, S. 71f. Zu Syagrius vgl. auch Henning 1999, S. 300–303; Jäger 2017, S. 209–214. 146 Zu Paulus vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 18, S. 65. Vgl. außerdem Becher 2011, S. 128f.

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Der visigotische König Eurich ergriff schließlich die Gelegenheit beim Schopf und begann, sein Einflussgebiet auszuweiten.147 In mehreren aufeinanderfolgenden Jahren belagerte er Clermont in der Auvergne, die von der dortigen Bevölkerung mit Unterstützung der Burgunder verteidigt wurde.148 Damit waren der Süden und Norden Galliens jedoch für Rom praktisch verloren und die römische Oberschicht dort war auf sich allein gestellt. Dieser status quo wurde durch die offizielle Abtretung der Auvergne und Clermonts 475 bestätigt. Die römische Hilflosigkeit gipfelte schließlich in der Absetzung des Romulus Augustulus 476, die das verfassungsgeschichtliche Ende des weströmischen Kaisertums bedeutete.149 Nach Eurichs Tod 484 folgte ihm sein Sohn Alarich II., doch seine Herrschaft war geprägt durch zunehmenden fränkischen Druck, der 507 in der visigotischen Niederlage bei der Entscheidungsschlacht auf dem campus Vogladensis150 (sog. Schlacht von Vouillé) und damit im Ende der visigotischen Herrschaft in Gallien kulminierte.151 Das Reich der Burgunder indessen ist in dieser Phase schwer zu verfolgen:152 Mehrere Könige herrschten gemeinsam oder über nicht klar voneinander abgrenzbare Gebiete. Dabei scheinen die burgundischen Könige und Prinzen einen vergleichsweise engen Kontakt nach Italien gepflegt zu haben. Sie wurden des Öfteren zu Heermeistern berufen; möglicherweise fühlten sie sich stärker an ihren Foederatenstatus gebunden als etwa die Visigoten.153 Bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts hatte Gundobad die alleinige Herrschaft über die Burgunder von seinen Brüdern an sich gebracht, musste sich aber nun der Expansionslust von Chlodwigs Franken erwehren. Auch deswegen war er wohl um einen Ausgleich mit der römischen Bevölkerung in seinem Herrschaftsgebiet bemüht154 und stand vermutlich aus diesem Grund dem Übertritt seiner Söhne zur homousianischen Form des Christentums

147 Jordanes, Get. (Mommsen 1882), XLV, 237, S. 118: Euricus ergo, Vesegotharum rex, crebram mutationem Romanorum principum cernens Gallias suo iure nisus est occupare. 148 Vgl. zuletzt Delaplace 2015, S. 238–256, die das Vordringen der Visigoten vor allem in Zusammenhang mit der Konkurrenz um die Vorherrschaft in Italien zwischen Kaiser Anthemius und dem Heermeister Ricimer sowie später zwischen Julius Nepos und dem Heermeister und burgundischen König Gundobad setzt, bei dem Eurich auf kaiserlicher Seite gestanden habe (vgl. Delaplace 2015, bes. S. 246f.). 149 Die Absetzung und das Jahr 476 für sich genommen haben freilich in jüngerer Zeit berechtigter Weise an epochalem Stellenwert verloren, vgl. differenzierend u. a. Jarnut 1994a; Demandt 2009; Meier 2014. 150 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 37, S. 87. 151 Vgl. Mathisen/Sivan 1999, S. 51–62; Wolfram 2001, S. 195–197. 152 Vgl. Kaiser 2004b, S. 53f. 153 Vgl. zum römischen Einfluss auf die Burgunder Wood 1990; Wood 2003, bes. S. 255f.; Wood 2004a; Wood 2014, bes. S. 386f. 154 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 33, S. 81: Ipse [Gundobad] vero regionem omnem, quod nunc Burgundia dicitur, in suo dominio restauravit. Burgundionibus leges mitiores instituit, ne Romanos obpraemerent.

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nicht im Weg. Einer von ihnen, Sigismund, übernahm von ihm nach Gundobads Tod 516 die Herrschaft über das Gesamtreich,155 dessen Lage allerdings zunehmend kritisch wurde.156 Zur vorherrschenden Macht in Gallien entwickelten sich zum Ende des 5. und Beginn des 6. Jahrhunderts die Franken unter Chlodwig, der sich offenbar vor allem des Einflusses der gallischen Bischöfe bewusst war, wie indirekt Remigius’ von Reims briefliche Glückwünsche zur Übernahme der administratio der Belgica II und die Ratschläge dokumentieren, die er ihm mit auf den Weg gab.157 Seine Taufe zeigte der Frankenkönig wohl den gallischen Bischöfen auch außerhalb seines eigenen Reiches an.158 In der Briefsammlung des Avitus ist zumindest ein Antwortschreiben auf diese Bekanntmachung enthalten,159 das ebenfalls zu belegen scheint, dass sowohl Chlodwig als auch Teile der alten römischen Oberschicht dabei waren, einen gemeinsamen modus vivendi in Gallien zu erarbeiten.160 All diese Entwicklungen erlebten die gallischen Bischöfe Sidonius, Ruricius und Avitus teilweise hautnah mit. In unterschiedlichem Maße und in unterschiedlichen Formen fanden sie Eingang in oder hatten Einfluss auf ihre briefliche Korrespondenz. Auch wenn die Briefsammlungen der Bischöfe augenscheinlich keineswegs mit denselben Intentionen und auf den gleichen Wegen kompiliert wurden und kursierten, sind sie dennoch zweifellos auf verschiedenen Ebenen miteinander verwoben und vernetzt und Teil eines gemeinsamen historischen Diskursraums der römischen Oberschicht Galliens vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Prozesse

155 Vgl. Marius, Chron. (Favrod 1993), 516, S. 70; Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 5, S. 100. 156 Vgl. zum Vorhergehenden insgesamt Wood 2003; Kaiser 2004b, S. 57–67. 157 Ep. Aust. (Malaspina 2001), 2, 1f., S. 62: Rumor ad nos magnum pervenit, administrationem vos Secundum Belgice suscepisse. Non est novum, ut coeperis esse, sicut parentes tui semper fuerunt [. . .]. Et beneficium tuum castum et honestum esse debet, et sacerdotibus tuis debebis deferre et ad eorum consilia semper recurre; quodsi tibi bene cum illis convenerit, provincia tua melius potest constare. Vgl. zur Deutung des Briefes in Bezug auf Chlodwigs Verhältnis zum gallischen Episkopat Jussen 2007, S. 147f.; Becher 2011, S. 153–156; Jussen 2014a, S. 32–35. Mit Scholz 2015, S. 35–38 scheint jedoch nicht gesichert, ob im Brief tatsächlich konkret die Belgica II angesprochen ist. Jüngst wurde zudem vermutet, der Brief stamme vom Ende der Herrschaftszeit des Frankenkönigs, vgl. Barrett/Woudhuysen 2016. 158 Vgl. zur Datierung der Taufe zuletzt abwägend Rouche 1996, S. 272–277; Becher 2011, S. 199f.; Becher 2014, S. 58f. 159 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 46, S. 75f. Siehe zu diesem Brief auch 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 232 unten. 160 Vgl. speziell in Bezug auf die Taufe Becher 2011, S. 200–203. Vgl. allgemein teilweise auch für die Zeit vor Chlodwig McCormic 1989; Goetz 2003; Richter 2004; Jussen 2007, S. 142–145; Böhme 2009; Becher 2013a; Dick 2014; Esders 2014a; Jussen 2014a.

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des 5. Jahrhunderts.161 Es gilt aber dem bereits erwähnten artifiziellen Charakter der Briefsammlungen Rechnung zu tragen, der freilich auch auf der Ebene der einzelnen Briefe zu beachten ist.162 Bei vielen Schilderungen – welcher Art auch immer – muss es sich nicht um genuine Situationsbeschreibungen geboren aus dem Geist der römischen Oberschicht des späten 5. Jahrhunderts handeln, sondern die Brieftexte dürften vielmehr mit direkten oder indirekten sinnhaften Zitaten der klassisch antiken Literatur, Philosophie und Rhetorik gesättigt sein. Doch gerade diese bewussten oder im Einzelfall möglicherweise sogar unbewussten Aperçus aktivierten die gemeinsame Bildungstradition der Rezipientinnen und Rezipienten und verweisen auf das Zusammengehörigkeitsgefühl der römischen Oberschicht in Gallien. Dabei werden auch die Unterschiedlichkeiten der drei Sammlungen dabei helfen, den Blick auf die Entwicklungen und Veränderungen zwischen dem Ende des 5. und Anfang des 6. Jahrhunderts zu schärfen. Mindestens die Vorlagen der Briefe, die Eingang in die Sammlungen fanden, stammen aus einem Zeitraum von ca. 455163 bis 516/17.164 So lässt sich über Sidonius’ Briefsammlung noch der Zeitraum erschließen, in dem sich der Übergang von römischer auf visigotische Herrschaft in der Auvergne vollzog, während seine Bischofskollegen Ruricius unter offizieller visigotischer und Avitus unter burgundischer Führung zu Amt und Würden gelangten. Schreiben Sidonius und Avitus ihre Briefe sowohl aus persönlichen als auch aus ‚offiziellen‘ Anlässen, sind die überlieferten Schreiben des Ruricius eher persönlicher Natur. Sidonius stellte seine Briefe eigenhändig zusammen und ließ sie zirkulieren, Ruricius tat dies vermutlich in Teilen, Avitus’ Sammlung stammt hingegen wahrscheinlich vollständig aus seinem Nachlass. Diese komplementären Spezifika und das vergleichsweise dichte Korpus werden es erlauben, auch auf diachroner Ebene ein nuanciertes Bild des historischen Diskursraums in Gallien zu zeichnen.165 Mit Ian Wood ist in Bezug auf das Zeugnis der Briefsammlungen bereits erkannt worden, „in part the writing of letters in the sub-Roman period was an exercise geared to the survival of a particular literate class in the face of the changing circumstances of the end of the Roman Empire and the establishment of the successor

161 Dabei darf Sidonius’ Œuvre etwa auch als Vorbild für Ruricius’ (siehe Anm. 3 oben) und Avitus’ (vgl. Avitus, Ep. [Peiper 1883], 43, S. 72f.; 51, S. 79–81; vgl. auch Shanzer/Wood 2002, S. 62f.) literarische Produktion gelten. 162 Zum Brief als Kunstwerk vgl. Schwitter 2015, bes. S. 40, 126–140. 163 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 2, S. 38–48; zur Datierung vgl. die entsprechenden Anmerkungen bei Loyen 1970a, S. 4 u. 245. 164 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 7, S. 35–39; zur Datierung vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 295. 165 Aus diesem Grund erscheint es auch sinnvoll, die drei Briefsammlungen zusammen zu behandeln und anders als in Näf 1995 nicht separat und additiv nebeneinander zu stellen, sondern sie im Hinblick auf einzelne Aspekte des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien systematisch zu analysieren.

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states. They are strategic documents rather than the frivolous creation of an idle aristocracy.“166 Doch wodurch genau zeichnet sich die ‚Strategie der Dokumente‘ aus? Ist sie gekennzeichnet durch einen konservativen Reflex zur Erhaltung alter Identitäten oder doch vielmehr durch einen progressiven Umgang mit den neuen Verhältnissen?

2.2 Die römische Oberschicht und ihre Briefe Die Briefsammlung des Sidonius Apollinaris ist unbeschadet ihres ‚literarischen‘ Charakters je nach Perspektive als historische Quelle auswertbar, nämlich etwa als Ausdruck des kulturellen und sozialen Kapitals und Habitus der römischen Oberschicht Galliens im Sinne Bourdieus.167 Dies gilt ebenso für die Briefsammlungen des Ruricius von Limoges und des Avitus von Vienne, auch wenn deren Entstehungsgeschichten andere sind oder weitestgehend im Dunkeln liegen. In den Briefen des Sidonius, Ruricius und Avitus finden sich an vielen Stellen Hinweise auf Merkmale, Charakteristika und Eigenschaften, die eine Zugehörigkeit zur römischen Oberschicht im Sinne von Reuters „social marker“ anzeigen.168 Häufig treten sie in Form eines Lobes für den jeweiligen Adressaten auf, bei dem seine aristokratischen Qualitäten direkt oder indirekt thematisiert werden. Im Folgenden wird überprüft, welchen Stellenwert die Ausübung eines öffentlichen weltlichen oder kirchlichen Amtes, die Familie, die gesellschaftliche Anerkennung, der Lebensstil, der Bildungsstand und die Formen der Selbstrepräsentation169 für das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien im historischen Diskursraum zugesprochen bekam.

166 Wood 1993b, S. 39. Indem die Briefsammlungen hier als Teil des historischen Diskursraums der römischen Oberschicht in Gallien begriffen werden, folgt die vorliegende Arbeit jüngeren geschichtswissenschaftlichen Studien mit anderen Gegenständen, aber vergleichbarer Ausrichtung und ähnlichem Erkenntnisinteresse. So sieht Florian Hartmann etwa in seiner Habilitationsschrift in den italienischen artes dictandi des 11. bis 13. Jahrhundert einen Beitrag zur Konstruktion kommunaler Identität, einen Spiegel politischer und sozialer Diskurse und von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern (Hartmann 2013). Zuvor hatten sich u. a. bereits Niels Gaul und Sita Steckel in ihren Dissertationen auf unterschiedlichen Feldern mit Bildungs-, Briefliteratur und ihrer Wechselwirkung mit den soziokulturellen Umständen und Voraussetzungen ihrer Entstehungszeit beschäftigt (Gaul 2011; Steckel 2011). 167 So ist etwa zu betonen, dass zumindest die meisten in den gallischen Sammlungen enthaltenen Briefe eine reale Grundlage gehabt haben dürften (über die sie dann – wie stark modifiziert auch immer – Eingang in die Sammlung fanden) und dass sie damit gleichsam als Echo eines sozialen Netzwerkes interpretiert werden können. Zu Bourdieu siehe 1.3 Methodik und Weg oben. 168 Siehe 1.3 Methodik und Weg oben. 169 Zur Auswahl dieser Charakteristika vgl. Mathisen 1993, S. 10–16; Näf 1995, S. 8–11; Rebenich 2008, S. 154.

2.2 Die römische Oberschicht und ihre Briefe

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2.2.1 Weltliches Amt Im ersten Buch, das vermutlich ausschließlich Briefe aus der Zeit vor Sidonius’ Bischofsweihe enthält und möglicherweise bereits 469 von ihm ediert wurde,170 fällt auf, wie häufig die Bekleidung eines hohen Amtes als Kriterium für vornehmen Charakter betont wird.171 So schreibt Sidonius über einen gewissen Gaudentius,172 dass er sich durch seine strebsame Karriere vor seinen Standesgenossen auszeichne.173 Sein Beispiel führt Sidonius hier offensichtlich vor allem deswegen an, um seinen Freund Filimatius174 – den Adressaten des Briefes – zu animieren, ein neues Amt anzunehmen und damit sein Ansehen zu mehren.175 Direkt im nächsten Brief wird die gleiche Thematik erneut aufgegriffen, denn dieser ist an eben jenen Gaudentius gerichtet und gratuliert ihm zu seinem Aufstieg. Die beiden Briefe gehören also inhaltlich zusammen und so ist zu vermuten, dass sie bewusst nebeneinander in der Sammlung platziert wurden. Am Gratulationsbrief an Gaudentius ist außerdem bemerkenswert, dass Sidonius betont, dass es gerade seine Aufgabe oder sein Amt (pars) sei, was Gaudentius Rang und Namen (titulus) verleihe, nicht etwa der Reichtum seiner Familie.176 Da Sidonius an dieser Stelle und auch in vorhergehenden Briefen nicht ausdrücklich von einer edlen Herkunft des Gaudentius spricht,

170 Siehe 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben. 171 Vgl. zu Sidonius’ Amtsverständnis und zur Rolle, die es in seinem Werk spielt, auch Stroheker 1948, S. 60–65; Näf 1995, S. 151–154. Ansonsten zur Bedeutung des politischen Amtes zum Ende des 5. und Beginn des 6. Jahrhunderts für die römische Oberschicht insgesamt etwa Halsall 2007, S. 497: „The Roman élite had based its social distinction upon land-ownership and office-holding.“ Vgl. außerdem Barnish 1988, S. 120–130; Harries 1992, S. 300f.; Mathisen 1993, S. 32; Schlinkert 1996; Heather 1998; Henning 1999; Salzman 2000, S. 352f.; Wickham 2005, S. 155–171; Jones 2009, S. 82f.; gezielt auf die Veränderungen zwischen imperium und regna blickend Scheibelreiter 1999, S. 84–143; Maier 2005; Conant 2015, S. 159f. 172 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 613; Kaufmann 1995, Nr. 48, S. 311. 173 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 3, 2, S. 48: et ecce Gaudentius meus hactenus tantum tribunicius, oscitantem nostrorum civium desidiam vicariano apice transcendit. mussitat quidem iuvenum nostrorum calcata generositas, sed qui transiit derogantes, in hoc solum movetur ut gaudeat. igitur venerantur hucusque contemptum, ac subitae stupentes dona fortunae, quem consessu despiciebant sede suspiciunt. ille obiter stertentum oblatratorum aures, rauci voce praeconis everberat; qui in eum licet stimulis inimicalibus excitentur, scamnis tamen amicalibus deputabuntur. 174 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 669 (= Philomathius); Kaufmann 1995, Nr. 84 (= Philomathius), S. 335. 175 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 3, 3, S. 50: unde te etiam par fuerit privilegio consiliorum praefecturae, in quae participanda deposceris, antiquati honoris perniciter sarcire dispendium, ne si extra praerogativam consiliarii in concilium veneris, solas vicariorum vices egisse videare. Vgl. zu diesem Brief auch Kaufmann 1995, S. 49f.; Styka 2011, S. 314f. 176 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 4, 1, S. 50: Macte esto vir amplissime, fascibus partis, dote meritorum; quorum ut titulis apicibusque potiare, non maternos reditus, non avitas largitiones, non uxorias gemmas, non paternas pecunias numeravisti, quia tibi e contrario apud principis domum, inspecta sinceritas, spectata sedulitas, admissa sodalitas, laudi fuere. Vgl. zu diesem Brief auch Styka 2011, S. 315f.

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ist vermutet worden, dass er von niederer Geburt war,177 was allerdings – da ansonsten nichts über jenen Gaudentius bekannt ist – ein argumentum ex silentio bleiben muss.178 Dennoch, selbst wenn Gaudentius nicht „humbly-born“179 gewesen sein sollte und seine Familie eher der römischen Oberschicht zuzuordnen wäre, ist doch auffällig, welch hohen Wert Sidonius dem Streben nach einer weltlichen Karriere beimisst. Durch sein Pflichtbewusstsein im Staatsdienst hat Gaudentius „die Mißgünstigen hinter sich gelassen“180 und sich in die oberen Reihen der Gesellschaft eingeordnet. Sidonius schrieb diese Briefe vermutlich aus Rom, während seiner Amtszeit als praefectus urbi,181 und stellte sie dann nach seiner Rückkehr nach Gallien zusammen, womöglich schon unter dem Eindruck seiner Bischofsweihe – gleichsam als eine Art Abschied von seinen eigenen Bestrebungen einer weltlichen Amtskarriere. In ähnlicher Weise geht es denn auch im ersten Buch weiter. Mit dem sechsten Brief fordert Sidonius Eutropius182 auf, ein Amt am Hof des Kaisers zu übernehmen, statt seine Energie für die Verwaltung seines Landgutes aufzuwenden.183 Ein späteres Schreiben gratuliert Eutropius dann zur Ernennung zum praefectus praetorio Galliarum, wobei Sidonius es nicht unterlässt, auf seine vorige freundschaftliche Ermahnung anzuspielen.184 Dass es sich jedoch für die römische Oberschicht in Gallien als zunehmend schwieriger erwies, den traditionellen Weg der weltlichen Amtskarriere zu beschreiten, zeigt Sidonius’ Klage, die kurz auf den Gratulationsbrief folgt. Im achten Brief des dritten Buches an einen gewissen Eucherius185 kritisiert Sidonius, dass sein

177 Vgl. die nicht ganz eindeutig belegbare Vermutung bei Harries 1994, S. 25. Zuvor auch schon Martindale (Hrsg.) 1980, 8, S. 495; in der Annahme folgen Heinzelmann 1982, 2, S. 613; Kaufmann 1995, Nr. 48, S. 311. 178 Auch für Näf 1995, S. 151 ist Gaudentius nicht zwangsweise von niederer Herkunft. 179 Harries 1994, S. 144. 180 Siehe Anm. 173 oben. Übers. in Köhler 2014, S. 10. 181 Loyen 1970a, S. 9 u. 11 vermutet für beide Briefe, „écrite sans doute de Rome ou Lyon, fin 467“, zu den Gründen vgl. Loyen 1970a, S. XII und S. 245. Denkbar ist auch, dass die Briefe aus der Zeit um 460 stammen, wie Kaufmann 1995, S. 51f. vorschlägt. Die Zusammenstellung und mögliche Überarbeitung der Briefe erfolgte dann später. 182 Vgl. Heinzelmann 1982, 4, S. 604; Kaufmann 1995, Nr. 38, S. 302f. 183 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 6, 1, S. 60: scribendi causa vel sola vel maxima, qua te scilicet a profundo domesticae quietis extractum, ad capessenda militiae Palatinae munia vocem. Vgl. zu diesem Brief an Eutropius und dem später in ihm auftretenden Motiv des Landlebens im Kontrast zum Staatsamt Amherdt 2004, S. 383f.; Styka 2011, S. 308–311. 184 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 6, S. 44: Si veteris commilitii, si deinceps innovatae per dies gratiae bene in praesentiarum fides vestra reminiscitur, profecto intellegitis ut vos ad dignitatum sic nos ad desideriorum culmina ascendere. ita namque fascibus vestris gratamur omnes, ut erectam per illos non magis vestram domum quam nostram amicitiam censeamus. testis est ille tractatus, in quo exhortationis meae non minimum incitamenta valuerunt. 185 Vgl. Heinzelmann 1982, 4, S. 598; Kaufmann 1995, Nr. 35, S. 300f.

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Bekannter für seine Verdienste nicht angemessen gewürdigt werde. Romana respublica in haec miseriarum extrema defluxit, ut studiosos sui numquam remuneretur186; die Eifrigen – zu denen Sidonius auch Eucherius den vir efficacissime187 zählt – werden also für ihre Taten vom Staat nicht mehr so entlohnt, wie sie es eigentlich verdient hätten. Dies sei allerdings auch wenig verwunderlich, beschwert sich Sidonius, schließlich beherrsche eine natio foederatorum die römischen Streitkräfte (Romanas vires), die dergestalt darniederlägen, dass nobiles, die sich als bellicosi erwiesen, für ihre Pflichterfüllung (pars) keine praemia erhielten.188 Der Brief spielt möglicherweise auf den Kampf des Sidonius und seiner Verbündeten gegen die Visigoten an.189 In diesem Fall hätte sich Eucherius wohl zu dieser Gelegenheit hervorgetan, ihm wurde aber die in Sidonius’ Augen gerechte Entlohnung durch den Staat versagt, wie es auch insgesamt an Unterstützung in dieser Sache mangelte. Ebenso gut möglich ist aber auch, dass der Brief schon zu einem früheren Zeitpunkt geschrieben wurde und hier auf die Lage vor 471 angespielt wird.190 Danach könnte es sich bei der natio foederatorum sowohl um die Visigoten wie auch um die Burgunder handeln, die die vires kontrollierten und den Aufstieg von Mitgliedern der römischen Oberschicht verhinderten. Beide standen im vertraglichen Bündnis mit Rom, hatten sich im südlichen Gallien niedergelassen und waren Sidonius damit vertraut. Auch wenn dies zutreffen sollte, erfuhr der Inhalt des Briefes nichtsdestotrotz eine Aktualisierung seiner Signifikanz im Zuge seiner Edition, die unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit den Visigoten (falls das dritte Buch bereits während der Jahre 471 bis 475 kursierte) oder nach der aus ihr resultierenden Abtretung der Auvergne (spätestens mit der Zusammenstellung des Konvoluts der Bücher I bis VII um 477/78) erfolgte. Sehr pointiert widmet sich Sidonius dem Thema ‚Amt‘ auch im achten Buch, das vermutlich um 480 oder später die Bücher I bis VII ergänzte, also einige Jahre nach der Auseinandersetzung mit den Visigoten und Sidonius’ Rückkehr aus dem Exil. Auch hier lässt er erneut zwei Briefe aufeinanderfolgen, die sich u. a. mit dem selben Thema beschäftigen. Zunächst gratuliert er Audax191 zur römischen Stadtpräfektur,192 verbindet dies jedoch mit der Klage, dass viele der Standesgenossen nur noch ihren Reichtum zu vergrößern suchten und kaum jemand mehr nach 186 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 8, 1, S. 45. 187 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 8, 1, S. 45. 188 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 8, 2, S. 45: quamquam mirandum granditer non sit, natione foederatorum non solum inciviliter Romanas vires administrante verum etiam fundamentaliter eruente si nobilium virorum militariumque et supra vel spem nostrae vel opinionem partis adversae bellicosorum non tam defuerunt facta quam praemia. 189 Loyen 1970a, S. 97 datiert den Brief auf 472 oder 473. Zur Auseinandersetzung mit den Visigoten vgl. zuletzt Delaplace 2012; Delaplace 2015, S. 238–256. 190 Eine frühere Datierung des Briefes „not long after“ 455 deutet etwa Mathisen 1993, S. 44 an. 191 Vgl. Kaufmann 1995, Nr. 12, S. 284f. 192 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 7, S. 133f.

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weltlichen Ämtern strebe.193 Darauf schließt sich ein Brief an Syagrius194 an, in dem er diesen dafür tadelt, sich auf die Führung seines Landgutes zu konzentrieren statt in den Dienst für das Imperium zu treten.195 Da auf die beiden Briefe ein weiterer mit einem Lobgedicht auf den visigotischen König Eurich folgt,196 zeige „this arrangement [. . .] that it was Euric, and the other Germanic kings, who had denied to Gauls like Syagrius and his descendants the chance to pursue Roman careers“,197 wie Harries etwas umständlich vermutet.198 Ob der Panegyricus auf Eurich im nächsten Brief tatsächlich ein hinreichender Beleg für eine intendierte Kritik an der Herrschaft der Visigoten ist, sei dahingestellt. Zumindest ist jedoch auffällig, dass sich Sidonius hier älteren Briefmaterials bediente. Das Schreiben an Audax bezieht sich auf dessen Ernennung 474,199 wurde wohl kurz danach verfasst und erinnert an den Gratulationsbrief an Gaudentius. Der Brief an Syagrius ist mutmaßlich noch älter – „dredged up by Sidonius from the 460s“200 – und lässt sich in die Gruppe der freundschaftlichen Mahnungen wie etwa an Filimatius und Eutropius einsortieren. Wie zu sehen, waren erfolgreiche weltliche Karrieren nach Sidonius’ Zeugnis auch schon in den 460er und frühen 470er Jahren selten. Umso mehr, wird man sich denken können, galt dies nach der Abtretung der Auvergne an die Visigoten. Dass Sidonius, als er sein achtes Buch zusammenstellte, auf alte Briefe zurückgreifen konnte, um seinen Leserinnen und Lesern die aktuelle Lage zu illustrieren, zeigt zunächst in erster Linie, dass sich am status quo einerseits des Unwillens und andererseits der begrenzten Möglichkeiten der Oberschicht seit über einem Jahrzehnt nichts Wesentliches geändert hatte. Die Situation war schon vor den Erfolgen der Visigoten in Sidonius’ Augen zu beklagen; tatsächlich änderten diese bei Licht besehen in dieser Beziehung kaum etwas. Das Arrangement der Briefe, ihre zeitliche Provenienz und ihre aktualisierte Gültigkeit spiegeln also – eher als eine indirekte Kritik an den Visigoten – Sidonius’ Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Stillstandes im Amtsbereich wider, an dem etwas zu ändern kaum möglich erschien. Dass Sidonius wiederum durchaus bereit war, seine Ansichten den neuen Verhältnissen anzupassen, zeigt etwa, dass er den nach der Abtretung der Auvergne von Eurich

193 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 7, 1, S. 133: Ubinam se nunc, velim dicas, gentium abscondunt qui saepe sibi de molibus facultatum congregatarum deque congestis iam nigrescentis argenti struibus blandiebantur? 194 Vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 699; Kaufmann 1995, Nr. 107, S. 349f. 195 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 8, S. 134. Vgl. zum Inhalt auch Näf 1995, S. 153; Styka 2011, S. 31. 196 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 9, S. 135–137. 197 Vgl. Harries 1994, S. 18. Zum Zusammenspiel von Brief- und Dichtkunst in Sidonius’ Werk vgl. zuletzt auch Mratschek 2017, S. 314–322. 198 Vgl. Harries 1994, S. 17f. 199 Vgl. Anderson 1965, S. 434 mit Anm. *; Loyen 1970b, S. 216. 200 Harries 1994, S. 17. Vgl. zur Datierung außerdem Loyen 1970b, S. 216 und zustimmend Näf 1995, S. 153 mit Anm. 86.

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zum comes ernannten Victorius201 traditionell als vir amplissimus und dem weltlichen Recht entsprechend als patronus (iure saeculari patronum)202 bezeichnet. In der Korrespondenz des wenige Jahre jüngeren Ruricius von Limoges spielen profane Karrieren der Art, wie sie noch Sidonius schilderte, kaum eine Rolle.203 Dies kann einerseits mit den Umständen der Zusammenstellung und Überlieferung der Briefsammlung,204 mit der im Vergleich zu Sidonius geringeren Reichweite des Bischofs von Limoges oder auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass unter der visigotischen Herrschaft das klassisch römische Amt vollends aus dem Fokus der Zeitgenossen gerückt war. Andererseits blieb traditionelle Reverenz gegenüber der Ausfüllung weltlicher Ämter in umgewendeter Form durchaus präsent, angepasst an die neuen Verhältnisse. So schreibt Ruricius seinem Freund Elaphius,205 der offensichtlich in visigotischen Diensten stand, die operum tuorum fama percrebuit.206 Ganz ähnlich liegt der Fall wohl auch bei den Briefen an Praesidius und Eudomius.207 Der vermutlich gotische Freda208 ist für Ruricius sublimitas uestra209 und wird um seinen Landbesitz beneidet; genauso wird auch Vittamerus210 in zwei Briefen angesprochen.211 An diesen Stellen deutet sich die Flexibilität der römischen Oberschicht in der Kooperation mit den Visigoten im Rahmen klassischer Gesellschaftsfunktionen der Aristokratie an, die von den Akteuren selbst, ebenso wie von Ruricius, zumindest nicht kritisiert oder für moralisch fragwürdig gehalten zu werden schien. Für ähnliche von

201 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 20, S. 65f.; Heinzelmann 1982, 5, S. 714. Vgl. außerdem Barnwell 1992, S. 78f.; Wolfram 2001, S. 192; jetzt auch Zerjadtke 2019, S. 100–103. 202 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 17, 1, S. 123. Siehe auch 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ unten. 203 Vgl. Näf 1995, S. 171. 204 Siehe 2.1.2 Ruricius von Limoges oben. 205 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 594f.; Kaufmann 1995, Nr. 32, S. 299f. Außerdem für einen Brief des Sidonius an Elaphius: Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 15, S. 66f.; siehe auch Anm. 320 unten. 206 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 7, S. 340: Ita propitio Deo operum tuorum fama percrebuit, ut omnes in laboribus constituti commendari se germanitati uestrae omni precum ambitione deposcant, quia fatigationem suam apud uos effectum habere non dubitant. Vgl. auch Everschor 2007, S. 238f.; außerdem insgesamt Mathisen 1993, S. 125–131. 207 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 12, S. 348 (und bis auf wenige Ausnahmen textgleich: Ruricius, Ep. [Demeulenaere 1985], II, 53, S. 387f.); 39, S. 377f. (vgl. Mathisen 2001b, S. 111f.). Vgl. Heinzelmann 1982, S. 672 zu Praesidius und Heinzelmann 1982, S. 599 zu Eudomius, der einem Brief des Caesarius von Arles zu Folge möglicherweise im visigotischen Auftrag eine Synode in Toulouse für das Jahr 507 vorbereiten sollte (Caesarius, Dum nimium [Demeulenaere 1985], S. 402: Eudomius, si potuerit, hoc elaborare desiderat, et superueniente anno Tolosa synodum Christo propitio habeamus, ubi etiam, si potuerit, Hispanos uult episcopos conuenire.). 208 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 611. 209 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 11, S. 325. Zum Brief vgl. auch Mathisen 2001b, S. 111; Everschor 2007, S. 228–234. 210 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 716. 211 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 61, S. 392; 63, S. 393. Vgl. Mathisen 2001b, S. 110f.; Everschor 2007, S. 234–237.

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mutmaßlichen Visigoten erfüllte Tätigkeiten bekundet Ruricius jedenfalls gleichermaßen entsprechende Achtung. Vergleichsweise nüchtern scheint auch die Haltung des Avitus von Vienne zu weltlichen Ämtern.212 An Apollinaris, den Bischof von Valence,213 schreibt er etwa von einem catholicus senator,214 mit dem es einen Streit auszuräumen gelte, ohne diesen jedoch näher zu identifizieren. Im Dunkeln bleibt auch das genaue Tätigkeitsfeld des Messianus,215 eines anderen Adressaten des Avitus. Er freue sich stets, wenn er Nachricht von Messianus’ Wohlbefinden und Erfolgen erhalte, schreibt der Bischof von Vienne.216 Genauer spezifiziert wird die actio vestra des Messianus allerdings nicht.217 Vielmehr ist unklar, welcher Natur seine beruflichen Leistungen waren. In seiner Arbeit, die sich bewussten Verschleierungen (Obscuritas) in der spätantiken Epistolographie widmet, deutet Raphael Schwitter diesen Fall bei Avitus als gezielten Versuch des „Ausschluss[es] eines breiteren Publikums“.218 „Verantwortlich für die verhüllte Ausdrucksweise, [. . .] dürften mit einiger Wahrscheinlichkeit politische Umstände gewesen sein“,219 heißt es bei Schwitter zunächst vage. Offen bleibt jedoch welches „Publikum“ hier überhaupt hätte „ausgeschlossen“ werden sollen. Avitus selbst hatte wohl kaum eine spätere Veröffentlichung seiner Korrespondenz im Hinterkopf, als er diesen Brief schrieb, noch konnte er wissen, dass es nach seinem Tod dazu kommen sollte.220 Bleiben also allenfalls noch ein möglicherweise zur Ausfertigung des Briefes herangezogener Schreiber, eventuell der Briefbote und – falls geplant war, das Schreiben im gesellschaftlichen Rahmen vor Messianus verlesen zu lassen – die weiteren Zuhörerinnen und Zuhörer, bei denen es sich wohl um einen Kreis von Vertrauten des Adressaten gehandelt hätte. Diese Akteurinnen und Akteure kann man jedoch kaum als „Publikum“ charakterisieren, gegenüber dem besondere politische Diskretion unabdingbar gewesen wäre. Im weiteren Verlauf der Studie resümiert Schwitter dann auch etwas divergent, dass sich solche „Hintergründigkeit“ bei Avitus „auf unmittelbare 212 Vgl. Näf 1995, S. 178. 213 Vgl. Heinzelmann 1982, 6, S. 556f. 214 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 27, S. 58: Apud filium nostrum vero, qui sicut scribitis reconciliationem mutuam dignatur ambire, vos estote vadimonium. Quod si ille pacifico voto agere, ego amicum; si ille discordiam poscit tolli, ego cupio concordiam perennari. Si tamen homo ordinis mei, quem nec fallere decet, crediturus catholico senatori non ad hoc solum securus incipiat fieri, ut incautus valeat inveniri. 215 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 653. 216 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 56, S. 85: Maximus desiderio nostro cumulus optata gaudiorum ubertate confertur, si magnificum vestrae pietatis statum florenti prosperitate pollentem avida sollicitudinis nostrae vota cognoverint: quia hoc proventibus nostris compendio indubitatae felicitatis adcrescit, quicquid clementiae vestrae caelestium beneficiorum pietas diffusa contulerit. 217 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 56, S. 85: Nam in eo metimur felicibus incrementis nostrum prosperari successum, in quo actionis vestrae crescit sine fine suffragium. 218 Schwitter 2015, S. 78. 219 Schwitter 2015, S. 79. 220 Siehe 2.1.3 Avitus von Vienne oben.

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Alltagsprobleme [beschränkte]“ und doch „nicht als Ausdruck einer politisch, religiös oder ideologisch motivierten gallorömischen Résistance zu verstehen“ sei.221 Vermutlich ist der Brief an Messianus wohl auch weniger als ein Versuch, ein „Publikum“ aus „politischen Gründen“ zu exkludieren, zu deuten, sondern tatsächlich eher als Sinnbild einer graduellen Wertetransformation im Alltag der römischen Oberschicht in Gallien: Auch wenn die weltliche Tätigkeit an sich nach wie vor hoch geschätzt zu werden scheint, verlor ihre spezifische Benennung und präzise Auseinandersetzung mit ihr als ein traditioneller „social marker“ der römischen Oberschicht allmählich an Bedeutung und rückte analog zum Signifikanzverlust des politischen Rahmens des weströmischen Imperiums in den Hintergrund. Das klassische weltliche Amt – ehemals noch ein Charakteristikum der gallorömischen Oberschicht – war so weit aus dem Blickfeld gerückt, dass dafür bereits die konkrete Sprache fehlte und inadäquat geworden war. Formale Titulierungen wie z. B. vir illustris finden sich ansonsten vor allem in den Überschriften der Briefe.222 Diese gehen auf ein Manuskript der Briefsammlung, aber wohl nicht auf Avitus’ originale Ausfertigungen selbst zurück; sie wurden vermutlich erst im Zuge der nachträglichen Archivierung der Briefe oder der postumen Kompilation der Sammlung erstellt.223 Die Überschriften „most probably represent notes made by others in classifying the original dockets in the Avitan ‚collection‘“ und gewähren damit „a unique glimpse into early medieval filing-systems“.224 Der Blick der frühmittelalterlichen Archivare selbst scheint allerdings ein verklärter gewesen zu sein. So werden in den Briefüberschriften doch Titel aufgerufen, die wie Reminiszenzen an eine romantisierte Zeit wirken, in der sich Avitus, die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen tatsächlich bereits einer ganz anderen Wirklichkeit gegenübersahen. Dies legt vor allem der Inhalt seiner Briefe nahe, der eben weitgehend frei von Bezügen auf klassisch weltliche Betätigungsfelder der römischen Oberschicht bleibt. Im Zusammenhang gallischer Angelegenheiten nutzte Avitus das Vokabular formaler römischer Titel also nicht, dies schien nur bei entfernteren Vorgängen in italischem oder oströmischem Kontext zu geschehen. In einem Brief an Helpidius, den Leibarzt Theoderichs des Großen,225 bittet er um die Behandlung des Sohnes, eines gewissen Ceretius,226 und betont, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, der Vater sei vir

221 Alle Zitate aus Schwitter 2015, S. 288. 222 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 24, S. 56; 36, S. 66; 37, S. 66f.; 39, S. 68; 50, S. 78f.; 51, S. 79–81; 52, S. 81; 53, S. 81f.; 56, S. 85; 80, S. 93f.; 81, S. 94; 82, S. 94; 83, S. 94; 84, S. 95; 85, S. 95; 95, S. 102. Vgl. für einen Überblick zur Verwendung von Titeln bei Avitus Engelbrecht 1893, S. 43–47. 223 Vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 47–57. 224 Alle Zitate aus Shanzer/Wood 2002, S. 56. 225 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1980, 6, S. 537. 226 Vgl. Heinzelmann 1982, 1, S. 578.

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illustris.227 Der in Konstantinopel lebende Bekannte des Avitus Laurentius228 wird ebenso in mehreren Briefen als vir illustris229 bezeichnet. Die gallischen Verhältnisse stellten sich für Avitus im Kontrast dazu jedoch offensichtlich anders dar. Noch stärker freilich als bei Ruricius die visigotische Herrschaft zu spüren ist, steht die Briefsammlung des Bischofs von Vienne unter dem Eindruck seiner Verbindung zu den burgundischen Königen, wie etwa seine zahlreichen Briefe an und für König Gundobad,230 seinen Sohn Sigismund231 oder auch sein berühmtes Glückwunschschreiben an den Frankenkönig Chlodwig zu dessen Taufe232 belegen. Auch Apollinaris, den Sohn des Sidonius,233 beglückwünscht Avitus für seine dignitas,234 die er unter dem visigotischen König Alarich II. innehabe, bei dem er (wieder) in hohem Ansehen stehe.235 Für den militaris actus,236 den Apollinaris für die Visigoten leistet, wird er von Avitus auf ganz ähnliche Weise gelobt, wie dies auch Ruricius bei seinen Adressaten tut, die in ‚barbarischen‘ Diensten stehen. Ein gutes Beispiel für diese Praxis ist auch Avitus’ Brief an den dux Arigius,237 den er für eine kluge Entscheidung rühmt.238 Ob es sich bei Arigius um einen Römer oder Burgunder handelte, lässt sich zumindest aus 227 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 38, S. 67. 228 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1980, 9, S. 658f.; Mathisen 1993, S. 128. 229 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 9, S. 45; 46a, S. 76; 47, S. 77; 48, S. 77. 230 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 1, S. 12–15; 2, S. 15–21; 3, S. 22–29; 4, S. 29–32; 5, S. 32f.; 6, S. 33–35; 21, S. 54; 22, S. 54f.; 30, S. 60–62; 44, S. 73f. Dazu Rosenberg 1982; Wood 2004b; Everschor 2007, S. 279–289; Wood 2009, S. 12f.; Heil 2011; McCarthy 2017, S. 364–366; Schenk 2018. 231 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 23, S. 63; 29, S. 59; 31, S. 62; 32, S. 62f.; 45, S. 74; 46a, S. 76; 47, S. 76f.; 49, S. 77f.; 76, S. 92; 77, S. 92; 78, S. 93; 79, S. 93; 91, S. 99; 92, S. 99; 93, S. 100f.; 94, S. 101f. Dazu Rosenberg 1982; Scheibelreiter 1989, S. 206–208; Wood 2003, S. 255–257; Wood 2004b; Everschor 2007, S. 291–303; Wood 2009, S. 12f.; Heil 2011; Schenk 2018. 232 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 46, S. 75f. Dazu u. a. Rosenberg 1982; Everschor 2007, S. 271–279; Becher 2011, S. 190–199; Becher 2013b; Heil 2014. 233 Vgl. Heinzelmann 1982, 4, S. 556; Kaufmann 1995, Nr. 6, S. 279f. 234 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 51, S. 79: Diu est, si aut verbo meo creditis aut de affectu mutuo digna sentitis, quod litteras alicuius vestri sumere desiderans plus tamen officii mei offerre cupiebam, quaeque in persona vestra dilectioni primum, deinde necessitudini, ad ultimum etiam dignitati a me debentur, non semper occasionibus commeantum solvenda committere. 235 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 51, S. 79: Scripsistis igitur Christo praestante iam redux omnia tuta esse circaque vos dignationem domni regis Alarici illaesam et pristinam permanere. 236 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 51, S. 80: ita vobis favente Christo militari actu magis magisque florentibus [. . .]. 237 Vgl. Heinzelmann 1982, Aredius, S. 560. 238 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 50, S. 78: Quocirca his omnibus consilio maturiore pensatis mutastis viri fortes constantiae genus et deponentes, quo adprime floretis, saecularis ducatus audaciam, quicquid ab adversa parte discriminis incubuerat, timore vicistis. Quapropter omnis, qui viderit coram positam iucunditatem, laudet praeteritam festinationem. Convenit dispositionibus vestris rapta de adversitate securitas. Ante decuit nostrum fieri, quod taliter libuerat ornari. Gregor von Tours kennt Arigius möglicherweise unter dem Namen Aredius. Damit könnte Avitus hier auf die Hilfe des dux für Gundobad gegen die Franken anspielen, von der Gregor berichtet (vgl. Gregor, Hist. [Krusch/ Levison 1951], II, 32, S. 79f.). Vgl. außerdem Everschor 2007, S. 303–305.

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dem Brief des Avitus nicht erschließen. Eine ethnische Zuschreibung jedenfalls liefert der Text nicht, für Avitus spielte die Ethnie wohl keine erwähnenswerte Rolle im Zusammenhang mit Arigius’ Taten als dux unter burgundischer Herrschaft. Dies trifft auch auf den Fall des burgundischen Amtsträgers Ansemundus239 zu, der zumindest aufgrund seines Namens als Nicht-Römer identifiziert werden könnte, an den Avitus insgesamt drei überlieferte Briefe richtete.240 Wenn es um die Wertschätzung und Kooperation weltlicher Amtsträger ging, war die Ethnie der Akteure offenbar nicht (mehr) von signifikanter Bedeutung.

2.2.2 Familiäre Abstammung Weder Avitus noch Ruricius schenkten der Abstammung der Personen aus vornehmen Familien der römischen Oberschicht Galliens, über die sie oder denen sie schrieben, in ihren Briefen größere Aufmerksamkeit. Als Ausnahme mag noch Apollinaris zählen, dessen Vater Sidonius von den beiden Bischöfen in ihrer Korrespondenz mit dem Sohn erwähnt und dabei aber vor allem aufgrund seiner literarischen Errungenschaften gepriesen wird.241 Auffällig hingegen ist, dass Sidonius Apollinaris selbst im Gegensatz zu seinen beiden literarischen Nachfolgern in seinen Briefen noch häufig die Abstammung seiner Adressaten oder der Personen, die er erwähnt, thematisierte.242 So wird eine noble Geburt etwa durch die Übernahme eines Amtes gleichsam bestätigt und aufgewertet, wie Sidonius an Audax243 schreibt: Magst Du bisher aufgrund Deiner Zugehörigkeit zu einer illustren Familie eingeschätzt worden sein, so hast Du für Deinen Teil nicht weniger fleißig daran gearbeitet, daß Deine Nachkommen durch Dein Verdienst mit noch größerem Ruhm genannt werden können. Es ist nämlich im Urteil gerade der Besten nichts Edleres, als wenn ein Mann die gesammelte Anstrengung seines Geistes, seines Leibes und seines Vermögens beständig mit dem Ziel einsetzt, seine Vorfahren noch zu übertreffen.244

239 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 554. 240 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 55, S. 83–85; 80, S. 93f.; 81, S. 94. Zu Ansemundus und den Briefen vgl. Amory 1994b, S. 16–19; Everschor 2007, S. 265–271; Wood 2009, S. 14f; Haubrichs 2010, S. 195. 241 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 26, S. 365f.; Avitus, Ep. (Peiper 1883), 51, S. 79–81. 242 Im Brief an Filimatius gleichsam invertiert, indem auf Sidonius’ eigene Abstammung verwiesen wird: cur adipiscendae dignitati hereditariae curis pervigilibus incumbam; cui pater socer avus proavus praefecturis urbanis praetorianisque magisteriis palatinis militaribusque micuerunt (Sidonius, Ep. [Köhler 1995], I, 3, 1, S. 48). Zur Bedeutung von Vorfahren, Familie und Verwandtschaft u. a. für die gallische Oberschicht in der Spätantike vgl. Mathisen 1993, S. 11f.; Salzman 2000, S. 351f.; Wickham 2005, S. 155–171; Jones 2009, S. 82f.; Wood 2000. 243 Siehe Anm. 191 oben. 244 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 7, 3, S. 133f.: licet hactenus e prosapia inlustri computarere, peculiariter nihilo segnius elaborasti, ut a te gloriosius posteri tui numerarentur. nil enim est illo

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Ganz ähnlich stellt sich die Lage auch bei den beiden Briefen an Eutropius245 dar. Zunächst erinnert Sidonius seinen Adressaten an die Pflichten „ein[es] Mann[es] von senatorischem Geblüt, der sich täglich mit den Bildern seiner Ahnen, die die Trabea tragen, konfrontiert sieht“.246 In seinem Gratulationsbrief schreibt er dann, dass Christus dafür zu danken sei, „daß er so, wie er Deinen erhabenen Stand bisher mit dem Adel Deiner Vorfahren geschmückt hat, ihn nun auch mit den gleichen Ehrentiteln krönt“.247 Auch die Ermahnung an Syagrius248 geht in eine ähnliche Richtung: Wenn Du nämlich alle anderen Formen aristokratischer Beschäftigungen ablehnst und Dich nur der Kitzel treibt, das Familienvermögen zu mehren, dann magst Du Deinen Namen, der von Männern herrührt, die die Trabea getragen haben, ihre elfenbeinernen Amtssessel, ihre vergoldeten Sänften und die purpurnen Einträge in den Fasten in der Erinnerung lebendig halten, man wird Dich doch sogleich als einen ebenso fleißigen wie bedeutungslosen Mann erkennen, der keinen Anspruch darauf hat, daß ihm der Censor ein ehrenvolles Amt auferlegt, sondern der Steuerschätzer eine bedeutende Zahlung.249

Seinen Adressaten Aquilinus250 und Ferreolus251 schmeichelt Sidonius ebenfalls mit den Taten und Würden ihrer Vorfahren. Im Brief an Aquilinus betont Sidonius etwa, dass ihre jeweiligen Großväter und Väter ähnliche Karrieren durchlaufen hätten.252 Besonders Ferreolus beglückwünscht er dazu, dass er durch seine Verdienste seinen Vorfahren würdig nachgefolgt sei.253 Auch in einem Empfehlungsschreiben

per sententiam boni cuiusque generosius, quisquis ingenii corporis opum iunctam in hoc constans operam exercet, ut maioribus suis anteponatur. Übers. in Köhler 2014, S. 248f. Zum klassischen Motiv des Übertreffens des Ruhmes der Vorfahren, das diesem und den folgenden Zitaten zu Grunde liegt, vgl. anhand der Inschrift des Scipionengrabes Scholz 2011, S. 39–59 (mit weiteren Hinweisen auf antike Vorbilder). 245 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 182 oben. 246 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 6, 2, S. 60: senatorii seminis homo, qui cotidie trabeatis proavorum imaginibus ingeritur. Übers. in Köhler 2014, S. 17f. 247 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 6, 3, S. 44: qui statum celsitudinis tuae ut hactenus parentum nobilitate decorabat, ita iam nunc titulorum parilitate fastigat. Übers. in Köhler 2014, S. 82. 248 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 194 oben. 249 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 8, 3, S. 134: nam, si ceteris nobilium studiorum artibus repudiatis sola te propagandae rei familiaris urtica sollicitat, licet tu deductum nomen a trabeis atque eboratas curules et gestatorias bratteatas et fastos recolas purpurissatos, is profecto inveniere, quem debeat sic industrium quod latentem non tam honorare censor quam censitor onerare. Übers. in Köhler 2014, S. 260. 250 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 557; Kaufmann 1995, Nr. 8, S. 280f. 251 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 608; Kaufmann 1995, Nr. 43, S. 308f. 252 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 9, 1f., S. 84. 253 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 12, 1f., S. 118.

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an Sagittarius,254 in dem Sidonius den vir clarissimus Proiectus255 protegiert, betont er als erstes dessen Abstammung.256 Allerdings konnte der Verweis auf die Herkunft auch zur negativen Kennzeichnung dienen. Sidonius war von einem gewissen Päonius257 öffentlich verleumdet worden. An seinen Bekannten Montius258 schreibt er nun im elften Brief des ersten Buches über jenen Päonius, dieser sei nur von unbedeutender Herkunft (municipaliter natus).259 Sidonius bezeichnet ihn daher weiter als homo novus260 und spottet, auch sein Amt habe ihm nicht zur Ehre gereicht.261 In dieser Form diente die Thematisierung der Herkunft zur Stratifikation innerhalb der Oberschicht und zur Abgrenzung gegenüber Emporkömmlingen. Insgesamt ist allerdings zu konstatieren, dass in der Phase der endgültigen Etablierung der ‚barbarischen‘ Nachfolgereiche in Gallien, die Bedeutung vornehmer römischer Abstammung innerhalb der Oberschicht von Sidonius über Ruricius und Avitus in der überlieferten Korrespondenz augenscheinlich zurückging. Dies geschah vermutlich auch, weil neue Eliten zu festen Bestandteilen der sich rekonstituierenden gallischen Gesellschaft wurden und sich neue Stratifikationsmechanismen ausbildeten.262 Dezidiert als römisch gekennzeichnete Herkunft veränderte damit unter dem Eindruck des Verlusts und des Wandels des politischen Rahmens seinen sozialen Stellenwert.

2.2.3 Amicitia Ein weiterer Aspekt, der für den Zusammenhalt der römischen Oberschicht in Gallien maßgeblich war, lässt sich ebenfalls über Sidonius’, Ruricius’ und Avitus’

254 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 687; Kaufmann 1995, Nr. 99, S. 345. 255 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 676. 256 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 4, 1, S. 27: Vir clarissimus Proiectus, domi nobilis et patre patruoque spectabilibus, avo etiam praestantissimo sacerdote conspicuus. 257 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 660. Außerdem besonders Mathisen 1979a, S. 603f. 258 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 654; Kaufmann 1995, Nr. 69, S. 325. 259 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 11, 5, S. 86: non eminentius quam municipaliter natus, quemque inter initia cognosci claritas vitrici magis quam patris fecerit, identidem tamen per fas nefasque crescere affectans, pecuniaeque per avaritiam parcus, per ambitum prodigus. 260 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 11, 6, S. 88. Zu den aufsteigenden homines novi im 5. Jahrhundert vgl. Stroheker 1948, S. 60; Mathisen 1993, S. 12. 261 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 11, 6, S. 88: nam vacante aula turbataque republica solus inventus est qui ad Gallias administrandas, fascibus prius quam codicillis, ausus accingi, mensibus multis, tribunal inlustrium potestatum, spectabilis praefectus escenderet, anno peracto militiae extremae terminum circa vix honoratus, numerariorum more seu potius advocatorum, quorum cum finiuntur actiones, tunc incipiunt dignitates. 262 Vgl. Pohl 1997; Werner 1998; Brown 2000; Wickham 2005; von Rummel 2007; Jones 2009; Becker 2014.

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Briefsammlungen erschließen: amicitia.263 Auf Gegenseitigkeit beruhende Freundschaftsverbindungen (die nicht selten auch verwandtschaftliche Beziehungen waren)264 hatten nicht immer nur in erster Linie emotionalen Charakter, sondern stellten gleichsam den sozialen Kitt der Oberschicht dar. Über diese (Freundschafts-)Netzwerke der gegenseitigen Anerkennung und häufig auch (indirekt) verbalisierten Statusbestätigung, die sich im Briefkontakt greifen lassen, konstituierte sich ein großer Teil des Selbstverständnisses der Gruppe.265 Natürlich strahlte dieses gesellschaftliche Beziehungsgeflecht auch auf andere Tätigkeitsbereiche der Oberschicht aus. Darauf spielt Sidonius etwa an, wenn er sich im dritten Brief des vierten Buches an seinen Jugendfreund Felix266 bei diesem bedankt und schreibt, „so entdeckst doch Du, der es wie kein anderer versteht, Freundschaft zu halten, wie gewaltig der hohe Rang Deiner Ämter noch wachsen kann durch die Pflege der Gemeinschaft.“267 Felix hatte ihm zuvor seinerseits einen Boten geschickt, um seinem Freund von seiner neuen Stellung als praefectus praetorio Galliarum zu berichten. Sidonius’ Antwortbrief ist damit auf inhaltlicher Ebene einerseits Kommentar der kulturellen Praktik des Briefeschreibens zur Pflege der amicitia und partizipiert andererseits als klassischer Freundschaftsbrief gleichzeitig an jener kulturellen Praktik zur Aufrechterhaltung der communio, die es kommentiert. Zusätzlich kehren hier die zuvor bereits erwähnten Themen des Amtes und der familiären Abstammung wieder.268 Ähnliches findet sich auch im bereits zitierten freundschaftlichen Gratulationsschreiben an Gaudentius269 zu dessen

263 Vgl. Mathisen 1993, S. 13–16; Salzman 2000, S. 352f.; Wood 2000; Le Jan 2004; Schröder 2007, S. 150–156; Müller 2013; Styka 2016. Speziell zur Rolle der amicitia in den Briefen von Sidonius’ Vorbild Symmachus Matthews 1974. Zur Freundschaft bei Paulinus von Nola Mratschek 2002, S. 489–591. Zur amicitia und Briefnetzwerken im Frühmittelalter Epp 1999; Riehle 2011; Steckel 2011. 264 Vgl. Mathisen 1981; Wood 2000; Zittel 2009; Brandt 2014. 265 So etwa auch beispielhaft Mathisen 1993, S. 15: „The aristocrats of late Roman Gaul pursued their friendships in ways which were calculated to help to unify themselves as a class.“ Näf 1995, S. 142: „Die Zugehörigkeit zum großen Kreis der Freunde machte letzten Endes die Zugehörigkeit zum Adel aus.“ Salzman 2000, S. 352: „Since aristocrats relied primarily on one another for acceptance and recognition, the circle within which the aristocrat moved was of key importance in granting that acceptance and, hence, in shaping identity.“ Vgl. jüngst auch Schwitter 2017, S. 68f.; Müller 2018c, S. 81–86. 266 Siehe Anm. 58 oben. 267 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 3, 1, S. 27: invenis tamen, vir amicitiarum servantissime, qualiter honorum tuorum crescat communione fastigium. Übers. in Köhler 2014, S. 50. 268 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 3, 1, S. 27: nam licet in praesentiarum sis potissimus magistratus et in Lares Philagrianos patricius apex tantis post saeculis tua tantum felicitate remeaverit, invenis tamen, vir amicitiarum servantissime, qualiter honorum tuorum crescat communione fastigium, raroque genere exempli altitudinem tuam humilitate sublimas. 269 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 172 oben.

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Amtsübernahme: „Von Deinem Gipfel geht Freude aus für Deine Freunde“.270 Besonders deutlich artikuliert Sidonius diese Verquickung zwischen Freundschaft und Amt im Brief an Eutropius.271 Sidonius eröffnet seinen Glückwunsch, indem er betont, dass er und sein Adressat durch vetus commilitium und innovata per dies gratia verbunden seien.272 Eutropius’ Aufstieg werte damit zugleich auch die Freundschaft zwischen den beiden auf.273 Jedoch werden von Sidonius nicht nur die Amtspositionen der Adressaten in den Kontext der amicitia gesetzt, sondern auch deren Abstammung. Dies ist besonders deutlich im bereits erwähnten neunten Brief des fünften Buches der Fall, in dem Sidonius die amicitia mit Aquilinus274 vor allem in der früheren Freundschaft der Großväter und Väter der beiden begründet sieht.275 Auch Ferreolus’276 Vorfahren gedenkt Sidonius wortreich und stellt dies in Beziehung zur Freundschaft (amicitia) und Verwandtschaft (affinitas) der beiden.277 Ebenfalls unter die Kategorie ‚Freundschaftsbriefe‘ sind die schon angeführten kameradschaftlichen Ermahnungen zu fassen, die Sidonius an Filimatius, Eutropius und Syagrius richtet.278 Dass den Freundschaftsbriefen außerdem ein gewisser schematischer Charakter geradezu abstrakter sozialer Qualität anhaftete, zeigt anschaulich der elfte Brief des dritten Buches. Sidonius und sein Adressat Simplicius279 waren sich persönlich

270 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 4, 1, S. 50: de cuius culmine datur amicis laetitia. Übers. in Köhler 2014, S. 11. Vgl. auch das ähnlich zu bewertende Gratulationsschreiben an Audax: Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 7, S. 133f. 271 Siehe Anm. 182 oben. 272 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 6, 1, S. 44: Si veteris commilitii, si deinceps innovatae per dies gratiae bene in praesentiarum fides vestra reminiscitur, profecto intellegitis ut vos ad dignitatum sic nos ad desideriorum culmina ascendere. 273 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 6, 1, S. 44: ita namque fascibus vestris gratamur omnes, ut erectam per illos non magis vestram domum quam nostram amicitiam censeamus. 274 Siehe 2.2.2 Familiäre Abstammung mit Anm. 250 oben. 275 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 9, 1–2. S. 84: In meo aere duco, vir omnium virtutum capacissime, si dignum tu quoque putas, ut quantas habemus amicitiarum causas, tantas habeamus ipsi amicitias. avitum est quod reposco; testes mihi in praesentiarum avi nostri super hoc negotio Apollinaris et Rusticus advocabuntur, quos laudabili familiaritate coniunxerat litterarum dignitatum, periculorum conscientiarum similitudo [. . .]. aetate, quae media, patres nostri sub uno contubernio, vixdum a pueritia in totam adulescentiam evecti, principi Honorio tribuni notariique militavere tanta caritate peregrinantes, ut inter eos minima fuerit causa concordiae, quod filii amicorum commemorabantur. 276 Siehe Anm. 251 oben. 277 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 12, 1f., S. 118. 278 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 3, S. 48–50; 6, S. 60–62; Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 8, S. 134. 279 Hier handelt es sich wohl nicht, wie die Forschung bisher meinte (vgl. stellvertretend Kaufmann 1995, Nr. 105, S. 348f.), um Sidonius’ Onkel, da der Brief „den Charakter einer ersten Kontaktaufnahme [trägt]“ (Köhler 2014, S. 87) und sich im Brief auch keinerlei Hinweise auf ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Sidonius und jenem Simplicius finden lassen.

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offenbar noch nicht begegnet; Simplicius verfügte aber über einen guten Leumund.280 Daher schickt Sidonius ihm mittels seines Briefes ein Freundschaftsangebot (nostrum officium).281 Ganz Ähnliches findet sich auch in einem bereits erwähnten Empfehlungsschreiben. Dort rät Sidonius seinem Adressaten Sagittarius,282 jenem Proiectus283 unbekannterweise seine Freundschaft (amicitiae tuae) zu schenken.284 Auch Ruricius schreibt Briefe scheinbar ohne ‚echten‘ Anlass und Inhalt mit dem offensichtlich einzigen Zweck, Freundschaftsverbindungen zu pflegen.285 Ganz ähnlich wie Sidonius reflektiert der Bischof von Limoges diese Praxis in einem Brief an Celsus,286 einen seiner Nachbarn, auch theoretisch, quia non ex toto malus est, qui bonis iungitur.287 So solle man, schreibt Ruricius in einem anderen Brief, die Gelegenheiten zu schreiben nutzen, ut reddat nobis quandam praesentiae portionem sermo mediator.288 Gleich einer Mise en abyme wird auch in diesen Fällen die Reflexion über die amicitia in Gestalt eines Freundschaftsbriefs geliefert. Damit bewegte sich Ruricius im Rahmen praktischer Traditionen der römischen Oberschicht, was auch auf metaphorischer Ebene deutlich wird, wenn er in anderen Briefen das klassische Bild der einen Seele aufruft, die sich zwei Freunde teilen.289 Ansonsten erscheinen Ruricius’ Freundschaftsbriefe

280 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 11, 1, S. 46f.: Etsi desiderium nostrum sinisteritas tanta comitatur, ut etiam nunc nostris invidearis obtutibus, non idcirco is es, virorum optime, de cuius nos moribus lateant celsa memoratu. ita cuncti nostrates idemque summates viri optimarum te exactissimarumque partium praestantissimum patremfamilias consono praeconio prosequuntur. 281 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 11, 2, S. 47: carebit sane nostrum naevo loquacitatis officium, si exemplo recursantis alloquii impudentiam paginae praesentis absolveris. 282 Siehe 2.2.2 Familiäre Abstammung mit Anm. 254 oben. 283 Siehe Anm. 255 oben. 284 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 4, 1, S. 27. 285 Vgl. etwa beispielhaft die knappen Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 49, S. 385; 55, S. 389; 59, S. 391f. 286 Vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 577. 287 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 12, S. 326. 288 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 5, S. 339. Vgl. zu diesem Brief auch Müller 2013, S. 434f. 289 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 1, S. 332: Antiqui sapientes amicos duos unam animam habere dixerunt, quod ualde uerum esse ego praedico proboque. Nam postquam a uestra germanitate discessi, diuisum esse me sentio partemque meam uobiscum resedisse cognosco nec absentibus uobis integer esse mi uideor. Außerdem Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 10, S. 344: Sapientes saeculi amicos duos unam animam habere dixerunt, quod ego etiam ecclesiastico testimonio uerum esse confirmo, quo ait: Credentium autem erat anima et cor unum, unum utique caritate, non numero, et fidei simplicitate, non singularitate personae. Hoc ergo praedico proboque. Nam ex quo a uestra unanimitate discessi, diuisum esse me sentio partemque meam uobiscum resedisse cognosco nec absentibus uobis integrum esse me credo et, cum me in me non inueniam, apud uos me ad uos regressus inquiro atque ibidem quantum mei uobis reliquisse; tantum uestri mecum abstulisse conspicio. Vgl. Cicero, Lael. (Powell 2006), 81, S. 82; Müller 2013, S. 431–438; Müller 2018c, S. 83f. Insgesamt zur epistolographischen Metaphorik in diesem Kontext vgl. Thraede 1970, S. 146–179.

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vielleicht etwas weniger konkret als bewusste Festigung sozialer Verbindungen in Kombination mit der Anführung aristokratischer Charakteristika wie bei Sidonius. Zweifellos werden aber dennoch (wenn auch in kleinerem Rahmen) vergleichbare Attribute aktiviert – bei Ruricius im Kontext von amicitia eher in Gestalt der literarischen Spielerei zur Feier der eloquentia.290 Explizite Freundschaftsbriefe sind im Korpus der Briefe des Avitus seltener als bei Sidonius und Ruricius,291 was allerdings durch die Umstände der Zusammenstellung der Sammlung bedingt sein kann. Immerhin ist aber ein blumiger Freundschaftsbrief sogar an den burgundischen Prinzen Sigismund überliefert,292 was anzuzeigen scheint, dass auch elitäre Praktiken der aristokratischen Netzwerkbildungen angepasst wurden, um den geänderten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Letztlich, so wird man konstatieren, dienten fast alle der in den Sammlungen enthaltenen Briefe zumindest mittelbar der Erneuerung und Aufrechterhaltung der Freundschaftsbeziehung zwischen Sender und Empfänger. Auch wenn die amicita in ihnen nicht eigens thematisiert sein muss und die Briefe häufig einen anderen Hauptanlass hatten, so wird dennoch allein durch die Tatsache des wechselseitigen Kontaktes die Verbindung zwischen Schreiber und Adressat aktualisiert.

2.2.4 Luxus Weitere zentrale Aspekte des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht waren Reichtum, Landbesitz293 und ein entsprechender Lebensstil,294 der dadurch ermöglicht wurde. Ein Kuriosum der Sammlungen des Ruricius und des Avitus stellt die Tatsache dar, dass beide mehrere Briefe kulinarischen Spezialitäten widmeten. Zwar ermahnt etwa Ruricius wohl seinen Sohn Constantius,295 qui semper de saecularibus cogitat et

290 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 10, S. 323f. 291 Vgl. aber Avitus, Ep. (Peiper 1883), 56, S. 85 an Messianus, der einen freundschaftlichen Gruß mit der nicht näher benannten Tätigkeit des Messianus verbindet. Siehe auch 2.2.1 Weltliches Amt oben. 292 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 32, S. 62f. 293 Vgl. Mathisen 1993, S. 50–55; Salzman 2000, S. 355–358; Wood 2000, S. 418–420; Halsall 2007, S. 497; Jones 2009, S. 82f.; Wickham 2011. 294 Dass es sich hierbei jedoch nicht um ein verlässliches Kriterium gesellschaftlicher Stratifikation handelt, das sich etwa – abseits schriftlicher Quellen – archäologisch ohne Weiteres identifizieren und nachweisen ließe, zeigt Loveluck 2011. 295 Vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 587. Dass es sich beim Adressaten tatsächlich um einen der Söhne des Ruricius handelt, vermutet auch Mathisen 1999, S. 214. Die Ermahnung des Ruricius passt gut zu zwei Briefen von ihm mit einem ähnlichen Ansinnen, die eindeutig an seinen Sohn gerichtet sind (vgl. Ruricius, Ep. [Demeulenaere 1985], II, 24, S. 364f.; 25, S. 365).

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iugiter terrena meditatur,296 seinen Hang zu allzu ausschweifenden weltlichen Vergnügungen zu unterdrücken, der Anlass des Briefes ist jedoch der Dank des Vaters für erhaltene Delikatessen, für die er sich durch die Übersendung eines Wildschweinrückens revanchiert.297 Auch an anderen Stellen scheint Ruricius lustvoll involviert in den Austausch essbarer Köstlichkeiten, der sich zweifellos im Rahmen von Gabe und Gegengabe vollzieht und zur Pflege der amicitia diente.298 So teilt Ruricius Krustentiere (legumina marina),299 Fang aus der Dordogne (Doranoniae spolia)300 und Fischdelikatessen aus der Vézère (piscationis in Visera deliciae)301 auch mit anderen Feinschmeckern. Auffällig ist dabei, dass sich diese Briefe alle im zweiten Buch der RuriciusSammlung finden. Wenn man also davon ausgeht, dass das erste Buch seiner Briefe noch von Ruricius selbst konzipiert und das zweite nach seinem Tod zusammengestellt wurde,302 könnte man annehmen, dass er diese Motivik nicht unbedingt als veröffentlichungswürdig ansah und es sich dabei eher um ein Privatinteresse des Bischofs handelte. Freilich ist mit Danuta Shanzer zu bemerken, dass ähnliche Briefe über Speisen und Gastmähler durchaus eine gewisse Tradition hatten und einen klassischen Topos bedienten.303 Damit wäre die Prominenz solcher Thematik in der Briefsammlung ebenso erklärt, falls man sie nicht ausschließlich als spezielle Eigenheit des Gourmets Ruricius deuten will. Gleichzeitig könnten diese Briefe aber auch ein Hinweis darauf sein, dass man sich nun vor dem Hintergrund veränderter Umstände im Visigotenreich vermehrt auf solche eher private als öffentliche Formen der aristokratischen Gruppenbildung stützte – als Substitut für alte Praktiken, deren Sinn verlorenen gegangen oder gehaltlos geworden war.

296 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 43, S. 381. 297 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 43, S. 380f.: De deliciis transmissis gratias ago et, quantum indicastis, tantum me utrarumque auium suscepisse significo simulque etiam per pueros ipsos, qui nobis haec detulerunt, tergus aprunum me pietati tuae indico transmisisse, ut, dum nos uolatilia, qua transmisisti, deliciamur, tu bipede de quadrupede facto satieris. Vgl. Shanzer 2001, S. 223. 298 Siehe vorheriges Kap. Vgl. etwas allgemeiner zum Gabenaustausch im epistolographischen Kontext in Spätantike und Mittelalter Beyer 2011. 299 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 44, S. 381: Apostolica praecepta nos commonent, ut, a quibus diuina percipimus, eis terrena praebeamus. Quod nos uel in hac dumtaxat parte seruantes pro caelestibus epulis, quas nobis et sermone uiuo et patrum tractatibus ministratis, legumina marina transmisimus, per haec nil nos habere proprium conprobantes, siquidem et a diuinis bonis sumus, quae uos tribuitis, peregrini et nos peregrina transmittimus. 300 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 45, S. 381: Ago gratias, quod, dum nobis Doranoniae spolia transmittitis, pietatem uestram erga me sincerissimam conprobatis, qua nos amplius quam deliciis delectamur, siquidem inde esuriem corporis conpescimus, hinc cordis. 301 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 54, S. 388: Extra affectum consuetudinarium et probatum et humanitatem nobis dignaris inpendere, dum usibus tuis detrahis, quod nostris largiaris expensis, quia puero uestro referente cognoui, quod piscationis in Visera pro parte uestra nobis iusseras delicias ministrare. 302 Siehe 2.1.2 Ruricius von Limoges oben. 303 Vgl. Shanzer 2001, S. 232–235.

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Auch im Burgunderreich bedankte sich Avitus von Vienne brieflich für Essensgeschenke (deliciae),304 verschickte selbst Fisch305 und ermahnte seine Adressaten scherzhaft, sich nicht zu sehr den Gaumenfreuden der Saône hinzugeben, sondern stattdessen auch mit dem Kärglichen aus der Isère auszukommen.306 Das LukullusThema faszinierte Avitus offenbar sogar so sehr, dass es ihn zu einem elaborierten Streich animierte. In einem seiner Schreiben an Bischof Maximus von Genf, mit dem er Leckereien auszutauschen pflegte,307 bemerkt Avitus, dass der gierige (avidus venter) Bote Leonianus308 von den Geschenken gekostet habe, die er überbrachte.309 Möglicherweise auf diese Episode Bezug nehmend verfasste Avitus im Namen jenes Leonianus außerdem einen fiktiven Brief, in dem er sich über Gier und Fresslust amüsiert.310 In den genannten Beispielen bei Ruricius und Avitus waren das Thema Essen und Nahrungsmittel nicht selten Anlass für Spott, Ironie und Wortspiel, so dass sich in den Passagen noch häufig weitere Botschaften verbargen. Auch wenn sich in Sidonius’ überlieferter Korrespondenz keine Hinweise darauf finden, dass er ebenfalls ausgewählte Nahrungsmittel verschickte oder empfing, so verschmähte er gutes Essen dennoch nicht und war nach eigenen Worten selbst ein guter Gastgeber.311 Auch vor seiner Zeit als Bischof deutet Sidonius ausgiebige cenae an.312 Solche Mähler galt es natürlich in geeigneten Örtlichkeiten und in der entsprechenden Umgebung abzuhalten. Dazu gesellte man sich vornehmlich auf das Land. Auch darüber finden sich Berichte in der Briefsammlung des Sidonius. In einem Brief an seinen Freund Domitius313 beschreibt Sidonius ausführlich sein Landgut, das aus dem Besitz der Familie seiner Frau stammte. Idyllisch gelegen, ausgestattet mit mehreren Bädern und Esszimmern lädt es zum Entspannen und zu gemeinschaftlichem

304 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 66, S. 88: Magnae quidem et nimis admirandae sunt deliciae, quas misistis, copia, tempore, dignitate. 305 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 72, S. 90; Shanzer 2001, S. 218f. 306 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 83, S. 94: Suadens, immo, quia tantum obduruistis, supplicans, ut stomachos multis Sauconnae deliciis nauseantes tandem parcioribus Iaeriae vestrae ieiuniis atteratis. Shanzer 2001, S. 219f. 307 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 66, S. 88; siehe auch Anm. 304 oben. 308 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 636. 309 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 74, S. 91: Servus vester Leonianus multum gemens, minimum sumens, avido quidem, sed vacuo ventre transmisit. 310 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 86, S. 95f. Dazu außerdem Shanzer 2001, S. 223–228. 311 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 14, 11, S. 122: humanissimus esse narraris; nostram quoque mensulam nullus, ut specum Polyphemi, hospes exhorruit. Vgl. auch Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 12, S. 143f. und jetzt die ausführliche Besprechung bei Egelhaaf-Gaiser 2018, S. 265–274. 312 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 9, 10, S. 32: dicerem et cenas et quidem unctissimas, nisi terminum nostrae loquacitati, quem verecundia non adhibet, charta posuisset; quarum quoque replicatio fieret amoena narratu, nisi epistulae tergum madidis sordidare calamis erubesceremus. Shanzer 2001, S. 220. 313 Siehe Anm. 26 oben.

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Spiel ein,314 wie es dem aristokratischen Ideal des otium entsprach.315 Diesem pflegte Sidonius auch nachzukommen, wenn er anderswo zu Gast war, so berichtet er Donidius316 zumindest in einem Brief, der von Sidonius’ Besuch bei seinen Freunden Ferreolus317 und Apollinaris318 erzählt. Die Freunde ergehen sich in ausgedehnten Mahlzeiten, Entspannung und Lektüre.319 Ein Fest solle auch Elaphius bei sich für seine Freunde zur Einweihung einer von ihm gestifteten Taufkapelle ausrichten, schreibt Sidonius zu anderer Gelegenheit.320 Elaphius, der durch einen Brief des Ruricius in den Dunstkreis des visigotischen Hofes gerückt wird,321 muss also wie auch der mutmaßlich gotische Freda,322 der ebenfalls von Ruricius adressiert und ob seines Landsitzes gelobt wird,323 über entsprechende Liegenschaften verfügt haben.

2.2.5 Romanitas Die bisher aufgerufenen Teilindikatoren für das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien lassen sich unter dem Oberbegriff Romanitas zusammenfassen. Dabei bleibt die genaue Definition von Romanitas jedoch offen und ihr Katalog

314 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 2, 3–15, S. 22–25. Zum Landgut eines anderen Freundes vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 14, S. 38. Dazu außerdem Harries 1994, S. 131–133; Mratschek 2008, S. 373–377. Percival 1997, S. 285–287 schätzt die Bedeutung der Landgüter für das Selbstverständnis der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sogar als so zentral, dass er annimmt, dass sich in Sidonius’ Beschreibung, in der er sowohl idealisierende Züge als auch subtil dargestellten Verfall ausmacht, eine Form der Realitätsflucht ausdrücke – „that he is [. . .] keeping up appearances, trying to convince himself that in spite of everything that is happening in the Gaul of his day, the world he knows is still intact and in place. [. . .] They [die römische Oberschicht in Gallien] live, to some extent, in an unreal world“ (Percival 1997, S. 287; vgl. mit nahezu gleicher Schlussfolgerung Mratschek 2008, S. 379). Vgl. Percival 1997, S. 280f. auch zur Problematik archäologischer Evidenz in diesem Kontext. 315 Vgl. Matthews 1975, S. 1–12; Heather 1998, S. 193–195; Dewar 2014; Heising 2014. 316 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 593; Kaufmann 1995, Nr. 30, S. 297. 317 Siehe Anm. 251 oben. 318 Möglicherweise ist ein Onkel des Sidonius gemeint. Vgl. Kaufmann 1995, Nr. 5, S. 278; anders Heinzelmann 1982, 2, S. 556. 319 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 9, S. 30–33. 320 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 15, 1, S. 66: Epulum multiplex et capacissima lectisternia para: plurimis viis, pluribus turbis (ita bonorum contubernio sedit) ad te venitur, quippe postquam omnibus tempus futurae dedicationis inclaruit. nam baptisterium, quod olim fabricabamini, scribitis posse iam consecrari. 321 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 205 und 206 oben. 322 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 208 oben. 323 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 11, S. 325: Sed quid ego inmemor inperitiae meae paupero sermone, mi domine, ruris uestri diuitias, delicias describere aut enarrare contendo, ad cuius laudem etiam ingenia maiora succumberent?

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letztlich etwas diffus.324 In den drei gallischen Briefsammlungen des Sidonius, Ruricius und Avitus taucht der Begriff jedenfalls nicht direkt auf, obwohl die Briefe in einer Zeit entstanden, wo gerade das ‚Römertum‘ in Gallien mindestens auf politisch-militärischer Ebene in die Krise geraten war.325 Bezeichnenderweise gibt es in den beiden letzten Briefbüchern des Sidonius, die mutmaßlich erst zusammengestellt wurden und kursierten, als er sich bereits mit Eurich und den Visigoten nach vorhergehendem Exil ausgesöhnt hatte und zurückgekehrt war,326 keine direkten Bezugnahmen mehr auf ‚römische‘ Angelegenheiten. In den älteren Bänden verhielt sich dies noch anders. Im Brief an Eucherius327 beklagt Sidonius, den Zustand des großen Elends, in dem sich die Romana respublica befinde,328 und schafft einen scharfen Kontrast zu den Foederaten, die das römische Militär tyrannisch beherrschen (inciviliter administrans) und zugleich ruinieren würden (etiam fundamentaliter eruens).329 Auch gegenüber Polemius330 im vierten Buch erwähnt Sidonius die allgemeine Romanarum rerum adversitas.331 Die Auseinandersetzung mit den Visigoten spiegelt sich indessen in den Briefen, die auf diese Zeit zurückzugehen scheinen, in einer deutlichen Gegenüberstellung von barbari oder Gothi und Romani wider. Durchaus prominent platziert zeigt sich dies im ersten Brief des zweiten Buches an Sidonius’ Schwager Ecdicius.332 Hier heißt es über einen Handlanger der Visigoten: ructat inter cives pugnas, inter barbaros litteras333 und exultans Gothis insultansque Romanis. Zu Beginn des siebten Buches ist dieses Gegensatzpaar gleich in mehreren nahe beieinander liegenden Briefen ebenfalls auffällig in Szene gesetzt. Den Auftakt des Buches macht das unheilsschwangere Gerücht, Gothos in Romanum solum castra

324 Zum Begriff vgl. zuletzt Mitthof 2012; Pohl 2014; Conant 2015; Pohl/Gantner/Grifoni/Pollheimer-Mohaupt (Hrsg.) 2018. Speziell zur Romanitas des Sidonius vgl. Prévôt 1993; Harries 1996. 325 Jüngst konstatiert Pohl 2018a, S. 5 allgemein: „The conclusion can hardly be that being Roman did not matter anymore in the late Empire. A lack of self-identifications as Romans in the post-Roman evidence cannot therefore be taken as proof that Romans had disappeared – these silences may just have continued established practice. Generally, personal identities were multi-layered, from very local to much broader allegiances and aspirations of belonging. Which of these identifications became salient depended on the circumstances (and was ‚situational‘). In a Roman World, Romanness was less distinctive than other, more specific identities; it only needed to be highlighted if it was in doubt, or if it had been a recent achievement.“ Für eine differenzierte Betrachtung der Lage der gallischen Oberschicht in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts diesbezüglich siehe aber das Folgende. 326 Siehe 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben. 327 Siehe Anm. 185 oben. 328 Siehe Anm. 186 oben. 329 Siehe Anm. 188 oben. 330 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 671; Kaufmann 1995, Nr. 86, S. 336. 331 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 14, 1, S. 66. 332 Siehe 2.1.1 Sidonius Apollinaris mit Anm. 42 oben. 333 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 2, S. 21.

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movisse.334 Später heißt es, die bella hätten in der Aquitania prima nur noch Clermont auf den Romanorum partes übrig gelassen.335 In diesem Kontext beklagt Sidonius, dass sich nicht nur Eurichs Streitkräfte gegen Romana moenia richteten, sondern durch den praefatus rex Gothorum auch dem Christentum (leges Christianae) Gefahr drohe.336 Solche Rhetorik findet sich in den beiden letzten Briefbüchern dann allerdings nicht mehr. Ruricius’ Briefe liefern grundsätzlich so gut wie keine Hinweise, die in eine entsprechend politische Richtung zu deuten wären,337 und Avitus hatte sich scheinbar bereits vollständig mit dem neuen status quo arrangiert, ähnlich wie wohl auch Sidonius nach seiner Rückkehr aus dem Exil 476/77. Geradezu proaktiv schreibt Avitus denn auch in Diensten des burgundischen Königs Sigismund an den Kaiser in Byzanz: romanus rekurriert hier auf die Oströmer und wird nicht mehr in Bezug auf sich selbst und die gallische Bevölkerung verwendet.338 Analog dazu verweist patria in einem Brief an Sigismund nicht auf das römische Imperium, sondern auf Avitus’ Heimatland, das Reich der Burgunder.339 An die stadtrömischen Senatoren Faustus340 und Symmachus341 schreibt Avitus mit der Bitte, im Laurentianischen Schisma Partei in seinem Sinne zu ergreifen, dabei appelliert er an die species nominis Romani mundo labenti

334 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 1, 1, S. 103: Rumor est Gothos in Romanum solum castra movisse: huic semper irruptioni nos miseri Arverni ianua sumus. 335 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 5, 3. S. 108: his accedit, quod de urbibus Aquitanicae primae solum oppidum Arvernum Romanorum reliquum partibus bella fecerunt. 336 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 6, 6, S. 109: sed, quod fatendum est, praefatum regem Gothorum, quamquam sit ob virium merita terribilis, non tam Romanis moenibus quam legibus Christianis insidiaturum pavesco. Zur durchaus propagandistisch-ideologisch zu interpretierenden Zuspitzung von Eurich gehe nicht nur eine Bedrohung für die Römer, sondern auch für das Christentum aus: Goldberg 1995. Für eine genaue Analyse des ganzen Briefes vgl. Schwitter 2015, S. 270–275, der auch positive Seiten in der Charakterisierung Eurichs erkennen will. 337 Vgl. Mathisen 1999, S. 39f.; Mathisen 2001b, S. 110-112. 338 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 78, S. 93; 93, S. 100. Vgl. auch Avitus, Ep. (Peiper 1883), 47, S. 76. 339 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 91, S. 99: Scio quidem curis atque occupationibus, quibus sub ope caelesti pro salute patriae fideliter excubatis, importune suggeri servitium litterarum. Der regionale Bezug von patria scheint hier klar. Eventuell mag Avitus die burgundischen Herrscher jedoch grundsätzlich als Diener des römischen Reiches betrachtet haben. Vermutlich geht man dennoch zu weit, wenn man wie Scheibelreiter 1989, S. 207 annimmt, dass sich Avitus tatsächlich noch als „Angehöriger des Imperium Romanum“ sah. Zwar wird eingeräumt, dass diese Identifikation „mehr und mehr aus dem Alltagsbewußtsein schwand und sich zum kulturellen und religiösen Verständnis verengte“ (Scheibelreiter 1989, S. 207), dies müsste allerdings noch stärker betont werden, zumal unbegründet bleibt, warum „jene[r] letzte[] Bereich [das kulturelle und religiöse Verständnis], [. . .] vom Zusammengehörigkeitsgefühl der cives Romani nicht zu trennen“ (Scheibelreiter 1989, S. 207) sei. Vgl. zur vom Imperium abgelösten Verwendung des patria-Begriffs in den Nachfolgereichen (jedoch ohne die zitierte Avitus-Stelle einzubeziehen) auch Eichenberger 1991, S. 71–110. 340 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1980, 9, S. 454–456. 341 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1980, 9, S. 1044–1046.

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und setzte sich in deutlichen Kontrast (quasi Christianus episcopus obtestor) zu den beiden Römern (quasi senatores ipse Romanos).342 Über ausdifferenzierten ethnischen Charakter im Sinne einer gemeinsamen ethnischen Herkunft schien Romanitas ohnehin nie verfügt zu haben. Sie verlor ganz offenbar mit dem Wegfall ihres rechtlich-politischen Bezugsrahmens an identitätsstiftendem Potential und damit an distinguierender spezifisch ‚römischer‘ Qualität im Verlauf des 5. Jahrhunderts in Gallien,343 was sich etwa bei Sidonius Apollinaris bereits andeutete und sich über Ruricius und Avitus fortsetzte. Vielmehr drängten nun kulturelle Attribute in den Vordergrund.344 Dies zeigt sich vor allem anhand der Tatsache, dass vermehrt Bildung und die lateinische Sprache in den Mittelpunkt des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien rückten.345 2.2.5.1 Bildung und Sprache Auffällig häufig erwähnt etwa bereits Sidonius in seinen Briefen, dass klassische Bildung, neben vornehmer Abstammung, der Bekleidung eines offiziellen Amtes und Reichtum, ein zentrales Merkmal sei, dass ein Mitglied der römischen Oberschicht auszeichne.346 So lobt er viele seiner Adressaten für deren Bildung und Schreibstil oder berichtet von seinen eigenen literarischen Tätigkeiten. In einem Brief an seine beiden Onkel Simplicius347 und Apollinaris348 etwa schreibt Sidonius, wie er sich zusammen mit seinem Sohn der gemeinsamen Lektüre widmet.349 Dass die schulische Bildung ein geteiltes Fundament der römischen Oberschicht in Gallien war, zeigt auch der bereits mehrfach zitierte neunte Brief aus dem fünften 342 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 34, S. 64: Quibus cognitis quasi senatores ipse Romanos quasi Christianus episcopus obtestor, si divinitatis, quam colitis, dono temporibus vestris prosperitas optata succedat, si dignitas, in qua floretis universo orbi, speciem nominis Romani mundo labenti contineat, ut in conspectu vestro non sit ecclesiae minor quam rei publicae status. 343 Vgl. Heather 1999, S. 241; Pohl 2009; Drinkwater 2013; Pohl 2014, S. 415f.; Halsall 2018; Pohl 2018a, S. 26–33; aus archäologischer Perspektive von Rummel 2013a. 344 Vgl. Harries 1996, S. 34; Drinkwater 2013, S. 74; Pohl 2013b, S. 24; Conant 2015, S. 157. 345 Vgl. Sivan 1983, S. 124–131; Schwitter 2017, S. 69. 346 Die große Bedeutung der Bildung für die römische Oberschicht ist in der Forschung ein häufig aufgegriffenes Thema, vgl. Stroheker 1948, S. 92f.; Sivan 1983, S. 124–130; Mathisen 1991d; Mathisen 1993, S. 105–118; Kaufmann 1995, S. 224–236; Vössing 1997, S. 595–613; Eigler 2003, S. 121–124; Schröder 2007, S. 88–105; Mratschek 2008; Postel 2011, S. 176–179; Cleary 2013, S. 242–250; Schwitter 2015, S. 80–93, 228. 347 Vgl. Heinzelmann 1982, 4, S. 696; Kaufmann 1995, Nr. 105, S. 348. 348 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 556; Kaufmann 1995, Nr. 5, S. 278. 349 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 12, 1, S. 64: nuper ego filiusque communis Terentianae Hecyrae sales ruminabamus; studenti assidebam naturae meminens et professionis oblitus quoque absolutius rhythmos comicos incitata docilitate sequeretur, ipse etiam fabulam similis argumenti id est Epitrepontem Menandri in manibus habebam. Zur Bildung des Apollinaris, Sohn des Sidonius, vgl. Gerth 2013, S. 160–171.

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Buch an Aquilinus.350 Sidonius betont, „ein- und dieselbe Schule hat uns ausgebildet, derselbe Lehrer unterrichtet [. . .] und dieselbe Methode hat unsere Bildung geformt.“351 Selbst wenn man annehmen sollte, dass zwischen Sidonius und Aquilinus ein besonderes Nahverhältnis bestand, das vielleicht nicht für alle Verbindungen innerhalb der Oberschicht repräsentativ war, so belegt dies eben, dass es neben eher losen Beziehungen immer wieder solche engen Freundschaften gab, die das Netz der Oberschicht durch einzelne Stränge insgesamt enger woben. Zumal solche Verbindungen ja auch offensichtlich eine gewisse Tradition hatten, da sie im Fall von Sidonius und Aquilinus auf deren Großväter und Väter zurückgeführt wird.352 Auch potentielle neue Bekanntschaften werden auf diese Weise bewertet. Von einem gewissen Pegasius353 war Sidonius auf dessen amicus Menstruanus354 aufmerksam gemacht worden. Sidonius stellt nun fest, dass dieser zu den Menschen zähle, die auch ihm carus und devinctus seien und dies vor allem, da er neben anderem an erster Stelle geschickt (opportunus) und zugleich feingeistig (elegans) sei. Unter den boni spiegle man sich in solchen mores, so dass man von Menstruanus nur einen guten Eindruck haben könne (boni quique bona quaeque iudicaverunt).355 Noch direkter bestätigt Sidonius den Stellenwert klassischer Bildung gegenüber Hesperius.356 Hier schreibt er ausdrücklich von der generositas, der aristokratischen Qualität, die der Bildung (litterae) zukomme.357 Weiterhin lobt er Secundinus358 für seine lyrischen Fähigkeiten,359 Sapaudus360 für seine vetus 350 Siehe 2.2.2 Familiäre Abstammung und 2.2.3 Amicitia oben. 351 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 9, 3, S. 84: unus nos exercuit ludus, magister instituit; una nos [. . .] disciplina formavit. Übers. in Köhler 2014, S. 160. 352 Siehe 2.2.3 Amicitia mit Anm. 275 oben. 353 Mehr als sein Name und dass er zu den Adressaten Sidonius’ zählte, ist nicht über Pegasius bekannt. Vgl. Heinzelmann 1982, S. 667; Kaufmann 1995, Nr. 79, S. 331. 354 Ebenfalls ansonsten unbekannt, vgl. Heinzelmann 1982, 4, S. 652. 355 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 6, S. 28: Menstruanus amicus tuus longo istic tempore inspectus meruit inter personas nobis quoque caras devinctasque censeri, opportunus elegans, verecundus sobrius, parcus religiosus et his morum dotibus praeditus, ut, quotiens in boni cuiusque adscitur amicitias, non amplius consequatur beneficii ipse quam tribuat. [. . .] quam ob rem triplex causa laetandi, tibi prima, cui amicos sic aut instituere aut eligere contingit; Arvernis secunda, quibus hoc in eo placuisse confirmo, quod te probasse non ambigo; illi tertia, de quo boni quique bona quaeque iudicaverunt. 356 Zum mutmaßlichen Lehrer eines oder mehrerer Söhne des Ruricius siehe 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben. 357 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 10, 1, S. 33: Amo in te quod litteras amas et usquequaque praeconiis cumulatissimis excolere contendo tantae diligentiae generositatem, per quam nobis non solum initia tua verum etiam studia nostra commendas. Über Hesperius an anderer Stelle, Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 22, 1, S. 72: Vir magnificus Hesperius, gemma amicorum litterarumque [. . .]. 358 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 690; Kaufmann 1995, Nr. 102, S. 346f. 359 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 8, S. 83f. 360 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 689; Kaufmann 1995, Nr. 101, S. 346. Es handelt sich hier wohl eher nicht um den Adressaten von Avitus, Ep. (Peiper 1883), 86, S. 95f. (siehe 2.2.4 Luxus mit Anm. 310 oben), vgl. Shanzer/Wood 2002, S. 279f.

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peritia diligentiaque.361 Den Dichter Consentius362 preist Sidonius gleichermaßen für die Pracht seines Landbesitzes wie für seine Dichtkunst und verbindet damit zwei Charakteristika der römischen Oberschicht geschickt zu einem Lob seines Adressaten: „Es [ist] kaum auszumachen, was in höherem Grad kultiviert ist: das Land des Besitzers oder sein Geist.“363 Ähnlich wie die Bekleidung eines öffentlichen Amtes scheint jedoch auch die klassische Bildung für die Mitglieder der römischen Oberschicht in Gallien in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts mehr und mehr an Priorität einzubüßen,364 zumindest wird die Situation durch Sidonius dramatisch geschildert.365 Ebenfalls im Brief an den Lehrer Hesperius, den er – wie erwähnt – ausdrücklich für die edle Natur seiner Bildung lobt, zeigt sich Sidonius besorgt um den Bildungsstand der jüngeren Generation. Gerade auch weil es die Beherrschung klassischen Lateins frei von Barbarismen sei, die sie von der breiten Masse absetze, und es nur noch wenige – wie Hesperius – gebe, die sie vor dem endgültigen Untergang schütze: Bedenke ferner, dass die Zahl der Müßiggänger derart zunimmt, dass wir die reine Eigentümlichkeit der lateinischen Sprache in kurzer Zeit als vergangen und vernichtet beklagten, wenn nicht ein paar wenige wie du sie vom Rost gemeiner Barbarismen befreiten. So wird durch die Nachlässigkeit des Pöbels der ganze Purpur der adeligen Sprache seinen Glanz verlieren.366

Mit einiger Sicherheit ist zu vermuten, dass der Brief kurz nach der Veröffentlichung des ersten Buches der Briefsammlung um 470 entstand,367 ohne dass damit gesagt wäre, dass er auch tatsächlich abgeschickt wurde, seinen Empfänger erreichte oder jemals die Intention dazu vorhanden war. Bestimmt wurde er jedoch spätestens 477/78 als Teil des Konvoluts der Bücher I bis VII den Rezipientinnen und Rezipienten der Briefsammlung bekannt. Auch der ebenfalls in diesem Kontext bereits zitierte

361 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 10, 1, S. 85: Si quid omnino Pragmatius illustris, hoc inter reliquas animi virtutes optime facit, quod amore studiorum te singulariter amat, in quo solo vel maxume animum advertit veteris peritiae diligentiaeque resedisse vestigia. equidem non iniuria tibi fautor est; nam debetur ab eo percopiosus litteris honor. Vgl. zum Motiv der Bildung in diesem Brief Gerth 2013, S. 180–182. 362 Vgl. Heinzelmann 1982, 1, S. 586; Kaufmann 1995, Nr. 24, S. 292f. 363 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 4, 1, S. 129: difficile discernitur domini plusne sit cultum rus an ingenium. Übers. in Köhler 2014, S. 249. 364 Oder der Generationen übergreifende Erhalt derselben wird zunehmend wichtiger – und führt daher bei Sidonius auch zu erhöhter Aufmerksamkeit und Sorge –, da die anderen „social marker“ der gallo-römischen Oberschicht nicht (mehr) zu erwerben oder entwertet sind. 365 Zum Motiv des Bildungsverlust bei Sidonius vgl. Mathisen 1991d; Mathisen 1993, S. 105–110; Kaufmann 1995, S. 263–268; Gerth 2013, S. 183–199; Schwitter 2015, S. 228–236. 366 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 10, 1, S. 33: illud appone, quod tantum increbruit multitudo desidiosorum, ut, nisi vel paucissimi quique meram linguae Latiaris proprietatem de trivialium barbarismorum robigine vindicaveritis, eam brevi abolitam defleamus interemptamque; sic omnes nobilium sermonum purpurae per incuriam vulgi decolorabuntur. Übers. nach Schwitter 2015, S. 233. Zur Deutung vgl. auch Schwitter 2015, S. 233. 367 Vgl. Loyen 1970a, S. 68 u. 247.

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Brief an Sapaudus geht in eine ähnliche Richtung. Hier beklagt Sidonius, dass es nun nur noch wenige Geistesgenossen gebe, die literarische Werke ehren würden: Es sei nun einmal ein Fehler der menschlichen Natur, dass der, der die Kunst nicht kenne, den Künstler nicht zu würdigen wisse.368 Doch am stärksten spiegelt sich Sidonius’ Selbstverständnis in Bezug auf die klassische Bildung in einem Brief aus dem achten Buch an seinen Freund Johannes369 wider, der hier in Gänze zitiert werden soll: Ich glaubte, mein äußerst gelehrter Freund, an den literarischen Studien ein Unrecht zu verüben, wenn ich es aufgeschoben hätte, dich dafür zu loben, dass du den Verfall der literarischen Bildung hinausgezögert hast; sie lag ja in gewisser Weise schon begraben. Als ihr Erwecker, Gönner und Beschützer wirst du nun gefeiert: Bei dir, dem letzten Rhetoriklehrer Galliens, hat in dieser kriegerischen Zeit die lateinische Beredsamkeit einen sicheren Hafen gefunden, während die Waffen Roms bereits Schiffbruch erlitten haben. Überhaupt müssten also unsere Zeitgenossen wie unsere Nachkommen dich in eifrigen Dankesgebeten als zweiten Demosthenes, dich als zweiten Cicero hier mit Statuen und dort mit Bildnissen verehren – wenn dies denn erlaubt wäre. Sie werden, von dir unterwiesen und unterrichtet, inmitten eines zwar unbesiegten aber dennoch fremden Volkes die Zeichen ihrer alten Geburt erhalten. Denn nachdem die alten Würdengrade aufgehoben sind, durch die einst der Oberste vom Niedrigsten unterschieden wurde, wird in Zukunft das einzige Kennzeichen des Adels die Bildung sein. Aber mich verpflichten die Verdienste deines Unterrichts mehr als alle übrigen zur Dankbarkeit, denn ich bin das Schreiben gewohnt und bemühe mich etwas zu verfassen, das die Nachwelt lesen kann: So erwächst mir denn wenigstens aus deiner Schule oder unter deiner Unterweisung eine Gruppe kundiger Leser. Lebe wohl.370

Sidonius lobt seinen Freund Johannes überschwänglich: Er sei als Gelehrter der Retter der litterae in Gallien. Besonders um die lateinische Sprache habe sich Johannes verdient gemacht, die in den unruhigen Zeiten bedroht sei. Sidonius schrieb den Brief vermutlich 478 und fügte ihn schließlich um 480 (oder wenige Jahre später), als die Auvergne unter visigotischer Herrschaft stand, im achten Buch in die Briefsammlung 368 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 10, 4, S. 85: [. . .] quia pauci studia nunc honorant, simul et naturali vitio fixum est radicatumque pectoribus humanis, ut qui non intellegunt artes non mirentur artifices. 369 Siehe Anm. 26 oben. 370 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 2, S. 127: Credidi me, vir peritissime, nefas in studia committere, si distulissem prosequi laudibus quod aboleri tu litteras distulisti, quarum quodammodo iam sepultarum suscitator fautor assertor concelebraris, teque per Gallias uno magistro sub hac tempestate bellorum Latina tenuerunt ora portum, cum pertulerint arma naufragium. debent igitur vel aequaevi vel posteri nostri universatim ferventibus votis alterum te ut Demosthenem, alterum ut Tullium nunc statuis, si liceat, consecrare, nunc imaginibus, qui te docente formati institutique iam sinu in medio sic gentis invictae, quod tamen alienae, natalium vetustorum signa retinebunt: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse. nos vero ceteros supra doctrinae tuae beneficia constringunt, quibus aliquid scribere assuetis quodque venturi legere possint elaborantibus saltim de tua schola seu magisterio competens lectorum turba proveniet. vale. Übers. nach Köhler 2014, S. 245 f.; Schwitter 2015, S. 228 f., 233 f., 235 f.

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ein.371 Dabei bediente er sich einer analogen Motivik wie schon im Brief an Hesperius. Sidonius gibt dem Inhalt seines Briefes außerdem eine historische Dimension, um ihm Nachdruck zu verleihen. Er beschwört einerseits die Vergangenheit – analog zur Betonung vornehmer Geburt und der Taten der Vorfahren seiner Adressaten in anderen Briefen372 – und vergleicht Johannes mit Demosthenes und Marcus Tullius Cicero. Andererseits lobt er Johannes’ Tätigkeit vor allem im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft (vel aequaevi vel posteri nostri) und auf die Bildung kommender Generationen. Sidonius gibt sich außerdem den Anschein, als sei es sein drängendes Bedürfnis, dieses Lob für Johannes auszusprechen. Würde er es länger zurückhalten, sei dies ein Vergehen gegen die Wissenschaften (nefas in studia committere), um deren Erhalt es eben nicht nur Johannes zu gehen scheint, sondern in gleichem, wenn nicht in noch stärkerem Maße, Sidonius selbst. Er sieht sich auf der gleichen Mission wie sein Adressat, die Bildung der nachfolgenden Generationen zu bewahren. Warum diese Aufgabe so wichtig erscheint, legt Sidonius im Brief ebenfalls dar. Es geht um nichts weniger als um die Persistenz der eigenen gesellschaftlichen Gruppe.373 Noch stärker als in den zuvor zitierten Briefen tritt hier die Bildung als Konstituente des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien hervor. Gerade in Zeiten der Bedrohung und nachdem ein gewisser Niedergang bereits eingesetzt habe (nam iam remotis gradibus dignitatum), sei die Bildung (litterae) nunmehr das einzige indicium der nobilitas.374 Dies kann man zwar, besonders mit Blick auf den gerade zitierten Brief an Johannes, zunächst als allgemein vertrauten Topos der avantgardistischen Klage deuten.375 Doch völlig ohne Bezug zur Wirklichkeit ist keine Topik und besonders im Fall des Sidonius scheint der Anlass für die Aktivierung gerade einer solchen Motivtradition eine reale Entsprechung gehabt zu haben – man führe sich bloß Sidonius’ persönliche Biographie geprägt durch den Widerstand gegen die Visigoten, Exil und Rückkehr

371 Zur Datierung des Briefes vgl. Loyen 1970a, S. 84 u. 216. 372 Siehe 2.2.2 Familiäre Abstammung oben. 373 Vgl. Sivan 1983, S. 126f.; Mathisen 1991d, S. 52; Mathisen 1993, S. 109f.; Näf 1995, S. 137; Harries 1996, S. 35; Goltz 2002, S. 299f.; Eigler 2003, S. 122; Mratschek 2008, S. 376; Postel 2011, S. 176f.; Gerth 2013, S. 159, 189, 220f., 229f.; Schwitter 2015, S. 234. 374 Dies lässt ein wenig an die Sentenz bei Cassiodor denken, die Jahre später entstand: arma enim et reliqua gentes habent: sola reperitur eloquentia, quae Romanorum dominis obsecundat (Cassiodor, Var. [Mommsen 1894], IX, 21, S. 286). Vgl. zu diversen Stellen in der Korrespondez des Ennodius von Pavia, die die Bedeutung der Bildung für die Aristokratie betonen, Näf 1995, S. 196–204; Schröder 2007, S. 88–93. 375 Ähnliches auch bei Claudianus Mamertus, Ep. (Engelbrecht 1966), 2, S. 204: Video enim os Romanum non modo neglegentiae, sed pudori esse Romanis, grammaticam uti quandam barbaram barbarismi et soloecismi pugno et calce propelli, dialecticen tamquam Amazonem stricto decertaturam gladio formidari, rhetoricam acsi grandem dominam in angusto non recipi, musicen uero et geometricam atque arithmeticam tres quasi furias despui, posthinc philosophiam [atque] uti quoddam ominosum bestiale numerari. Zum Brief vgl. auch Gerth 2013, S. 177–180.

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vor Augen.376 Mag es um den Zustand der Bildung der gallo-römischen Oberschicht auch nicht so schlecht bestellt sein, wie Sidonius hier glauben machen will,377 so ist dennoch bezeichnend, dass er hier gerade die Bildung aufruft, von der er sich offenbar vor dem Hintergrund der dramatischen (auch hier bestimmt zu einem guten Teil dramatisierten) politischen Lage eine hohe Fortdauer als „social marker“ verspricht. Somit rückt die klassische Bildung im Angesicht des ‚Fremden‘ (alienus) in den Fokus des eigenen Selbstverständnisses, das durch den Wandel in vielen Gesellschaftsbereichen bedroht ist.378 Deutlich wird hier außerdem, dass Sidonius die politische Entwicklung an sich geradezu fatalistisch akzeptiert, indem er von der fremden gens invicta spricht, damit aber natürlich auch die eigene ‚Niederlage‘ klein redet und die Schicksalsergebenheit entschuldigend als letztlich alternativlos darstellt. Bildung und damit auch die Fähigkeit zur angemessenen literarischen Produktion und die vollendete Beherrschung der lateinischen Sprache werden zum Mittelpunkt des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien, da diese als einzige Distinktionsmittel übrig zu bleiben scheinen. Dafür sind sie umso wirksamer, vor allem auch in der Abgrenzung gegenüber neuen Herrschern, wie etwa den Visigoten, und anderen Bevölkerungsschichten, die im Zuge des gesellschaftlichen Wandels nach oben drängen.379 Bildung und immer wieder auch die Beherrschung des klassischen Lateins werden hier und an zahlreichen anderen Stellen in der Briefsammlung als Teil des Selbstverständnisses der Oberschicht hervorgehoben, ja mehr noch als letztes Bollwerk und Kontinuitätsversprechen gegen den drohenden Verfall stilisiert. Bezeichnend ist natürlich weiterhin, dass Sidonius seine Forderung nach Bewahrung der klassischen Bildung und Manier gleichzeitig schon mit erfüllt, indem der Brief seinen Appell selbst exemplarisch in eben jener postulierten, klassischen Sprache umsetzt und auch die Leserschaft – seien es nun der Adressat oder die Rezipientinnen und Rezipienten seiner späteren Briefsammlung – demonstrativ an der Selbstversicherung partizipieren lässt. Aussage ist hier also gleichbedeutend mit dem Medium, durch das die Aussage getroffen wird.380 Die Briefe leisten gleichzeitig das durch die Briefe Geforderte. Das Schreiben über Sprache – also poetologisches Schreiben – ist somit gleichzeitig performativer Schreibakt. Dies ist als poetologische 376 Vgl. auch Gerth 2013, S. 199. 377 Dass Sidonius hier zur Übertreibung neigte, zumal er selbst (und auch Ruricius und Avitus) sowie seine für ihre Eloquenz gelobten Zeitgenossen ja geradezu das Gegenteil zu bezeugen scheinen, konstatierte zuletzt Schwitter 2015, S. 228–236. 378 Vgl. zur Korrelation von Fremdheit und Identität zuletzt exemplarisch Münkler 2000; Scior 2002; Fraesdorff 2005; Goetz 2006; Vergin 2013; Gantner 2014. 379 Vor allem als Sorge um die ‚innerrömische‘ Stratifikation deutet dies Schwitter 2015, S. 232f. Zu Sidonius’ Haltung gegenüber der Unterschicht vgl. Kaufmann 1995, S. 221–268. 380 Vgl. analog dazu das berühmte Diktum des Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan: „The medium is the message“ (McLuhan 2005, S. 9).

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Performanz zu charakterisieren, die gleichsam das Selbstverständnis schon auf der Ebene der Textwelt konstituiert.381 Dieser Prozess ist außerdem durch eine inhärente Reziprozität geprägt – ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Sidonius’ Briefe somit gleichzeitig als Produkt und als ein konstituierendes Moment der römischen Oberschicht in Gallien betrachtet werden können. Sidonius demonstriert nicht nur seine Bildung, um sich als Mitglied der Gruppe und diese selbst zu repräsentieren, sondern er tut dies, indem er über Bildung und Sprache schreibt und reproduziert so auf doppelte Weise die gesellschaftlichen Konfigurationen. Damit bewegen sich die Briefe in Sidonius’ Briefsammlung genau auf der Schnittstelle zwischen literarischem Kunstprodukt und pragmatischem Schriftstück. Ganz bewusst scheint Sidonius den Johannes-Brief auch positioniert zu haben. Denn sämtliche der ersten sechs Briefe des achten Buches behandeln auf die eine oder andere Weise Bildung, literarisches Kulturgut und die unterschiedlichen Ebenen ihrer Instrumentalisierung. Firmiert der erste Brief an Petronius noch quasi als Einleitung, in der die Zusammenstellung des vorliegenden achten Buches kommentiert wird,382 so verweist er damit natürlich gerade auf die kulturelle Tradition, in der der Text steht. Als zweites und gleichsam erstes substantielles Element folgt dann der besagte Brief an Johannes. Der dritte Brief ist an den doctus383 Leo von Narbonne384 gerichtet, behandelt die Übersendung einer von Sidonius für Leo angefertigten Abschrift eines philosophischen Werkes385 und kolportiert des Weiteren Dank für Leos Einsatz am Hof Eurichs, der die Beendigung von Sidonius’ Exil ermöglichte.386 Es folgt der bereits erwähnte Brief an Consentius, der den jungen Mann für seinen durch und durch künstlerischen Lebensentwurf preist.387 Beim fünften Brief handelt es sich offensichtlich um einen reinen Kunstbrief zu Ehren des ansonsten unbekannten Fortunalis, der einzig für die Briefsammlung erstellt wurde und damit erneut selbstreferentiell auf den literarischen Status des Werkes verweist.388 Der lange sechste Brief an Namatius389 erwähnt 381 Vgl. zu Sidonius’ „literarischer Identiätskonstruktion“ und Poetologie in Bezug auf den letzten Brief seiner Sammlung auch Egelhaaf-Gaiser 2010 (das Zitat: Egelhaaf-Gaiser 2010, S. 263). 382 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 1, S. 126. Siehe dazu auch 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben und 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus unten. 383 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 3, 3, S. 128: quocirca sepone tantisper Pythicas lauros Hippocrenenque et illos carminum modos tibi uni tantum penitissime familiares, qui tamen doctis, ut es ipse, personis non tam fonte quam fronte sudantur. 384 Siehe Anm. 26 oben. 385 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 3, 1, S. 127. 386 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 3, 1, S. 127: cuius incommodi finem post opem Christi tibi debeo. Siehe zu diesem Brief auch 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ unten. 387 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 4, S. 129. Zu Consentius siehe Anm. 362 oben. Vgl. außerdem Mratschek 2008, S. 379f. 388 So beginnt Sidonius ganz bewusst und ungekünstelt auf seine Briefsammlung verweisend: Ibis et tu in paginas nostras (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 5, 1, S. 129). Zu dieser Epistel siehe auch 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus unten. 389 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 655; Kaufmann 1995, Nr. 70, S. 325f.

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dessen literarische Interessen und verbindet diese mit seinen militärischen Unternehmungen, die er wie Leo in Diensten der Visigoten ausführte.390 Dieses achte Buch wurde seinen Leserinnen und Lesern, wie bereits erwähnt, zudem vermutlich um 480 zugänglich gemacht und somit in einer Phase kompiliert, als das Zusammenleben unter der Herrschaft der Visigoten für die Römer und den zurückgekehrten Sidonius gesellschaftliche Realität war und wohl unabänderlich schien.391 Daraus erwuchs offensichtlich der Antrieb, das eigene Selbstverständnis entsprechend angepasst zu modellieren und zu demonstrieren. Dass die Bildungsthematik den Selbstverständnisdiskurs der römischen Oberschicht in Gallien beherrschte, zeigt sich auch an vergleichbaren Stellen in den Briefsammlungen des Ruricius und Avitus.392 Ungefähr in dieser Zeit zwischen 475 und 485393 entstanden drei Briefe des Ruricius, ebenfalls an den SidoniusAdressaten, den Lehrer Hesperius, gerichtet. Ruricius greift wie Sidonius in seinem Brief an Hesperius das Motiv der Verunreinigung (nubilum ignorantiae) von lateinischer Bildung und Sprache auf und dankt dem Lehrer dafür, dass er dieser mit seinem Unterricht entgegenwirke. Dich habe ich ausgewählt als Erforscher und Former der edlen Steinchen, Dich als den Prospektor des Goldes, Dich als Finder des verborgenen Gewässers, der Du weißt, wie man im Gestein versteckte Gemmen einer besonders edlen Art nachbildet, die im ganzen Durcheinander der Verhältnisse gewiss ihren vornehmen Stand verlieren würden, wenn sie kein Vorbild hätten. Auch Gold könnte, mit wertlosem Sand vermischt, wenn es nicht durch die Geschicklichkeit des Künstlers mit Wasser ausgewaschen und mit Feuer geläutert würde, weder Glanz noch Wert bewahren. Ebenso kann die Woge der Nässe nicht fließen, wenn nicht der Fleiß des Suchenden die verschlossenen Adern rinnenden Wassers und das von Erdreich bedeckte Flussbett des Stroms sorgfältiger befreite. So kann auch die Klinge der noch jugendlichen Sinne nicht aus eigener Kraft erstrahlen, die vom Nebel der Unwissenheit wie von der Schwere spröden Rosts umhüllt ist, wenn sie nicht durch die beharrliche Feile des Lehrers gereinigt wird.394

390 Zunächst führt Sidonius das Beispiel Caesars an, der sowohl im militärischen wie literarischen Bereich zu großen Höhen aufgestiegen sei (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 6, 1, S. 130), gefolgt von einem langen Lob des Schriftstellers Flavius Nicetius (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 6, 2–9, S. 130f.), um schließlich die Gefahren von Namatius’ Flottendienst zu thematisieren (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 6, 13–17, S. 132f.) und ihm zum Zeitvertreib zwischen seinen excubiae zwei Bücher zur Lektüre zu schicken (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 6, 18, S. 133). Auch in diesem Brief findet sich erneut das Motiv des beklagten Bildungsverlusts (vgl. Schwitter 2015, S. 230f.). Siehe zu diesem Brief auch 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ unten. 391 Bezeichnenderweise enthält der neunte Brief des Buches Sidonius’ Panegyricus für Eurich (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 9, S. 135–137) – wiederum ein Exponat seiner Kunstfertigkeit und Bildung. Siehe dazu auch 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ unten. 392 Vgl. dazu bei Ruricius außerdem Näf 1995, S. 169f; für Avitus Näf 1995, S. 177. 393 Vgl. der Datierungsversuch bei Mathisen 1999, S. 106f. 394 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 3, S. 317: Te elicitorem et formatorem lapillorum nobilium, te rimatorem auri, te repertorem aquae latentis elegi, qui sciris abstrusas lapidibus gemmas propriae reddere generositati, quae utique in tanta rerum confusione amitterent nobilitatem, si indicem non haberent. Aurum quoque harenis uilibus mixtum nisi artificis sollertia eluatur aquis, ignibus eliquetur,

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Die in diesem Zusammenhang von Ruricius benutzte metaphernreiche und künstlerische Sprache findet ebenfalls ihre Parallele in der bereits bei Sidonius beobachteten Kongruenz von Form und Inhalt. Zudem scheint auch ein Bezug zu Sidonius’ Brief an Johannes vorzuliegen: In Zeiten so großer rerum confusio ginge die nobilitas verloren, wenn es nicht glücklicherweise ein Vorbild (index) gäbe.395 In den folgenden beiden Briefen preist Ruricius mehrfach Hesperius’ Eloquenz396 und bedient sich dabei einiger Formulierungen des Sidonius.397 Das Thema ‚Bildung‘ war und blieb also in den Kreisen der Oberschicht virulent. Denn auch Avitus lobt etwas später seine Adressaten in elaboriertem Stil für deren eloquentia, wie etwa im Fall des Heraclius.398 Gegenüber Bischof Eufrasius,399 der auch zu den Korrespondenzpartnern des Ruricius gehörte,400 erwähnt er die facundia des Sidonius, die auch dessen Sohn Apollinaris in den ansonsten üblen Zeiten zu schätzen wisse.401 Wie Sidonius und Ruricius will auch Avitus die klassische Bildung angesichts

nec splendorem poterit retinere nec meritum. Saeptas etiam aquarum manantium uenas et obductum terra fluenti alueum nisi diligentius eruderauerit appetitoris industria, laticis unda non fluet. Ita et tenerorum adhuc acies sensuum ignorantiae nubilo quasi crassitate scabrosae rubiginis obsessa, nisi adsidua doctoris lima purgetur, nequit sponte clarescere. 395 Vgl. auch Müller 2013, S. 427f. mit Anm. 20, der Ruricius mit diesem Brief „ein ausgeprägtes aristokratisches Selbstverständnis, für das rhetorische und literarische Bildung offensichtlich von wesentlicher Bedeutung sind“, bescheinigt. 396 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 4, S. 318: Recepi apices unianimitatis tuae tam gratia quam eloquentia, tam amore pariter quam lepore, tarn sale quam melle respersos, in quibus nec dulcedini deesset aliquid nec sapori [mit Sidonius-Zitat, siehe nächste Anm. unten]. [. . .] ut in tenui materia et acumen ingenii et oris facundiam et affluentiam sermonis ostenderes. [. . .] ita et tu egestatem epistulae meae eloquentiae tuae ubertate ditasti. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 5, S. 319: Spoponderas, fili carissime, ut mihi aliquos de ramusculo, quem ex amaritudine in domesticum saporem uertendum transferendumque susceperas, flosculos destinares, quorum odore cognoscerem, quam spem spei gerere deberem, utrumnam ipsi flores germina aut rursus ipsa germina fructus sui qualitate promitterent idemque iterum fructus utrum possent te excoquente mitescere et dulci eloquentiae cibo audientium corda satiare. Vgl. auch Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 10, S. 323f. (siehe dazu 2.2.3 Amicitia oben). 397 Vgl. Mathisen 1999, S. 109, Anm. 1 u. S. 109f., Anm. 4. Die Zitate stammen aus den Briefen des Sidonius an Ruricius. Auch in dieser Korrespondenz zwischen den beiden Bischöfen versichern sie sich wechselseitig ihrer literarischen Bildung und Fähigkeiten, siehe dazu auch 2.1 Einführung oben. 398 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 53, S. 81f. Zu Heraclius vgl. Heinzelmann 1982, 5, S. 623. 399 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 600. 400 Vgl. Eufrasius, Postquam taediosam (Krusch 1887), S. 273f.; Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 22, S. 362. 401 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 43, S. 73: Cui impium fuerat non primum iure caritatis offerri [ein Werk aus Avitus’ Hand, das an Apollinaris weitergeleitet werden soll], si non rursus fuisset absurdum me domni Sidonii filio inter facundiae paternae delicias meis temporibus nauseaturo movere etiam de praesumptione fastidium. In der Widmung von Claudianus Mamertus’ De statu animae wird Sidonius noch zu Lebzeiten zudem als ueteris reparator eloquentiae (Claudianus Mamertus, De statu animae [Engelbrecht 1966], praef., S. 20) bezeichnet.

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aller Bedrohungen an die Nachkommen weitergegeben sehen.402 Ebenso wie seinen Bischofskollegen ist ihm außerdem die Genauigkeit der lateinischen (Aus-)Sprache wichtig: Den Vorwurf, ihm sei bei einer Predigt ein barbarismus unterlaufen, weist er mit ausführlicher Begründung von sich.403 Zudem beschreibt auch Avitus, ähnlich wie Sidonius an Namatius,404 die Verbindung von militärischer Tätigkeit, otium und Lektüre in einem Brief an Apollinaris.405 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ Natürlich ist auffällig, dass Sidonius und seine Zeitgenossen in ihrer Sorge um die lateinische Sprache diese wiederholt gerade von „Barbarismen“ bedroht sehen.406 Einerseits blickt dabei die Bezeichnung ‚Barbar‘ auf eine lange Begriffstradition zurück.407 Andererseits gilt die Sprache zudem als ein Merkmal ethnischer Identität408 und die ‚Barbaren‘ gehörten mittlerweile zur unmittelbaren Lebenswirklichkeit der römischen Oberschicht in Gallien. Gerade die Popularität des Forschungsmodells der ‚Identität‘ führt dazu, dass auch verwandte soziologische Konzepte wie ‚Alterität‘ für die Erforschung der Antike und des Mittelalters adaptiert werden.409 Die Untersuchung der Sicht der 402 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 95, S. 102: [. . .] sumens de matris sapientia, quod libenter barbaros fugit, de virtute paterna, quod litteris terga non praebuit. 403 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 57, S. 85–87. 404 Siehe oben. 405 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 51, S. 80f.: Quia sicut non minus ad meam quam vestram gloriam pervenit communis Sollii opus illustre, ita vobis favente Christo militari actu magis magisque florentibus si in me nisus tenuis aliquid dignum lectione confecerit, etiam senem quandocumque Arcadium non pudebit. Grundsätzlich scheinen die Oberschichtskreise um Sidonius, Ruricius und Avitus durchaus eng mit dem sog. „Militäradel“ verwoben gewesen zu sein und einen gemeinsamen historischen Diskursraum zu ‚bewohnen‘ (als Belge hierfür dienen die Briefe an Ecdicius, Namatius, Apollinaris und weitere kleinere Andeutungen, siehe etwa Anm. 506 unten). Eine strikte Trennung „zwei[er] führende[r] Gruppen“, wie sie Demandt 1980 (das Zitat: Demandt 1980, S. 623) vor allem für das 4. Jahrhundert vermutet, scheint zumindest im Gallien der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nicht anzunehmen zu sein. Mögliche Ausnahmen bilden allenfalls die weitgehend isoliert erscheinend agierenden römischen „warlords“ Aegidius, Paulus und Syagrius (siehe 2.1.4 Gallien im 5. Jahrhundert oben). 406 Siehe vorheriges Kap. oben. 407 So waren die barbaroi in der griechischen Antike eben auch ursprünglich all jene, die nicht Griechisch sprachen (vgl. Koselleck 1979, S. 218–229). Vgl. zur Tradition des Begriffs, zu seinem Bedeutungswandel und Konstruktionscharakter mit Blick auf die Spätantike Mathisen 1993, S. 39–43; Amory 1994a; Chauvot 1997; Heather 1999; Scheibelreiter 1999, S. 144–147; Goltz 2002, S. 297f.; Ohnacker 2003; Noble 2006, S. 9f.; Halsall 2007, S. 45–57; von Rummel 2007, S. 65–82; Mathisen/Shanzer (Hrsg.) 2011; Wood 2011, S. 39–44; Woolf 2011; Halsall 2014, S. 521–528; Chauvot 2016. 408 Isidor, Etym. (Lindsay 1911), IX, 1, 14: ex linguis gentes, non ex gentibus linguae exortae sunt. Vgl. auch Pohl 1998; Harries 1996, S. 34f.; Amherdt 2001, S. 15f.; Pohl 2012b; Wolfram 2012; einschränkend Haubrichs 2012. 409 Vgl. Maas 1992; Miles (Hrsg.) 1999; Heather 1999; Harries 2000, S. 45f.; Schipp 2014. Siehe allgemein auch die Arbeiten in Anm. 378 oben.

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römischen Oberschicht in Gallien auf die ‚Anderen‘ vor allem in Zeiten der Auflösung und Verwischung ethnischer Grenzen410 birgt dabei zweifellos das Potential, etwas über ihr eigenes Selbstverständnis als Gruppe zu erfahren.411 Dass solche Zuschreibungen und Modellierungen der Distinktion in dieser Zeit jedoch in höchstem Maße abhängig vom (politischen) Kontext waren, in dem sie entstanden, zeigt sich bereits anhand der Briefsammlung des Sidonius Apollinaris. Überhaupt spielen die ‚Barbaren‘ in Sidonius Briefsammlung (auch indirekt) immer wieder eine Rolle. Der sicherlich bekannteste und am häufigsten zitierte Brief des Sidonius enthält seine Beschreibung des visigotischen Königs Theoderich II. Sidonius lobt den vorbildlichen Charakter Theoderichs, der ganz der civilitas412 entspreche: Er ist in der Tat ein Mensch, der es verdient, auch von denjenigen anerkannt zu werden, die ihn nicht gerade als Freund betrachten: zu solch einer Vollendung haben Gott, der Herr, und die Weisheit der Natur durch die Verleihung der Gabe vollkommenen Gelingens seine Person gebracht; sein Charakter aber ist derart, daß von seinem Lob nicht einmal der Neid auf seine Herrschaft etwas wegnehmen kann.413

410 Vgl. Demandt 1989; Wood 1993a; Amory 1994a; Amory 1994b; Elton 1996; Harries 1996; Pohl 1997, S. 45; Brown 2000, S. 334f.; Harries 2000; Ward-Perkins 2005, S. 72–83; Halsall 2007, S. 470–482; Mathisen/Shanzer (Hrsg.) 2011; Koch 2012, S. 56–111; Becker 2014. Vgl. jedoch auch Meier 2012 vorsichtig skeptisch vor einem möglichen Zirkelschluss warnend, der „eine multikulturelle Idealgesellschaft der Gegenwart in der Spätantike spiegelt“ (Meier 2012, S. 10). Ethnische Zuschreibungen sind auch in der archäologischen Forschung ein aktuelles Thema. So plädiert etwa Volker Bierbrauer nach wie vor für die ethnische Typisierbarkeit spätantiker (Grab-)Funde (vgl. etwa Bierbrauer 1996; Bierbrauer 2004; Bierbrauer 2005; beispielhaft auch Stein 2004). Demgegenüber lehnt Sebastian Brather die ethnische Interpretation von Hinterlassenschaften als methodisch unzulässig kategorisch ab (vgl. Brather 2000; Brather 2004) und betont, dass „sich Identitäten in komplexer Weise (überlagern) und je nach Situation ‚aktiviert‘ oder in den Vordergrund geschoben (werden)“ (Brather 2014a, S. 217; vgl. auch Cleary 2013, S. 338–454, 478f.; Brather 2014b; einschränkend Périn/Kazanski 2011). Jene situative Flexibilität ist zuletzt etwa auch anhand der Untersuchung des Konstruktionscharakters des habitus barbarus überzeugend nachgewiesen worden (vgl. von Rummel 2007). Jüngst hat im Zuge dessen Hubert Fehr zudem den Sinn der archäologischen Unterscheidung von ‚Germanen‘ und ‚Romanen‘ gänzlich in Zweifel gezogen (vgl. Fehr 2010; zustimmend von Rummel 2013a; von Rummel 2013b; kritisch Schmauder 2012). Zur Schwierigkeit des Rückschlusses von archäologischen Funden auf eine spätantik-frühmittelalterliche Oberschicht überhaupt vgl. Loveluck 2011. 411 Stutzinger 1993, S. 400: „Eigenes und Fremdes stehen von Anfang an in einem reziproken Verhältnis zueinander; sie bedingen einander, und oft wird das Fremde geradezu zum Instrument von Erkenntnis.“ Vgl. auch Kühnel 1993. 412 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 2, 1, S. 38: Saepenumero postulavisti, ut quia Theodorici regis Gothorum commendat populis fama civilitatem, litteris tibi, formae suae quantitas, vitae qualitas significaretur. 413 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 2, 1, S. 38: igitur vir est et illis dignus agnosci qui eum minus familiariter intuentur: ita personam suam deus arbiter et ratio naturae consummatae felicitatis dote sociata cumulaverunt. mores autem huiuscemodi ut laudibus eorum nihil ne regni quidem defrudet invidia. Übers. in Köhler 2014, S. 5.

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Sidonius fährt fort mit einer schmeichelnden Beschreibung des Aussehens des Königs414 und schildert seinen Tagesablauf, der Theoderich als gewissenhaften und gesitteten Herrscher zeigt.415 Geradezu unbarbarisch, ja römisch kultiviert, sei auch die Situation bei Tisch: „Du könntest dort griechische Eleganz, gallischen Überfluss und italische Schnelligkeit sehen, öffentliche Pracht, persönliche Sorgfalt und königliche Disziplin.“416 Insgesamt ist das Bild, das Sidonius hier zeichnet, sehr positiv und wohlwollend.417 Auf der Suche nach den Gründen für diese affirmative Schilderung des visigotischen Königs stößt man unweigerlich auf den Adressaten des Briefes. Bei ihm handelt es sich nämlich um Agricola,418 den Sohn des Kaisers Eparchius Avitus und somit Schwager des Sidonius Apollinaris. Diese Tatsache deutet auf die möglichen Hintergründe der überraschend wohlwollenden Darstellung Theoderichs II. hin, denn er gehörte zu den Unterstützern des Avitus. Nach der Ermordung des Heermeisters Aetius durch Kaiser Valentinian III. 454, die dessen Ermordung durch ehemalige Gefolgsleute des Opfers im Jahr darauf zur Folge hatte, und der Ermordung seines Nachfolgers Petronius Maximus kurze Zeit später wurde Avitus von Gallien aus zum Kaiser ausgerufen. Dazu kam es allerdings nur, weil der in Sidonius’ Brief beschriebene König der Visigoten, Theoderich II., für Avitus Partei ergriff.419 Sollte der Brief also Mitte der 450er Jahre geschrieben worden sein,420 dann resultiert die positive Darstellung des visigotischen Königs höchstwahrscheinlich aus Sidonius’ Wunsch, seine Zustimmung zur Politik seines Schwiegervaters zu demonstrieren.421 Allerdings darf die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden, dass der Brief bei seiner möglichen Erstherausgabe 469422 verändert oder überhaupt erst zu diesem Zeitpunkt einzig für die Briefsammlung komponiert wurde,423 damit könnte er – von Sidonius gleichsam reaktiviert – auch eine Reaktion auf Geschehnisse um 469 sein. Auf jeden Fall steht er an hervorgehobener Stelle im ersten Buch 414 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 2, 2f., S. 40. 415 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 2, 4f., S. 42. 416 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 2, 6, S. 44: videas ibi elegantiam Graecam, abundantiam Gallicanam, celeritatem Italam, publicam pompam, privatam diligentiam, regiam disciplinam. 417 Vgl. Sivan 1983, S. 104–106; Sivan 1989, S. 86f.; Barnwell 1992, S. 73f.; Harries 1994, S. 127f.; Kaufmann 1995, S. 115f.; Harries 1996, S. 36f.; Gerth 2013, S. 213f. Kitchen 2010, S. 59f. deutet die Beschreibung eher umständlich und nicht bis ins Letzte überzeugend als „partly satirical“ (Kitchen 2010, S. 60), siehe hierzu auch Anm. 481 unten. 418 Siehe Anm. 14 oben. 419 Siehe 2.1.4 Gallien im 5. Jahrhundert oben. 420 Vgl. Loyen 1970a, S. 4, 245. 421 Vgl. Sivan 1989, S. 89; Harries 1994, S. 128f.; Harries 1996, S. 36f.; Heather 2005, S. 380–382. Unwesentlich einschränkend Kaufmann 1995, S. 116–123. 422 Siehe 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben. 423 Wobei diese Möglichkeit recht unwahrscheinlich erscheint, zu konkret ist Sidonius’ Anlass, der auf Agricolas Drängen (saepenumero postulavisti) zurück geht (Sidonius, Ep. [Köhler 1995], I, 2, 1, S. 38).

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der Briefsammlung, wo der erste Brief gleichsam als Einleitung fungiert, und die eigentliche Sammlung erst mit diesem Brief an Agricola beginnt. Es wäre also denkbar, dass Sidonius 469 oder auch zu einem früheren Zeitpunkt den Anlass sah, den politischen Kurs seines Schwiegervaters rückwirkend zu legitimieren, vielleicht auch weil er die Strategie der Anbindung an die Visigoten nach wie vor als vorteilhaft erachtete und dafür werben wollte. Denn bezeichnenderweise fallen das Ende seiner römischen Stadtpräfektur und die sich vermutlich kurz darauf anschließende Veröffentlichung des ersten Buchs der Briefe zusätzlich mit einem Gerichtsverfahren in Rom gegen Arvandus, einen Bekannten des Sidonius, zusammen.424 Über diese Arvandus-Affäre erfährt man auch aus einem Brief, der – möglicherweise nicht zufällig – im ersten Buch enthalten ist, also wohl unmittelbar nach dem Gerichtsverfahren veröffentlicht wurde. Jener siebte Brief des ersten Buches berichtet der Leserschaft, dass Arvandus des Hochverrats beschuldigt wurde. Arvandus habe angeblich, so seine Feinde zunächst insgeheim, einen Brief an den visigotischen König Eurich gesandt, in dem er von einem Friedensschluss mit dem oströmischen Kaiser abrate und vorschlage, Gallien stattdessen zwischen Goten und Burgundern aufzuteilen. Sidonius erfuhr von den geplanten Anschuldigungen gegen seinen Freund425 und versuchte, ihn vor der Verschwörung zu warnen. Arvandus zeigte sich jedoch uneinsichtig, er glaubte, sich mit seinen Taten keines Verrates schuldig gemacht zu haben,426 gestand die Vorwürfe ein und wurde zum Tode verurteilt, so der Brief weiter.427 Denkbar ist also, dass Sidonius versuchte, mit der Veröffentlichung der Briefe 469, unter denen sich sowohl die positive Beschreibung Theoderichs II. als auch der Bericht über den Fall des Arvandus befanden, im Nachhinein seinen Bekannten und auch seine eigene Parteinahme für ihn zu rechtfertigen. Die Schilderung der Affäre passt zur Beschreibung Theoderichs II., denn soviel geht aus dem Brief des Sidonius hervor: Trotz der offenbar berechtigten 424 Vgl. Sivan 1989, S. 92–94 und Harries 1994, S. 13–15 zum Zusammenhang der Briefe mit der Beschreibung Theoderichs und zur Arvandus-Affäre. Harries sieht sogar noch eine weitere Parallele zu Sidonius, Ep. (Köhler 1995) I, 11, S. 84–96 (siehe auch 2.2.2 Familiäre Abstammung oben). Die Verleumdung, der sich Sidonius durch Päonius ausgesetzt gesehen habe, ähnle der Situation des Arvandus und seiner Anhänger. Damit könne Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 11, S. 84–96 auch als Warnung an alle Gegner des Sidonius verstanden werden, die ihn für die Unterstützung Arvandus’ kritisieren könnten. Außerdem zur Arvandus-Affäre vgl. Sivan 1983, S. 122f.; Sivan 1989, S. 93f.; Harries 1992, S. 306f.; Teitler 1992; Mathisen 1993, S. 83f.; Harries 1994, S. 159–166; Kaufmann 1995, S. 170f.; Schwarcz 1995, S. 51; Gillett 2000, S. 26f.; Halsall 2007, S. 274; Delaplace 2012, S. 273–275; Delaplace 2015, S. 241–246. 425 Man sollte im Fall der amicitia zwischen Arvandus und Sidonius wohl eher von einer Beziehung zwischen ‚Kollegen‘, denn von freundschaftlicher Zuneigung ausgehen. Vgl. Pizarro 2015, S. 357; siehe hierzu auch 2.2.3 Amicitia oben. 426 Vgl. zum Vorhergehenden Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 7, 5–7, S. 66–68. 427 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 7, 10–12, S. 70–72. Offensichtlich wurde das Urteil später abgemildert und Arvandus wurde lediglich ins Exil geschickt: His conss. Arabundus imperium temptans iussu Anthemii exilio deportatur (Cassiodor, Chron. [Mommsen 1894], 1287f., S. 158).

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Vorwürfe gegen Arvandus bekundet Sidonius sogar öffentlich seine Solidarität,428 und beklagt vor allem, Arvandus’ Leichtfertigkeit und Wankelmut (facilitas varietasque)429 und dass er die consilia der Freunde missachtete, um den Prozess zu überstehen,430 weniger das angestrebte Bündnis mit den Visigoten an sich. Durch seine Verwendung in der Briefsammlung könnte der Brief über Theoderich II. sogar noch für eine dritte Zeitphase Aussagekraft besitzen. Im Zuge der Zusammenstellung der Bände I bis VII in den Jahren 477/78431 hätte Sidonius womöglich nochmals die Gelegenheit zur Revision der Briefe des ersten Buches gehabt. Unabhängig davon, ob tatsächlich Veränderungen stattgefunden haben sollten, ist also auch etwas über Sidonius’ Situation um 477/78 zu erfahren, schließlich wurde hier der Brief gleichsam noch einmal autorisiert.432 Nahe liegt natürlich die Vermutung, dass es zu diesem Zeitpunkt in Sidonius’ Interesse lag, (nach wie vor) auch vorteilhafte Darstellungen des Visigotischen in seiner Briefsammlung zu präsentieren, da er gerade aus dem Exil unter die Herrschaft Eurichs zurückkehrte und möglicherweise auch, weil er seine Rückkehr zum vorherigen Feind gegenüber seinen ehemals verbündeten Standesgenossen rechtfertigen wollte. Mit dem Blick auf sein Gesamtwerk scheint Sidonius, wie schon beobachtet, ebenso für den Zeitraum zwischen 455 und 469 ein überwiegend positives Bild der Visigoten gezeichnet und dies auch nach Außen propagiert zu haben.433 So vergleicht Sidonius in einem Panegyricus auf Avitus das Bündnis zwischen ihm und Theoderich II. mit dem zwischen Romulus und Tatius.434 Später begrüßt er sogar

428 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 7, 1, S. 64: namque hic quoque cumulus accedit laudibus imperatoris, quod amari palam licet et capite damnatos. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 7, 2, S. 64: sed quod in amicitia steti mihi debui. 429 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 7, 1, S. 64: amicus homini fui, supra quam morum eius facilitas varietasque patiebantur. 430 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 7, 2, S. 64: porro autem in natura ille non habuit diligentiam perseverandi: libere queror non insultatorie, quia fidelium consilia despiciens, Fortunae ludibrium per omnia fuit. 431 Siehe 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben. 432 Die Deutung bleibt freilich auch dann gültig, wenn man erst von einer Zirkulation aller neun Bücher in den 480er ausgeht. 433 Eine Ausnahme findet sich in Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), V, 562f., S. 201. In einem Panegyricus auf Majorian, dem Nachfolger des Avitus, braucht dies allerdings nicht zu verwundern, da sich Sidonius hier lediglich kurzzeitig der neuen politischen Situation anpasste (vgl. Harries 1994, S. 88–90; Schlinkert 1996, S. 138–147; Halsall 2007, S. 263f.; von Rummel 2007, S. 167f.), seine probarbarische Tendenz in dieser Zeit aber deswegen nicht grundsätzlich änderte. 434 Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), VII, 437–440, S. 214: haud secus insertis ad pulvinaria palmis / Romulus et Tatius foedus iecere, parentum / cum ferro et rabidis cognato in Marte maritis / Hersilia inseruit Pallantis colle Sabinas. Vgl. ausführlich zum Panegyricus Sivan 1989, S. 87–89; Harries 1994, S. 67–79; Kaufmann 1995, S. 117–122; Schlinkert 1996, S. 122–128; Mathisen/Sivan 1999, S. 18f.; Heather 2005, S. 382–384; Kitchen 2010, S. 57f.

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ausdrücklich die Eroberung Narbonnes durch die Visigoten und bezeichnet Theoderich II. als Stütze und Rettung Roms.435 Auch andere gentile Fürsten rückte er in dieser Phase in vorteilhaftes Licht. In einem Brief an Domnicius436 beschreibt er kunstfertig die Tracht und das Aussehen des fränkischen Prinzen Sigismer, der „geschmückt nach Sitte und Brauch seines Volksstammes“ aufgetreten sei.437 Über sein Gefolge weiß Sidonius zu berichten: Das Aussehen aber der jungen Barbarenkönige und der Genossen, die ihn begleiteten, konnte sogar im Frieden Furcht einflößen: Ihre Füße waren von den Zehen bis zur Ferse in grobe Fellstiefel eingeschnürt, Knie, Schienbein und Wade waren unbedeckt, außerdem trugen sie ein hochgegürtetes, eng anliegendes, buntes Gewand, das kaum bis zu dem nackten Knie reichte, und dessen Ärmel nur die Oberarme bedeckten; der grüne Mantel war mit einem purpurroten Streifen eingefasst; die Schwerter, an der Schulter hängend, hatten sie mit den oberen Schulterriemen an ihre Flanken, die mit Buckeln versehenes Tierfell umschlossen, geschnürt. Mit derselben Pracht, mit der sie gekleidet waren, waren sie auch bewaffnet; die Rechte war gefüllt mit einem Hakenspeer und einem Wurfbeil, ihre linke Seite schützten sie mit Schilden, deren Glanz, schneeweiß um den Rand, feurig am Schildbuckel, gleichermaßen Reichtum und Kampfeseifer bezeugte.438

Alles in allem spricht aus Sidonius’ Bericht eine gewisse Distanziertheit gegenüber der andersartigen Inszenierung der Fremden, bei der man sich allerdings gleichzeitig den wohligen Schauer, der ihm den impliziten Rücken herunterlief, lebhaft vorstellen kann. „Alles war ganz und gar derart, dass bei dem hochzeitlichen Geschehen nicht weniger die Herrlichkeit des Mars erscheinen musste als die der Venus. Doch was mehr davon? Bei einem derartigen Schauspiel habe ich allein Deine Anwesenheit vermisst“,439 schreibt er seinem Adressaten zum Schluss. Natürlich evoziert Sidonius’

435 Sidonius, Carm. (Lütjohann 1887), XXIII, 69–73, S. 251f.: Hinc te Martius ille rector atque / magno patre prior, decus Getarum, / Romanae columen salusque gentis, / Theudericus amat sibique fidum / adversos probat ante per tumultus. Vgl. Sivan 1983, S. 106f.; Harries 1994, S. 100–102; Kaufmann 1995, S. 122f. Zu Sidonius’ zunehmender Ernüchterung in Bezug auf den Verfall römischer Macht im Spiegel seiner Dichtung vgl. jüngst Grzywaczewksi/Knox 2017. 436 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 592; Kaufmann 1995, Nr. 28, S. 296. 437 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 20, 1, S. 70: Tu cui frequenter arma et armatos inspicere iucundum est, quam voluptatem, putamus, mente conceperas, si Sigismerem regium iuvenem ritu atque cultu gentilicio ornatum, utpote sponsum seu petitorem, praetorium soceri expetere vidisses! Vgl. insgesamt auch Kaufmann 1995, S. 158–160; Harries 1996, S. 35f.; von Rummel 2007, S. 172–181; von Rummel 2013b, S. 282–284. 438 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 20, 2f., S. 70f.: regulorum autem sociorumque comitantum forma et in pace terribilis; quorum pedes primi perone saetoso talos adusque vinciebantur; genua crura suraeque sine tegmine; praeter hoc vestis alta stricta versicolor vix appropinquans poplitibus exertis; manicae sola brachiorum principia velantes; viridantia saga limbis marginata puniceis; penduli ex umero gladii balteis supercurrentibus strinxerant clausa bullatis latera rhenonibus. eo quo comebantur ornatu muniebantur; lanceis uncatis securibusque missibilibus dextrae refertae clipeis laevam partem adumbrantibus, quorum lux in orbibus nivea, fulva in umbonibus ita censum prodebat ut studium. 439 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 20, 3, S. 71: cuncta prorsus huiusmodi, ut in actione thalamorum non appareret minor Martis pompa quam Veneris. sed quid haec pluribus? spectaculo tali sola praesentia tua defuit.

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Beschreibung hier den literarischen Topos des ‚Edlen Wilden‘,440 gleichzeitig schwingt in seinen Worten jedoch durchaus Begeisterung am barbarischen Spektakel und eine gute Portion Voyeurismus bei der Beobachtung und Beschreibung der ergötzlichen Szene mit. Dass Sidonius gerade in dieser Phase an ein gütliches Auskommen mit den Visigoten glaubte, belegt auch ein Brief, der von ihm an exponierter und damit für seine Leserschaft auffälliger Stelle direkt am Anfang des dritten Buches platziert wurde. Seinen Verwandten Avitus441 bittet Sidonius brieflich, als Mittler zwischen ihnen [den Visigoten] und dem römischen Staat auf friedlichere Lösungen zu sinnen; denn auch wenn sie die alten Gebietsgrenzen durchbrochen haben und mit vollem Einsatz an Kampfkraft und Masse den Grenzpunkt ihres unruhigen Besitzes bis zur Rhône und bis zur Loire vorschieben, wird doch Deine Autorität dank der hohen Achtung, die Dein Wort genießt, beide Seiten in der Weise lenken, daß einerseits unsere Seite lernt, was sie verweigern muß, wenn es gefordert wird, und andererseits, die gegnerische Seite aufhört, etwas zu fordern, wenn man es ihr verweigert.442

In diesem ersten Großkonvolut der Bücher I bis VII findet sich außerdem ein Brief an Euodius.443 Im Auftrag seines Freundes schickt Sidonius ihm ein Gedicht zu Ehren von Eurichs Gemahlin Ragnahilda, das Euodius dem König in eine Schale eingraviert zum Geschenk machen wollte. Dem Ansinnen des Freundes ist Sidonius offenbar willig nachgekommen und wünscht im Gedicht der visigotischen Dynastie den Fortbestand: „Möge, wie Vater, Schwieger und Gatte, dein Sohn einst König / teilen des Vaters Thron, später auch folgen ihm nach!“444 Spätestens zum Ende des Jahres 471 ist jedoch ein radikaler Umschwung in der Bewertung vor allem der Visigoten zu konstatieren, zumindest deutet darauf das aus dieser Zeit stammende Briefmaterial in Sidonius’ Sammlung hin. Für diese Veränderung sind dabei wohl ebenfalls wieder die politischen Umstände ausschlaggebend gewesen.445 Zwischen 471 und 474 begannen die Visigoten unter König Eurich kriegerisch zu expandieren, sie eroberten die Auvergne und belagerten Clermont, in

440 Vgl. Goltz 2002, S. 298. 441 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 567f.; Kaufmann 1995, Nr. 14, S. 286f. 442 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 1, 5, S. 40: inter eos [den Visigoten] et rempublicam mediis animo quietiora concipere, quia, etsi illi veterum finium limitibus effractis omni vel virtute vel mole possessionis turbidae metas in Rhodanum Ligerimque proterminant, vestra tamen auctoritas pro dignitate sententiae sic partem utramque moderabitur, ut et nostra discat quid debeat negare, cum petitur, et poscere adversa desinat, cum negatur. Übers. in Köhler 2014, S. 74. 443 Vgl. Heinzelmann 1982, Evodius 2, S. 605; Kaufmann 1995, Nr. 36, S. 301. 444 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 8, 5, S. 60: sic tibi, cui rex est genitor, socer atque maritus, / gnatus rex quoque sit cum patre postque patrem. Übers. in Köhler 2014, S. 113. Vgl. zu Brief und Gedicht auch Kaufmann 1995, S. 123–125; Becht-Jördens 2017; Leatherbury 2017. 445 Zu Sidonius’ möglichen politischen Hintergründen vgl. zuletzt Delaplace 2014.

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dem Sidonius erbitterten Widerstand leistete. Seine Briefe zeugen nun davon, wie sich die Einstellung im Angesicht der Bedrohung gewandelt hatte.446 An prominentem Platz – im ersten Brief des zweiten Buches – klagt Sidonius seinem abwesenden Schwager Ecdicius die mala, die die Arverni zu ertragen hätten.447 Er berichtet ihm, ein Mann namens Seronatus448 „ist erst kürzlich aus Aire zurückgekommen, um Gut und Blut der armen Einwohner, wovon er dort nur teilweise gekostet hatte, nun hier gründlich aufzumischen“.449 Seronatus wird von Sidonius für seine Zusammenarbeit mit den Visigoten und seine Taten harsch verurteilt.450 Er sei dem furor451 nahe und seine Verhaltensweisen seien ungebührlich, anmaßend und widersprächen den Idealen der römischen Oberschicht. Er „verleumdet wie ein Barbar“ (calumniatur ut barbarus),452 „bejubelt die Goten und beschimpft die Römer, [. . .] die Gesetze des Theodosius tritt er mit Füßen, die des Theoderich hält er in Ehren“.453 Deutlich werden hier also Gothi und Romani als zwei sich gegenüberstehende Gruppen akzentuiert und Seronatus als verräterischer Grenzgänger für sein Verhalten verachtet. Daher fleht Sidonius seinen Schwager geradezu an, zurückzukehren, um den Widerstand gegen die Visigoten anzuführen.454 Des Weiteren sei man auf sich allein gestellt: „Wenn uns vom Staat keine Truppen geschickt werden und kein Schutz zuteil wird, wenn, wie das Gerücht will, die Macht des Kaisers Anthemius dahin ist, dann hat der Adel beschlossen, unter Deiner Führung entweder seine Heimat zu lassen oder seine Haare.“455 In einem späteren Brief lobt Sidonius seinen Schwager für seinen tapferen Kampf gegen die Visigoten.456 446 Für Sidonius’ Beschreibung der Visigoten in dieser Zeit vgl. Goldberg 1995; Kaufmann 1995, S. 126–130; von Rummel 2007, S. 169f. 447 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 1, S. 21: Duo nunc pariter mala sustinent Arverni tui. 448 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 692. 449 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 1, S. 21: nuper Aturribus, ut sanguinem fortunasque miserorum, quas ibi ex parte propinaverat, hic ex asse misceret. Übers. in Köhler 2014, S. 40. 450 Vgl. dazu außerdem Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 13, S. 86f., wo Seronatus’ Verbrechen ebenfalls angeklagt werden, und Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 17, 2, S. 111 zu seinem Tod. Vgl. außerdem zu Seronatus Teitler 1992; Mathisen 1993, S. 84f.; Kaufmann 1995, S. 176–178; Harries 1996, S. 40f.; Kitchen 2010, S. 62f.; Postel 2011, S. 173–175; Delaplace 2012, S. 274f.; Delaplace 2014, S. 24–26; Delaplace 2015, S. 247f. 451 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 2, S. 21. 452 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 2, S. 21. 453 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 3, S. 21f.: exultans Gothis insultansque Romanis, [. . .] leges Theodosianas calcans Theodoricianasque proponens. Übers. in Köhler 2014, S. 41. 454 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 4, S. 22. 455 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 4, S. 22: si nullae a republica vires, nulla praesidia, si nullae, uantum rumor est, Anthemii principis opes, statuit te auctore nobilitas seu patriam dimittere seu capillos. Übers. in Köhler 2014, S. 41f. Siehe etwa auch die entsprechende Stelle im bereits zitierten Brief an Eucherius 2.2.1 Weltliches Amt oben. Der drohende Verlust des (Haupt-)Haars kann hier mit Diesenberger 2003 metaphorisch sowohl auf den Wegfall gesellschaftlicher Exklusivität als auch auf einen Rückzug in kirchliches Milieu hindeuten. 456 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 3, S. 41–43.

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Wie bedrohlich die Lage erschien, zeigt sich in einem Brief an Felix.457 Clermont liege wie eine lacrimabilis praeda genau zwischen den mit den Auvergnaten verbündeten Burgundern und den angreifenden Visigoten.458 Über diese weiß Sidonius nun nur noch Barbarisches zu berichten: Sie würden etwa ihre Gefallenen enthaupten, damit ihre Feinde sie nicht mehr von ihren eigenen Toten unterscheiden könnten, um so die Anzahl ihrer Verluste zu verschleiern.459 Weiterhin werden sie nun ausdrücklich als Feinde460 und Vertragsbrüchige461 bezeichnet und der gefürchtete Eurich wird mit einem homöischen Wolf verglichen, der unter der Schafherde der Kirche wüte.462 Sidonius malt die Lage in der Auvergne in düsteren Farben,463 er meide nun selbst die „guten“ Barbaren, schreibt er.464 Noch aus dem Exil beklagte sich Sidonius über den infernalischen Lärm zweier gotischer Weiber, die sich verhaltensauffällig allabendlich unter seinem Fenster betrunken stritten, um sich anschließend zu übergeben und ihn so vom Schlafen abhielten.465 Entsprechend zornig reagierte Sidonius auch, als ihn 475 die Kunde vom Vertrag zwischen Visigoten und Kaiser Julius Nepos erreichte, der die Abtretung der Auvergne vorsah. „Ich bitte euch, schämt euch dieses Vertrages, der weder nützlich noch ehrenhaft ist!“,466 schreibt er an seinen Bischofskollegen Graecus, der einer der Verhandlungsführer war. Doch vor vollendete Tatsachen gestellt und im späteren Exil offensichtlich nicht in angenehmster Gesellschaft traf Sidonius eine weitere

457 Siehe Anm. 58 oben. 458 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 4, 1, S. 43: oppidum siquidem nostrum quasi quandam sui limitis obicem circumfusarum nobis gentium arma terrificant, sic aemulorum sibi in medio positi lacrimabilis praeda populorum, suspecti Burgundionibus, proximi Gothis, nec impugnantum ira nec pro pugnantum caremus invidia. Zur Lage vgl. außerdem Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 1, 1, S. 103. 459 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 3, 7, S. 42: siquidem quos humari nox succincta prohibuerat decervicatis liquere cadaveribus, tamquam minoris indicii foret quem nolles agnosci crinitum dimisisse truncatum. 460 Vgl. u. a. prominent in Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 3, 4, S. 41; VII, 1, 1, S. 103; VII, 7, 2, S. 110; VII, 7, 6, S. 111. 461 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VI, 6, 1, S. 98. 462 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 6, 2, S. 108f. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass Eurichs Verhalten weniger religiöse, wie von Sidonius nahegelegt, sondern politische Gründe hatte. Vgl. Stroheker 1937, S. 40–45; Mathisen 1993, S. 32f.; Harries 1994, S. 233–235; Goldberg 1995; Kaufmann 1995, S. 207–209; Harries 1996, S. 43; Mathisen/Sivan 1999, S. 38–42; Wolfram 2001, S. 203f.; Kitchen 2010, S. 55; Koch 2012, S. 90f.; Stadermann 2017, S. 117–119. 463 Siehe Anm. 458 oben. 464 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 14, 10, S. 122: barbaros vitas, quia mali putentur; ego, etiamsi boni. 465 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 3, 2, S. 127: ad hoc, et cum me defetigatum ab excubiis ad devorsorium crepusculascens hora revocaverat, vix dabatur luminibus inflexis parvula quies; nam fragor ilico, quem movebant vicinantes impluvio cubiculi mei duae quaepiam Getides anus, quibus nil umquam litigiosius bibacius vomacius erit. 466 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 7, 4, S. 111: pudeat vos, precamur, huius foederis, nec utilis nec decori. Für eine detaillierte Analyse des gesamten Briefes vgl. van Waarden 2010, S. 334–378.

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pragmatische Entscheidung, die einen erneuten Wandel in seiner Darstellung der Visigoten, insbesondere Eurichs, zur Folge hatte.467 Er nahm gezielt brieflichen Kontakt zu Römern auf, die dem König dienten. Mit Leo von Narbonne468 etwa stand er offenbar in wechselseitiger Kommunikation. Leos Aufforderung zur Abfassung eines Geschichtswerks lehnte Sidonius zwar ab,469 u. a. aber mit dem schmeichelnden Hinweis darauf, dass doch eigentlich Leo besser für ein solches historiographisches Projekt geeignet sei. Schließlich wohne er doch regelmäßig den potentissimi consilia regis bei. Dort erfahre er von den publicarum rerum secreta der gentes, stand Eurich also nah und war daher ein wichtiger Agent in Sidonius’ Plänen, die Gunst des Königs zu gewinnen.470 Leo scheint dann auch maßgeblich an seiner Rückkehr nach Clermont beteiligt gewesen zu sein, zumindest richtet Sidonius ihm brieflich seinen Dank aus471 und gegenüber Leo ist Eurich nun der rex inclitus; nun sind die barbari nicht mehr die Visigoten, sondern die Anderen, die ad Vachalin trementium.472 Schon zuvor, auf dem Rückweg aus dem Exil, gipfelte Sidonius’ Annäherung an den visigotischen König in einem Lobgedicht. An den Dichter Lampridius,473 der sich der munificentia regia474 erfreute, schickte er, um seinen Zustand als Verbannter zu beenden und wie Lampridius visigotischer civis zu werden (ago adhuc exulem, agis ipse iam civem),475 ein inter animi supplicia476 geschriebenes Gedicht, in dem es von Eurich heißt: Er sei nunmehr der Retter der Römer, sei aufgerufen, sie vor Gefahren zu schützen und den versickernden Tiber zu verteidigen.477

467 Zur Annäherung an Eurich vgl. Sivan 1983, S. 109f.; Harries 1994, S. 238–242; Kaufmann 1995, S. 130–138; Koch 2012, S. 102–104. 468 Siehe Anm. 46 oben. 469 Vgl. dazu Kaufmann 1995, S. 136f.; Näf 1995, S. 133–137, Harries 1996, S. 42f. 470 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 22, 3, S. 73: cotidie namque per potentissimi consilia regis totius sollicitus orbis pariter [eius] negotia et iura, foedera et bella. loca spatia merita cognoscis. unde quis iustius sese ad ista succinxerit, quam ille, quem constat gentium motus legationum varietates, facta ducum pacta regnantum, tota denique publicarum rerum secreta didicisse, quique praestanti positus in culmine non necesse habet vel supprimere verum vel concinnare mendacium? 471 Siehe Anm. 386 oben. 472 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 3, 3, S. 128: sepone pauxillulum conclamatissimas declamationes, quas oris regii vice conficis, quibus ipse rex inclitus modo corda terrificat gentium transmarinarum, modo de superiore cum barbaris ad Vachalin trementibus foedus victor innodat, modo per promotae limitem sortis ut populos sub armis, sic frenat arma sub legibus. 473 Siehe Anm. 46 oben. 474 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 9, 1, S. 135. 475 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 9, 3, S. 135. Vgl. Mathisen 2006, S. 1038f. 476 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 9, 4, S. 135. 477 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 9, 5, S. 137: hinc, Romane, tibi petis salutem, / et contra Scythicae plagae catervas, / si quos Parrhasis ursa fert tumultus, / Eorice, tuae manus rogantur, / ut Martem validus per inquilinum / defendat tenuem Garumna Thybrim. Vgl. zum Gedicht Harries 1994, S. 240f.; Kaufmann 1995, S. 131–136; Harries 1996, S. 43.

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Im Rückblick erscheint die Darstellung der Visigoten in Sidonius’ Briefsammlung ausgesprochen heterogen.478 Diese Uneinheitlichkeiten lassen sich plausibel mit den jeweiligen politischen Zeitumständen in Verbindung bringen,479 zumindest wenn man davon ausgeht, dass Sidonius in den entsprechenden Fällen wenigsten den Grundtenor seiner Originalbriefe vor Eingang in die Briefsammlung nicht radikal änderte. Insofern spiegelt sich in den sich verändernden Urteilen die Dynamik der politischen Situation in Gallien wider. Bezeichnenderweise wurde offenbar kein Versuch unternommen, das inkonsistente Gesamtbild der Darstellung der Visigoten zu glätten, als Sidonius die Bücher I bis VII seiner Briefsammlung 477/78, aus dem Exil zurückgekehrt, veröffentlichte. Offensichtlich hielt er es für keineswegs ungewöhnlich, bei der Bewertung der Visigoten opportunistisch vorzugehen. Für Sidonius erschien es legitim, sich den politischen Gegebenheiten pragmatisch zu unterwerfen und im Zuge dessen auch wechselnde Werturteile zu fällen,480 so dass er keinen Grund sah, den Inhalt seiner Briefe – zu unterschiedlichen Zeiten und 478 Sidonius eine durchgehend negative Darstellung der Visigoten zu unterstellen, wie es letztlich Everschor 2007, S. 349 und Gerth 2013, S. 213 tun (unter Berufung auf Kaufmann 1995, S. 138f., der jedoch tatsächlich insgesamt differenzierter urteilt, als von der nachfolgenden Forschung registriert, vgl. Kaufmann 1995, bes. S. 214–219), liefert keine überzeugende Erklärung für die positiven ‚Ausreißer‘. Ebensowenig vermag die These von Overwien 2009 zu überzeugen, Sidonius habe mit seiner Briefsammlung durch „versteckte[] Botschaften“ versucht, „zum geistigen Widerstand gegen die gotischen Besatzer aufzurufen“ (beide Zitate: Overwien 2009, S. 114). Dabei bemüht Overwien nicht nur unbegründete Prämissen, sondern geht auch apodiktisch vor (Overwien 2009, S. 93: „Vor diesem Hintergrund [die Übergabe Clermonts, Sidonius’ Exil und sein vorheriger Widerstand] wäre es bereits aus psychologischen Gründen zu erwarten [sic], daß er [Sidonius] im neu entstandenen Westgotenreich seinen Abwehrkampf weiterführte [. . .].“; Overwien 2009, S. 93, Anm. 1: „Selbstverständlich [sic] läßt sich bereits die Kreation einer elitär-römischen Briefwelt als Reaktion und Widerstandshaltung gegen die Goten interpretieren.“). Zudem beruht die wenig geradlinige Argumentation allein auf einer Auswertung von Buch VII der Briefe, in dem Sidonius seine Korrespondenzpartner, die mit den Visigoten kooperierten, angeblich indirekt für diesen ‚Verrat‘ kritisiere, indem er ihn mit einem impliziten Gegenbild ‚richtigen‘ Verhaltens kontrastiere. Warum Sidonius jedoch solche „versteckten Botschaften“ bemühen musste, wo er doch an anderen Stellen der Briefsammlung ganz offen Position gegen die Visigoten bezog, die er auch nach seiner Rückkehr nicht aus der Zusammenstellung entfernte, bleibt ebenso ungeklärt, wie die Frage „wie aus einem Arvandussympathisanten ein Eurichgegner werden konnte“, was von Overwien 2009, S. 114, Anm. 77 auch eingeräumt wird. Ebenfalls kritisch Köhler 2013, S. 42, Anm. 24; Schwitter 2015, S. 261f. In einem knappen Überblick betont jüngst auch Stadermann 2017, S. 82–87 Sidonius’ differenzierte Darstellung speziell der Goten. 479 Vgl. mit ähnlichen Beobachtungen Amory 1994a, S. 446f.; Goldberg 1995; Gibson 2013, S. 211–219; Kulikowski 2013, S. 87. Trotz aller Agitation gegen die Visigoten schien Sidonius auch während der Phase der Auseinandersetzungen dennoch flexibel zu bleiben und einen Ausgleich für wünschens- und sogar erstrebenswert zu halten, wie etwa Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 7, 2–4, S. 44f. und VII, 6, S. 108–110 belegen. Zeitgleich sah er es etwa auch als wenig ehrenrührig an, sich der Herrschaft der Burgunder zu unterwerfen, vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 6, 2, S. 81; dazu auch Harries 1994, S. 231f.; Kaufmann 1995, S. 146–149. 480 Vgl. Kitchen 2010, S. 54 mit ähnlichem Fazit; jüngst auch Wood 2018a, S. 285–287; Reimitz 2018, S. 290f. Dies gilt umso mehr, wenn man mit Delaplace 2012, S. 276–280; Delaplace 2015,

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Anlässen entstanden – im Nachhinein zu modifizieren, um diesen Eindruck zu verhindern.481 Dieser ostentativ demonstrierte Pragmatismus kann in seiner veröffentlichten Form durchaus als implizite Rechtfertigung,482 ja als Verhaltensanleitung für die römische Oberschicht gelesen werden,483 die das Publikum der Briefsammlung bildete. Zumal Sidonius so von sich selbst ein Bild konstruierte, das als Beispiel dafür fungierte, wie sich ein Mitglied der römischen Oberschicht in Gallien mit dem Verlust des Bezuges zu Rom und Kaiser arrangieren konnte, selbst wenn man noch zuvor erbitterten Widerstand geleistet hatte.484 Vom Pragmatismus, der bei Sidonius Einzug gehalten hatte, zeugt auch ein Brief aus dem späten neunten Buch. Er ist an den ansonsten unbekannten Bischof Julian gerichtet und kolportiert Sidonius’ Freude darüber, dass in Zukunft ein regelmäßigerer Briefaustausch zwischen den beiden möglich sein werde. Zuvor sei der Briefverkehr, da man in unterschiedlichen regna lebe, durch das diversarum sortium

S. 249f. vermutet, Sidonius habe nach seiner Bischofsweihe das kaiserliche Lager verlassen und sei zum Unterstützer der Burgunder geworden. 481 Damit erweist sich die in der neueren Forschung häufig (indirekt) postulierte ‚Identitätskrise‘ (vgl. etwa beispielhaft Goldberg 1995), die in Sidonius’ Briefsammlung (und auch in der Folgezeit) Ausdruck finde, als zu pessimistisch überdeutet. Vielmehr scheint Sidonius wenn überhaupt einen Wandel durchgemacht zu haben und zeigte eine dynamische Reaktion auf die sich rasch ändernden Verhältnisse im Zuge des Zerfalls des weströmischen Imperiums. Es handelte sich also nicht um eine Krise, sondern um einen Versuch der Anpassung an die Verhältnisse, die Suche nach einem neuen und hybriden Modus der Kontinuitätssicherung. So argumentiert auch eigentlich schon Kitchen 2010, der Sidonius’ Pragmatismus allerdings als einen Ausdruck von Satire interpretiert, die sich durch seine gesamte Briefsammlung ziehe. Als einziges systematisches Indiz für diese angeblich umfassende Ausrichtung dient ihm Sidonius’ Selbstaussage, die Briefsammlung sei aus stilistischen Interessen zusammengestellt und von ihren Rezipientinnen und Rezipienten auch so aufgefasst worden (vgl. Kitchen 2010, S. 59). Dies mögen ja tatsächlich teilweise auch causa edendi und legendi gewesen sein (siehe auch 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus unten), doch beides liefert noch keinen hinlänglichen Beleg dafür, dass nicht noch mehr und andere Motive hinter der Zusammenstellung standen oder vom Publikum antizipiert wurden, weiterhin bleibt damit die Wahl ausgerechnet des Stilmittels der Satire unerklärt. Letztlich müsste man Sidonius, würde man Kitchen 2010 konsequent folgen, eine gehörige Portion Zynismus angesichts der Ereignisse seiner Zeit unterstellen und ihn zu einer Art Witzbold machen (vgl. in diese Richtung Kitchen 2010, S. 66), der seine Taten durch diese Form des uneigentlichen Sprechens zu relativieren suchte. Aber Sidonius das nötige Selbstbewusstsein abzusprechen, die sich für die römische Oberschicht in Gallien bietenden Probleme produktiv und offen anzugehen, dazu besteht eigentlich weder Not noch Anlass. 482 Vgl. ähnlich Harries 1992, S. 299; Goldberg 1995. 483 Immerhin betont Sidonius selbst, mit seinem Werk auch mahnen zu wollen: dictavi enim quaepiam hortando (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VII, 18, 2, S. 125). Siehe dazu auch 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus unten. 484 Dies behält auch dann seine Gültigkeit, wenn man annimmt, Sidonius habe seine Briefsammlung nicht etappenweise, sondern alle neun Bücher auf einmal zusammengestellt und herausgegeben. Vgl. Zelzer 1995, S. 542f.; siehe dazu aber auch Anm. 77 oben.

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ius erschwert gewesen.485 Nun da zwischen den regna ein Friedensvertrag abgeschlossen sei (pacis initam pactionem), werde sich dies wieder ändern. Mit regnum dürfte Sidonius hier nicht das Imperium Romanum bezeichnet haben und auch die Vereinbarung zwischen den Visigoten und Julius Nepos von 475 wird von ihm weniger umständlich als im vorliegenden Fall zumeist schlicht als foedus bezeichnet.486 Also liegt der Schluss nahe, dass Sidonius in der Zeit nach 475 schrieb und hier mit den beiden regna vielmehr das visigotische Reich, in das Sidonius nach seinem Exil zurückkehren konnte, und vermutlich das Reich der Burgunder gemeint sind, in dem Julian lebte.487 Die Verbindlichkeit der neuen Verhältnisse und die jeweilige persönliche Subordination werden von Sidonius wohl recht bald nach seiner Rückkehr wie selbstverständlich akzeptiert und offensichtlich auch als dauerhaft erkannt, schließlich erfreut ihn doch die Aussicht, dass nun in Zukunft apices nostri incipient commeare crebri. Außerdem spricht dafür, dass Sidonius in einem Brief an Felix,488 dem gegenüber er zuvor noch die ungünstige Lage der Auvergne beklagt hatte,489 später dann den comes Victorius490 – eingesetzt durch Eurich – als seinen patronus491 akzeptiert. Dass der ursprüngliche Brief an Felix höchstwahrscheinlich aus der Zeit nach Sidonius’ Rückkehr stammt, zeigt sich daran, dass in einer Passage die Zusammenstellung der Briefsammlung kommentiert zu werden scheint.492 Daher dürfte das Abfassungsdatum also nicht deutlich vor 477 (als früheste vermutete Zusammenstellung der Bücher I bis VII) und damit nach Sidonius’ Exil liegen. Wie gesehen, spiegelt sich in Sidonius’ Reaktionen und Bewertungen der ‚Barbaren‘ zumeist die tagespolitische Situation, was – mit einem Blick auf das Gesamtwerk der Briefsammlung – ein durchaus widersprüchlich oder wechselhaft erscheinendes Bild der Selbstinszenierung des ‚Akteurs Sidonius‘ entwirft – „his art an instrument to determine his place within society, his letter collection a literary persona“.493 Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass Sidonius immer wieder auch

485 Dies und das Folgende bei Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 5, 1, S. 153: Etsi plusculum forte discreta, quam communis animus optabat, sede consistimus, non tamen medii itineris obiectu quantum ad solvendum spectat officium nostra sedulitas impediretur, nisi quod per regna divisi a commercio frequentiore sermonis diversarum sortium iure revocamur; quae nunc saltim post pacis initam pactionem quia fidelibus animis foederabuntur, apices nostri incipient commeare crebri, quoniam cessant esse suspecti. 486 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 6, 10, S. 110; 7, 4, S. 111. 487 Dies vermuten auch Loyen 1970b, S. 140, Anm. 17; Kaufmann 1995, Nr. 57, S. 315f. Anders Anderson 1965, S. 518, Anm. 2. 488 Siehe Anm. 58 oben. 489 Siehe 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ oben. 490 Siehe auch 2.2.1 Weltliches Amt oben. 491 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 10, 2, S. 62. 492 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 10, 2, S. 61f. Siehe außerdem 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben und 2.3. Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus unten. 493 van Waarden 2011, S. 561.

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sein Spezialgebiet der klassischen Bildung in diesen Zusammenhang setzt. So wirft er etwa dem Visigoten-Freund Seronatus vor, dass er diese Tugend der römischen Oberschicht lächerlich mache, rede er doch „vor Barbaren über Wissenschaft; obwohl er nicht einmal in die Anfangsgründe des Schreibens hinreichend eingeweiht ist, diktiert er seine Briefe aus Angeberei öffentlich und erdreistet sich, sie zu korrigieren.“494 Leo von Narbonne schmeichelt Sidonius hingegen – unter geänderten politischen Vorzeichen – mit dessen Bildung, obwohl (und in diesem Fall gerade weil) er mit den Visigoten im Bunde stand.495 Ähnlich situationsabhängig wie bei den prominenten Fällen des Arvandus, Seronatus und Leo von Narbonne fällt auch Sidonius’ Bewertung der Kooperation anderer Mitglieder der gallo-römischen Oberschicht mit den neuen Herrschern aus.496 Bereits erwähnt wurde der lange Brief an Namatius aus dem achten Buch.497 Sidonius ist in Sorge um Namatius, er warnt vor den Grausamkeiten sächsischer Piraten, die Namatius im Auftrag der Visigoten an der Küste Galliens jagt.498 Doch Sidonius lässt sich nicht betrüben (quamquam me e contrario ingentia hortentur),499 schließlich werde Namatius von den victoris populi signa500 begleitet. Sein Engagement für die Visigoten (das „siegreiche Volk“) wird von Sidonius in dieser Situation als durchweg positiv bewertet. Gleichzeitig wird Namatius für seine Klugheit gelobt (sapientes viros, quos inter iure censeris)501 und indirekt mit dem zu Anfang des Briefes erwähnten Caesar verglichen, der militärisches Geschick mit Belesenheit verbunden habe.502 Des Weiteren liefert Sidonius eine ausführliche Beschreibung der Eigenschaften und des 494 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 1, 2, S. 21: inter barbaros litteras; epistulas, ne primis quidem apicibus sufficienter initiatus, publice a iactantia dictat, ab impudentia emendat. Übers. in Köhler 2014, S. 41. Siehe auch 2.2.5 Romanitas oben. 495 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 22, S. 72f. u. VIII, 3, S. 127f. Vgl. Harries 1996, S. 42. 496 Vgl. etwa auch seinen Brief an Tonatius Ferreolus (siehe Anm. 251 oben), der als gallischer Präfekt, in den 450er Jahren, für seine Zusammenarbeit mit den Barbaren ausdrücklich gelobt wird, Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 12, 3, S. 118f. Vgl. auch Sivan 1983, S. 116f. Für einen zusammenfassenden Überblick über die „aktive[] Mithilfe zumindest eines Teils der römischen Oberschicht“ bei militärischen Unternehmungen der Visigoten vgl. auch Schwarcz 1995 (das Zitat: Schwarcz 1995, S. 52). 497 Siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache oben. 498 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 13–15, S. 132f. Geschickt parallelisiert Sidonius Namatius’ Kampf gegen die Seeräuber mit dem venatoris officium (Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 6, 11, S. 132) als Freizeitaktivität in den Abschnitten zuvor (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VIII, 6, 10–12, S. 131f.). 499 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 16, S. 133. 500 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 16, S. 133. 501 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 16, S. 133. 502 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 1, S. 130: Gaium Caesarem dictatorem, quo ferunt nullum rem militarem ducalius administrasse, studia certatim dictandi lectitandique sibi mutuo vindicavere. et licet in persona unius eiusdemque tempore suo principis viri castrensis oratoriaeque scientiae cura certaverit ferme gloria aequipari, idem tamen numquam se satis duxit in utriusque artis arce compositum, priusquam vestri Arpinatis testimonio ceteris mortalibus anteferretur.

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Lebens des Gelehrten Flavius Nicetius (vir ortu clarissimus, privilegio spectabilis, merito inlustris et hominum patriae nostrae prudentia peritiaque iuxta maxumus),503 aktiviert also auch hier scheinbar en passant sein Motiv der klassischen Bildung der römischen Oberschicht. Folgerichtig schickt Sidonius seinen Freund mit dem Brief auch Lektüre504; auch mit dem Dienst für die Visigoten kann das eigene Selbstverständnis über die klassische Bildung also in Einklang gebracht werden. Je nach Datierung dieses Briefes an Namatius liefert er einen weiteren Beleg dafür, wie gezielt Sidonius offenbar bei der Zusammenstellung seiner Briefsammlung vorging, die die ausgesprochene Flexibilität seiner Werturteile abbildet. Gerade wenn Sidonius hier bei der Zusammenstellung von Buch VIII auf ‚altes‘ Material von vor 469 zurückgriff,505 also aus einer Phase, in der sein Verhältnis zu den Visigoten ebenso positiv gewesen zu sein schien wie zum Zeitpunkt der Wiedernutzung, würde dies ein Schlaglicht auf seine variable Praxis der politisch-gesellschaftlichen Sinnstiftung werfen, die er mit großer Selbstverständlichkeit durch die Aktualisierung ‚alter‘ Vorlagen vor dem Hintergrund gegenwärtiger Verhältnisse demonstrierte.506 Im Zusammenhang mit der klassischen Bildung erwähnt Sidonius immer wieder auch die besondere Bedeutung der Reinheit der lateinischen Sprache der Oberschicht, natürlich ein vorzügliches Mittel, um sich von anderen Gesellschaftsgruppen abzusetzen und das eigene Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstverständnis zu stärken. Doch auch hier beweist Sidonius mit dem Blick auf seine gesamte Briefsammlung geistige Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit. In einem frühen Brief aus dem ersten Buch erscheint ihm die Vorstellung gebildeter Barbaren noch ausgesprochen lächerlich.507 In einem späteren Schreiben erfreut sich der ‚Barbar‘, der sich Bildung aneignet, jedoch Sidonius’ Gunst und wird ganz wie ein Standesgenosse behandelt. Auch wenn die Herkunft Arbogasts,508 des comes von Trier, nicht mit letzter Sicherheit zu klären ist, so ist es doch wahrscheinlich, dass er ein Franke war.509 Gleichfalls ist der genaue Status Arbogasts nicht mehr klar auszumachen. Während etwa Köln und Mainz wohl spätestens ab Mitte der 450er Jahre durch die Franken

503 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 2, S. 130. 504 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 6, 18, S. 133. 505 So Loyen 1970d, S. 216 gegen Stroheker 1948, S. 194. 506 Ein weiteres Beispiel liefert auch Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 12, S. 86 an Calminius (vgl. Heinzelmann 1982, S. 573; Kaufmann 1995, Nr. 17, S. 288), der offensichtlich während der Auseinandersetzungen in der Auvergne (gezwungenermaßen) auf Seiten der Visigoten kämpfte, dafür aber, trotz schwelenden Konflikts, von Sidonius keineswegs gescholten wird (vgl. dazu auch Kaufmann 1995, S. 193f.; Harries 1996, S. 41f.; Jäger 2017, S. 197–199). 507 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 8, 2, S. 74: in qua palude indesinenter rerum omnium lege perversa, [. . .] student [. . .] litteris foederati. 508 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 558; Kaufmann 1995, Nr. 10, S. 281–183. 509 Vgl. zu Arbogast und Sidonius’ Brief auch Anton 1987, S. 50–58; Kaufmann 1995, S. 160, 231; Harries 1996, S. 35; Maier 2005, S. 246f.; Everschor 2007, S. 210–215; Eigler 2013, S. 402f.; Müller 2018c, S. 93f.

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unabhängig von Rom beherrscht wurden, stand Arbogast – vermutlich durch Rom eingesetzt, möglicherweise aber auch souverän agierend – an der Spitze der militärischen und zivilen Verwaltung Triers, ähnlich der Stellung wie sie auch der comes Paulus, Aegidius und später Syagrius in Gallien innehatten.510 Sidonius lobt Arbogast für einen von ihm geschriebenen Brief, der von gelehrter Schreibkunst zeuge. In dem Brief drückten sich Arbogasts „Kultur“, seine „Nächstenliebe“, seine „Bescheidenheit“ und sein „feiner Witz“ aus.511 Es heißt weiter: Doch habt ihr Euch an der Quelle der römischen Beredsamkeit gesättigt, und obgleich Ihr aus der Mosel getrunken habt, quellen aus Eurem Mund die Wasser des Tiber; Ihr seid mit den Barbaren ebenso vertraut, wie Euch Barbarismen fremd sind [. . .]. Darum hat sich die Schönheit der Sprache Roms, so es sie denn noch irgendwo gibt – denn in den belgischen oder rheinischen Landen ist sie längst vernichtet –, bei Euch niedergelassen; solange Ihr wohlbehalten seid und Reden haltet, auch wenn das Recht Latiums an unserer Grenze schon gefallen ist, wankt die Sprache Latiums nicht. Ich grüße Euch darum gerne zurück und freue mich sehr, dass wenigstens in Eurem glänzenden Geist noch Spuren einer verschwindenden literarischen Bildung zurückgeblieben sind; wenn Ihr sie mit ausdauernder Lektüre weiterhin verfolgt, werdet Ihr Tag für Tag die Erfahrung machen, dass gebildete Menschen um so viel vorzüglicher sind als ungebildete, wie der Mensch sich vor dem Tier auszeichnet.512

Nachdem Sidonius Arbogast für seine guten Eigenschaften gelobt hat, gratuliert er ihm dazu, dass er über die sermonis pompa Romani verfüge und zu ihren Bewahrern zähle, „auch wenn das Recht Latiums an unserer Grenze schon gefallen ist.“ Es seien in seinem „glänzenden Geist noch Spuren einer untergehenden literarischen Bildung verblieben“. Auch Arbogast werde bald erfahren, „dass gebildete Menschen um so viel vorzüglicher sind als ungebildete, wie der Mensch sich vor dem Tier auszeichnet.“ Der mutmaßliche Franke wird gleichsam – ganz ähnlich dem Fall des Johannes513 – zum Bewahrer der römischen Kultur der Oberschicht stilisiert, auch hier erweist sich Sidonius also als flexibel und wenig an ethnisch bedingte Vorurteile gebunden. Mit dem Blick auf Trier und das Umland scheint er den status quo, den großen Einfluss der Franken, zu akzeptieren. Ja, er versucht pragmatisch, das Beste aus der Situation zu

510 Siehe 2.1.4 Gallien im 5. Jahrhundert oben. 511 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 17, 1, S. 68: Eminentius amicus tuus, domine maior, obtulit mihi quas ipse dictasti litteras litteratas et gratiae trifariam renidentis cultu refertas. quarum utique virtutum caritas prima est [. . .]; tum verecundia [. . .]; tertia urbanitas [. . .]. 512 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 17, 1f., S. 68: [. . .] et Quirinalis impletus fonte facundiae potor Mosellae Tiberim ructas, sic barbarorum familiaris, quod tamen nescius barbarismorum [. . .]. quocirca sermonis pompa Romani, si qua adhuc uspiam est, Belgicis olim sive Rhenanis abolita terris in te resedit, quo vel incolumi vel perorante, etsi apud limitem ipsum Latina iura ceciderunt, verba non titubant. quapropter alternum salve rependens granditer laetor saltim in inlustri pectore tuo vanescentium litterarum remansisse vestigia, quae si frequenti lectione continuas, experiere per dies, quanto antecellunt beluis homines, tanto anteferri rusticis institutos. 513 Siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache oben.

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machen. Einflussreiche Akteure wie Arbogast werden in den eigenen Zirkel aufgenommen und wie Freunde behandelt.514 Damit sind Sprache und Bildung für Sidonius keineswegs immer Mittel der Abgrenzung, sondern können auch zur Integration und Assimilation dienen, wie er beinahe programmatisch im ersten Brief des vierten Buches bemerkt: Ein Gelehrter könnte den Barbaren Bildung vermitteln, dann werde deren ferocia und stoliditas zivilisiert.515 Bei umgekehrter Ausgangslage reagierte Sidonius jedoch eher mit Spott. Seinen Freund Syagrius516 belächelt er (fast tadelnd) dafür, dass dieser sich „die Kenntnis der germanischen Sprache mit solcher Leichtigkeit angeeignet“ hatte.517 Seinen Brief eröffnet Sidonius mit einem Hinweis auf das hohe Amt und die literarischen Errungenschaften von Syagrius’ Vorfahren und thematisiert somit in komprimierter Form gleich mehrere Aspekte des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht.518 Um so lächerlicher erscheine es, dass sich der bestens ausgebildete519 Syagrius nun in der Sprache der Burgunder übe: „Man kann sich keinen Begriff von dem Gelächter machen, in das ich wie alle anderen ausbreche, sooft ich höre, daß in Deiner Gegenwart ein Barbar sich davor fürchtet, in seiner eigenen Sprache einen Barbarismus zu

514 Vgl. Gerth 2013, S. 218; Müller 2018c, S. 94. Eine ganz ähnliche Charakterisierung erfährt Arbogast übrigens auch durch Sidonius’ Bischofskollegen und Bekannten Auspicius von Toul (Adressat von Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], VII, 10, S. 117) in einer Versepistel, vgl. Ep. Aust. (Malaspina 2001), 23, S. 144–158. 515 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 1, 4, S. 53: at qualium, deus bone, quamque pretiosorum, quae si quis deportaret philosophaturus aut ad paludicolas Sygambros aut ad Caucasigenas Alanos aut ad equimulgas Gelonos, bestialium rigidarumque nationum corda cornea fibraeque glaciales procul dubio emollirentur egelidarentur neque illorum ferociam stoliditatemque, quae secundum beluas ineptit brutescit accenditur, rideremus contemneremus pertimesceremus. Vgl. Goltz 2002, S. 300, der die Stelle jedoch einseitig als Ausdruck der „Vorbehalte der Senatsaristokratie gegenüber der mangelnden Bildung der Barbaren“ (Goltz 2002, S. 300) interpretiert und dabei das durch Sidonius hier angedeutete Potential zur Besserung ausblendet. Vgl. weniger einseitig jüngst Müller 2018c, S. 91–93. 516 Siehe Anm. 194 oben. 517 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 5, 1, S. 80: sermonis te Germanici notitiam tanta facilitate rapuisse. Übers. in Köhler 2014, S. 151. Siehe 2.2.1 Weltliches Amt; 2.2.2 Abstammung; 2.2.5.1 Bildung und Sprache oben. 518 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 5, 1, S. 80: Cum sis consulis pronepos idque per virilem successionem (quamquam id ad causam subiciendam minus attinet), cum sis igitur e semine poetae, cui procul dubio statuas dederant litterae, si trabeae non dedissent (quod etiam nunc auctoris culta versibus verba testantur). 519 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 5, 2, S. 80: atqui pueritiam tuam competenter scholis liberalibus memini imbutam et saepenumero acriter eloquenterque declamasse coram oratore satis habeo compertum.

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produzieren!“520 Zuletzt ermahnt Sidonius noch den novus Burgundionum Solon,521 „in ausgewogenem Verhältnis unsere Sprache zu kultivieren, damit man nicht über Dich lacht, und Dich zugleich in der Sprache der anderen zu üben, damit Du über sie lachen kannst“.522 Sidonius spottet hier jedoch in einer Position, in der er offensichtlich nicht unter dem unmittelbaren Druck stand, mit den ‚Barbaren‘ kooperieren zu müssen, dies änderte sich im Verlauf seines Lebens. Vermutlich stammte die Vorlage des Briefes an Syagrius aus früheren Zeiten. Allerdings schon die Tatsache, dass dieser sich offensichtlich mit dem Burgundischen beschäftigte, belegt, dass solcherlei Strategien des Arrangements mit den ‚Barbaren‘ in der römischen Oberschicht Galliens durchaus praktiziert wurden. Damit ähneln sie Sidonius’ eigener Taktik, die er spätestens nach seiner Rückkehr aus dem Exil verfolgte. Es zeigt sich zwar, wie wichtig die Bildung für das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien in Sidonius’ Briefen war, zur praktischen Abgrenzung gegenüber den ‚Barbaren‘ diente sie allerdings nur so lange, wie dies opportun erschien. In der Briefsammlung des Ruricius erfahren umfassende politische Ereignisse keine so ausgeprägte Resonanz wie in der des Sidonius.523 Dennoch wird deutlich, dass sich der spätere Bischof von Limoges schon als Laie wie selbstverständlich und ohne spürbare Vorurteile im visigotischen Umfeld orientierte, wie etwa sein Brief an Freda zu belegen scheint.524 Auch nach seiner Bischofsweihe zeigte er sich voll in die Gesellschaftsstrukturen im Herrschaftsgebiet eingebunden. So schreibt er dem in visigotischen Diensten stehenden Elaphius525 und empfiehlt ihm den Boten des Briefes mit dem gotischen Namen Ulfila526 auf Bitten des Priesters Fraretrius.527 Vor einem ähnlichen Hintergrund sind außerdem der Brief an Praesidius528 und Ruricius’ Verbindung

520 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 5, 3, S. 81: aestimari minime potest, quanto mihi ceterisque sit risui, quotiens audio, quod te praesente formidet linguae suae facere barbarus barbarismum. Übers. in Köhler 2014, S. 151. 521 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 5, 3, S. 81. 522 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 5, 4, S. 81: restat hoc unum, vir facetissime, ut nihilo segnius, vel cum vacabit, aliquid lectioni operae impendas custodiasque hoc, prout es elegantissimus, temperamentum, ut ista tibi lingua teneatur, ne ridearis, illa exerceatur, ut rideas. Übers. in Köhler 2014, S. 152. Vgl. zum Brief auch Kaufmann 1995, S. 144–146; Harries 1996, S. 34f.; Harries 2000, S. 51f.; Gerth 2013, S. 215f. 523 Vgl. Mathisen 2001b, S. 105. 524 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 11, S. 324f. Zur Datierung vgl. Mathisen 1999, S. 121. Siehe zum Brief ansonsten 2.2.1 Weltliches Amt und 2.2.5 Romanitas oben. 525 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 205 oben. 526 Vgl. Everschor 2007, S. 238f. 527 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 7, S. 340: Vnde etiam porti tor harum, nomine Vlfila, quem mihi Pharetrius presbyter suis litteris commendauit, ad uos commendaticias postulauit, quas ei et pro iussione diuina et pro uisione mutua libenter indulsi. 528 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 12, S. 348: Plerique, dum me apud indiuiduam mihi sublimitatem uestram non uitae merito, sed amicitiarum priuilegio multum posse confidunt, commendaticias a nobis, quibus uobis excusentur, inquirunt. Zu Praesidius siehe Anm. 207 oben.

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zu Vittamerus zu bewerten.529 Dies sowie der beiläufige Hinweis, dass seine Adressatin Ceraunia530 wohl in Verbindung mit dem von den Visigoten eingesetzten novus iudex stand,531 scheinen zu zeigen, dass Ruricius und auch andere Mitglieder der gallischen Oberschicht bemüht waren, sich konsequent und flexibel mit den Verhältnissen zu arrangieren.532 Ruricius trägt damit den Geist der impliziten Lehre der Briefsammlung des Sidonius einerseits in seiner Korrespondenz weiter und scheint ihn andererseits auch ganz lebenspraktisch umgesetzt zu haben. Noch einmal anders ist die Lage bei Avitus von Vienne. Ganz ähnlich wie Leo von Narbonne am visigotischen Hof sein juristisches Wissen stellte Avitus dem burgundischen König Gundobad und seinem Sohn Sigismund vor allem seine theologische Expertise zur Verfügung.533 In ihrem Auftrag schrieb er Briefe an den Papst,534 den oströmischen Kaiser535 und oströmische Aristokraten536 und bezog Stellung in religiösen Angelegenheiten gegenüber seinen Herrschern und dem homöischen Klerus im Burgunderreich.537 Mit Sigismund verband ihn zudem offenbar ein besonderes Verhältnis der Nähe. Avitus war wohl maßgeblich an seiner Entscheidung zum Übertritt zur homousianischen Ausrichtung des Christentums und an seiner Taufe beteiligt.538 Außerdem nahm er persönlich geradezu patriotisch Anteil am Schicksal des burgundischen Herrschers, wünschte ihm Gottes Segen für seine Feldzüge539 und sorgte sich um seine Sicherheit.540 Auch ansonsten schien Avitus

529 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 210 und Anm. 211 oben. 530 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 578. 531 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 15, S. 351: aduentu noui iudicis te accupatam esse credidi. 532 Vgl. ähnlich Everschor 2007, S. 350. 533 Siehe auch insgesamt zu Avitus’ Verhältnis zu den burgundischen Herrschern 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 230 und Anm. 231 oben. 534 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 8, S. 40–42; 29, S. 59. 535 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 46a, S. 76; 78, S. 93; 93, S. 100f.; 94, S. 101f. 536 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 47, S. 76f. 537 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 1, S. 12–15; 2, S. 15–21; 3, S. 22–29; 4, S. 29–32; 5, S. 32f.; 6, S. 33–35; 21, S. 54; 22, S. 54f.; 30, S. 60–62; 31, S. 62; 32, S. 62f.; 44, S. 73f. Auch andere Mitglieder der Oberschicht folgten seinem Beispiel, so führte etwa auch Heraclius eine theologische Debatte am Hof Gundobads (siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache mit Anm. 398 oben). Vgl. auch Heil 2011. 538 Vgl. Everschor 2007, S. 306. 539 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 45, S. 74: Quod superest, egressi felices, ite sospites, redite victores. Fidem vestram telis inserite, promissionem divinam promittendo admonete; auxilia caeli precibus exigite, iacula vestra votis armate. Dabit deus, ut bellorum trophaea, quae vobis ipse praestiterit, cuiuscumque sermonis obsequio sub materia eius, quem dudum expecto, triumphi pretiosioris exaggerem. 540 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 91, S. 99: Illud autem non solum rogo, sed per illam, quam a deo accepistis et mihi praestatis gratiam precor, ut, quamquam merito de indictae fidei firmitate securi nobis magis impenso cautelae vestrae munere simus, trepidationi nostrae et ignaviae consulatis neque plus cogitetis, quod universitas pro vobis devota supplicat, quam quod suspensa formidat. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 92, S. 99: Quapropter si memoriae meae gratiam de animo vestro nec tantae anxietatis tempus imminuit, famulus specialis salutationem quidem deferre non ausus, sed salutem vestram a domino praestolaturus satis suspenso attentoque animo servitium praesentis paginae destinavi

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bestens in der burgundischen Gesellschaft vernetzt, wie seine Kontakte zum dux Arigius541 und Ansemundus542 belegen.543 Ähnlich wie bei Sidonius und Ruricius scheint auch für Avitus Anpassungsfähigkeit das Gebot der Stunde. Sein Bekannter Aurelianus544 hatte ihn offensichtlich um Rat gefragt angesichts der gegenwärtigen Umwälzungen und Unwägbarkeiten, die er vermutlich bildhaft mit Sturm und unruhigem Meer umschrieb. Diese Metaphorik aufgreifend,545 rät Avitus zu Pragmatismus, Aurelianus solle die Lage bedingungslos nutzen (varietate proventuum non delectare, sed utere), um seine Situation zu verbessern.546 Über die Grenzen des Burgunderreichs hinaus trat Avitus ebenfalls als Akteur in Erscheinung. Mit italischen Bischöfen und ostgotischen Amtsträgern stand er in Kontakt und vermittelte Gefangenenaustausch und Lösegeldzahlungen.547 Avitus’ Reichweite zeigt sich außerdem an dem berühmten Brief, den er anlässlich der Taufe des Frankenkönigs Chlodwig verfasste. Offensichtlich hatte Chlodwig seine Taufe den gallischen Bischöfen auch außerhalb des Frankenreichs angezeigt, was Avitus zu einem Gratualitionsschreiben veranlasste.548 Zu dieser Gelegenheit lässt er keinen Zweifel an der Legitimität des fränkischen Königs, der nun wie auch die burgundischen Herrscher über das Schicksal Galliens entschied.549 Dass Avitus im Zusammenhang mit seiner Bemerkung, Chlodwig hänge nun dem gleichen Glauben

primum de vestra, tum de exercitus sanitate sollicitus. Für weitere Briefe an Sigismund vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 49, S. 77f.; 76, S. 92; 77, S. 92; 79, S. 93. 541 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 237 und Anm. 238 oben. 542 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt mit Anm. 239 und Anm. 240 oben. 543 Vgl. zur Korrespondenz des Avitus innerhalb des burgundischen Reiches auch Amory 1994b, S. 8–22; Wood 2009, S. 12–15. 544 Vgl. Heinzelmann 1982, 5, S. 564. 545 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 37, S. 66: Verum tamen aestus ille diluvii, quem procellis temporalibus comparastis, humanis rebus, dum per mundanum pelagus curritur, fluctu adsiduae perturbationis insistit. Quandoquidem hoc ipsum, quod inter adversitates temporum respiramus, discriminum, quae patimur, intervallum magis debemus putare quam terminum. Nam idcirco tantum incommodis calamitatum circumscribendis potius quam sanandis pax quaedam videtur adludere, ut mentes fallaci securitate laxatas instaurato gravius metu succiduus gemitus adficiat. 546 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 37, S. 66f.: Quo circa desiste, vir optime, in malis ferventibus credere finem malorum, et cum se motu dissimili tempestate mollita facies tantillae serenitatis alternat, varietate proventuum non delectare, sed utere. Vgl. zur Metaphorik und Deutung des Briefes auch Schwitter 2015, S. 283–285. 547 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 10, S. 44; 12, S. 45f.; 35, S. 65. Vgl. dazu Heil 2011, S. 37f. Vgl. außerdem in etwas kleinerem Rahmen Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 8, S. 341. 548 Siehe Anm. 159 oben. 549 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 46, S. 75: Invenit quippe tempori nostro arbitrum quendam divina provisio. Dum vobis eligitis, omnibus iudicatis; vestra fides nostra victoria est. [. . .] Habetis bonorum auctores, voluistis esse meliorum. Respondetis proavis, quod regnatis in saeculo; instituistis posteris, ut regnetis in caelo.

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an wie der princeps Ostroms, gerade von Graecia spricht,550 mag man zudem (möglicherweise aber auch eingedenk seines Adressaten) als ein Zeichen einer gewissen Distanziertheit gegenüber der römischen Vergangenheit lesen. Avitus’ Blick reichte auch ins Visigotenreich. Welchen Schwierigkeiten man sich als Mitglied der alteingessenen Oberschicht beim Versuch gegenübersah, sich einen neuen Platz zu suchen, zeigt dabei das Beispiel des Apollinaris,551 Sohn des Sidonius Apollinaris. Offensichtlich war er in militärische Unternehmungen der Visigoten verwickelt (vos dominorum, quibus observatis, accitu cunctos pariter evocatos).552 Möglicherweise handelt es sich dabei um Chlodwigs Feldzug gegen Alarich II., auf dessen Seite Apollinaris laut Gregor von Tours viele Bürger und senatores aus Clermont ins Feld führte.553 Zuvor hatten sich allerdings ambiguitates aestuantes für Apollinaris ergeben.554 Diese überstand er jedoch gut: Scripsistis igitur Christo praestante iam redux omnia tuta esse circaque vos dignationem domni regis Alarici illaesam et pristinam permanere.555 Schließlich – und dies scheint durchaus bemerkenswert – solle man sich die Lehren seines Vaters zu Eigen machen: virum saeculo militantem minus inter arma quam inter obloquia periclitari.556 Weniger als einen Bezug auf eine konkrete Stelle in Sidonius’ Werk557 könnte man dies als Avitus’ Lesart der (impliziten) Botschaft von Sidonius’ Briefsammlung deuten, sich um jeden Preis politische Klugheit und Flexibilität beim Umgang mit den sich ändernden Verhältnissen in Gallien zu bewahren, si quidem nihil de processu temporum immutabile credi debet.558 In einem nachfolgenden Brief an ihn rät Avitus Apollinaris auch dementsprechend zur Milde gegenüber seinen politischen Gegnern im Visigotenreich: primus victoriae vestrae gradus sit integritatem in conscientia reponere; secundus, cum discutitur, in audientia comprobare; tertius criminantibus post sententiam pepercisse.559 Allerdings lag Avitus’ Vorschlag nicht etwa ein christlicher Impetus zu Grunde, wie man beim Bischof von Vienne vielleicht hätte

550 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 46, S. 75: Gaudeat equidem Graecia principem legisse nostrum: sed non iam quae tanti muneris donum sola mereatur. 551 Siehe Anm. 233 oben. 552 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 24, S. 56: Nam revera nuntio vestri discessus accepto in summo metu et trepidatione pependimus; quia nobis diversis nuntiis dicebatur vos dominorum, quibus observatis, accitu cunctos pariter evocatos. Vgl. zu diesem Brief und möglichen Codierungen auch Schwitter 2015, S. 285 f. 553 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 37, S. 88: Maximus ibi tunc Arvernorum populus, qui cum Apollinare venerat, et primi qui erant ex senatoribus corruerunt. 554 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 36, S. 66: Scio, quod revertens ad devinctissimos mihi domnos Domnulus noster, coram me de vestrae piae sollicitudinis ambiguitatibus aestuante aliter quam volui relaturus, adgravavit magis redeundi festinationem, quam minuit. Vgl. auch Schwitter 2015, S. 286–288. 555 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 51, S. 79. 556 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 51, S. 80: Quoniam, si vos a patre vestro hoc didicistis virum saeculo militantem minus inter arma quam inter obloquia periclitari, exemplum a Sidonio meo, quem patrem vocare non audeo, quantum clericus perpeti possit, adsumo. 557 Vgl. so zuletzt Shanzer/Wood 2002, S. 344, Anm. 10 u. 11. 558 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 7, S. 36. 559 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 52, S. 81.

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erwarten können, sondern zweckmäßiges politisches Kalkül, um die Gegner durch dieses Verhalten in Selbsthass zu stürzen und endgültig auszuschalten.560 Es zeigt sich hier eindrücklich, wie Avitus – durchaus in Sorge und rachsüchtig, in der Sache jedoch letztlich nüchtern – gemeinsam mit Apollinaris gleichsam stellvertretend für die römische Oberschicht in Gallien progressiv auf der Suche nach neuen Lösungen im veränderten politischen Rahmen der Zeit war.561

2.2.6 Christentum und Bischofsamt Immer wieder wird in der Forschung die zunehmende Bedeutung christlicher Werte für die römische Oberschicht im Zuge des schleichenden Verfalls des weströmischen Imperiums betont.562 Gerade da die weltliche Karriereleiter des cursus honorum immer mehr ins Wanken geriet und von Gallien aus im 5. Jahrhundert kaum noch erklommen werden konnte,563 hätten sich die Zeitgenossen zudem zunehmend in Richtung Episkopat orientiert und ihr traditionelles laikales durch ein klerikales Betätigungsfeld substituiert.564 Dass es eine Tendenz in diese Richtung gab, ist sicher kaum zu bezweifeln.565 Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass die erzählenden Quellen zu dieser schon im 4. Jahrhundert einsetzenden „redefinition of nobilitas“566 von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours natürlich fast ausschließlich aus der Feder von Bischöfen stammen und daher der Grad der Bedeutung von Bischofswürde und Christentum im Allgemeinen für die römische Oberschicht in Gallien leicht in Gefahr gerät, allzu stark durch episkopale Augen bestimmt zu werden.

560 Avitus, Ep. (Peiper 1883), 52, S. 81: Torqueatur animo etiam pro indulgentia sibi collata hostis subpressus, et duplici nostro bono, supplicio suo, cum vos gemuerit non posse decipi, doleat posse misereri. Sic potestati vestrae ad hoc tantum redditus, ne periret, dum oblatae ultro veniae amarus irascitur, vitae quodammodo suae invidere cogatur. 561 Vgl. mit einer ähnlichen Folgerung in Bezug auf Avitus’ Zusammenarbeit mit den burgundischen Herrschern schon Rosenberg 1982, S. 2 u. 9; in Bezug auf die Kirche Heil 2011, S. 45. 562 Vgl. grundlegend u. a. Brown 1971; Brown 1992; Brown 2000, S. 341–346; Brown 2003; ansonsten etwa van Dam 1985, S. 140–156; Barnish 1988, S. 138–140; Wes 1992; Mathisen 1993, S. 91–104; Scheibelreiter 1999, S. 51–56; Harries 2000, S. 45–47; Bartlett 2001; Wickham 2005, S. 158f.; Dewar 2014, S. 85–105; Hen 2018. 563 Siehe 2.2.1 Weltliches Amt oben. 564 Vgl. vor allem Salzman 2002 (auch Salzman 2000; Salzman 2001), die den mit diesem Prozess verbundenen Wertewandel der römischen Oberschicht verfolgt und seinen Beginn im 4. Jahrhundert verortet. Als Fallbeispiel vgl. etwa Heinzelmann 1992. Zur Veränderung des Bischofsamtes in dieser Zeit vgl. auch Prinz 1974; Heinzelmann 1976; Gassmann 1977; Heinzelmann 1988; Baumgart 1995; Jussen 1995; Anton 1996; Jussen 1997; Rapp 2005; Diefenbach 2013. 565 Von einer regelrechten „Monopolisierung“ des Bischofsamtes wird man dennoch nicht ausgehen dürfen, vgl. dazu zuletzt zusammenfassend Diefenbach 2013, S. 98–100; Stadermann 2017, S. 127–131. 566 Salzman 2001, S. 374.

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Zumal selbst in der Zeit Gregors noch über zahlreiche Akteure berichtet wird, die weltlichen Betätigungen nachgingen, etwa im Dienst der fränkischen Könige – ganz so wie schon in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in den Reichen der Visigoten und Burgunder.567 In der Briefsammlung des Sidonius Apollinaris beispielsweise – der freilich vor seiner Weihe zum Bischof von Clermont eine illustre weltliche Karriere bis zu den höchsten Würdengraden durchlaufen hatte – spielen kirchliche Angelegenheiten keineswegs eine übergeordnete Rolle. Was z. B. die Bibelauslegung betrifft, gibt sich Sidonius bescheiden: Er sei nur ein interpres improbus,568 weswegen er das Verfassen geistlicher Schriften ablehnte.569 Dennoch sind die Briefe des sechsten Buches und der ersten Hälfte des siebten Buches ausschließlich an Sidonius’ Bischofskollegen gerichtet. Dies verweist durchaus auf den hohen Stellenwert, den das kirchliche Amt im Leben Sidonius’ einnahm. Seine Bischofsweihe inszeniert er folgerichtig als Wendepunkt, nun sei es an der Zeit, seine literarischen Bestrebungen zurückzufahren (ein guter Vorsatz, an den sich Sidonius freilich nicht allzu konsequent gehalten hat) und sich stattdessen spiritueller Kontemplation zu widmen.570 Zum Abschluss des Briefes rät Sidonius seinem Adressaten Consentius571 – ganz dem vorherrschenden Trend folgend –, selbst ebenfalls eine geistige Laufbahn einzuschlagen.572 Auch andernorts wirbt er nachdrücklich für die bischöfliche Karriere, es verhält sich nämlich so: Wie bei einem Bankett, das aus Anlaß eines öffentlichen Festes stattfindet, der letzte Gast am ersten Tisch vornehmer ist als der erste Gast am zweiten Tisch, so wird ohne jeden Streit nach der Überzeugung der Edlen der kleinste unter den Geistlichen für vorzüglicher gehalten als der größte Amtsträger im Staat.573

567 Siehe oben. 568 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 17, 3, S. 68. 569 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 2, S. 150. 570 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 4, 3, S. 129: sed, quod fatendum est, talibus studiis anterior aetas iuste vacabat seu, quod est verius, occupabatur; modo tempus est seria legi, seria scribi deque perpetua vita potius quam memoria cogitari nimiumque meminisse nostra post mortem non opuscula sed opera pensanda. 571 Siehe Anm. 362 oben. 572 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 4, 4, S. 129: sed ut qui Christo favente clam sanctus es, iam palam religiosa venerandus iugo salubri colla pariter et corda subdare invigiletque caelestibus lingua praeconiis, anima sententiis, dextra donariis. Vgl. auch Gerth 2013, S. 201–203. 573 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 12, 4, S. 119: [. . .] quia, sicuti cum epulum festivitas publica facit, prior est in prima mensa conviva postremus ei, qui primus fuerit in secunda, sic absque conflictatione praestantior secundum bonorum sententiam computatur honorato maximo minimus religiosus. Übers. in Köhler 2014, S. 230. Vgl. Gerth 2013, S. 203f.

2.2 Die römische Oberschicht und ihre Briefe

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Bei der Bischofswahl von Bourges etwa empfiehlt er sogar seinen Kandidaten Simplicius574 besonders vehement, gerade weil er aus dem weltlichen und nicht dem geistlichen Stand komme.575 Auch gegenüber Faustus von Riez,576 der freilich ganz anders als Sidonius durchaus durch geistliche Schriften und religiöse Kontroversen in Gallien auf sich aufmerksam machte,577 betont er nochmals, dass sich nun die Kirche „Platons Akademie“ zu Nutzen mache (ecclesiae Christi Platonis academiam militare).578 Faustus wiederum figuriert durchaus prominent als geistlicher Mentor in der Briefsammlung des Ruricius. Die ersten beiden Briefe des ersten Buches sind an den Bischof von Riez gerichtet.579 Hierdurch zeichnet sich zum Auftakt der Sammlung gleich „die programmatische Hinwendung zu einer christlichen Lebensweise“580 ab,581 was schließlich auch im letzten Brief des ersten Buches seine Entsprechung findet. Dieser ist an einen Sohn des Ruricius gerichtet, der sich ebenfalls für die geistliche Laufbahn entschieden hatte, und in diesem letzten Brief nachhaltig von seinem Vater in seiner Entscheidung bestärkt wird.582 Daneben versucht Ruricius in weiteren Briefen, auch andere Adressatinnen und Adressaten von der Hinwendung zum Glauben zu überzeugen.583 Wesentlich stärker dürfte hingegen Avitus von Vienne bei seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen durch seine theologischen Gedanken wahrgenommen worden sein.584 Zumindest sind von ihm Schriften vor allem gegen den sog. Arianismus585

574 Vgl. Heinzelmann 1982, 5, S. 696. 575 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 8, S. 111f.; 9, S. 112–117. Vgl. zur Bischofswahl von Bourges und Sidonius’ Rolle Gassmann 1977, S. 106–113; Wes 1992, S. 261f.; Näf 1995, S. 162–164; Brown 2003, S. 110f.; van Waarden 2011. 576 Siehe Anm. 92 oben. 577 Vgl. besonders Faustus, De Gratia Dei (Engelbrecht 1891); dazu Mathisen 1989, S. 244–272. Vgl. außerdem Faustus, De Spiritu Sancto (Engelbrecht 1891); dazu zuletzt Heil 2011, S. 171–176. 578 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 9, 13, S. 158. 579 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 1, S. 313f.; 2, S. 314–316. 580 Müller 2013, S. 429, der allerdings an gleicher Stelle zu bedenken gibt, dass die Sortierung der Briefe nicht zwangsläufig auf Ruricius selbst zurückgehen muss. 581 Vgl. auch Faustus’ Briefe an Ruricius, in denen er ihn in seinem Vorhaben, einen klerikalen Lebensweg zu beschreiten, hilfreich bestärkt Faustus, Ep. (Engelbrecht 1891), 8, S. 208–211; 9, S. 211–215; 10, S. 215–217. 582 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), I, 18, S. 331. Siehe auch 2.1.2 Ruricius von Limoges oben. 583 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 13, S. 348–350; 15, S. 351–355; 21, S. 361f.; 32, S. 370f. Zu Ruricius’ bischöflicher Tätigkeit vgl. auch Mathisen 1999, S. 34–36. Vgl. außerdem Näf 1995, S. 168–172, der Ruricius’ Briefsammlung insgesamt in erster Linie (und damit vielleicht etwas einseitig) als Ausdruck des Verschmelzens von christlicher und römisch-aristokratischer Denkweise liest. 584 Zum theologischen Konzept des Avitus vgl. zuletzt Heil 2011. 585 Vgl. Avitus, Contra Arrianos (Peiper 1985), S. 1–15. Vgl. dazu Shanzer/Wood 2002, S. 163–193.

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2 Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen

und Monophysitismus586 überliefert und er ergriff sogar über die Grenzen Galliens hinweg Partei bei einem Papstschisma.587 Dieses ausgeprägte Interesse in religiösen Dingen mit seiner Freundschaftskorrespondenz in Verbindung bringend,588 mag man in Avitus „the successful fusion of classical literary culture with Christianity in fifth century Roman Gaul“589 erkennen.590 In der (Selbst-)Wahrnehmung der Zeitgnossen dürften jedoch andere Funktionen des Bischofsamtes und Möglichkeiten, die es bot, bedeutsamer gewesen sein. Mit fatalistischer Hyperbel sieht es Sidonius in einem Brief an seinen Schwager geradezu als letzten Ausweg für die nobilitas an, ihr Haar oder alternativ – ähnlich drastisch und entwurzelnd – ihre patria591 aufzugeben. Die klerikale Laufbahn erscheint in dieser Darstellung des Sidonius also durchaus als radikaler und grundstürzender ‚Fluchtweg‘ für die römische Oberschicht, vergleichbar mit der Aufgabe der Heimat. Kein Wunder also, dass diejenigen, die den Weg in den Episkopat beschritten, bemüht waren, zu betonen, dass zumindest ihr aristokratischer Status damit nicht verloren gegangen war. So ist für Avitus von Vienne das Kirchenamt vera et integra nobilitas592 und Sidonius der Überzeugung, der minimus religiosus sei höher anzusehen als der honoratus maximus.593 Freilich lagen auch viele Tätigkeiten eines Bischofs im 5. Jahrhundert im weltlich-politischen Bereich, so dass der Amtstitel seinen Träger zwar formal der klerikalen Sphäre zuordnete, die Zeitgenossen jedoch in erster Linie an ihrer persönlichen Karriere594 sowie der damit verbundenen Macht595 und erst in zweiter Linie am Christentum interessiert blieben. Die Bischöfe erfüllten Funktionen als patronus und Stadtherren, waren vor allem lokale Akteure596 und damit geradezu prädestiniert, auch als Vermittler zwischen gallischer Bevölkerung und visigotischer, burgundischer und fränkischer Führungsschicht zu fungieren.597 Daneben boten sich etwa Liturgie, Gottesdienst und Predigt als

586 Vgl. Avitus, Contra Eutychianam haeresim (Peiper 1985), I, S. 15–21; II, S. 22–29. Vgl. zu den theologischen Traktaten des Avitus und seinem bischöflichen Wirken auch zuletzt McCarthy 2017, S. 361–363. 587 Vgl. Avitus, Ep. (Peiper 1883), 34, S. 64f. 588 Vgl. Wood 1993b, S. 35f. 589 Rosenberg 1982, S. 6. 590 Ganz ähnlich scheint es sich mit Caesarius von Arles, dem Zeitgenossen Avitus’, zu verhalten (vgl. etwa Caesarius, Serm. [Morin 1953]). Vgl. zu Caesarius Klingshirn 1985; Klingshirn 1994; Brown 2003, S. 150–154; Grig 2018. 591 Siehe Anm. 455 oben. 592 Avitus, Hom. (Peiper 1883), XVI, 1, S. 124. 593 Siehe Anm. 573 oben. 594 Vgl. Mathisen 1993, S. 91–93; Baumgart 1995, S. 55–60. 595 Vgl. dazu instruktiv Diefenbach 2013, S. 123–136. 596 Vgl. Gassmann 1977, S. 145–192; Mathisen 1993, S. 93–95; Baumgart 1995, S. 96–124; Heather 2000, S. 456f. 597 Siehe dazu vor allem die zahlreichen Beispiele in 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ oben. Vgl. außerdem Gassmann 1977, S. 202–228; Mathisen 1993, S. 99f.

2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus

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Schaufenster der (Selbst-)Inszenierung und Demonstrationsforum für Eloquenz und (Meinungs-)Bildung an.598 Konzilien eröffneten zudem den Raum zur persönlichen Netzwerkpflege,599 so dass etwa Ruricius sich genötigt sah, sein Fernbleiben in einem Fall durch seinen Briefverkehr auszugleichen.600 Wenig verwunderlich ist es da, dass versucht wurde, die sich im Wandel befindlichen weltlichen „social marker“ der römischen Oberschicht in Gallien auf die Bischofswürde zu übertragen,601 ohne dass dies als reaktionärer Schritt zu verstehen wäre. Das Bischofsamt bot eine Option, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren, die freilich jedoch nicht jedem Mitglied der gallo-römischen Oberschicht offen stand – allein schon aufgrund der begrenzten Anzahl an Bischofssitzen.602 Damit ist der Rückzug in den Episkopat keineswegs als verheißungsvolles Zukunftsmodell einer reaktionären Gruppe zur Bewahrung eines römischen Selbstverständnisses zu verstehen.

2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus Auf die poetologischen Passagen in der Briefsammlung des Sidonius wurde bereits verwiesen.603 Solche Aussagen verraten naturgemäß etwas über den Status eines Textes innerhalb des historischen Diskursraums, über seine performativen Qualitäten,604 darüber, wie er sich selbst verortet, und welche Wirkung er sich selbst – wortwörtlich – zuschreibt. Wie bereits bezüglich des Johannes-Briefes bemerkt, ist Sidonius’ Briefsammlung selbst eine Frucht der Bildung der römischen Oberschicht in Gallien, deren Relevanz für das elitäre Selbstverständnis der gesellschaftlichen Gruppe im gleichen Zug auch inhaltlich figuriert wird. Dies wird auch an anderen Stellen deutlich. Es finden sich zahlreiche Abschnitte, in denen Sidonius poetologisch auf das Briefeschreiben, seine Briefsammlung und den Status von beidem im Kontext der Bildung der Oberschicht rekurriert.

598 Vgl. Mathisen 1993, S. 97f.; Jussen 1995; Jussen 1998. 599 Vgl. Mathisen 1993, S. 102f. 600 Vgl. Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 33, S. 371f.; 35, S. 374f. Vgl. auch Caesarius’ von Arles Rüge für Ruricius’ Absenz und seinen Hinweis auf ein bevorstehendes Treffen in Toulouse Caesarius, Dum nimium (Demeulenaere 1985), S. 402f. (siehe auch Anm. 207 oben) sowie Avitus’ Einladungsschreiben zum von ihm geleiteten Konzil von Epao Avitus, Ep. (Peiper 1883), 90, S. 97f. 601 Vgl. ähnlich Salzman 2002, S. 201–219; Jussen 1995. Zur spiegelbildlichen Reklamation christlicher Tugenden (Askese) als aristokratische Werte vgl. Heinzelmann 1976, S. 185–211; Diefenbach 2013, S. 102–113 (gegen Jussen 1995; Jussen 1998, der von einer Aufspaltung des Episkopats entlang zweier konkurrierender Geisteshaltungen ausgeht). 602 Vgl. Mathisen 1993, S. 95f. 603 Siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache und 2.2.3 Amicitia oben. 604 Vgl. etwa zum performativen Charakter des Briefes in Bezug auf soziale Beziehungen Schröder 2007, S. 150–156; Steckel 2011, S. 296; zu epistolographischen Formen der rituellen Repräsentation der spätbyzantinischen Oberschicht Riehle 2011.

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2 Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen

Bei der Kompilation und Zirkulation seiner Briefsammlung mag für Sidonius jedoch natürlich auch der Wunsch nach literarischem Ruhm eine große Rolle gespielt haben. Darauf deutet die Eröffnung der Briefsammlung durch einen Brief an seinen Freund Constantius605 hin: Schon seit langem, verehrter Herr, schlagt Ihr mir mit stärkster Überzeugungskraft vor – denn Ihr seid ja im zur Verhandlung stehenden Gegenstand der beste Ratgeber –, ich solle von meinen Briefen, die aus unterschiedlichem Anlass entstanden sind, wie es Gegenstand, Person und Umstände erforderten, die ein wenig sorgfältiger geschriebenen allesamt in einem Band zusammenfügen, nachdem ich mir die Abschriften noch einmal vorgenommen und sie überarbeitet hätte; dabei solle ich der gerundeten Rede des Quintus Symmachus und der reifen Kunst des Gaius Plinius mit kühnen Schritten nacheilen.606

Sidonius schreibt an seinen Freund, dass er nun – gemäß dessen Verlangen – ein Buch mit Briefen, die aus varia occasio entstanden seien, zusammengestellt habe, das er ihm hiermit demütigst zur Korrektur schicke.607 Unzweifelhaft wird deutlich, dass das Streben nach literarischem Ruhm eine Motivation für die Zusammenstellung der Briefsammlung darstellte. So sieht sich Sidonius ausdrücklich in der Tradition großer Vorbilder, etwa des Symmachus und Plinius des Jüngeren.608 Die Briefsammlung des Sidonius als literarisches Kunstwerk zu identifizieren, schließt jedoch keineswegs aus, dass nicht noch andere Botschaften mit ihr verbunden waren,609 wie etwa ein Plädoyer für den pragmatischen Umgang der römischen Oberschicht in Gallien mit den aktuellen Fährnissen.610 Daneben wirkte es außerdem aber gerade auch in seiner Funktion als künstlerisches Artefakt als Nukleus des Selbstverständnisses der Oberschicht im historischen Diskursraum. Der „social marker“ der klassischen Bildung und lateinischen Sprache ist in Form und Inhalt inkorporiert, wird so konserviert und gleichzeitig wegen des schleichenden Signifikanzverlusts der traditionellen anderen identifikatorischen Attribute der römischen Oberschicht in den Vordergrund gestellt.611

605 Siehe Anm. 51 oben. 606 Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 1, 1, S. 36: Diu praecipis domine maior summa suadendi auctoritate, sicuti es in his quae deliberabuntur consiliosissimus, ut si quae litterae paulo politiores varia occasione fluxerunt, prout eas causa persona tempus elicuit, eas omnes retractatis exemplaribus enucleatisque uno volumine includam, Quinti Symmachi rotunditatem, Gai Plinii disciplinam maturitatemque, vestigiis praesumptiosis insecuturus. Übers. in Köhler 2014, S. 3. In Bezug auf den literarischen Nachruhm durch epistolographisches Schaffen vgl. auch Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 5, S. 129f. 607 Vgl. Sidonius, Ep. (Köhler 1995), I, 1, 3, S. 36. 608 Vgl. dazu jüngst Müller 2018c, S. 81–83. 609 Siehe jedoch auch 2.1. Einführung, Anm. 16 oben. 610 Siehe 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ oben. 611 Vgl. jüngst ähnlich in Bezug auf die Schilderung von convivia in Sidonius’ letzten beiden Briefbänden Egelhaaf-Gaiser 2018, bes. S. 281f.

2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus

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Möglicherweise auch um die Nachfrage nicht nur nach rein literarischer Zerstreuung, sondern auch nach solchen (aber mitunter eben auch mit ihr einhergehenden) Sinnstiftungsangeboten zu befriedigen, stellte Sidonius sukzessive weitere Bände mit seinen Briefen zusammen. Es finden sich einige Stellen in den Briefen, in denen selbstreferenziell auf die Briefsammlung hingewiesen wird, deren Bestandteil sie sind. So schreibt Sidonius etwa zunächst an Petronius,612 den ‚Auftraggeber‘ von Buch VIII: „Du bittest, dass meine auvergnatischen Schränke belüftet werden, [. . .] zu diesem Zweck will ich die Tätigkeit meines Griffels verlängern, so dass die Summe der bis dahin kleinen Zahl die Kette der Briefe, die mit dem ersten Anfang des Bandes begonnen wurde, bis ans äußerste Ende strecke, um ein klar ausgeführtes Werk sozusagen mit einem gewissen Saum an seinem Rand zu krönen.“613 Und dann an einen gewissen Firminus,614 dem Buch IX gewidmet ist: „Du verlangst, [. . .] dass mein Griffel die Grenze der früheren Briefe überschreitend zu weiteren vorwärts stürme [. . .]. Du fügst außerdem Gründe hinzu, warum dieses neunte Buch zu den acht vorherigen Bänden hinzukommen sollte.“615 Mit Blick auf die Summe der Briefe der gesamten Sammlung lässt sich festhalten, dass die Mehrzahl der Schreiben alltäglichen Notwendigkeiten diente, soviel kann trotz der mutmaßlich überarbeiteten Form, in der sie als Teil der Briefsammlung vorliegen, geschlossen werden. Häufig geht es um den Austausch von Neuigkeiten, gegenseitige Freundschaftsversicherung oder es handelt sich um Empfehlungsschreiben. Die realen Briefe dienten der Aufrechterhaltung des Kontakts innerhalb der gebildeten Aristokratie, so dass schon das bloße Vorhandensein der Briefsammlung als Fanal für die Existenz des Netzwerkes der römischen Oberschicht in Gallien (sichtbar gemacht auch für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen) gewertet werden kann. Überhaupt war das Schreiben und Lesen von Briefen und anderer Schrifterzeugnisse fester Bestandteil des Lebensstils der römischen Oberschicht und Ausdruck ihres Selbstverständnisses.616 Einerseits demonstrierten Briefsammlungen also das weit verzweigte Netzwerk gleichgesinnter Aristokratinnen und Aristokraten, denn ohne dieses wäre ihr Grundmaterial – die realen Briefe – gar nicht vorhanden. Andererseits ging dann auch die Briefsammlung wieder teilweise durch die gleichen Hände, die schon die realen Briefe empfangen

612 Vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 668; Kaufmann 1995, Nr. 82, S. 333f. 613 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VIII, 1, 1, S. 126: [. . .] scrinia Arverna petis eventilari, [. . .] actionem tamen stili eatenus prorogaturi, ut epistularum seriem nimirum a primordio voluminis inchoatarum in extimo fine parvi adhuc numeri summa protendat, opus videlicet explicitum quodam quasi marginis sui limbo coronatura. 614 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 609; Kaufmann 1995, Nr. 44, S. 309f. Zur möglichen Signifikanz der Namen der Adressaten an Anfang und Ende der Briefsammlung und einzelner Bücher vgl. zuletzt Mratschek 2017, S. 313. 615 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 1, S. 149: Exigis [. . .] ut epistularum priorum limite irrupto stilus noster in ulteriora procurrat [. . .]. addis et causas, quibus hic liber nonus octo superiorum voluminibus accrescat. [. . .] si quod exemplar manibus occurrerit, libri marginibus octavi celeriter addemus. 616 Vgl. auch Schwitter 2017, S. 68f.; Müller 2018c, S. 84f.

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hatten,617 so dass die Kompilation reziprok sowohl Instrument der Konstituierung der Gruppe als auch gleichzeitig ein Produkt aus ihrer Mitte darstellt. Versteht man Brief und Briefsammlung damit als gemeinschaftsstiftendes Mittel der Selbstinszenierung, so ist zu vermuten, dass auch ein (mindestens) unbewusstes Bedürfnis des Sidonius und die Reaktion auf eine (unartikulierte) Nachfrage nach Sinnstiftung seiner Standesgenossinnen und Standesgenossen ursächlich für die Kompilierung der Briefsammlung waren, gerade wenn man sich vor Augen hält, dass die gallo-römische Oberschicht vom Wandel in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts existentiell betroffen war. Damit diente eine solche Briefsammlung der Selbstversicherung nicht nur des Sidonius’, sondern auch seiner Leserinnen und Leser.618 Mit anderen Worten: Im historischen Diskursraum materialisiert und befestigt die Briefsammlung das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien. Bezeichnenderweise scheint Sidonius genau dies im letzten Brief des siebten Buches an Constantius, dem im ersten Buch die Sammlung gewidmet wurde, zu reflektieren, indem er ausführt, seine mens spiegle sich in seinem Werk (quod ita mens pateat in libro velut vultus in speculo), in dem dictavi enim quaepiam hortando, laudando plurima et aliqua suadendo, maerendo pauca iocandoque nonnulla.619 In dieselbe Richtung deuten auch einige Stellen in den Briefen des Ruricius von Limoges. Für ihn macht es keinen Unterschied ob aus Notwendigkeit oder Freiwilligkeit heraus, wenn bloß diejenigen, die sich gegenseitig schätzen, untereinander Worte wechseln und vertrauliche Gespräche der Geister und Sinne verbinden, wen räumliche Entfernungen durch den Körper trennen. Denn dies größte und umfassende gewährte uns die Macht der göttlichen Gnade, dass wir, die wir uns nicht im fleischlichen Angesicht erblicken können, uns vor dem geistigen Auge sehen.620

Zwei Persönlichkeiten können sich so auf geistiger Ebene begegnen, „denn Liebe, die vor einer gegenseitigen Bekanntschaft zwischen voneinander Getrennten stets durch briefliche Unterhaltung begonnen und begünstigt wird, sollte durch das körperliche Sehen vermehrt, nicht gemindert werden und durch den Anblick wachsen,

617 Zur Zirkulation der Briefsammlung Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 11, 1, S. 159: Propter libellum, quem non ad vos magis quam per vos missum putastis. 618 Siehe hierzu etwa auch die methodischen Überlegungen aus der Einleitung u. a. mit den Verweisen auf Greenblatt und Stock (1.3 Methodik und Weg oben). Zum gemeinschaftsstiftenden Potential der spätantik-frühmittelalterlichen Briefsammlung im Speziellen siehe auch Wood 1993b, S. 38f.; Mathisen 1993, S. 108–116. 619 Beide Zitate: Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 18, 2, S. 125. Vgl. auch Köhler 2014, S. XX. 620 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 51, S. 386: [. . .] non enim interest, utrum ex necessitate aut ex uoluntate, dummodo inter se inuicem, qui se diligunt, colloquantur et, quos corpore locorum interualla discriminant, animorum ac sensuum conloquia fida coniungant, quia hoc nobis generale uel maximum uirtus diuinae pietatis indulsit, ut, qui nos aspectu carnali non possumus contueri, spiritali cernamus obtutu. Vgl. auch Müller 2013, S. 433f.

2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus

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was mit der Rede angefangen hat.“621 Nach der Denkungsart der gallo-römischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen werden also wahlweise Seele, Geist und Charakter und – wenn man so will – ihr Selbstverständnis im Briefverkehr vergegenwärtigt, freilich notwendigerweise in einer durch den Verfasser inszenierten (und idealisierten) Form (ut reddat nobis quandam praesentiae portionem sermo mediator).622 Besonders in Sidonius’ ‚literarischem Kunstwerk‘ stellt diese Präsentifizierung des Selbst ein wiederkehrendes Sujet dar. Im zweiten Buch der Sammlung schreibt er in einem bereits zitierten Brief an Hesperius,623 dass er selbst den Erhalt von Sprache und Literatur in der Gesellschaft anstrebe. Es sei eines seiner Ziele „mit dem höchsten Rühmen den angestammten Adel dieser bedeutenden Tätigkeit herauszustreichen“.624 Weiter schreibt er: „Denn wenn ich es erleben darf, wie in dieser Disziplin, derentwegen auch ‚ich selbst die Hand unter der Rute weggezogen‘ habe, der Geist jüngerer Leute heranwächst, dann ernte ich die reichsten Früchte

621 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 16, S. 356: [. . .] quia dilectio, quae ante cognitionem mutua[m] inter absentes epistulario inchoata sermone semper et fota est, debeat augeri corporali uisione non minui et crescere intuitu quae coepit affatu. 622 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 5, S. 339: Qui occasionem scribendi pro necessitudinis iure perquirimus, oblatam praetermittere non debemus, ut reddat nobis quandam praesentiae portionem sermo mediator, qui emittitur et non amittitur, tribuitur et habetur, uidetur discedere nec recedit, a me dirigitur, a te suscipitur, a me scribitur, a te legitur nec tamen diuiditur, cum quasi diuisus integer utriusque corde teneatur. Vgl. auch Müller 2013, S. 434f.; Müller 2013, S. 435–438 zu den klassischen Vorbildern (vor allem Cicero) des Motivs. Diesem Thema ist auch in einem Brief des Ruricius an Caesarius von Arles viel Raum gegeben, Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 36, S. 375: Qui occasiones scribendi nobis inuicem pro mutua caritate inquirimus, oblatas praetermittere non debemus, ut conferat nobis quandam praesentiae portionem sermo mediator, qui emittitur nec amittitur, tribuitur et habetur, uidetur discedere nec recedit, a me dirigitur, a te suscipitur, a me scribitur, a te legitur nec tamen diuiditur, cum quasi diuisus integer tamen utriusque corde teneatur, quia uerbi more diuini traditur et non egreditur, confertur indigenti et non aufertur auctori accipientis lucrum sine dispendio largientis, ditans inopem nec adtenuans possessorem. Außerdem Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 33, S. 371 ebenfalls an Caesarius: quandam uestri praesentiam nobis per uestras litteras repraesentat. Vgl. dazu ein analoges Beispiel aus dem Schluss eines Briefes des Sedatus von Nîmes an Ruricius, Sedatus, Satis credidi (Demeulenaere 1985), S. 400: sed pro me, sicut facere uos certus sum, incessanter oretis et, quotiens opportunum fuerit, seruum uestrum per conloquia litterarum uisitare dignemini. Vgl. ähnlich in Sedatus, Reficit me (Demeulenaere 1985), S. 401. Zudem behält auch Avitus von Vienne diese Motivtradition bei, Avitus, Ep. (Peiper 1883), 84, S. 95: nunc tamen desideratam mihi necessitatem ratio festivitatis indixit, ut affectui vestro litterarum praesentarer officio, qui cuperem et occursu. 623 Siehe 2.1.1 Sidonius Apollinaris und 2.2.5.1 Bildung und Sprache. 624 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 10, 1, S. 33: Amo in te quod litteras amas et usquequaque praeconiis cumulatissimis excolere contendo tantae diligentiae generositatem, per quam nobis non solum initia tua verum etiam studia nostra commendas. Übers. in Köhler 2014, S. 61.

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meiner Arbeit.“625 Durch die Aufnahme des Briefes an Hesperius kommentiert Sidonius seine Briefsammlung gleichsam selbst, denn sie ist in seinen Augen ein Werkzeug für die Bildung ihrer Leserinnen und Leser und damit gleichzeitig Ausdruck und Konzeptualisierung des geteilten Selbstverständnisses. Wesentlicher Teil des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien ist es offenbar, über das eigene Selbstverständnis zu reflektieren. Sofort im darauf folgenden Brief erwähnt Sidonius das Briefeschreiben erneut. In seiner Freundschaftsbekundung an Rusticus626 beklagt Sidonius zunächst die räumliche Distanz zwischen den beiden, die es nicht erlaube, sich regelmäßig zu sehen. So könne die Freundschaft aber über „eine[n] sporadischen Briefwechsel“ erhalten bleiben.627 Damit werden Mechanismen des Zusammenhalts der römischen Oberschicht in Gallien offengelegt. Auch andere intertextuelle Hinweise auf die Briefsammlung selbst – abgesehen von den Widmungsbriefen zu Anfang mancher Bücher – finden sich in Sidonius’ Werk. Im letzten Brief des dritten Buches an Placidus628 freut sich Sidonius über die Nachfrage, die seine Schriften erfahren: Obgleich Du aus Deinem geliebten Grenoble nicht herauskommst, erfuhr ich dennoch durch den zuverlässigen Bericht alter Gastfreunde, dass Du meine Possen, seien sie als prosaisches Werk abgefasst oder im poetischem Stil heruntergeleiert, mehr würdigst als die Lektüre deiner gesammelten Rollen. Diesselbst freut mich, dass ich erfuhr, dass meine Blätter deine Muße einnehmen; ich sehe aber auch gerne ein, daß es nicht die Wirkung meines Werkes ist, die bei einem Charakter wie Deinem ein solches Vergnügen hervorruft, sondern die Liebe zu seinem Autor; deshalb bin ich Dir noch mehr zu Dank verpflichtet, weil Du den ehrenden Beifall, den Du meinem Stil versagen würdest, dennoch unserer Freundschaft zuteil werden läßt.629

Auch wenn Sidonius Bescheidenheit demonstriert, was die Bewertung der eigenen literarischen Fähigkeiten angeht, so ist es doch bemerkenswert (und für Sidonius

625 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 10, 1, S. 33: nam cum videmus in huiusmodi disciplinam iuniorum ingenia succrescere, propter quam nos quoque subduximus ferulae manum, copiosissimum fructum nostri laboris adipiscimur. Übers. in Köhler 2014, S. 61. 626 Vgl. Heinzelmann 1982, 6, S. 685; Kaufmann 1995, Nr. 97, S. 344. 627 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), II, 11, 1, S. 35: Si nobis pro situ spatiisque regionum vicinaremur nec a se praesentia mutua vasti itineris longinquitate discriminaretur, nihil apicum raritati licere in coeptae familiaritatis officia permitterem neque iam semel missa fundamenta certantis amicitiae diversis honorum generibus extruere cessarem. Übers. in Köhler 2014, S. 65. 628 Vgl. Heinzelmann 1982, 1, S. 670; Kaufmann 1995, Nr. 85, S. 335f. 629 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), III, 14, 1, S. 51: Quamquam te tua tenet Gratianopolis, comperi tamen hospitum veterum fido relatu, quod meas nugas sive confectas opere prosario seu poetarum stilo cantilenosas plus voluminum lectione dignere repositorum. gaudeo hoc ipso, quod recognovi chartulis occupari nostris otium tuum; sed probe intellego, quod moribus tuis hanc voluntatem non operis effectus excudit sed auctoris affectus, ideoque plus debeo, quia gloriae punctum, quod dictioni negares, das amicitiae. Übers. nach Köhler 2014, S. 96.

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Grund zur Freude), dass Placidus offensichtlich Teile seines otium630 mit der Lektüre der Schriften seines Freundes verbringt. Des Weiteren macht Sidonius’ – wohl gespielte – Bescheidenheit außerdem deutlich, dass unabhängig von der Qualität (die ohnehin nicht zu niedrig anzusetzen sein dürfte) schon allein die bloße Tatsache der Veröffentlichung von produziertem Bildungsgut innerhalb der Oberschicht gleichsam als Katalysator für das eigene Selbstverständnis wirkt. Stellvertretend wird Sidonius so mit seiner Textproduktion zum Symbol für das aristokratische Netzwerk, das die Briefsammlung hervorbrachte und das gleichzeitig in ihr repräsentiert wird. Bewusst platziert am Anfang des vierten Buches erscheint auch ein Brief an Probus.631 Hier betont Sidonius nicht nur die gegenseitige Verwandtschaft, sondern verbindet die beiderseitige Freundschaft mit gleichartigen Bildungsinteressen: „Eine zweite Seelenfreundschaft kam bei uns dazu durch dieselbe Vorliebe, weil wir auf dem Gebiet der Literatur derselben Meinung sind und dasselbe tadeln oder loben und jedes Erzeugnis mit gleichem Urteil billigen oder verwerfen.“632 Hier werden also ganz deutlich Verwandtschaft, amicitia und Bildung in Zusammenhang gesetzt und deren Gewicht für das Selbstverständnis und den Zusammenhalt der römischen Oberschicht Galliens augenfällig. Sidonius beendet seinen Brief programmatisch mit den Worten: Nun, weil uns beide sowohl Verschwägerung als auch Studien verbunden haben, bitte ich Dich, daß Du, wo immer Du Dich aufhältst, unsere Freundschaft unerschütterlich bewahrst, und daß ich, obgleich ich weit entfernt von Dir meinen Wohnsitz habe, Dir mit meiner Zuneigung stets nahe bin; soweit es mich betrifft, soll unsere Freundschaft in allen Stücken für alle Zeit unversehrt erhalten bleiben, solange ich lebe.633

Sidonius’ leicht gekünstelte Bescheidenheit kehrt im dritten Brief des vierten Buches wieder,634 als er sich bei Claudianus Mamertus dafür entschuldigt, dass er ihm 630 Siehe hierzu auch 2.2.4 Luxus oben. Vgl. speziell zur Funktion des otium zur Etablierung der „historischen Identität als Römer“ in diesem Kontext Schwitter 2015, S. 192–201 (das Zitat: Schwitter 2015, S. 193). 631 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 674; Kaufmann 1995, Nr. 90, S. 338. 632 Sidonius, ep., IV, 1, 1, S. 52: secundus nobis animorum nexus accessit de studiorum parilitate, quia idem sentimus culpamus laudamus in litteris et aeque nobis quaelibet dictio placet improbaturque. Übers. in Köhler: Die Briefe 2014, S. 97. 633 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 1, 5, S. 53: igitur quia nos ut affinitas, ita studia iunxerunt, precor, quoquo loci es, amicitiae iura inconcussa custodias longumque tibi etsi sede absumus, adsimus affectu; cuius intemeratae partes, quantum spectat ad vos, a nobis in aevum, si quod est vitae reliquum, perennabuntur. Übers. in Köhler 2014, S. 98f. 634 Ähnlich auch in Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 17, 1, S. 89, wo Sidonius an Eriphus (vgl. Heinzelmann 1982, S. 597; Kaufmann 1995, Nr. 34, S. 300) schreibt, der ihn offenbar für seine literarischen Tätigkeiten gelobt hat. Auch hier gibt sich Sidonius bescheiden, demonstriert durch die Aufnahme des Schreibens in die Briefsammlung nichtsdestotrotz, dass offensichtlich eine rege Nachfrage nach seinen Schriften bestand. Für einen weiteren solchen Fall vgl. auch Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IX, 13, 1, S. 162.

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länger nicht geschrieben habe. Sidonius fürchte nämlich die Kritik des Claudianus an seinem schriftlichen Ausdruck, schließlich sei besonderer Wert auf eine saubere Sprache zu legen.635 Selbst wenn Sidonius dies hier eher scherzhaft meint, so zeugt es dennoch von seinem Anspruch, spätestens in seiner Briefsammlung hochwertige literarische Erzeugnisse vorzulegen.636 Was er mit dem konkreten Brief auch gleich erfüllte, indem er – auch inhaltlich beim Thema bleibend – Claudianus ausführlich für dessen literarische und philosophische Fähigkeiten lobt.637 Wie wichtig das Schreiben von Briefen Sidonius erscheint, zeigt er außerdem in einem Brief an Polemius, den letzten Präfekten der gallischen Provinzen.638 Ganz im Sinne der Qualitäten der römischen Oberschicht verweist Sidonius zunächst auf Polemius’ edle Vorfahren, auf sein Amt und betont dann die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung von Freundschaftsverhältnissen, die vor allem durch den Briefverkehr bewerkstelligt werden kann.639 Durch seine Bildung sei Polemius in jedem Fall befähigt dazu640 und so appelliert Sidonius an seinen Freund, den brieflichen Verkehr nicht zu vernachlässigen.641 Die Verbindung zwischen familiärer Abstammung und Bildung zieht Sidonius auch in einem Brief an Aper.642 Zunächst schreibt Sidonius über Apers Eltern,643 um dann seine Ausbildung in den liberales disciplinae zu betonen.644 Letztlich stellt Sidonius’ Brief jedoch eine Aufforderung zum lokalen Patriotismus und zur Identifikation mit der Auvergne dar.645 Auch das fünfte Buch wird durch einen poetologischen Brief an Petronius646 eingeleitet und ihm gleichsam gewidmet. Sidonius freut sich über Petronius’ Interesse an seinen Briefen, und „daß Du die wiederholte Lektüre meiner Briefe mit Vergnügen und Ausdauer betreibst.“647 Dass die literarische Tätigkeit für Sidonius nicht nur

635 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 3, 1, S. 54: praeter aequum ista coniectas, si reare mortalium quempiam, cui tamen sermocinari Latialiter cordi est, non pavere, cum in examen aurium tuarum quippe scriptus adducitur. 636 Sidonius schreibt etwas später in einem Brief im vierten Buch an Felix von seinen Briefbüchern, die er sorgfältiger überarbeitet habe als seine gewöhnlichen Briefe (vgl. Sidonius, Ep. [Lütjohann 1887], IV, 10, 2, S. 62). Siehe auch 2.1.1 Sidonius Apollinaris oben. 637 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 3, S. 54–56. 638 Siehe Anm. 330 oben. 639 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 14, 1, S. 65f. 640 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 14, 2, S. 66. 641 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 14, 4, S. 66. 642 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 555; Kaufmann 1995, Nr. 4, S. 277f. 643 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 21, 1f., S. 71. 644 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 21, 4, S. 72. 645 Vgl. Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), IV, 21, 5f., S. 72. 646 Siehe Anm. 612 oben. 647 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 1, 1, S. 78: quod lectitandis epistulis meis voluptuosam patientiam inpendas. Übers. in Köhler 2014, S. 146.

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Selbstzweck war, zeigt sich auch in einem bereits zitierten Brief an Sapaudus.648 Sidonius lobt Sapaudus als Förderer der lateinischen Bildung (Latia eruditio),649 hat jedoch auch Grund zur Klage, „da im Moment nur Wenige die Wissenschaften in Ehren halten“.650 Implizit sieht sich Sidonius dabei natürlich selbst auch als einen solchen Förderer der Bildung, und indem er den Missstand in seinem literarischen Werk anprangert, arbeitete er gleichzeitig gegen ihn an. Auch der letzte Brief des fünften Buches untermauert die starke Rolle, die die Bildung in diesem Band spielt. Sidonius bekundet Sacerdos651 und Justinus652 sein Beileid anlässlich des Todes ihres Onkels, der Dichter war. In ihm sieht Sidonius einen Gesinnungsgenossen: „Gewiss stehe ich ihm, dem Dichter, am nächsten aufgrund meiner Kunst, Ihr aufgrund Euerer Blutsverwandtschaft“.653 Um sein Andenken zu bewahren, bittet er die beiden, ihm die Gedichte des Onkels zu überlassen.654 Auch im 14. Brief des siebten Buches an Philagrius655 behandelt Sidonius die Bildung und das Briefeschreiben. Persönlich war Sidonius mit Philagrius offensichtlich nicht bekannt. Als er sich in der Gesellschaft von summates viri befand, kam die Unterhaltung jedoch auf Philagrius.656 Die Männer lobten jeweils eine einzelne Eigenschaft des Philagrius und rühmten sich seiner persönlichen Bekanntschaft, was wiederum Sidonius erzürnte, „weil ich nicht ruhigen Gemütes zulassen konnte, daß behauptet wurde, ein in allen Wissenschaften studierter Mann sei den Ungebildeten in seiner Nachbarschaft besser bekannt als den weiter entfernt wohnenden Gebildeten.“657 Hier zeigt sich einerseits, wie eine Stratifikation nach Bildungsstand auch innerhalb der Oberschicht stattfinden konnte,658 und andererseits nochmals, welche Bedeutung Sidonius und seine Standesgenossinnen und Standesgenossen dem Briefeschreiben zumaßen. Sidonius schreibt nämlich im Folgenden, daß es zwar hart sei, wenn es zwischen schreibgewandten Freunden niemals zu einem Kennenlernen von Angesicht zu Angesicht komme, daß es dennoch auf jeden Fall erträglich sei,

648 Siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache oben. 649 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 10, 4, S. 85. 650 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 10, 4, S. 85: quia pauci studia nunc honorant. 651 Vgl. Heinzelmann 1982, 1, S. 687; Kaufmann 1995, Nr. 98, S. 344f. 652 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 632; Kaufmann 1995, Nr. 58, S. 316. 653 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 21, S. 93: ilicet ego poetae proximus fio professione, vos semine. Übers. in Köhler 2014, S. 178. 654 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), V, 21, S. 93: ideoque patrimonia tenete, date carmina. 655 Vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 669; Kaufmann 1995, Nr. 838, S. 334. 656 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 14, 1, S. 120: Proxime inter summates viros (erat et frequens ordo) vestri mentio fuit. 657 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 14, 1, S. 120: quippe cum dici non aequanimiter admitterem virum omnium litterarum vicinantibus rusticis quam institutis fieri remotioribus notiorem. Übers. in Köhler 2014, S. 232. 658 Siehe für den umgekehrten Fall einer Aufwertung aufgrund eines hohen Bildungsstandes 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ oben.

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da sie ja die Fähigkeit hätten, die ihnen eigene Vorstellungskraft, der die ungebildeten Bürger fremd gegenüberstehen, mit Hilfe ihres Schreibwerkzeuges bis in entfernte Provinzen zum Gegenstand ihrer Sehnsucht vordringen zu lassen; dadurch gewinnt man häufig eine so große Zuneigung entfernt lebender Menschen, natürlich sofern sie gebildet sind, wie sie nicht einmal durch regelmäßige Aufmerksamkeiten für einen Anwesenden entsteht.659

Hier wird die soziale Funktion von Bildung und Briefen für den Zusammenhalt der römischen Oberschicht erneut deutlich hervorgehoben. Nicht nur in der gegenseitigen Versicherung zwischen Philagrius und Sidonius, sondern sie wird auch noch stärker betont, indem Sidonius den Brief mit diesem Abschnitt in seine Briefsammlung aufnahm und damit gleichsam eine grundsätzliche Aussage traf, die von der ursprünglich persönlichen Beziehung lediglich zwischen Schreiber und Adressat gelöst wurde und so auch die Leserinnen und Leser der Briefsammlung einschloss. Offensichtlich wurde dieses epistolographische Selbstverständnis auf Grundlage performativer und poetologischer Botschaften in Briefsammlungen an die nächste Generation weitergegeben. Wie bereits am Beispiel anderer Themenfelder demonstriert,660 greift Ruricius von Limoges auch die Tradition poetologischer Aussagen in seinen Briefen auf. Am deutlichsten wird diese Vorbildfunktion des Sidonius wohl in einem Brief des Ruricius an Apollinaris,661 den Sohn des Bischofs von Clermont. Apollinaris hatte offenbar um einen Text seines Vaters gebeten, der sich in Ruricius’ Besitz befand, um eine Abschrift zu verfassen.662 Ruricius bekräftigt ihn in der Lektüre: Was nämlich ist gerechter, als dass Du der Deuter des väterlichen Ausdrucks seiest, der Du alles, was jener verfasste, nicht so sehr aus dem Pergament des Buches als vielmehr aus der Seite des Herzens hervorbringen kannst? Dass Du sein Sohn bist, bestätigst Du nicht nur durch die edle Art Deiner Herkunft, sondern außerdem sowohl durch den Glanz Deiner Beredsamkeit als auch durch jede Art von Tugenden.663

Für die aristokratische Persönlichkeitsausbildung erweist sich die väterliche Literatur, die Apollinaris gleichsam in sein Innerstes aufgenommen habe, nach Ruricius’ Worten als geradezu formativ. Auch für Avitus von Vienne ist Apollinaris im 659 Sidonius, Ep. (Lütjohann 1887), VII, 14, 2, S. 120: si eloquentibus amicis numquam agnitio contemplativa proveniat, esse asperum, utcumque tolerabile tamen, quia praevaleant ingenia sua, coram quibus imperitia civica peregrinatur, ad remotarum desideria provinciarum stilo adminiculante porrigere; per quem saepenumero absentum dumtaxat institutorum tantus colligitur affectus, quantus nec praesentanea sedulitate conficitur. Übers. in Köhler 2014, S. 232f. 660 Siehe Kap. 2.2.1 bis 2.2.5 oben. 661 Siehe Anm. 233 oben. 662 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 26, S. 365f.: Sollium enim nostrum domnum patremque communem, quem transcribendum sublimitati uestra dedisse me dixeram, legendum recepi. 663 Ruricius, Ep. (Demeulenaere 1985), II, 26, S. 366: Quid enim iustius, quam ut ipse sis paterni interpres eloquii, qui uniuersa, quae ille conscripsit, non tam de codicis membrana, quam de cordis potes pagina proferre? Cuius uos esse filios non solum generositate prosapiae, uerum etiam et eloquentiae flore et omni uirtutum genere comprobatis.

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Übrigen stellvertretender Erbe der facundia paterna.664 Sidonius’ Botschaft ist also bei Ruricius und Avitus angekommen – und nicht nur das, seine Texte dienen mit ihrer Aussage (Bildung als Mittelpunkt des Selbstverständnisses) nicht nur auf inhaltlich-appellativer, sondern gleichzeitig auch auf stilistisch-formaler Ebene ihrem reklamierten Zweck.665 Durch die enge Verflechtung von Form und Inhalt und über die Poetologie der Aussagen zum Selbstverständnis der Oberschicht im historischen Diskursraum wird auch die zeitgenössische Leserschaft seines Konstituierungsprozesses teilhaftig. Auch wenn Einlassungen zum Publikum der Briefsammlungen des Ruricius und des Avitus schwierig sind, ist anhand ihres Zeugnisses bis zu einem gewissen Grad nachzuvollziehen, wie die Briefsammlung des Sidonius rezipiert wurde. Zumindest scheinen die beiden auf Sidonius’ Themen, Motive und Lehren zu rekurrieren und liefern mit ihren Briefen damit ebenfalls Ausweis und Ausdruck desselben Selbstverständnisses der gallo-römischen Oberschicht und seiner Entwicklung. Der Charakter eines Briefes änderte sich in diesem Zusammenhang mit seiner Aufnahme in eine Briefsammlung. Diente er ursprünglich u. a. etwa ganz direkt der Etablierung oder Aufrechterhaltung der sozialen Beziehung zwischen zwei Personen – Sender und Empfänger –, so erreichte er durch seine Publikation in einer Kompilation ein weiteres Publikum und verwies so auch durch seine Kontextualisierung mit den anderen Briefen und ihren Empfängerinnen und Empfängern in der Briefsammlung simultan auf ein ganzes Netzwerk.666 Ob allerdings z. B. Sidonius eine bewusste Strategie verfolgte, um bestehende Oberschichtstrukturen zu verfestigen, also seine gesellschaftliche Gruppe zu stärken, indem er etwa mit seiner Briefsammlung gleichsam einen Bildungsnukleus der wechselseitigen Selbstversicherung schuf, bleibt letztlich nicht entscheidbar. Ebenso gut könnte seine Briefsammlung ‚nur‘ als ein Resultat dieser gesellschaftlichen Prozesse gedeutet werden, das gleichsam unbewusst die vorherrschenden Verhältnisse lediglich abbildete (was dabei allerdings keineswegs die aus ihm gewonnen Erkenntnisse über die Entwicklung des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien in Frage stellt). Dieser vordergründigen Aporie ist jedoch schließlich beizukommen, indem die grundsätzliche Reziprozität von Sinnstiftung anerkannt wird. Der Übergang zwischen konstituierenden und reproduzierenden Momenten des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht ist nicht zu isolieren, beide sind analytisch nicht voneinander zu trennen.

664 Siehe Anm. 401 oben. 665 Siehe dazu auch schon 2.2.5.1 Bildung und Sprache mit Anm. 380 oben. 666 Vgl. zuletzt auch allgemein zum Verhältnis vom Einzelbrief und seiner „Zweitverwendung“ in einer Sammlung Zingg 2012, S. 65–68. Allgemein gilt es also, den Inhalt eines in einer Briefsammlung überlieferten Briefes nur mit Augenmaß in Bezug auf seinen ursprünglichen Entstehungshintergrund zu bewerten.

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So will es scheinen, dass die klassische Bildung und damit die Fähigkeit zur standesgemäßen literarischen Produktion im historischen Diskursraum der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts letztlich die Grundlage des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien darstellte. Andere „social marker“ standen kaum noch zur Verfügung (Ämterlaufbahn, Luxus), verloren an Bedeutung oder mussten vor allem schriftlich demonstriert werden (familiäre Abstammung), benötigen – zumal in unsicherer werdender Umgebung – den Briefverkehr (amicitia) oder bedürfen ohnehin der Artikulation (Romanitas, Bildung und Sprache, Barbarenbild). Eine ähnliche Reziprozität wie im Falle des Diskurses um das Selbstverständnis der römischen Oberschicht Galliens liegt ebenfalls in Bezug auf das Barbarenbild der Briefsammlungen vor. So ist etwa die Heterogenität in Sidonius’ Darstellung der Visigoten gleichzeitig als Ausdruck eines ganz bewusst propagierten Pragmatismus und als die literarisierte Form eines zeitgenössischen und lebenspraktischen Bewertungswandels zu interpretieren. Das Konzept des Römertums wandelte sich in Gallien in einem langsamen, aber stetig fortschreitenden Prozess, was sich vor allem an der Veränderung des Alteritätsempfindens ablesen lässt. Besonders ethnische Komponenten scheinen als erstes zurückzutreten, zumindest werden sie bei Sidonius und seinen Nachfolgern nicht konsequent polemisch-antithetisch instrumentalisiert.667 Die unterschiedliche Herkunft, die gegen die ‚Barbaren‘ ins Feld hätte geführt werden können, spielte für die Oberschicht keine große Rolle mehr, personale Verbindungen (amicitia) waren wichtiger. Weltliche (und geistliche) Ämter konnten in Gallien auch (und später nur noch) unter ‚barbarischer‘ Herrschaft bekleidet werden. Gleichzeitig rückten die Eliten der Visigoten, Burgunder und Franken durch zunehmende Bildung und durch die Besetzung administrativer Stellungen näher an die Römer heran. Gerade Sidonius Apollinaris’ Mentalität, der in beiden Systemen – des römischen Imperiums und der gentilen regna – letztlich durch gelebten, inszenierten und tradierten Pragmatismus reüssierte, wurde von Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne praktisch aufgegriffen und weitergeführt. Die Briefe des Sidonius sind insgesamt weniger vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen mutmaßlichen Entstehungszeit zu bewerten, sondern vielmehr vor dem Hintergrund ihrer Kompilierung als Briefsammlung, die (trotz einer möglicherweise gestaffelten Teilveröffentlichung seit 469) letztlich nach 480, nach Sidonius’ Arrangement mit den Visigoten, abgeschlossen wurde. Nicht zuletzt durch diese (Re-)Autorisation ‚letzter Hand‘ ist die Briefsammlung auch als Gesamtwerk zu betrachten, was gleichwohl die Möglichkeit des bewussten Rekurses auf frühere Veröffentlichungen, der Angliederung an bereits

667 Vor diesem Hintergrund wird man pauschale und apodiktische Aussagen wie „No one who has read [. . .] the poems and letters of the Gallic aristocrat Sidonius Apollinaris can doubt that these men considered themselves to be Romans“ (Conant 2015, S. 159), deutlich relativieren müssen, die durchaus den allgemeinen Konsens der Forschung widerspiegeln und bisher weitgehend unwidersprochen bleiben. Vgl. jüngst ebenso in Bezug auf Ruricius und Avitus im Einklang mit dem bisherigen Forschungskonsens McCarthy 2017, S. 366; Sogno/Storin/Watts 2017, S. 7.

2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus

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Bestehendes oder von Änderungen und Überarbeitungen bei der Zusammenstellung nicht ausschließt.668 Damit ist für Sidonius mit der Perspektive der 480er Jahre auch nicht (wie in der Forschung häufig kolportiert) von einer Identitätskrise auszugehen, auf die er mit konservativ geprägten Eskapismus und Weltflucht in eine idealisierte Form der Romanitas reagiert habe,669 sondern eher im Gegenteil von einer progressiven Einstellung gegenüber den Herausforderungen des status quo, denen (durchaus opportunistisch) mit Pragmatismus und einer Hybridisierung des eigenen Selbstverständnisses begegnet wird – eine Strategie, die sich bewährte und adaptiert wurde, wie die Beispiele von Ruricius und Avitus belegen. Ethnische Unterschiede etwa wurden allenfalls noch situativ modelliert und ihre Halbwertszeit als polemisches Differenzkriterium wurde vor dem Hintergrund des politischen Wandels in Gallien schon bei Sidonius zunehmend kürzer.670 Eine klare Trennung zwischen

668 Analog hierzu verhalten sich etwa auch Alexander Murrays Überlegungen zur Behandlung der Libri Historiarum Decem Gregors von Tours „as thoughtful post factum representations of events the author had witnessed in one way or another, and even participated in“ (Murray 2008, S. 196), auch wenn es sich dabei um ein historiographisches Werk handelt. Siehe zur Entstehung der Libri Historiarum Decem auch 4.1.2 Gregor von Tours unten. 669 Sidonius gilt der Forschung „als einer der Hauptvertreter stolzer, antibarbarischer Romanitas“ (Scheibelreiter 1999, S. 18), die Brüche in seinem Werk werden dabei übersehen. Hierzu außerdem stellvertretend Stroheker 1948, S. 85: „Was für Apollinaris Sidonius blieb, war nicht viel mehr als müde Resignation.“ Neuerdings Percival 1997, S. 287: „What I have been suggesting is [. . .], that he is [. . .] keeping up appearances, trying to convince himself that in spite of everything that is happening in the Gaul of his day, the world he knows is still intact and in place. [. . .] The milieu in which Sidonius is at ease is that of a well-to-do, cultured circle of people with a role in public life. They live, to some extent, in an unreal world.“ Mratschek 2008, S. 379: „Es ist faszinierend zu beobachten, wie Sidonius, im Zwiespalt zwischen Überlebensstrategie und innerer Überzeugung, für seine eigene Generation als Leitbild und streitbarer Bischof die Weichen für einen Aufbruch in die Sicherheit des christlichen Mittelalters stellte, während er sich selbst als den letzten Repräsentanten einer glanzvolleren, längst vergangenen Epoche verstand und sich immer mehr in die von ihm selbst konstruierte Illusion seiner eigenen Lebenswelt zurückzog.“ Drinkwater 2013, S. 74: „Sidonius and the other Gallo-Roman aristocrats of his generation [. . .] were not forging a new cultural identity, but retreating into an old one.“ Reimitz 2014, S. 42: „At least in his [Sidonius’] letter collection he presented himself as standing for ‚central Romanness‘.“ Siehe auch Anm. 481 oben. Vgl. außerdem in Bezug auf Ruricius mit ähnlicher Deutung Schwitter 2015, S. 292f. 670 Becker 2014, S. 300f.: „Certes, l’identité des individus en général, et plus particulièrement dans les aristocraties romaines ou barbares, comportait un élément ethnique que les individus euxmêmes pouvaient revendiquer, mais celui-ci ne laissait pas nécessairement présager de leur allégeance politique. Et rien dans les sources littéraires contemporaines du Ve siècle et du début du VIe siècle ne permet même d’affirmer que ce critère ait eu une quelconque importance lorsqu’il s’agissait pour les rois barbares de choisir leurs hommes de confiance.“ Vgl. auch Amory 1994b; Harries 1996, S. 40f.; von Rummel 2013b, der dabei jedoch dennoch weiterhin gewohnheitsmäßig davon ausgeht, dass „eine immer kleiner werdende Gruppe von Menschen wie Sidonius die Tradition Roms aufrechtzuerhalten suchte“ (von Rummel 2013b, S. 288; siehe zum weitestgehend unkritischen Einvernehmen der Forschung die vorherige Anm.).

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2 Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen

den Lagern der ‚Römer‘ und ‚Barbaren‘ (Visigoten, Burgunder oder Franken) kam, wenn überhaupt, nur ad hoc zustande. Ethnische Dichotomie wurde damit auch nur noch in Ausnahmefällen genutzt, um Gegensätze in Bezug auf die Oberschicht zu betonen und um so invers das eigene Selbstverständnis zu stärken. Ansonsten wurde sie von den Zeitgnossinnen und Zeitgenossen nicht mehr verstärkt wahrgenommen, worauf der in der Forschung dominante Ethnozentrismus671 den Blick ein wenig zu verstellen scheint: Wenn die Forschung solche ethnischkategorialen Unterscheidungen prinzipiell trifft, schafft sie sie tatsächlich mehr selbst, als dass sie beschriebe, was tatsächlich existierte. Die Qualitäten, die das Selbstverständnis der Oberschicht definierten, wurden damit eher als kulturelle denn als ethnische oder politische Charakteristika verstanden,672 die durchaus auch als für sich stehend betrachtet werden können und nicht notwendigerweise mit dem Epitheton ‚römisch‘ versehen werden müssen.673 Im Mittelpunkt des historischen Diskursraums stehen dabei Sidonius, Ruricius und Avitus. Diese epistolographischen Übergangsrömer, ihre Gruppengefährtinnen und -gefährten versuchten, im Sinne Bourdieus über Bildung und Literatur ihren elitären Status und Habitus zu bewahren und dieses zunächst kulturelle Kapital in soziales Kapital in den neu entstehenden regna umzuwandeln,674 was zwangsweise zu einer Anpassung ihres Selbstverständnisses führen musste.675 Dieser Adaption fiel als erstes die identifikatorische Prävalenz des ‚Römischen‘ schleichend, aber belegbar zum Opfer. Das, was an Römertum noch weiter tradiert wurde, existierte als zeitgenössisch weitgehend unbenanntes Fundament eines dynamischen Transformationsprozesses. Bischöfe, Ratgeber, Juristen usw. profitierten von ihrer Bildung, dienten sich in den regna weitgehend umstandslos den Herrschenden an und wurden so zu aktiven Mitgestaltern der Herrschaft. An der herrscherlichen Spitze wiederum wurde ihren

671 Vgl. Koch 2012, S. 4–24. 672 Müller 2018c, S. 94: „Während sich die römische Oberschicht ab dem 5. Jahrhundert in politischer Hinsicht daran gewöhnen musste, die Macht sukzessive an barbarische gentes abzutreten, scheint sie im Bereich der Kultur eine Chance erblickt zu haben, sich ihren Status weiterhin zu sichern und sich einen Bereich zu eröffnen, in welchem sie sich den neuen Bevölkerungsgruppen langfristig als überlegen präsentieren konnte, indem sie sich als Träger und Verwalter einer vor allem auch für die Barbaren attraktiven, weil als einzige für den kulturellen Aufstieg befähigenden Bildungstradition inszenierte.“ 673 Schon Harries 2000, S. 50 stellt in Bezug auf Leo von Narbonne, den Berater König Eurichs fest, „it became less clear in such cases what ‚being Roman‘ actually meant. [. . .] And, if the future belonged to Gallic Leos, would there be any ‚Romans‘ left?“ Dennoch gilt ihr Sidonius als ein Bewahrer „of an unassailable superiority to, and seperateness from, the ‚barbarian‘“ (Harries 2000, S. 54). Siehe zu diesem Axiom der Forschung auch Anm. 670 u. 671 oben. 674 Vgl. Bourdieu 1992a, bes. S. 70–75. 675 Egelhaaf-Gaiser 2010, S. 262 nennt Sidonius aus literaturwissenschaftlicher Perspektive einen „‚Grenzgänger zwischen den Welten‘“.

2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus

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Fertigkeiten ein hoher Wert beigemessen.676 Zusammenhalt gab der Gruppe, die sich der Art ihrer elitären Distinktion wohl bewusst war (absentum dumtaxat institutorum tantus colligitur affectus),677 ihre geteilte Bildungstradition (solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse).678 Der Brief verband dabei – nach klassisch antikem Verständnis – Geist und Sinne der Korrespondentinnen und Korrespondenten (animorum ac sensuum conloquia fida coniungant)679 und war damit zum einen Sinnbild des Selbstverständnisses der Gruppe und zum anderen Instrument der Tradierung. Die inhaltliche Botschaft spiegelt sich dabei gleichzeitig in der sprachlichen Form der Briefe und verdichtet sich zum Aufruf zur pragmatischen Utilisierung der Bildung. Fähigkeiten und Eigenschaften sollten mit dem Ziel der Statuswahrung den neuen Herrschern zur Verfügung gestellt werden (virum saeculo militantem minus inter arma quam inter obloquia periclitari).680 Im Zuge dessen wurde in Kauf genommen, dass die Bedeutung ethnischer Distinktion im Sinne der Feier eines gemeinsamen biologischen Ursprungs marginalisiert wurde, zumal man ja gerade eine Art der Inklusion und keine Exklusion anstrebte.

676 Helmut Reimitz hat für diese ‚Vermittler‘ zwischen (allerdings notwendigerweise als recht monolitisch aufgefasster) römischer und jeweiliger gentiler ‚Kultur‘ zuletzt den anthropologischen Begriff der „cultural brokers“ eingeführt. Zum Konzept vgl. Reimitz 2013; Reimitz 2014. 677 Siehe Anm. 659 oben. 678 Siehe Anm. 370 oben. 679 Siehe Anm. 620 oben. 680 Siehe Anm. 556 oben.

3 Zwischenräume Zwischen den Zeugnissen der Briefsammlungen des Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne und den Texten des Venantius Fortunatus und Gregor von Tours im 6. Jahrhundert klafft eine Überlieferungslücke. Quellen, die sich in vergleichbarem Maße fruchtbar für die Frage nach dem Selbstverständnis der hybridrömischen1 Oberschicht und ihres historischen Diskursraums in Gallien analysieren lassen, sind nicht vorhanden. Unerwähnt bleiben sollen diese Zwischenräume dennoch nicht, immerhin lassen sich mit ihnen zumindest indirekt und näherungsweise die Ergebnisse des 2. Kapitels bestätigen und eine Verbindung zum 4. Kapitel herstellen.

3.1 Leges Sicher verfügte das römische (Bürger-)Recht als Institution über beträchtliches Identifikationspotential im Imperium Romanum, aber im Gallien des 5. Jahrhunderts

1 Hier nun bewusst so bezeichnet, um zu kennzeichnen, dass mit der Zeit des Sidonius, Ruricius und Avitus (wie aufgezeigt) bereits vom klassisch römischen Selbstverständnis der Oberschicht in Gallien abgewichen wurde, und um die Verwendung des in der Forschung ansonsten verbreiteten ‚romanisch‘ – damit in erster Linie die Alltagssprache zum maßgeblichen Charakteristikum deklarierend (vgl. zu dieser Problematik allgemein Haubrichs 2012) – zu vermeiden. Die vergleichsweise hohe Unschärfe, die mit der Verwendung des Begriffs einhergeht, demonstriert aus sprachwissenschaftlicher Sicht Kremer 2004, im gleichen Atemzug muss daher auch sein Gebrauch in der Geschichtswissenschaft kritisch reflektiert werden, wie dies etwa in Bezug auf ‚germanisch‘ von Jarnut 2006 analog getan wurde (vgl. in diese Richtung etwa auch von Rummel 2013a, S. 388; Pohl 2017, S. 20 f.). ‚Hybridrömisch‘ soll zudem auf eine ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ (vgl. zuletzt Landwehr 2012) – auf eine unterschiedliche Entwicklung regionaler aber auch mentaler Bereiche hinweisen. Dies gelingt besser als mit den ansonsten auch verbreiteten Adjektiven wie ‚nachrömisch‘ oder ‚post-römisch‘, die eine Nachzeitigkeit, ein Aufeinanderfolgen und eine Teleologie andeuten. Damit wird aber tatsächlich ein möglicherweise irreführender Zusammenhang nahelegen, der eine Perpetuierung des ‚Römischen‘ implizit suggeriert, die es in ihrer Qualität allerdings erst zu bestimmen gilt. Es würde also eine petitio principii drohen, in dem schon die deskriptive Terminologie der Analyse ihr Ergebnis beeinflusst und präjudiziert. In Gallien waren parallel auch andere Phänomene durch Hybridität gekennzeichnet, wie etwa Chlodwigs Inszenierung seiner Konsulatswürde 508 (vgl. dazu McCormic 1989; Fanning 2002; Castritius 2012; Becher 2011, S. 235–239; Mathisen 2012) demonstriert, die Wiemer 2015, S. 201 als „Hybridisierung“ römischer Traditionen bezeichnet. Ähnliches trifft auch auf Chlodwigs Enkel Theudebert zu, der Zirkusspiele in Arles veranstaltete, Goldmünzen mit seinem Portrait nach oströmischem Vorbild schlagen ließ (vgl. Prokop, BG [Haury 1963], III, 33, 5f., S. 442 f.) und mit Kaiser Justinian korrespondierte (vgl. Ep. Aust. [Malaspina 2001], 20, S. 136–138). Über die folgende Generation heißt es bei Gregor von Tours außerdem, Chilperich I. habe Arenen in Soissons und Paris errichten lassen (vgl. Gregor, Hist. [Krusch/Levison 1951], V, 17, S. 216; vgl. insgesamt auch Jussen 2005; Scholl 2017). Zur kulturwissenschaftlichen Akzentuierung von „Hybridisierung“ und „Hybridität“ vgl. die entsprechenden Lemmata in Nünning (Hrsg.) 2013, S. 314f. https://doi.org/10.1515/9783110629187-003

3.1 Leges

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ging der Einfluss des Imperiums mehr und mehr zurück,2 was zweifellos Auswirkungen auf die Geltungskraft der kodifizierten Norm hatte.3 Die gentilen Könige nahmen stattdessen den Platz des Kaisers als Rechtsgeber ein.4 Vermutlich beraten durch römische Rechtsgelehrte, schufen sie Rechtssysteme für die Bevölkerung in den von ihnen beherrschten regna. Dies geschah zum einen sicher auch in der Absicht, ihre Stellung gegenüber ihrer römischen Bevölkerung zu festigen.5 Zum anderen dürften die Herrscher aber auch aus purer Notwendigkeit heraus gehandelt haben, schließlich stellte die Organisation der neu entstandenen Reiche andere Anforderungen als das Leben in Kampfverbänden oder als Foederaten.6 Inwiefern diese Gesetzgebung jedoch tatsächlich auch an die hybridrömische Oberschicht in den beherrschten Gebieten gerichtet war, ist zweifelhaft, auch wenn einzelne Mitglieder an den Höfen von Visigoten, Burgundern und Franken an der Entstehung der Rechtstexte beteiligt waren. Stets stellt sich hier zusätzlich die Frage, ob das Niedergeschriebene tatsächlich auch die herrschende Rechtswirklichkeit widerspiegelte oder in der Praxis nicht vielmehr gewohnheitsrechtliche Elemente vorherrschten7 und ob es sich tatsächlich an die Aristokratie oder doch eher an untere Bevölkerungsschichten richtete. Zudem sind die Rechtstexte ohnehin auf die regna in Gallien bezogen, auf ein neues System, also in die Zukunft gerichtet. Wenn dafür auch auf alte Vorlagen zurückgegriffen wurde, so bedeutet dies nicht automatisch, dass durch sie auch ein altes römisches Selbstverständnis zementiert wurde, zumal die Rechte nun von Nicht-Römern eingeräumt wurden. Aus dem Rückgriff auf ‚römisches‘ Recht den Fortbestand römischen Selbstverständnisses ableiten zu wollen, erscheint als Trugschluss.8 Diese Form der Aktualisierung verweist nicht auf Vergangenes, sondern nach vorne: „Being identified as a Roman citizen was simply a statement of coverage under Roman ius civile. It did not carry any sense of political loyality to the Byzantine emperor or the old Roman Empire.“9 Wer nach

2 Siehe 2.1.4 Gallien im 5. Jahrhundert oben. 3 Vgl. Kunkel/Schermaier 2005, S. 176–207; Mathisen 2006, S. 1037–1040; Schipp 2014, S. 122; Esders 2018. 4 Vgl. Sirks 1996, S. 156; Liebeschütz 1998, S. 142; Mathisen/Sivan 1999, S. 34; Harries 2001, S. 46; Halsall 2007, S. 465. Freilich dürfte diese Aneignung auch zu einem Verlust des ethnischen Distinktionspotentials des ‚römischen‘ Rechts in den regna geführt haben. 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden jüngst abwägend Ubl 2017, S. 39–53. 6 Vgl. etwa zum frühen Rechtsstatus gentiler Gruppen innerhalb des römischen Reiches Schipp 2014, S. 132–141. 7 Vgl. Nehlsen 1977; Collins 1998, S. 2 f.; Kunkel/Schermaier 2005, S. 194f.; Dilcher/Distler (Hrsg.) 2006. 8 Genauso wenig wie im umgekehrten Fall die leges aus post-factum-Perspektive als Beleg für das Selbstverständnis der jeweiligen gens im Sinne eines ‚Volksrechts‘ zum Zeitpunkt ihrer Zusammenstellung herhalten sollten. Vgl. gegen diese ansonsten in der Forschung verbreitete Deutung Amory 1993, S. 15–19; Collins 1998; Wormald 2003, S. 21f. 9 Mathisen 2006, S. 1039.

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3 Zwischenräume

‚römischem‘ Recht in Gallien lebte oder sich auf daran angelehnte Gesetze berief, der musste sich bloß deswegen nicht auch als ‚Römer‘ fühlen.10 Gleich auf mehreren Ebenen kann die Untersuchung der Leges vor dem Hintergrund der Frage nach dem Selbstverständnis der hybridrömischen Oberschicht Galliens also allenfalls den Blick auf ‚Zwischenräume‘ eröffnen.

3.1.1 Visigotenreich Im wohl auf König Eurich zurückgehenden fragmentarisch überlieferten sog. Codex Euricianus werden zwar Romani und visigotische Bevölkerung unterschieden.11 Doch handelt es sich bei den entsprechenden Stellen um Regelungen, die sich nicht in erster Linie mit den Verhältnissen um 475 – mutmaßlich wurde der Codex Euricianus in dieser Zeit zusammengestellt12 – befassen, sondern sich auf die Zeit der Ansiedlung der Visigoten am Anfang des Jahrhunderts beziehen.13 Auch indirekt aus späteren Rechtstexten überlieferte Teile, die vermutlich Regelungen des Codex Euricianus übernahmen, sollten gerade nicht als Ausdruck einer ethnischen Trennung gelesen werden, sondern im Gegenteil als „Versuch des ‚state-building‘“ mit Hilfe „inklusive[r] Politik“.14 Der Codex Euricianus richtete sich mithin wohl an die gesamte Bevölkerung des Visigotenreichs, wie die Forschung mittlerweile einhellig konstatiert.15 Damit ergibt es auch wenig Sinn, in der später unter Alarich II. kodifizierten sog. Lex Romana Visigothorum16 gleichsam ein ‚römisches‘ Gegenstück des ‚visigotischen‘ Codex Euricianus zu sehen, wie es ihr nicht zeitgenössischer Name nahelegt.17 Dass ein solcher Schematismus nicht auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu

10 Jüngst konstatiert etwa auch Esders 2018, S. 344: „Roman law in many areas lost its importance as an identity marker“. 11 Vgl. Codex Euricianus (Zeumer 1906), 276, S. 4 f.; 277, S. 5f.; 312, S. 19f. 12 Zur Entstehung, die möglicherweise auch auf Eurichs Nachfolger Alarich II. zurückgehen könnte, vgl. u. a. Wolfram 1983, S. 109; Collins 1998, S. 5; Harries 2001, S. 40 f. Zusammenfassend zum Inhalt vgl. Liebs 2002, S. 157–163. 13 Vgl. Goffart 1980, S. 105f.; Mathisen 1993, S. 133; Mathisen/Sivan 1999, S. 24–26; Koch 2012, S. 71f. 14 Vgl. Ubl 2017, S. 42–44 (die Zitate: Ubl 2017, S. 44). Vgl. auch Liebeschütz 1998, S. 140 f.; Harries 2000, S. 54. 15 Vgl. Liebeschütz 1998, S. 147; Mathisen/Sivan 1999, S. 34; Matthews 2000a, S. 38f.; Wormald 2003, S. 27f.; Ubl 2017, S. 42. 16 Vgl. zusammenfassend Mathisen/Sivan 1999, S. 57f.; Matthews 2001; Liebs 2002, S. 166–176. 17 Vgl. so mindestens andeutungsweise z. B. Stroheker 1948, S. 88–91; Sivan 1983, S. 138–141; Wolfram 1983, S. 108–110; Arjava 2001, S. 34; Liebs 2002, S. 158 zur Geltung des Codex Euricianus für die Goten und S. 166 zur Lex Romana Visigothorum; Maier 2005, S. 117f.; Huck 2008, S. 521. Zur berechtigten Kritik vgl. besonders Liebeschütz 1998, S. 141–147; Koch 2012, S. 65; Schipp 2014, S. 124.

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übertragen ist, lässt sich u. a. an der Gesetzgebung der Lex Romana Visigothorum selbst nachweisen.18 Sie beinhaltet ein Heiratsverbot zwischen Romani und barbari: Nullus Romanorum barbaram cuiuslibet gentis uxorem habere praesumat, neque barbarorum coniugiis mulieres Romanae in matrimonio coniugantur.19 Als Beleg für den Wunsch nach ethnischer Segregation innerhalb des Visigotenreichs kann dies jedoch nicht gelten.20 Die Visigoten hätten sich wohl kaum selbst als barbari bezeichnet.21 Faktisch war die Heiratspraxis innerhalb des Reiches zudem offensichtlich nicht durch juristische Hemmnisse eingeschränkt.22 Hagith Sivan vermutete daher, dass sich die Lex Romana Visigothorum eher gegen die expandierenden Franken richtete.23 Wer allerdings hier als Romani bezeichnet wurde und welche gesellschaftlichen oder geographischen Merkmale die Mitgliedschaft in dieser Gruppe ausmachten, bleibt letztlich offen.24

3.1.2 Burgunderreich Ganz ähnlich wie der Codex Euricianus enthält auch der 517 durch König Sigismund erlassene Liber Constitutionum25 mehrere Passagen, die auf eine Zweiteilung der Bevölkerung hindeuten könnten, sich aber ebenfalls in erster Linie auf die Zeit der Ansiedlung der Burgunder in Gallien zu beziehen scheinen.26 Mag der Liber Constitutionum auch zur Festigung eines burgundisch-barbarischen Selbstverständnisses gedient haben,27 so richtete er sich doch an die gesamte Bevölkerung des Burgunderreichs.28 Deswegen sagt er weder etwas über das Selbstverständnis der Mitglieder der als Romani bezeichneten Gruppe aus noch über den gesellschaftlichen Status der so genannten. ‚Ihr‘ Gesetzbuch, die sog. Lex Romana Burgundionum,29 geht wie auch viele Titel des Liber Constitutionum wohl auf Sigismunds Vater Gundobad zurück. Vermutlich war sie als Ergänzung des Liber intendiert,30 damit ist sie also auch keineswegs als

18 Vgl. hierzu Koch 2012, S. 63–72. 19 Lex Romana Visigothorum (Hänel 1849), III, 14, S. 92. 20 Vgl. so etwa noch Liebeschütz 1998, S. 140 f.; Arjava 2001, S. 36; Matthews 2001, S. 31. 21 Vgl. Sivan 1998, S. 193f.; Koch 2012, S. 69–71. 22 Vgl. Demandt 1989; Sivan 1998, S. 192–195; Koch 2012, S. 392–394; Schipp 2014, S. 129–132. 23 Vgl. Sivan 1998, S. 192–199. 24 Vgl. Koch 2012, S. 71. 25 Vgl. zusammenfassend Liebs 2002, S. 163–166. 26 Vgl. etwa Lib. Const. (von Salis 1892), 54, 1, S. 88 f.; 55, S. 90 f.; 84, S. 106 f. Dazu Goffart 1980, S. 127–161; Amory 1993, S. 8–10; Esders 2018, S. 333f. 27 Vgl. Wood 1990; und zuletzt Ubl 2017, S. 48 f. vor allem gegen Amory 1993, bes. S. 24–28; Collins 1998, S. 9. 28 Vgl. Wood 2003, S. 263; Wormald 2003, S. 27f.; Wood 2011, S. 44 f. 29 Vgl. zusammenfassend Liebs 2002, S. 176–179. 30 Vgl. Maier 2005, S. 111f.

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3 Zwischenräume

alleinstehendes Recht mit besonderem identifikatorischem Potential zu verstehen.31 Ethnizität im Sinne einer gemeinsamen Abstammung scheint auch im Burgunderreich keine gesellschaftliche Leitdifferenz gewesen zu sein – zumindest nicht für eine hybridrömische Oberschicht. 3.1.3 Frankenreich Schon der Versuch des Nachweises der Existenz eines Erbadels im jungen Frankenreich mit Hilfe der Lex Salica32 gestaltet sich als schwierig.33 Umso mehr gilt dies für die römischstämmige Oberschicht, da es ohnehin fragwürdig erscheint, aus dem fränkischen „Reichsrecht“34 etwas über das Selbstverständnis der Hybridrömer erfahren zu wollen. Ähnlich wie in der Rechtsetzung der Burgunder sieht Karl Ubl in der Lex Salica den Versuch, „die prekäre Natur ethnischer Zuschreibungen durch eine Überwölbung mit anderen, auch rechtlichen Identitäten zu stabilisieren“35 – freilich in Bezug auf die Franken. Für die Tötung eines „Römers mit Grundbesitz“ musste laut der Lex Salica ein geringeres Wergeld als für einen freien Franken entrichtet werden, für einen „tributpflichtigen Römer“ sogar noch weniger.36 Auch deswegen deutet Ubl die Lex Salica mit Marc Bloch als „Recht“, dass „nicht an veränderte soziale Bedingungen an[ge]passt“ war.37 Damit richtete sie sich kaum an die hybridrömische Oberschicht des 6. Jahrhunderts,38 sondern „sollte dazu dienen, die Gruppenidentität zu stärken“,39 und

31 Wood 2018a betont zudem jüngst, dass die Entstehung der burgundischen leges vor allem vor dem Hintergrund der besonderen Identifikation der Königsfamilie mit dem römischen Imperium zu sehen sei. 32 Vgl. zur Entstehung jüngst Ubl 2017, S. 53–66 mit dem Versuch einer Neudatierung auf die Zeit zwischen 475 und 486/87 (vgl. Ubl 2017, S. 92–97); zum Inhalt mit einem umfassenden Überblick zur bisherige Forschung vgl. Ubl 2017, S. 67–92. 33 Siehe zur Kontroverse um die Existenz und Zusammensetzung der fränkischen Oberschicht auch 1.2 Forschungsstand oben; vgl. zuletzt substantiiert Becher 2009b, S. 175–187. 34 Goetz 2006b, S. 542. Vgl. insgesamt zur merowingischen Rechtsgeschichte Esders 1997. 35 Ubl 2017, S. 32. Vgl. auch Reimitz 2015, S. 111f. 36 Pactus Legis Salicae (Eckhardt 1962), 41, 8–10, S. 157: § 8. Si uero Romanus homo, conuiua regis, occisus fuerit ‹cui fuerit adprobatum›, [mallobergo leudi] sunt XIIM denarios qui faciunt solidos CCC culpabilis iudicetur. § 9. Si uero Romanus homo possessor ‹et conuiua regis non fuerit› occisus fuerit, qui eum occidisse probatur, mallobergo uualaleodi sunt, IVM denarios qui faciunt solidos C culpabilis iudicetur. § 10. Si quis ‹uero› Romanum tributarium occiderit cui fuerit adprobatum, mallobergo uualaleodi sunt, MM(D) denarios qui faciunt solidos LXII (semis) culpabilis iudicetur. Vgl. zur Funktion des Wergelds in der fränkischen Gesellschaft zuletzt Esders 2014b. Jüngst sieht Bothe 2018 in der Unterordnung der Romani im Recht einen Vorschub für deren Integrationsprozess in die fränkische Gesellschaft. 37 Ubl 2017, S. 75 (vgl. auch Ubl 2014). Vgl. Bloch 1947, S. 9. 38 Zur „Frankish Romanness“ (bes. mit Bezug zur Lex Salica) vgl. Sarti 2016, bes. S. 1043 f. 39 Ubl 2017, S. 75.

3.2 Epitaphien

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zwar derjenigen, die sich dem Frankenkönig anschlossen – kein ethnischer, sondern ein politischer Verband.40

3.2 Epitaphien Als Zeugnis für die (zumindest lokale) Kontinuität einer gallo-römischen Oberschicht mit einem in erster Linie ethnischen Selbstverständnis wird von der epigraphischen Forschung auf lateinische Grabinschriften verwiesen.41 Die Kosten für Material und die handwerkliche Dienstleistung des Steinmetzes deuten auf wohlhabende Auftraggeberinnen und Auftraggeber hin, die daher nicht zu Unrecht zur jeweils örtlichen Elite gerechnet werden.42 Auf den wenigsten Grabsteinen ist jedoch ein Datum vermerkt, was ohne Parallelüberlieferungen nur eine sehr grobe, noch nicht einmal generationsgenaue Datierung ermöglicht.43 Zudem sind solche Epitaphien nur sehr punktuell und keineswegs flächendeckend überliefert, so das großräumigere Aussagen unmöglich sind. Überlieferungsschwerpunkte liegen etwa im Rheinland,44 im südlicheren Gallien, in Burgund und der Rhôneebene.45 Tatsächlich ist es aus unterschiedlichen Gründen schwierig, mit Hilfe dieser Quellenart belastbare Aussagen über das Selbstverständnis der hybridrömischen Oberschicht in Gallien zu treffen. Zunächst sind viele der Inschriften denkbar kurz gehalten und überliefern nicht viel mehr als einen Namen, allenfalls noch die Tätigkeit und angebliche Eigenschaften der Verstorbenen. Welcher gesellschaftlichen Gruppe sich die oder der Beerdigte und die Trauergemeinde zurechneten, ist in vielen Fällen nicht zu rekonstruieren. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass bei der inhaltlichen Gestaltung solcher Inschriften vor allem zum größten Teil unreflektierte Moden, Bräuche, Traditionen und Formulare bedient wurden, die nichts mit einem möglicherweise römischaristokratischen Selbstverständnis der Grabsteinsetzer zu tun hatten. Zudem sind ethnische Epitheta (romanus, romana) oder dergleichen nicht Bestandteil der überlieferten Inschriften.46 Verweise auf die nobilitas (oder auch senatorische Standesbezeichnungen) und die Bildung der Verstorbenen treten zwar auf,47 werden jedoch erst rückwirkend von der Forschung zu Etiketten einer vermeintlich ethnischen Romanitas erhoben. Schließlich ist zu bedenken, 40 Vgl. auch Wormald 2003, S 32. Zur Ausrichtung des fränkischen Rechts und der Rolle des Adels vgl. auch Weidemann 1993. 41 Vgl. etwa Heidrich 1968; Heinzelmann 1976, S. 49–59; Halsall 2003, S. 72; Epp 2015, S. 62. 42 Vgl. Heidrich 1968, S. 169; Heinzelmann 1976, S. 49; Epp 2015, S. 60. 43 Vgl. Heidrich 1968, S. 170. 44 Vgl. W. Schmitz 1997; W. Schmitz 2001; Halsall 2003; Haubrichs 2014. 45 Vgl. Heidrich 1968; Esders 1997, S. 270 f.; W. Schmitz 2001. 46 Vgl. etwa RICG (Gauthier 1975); RICG (Prévot 1997); RICG (Descombes 1985). 47 Vgl. Heinzelmann 1976, S. 58 f.; Gemeinhardt 2007, S. 165–184. Siehe auch 2.2.5.1 Bildung und Sprache oben.

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dass allenfalls die Epitaphpraxis an sich als „römisch“ bezeichnet werden kann und dies letztlich auch wiederum nur im Nachhinein als Signet – verliehen durch die Forschung.48 Damit korrespondierend jedoch ohne weiteres ein „römisches“ Selbstverständnis der Personen(gruppen) anzunehmen, die solche Inschriften hinterließen,49 erscheint unzulässig. Auch etwa die im burgundischen Raum noch lange anzutreffende Konsulatsdatierung auf Grabsteinen ist mit Mark Handley kaum als „clinging to an ebbing Roman identity“ zu verstehen, sondern im Gegenteil als Zeichen dafür, dass „there was little or no distinction between Roman and German“.50 Tatsächlich erscheint es angemessener, den Inschriftenbrauch nicht als Ausdruck eines „römischen“, sondern einfach eines elitären Selbstverständnisses zu interpretieren. Ein Epitaph bot die Möglichkeit, gehobenen gesellschaftlichen Status zu demonstrieren.51 Selbst wenn man die Prämissen der Forschung akzeptieren würde, erscheint also schon die Quellengattung selbst aufgrund des disparaten Befundes auf unterschiedlichen Ebenen als in gewisser Weise hybrid.

3.3 Epistolae Austrasicae Auf den ersten Blick könnte man annehmen, die Epistolae Austrasicae würden die Tradition der Briefsammlungen des Sidonius, Ruricius und Avitus bruchlos fortsetzen.52 Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass dem nicht in allen Bereichen so ist. Die wohl zwischen 593 und 59653 am Hof Childeberts II. entstandene Sammlung ist heterogen aus 48 Briefen unterschiedlicher Verfasserinnen, Verfasser und Adressaten zusammengesetzt, die jedoch alle aus (späterem) austrasischem Einflussgebiet stammten. Jüngst hat Rainer Jakobi den Versuch unternommen, die vermeintlichen Aufbauprinzipien der Sammlung zu rekonstruieren.54 Auf ihre

48 Vgl. z. B. Heidrich 1968, S. 169; Heinzelmann 1976, S. 59. 49 So aber Heidrich 1968, bes. S. 180–183; Heinzelmann 1976, S. 59; Hildebrand 2017, S. 142. Augenfällig wird der Zirkelschluss, wenn lateinische Inschriften von Personen, die als „Germanen“ identifiziert werden, dann mit deren „Romanisierung“ erklärt werden (vgl. Heidrich 1968, S. 168, 169 u. 182). 50 Vgl. Handley 2000, S. 91–94 (beide Zitate: Handley 2000, S. 92). Mit der gegenteiligen Deutung jedoch W. Schmitz 2001, S. 270–273. 51 Vgl. dazu grundsätzlich Halsall 2003, S. 61–65. Zur Imitation älterer Inschriften, ohne deren ursprünglichen spezifischen Konnotationen weiter zu transportieren, vgl. etwa auch eine Fallstudie für die Karolingerzeit mit Hartmann 2015. 52 Vgl. u. a. Wood 2006, S. 362; Williard 2014, S. 693; jüngst allerdings Wood 2018b, S. 51 „argue[s] against the idea of seeing sixth- and seventh-century collections as reflecting a simple continuation of the Sidonian tradition“. 53 Vgl. Ep. Aust. (Malaspina 2001), S. 7. 54 Vgl. Jakobi 2015.

3.3 Epistolae Austrasicae

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grobe inhaltliche Zweiteilung – die ersten 24 Briefe beleuchten die fränkischen Binnenverhältnisse aus bischöflicher Perspektive, die zweiten Childeberts II. auswärtige Beziehungen nach Byzanz – hat dabei schon ihr erster moderner Editor Wilhelm Gundlach aufmerksam gemacht.55 Jakobi vermutet nun sogar, die Sammlung gehe „offenbar auf eine Edition in zwei Briefbüchern à 24 Briefen zurück“.56 Ganz so scharf ist die thematische Trennung zwischen den beiden Abschnitten jedoch nicht: Schon im ersten ‚Teil‘ findet sich ein Dossier aus drei Briefen, das sich mit byzantinischen Angelegenheiten befasst.57 Nach Jakobis Deutung wurde die Sammlung „nicht vorrangig als ars dictaminis konzipiert“58 wie gemeinhin vermutet,59 sondern u. a. als „Königsspiegel[]“60 für den jungen Chilperich II. Bruno Dumézil dagegen schreibt die Sammlung dem aristokratischen Kreis um den nutricius61 Childeberts II., Gogo,62 zu.63 Deren „réseau de pouvoir“ habe die Sammlung als „un instrument de travail“ hervorgebracht. Sie sei als „une liste de correspondants mobilisables, un catalogue de références partagées et un ars dictamini répondant aux différents besoins de l’échange“ zu verstehen.64 Letztlich wird die Kompilationsintention jedoch nicht mit endgültiger Sicherheit zu klären sein. Denkbar ist auch, dass es sich bei der Sammlung um ein reines Gebrauchswerkzeug eines sehr überschaubaren Personenkreises (Gogo, seine Schreiber oder Nachfolger) am austrasischen Hof handelte,65 das als interne Hilfe für den praktischen Schriftverkehr diente. Ideologisch scheinen die Epistolae Austrasicae von ihrem vermeintlich ‚römischem‘ Erbe weitestgehend abgekoppelt. Nicht nur wenn man die Sammlung mit dem Kreis um den Erzieher und Ratgeber Gogo in Verbindung bringt (welche zeitgenössische Verwendung auch immer Anlass zu ihrer Kompilation gab), nehmen die Epistolae Austrasicae eine hybride Stellung ein.66 Obwohl sie zahlreiche

55 Vgl. Gundlach 1888, S. 372. 56 Jakobi 2015, S. 99. 57 Vgl. Ep. Aust. (Malaspina 2001), 18, S. 132–134; 19, S. 134–136; 20, S. 136–138. Vgl. außerdem Ep. Aust. (Malaspina 2001), 7, S. 80–86. 58 Jakobi 2015, S. 101. 59 Vgl. Gundlach 1888, S. 378; Wood 2006, S. 362; jüngst Müller 2018c, S. 100. 60 Jakobi 2015, S. 102. 61 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 46, S. 256. 62 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 541f. 63 Vgl. Dumézil 2007. Zum Kreis um Gogo vgl. auch Dumézil 2009. Zu Gogos Korrespondenz und Beziehungsnetz vgl. zuletzt auch Williard 2014, S. 695–699. 64 Die Zitate: Dumézil 2007, S. 591. 65 Gogo selbst ist mit mindestens drei Briefen vertreten: Ep. Aust. (Malaspina 2001), 13, S. 116–118; 16, S. 126–128; 22, S. 142–144 (und möglicherweise auch Ep. Aust. [Malaspina 2001], 48, S. 318–320 im Namen Childeberts II.; vgl. dazu Ep. Aust. (Malaspina 2001), S. 305 f., Anm. 924. 66 Für Müller 2018a, S. 335 „markieren die [. . .] Epistolae Austrasicae keinen Unterschied zwischen germanischen und gallorömischen Briefpartnern“, sondern „gewähren [. . .] Einblick in eine poströmisch-germanische Mischkultur“.

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Freundschaftsepisteln enthalten,67 nicht unähnlich denen aus den Briefsammlungen des Sidonius, Ruricius und Avitus,68 finden sich von den drei Epigonen keine Briefe in den Epistolae Austrasicae, sie verhalten sich also komplementär zu ihren vermeintlichen Vorbildern. Als eine gewisse Reminiszenz sind jedoch die vier Briefe des Remigius von Reims, des Zeitgenossen der drei gallischen Bischöfe, zu Anfang der Zusammenstellung zu bewerten, die gleichsam den Takt der Sammlung vorgeben. Stellvertretend stehen sie für das Bemühen um praktische Zusammenarbeit und Verständigung mit den fränkischen Herrschern im neuen Umfeld in Gallien,69 denn zu ihnen zählen der bereits erwähnte Brief zu Chlodwigs Herrschaftsübernahme in der Belgica II,70 ein Beileidsschreiben zum Tod von Chlodwigs Schwester Albofledis71 sowie zwei Briefe, die sich mit bischöflichen Angelegenheiten im Frankenreich befassen.72 Auch in weiteren Briefen spielen die Merowinger prominente Rollen.73 Selbstrepräsentative Zwecke und Gruppen konstituierende Funktionen wie in Sidonius’ Fall sind in den Epistolae Austrasicae jedoch nicht unmittelbar auszumachen, auch wenn die Techniken tradiert wurden.74 Die Parallelen zur Sammlung des Avitus mit seinen Briefen an die burgundischen Könige scheinen hingegen etwas größer. Analog sind auch in den Epistolae Austrasicae die ‚Römer‘ ganz deutlich die Byzantiner: Das oströmische Reich wird als Romana respublica bezeichnet.75 Den Umstand, dass in den fränkischen Briefen das (austrasische) Merowingerreich nicht als Gegenpart benannt wird, deutet Andrew Gillett als inklusive Rhetorik, die „commonality between Austrasia and the empire“76 betonen

67 Vgl. Ep. Aust. (Malaspina 2001), 12, S. 116; 13, S. 116–118; 15, S. 122–124; 16, S. 126–128; 17, S. 128–130; 21, S. 138–140; 22, S. 142–144. 68 Vgl. Müller 2018c, 96–100 und siehe 2.2.3 Amicitia oben. 69 Paradigmatisch auch dafür die Versepistel zu Ehren Arbogasts von Trier, siehe hierzu 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ oben. 70 Siehe 2.1.4 Gallien im 5. Jahrhundert oben. 71 Vgl. Ep. Aust. (Malaspina 2001), 1, S. 58–60. 72 Vgl. Ep. Aust. (Malaspina 2001), 3, S. 64–66; 4, S. 68–72. 73 Vgl. etwa Ep. Aust. (Malaspina 2001), 6 , S. 78–80 mit der Bitte um Vermittlung zur Freilassung von Gefangenen König Theudebalds; Ep. Aust. (Malaspina 2001), 9, S. 98–104 an Königin Brunichilde; Ep. Aust. (Malaspina 2001), 10, S. 106–110 an König Theudebert. 74 Vielmehr ist mit Müller 2018c, S. 101 festzustellen, dass „brieflicher Austausch und dessen anschließende Kodifizierung hier somit nicht mehr der kulturellen Selbstdarstellung einer einzigen Person und von deren Korrespondenznetz [dienten], sondern jener eines ganzen Herrschaftsraumes, der sich im Verlauf des 6. Jahrhunderts anschickt, seine Bedeutung als Akteur innerhalb der heterogenen politischen Situation im (Nord-)Westen des ehemaligen römischen Reichs auszubauen, und dabei die Epistolographie als Möglichkeit der kulturellen Repräsentation für sich entdeckt.“ Vgl. auch Müller 2018a, bes. S. 328 f., 337–341 75 Ep. Aust. (Malaspina 2001), 28, 2, S. 170; 29, 1, S. 170–172; 30, 1, S. 127; 32, 2, S. 176; 33, 2, S. 178; 34, 2, S. 180; 35, 2, S. 182; 36, 2, S. 184; 37, 2, S. 186; 38, 2, S. 188; 39, 2, S. 188; 45, 2, S. 212; 46, 2, S. 214; 47, 2, S. 216; 48, 3, S. 218; 48, 5, S. 220. 76 Gillett 2011, S. 75.

3.4 Die Chronik des Marius von Avenches

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solle. Sätze wie quod utrisque gentibus pacis gratia sociatis proficiat partibus, quas pariter sinceros praestante Christo necit affectus77 und habeat utraque pars vicissitudinarium de se sibi, Domino subministrante, solacium,78 können allerdings auch als Belege für eine gegenteilige Interpretation herhalten79: Gerade der artikulierte Wunsch auf Verbindung – unter Benutzung des Konjunktivs – verweist auf die faktisch bestehende Trennung, denn was nicht tatsächlich getrennt ist, bedarf auch keiner Verbindung. Bei der Sammlung der Epistolae Austrasicae handelt es sich um Briefe, die am austrasischen Hof verfügbar waren und teilweise über einen längeren Zeitraum aufbewahrt wurden. Sie sind Zeugnisse der Kommunikation mit und von fränkischen und byzantinischen Herrschern, möglicherweise in die Form eines Gebrauchswerkzeugs gebracht, das „Facetten eines Diskurses“80 abbildet. Es wurde angelegt, um als Hilfe zu dienen, um die Korrespondenzwirklichkeit abzubilden und um eine Nomenklatur zu verankern. Letztlich sind die Epistolae Austrasicae damit eine konsequente Weiterentwicklung der Tendenz zur (unbewussten) Ablösung vom ‚römischen‘ Ballast der Sammlungen des Sidonius, Ruricius und Avitus, der zum Machterhalt (möglicherweise der Gruppe um Gogo) im regnum Francorum eher hinderlich erschien.

3.4 Die Chronik des Marius von Avenches Ein gutes Beispiel der hybriden Stellung, die die alteingesessene Oberschicht einnahm, liefert die Chronik des Marius von Avenches. Der Bischof von Avenches wirkte in ehemals burgundischem Gebiet unter den Franken, datierte seine Chronik aber durchgehend nach den Konsulatsjahren der oströmischen Konsulen, selbst nachdem diese faktisch abgeschafft worden waren.81 Damit folgte er einem alten römischen mos, der nicht so recht zur politischen Situation Galliens im 6. Jahrhundert zu passen scheint. Die Form der Datierung mag jedoch schlicht durch Marius’ Sozialisation im vergleichsweise imperiumsnahen burgundischen Einflussgebiet und durch einen dort regional tradierten Brauch zu erklären sein.82 Über Marius selbst sind die Informationen sehr spärlich. Die einzige zeitnahe Quelle zu seinem Leben hat er zumindest mittelbar selbst verantwortet, indem er die Konzilsakten von Mâcon 585 mitunterzeichnete.83 Ansonsten finden sich nur

77 Ep. Aust. (Malaspina 2001), 30, 2, S. 174. 78 Ep. Aust. (Malaspina 2001), 38, 2, S. 188. 79 Vgl. die Deutung bei Gillett 2011, S. 75f. 80 Jakobi 2015, S. 94. 81 Vgl. zu den Quellen und zur Chronologie des Marius Favrod 1990; Marius, Chron. (Favrod 1993), S. 27–46. 82 Vgl. Handley 2000, S. 89 f.; Stadermann 2017, S. 167f. 83 Con. Gall. 511–695 (de Clercq 1963), S. 248: Marius episcopus ecclesiae Auentice subscripsi.

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spätere Berichte, aus denen sich erschließen lässt, dass er um 530 geboren und 593 gestorben sein dürfte.84 Seine Familie stammte aus Autun, er war Bischof von Avenches, verlegte seinen Sitz jedoch nach Lausanne.85 Vor allem Georg Scheibelreiter gilt Marius als „civis Romanus“86; Scheibelreiter unterstellt ihm „eine rückwärtsgewandte Ideologie“.87 Seine „verfälschende[] Anschauung der Dinge, der er mit seiner Darstellung Ausdruck verlieh“, sei außerdem „Ausdruck eines krampfhaft festgehaltenen Selbstverständnisses, das durch seine Stellung als Bischof noch verstärkt wurde und Marius wohl davor bewahrte, der Welt den Rücken zu kehren.“88 Diese apodiktische und wenig durch Belege abgestützte Charakterisierung macht Marius jedoch einzig aufgrund des von ihm kolportierten klassischen Barbarenbilds89 ex negativo zum „Traditionalisten und Legitimisten des römischen Imperiums“.90 Dabei bleibt unerwähnt, dass wenn Marius in seiner Chronik von romanus spricht, er dies stets in Bezug auf Italien und damit auf Ostrom tut und sich keineswegs selbst so bezeichnet.91 Zu 535 etwa hält Marius fest, dass der oströmische General Belisar92 Sizilien für das Imperium zurückgewonnen habe.93 Gleiches sollte ihm auch später mit Rom gelingen.94 Für das Jahr 555 notiert Marius, der fränkische dux Butilin95 sei in Italien im „römischen Krieg“ zwischen Ostgoten und Ostrom mit seinem ganzen Heer zugrunde gegangen.96 Im darauffolgenden Jahr sind es abermals die Franken, die den reipublicae Romanae exercitus besiegen, Italien verwüsten und reiche Beute und Gefangene machen.97 Schwer fällt es, sich vorzustellen, dass Marius von Avenches sich selbst ebenfalls der

84 Vgl. Marius, Chron. (Favrod 1993), S. 11–15; Stadermann 2017, S. 106–109. 85 Marius, Chron. (Favrod 1993), S. 15–24. 86 Scheibelreiter 1999, S. 71. 87 Scheibelreiter 1999, S. 72. 88 Beide Zitate: Scheibelreiter 1999, S. 72. 89 Vgl. dazu Scheibelreiter 1999, S. 71. 90 Scheibelreiter 1999, S. 74. 91 Vgl. Sarti 2016, S. 1047f. mit Anm. 43. 92 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, 1, S. 181–224. 93 Marius, Chron. (Favrod 1993), 535, S. 72: C. Belesario, indictione XIIII. Hoc consule, eo anno quo consulatum dedit, Siciliam ingressus eam Imperio Romano restituit. Vgl. auch die Nachricht über Belisars Rückgewinnung Afrikas für das Imperium im Jahr zuvor Marius, Chron. (Favrod 1993), 534, 2, S. 72. 94 Marius, Chron. (Favrod 1993), 547, 3, S. 74: Eo anno resumptis viribus, Belesarius dux civitatem Romam ad Romanum dominium revocavit. 95 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, 1, S. 253f. 96 Marius, Chron. (Favrod 1993), 555, 4, S. 76: Eo tempore Buccelenus dux Francorum in bello Romano cum omni exercitu suo interiit. 97 Marius, Chron. (Favrod 1993), 556, 4, S. 76: Eo anno exercitus Francorum reipublicae Romanae exercitum vastavit atque effugatum devastavit cum illis et diviciis multis abductis. Ebenfalls mit Bezug auf Italien: Marius, Chron. (Favrod 1993), 572, S. 82.

3.5 Viten

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respublica Romana Ostroms zugehörig fühlte, Anzeichen dafür liefert bei näherem Hinsehen seine Chronik jedenfalls nicht, in der er keine patriotische Anteilnahme verrät.

3.5 Viten In den wenigen zeitnah entstandenen Viten zu Heiligenleben im Gallien des 6. Jahrhunderts98 spielt die ausdrückliche ethnische Identifizierung der Beschriebenen kaum eine Rolle. Anders als etwa in der Vita Gaugerici, die (frühestens) aus dem 7. Jahrhundert stammt,99 wo es über die Eltern des Heiligen heißt, sie gehörten zu den Romanae nationes,100 nennen die gallischen Lebensbeschreibungen, die aus dem 6. Jahrhundert überliefert sind, wenn überhaupt nur den vornehmen Stand von Vorfahren ohne ethnischen Annex.101 In einer der wohl bekanntesten Viten der Zeit, derjenigen des Caesarius von Arles, werden dessen Eltern ohne Zusatz als ein honoris ac nobilitatis exemplum102 bezeichnet. Auch in der Lebensbeschreibung des Bischofs Germanus von Paris,103 die Venantius Fortunatus zugeschrieben wird, nennt der Verfasser Vater und Mutter lediglich honesti honoratique.104 Selbst Gregor von Tours zählt in seinem „Buch des Lebens der Väter“ seine Vorfahren und Verwandten, wie seinen Onkel Gallus von Clermont,105 seinen Großonkel Nicetius von Lyon106 und seinen Urgroßvater Gregor von Langres,107 zu den primoribus senatoribus [. . .], ut in Galliis nihil inveniatur esse generosius atque nobilius.108 Ähnlich ethnisch unspezifisch heißt es auch in

98 Letztlich ist der Quellenwert vieler Viten für das 6. Jahrhundert aufgrund ihrer Überlieferung schwer zu bestimmen. Vgl. zur „réécriture“ hagiographischer Texte aus der Merowingerzeit zuletzt Goullet 2010; Heinzelmann 2010; außerdem die Sammelbände Goullet/Heinzelmann (Hrsg.) 2003; Goullet/Heinzelmann/Veyrard-Cosme (Hrsg.) 2010. 99 Vgl. V. Gaugerici (Krusch 1886), S. 650. Vgl. zur Vita und ihren Versionen zuletzt Mériaux 2010; Kreiner 2018. 100 V. Gaugerici (Krusch 1886), 1, S. 652: Igitur beatissimus Gaugericus episcopus Germani oppido Ebosio castro oriundus fuit parentibus secundum saeculi dignitatem non primis, non ultimis, Romanis nationes, christianitates vero religionem. 101 Vgl. auch Graus 1965, S. 362 f. Zur Vita vgl. auch Berschin 1986, S. 249–258; Klingshirn 1994, S. 1–7. 102 V. Caesarii (Morin 1942), I, 3, S. 297. 103 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 616. 104 V. Germani (Krusch 1920), 1, S. 372: Beatus igitur Germanus Parisiorum pontifex, territorii Augustidunensis indigena, patre Eleutherio, matre quoque Eusebia, honestis honoratisque parentibus procreatus. 105 Vgl. Gregor, Lib. vit. pat. (Krusch 1969), VI, S. 229–236. 106 Vgl. Gregor, Lib. vit. pat. (Krusch 1969), VIII, S. 240–252. 107 Vgl. Gregor, Lib. vit. pat. (Krusch 1969), VII, S. 229–240. 108 Gregor, Lib. vit. pat. (Krusch 1969), VI, 1, S. 230.

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der Vita Remedii, einer Lebensbeschreibung des Remigius von Reims vom Ende des 6. Jahrhunderts109: Hic itaque primis ortus natalibus parentum nobilitate fulgebat.110 Ethnische Identifikationen unterbleiben also in der Regel. Dies dürfte nicht etwa geschehen sein, weil eine „romanische Volkszugehörigkeit“ in den entsprechenden Fällen des 6. Jahrhunderts ohnehin selbstverständlich war,111 sondern weil offenbar einer geteilten römischen Abstammungsgemeinschaft oder einem gemeinsamen römischen Selbstverständnisses keine Bedeutung zugemessen wurde.112 Die Viten scheinen vornehme Herkunft vielmehr – wiederum hybrid – als bloße Eigenschaft der Heiligen zu verstehen – auf ganz ähnliche Weise wie es bereits für die epigraphischen Zeugnisse festgestellt wurde.113 Klassische Bildung im Sinne eines Sidonius Apollinaris spielt zudem in den Viten des 6. Jahrhunderts keine wesentliche Rolle.114 In der Vita des Caesarius von Arles wird ihr geradezu eine ausdrückliche Absage erteilt, wichtiger ist – wenig verwunderlich – die christliche (Aus-)Bildung des Heiligen.115 Tatsächlich werden die Viten auch in ihrer sprachlichen Darstellung einfacher.116 Mögen sie etwa vor allem auch im Fall der Bischofsviten „in einen umfassenderen Kontext kultureller Praktiken und Selbstdeutungen gehören, vermittels derer die Angehörigen einer [. . .] gesellschaftlichen Elite sich untereinander vernetzten, sich ihrer kulturellen Identität versicherten und ihren sozialen Führungsanspruch zu bewahren versuchten“,117 so stehen sie damit keineswegs in der Tradition der epistolographischen Übergangsrömer,118 sondern sind im besten Sinne hybrid.

109 Vgl. Berschin 1986, S. 304 110 V. Remedii (Krusch 1995), 1, S. 64. 111 So aber Ewig 1976c, S. 246–249 (das Zitat: Ewig 1976c, S. 247). 112 Vgl. in Bezug auf die Viten des 7. und frühen 8. Jahrhunderts Kreiner 2018, bes. S. 321f. 113 Siehe 3.2 Epitaphien oben. 114 Vgl. Gemeinhardt 2007, S. 272. 115 Vgl. V. Caesarii (Morin 1942), I, 9, S. 299f. Vgl. Gemeinhardt 2007, S. 302–305. 116 Vgl. Gemeinhardt 2007, S. 493. 117 Diefenbach 2013, S. 132f. 118 So allerdings Diefenbach 2013, S. 133.

4 Fragmentierter Raum: Venantius Fortunatus’ Dichtung und Gregors von Tours Libri Historiarum Decem 4.1 Einführung Im Frankenreich der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts unter den Königen aus der merowingischen Familie bewegten sich der Dichter Venantius Fortunatus und Gregor, der Bischof von Tours und Verfasser des einzigen aus dieser Zeit überlieferten Geschichtswerks, zweifellos im selben gallischen Kommunikationsraum.1 Allerdings war dieser deutlich anders strukturiert als etwa bei den epistolographischen Übergangsrömern Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne im selben Gebiet. Im Unterschied zum Gallien des 5. Jahrhunderts, das durch das römische Imperium, Visigoten, Burgunder und Franken geprägt gewesen war, hatten sich der gesellschaftliche Bezugsrahmen und die machtpolitische Umgebung im merowingischen Reich gewandelt. Anders als im Fall der Briefsammlungen richtete sich vor allem Fortunatus’ Dichtung nicht nur in erster Linie an eine in sich vergleichsweise geschlossene gesellschaftliche Gruppe von Rezipientinnen und Rezipienten. Sein Publikum war heterogen und seine Auftraggeber waren von unterschiedlicher Herkunft. Die zeitgenössische Verbreitung und der unmittelbare Adressatenkreis von Gregors Libri Historiarum Decem sind hingegen nur zu vermuten. Nach eigener Aussage wandte er sich vor allem an omnes sacerdotes Domini, qui post me humilem ecclesiam Turonicam sunt recturi, die er auch zu Verwaltern seines historiographischen Vermächtnisses bestimmte.2 Seine moralischen Aufrufe an die merowingischen Könige – etwa im Prolog des fünften Buches3 – lassen jedoch vermuten, dass Gregor durchaus wünschte oder damit rechnete, dass seine Botschaften auch zeitnah an die fränkischen Höfe gelangten. Eine homogene, gemeinsame und distinkte politische Interessenslage einer römischen Oberschicht Galliens ist in den fränkischen Teilreichen (letztlich war das Merowingerreich nach Chlodwigs Tod lediglich drei Jahre lang in der Mitte des Jahrhunderts unter seinem jüngsten Sohn Chlothar vereinigt) nicht zu konstatieren.4 Auch deswegen erscheint der historische Diskursraum fragmentiert, der sich zwischen Fortunatus und

1 Vgl. etwa zur Schriftkultur Galliens in dieser Zeit Williard 2014. 2 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 536 (das Zitat: Gregor, Hist. [Krusch/Levison 1951], X, 31, S. 536). 3 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, praef., S. 193f. 4 Einen Beitrag zur Kontroverse um die Existenz eines ‚fränkischen Adels‘ liefert die vorliegende Arbeit damit nicht (siehe zum Forschungsstand 1.2 Forschungsstand oben). Für die Frage nach dem Fortbestand des Diskurses über das Selbstverständnis einer römischen Oberschicht in Gallien spielt die Debatte letztlich keine Rolle, da es wohl außer Frage steht, dass im Frankenreich eine https://doi.org/10.1515/9783110629187-004

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4 Fragmentierter Raum

Gregor aufspannt. Fortunatus schöpfte durch seine italisch-oströmische Herkunft aus einem anderen kulturellen Reservoir, das Gregor von Tours in diesem Umfang nicht zur Verfügung gestanden haben dürfte oder das er zumindest nicht in sein Geschichtswerk hat einfließen lassen. Trotzdem wirken die Bezüge auf die Romanitas in beiden Werken artifiziell; das Römertum scheint am Ende des 6. Jahrhunderts nur unter der Oberfläche in einer latenten Form auf. Dennoch bietet es sich an, auch in diesem Kapitel motivgeleitet vorzugehen und Fortunatus’ und Gregors Texte systematisch zu analysieren.5 Der Blick zurück auf das vergangene Imperium Romanum scheint dabei der logische Ausgangspunkt – ganz besonders im Fall Gregors, dem Verfasser einer Weltgeschichte. Aber auch in der Dichtung des Fortunatus hat das Vergangene – nunmehr topisch – seinen Platz zum Lob seiner Adressatinnen und Adressaten und zur Aufwertung einer edlen Abstammung, ähnlich einer hervorzuhebenden Charaktereigenschaft. Außerdem gilt es, die „social marker“ der römischen Oberschicht6 zu verfolgen und zu überprüfen, ob und in welcher Form sie überdauerten und inwiefern mit ihnen im historischen Diskursraum des 6. Jahrhunderts ein distinktiv römisches Selbstverständnis einer Elitengruppe verbunden blieb.

4.1.1 Venantius Fortunatus In der Forschung beginnt die Darstellung des Lebens des Venantius Fortunatus zumeist mit einem Ereignis, bei dem der Dichter erstmals wohl nachhaltigen Eindruck auf sein gallisches Publikum machte.7 Im Frühjahr 566 – vere novo, tellus fuerit dum exuta pruinis8 – heiratete der fränkische König Sigibert die visigotische Königstochter Brunichilde.9 Teil der iocunditas10 war möglicherweise auch die Rezitation von zu diesem Anlass von Fortunatus verfassten Versen.11

Oberschicht oder ihr vergleichbare Eliten existierten, unabhängig davon, ob man diese nun als „fränkischen (Erb-)Adel“ bezeichnen könnte oder sollte. 5 Vgl. mit getrennten Analysen Näf 1995 und jüngst Buchberger 2017. 6 Siehe 2.2. Die römische Oberschicht und ihre Briefe oben. 7 Vgl. etwa George 1992, S. 4; Fels 2006, S. XIf. Bei George 1992 handelt es sich um die aktuellste ausführliche Abhandlung zu Leben und Werk des Fortunatus. Vgl. jüngst auch Stadermann 2017, S. 102–104. 8 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VI, 1, 1, S. 124. 9 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 27, S. 160. 10 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 27, S. 160: Ille [Sigibert] vero, congregatus senioribus secum, praeparatis aepulis, cum inminsa laetitia atque iocunditate eam [Brunichilde] accepit uxorem. 11 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VI, 1, S. 124–129; 1a, S. 129f. Auch hier zeigt sich eine gewisse Hybridität (siehe 3 Zwischenräume oben): Das Paar sei „kaiserlich“ (Venantius Fortunatus, Carm. [Leo 1881], VI, 1, 16, S. 124) und Fortunatus legt heidnischen Göttergestalten das Lob über die Abstammung von Königin und König in den Mund (Venantius Fortunatus, Carm. [Leo 1881], VI, 1, 60–143, S. 126–129).

4.1 Einführung

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Ursprünglich aus Venetien stammend12 (geboren wohl in den 530er Jahren) ist über Fortunatus’ Familie so gut wie nichts bekannt.13 In Italien erhielt er eine schulische Ausbildung und studierte in Ravenna.14 540 war Ravenna vom oströmischen Patricius Belisar erobert worden15 und blieb fortan unter byzantinischer Kontrolle.16 Fortunatus dürfte also in der formativen Phase seiner Adoleszenz und Ausbildung stark durch oströmische Einflüsse geprägt worden sein. Um die Mitte der 560er Jahre entstanden erste Gedichte.17 Ein weltliches Amt strebte er zu diesem Zeitpunkt nicht an18 und auch eine kirchliche Laufbahn schien nicht in Frage zu kommen.19 Stattdessen brach Fortunatus im Sommer 565 nach Gallien auf,20 vorgeblich um dem heiligen Martin in Tours für die Heilung einer Augenkrankheit zu danken,21 aber wohl nicht mit der Absicht, wieder in die Heimat zurückzukehren, vielmehr um sich im Frankenreich als Dichter ein Auskommen zu verschaffen.22 Auch nach seinem gelungen Einstand in Gallien konnte Fortunatus jedoch keineswegs das Leben eines unabhängigen Künstlergenies führen, sondern dichtete für unterschiedliche Gönner – Könige, Königinnen, Große und Bischöfe –, zu denen ab 573 auch Gregor von Tours zählte,23 der ihm schließlich ein kleines Landgut zwischen Tours und Poitiers überließ.24

12 Vgl. Venantius Fortunatus, V. S. Martini (Leo 1881), IV, 668 f., S. 369. 13 Vgl. George 1992, S. 18f. 14 Vgl. Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Bethmann/Waitz 1878), II, 13, S. 79; Venantius Fortunatus, V. S. Martini (Leo 1881), I, 29–31, S. 296: parvula grammaticae lambens refluamina guttae. / rhetorici exiguum praelibans gurgitis haustum, / cote ex iuridica cui vix rubigo recessit. 15 Vgl. Prokop, BG (Haury 1963), II, 29, 17–31, S. 284–287. 16 Zu Ravenna in dieser Zeit vgl. zuletzt Deliyannis 2010. 17 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 1, S. 7f. u. 2, S. 8 f. Vgl. auch George 1992, S. 23f. 18 Vgl. Venantius Fortunatus, V. S. Martini (Leo 1881), I, 34f., S. 296. 19 Vgl. Venantius Fortunatus, V. S. Martini (Leo 1881), IV, 661f., S. 369. 20 Zu seiner Reiseroute vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), praef., 4, S. 2. Vgl. George 1992, S. 24–27; Fels 2006, S. XVI-XVIII. 21 Vgl. Venantius Fortunatus, V. S. Martini (Leo 1881), IV, 667, S. 369; 686–701, S. 369 f. 22 Zumindest war er fleißiger Schreiber auf seiner ‚Pilgerfahrt‘: ubi inter barbaros longo tractu gradiens aut via fessus aut crapula, brumali sub frigore, Musa hortante nescio gelida magis an ebria novus Orpheus lyricus silvae voces dabam, silva reddebat (Venantius Fortunatus, Carm. [Leo 1881], praef., 4, S. 2). 23 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), V, 3, S. 106f. zu Gregors Amtsantritt. Zum Verhältnis zu Gregor vgl. Brennan 1985b, S. 70–78; Roberts 2015. Zu Fortunatus’ Netzwerk sind neben Gregor etwa auch Nicetius von Trier (vgl. Ep. Aust. [Malaspina 2001], 5, S. 74–78; 6, S. 78–80; 7, S. 80–86; 21, S. 138–140; George 1992, S. 27; zum außergewöhnlichen Stil der Gedichte für Nicetius vgl. Roberts 2016) und Gogo (siehe 3.3 Epistolae Austrasicae oben; vgl. George 1992, S. 28) zu zählen. Vgl. außerdem insgesamt zu Fortunatus’ gallischen Verbindungen George 1992, S. 28–33; Williard 2014. 24 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VIII, 19, S. 199; 20, S. 200. Vgl. auch Fels 2006, S. XXVIIIf.

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Viel mehr als durch einzelne Glanzpunkte wie die Hochzeit Sigiberts und Brunichildes dürfte Fortunatus’ Leben durch Reisen zwischen seinen verschiedenen Auftraggebern geprägt gewesen sein,25 von denen er etwa auch abhängig war, was Kost und Logis anging.26 In den 570er und 80er Jahren fand möglicherweise auch seine Priesterweihe statt, welche Aufgaben für ihn damit verbunden waren, lässt sich jedoch nicht an seinem dichterischen Werk ablesen.27 Danach verliert sich Fortunatus’ Spur. Er starb vermutlich Anfang des 7. Jahrhunderts als Bischof von Poitiers, wann genau ist ebenso unklar wie das Jahr seiner Bischofserhebung.28 Fortunatus’ dichterisches Werk ist vor allem durch Handschriften aus dem 9. Jahrhundert überliefert.29 Doch schon zu seinen Lebzeiten werden einige seiner über 250 Gedichte, Viten und Prosatexte – mindestens bei ihren Auftraggeberinnen und Auftraggebern – im Umlauf gewesen sein. Fortunatus’ Gedichte sind in elf Bänden zusammengestellt.30 Die Bücher I bis VII kompilierte er um 576 selbst und widmete sie im Vorwort seinem Freund Gregor von Tours.31 Eine ordnende Hand ist dabei klar ersichtlich: Die Gedichte der ersten drei Bücher richten sich an Bischöfe,32 handeln von Kirchen oder sind für Mitglieder des Klerus verfasst. Buch IV enthält Epitaphien, streng nach Bischöfen, Klerikern, Laien und Frauen getrennt. Im fünften Buch sind erneut Gedichte über Bischöfe gesammelt, während das sechste Buch zunächst Mitglieder der königlichen Familien feiert und sich dann anderen Weltlichen zuwendet. Die Gedichte in Buch VII sind weiteren Großen und Personen an den merowingischen Höfen gewidmet, auch hier nach gesellschaftlichem Rang sortiert. Wohl ebenfalls von Fortunatus selbst nach

25 Vgl. auch Coates 2000, S. 1112. Dazu etwa programmatisch im Vorwort zu seinen Gedichten Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), praef., 5, S. 2: Quid inter haec extensa viatica consulte dici potuerit, censor ipse mensura, ubi me non urguebat vel metus ex iudice vel probabat usus ex lege nec invitabat favor ex comite nec emendabat lector ex arte, ubi mihi tantundem valebat raucum gemere quod cantare apud quos nihil disparat aut stridor anseris aut canor oloris, sola saepe bombicans barbaros leudos arpa relidens; ut inter illos egomet non musicus poeta, sed muricus deroso flore carminis poema non canerem, sed garrirem, quo residentes auditores inter acernea pocula salute bibentes insana Baccho iudice debaccharent. quid ibi fabre dictum sit ubi quis sanus vix creditur, nisi secum pariter insanitur, quo gratulari magis est si vivere licet post bibere, de quo convivani thyrsicum non fatidicum licet exire, sed fatuum? cum quantum ad mei sensus intellegentiam pertinet, quia se pigra non explicat, brutae animae ipsa ieiuna sunt ebria. 26 Vgl. etwa seinen Dank in Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 21, 3, S. 71. 27 Vgl. Brennan 1985b, S. 67; Fels 2006, S. XXXf. 28 Vgl. Fels 2006, S. XXXVf. 29 Vgl. zuletzt Walz 2006; zuvor Meyer 1908. 30 Zum Folgenden, dem Aufbau und Entstehungsdaten vgl. George 1992, S. 208–211; Coates 2000, S. 1114f.; Stadermann 2017, S. 104 f. 31 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), praef., 3, S. 1. 32 Zu den Gedichten als bischöfliches Repräsentationsmittel und Hinweis auf die bischöfliche Machtfülle vgl. Brennan 1992; Coates 2000.

4.1 Einführung

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587 zusammengestellt wurden mindestens die beiden folgenden Gedichtbände – mit kirchlichen Adressaten und Themen sowie einer Mischung aus Gedichten und Epitaphien für königliche und bischöfliche Personen, Kleriker und Laien. Es folgten noch zwei weitere Bücher, die entweder in den 590er Jahren arrangiert oder nach Fortunatus’ Tod aus seinem Nachlass zusammengestellt wurden. In der Regel handelte es sich bei Fortunatus’ Versen um Auftragsarbeiten, sie wurden ganz gezielt zum Dank oder anlässlich eines besonderen Ereignisses an seine Gönner gerichtet. Diese Abhängigkeit von seinen Auftraggeberinnen und Auftraggebern spiegelt sich auch im Inhalt der Gedichte. Fortunatus’ Ziel war es, zu gefallen und zu schmeicheln. Spott oder Kritik hatten dabei wenig Platz. Sein Publikum in ganz Gallien war divers, entsprechend allgemein(verständlich) fiel daher auch in der Regel das dichterische Lob für seine Adressatinnen und Adressaten aus. Höchstwahrscheinlich kam Fortunatus’ Gedichten ein gewisser Performanz- und Inszenierungscharakter zu. Viele seiner Lobgedichte dürften im (semi)öffentlichen Rahmen vorgetragen worden sein, was genauso wie die Ausstellung von Epitaphien der gesellschaftlichen Repräsentation ihrer Auftraggeberinnen und Auftraggeber diente. Neben seinen grundsätzlichen poetischen Fähigkeiten, die in Gallien zu dieser Zeit ansonsten rar gesät gewesen zu sein scheinen, dürfte vor allem auch die Fremdheit und Exotik von Fortunatus’ italisch-oströmischen Prägung, die sich in seinen Werken widerspiegelt,33 die gallischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen fasziniert haben.

4.1.2 Gregor von Tours Der Verfasser der Libri Historiarum Decem, Gregor von Tours, wurde 538 oder 53934 in einer Zeit geboren, in der sich das Frankenreich nach der Herrschaft Chlodwigs und seiner Söhne in Gallien etabliert hatte.35 Er stammte aus einer alten und vornehmen auvergnatischen Familie.36 Leicht ist man versucht, dadurch eine traditionsbewusste römische Prägung der Eltern anzunehmen, die sich auch in der Namensgebung durchschlug. Äußerlich betrachtet scheint Gregors voller Name, Georgius Florentius Gregorius, der klassischen Form der tria nomina zu folgen.37 Allerdings dürfte der römische Brauch bei der Vergabe wohl eine untergeordnete 33 Roberts 2016, S. 181: „It may well be that these conventions, familiar to Fortunatus from his literary education, were alien to his new Merovingian audience.“ 34 Vgl. Wood 1994a, S. 4 f. 35 Zu Gregors Leben und Werk vgl. die Studien von Goffart 1988, S. 112–234 und Heinzelmann 1994 als Grundlage der rezenten Forschung. Vgl. außerdem Breukelaar 1994. Zu unterschiedlichen kontextuellen Aspekten vgl. weiterhin die beiden Sammelbände Mitchell/Wood (Hrsg.) 2002 und jüngst Murray (Hrsg.) 2015. 36 Vgl. die Prosopographie bei Heinzelmann 1994, S. 10–21; außerdem Mathisen 1991c; Walter/ Patzold 2014, S. 117–120; Heinzelmann 2015, S. 11–20. 37 Zum Wandel des römischen Namensystems allgemein vgl. auch Castritius 1997; Solin 2002.

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Rolle gespielt haben und auch hier eher ein hybrides Phänomen zu beobachten sein.38 Tatsächlich handelte es sich gewissermaßen um „eine Serie von drei Einzelnamen“.39 Der erste Name ging auf einen Großvater40 Gregors zurück, auch Florentius war nicht etwa ein Gentilname, sondern der des Vaters,41 und Gregorius eine Nachbenennung aus der Familie der Mutter.42 Über Gregors Ausbildung erfährt die Nachwelt spärlich aus seinen Schriften.43 Seine Lehrer waren wohl zunächst sein Vater, später sein Onkel, Bischof Gallus von Clermont,44 und dessen Archidiakon Avitus.45 Inwiefern diese Erziehung um 551 zur Entscheidung beitrug, in den geistlichen Stand einzutreten, muss letztlich offen bleiben. Gregor selbst führt die glückliche Genesung von einer schweren Krankheit als Grund für seinen Entschluss an.46 Allerdings ist über die Zeit bis zu Gregors Bischofsweihe 573 mit Ausnahme der Nachricht bezüglich einer weiteren schweren Krankheit 563 nur Bruchstückhaftes bekannt.47 573 trat Gregor die Nachfolge Bischof Eufronius’ in Tours an.48 Durch König Sigibert eingesetzt, nahm Gregor fortan direkten Anteil an der wechselvollen Geschichte seines Bistums. Als Inhaber des Bischofssitzes von Tours, der Stadt des heiligen Martin – des wichtigsten gallischen Heiligen –, kam er regelmäßig mit den Mächtigen des Frankenreichs in Kontakt und war so in zahlreiche weltliche und kirchliche Belange verstrickt.49 Gregor starb vermutlich 594.50 Gregors Hauptwerk sind seine Libri Historiarum Decem. Dabei handelt es sich um eine universale christliche Weltgeschichte, die folgerichtig mit einem Glaubensbekenntnis und der Erschaffung der Welt beginnt. In relativ großen Schritten wird im Anschluss der Aufstieg des Christentums nachgezeichnet. Der Horizont des Berichteten verengt sich im Laufe der Erzählung zunehmend auf die Ereignisse in Gallien. Im Zentrum stehen dabei zunächst vor allem das Leben und Wirken des fränkischen Reichsgründers Chlodwig mit dessen Tod das zweite Buch endet. Im dritten und vierten Buch wird das weitere Geschick des Frankenreichs

38 Siehe hierzu auch 3 Zwischenräume oben. 39 Haubrichs 2008, S. 101. 40 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 615. 41 Vgl. Stroheker 1948, Nr. 163, S. 176. 42 Vgl. Haubrichs 2008, S. 96 f. 43 Vgl. Heinzelmann 2015, S. 21f. 44 Vgl. Heinzelmann 1982, S. 613. 45 Vgl. Gregor, Lib. vit. pat. (Krusch 1969), II, praef., S. 218. 46 Vgl. Gregor, Lib. vit. pat. (Krusch 1969), II, 2, S. 219f. 47 Vgl. Heinzelmann 2015, S. 22–24. 48 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 534: Nonus decimus Gregorius ego indignus ecclesiam urbis Turonicae, in qua beatus Martinus vel ceteri sacerdotes Domini ad pontificatus officium consecrati sunt, [. . .] nanctus sum. 49 Vgl. u. a. Wood 1994a, S. 12–21; Esders 2015; Heinzelmann 2015, S. 24–30. 50 Vgl. Wood 1994a, S. 21.

4.1 Einführung

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beschrieben, die Herrschaft der Söhne Chlodwigs und seiner Enkel. Diese vier Bücher erscheinen insofern zusammengehörig, als dass sie mit einem Epilog enden, der gleichsam resümierend den Berichtszeitraum der ersten vier Bücher aufzählt – vom Beginn der Welt bis zum Tode König Sigiberts 575. Die anschließenden sechs Bücher decken nun nur noch knapp 16 Jahre ab, sind also wesentlich ausführlicher und haben einen annalistischen Charakter. Die Darstellung konzentriert sich zu großen Teilen auf das Handeln der merowingischen Könige und auf ihre Beziehungen zu den gallischen Bischöfen und Klerikern sowie auf deren Taten. Gregors Geschichtswerk endet ereignisgeschichtlich im Jahr 591. Das letzte Kapitel ist der Aufzählung seiner Vorgänger auf dem Bischofsstuhl von Tours und einer abschließenden Addition der berichteten Jahre vorbehalten, verfasst in anno XXI. ordinationis nostrae,51 also um Gregors Todesjahr 594. Der Titel seiner Erzählung geht auf Gregor selbst zurück.52 Die genaue Entstehungsgeschichte der zehn Bücher ist jedoch nicht mehr eindeutig rekonstruierbar. Gestützt auf den Handschriftenbefund einer Manuskriptgruppe aus der Merowingerzeit, die die Bücher I bis VI umfasste, ging die Forschung lange Zeit davon aus, dass Gregors Geschichtswerk in zwei Editionsstufen entstand – erst die Version der Bücher I bis VI und dann eine zweite, bei der die Bücher VII bis X angefügt wurden. Tatsächlich handelt es sich jedoch bei der 6-Bücher-Version um eine nach Gregors Tod gekürzte und verbreitete Fassung.53 Der auffällige Bruch im Erzähltempo ab dem fünften Buch – ab hier berichtet Gregor wesentlich ausführlicher und chronologisch kleinteiliger – hat zu der Vermutung Anlass gegeben, der Bischof von Tours habe die kompakten Bücher I bis IV, vom Beginn der Welt bis zum Tode König Sigiberts 575, in den ersten Jahren nach seiner Bischofsweihe in relativ kurzer Zeit an einem Stück verfasst, um dann seine eigene Zeitgeschichte sukzessive und weitgehend unmittelbar bis 591 festzuhalten.54 Es gibt außerdem Hinweise, dass Gregor sein Werk – vermutlich in seinem Todesjahr 594 – einer Gesamtredaktion unterzog. Hier wurden wohl etwa das letzte Kapitel im zehnten Buch sowie der Generalprolog vor dem ersten Buch ergänzt und außerdem kleinere Verbesserungen und Eingriffe am Text vorgenommen. Zuletzt hat Alexander Murray die These einer weitgehend ‚synchronen‘ Entstehung der Libri Historiarum Decem mit guten Argumenten in Frage gestellt.55 Stattdessen geht er davon aus, dass Gregor sein historiographisches Projekt en gros zwischen 585 und

51 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 536. 52 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 535: Decem libros Historiarum [. . .] scripsi. 53 Vgl. zusammenfassend Goffart 1988, S. 120–123; Murray 2015, S. 70–72; Stadermann 2017, S. 100–102. Zur mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung vgl. außerdem Goffart 1989b; Heinzelmann 1994, S. 167–175. 54 Vgl. etwa Heinzelmann 1994, S. 97–102; weitgehend übereinstimmend Breukelaar 1994, S. 41–70, 294–297; Wood 1994a, S. 2f.; die Argumente zusammenfassend Murray 2015, S. 77–83. 55 Vgl. Murray 2015, S. 83–91; zuvor bereits teilweise ausführlicher Murray 2008.

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590 anfertigte, aber noch bis zu seinem Tod mit Änderungen beschäftigt war.56 Tatsächlich scheint es schon aufgrund der unzweifelhaften Endredaktion aus der Feder des Verfassers geboten, die Libri Historiarum Decem als Gesamtwerk zu betrachten. Die Diskrepanz der Erzählweisen mit der Zäsur zwischen viertem und fünftem Buch ist zwar kaum zu leugnen, unabhängig vom Zeitpunkt der Niederschrift lässt sich diese Unterschiedlichkeit aber ohne weiteres mit einem Verweis auf die analoge Divergenz der damaligen Quellen pragmatisch erklären, auf die sich Gregor bei der Konstruktion seiner Geschichtsdarstellung stützte. Für die Zeit vor seiner Geburt und Kindheit zog er nach eigener Aussage selbst historiographische Quellen heran.57 Die Zeitgeschichte konnte er dann auf Grundlage eigenen Erlebens und aktuell virulenter Berichte (womöglich im Rückblick) festhalten, in welcher Form auch immer sie ihm vorlagen. Nicht unwahrscheinlich ist, dass in diesem Zuge ereignisnahe Notizen entstanden oder bereits Vorlagen entworfen wurden, aus denen später Kapitel entstanden. Dies vermag ebenfalls die Unterschiede im Erzählstil der beiden ‚Teile‘ zu erklären, ohne von zeitlich getrennten Bearbeitungs- und Redaktionsstufen ausgehen zu müssen. Ohnehin verbieten es Gregors Änderungen letzter Hand, einzelne Abschnitte seines Werkes sicher einer bestimmten Phase in seinem Leben zuzuordnen. 594 hatten sie wenigstens vor seinem kritischen Auge Bestand und wurden somit ‚aktualisiert‘ oder gar angepasst. Weniger als durch Ironie und Satire58 scheint Gregors Darstellung durch sein christliches Idealbild einer durch bischöfliche Autorität angeleiteten fränkischen Gesellschaft und dessen Propagierung geprägt.59 Die Abweichung der Wirklichkeit von diesem Modell könnte dabei jedoch gleichfalls causa scribendi für Gregor gewesen sein. Unter dem Eindruck andauernder Auseinandersetzungen der merowingischen Könige60 dürfte sein historiographisches Unterfangen zu einem Gutteil auch der Kontingenzbewältigung gedient haben. U. a. die Orientierung an den merowingischen Königen und die Verwendung genealogischer Motive verliehen Gregors Darstellung dabei Sinn und Ordnung in einer Zeit voller Unruhe.61 Vor der Ermordung seines Königs Sigibert, mit dessen Einverständnis er zum Bischof von Tours aufgestiegen war, berichtet Gregor von einem hellen Schein, wie man ihn auch vor dem Tod Chlothars gesehen habe.62 An der entsprechenden Stelle schreibt Gregor zwar nicht von einem solchen Himmelsphänomen,63 spricht allerdings kurz darauf

56 Vgl. Murray 2008, S. 194–196; Murray 2015, S. 91f. 57 Vgl. etwa Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 9, S. 52–58. 58 So Goffart 1988. 59 Vgl. Heinzelmann 1994, S. 136–167; Breukelaar 1994, S. 216–264. 60 Siehe auch nächstes Kap. unten. 61 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hess 2015. 62 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 51, S. 187: In eo anno fulgor per caelum discurrisse visus est, sicut quondam ante mortem Chlothari factum vidimus. 63 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 21, S. 154.

4.1 Einführung

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erstmals vom bellum civile, das das Frankenreich plage.64 Die Bruderkriege zwischen den merowingischen Königen prägten in der Folge die Geschicke der Bevölkerung des Frankenreichs und fanden dann in Gregors Augen sicherlich mit der Ermordung Sigiberts einen vorläufigen Höhepunkt, von dem er am Ende des vierten Buches berichtet. Die hohe Bedeutung der bella civilia für die Gesamtdarstellung wird auch durch den bedeutungsschwangeren Prolog des fünfen Buches hervorgehoben: Mit Widerwillen gehe ich daran, die Zwistigkeiten und Bruderkriege zu erzählen, die Volk und Reich der Franken so sehr in Verfall bringen; denn schon sehen wir, was das Schlimmste ist, in dieser Zeit eintreten, was der Herr von dem Anheben der Not vorausgesagt hat: es erhebt sich Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater, Bruder gegen Bruder, Verwandte gegen Verwandte. Und doch hätte sie das Beispiel früherer Könige abschrecken sollen, die, wenn sie untereinander uneins wurden, alsbald ihren Feinden erlagen. Wie oft sank nicht selbst die Stadt der Städte, das Haupt der ganzen Welt, darnieder, wenn sie Bürgerkriege begann, aber wenn diese aufhörten, erhob sie sich wieder vom Boden. O möchtet doch auch ihr, o Könige, solche Schlachten schlagen, wie die, in denen eure Vorfahren ihren Schweiß vergossen haben, daß die Völker, voll Furcht ob eurer Eintracht, sich beugen müßten vor eurer Macht. Denket an Chlodovech, von dem eure Siege begannen, was er getan hat: er tötete die Könige, die seine Gegner waren, schlug die feindlichen Völker, brachte die einheimischen unter seine Gewalt und hinterließ euch die Herrschaft darüber unversehrt und ungeschwächt.65

Dass sich jedoch der Fokus dessen, was die geistliche Elite bewusst erlebte und dann auch unabhängig von Gattungsunterschieden für berichtenswert hielt, im Vergleich zum Werk des Sidonius zum Ende des 6. Jahrhunderts deutlich verändert hatte, zeigt eine Geschichte würdelosen Verhaltens, die Gregor in seinem sechsten Buch erzählt. Ein civis der Stadt Tours habe nach dem Tod von Frau und Kindern in den geistlichen Stand eintreten wollen. Sein Bruder – nun um das Erbe fürchtend – verkuppelte ihn kurzerhand. Seine eigene Frau jedoch war eine adultera und stiftete ihren moechus an, den Ehemann zu erschlagen, als beide Brüder ad ebrietatem vino maduissent. Am nächsten Morgen konnte der unglückliche Witwer lediglich vom Zugetragenen berichten, bevor er seinen Verletzungen erlag. Derweil heiratete die meretrix ihren

64 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 23, S. 155. Vgl. zur Bedeutung dieser Stelle auch Heinzelmann 1994, S. 122. 65 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, praef., S. 193: Taedit me bellorum civilium diversitatis, que Francorum gentem et regnum valde proterunt, memorare; in quo, quod peius est, tempore illud quod Dominus de dolorum praedixit initium iam videmus: Consurgit pater in filium, filius in patrem, frater in fratrem, proximus in propinquum. Debebant enim eos exempla anteriorum regum terrere, qui, ut divisi, statim ab inimicis sunt interempti. Quotiens et ipsa urbs urbium et totius mundi capud ingens bella civilia diruit; quae cessante, rursum quasi ab humo surrexit. Utinam et vos, o regis, in his proelia, in quibus parentes vestri desudaverunt, exercimini, ut gentes, vestra pace conterritae, vestris viribus praemirentur! Recordamini, quid capud victuriarum vestrarum Chlodovechus fecerit, qui adversos reges interficet, noxias gentes elisit, patrias subiugavit, quarum regnum vobis integrum inlesumque reliquit! Übers. in Buchner 2000a, S. 277–279.

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moechus und machte sich eiligst aus dem Staub.66 Ein solch derbes Sujet hätte Sidonius wohl eher nicht zum Gegenstand seines Schreibens gemacht.

4.1.3 Gallien im 6. Jahrhundert 511 starb der fränkische König Chlodwig und hinterließ sein Reich seinen Söhnen, nachdem er zuvor fast ganz Gallien unter seine Herrschaft gebracht hatte. Seine vier Nachfolger, Theuderich, Chlodomer, Childebert und Chlothar, teilten das Reich ihres Vaters laut Gregor von Tours aequa lancea,67 was freilich eher im übertragenen als im konkreten Sinn zu verstehen ist. Denn die vier Teilreiche fielen keineswegs gleich groß aus.68 Dieser politische Kompromiss69 stattete jeden Königssohn jedoch mit einem eigenen Anteil an der Francia – als fränkische Kernregion im nördlichen Gallien – und an Aquitanien – als erst kürzlich von den Visigoten eroberten und möglicherweise noch nicht vollends befriedeten Raum – aus. Auch die Residenzstädte der Brüder, Reims, Orléans, Paris und Soissons, lagen vergleichsweise nah beieinander, so dass die Integrität des jungen Großreichs in gewisser Weise gewahrt blieb.70 Allerdings sorgte diese Konstellation keineswegs für Eintracht in der merowingischen Familie. Als Chlodomer starb,71 verhinderten seine Brüder die Nachfolge seiner Söhne und räumten ihre Neffen aus dem Weg.72 Auch Theudebert, der Sohn Theuderichs, konnte sich nach dem Tod seines Vaters zunächst nur mit Mühe der Übergriffe seiner Onkel erwehren.73 Indessen wurde das fränkische Territorium aber auch durch neue Eroberungen erweitert. Bis 534 wurden die Thüringer rechts des Rheins besiegt.74 Auch das Burgunderreich fiel dem Expansionsstreben der Merowingerkönige zum Opfer.75 Mit der Eroberung der Provence 537 wurde zudem der Zugang zum Mittelmeer und nach Italien eröffnet.76

66 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 13, S. 283 (die Zitate: Gregor, Hist. [Krusch/Levison 1951], VI, 13, S. 283). 67 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 1, S. 97: Defuncto igitur Chlodovecho regi, quattuor filii eius, id est Theudoricus, Chlodomeris, Childeberthus atque Chlothacharius, regnum eius accipiunt et inter se aequa lantia dividunt. 68 Vgl. den Rekonstruktionsversuch bei Ewig 1976b, S. 114–128. 69 Vgl. Wood 1977, S. 26; Becher 2009a, S. 186; Becher 2011, S. 273. 70 Vgl. insgesamt zuletzt Becher 2011, S. 270–274. 71 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 6, S. 103. 72 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 18, S. 117–120. 73 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 23, S. 122f. 74 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 7, S. 103–105. Vgl. hierzu und zum Folgenden u. a. Ewig 2012, S. 34–50; Hartmann 2012, S. 23–37; Becher 2009c, S. 14–21. 75 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 11, S. 107f. 76 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 21, S. 121.

4.1 Einführung

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Nachdem Theudebald, Theudeberts Sohn und Nachfolger, ebenso wie Childebert söhnelos gestorben war, fiel das Gesamtreich 558 an den letzten verbliebenen Chlodwigsohn Chlothar.77 Nach dessen Tod 561 wurde das Frankenreich erneut zwischen vier Söhnen geteilt, Charibert, Gunthram, Sigibert und deren Halbbruder Chilperich.78 Waren schon zuvor innerfamiliäre Auseinandersetzungen zwischen den merowingischen Königen häufig, so mündete diese Teilung in anhaltenden Bruderkriegen. Chilperich, unzufrieden mit der Größe des Reichsteils, der ihm zugefallen war, richtete sich schon bald gegen seine Halbbrüder.79 Doch nicht nur er war ein Quell der Unruhe, auch die anderen Brüder bekriegten sich untereinander.80 Die Feindseligkeiten intensivierten sich nach dem Tod des söhnelosen Charibert 567. Die drei verbliebenen Könige teilten zunächst das Reich ihres Bruders zwischen sich auf. Offensichtlich war allerdings wohl erneut besonders Chilperich mit dem ausgehandelten Ergebnis unzufrieden. Er eroberte Tours und Poitiers, die eigentlich Sigibert zugefallen waren. Dieser verbündete sich daraufhin mit Gunthram. Gemeinsam gelang es den beiden, die Städte zurückzugewinnen.81 Ihr Bündnis hielt allerdings nicht allzu lange, 573 zerstritten sie sich. Möglicherweise die Uneinigkeit der beiden ausnutzend, eroberte Chilperich erneut Tours und Poitiers.82 Doch bald sah er sich abermals in die Defensive gedrängt, bat um Frieden und erklärte sich bereit, die zuvor gewonnenen Städte zurückzugeben.83 Sigibert schien nun im Vorteil, noch bevor er allerdings wirklich davon profitieren konnte, wurde er durch zwei angeblich von Fredegunde, der Gemahlin König Chilperichs, gedungenen Mördern getötet.84 In der Folge verhinderten wechselnde Bündnisse zwischen den Königen oder deren Stellvertretern – Sigiberts Nachfolger Childebert II. war noch ein Kind85 – innere Unruhen und Aufstände in den Teilreichen, dass eine Partei entscheidende Siege davontragen konnte. Als Chilperich 584 Opfer einer Verschwörung wurde,86 folgte ihm nominell sein Sohn Chlothar II. im Kindesalter nach, was zunächst jedoch weder sein Onkel noch sein Vetter auszunutzen wussten. Wie zuvor vertraglich vereinbart,87 fiel Gunthrams gesamtes Reich mit seinem Tod 592 an seinen Neffen Childebert II.88 Dass dieser 596 starb,89 verhinderte wohl, dass sich diese Übermacht auszahlte. Erst 600 gelang es

77 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 20, S. 152. 78 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 21 f., S. 154f. 79 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 22 f., S. 154–156. 80 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 30, S. 162f. 81 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 45, S. 180. 82 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 47, S. 184. 83 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 49, S. 186f. 84 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 51, S. 187f. 85 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 1, S. 194. 86 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 46, S. 319–321. 87 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IX, 20, S. 434–439. 88 Vgl. Fredegar, Chron. (Krusch 1888), IV, 14, S. 127; Lib. hist. Franc. (Krusch 1888), 36, S. 304. 89 Vgl. Fredegar, Chron. (Krusch 1888), IV, 16, S. 127.

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seinen Söhnen und Nachfolgern Theudebert II. und Theuderich II., Chlothar II. entscheidend zu schlagen, der auf ein marginales Gebiet reduziert wurde.90

4.1.4 Der fränkische Episkopat Mit Karl Friedrich Stroheker ging die Forschung lange Zeit wie selbstverständlich davon aus, dass „im sechsten Jahrhundert die Bischöfe des Merowingerreiches in ihrer überwiegenden Mehrheit römischer Abstammung waren“.91 Nebenbei war mit diesem Befund auch die Prämisse verbunden, dass zum Ende des 5. Jahrhunderts [spätrömische] Aristokratie und Episkopat [. . .] in Gallien weitgehend zu einer Einheit zusammengewachsen [waren]. Sie vertraten die gleiche Schicht der Bevölkerung, sie hatten gemeinsame Interessen, Anschauungen und Ideale, sie waren beide die stärksten Stützen des Römertums in der politischen Auflösung des Westreichs. Seite an Seite haben sie darum den letzten Kampf des römischen Gallien gegen die Germanen ausgefochten.92

In der Folge wurden häufig „die hervorragenden Stellungen, die die Nachkommen der alten römischen und gallo-römischen senatorischen Familien vor allem innerhalb eines aktiven aristokratischen Episkopats gerade im fränkischen Reich eingenommen haben,“93 betont. Es wurde außerdem hervorgehoben, der fränkische Episkopat sei nachhaltig und kontinuierlich durch eine römische Oberschicht geprägt gewesen.94 Das Bild einer weitgehenden ‚Monopolisierung‘ des Episkopats durch eine römische Oberschicht im Frankenreich95 hat jedoch durch Untersuchungen Steffen Patzolds Risse bekommen. Schon aufgrund statistischer Erwägungen sei der ältere Befund zu korrigieren, tatsächlich lasse sich eine senatorische Abkunft von Bischöfen zwischen 4. und 7. Jahrhundert nur in 3–5 % der Fälle sicher nachweisen.96 Von diesen Einzelerscheinungen auf den Gesamtepsikopat zu schließen, ist problematisch.97 Im gleichen Zuge wäre damit auch der zweite bei Stroheker angedeutete und von der nachfolgenden Forschung (mindestens implizit) übernommene Leitsatz von der Bewahrung eines als römisch-aristokratisch verstandenen Selbstverständnisses im ‚Schutzraum Episkopat‘ abgewiesen.98 Patzold konstatiert entsprechend auch, auszugehen sei nicht von 90 Vgl. Fredegar, Chron. (Krusch 1888), IV, 20, S. 128. 91 Stroheker 1948, S. 110. 92 Stroheker 1948, S. 75. 93 Heinzelmann 1976, S. 244 f. 94 Vgl. etwa Prinz 1974, S. 7f.; Gassmann 1977, S. 227; Scheibelreiter 1983, S. 45–49; Baumgart 1995, S. 152; Jussen 1995, S. 684–687; Anton 1996, S. 465; Jussen 1998, S. 79. Vgl. auch die konzise Zusammenfassung bei Patzold 2010, S. 121–126. 95 Vgl. Jussen 1995, S. 686. 96 Vgl. Patzold 2010, S. 127f. Desgleichen: Patzold 2014a; Patzold 2014b; Walter/Patzold 2014. 97 Vgl. Patzold 2010, S. 129f. 98 Siehe auch 2.2.6 Christentum und Bischofsamt oben.

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„ein[em] kollektive[n] Handlungsmuster ‚der gallischen Reichsaristokratie‘ schlechthin, sondern [von] eine[r] spezifische[n] Handlungsweise einzelner Familien“.99 Zudem gibt es durchaus ausreichend Gegenbeispiele von Personen, die als Alternative zum Episkopat zivile oder militärische Positionen im Frankenreich bekleideten,100 die von den Quellen oder der Forschung – etwa mittels onomastischer Nachweisversuche – ebenfalls als ‚senatorisch‘ etikettiert werden. Bei all dem gilt es ohnehin zu bedenken, dass auch ein (zweifelsfrei erbrachter) Nachweis senatorischer Abkunft für sich genommen noch keinerlei Aussagen über das Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure zulässt. Höchst spekulativ wäre es zudem, auf einer solchen Grundlage von einem Gemeinschaftsgefühl der Nachkommen auszugehen, das noch dazu explizit als ‚römisch‘ gedacht werden sollte.

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor 4.2.1 Der Blick zurück: Das römische Reich Gregors Blick auf die Geschichte des römischen Reiches ist denkbar nüchtern.101 Von einer Verklärung ist jedenfalls nichts zu spüren. Fast gewinnt man den Eindruck, als sei das mächtige Reich nicht viel mehr als eine kurze Episode in seiner christlichen Weltgeschichte.102 Zunächst folgt Gregor in seiner Erzählung selbstverständlich dem israelitischen Volk. Den Römern wendet er sich erst mit ihrem sechsten König Servius zu, der ihm jedoch auch nicht mehr als eine Randnotiz in einer Liste wert ist: Tempore quo Amon regnabat super Iudeam, quando captivitas in Babilonia abiit, Macedoniis praeerat Argeus; [. . .] Romanorum sextus Servius.103 Für Gregor schließt sich darauf unmittelbar die Herrschaft des imperator primus Iulius Caesar104 an, den er allerdings wohl vor allem erwähnt, um darauf verweisen zu können, dass unter seinem Sohn Augustus Lyon in Gallien gegründet wurde, quae postea, inlustrata martyrum sanguine, nobilissima nuncupatur.105 In der Folge sind die Römer in Gregors Darstellung – zunächst beginnend mit Herodes106 bis zu Nero107 – in erster Linie Christenverfolger.108 99 Patzold 2010, S. 138; vor allem gegen Jussen 1995. 100 Vgl. Heather 1994, S. 187–197; van Dam 2005, S. 216f.; Jones 2009, S. 90–114. 101 Vgl. Reimitz 2015, S. 45. 102 Vgl. Goetz 2010, S. 261f.; Reimitz 2018, S. 292. 103 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 17, S. 16. 104 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 18, S. 16. 105 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 18, S. 17. 106 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 19, S. 17. 107 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 25, S. 20. 108 Vgl. insgesamt Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 24–35, S. 19–26. Vgl. auch Mitchell 2002, S. 297.

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Immerhin feliciter regierte dann Konstantin der Große.109 Dessen positive Einstellung gegenüber dem Christentum erwähnt Gregor jedoch nicht, viel wichtiger ist da die Geburt des heiligen Martin,110 dessen Wirken auch im Anschluss auffällig hervorgehoben wird: Damals ging auch schon unsere Sonne auf und erleuchtete Gallien mit neuen Strahlen des Lichts; zu jener Zeit nämlich hub der heilige Martinus in Gallien zu predigen an, tat durch viele Wunder unter dem Volke dar, daß Christus, der Sohn Gottes, wahrer Gott sei, und machte zuschanden den Unglauben der Heiden.111

Mit dem Tod des heiligen Martin endet das erste Buch,112 das Imperium bildet insgesamt eher die Staffage. Auch im zweiten Buch kommt dem Imperium Romanum kaum mehr als eine Nebenrolle zu. Das Kaisertum des Galliers Avitus ist Gregor noch eine Erwähnung wert,113 wohingegen ihn die Absetzung des Romulus Augustulus nicht interessiert. Der Fokus seines Berichts verengt sich auf die Ereignisse in Gallien, auf Visigoten, Franken und schließlich auf Chlodwig. Von einer etwaigen politischen Identifikation mit der Vergangenheit ist rund hundert Jahre nach dem nominellen Ende der Herrschaft des letzten weströmischen Kaisers in der Rekapitulation des Turoner Bischofs nichts zu spüren. Das römische Reich spielt in den restlichen acht Büchern seines Geschichtswerks keine Rolle mehr.114 Auch Fortunatus dient in seiner Dichtung die römische Vergangenheit als Randerscheinung bei der Inszenierung christlichen Martyriums wie im Fall des heiligen Saturninus.115 Wie in diesem Beispiel bezieht sich Fortunatus aber auch im

109 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 36, S. 26: Romanorum tricesimus quartus imperium obtinuit Constantinus, annis triginta regnans feliciter. 110 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 36, S. 26. 111 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 39, S. 27: Tunc iam et lumen nostrum exoritur, novisque lampadum radiis Gallia perlustratur, hoc est eo tempore beatissimus Martinus in Gallias praedicare exorsus est, qui Christum, Dei filium, per multa miracula verum Deum in populis declarans, gentilium incredulitatem avertit. Übers. in Buchner 2000a, S. 43. 112 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 48, S. 32–34. 113 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 11, S. 60 f. 114 Vgl. mit diesem Befund auch zuletzt Krutzler 2013, S. 515–523; Mathisen 2018, S. 266. Sicher ist es möglich, mit Reimitz 2015, S. 70–73 hier eine programmatische „deconstruction of the Romans“ (Reimitz 2015, S. 70) zu lesen (vgl. nochmals Reimitz 2016, S. 72–79; Reimitz 2018, S. 292–300), schlichtes Desinteresse auf Seiten Gregors mag jedoch eine ebenso große Rolle gespielt haben. Gewiss geht es ihm nicht um „Identitätsstiftung“, wie schon Plassmann 2006, S. 145 bemerkt, – weder fränkischen noch römischen Charakters. 115 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), II, 8, 11–13, S. 37: qui cum Romana properasset ab urbe Tolosam / et pia Christicoli semina ferret agri, / tunc vesana cohors domini conprendit amicum / instituitque pii membra terenda trahi.

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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Lobgedicht auf Bischof Felix von Nantes,116 cuius in ingenium hic nova Roma venit,117 auf die Stadt Rom, weniger auf das Imperium Romanum.118 Die einzige wirkliche Ausnahme liegt in Bezug auf den dux Lupus119 vor. Die Verleihung des Herzogamtes gab Fortunatus Anlass zu einem Gedicht, in dem er Lupus mit Scipio, Cato und Pompeius vergleicht: Scipio quod sapiens, Cato quod maturus agebat, / Pompeius felix, omnia solus habes. / illis consulibus Romana potentia fulsit, / te duce sed nobis hic modo Roma redit.120 Doch ist nicht die Beschwörung glorreicher römischer Vergangenheit Fortunatus’ Agenda, wie die ersten beiden Zeilen des Gedichtes verraten: Antiqui proceres et nomina celsa priorum / cedant cuncta, Lupi munere victa ducis.121 Hier werden eher Neubeginn und Überwindung (cedant cuncta) zelebriert, als dass dem Selbstverständnis einer römischen Oberschicht Ausdruck verliehen würde,122 zumal Lupus’ Würde schließlich auf den fränkischen König Sigibert zurückging.123 Insgesamt bleiben also auch in der Dichtung des Fortunatus die ausdrücklichen Verweise auf die römische Vergangenheit eher spärlich und indirekt. Weder für Gregor noch für Fortunatus war das römische Reich ein Sehnsuchtsort, dessen Untergang betrauert wird. In ihren Darstellungen basiert weder ihr eigenes Selbstverständnis auf dieser Vergangenheit, noch unterstellen sie dies den Akteurinnen und Akteuren, über die sie schreiben und dichten. Eine gemeinschaftsstiftende Funktion scheint vom politischen Erbe des Imperium Romanum für sie nicht auszugehen. Für den ‚Gallier‘ Gregor und den ‚Italier‘ Fortunatus waren das Frankenreich, die merowingischen Könige, Episkopat und Christentum die maßgeblichen Orientierungspunkte. Die Geschichte und das Schicksal des römischen Weltreichs erscheinen lediglich als weitgehend verdecktes Fundament.124

4.2.2 Die „Senatoren“ Die Bezeichnungen senator und senatores tauchen hin und wieder sowohl in der Dichtung des Fortunatus als auch in den Libri Historiarum Decem auf. Der Titel senator bezeichnete ursprünglich die Zugehörigkeit zum römischen Senat, wurde

116 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, 5, S. 481f. 117 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 8, 20, S. 58. Vgl. auch Näf 1995, S. 189. 118 Vgl. ähnlich (häufig mit dem Hinweis auf den Senat, siehe dazu auch das folgende Kap. unten) Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 18, 7f., S. 70; IV, 5, 8, S. 82; IV, 10, 7f., S. 86. 119 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, 1, S. 798 f. 120 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 7, 3–6, S. 159. Vgl. auch Näf 1995, S. 189; Buchberger 2016, S. 296; Buchberger 2017, S. 135. 121 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 7, 1f., S. 159. 122 In diesem Sinne aber die Deutung von Buchberger 2016, S. 295–298; Buchberger 2017, S. 134–136. 123 Vgl. dazu George 1992, S. 79 f. 124 Vgl. in diesem Sinne auch Esders 2015, S. 431.

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allerdings in der Spätantike auch innerhalb einer Familie vererbt, ohne dass die Nachkommen tatsächlich Senatsmitglieder gewesen wären.125 Gregor von Tours selbst erwähnt in seinem „Buch des Lebens der Väter“, seine Vorfahren hätten zu den primoribus senatoribus gehört.126 In seinem Geschichtswerk ist ihm dann allerdings der Hinweis wichtiger, dass seine Ahnen Bischöfe von Tours gewesen seien.127 Fortunatus nimmt eine senatorische Abstammung zumindest nicht für sich in Anspruch,128 verfügt also möglicherweise gleichsam über den Blick von außen.129 Bei Fortunatus’ Gedichten und Epitaphien handelt es sich naturgemäß in der Regel um individuelles Lob einzelner Personen. Tatsächlich ausdrücklich als senator im Sinne einer Standesbezeichnung wird jedoch niemand tituliert. Häufiger (aber insgesamt nicht zahlreich) sind Umschreibungen, die eine senatorische Abstammung kenntlich machen.130 Nur in einem Fall wird dabei zudem ein zeitgenössischer Bezug vermittelt. Über den im Kindesalter verstorbenen Sohn des Leontius von Bordeaux,131 Arcadius,132 heißt es bei Fortunatus, veniens de prole senatus.133 Ihren aktuellen Bezug gewinnt die Stelle nur aus dem Zusammenspiel mit einem Gedicht über den Vater im gleichen Buch, in dem es wiederum über Leontius heißt: nobilitas altum ducens ab origine nomen, / quale genus Romae forte senatus habet.134 Bei genauerem Hinsehen wird jedoch auch hier Leontius nicht etwa direkt als Senator bezeichnet, sondern es wird ein Vergleich (quale) angestellt, der zudem noch eingeschränkt wird (forte).135 Grundsätzlich will es scheinen, dass die senatorische Würde von Fortunatus eher indirekt angedeutet und ‚verliehen‘,136 stärker auf die Vergangenheit der Familien seiner Adressaten bezogen137 oder in eine christliche Sphäre verschoben wird, als dass damit ein realer gesellschaftlicher Stand beschrieben würde.138 Eine solche ‚senatorische Würde‘ wirkt fast mehr als

125 Siehe auch 1.1 Begriffe oben. 126 Gregor, Lib. vit. pat. (Krusch 1969), VI, 1, S. 230. 127 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 49, S. 262: [. . .] quod praeter quinque episcopos reliqui omnes, qui sacerdotium Turonicum susceperunt, parentum nostrorum prosapiae sunt coniuncti. 128 Vgl. George 1992, S. 18f. 129 Vgl. Näf 1995, S. 190. 130 Vgl. Näf 1995, S. 188. 131 Zu Leontius siehe 4.2.5 Nobilitas: Barbarisch und Römisch unten. 132 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 105. 133 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 17, 3, S. 90. 134 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 10, 7f., S. 86. 135 Vgl. ebenfalls diese Einschränkung andeutend Buchberger 2016, S. 298f. 136 Vgl. auch Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 18, 7–9, S. 70. 137 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 12, 1–10, S. 165: Tempora lapsa volant, fugitivis fallimur horis, / [. . .] imperiale caput, regnum trahit, aeque senatum, / nec spectante die, cum venit, hora rapit. 138 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 5, 19f., S. 83; VIII, 3, 19, S. 181; X, 6, 96, S. 237.

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schmeichelnde Eigenschaft denn als lebensweltlicher Standesbegriff, obwohl ein solches Verständnis – wohl aufgrund Fortunatus’ italischer Erziehung – hin und wieder durchschimmert. Als wirklich zeitgenössische gallische Gruppe werden die ‚Senatoren‘ in seinem Werk jedoch nicht inszeniert.139 Gregor von Tours hingegen nutzt die Bezeichnungen senator und den Hinweis auf senatorische Abstammung auf andere Weise als Fortunatus, was auf die bereits angedeutete Fragmentierung des historischen Diskursraums hinweist. In den Abschnitten seiner Weltgeschichte, in denen Gregor über die Zeit berichtet, in der römisches Imperium und Senat noch ein politischer Faktor waren, inszeniert er die senatores Galliens zunächst noch als heidnische Götzendiener.140 In der Folge schildert er aber etwa auch die Geschichte eines Mannes de senatoribus Arvernis141 und seiner Frau, die ihre Ehe christlicher Enthaltsamkeit widmeten.142 Dass sich die Eltern der beiden Eheleute durch die dann kinderlose Verbindung eigentlich erhofft hatten, ad propagandam generationem [. . .], ne recedentibus de mundo succederet heres extraneus,143 könnte bereits auf eine von Gregor empfundene Diskontinuität eines explizit römisch konnotierten senatorischen Standes im Vergleich zwischen Vergangenheit und eigener Gegenwart hindeuten. Kaiser Avitus ist in der Folge ebenfalls prominent von Gregor als unus ex senatoribus gekennzeichnet. Allerdings scheint dessen Herkunft aus der Auvergne (civis Arvernus) für den Geschichtsschreiber wichtiger zu sein, was er noch durch den Einschub – valde manefestum est – hervorhebt.144 Freilich schildert Gregor ebenso, dass schließlich andere senatores und die Missgunst des senatus für Avitus’ Sturz sorgten. Durch seine Heirat mit der kaiserlichen Tochter ist Sidonius Apollinaris ihm natürlich ebenso de primis Galliarum senatoribus.145 Auch unter seinen Vorgängern auf dem Bischofssitz von Tours nennt Gregor einige Personen ex genere senatorio.146 Ansonsten tauchen Senatoren im städtischen Kontext auf, wie Eucherius, ein senator, der in Clermont von Victorius ermordet wurde.147 Gleich eine ganze

139 Vgl. Näf 1995, S. 190. 140 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 31, S. 24: Senatores vero vel reliqui meliores loci [Bourges] fanaticis erant tunc cultibus obligati. Vgl. dazu auch Reimitz 2015, S. 72f. 141 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 47, S. 30. 142 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 47, S. 30f. 143 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 47, S. 31. 144 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 11, S. 60f. (die Zitate: Gregor, Hist. [Krusch/Levison 1951], II, 11, S. 60). 145 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 21, S. 67 und nochmals 22, S. 67. 146 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 529–534. Vgl. zur senatorischen Herkunft anderer Bischöfe u. a. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 13, S. 62; III, 17, S. 117; V, 45, S. 254–256; VI, 7, S. 277; 39, S. 310; VIII, 39, S. 406. 147 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 20, S. 65f. Zu Eucherius und Victorius siehe 2.2.1 Weltliches Amt oben.

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Gruppe senatores von Vienne wurde zudem Opfer innerburgundischer Auseinandersetzungen, wie Gregor ohne rechte Anteilnahme verzeichnet.148 Unter merowingischer Herrschaft fällt im dritten Buch Gregors vor allem Arcadius149 auf, unus ex senatoribus Arvernis.150 Dieser sorgte besonders in der Auvergne für Unruhe, indem er sich gegen seinen König Theuderich wandte und dessen Bruder Childebert aufforderte, Clermont zu erobern.151 Um den Frieden wieder herzustellen, schlossen die beiden Merowinger jedoch ein Bündnis, das nach Gregors Worten auch den Austausch „vieler Söhne von Senatoren als Geiseln“ vorsah (multi tunc fili senatorum in hac obsidione dati sunt).152 Seine eigenen Vorfahren freilich zählt Gregor andernorts ebenfalls zu den primoribus senatoribus [. . .], ut in Galliis nihil inveniatur esse generosius atque nobilius.153 Mit explizit römischer nobilitas ist die senatorische Würde jedoch für Gregor nur in der Vergangenheit verbunden, etwa zu Zeiten des heiligen Martin. Damals (tunc) seien die senatores von Clermont noch durch ihren Stammbaum nobilitatis Romanae ausgezeichnet gewesen, betont er ausdrücklich.154 In Berichten aus seiner eigenen Gegenwart lässt Gregor senatores allerdings selten in Gruppen155 und häufiger einzeln in Erscheinung treten,156 zumeist als städtische und weitgehend von einander isolierte Eliten, ohne dass diese noch zusätzlich ethnisch als römisch gekennzeichnet würden.157 Mit dem Blick auf die Werke des Fortunatus und des Gregor von Tours ist somit ein gewisser Unterschied in der Benutzung des Begriffes senator und der Zuschreibung senatorischer Abstammung auszumachen. Der historische Diskursraum erscheint in dieser Beziehung fragmentiert. Fortunatus nutzt das Motiv zur poetischen Überhöhung seiner Adressaten, ohne dass dabei eine konkrete Verbindung zu tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen hergestellt würde. Gregor ist in seinem Gebrauch durchaus praktischer, für ihn scheinen die Senatoren und ihre Nachkommen auch zu seinen eigenen Zeiten noch einen Sitz im gallischen Leben zu haben. Ein einheitliches Bild einer eigenen und geschlossenen

148 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 33, S. 81. 149 Vgl. Heinzelmann 1982, 2, S. 559. 150 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 9, S. 106. 151 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 12, S. 108. Arcadius war später auch in die Ermordung der Söhne Chlodomers involviert (vgl. Gregor, Hist. [Krusch/Levison 1951], III, 18, S. 118f.; siehe auch 4.1.3 Gallien im 6. Jahrhundert oben). 152 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 15, S. 112. 153 Siehe Anm. 126 und auch 3.5 Viten oben. Ähnliches berichtet Gregor auch über seinen Lehrer Gallus, dessen Eltern und weitere Personen (vgl. Gregor, Lib. vit. pat. [Krusch 1969], VI, praef., S. 230; VI, 1, S. 230; I, 1, S. 214; IV, 3, S. 225; VIII, 1, S. 241; XIV, 3, S. 270). 154 Gregor, Liber in gloria confessorum (Krusch 1969), 5, S. 301. 155 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 13, S. 144; VI, 9, S. 279. 156 Vgl. u. a. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 35, S. 167; 46, S. 181; VI, 11, S. 281. 157 Mit diesem Fazit letztlich auch Buchberger 2017, S. 179.

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Gesellschaftsschicht entwirft er dabei jedoch nicht.158 In Fortunatus’ Würdigungen ist der Bezug zur römischen Vergangenheit deutlich hergestellt, was als poetisches Mittel genutzt zusätzlich zur Verklärung seines Lobes beiträgt. Im Gegensatz dazu erscheint die senatorische Würde in Gregors Berichten über seine eigene Gegenwart wie abgekoppelt von der Vergangenheit und bleibt ohne explizit ethnisch-römischen Bezug.159 Möglicherweise lag dies in der Tatsache begründet, dass viele gallische ‚Senatoren‘ des 6. Jahrhunderts gar keine Nachkommen römischer Adelsfamilien gewesen waren, sondern neureiche Landbesitzer, ehemalige städtische Sub-Eliten160 und Emporkömmlinge, wie Frank Gilliard vermutet hat.161 Auch wenn Gilliards These angezweifelt worden ist,162 so steht dennoch fest, dass sich in Gregors Darstellung der ‚Senatoren‘ und von Akteuren, denen senatorische Abstammung zugeschrieben wird, keine Spuren eines übergeordneten römisch markierten Selbstverständnisses einer pan-gallischen Gruppe ausmachen lassen.163 Insgesamt liefern Fortunatus und Gregor mit Blick auf ein mögliches senatorisches Selbstverständnis nicht das Bild eines kohärenten historischen Diskursraums, sondern verhalten sich komplementär. Wo Fortunatus keinen wirklichen Bezug zur eigenen Gegenwart transportiert, verzichtet Gregor auf eine Anbindung an die Romanitas des Senatorenstandes. Gemeinsam haben jedoch beide, dass weder der eine noch der andere den Eindruck einer geschlossen senatorischen Oberschicht im Gallien des 6. Jahrhunderts vermitteln, die über ein gemeinsames Selbstverständnis verfügt hätte. Brian Brennan ist in seiner Schlussfolgerung sicher zu zustimmen, „that the senators of sixth-centuy Gaul were not as important as they may at first appear“,164 allerdings wird man seine Grundannahme etwas modifizieren müssen. Brennans Beobachtung trifft nicht etwa zu, weil die politische Bedeutung des Senatorenstandes durch die Umwälzungen des 5. und 6. Jahrhunderts marginalisiert worden wäre und er sich – repräsentiert durch Gregor von Tours – in einer „siege mentality“165 befunden hätte, sondern aufgrund der Tatsache, dass die gesellschaftliche Kohäsion der Gruppe zum Ende des 6. Jahrhunderts schon längst nicht mehr gegeben war. Dies lässt sich gerade auch im historischen Diskursraum dieser Zeit wahrnehmen, in dem die ‚Senatoren‘ keineswegs als geschlossene politische

158 Zum disparaten Bild vgl. Näf 1995, S. 178–184; Buchberger 2017, S. 114–119. 159 Vgl. ebenfalls (noch zu) vorsichtig vor der Unterstellung warnend, Gregor habe in seiner Gegenwart von ihm ausgewiesene senatorische Abstammung zwangsweise als ethnisch ‚römisch‘ verstanden, Buchberger 2017, S. 119, 131. Stroheker 1942, S. 11 begriff diesen Konnex noch als eine „Selbstverständlichkeit“, die keiner näheren Begründung bedürfe. 160 Vgl. zur Bedeutung der civitas auch Lewis 2000. 161 Vgl. Gilliard 1979. 162 Vgl. Brennan 1985a. 163 Vgl. etwa auch den Überblick bei Jones 2009, S. 82f. über die große Varianzbreite der alternativen Begriffe, die im 6. Jahrhundert als Synonyme der elitären Markierung senator dienen konnten. 164 Brennan 1985a, S. 159. 165 Brennan 1985a, S. 159.

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Gruppe oder auch nur als fraktionierte Großgruppe im Frankenreich auftraten, wahrgenommen oder beschrieben wurden.166

4.2.3 Amt und Landbesitz Weltliches Amt und Landbesitz als „social marker“ politischer und sozialer Eliten tauchen sowohl in Gregors als auch in Fortunatus’ Werk auf.167 Als Kennzeichen eines besonderen römischen Selbstverständnisses werden jedoch auch sie nicht inszeniert. Schon zu Anfang des 6. Jahrhunderts ist für Gregor die weltliche Karriere klar mit der Nähe zum König verbunden, mit dem man es sich gut halten sollte.168 In gewisser Weise war man damit auch dem Zufall, den Launen des Herrschers oder der List von Emporkömmlingen ausgeliefert, wie Gregor im Fall des Celsus169 demonstriert. So setzte König Gunthram etwa, nachdem er die Herrschaft über seinen Reichsteil angetreten hatte, kurzerhand den bisherigen patricius Agroecola170 ab und teilte den patriciatus stattdessen Celsus zu, der in der Folge jedoch ein wenig ehrenvolles Verhalten an den Tag legte und sich selbst nach Kräften auf Kosten der Kirche zu bereichern strebte, wie Gregor kritisch vermerkt.171 König Gunthram diente Celsus allerdings offenbar recht gut. Zumindest schickte er ihn einem Heer seines Bruders Sigibert entgegen, das sich unter Führung des comes von Clermont, Firminus,172 Arles einverleibt hatte.173

166 Weiterhin vom „senatorischen Adel“ zu sprechen oder vergleichbare Umschreibungen für das Gallien des 6. Jahrhunderts zu verwenden, wäre daher irreführend. Vgl. letztlich immer noch den Ton der Forschung vorgebend Stroheker 1948; entsprechend ähnlich Näf 1995 und letztlich auch Mathisen 1993, der schon durch seinen Untertitel – „strategies of survival“ – metaphorisch nach ethnischer Kontinuität fahndet, in dem die Oberschicht mit einem biologischen Körper gleichgesetzt wird, der „überleben“ kann. Vgl. genauso auch mit der „Geburt“ als biologische Metapher bei Werner 1998. 167 Vgl. zum Folgenden auch den Überblick der diesbezüglichen gesellschaftlichen Verhältnisse im Merowingerreich bei Jones 2009, S. 94–114. 168 Vgl. Näf 1995, S. 184. 169 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, 2, S. 277. 170 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, Agricola 2, S. 31. 171 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 24, S. 156: Cum autem Gunthchramnus rex regnum partem, sicut fratris sui, obtenuisset, amoto Agroecola patricio, Celsum patriciatus honori donavit, virum procerum statu, in scapulis validum, lacertu robustum, in verbis tumidum, in responsis oportunum, iuris lectione peritum; cui tanta deinceps habendi cupiditas extitit, ut saepius aeclesiarum res auferens suis ditionibus subiugaret. 172 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, 1, S. 484 f. Zu Firminus vgl. außerdem Gregor, Hist. (Krusch/ Levison 1951), IV, 13, S. 144 f.; 35, S. 167f. 173 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 30, S. 162f.

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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Gregor weiß außerdem immer wieder von Streitigkeiten zwischen weltlichen und geistlichen Amtsträgern zu berichten. So erhielt Palladius,174 Britiani quondam comites ac Caesariae filius,175 etwa von König Sigibert das comes-Amt der Stadt Javols übertragen, geriet aber mit Bischof Parthenius in einen größeren Streit, der auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wurde (sed orta intentio inter ipsum Partheniumque episcopum valde populum conlidebat).176 Als Palladius daraufhin abberufen wurde, bemühte sich ein gewisser Romanus177 ihm nachzufolgen (Romanus vero comitatum ambivit).178 In Clermont kam es zwischen den beiden darüber zum Streit. Durch das Streuen falscher Gerüchte trieb Romanus seinen Konkurrenten schließlich in den Selbstmord.179 Möglicherweise auch wegen dieser strukturellen Konkurrenz der nominellen Stadtherren, comes und Bischof, erscheinen Gregors Schilderungen weltlicher Pflichterfüllung vergleichsweise nüchtern, zumal er sich selbst ähnlicher Nachstellungen vor allem durch den comes Leudast180 erwehren musste.181 Allerdings konnten weltliche Karrieren auch anders verlaufen. Nicetius,182 der per emissionem183 eines Konkurrenten das comes-Amt von Clermont verloren hatte, erkaufte sich stattdessen den Titel eines dux184: Et sic in urbe Arverna, Rutena atque Ucetica dux ordinatus est, vir valde aetate iuvenis, sed acutus in sensu, fecitque pacem in regionem Arverna vel in reliqua ordinationis suae loca.185 Das Bild, das Gregor so insgesamt entwirft, ist nicht das einer (theoretisch) sukzessive abzuschreitenden Laufbahn, wie ihn etwa der klassisch-römische cursus honorum als Ideal in würdevoller Weise bereitgestellt hätte. An ihn finden sich in der Darstellung des Bischofs von Tours keine Reminiszenzen. Vielmehr scheint die Karriere im Frankenreich vor allem vom jeweiligen König abzuhängen, wie auch Fortunatus zeigt. Auf welchem Wege auch immer Lupus zum dux der Champagne aufstieg, er ließ sich zu diesem Anlass vom Dichter

174 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, 3, S. 961. 175 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 39, S. 170. 176 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 39, S. 170. 177 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, 3, S. 1090 f. 178 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 39, S. 171. 179 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 39, S. 171. Auch an anderen Stellen berichtet Gregor von ähnlichen Konkurrenzen, die aus den Ab- und Einsetzungen der merowingischen Könige resultierten. Vgl. u. a. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 43, S. 177f.; V, 36, S. 242 f.; IX, 7, S. 420. 180 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, S. 786–788. 181 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 47–49, S. 257–263; VI, 32, S. 302–304. 182 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, 3, S. 945. 183 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VIII, 18, S. 385. 184 Jüngst geht Zerjadtke 2019, bes. S. 329 entschieden davon aus, dass es sich beim gentilen duxAmt nicht um eine Fortsetzung der römischen Institution handelt. 185 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VIII, 18, S. 385.

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feiern.186 Fortunatus preist Lupus’ Charaktereigenschaften, die ganz der Romanitas entsprechen.187 Ein solches Lob weltlicher Amtsträger findet sich bei Gregor in vergleichbarer Form nicht, was erneut auf die fragmentierte Natur des historischen Diskursraums im Frankenreich des späten 6. Jahrhunderts hindeutet. Freilich hatte sich auch Lupus mit Feinden auseinanderzusetzen, wie wiederum der Geschichtsschreiber berichtet.188 Im Falle eines Gedichts zu Ehren Gogos189 macht dann auch Fortunatus deutlich, dass weltliche Würden letztlich vor allem auf die Könige zurückgingen, die sie verliehen: principis arbitrio Sigibercthi magnus haberis.190 Zwar steht bei Fortunatus hier das Lob noch in der Tradition der Feier der Romanitas, was Motivik und metaphorischen Stil angeht, das weltliche Amt erscheint allerdings auf den König ausgerichtet.191 Damit mag zwar eine gewisse Kontinuität auf der Ebene des Signifikanten – Stil, Form und Motivik – bei der Wertschätzung des weltlichen Amtes im Vergleich mit der Zeit des Imperium Romanum beobachtet werden, das Signifikat – die gesellschaftlichen Verhältnisse – hatten sich im Frankenreich jedoch gewandelt.192 Wenn Alexander Murray bemerkt, die Texte des Gregor von Tours und des Venantius Fortunatus schilderten für das späte 6. Jahrhundert ein „thoroughly Romanized regime“,193 so ist diese „Romanisierung“ wohl eher ein Produkt der Wahrnehmung oder einer verkürzenden Beschreibung der Forschung als die Perzeption der beiden Zeitgenossen. Gerade die weitgehende Beibehaltung alter Ämter und Strukturen in der Gesellschaft des Merowingerreichs194 verhinderte offenbar, dass die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen diese noch als dezidiert ‚römisch‘ wahrgenommen oder beschrieben hätten.195 Letztlich darf ähnliches auch für den „social marker“ des Landbesitzes angenommen werden: Als Auszeichnung einer spezifisch römischen Oberschicht konnte auch der Besitz von Land im Frankenreich nicht mehr herhalten. Von ländlicher

186 Siehe zu Lupus auch 4.2.1 Der Blick zurück: Das römische Reich oben. 187 Siehe Anm. 120 oben. Besonders deutlich auch in Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 7, 45, S. 160: antiquos animos Romanae stirpis adeptus. 188 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 4, S. 267f. 189 Siehe auch 3.3 Epistolae Austrasicae oben. 190 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 1, 35, S. 154. Vgl. auch etwa George 1992, S. 137–139. 191 Vgl. auch eine ähnliche Mischung aus cursus honorum und Königsnähe in Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 16, S. 170–172. Vgl. dazu auch Brennan 1985a, S. 157. 192 Heather 1999, S. 251: „The presentation of the new order in the clothes of the old empire helped to render it acceptable, and encouraged the participation in the new world of those who had dominated the old.“ 193 Murray 1998, S. 73. 194 Vgl. z. B. Bachrach 1995, S. 9 f.; Murray 1998; Goetz 2003, S. 332–334; Murray 2006. 195 So kommt etwa Gregor „offensichtlich überhaupt nicht die Idee, daß das Reich, in dem er selbst lebt, auf irgendeine Art erklärungsbedürftig sei“ (Plassmann 2006, S. 145).

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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Idylle und Luxus wie in den Briefen des Sidonius Apollinaris196 ist bei Gregor von Tours jedenfalls nichts zu spüren.197 Stattdessen ist auch der Landbesitz Anlass für Streit und Hader wie im 32. Kapitel des achten Buches dargestellt. Die begüterte Witwe Domnola198 konnte sich nicht etwa an ihren Weingütern erfreuen, sondern lag deswegen mit Bobolen,199 einem Günstling der Fredegunde, im Streit. Schließlich fiel er sogar in das Land der Witwe ein, sie wurde erschlagen und Bobolen bemächtigte sich ihres Besitzes.200 Bei Fortunatus findet sich immerhin eine Serie von drei Gedichten201 über die Landgüter des Leontius von Bordeaux,202 die allerdings eine Ausnahme in seinem Werk darstellt.203 Auch hier werden also die Unterschiede zwischen Dichter und Geschichtsschreiber augenfällig. Leontius betätigte sich als Bauherr und ließ praetoria grata204 in klassischem Stil (partibus atque tribus porticus aequa subit)205 erbauen, das ihm dann zum Ruhm gereichte und seine Gäste in nova balnea in prisco cultu erfrischte.206 Auch ein zweites Landgut sei durch den harmonischen Einklang von Natur und Bauwerken geprägt gewesen: colle sedet medio domus aedificata decenter, / cuius utrumque latus hinc iacet, inde tumet, / machina celsa casae triplici suspenditur arcu, / quo pelagi pictas currere credis aquas.207 Die weiteren Besitzungen des Leontius erscheinen ebenso lobenswert: nam quod pulchra domus, quod grata lavacra nitescunt, / consolidatorem te cecinere suum.208

4.2.4 Amicitia und Briefverkehr Ein deutliches Anzeichen für eine Latenz der Romanitas209 ist der anhaltende Briefverkehr im Frankenreich, der in einer ähnlichen Form zur Aufrechterhaltung von

196 Siehe 2.2.4 Luxus oben. 197 Vgl. auch zum analogen archäologischen Befund zusammenfassend Wickham 2005, S. 201f. 198 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 418. 199 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 235 200 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VIII, 32, S. 401: Tunc ille, commota seditione, super eam cum armatis viris inruit. Qua interfecta, vineas vindecavit resque deripuit et tam viros quam mulieres qui cum ea erant interfecit gladio, nec remansit ex his, nisi qui fuga labi potuit. 201 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 18–20, S. 22f. 202 Zu Leontius siehe 4.2.5 Nobilitas: Barbarisch und Römisch unten. 203 Vgl. dazu auch George 1992, S. 108–113; Brennan 1992, S. 121f. 204 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 18, 7, S. 22. 205 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 18, 8, S. 22. 206 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 18, 15f., S. 22: reddidit interea prisco nova balnea cultu, / quo recreant fessos blanda lavacra viros. 207 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 18, 19, 7–10, S. 22f. 208 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 18, 20, 21f., S. 23. 209 Siehe zur näheren Erläuterung 4.3 Latenzrömer unten.

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Freundschaftsnetzwerken diente wie schon Generationen zuvor.210 Allerdings sind regelrechte Briefsammlungen von Einzelpersonen wie die des Sidonius, des Ruricius oder des Avitus aus dem späteren 6. Jahrhundert nicht mehr überliefert – das Interesse an ihnen oder ihre Überlieferungschance waren also wohl gesunken. Dies könnte auf einen gefallenen Stellenwert der Briefsammlungen in der Gesellschaft des Frankenreichs hindeuten, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass es Ende des 6. Jahrhunderts eben keine gesellschaftliche Elite mehr gab, die mit diesem Medium ihr „self-fashioning“211 und ein explizit als ‚römisch‘ charakterisiertes Selbstverständnis verband. Dennoch liefern etwa die Epistolae Austrasicae noch einen hybriden Einblick in den Fortbestand dieser Praxis.212 Eine Briefsammlung des Ferreolus von Uzès,213 quasi Sidonium secutus,214 ist nicht auf uns gekommen. Auch Gregor muss ein fleißiger Briefschreiber gewesen sein, Fortunatus war es ganz bestimmt.215 Der Dichter schrieb Briefe und Versepisteln in der Tradition der klassischen Freundschaftskorrespondenz der Spätantike216: Bischof Eufronius, Gregors Vorgänger,217 ist Fortunatus nah, nur der Ort trenne sie, nicht ihr gemeinsamer Geist, da Fortunatus den Freund immer im Inneren behalte.218 Auch dem dux Lupus219 dankt er mit Versen für einen Brief.220 Außerdem schickte Fortunatus Aufforderungen zur Korrespondenz an seine Freunde221 wie an Flavius,222 fotus amicitiae te ut pagina saepe requirat.223 Wenn Fortunatus Flavius zudem spielerisch stichelnd fragt, ob er sich vor der surrenden lingua des Romulus ekle und stattdessen lieber auf Hebräisch, mit Achaemeniis signis, auf Griechisch oder mit barbarischen Runen schreiben wolle,224

210 Vgl. zusammenfassend in Bezug auf die Funktion der amicitia Epp 1999, S. 302f.; exemplifiziert am Werk des Fortunatus: Williard 2014. 211 Siehe dazu 1.3 Methodik und Weg und für die Zeit des späten 5. und frühen 6. Jahrhunderts 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben. 212 Siehe 3.3 Epistolae Austrasicae oben. 213 Vgl. Heinzelmann 1982, 3, S. 608. 214 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 7, S. 276. 215 Vgl. etwa die an Gregor gerichteten Gedichte des Fortunatus, die teilweise brieflichen Charakter haben, Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VIII, 14, S. 198; 17, S. 199; 19–21, S. 199 f.; IX, 6 f., S. 211–214. 216 Siehe 2.2.3 Amicitia oben. Vgl. auch Wood 1994b, S. 26f.; Wood 2000, S. 435f. 217 Siehe Anm. 48 oben. 218 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 1, 1, S. 49: qui quamvis in altera commorer civitate, novit deus quia [a] vobis absens sum tantummodo loco, non animo; et quocumque fuero, intra me vos clausos habebo. 219 Siehe die vorherigen Kap. oben. 220 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 9, S. 163f. 221 Vgl. auch etwa Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 11, S. 165. 222 Vgl. möglicherweise Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 487. 223 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 18, 7, S. 173. 224 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 18, 15–20, S. 173: an tua Romuleum fastidit lingua susurrum? / quaeso vel Hebraicis reddito verba notis. / doctus Achaemeniis quae vis perscribito

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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lässt dies an Sidonius’ Sorge um die Reinheit der lateinischen Sprache denken,225 freilich ohne dass in Fortunatus’ Versen noch eine vergleichbare Dringlichkeit und Existentialität mitschwänge wie rund drei Generationen zuvor. Ansonsten bleiben die Bekundungen der amicitia des Fortunatus aber weitgehend frei von ethnischen Aufladungen226 und entwickeln kaum einen ähnlich starken sozial-formativen Charakter wie die Vorgänger aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts.

4.2.5 Nobilitas: Barbarisch und Römisch Der „Barbar“ ist im Werk des Fortunatus zunächst ein Motiv aus dem Bereich der Lyrik selbst. Er steht für den unmusischen Menschen, der etwa nur barbarische Lieder mit der Harfe hervorbringt.227 Ein traditionelles Barbarenbild lebt in Fortunatus’ Werk in der klassischen Gegenüberstellung von barbarus und romanus aber ebenfalls auf.228 Im Lobgedicht auf König Charibert bejubeln ihn barbaries wie Romania.229 Der fränkische König selbst wird mit Kaiser Trajan und anderen Römern verglichen,230 hat viele Charakterzüge der Romanitas, stammt zwar clara de gente Sigamber, ist aber in seiner lateinischen Beredsamkeit (eloquio lingua Latina tuo) sogar den Römern überlegen.231 Im Fall der poetischen Darstellung Chariberts vermischen sich also im Herrscher barbarische und römische Attribute.232 Außerdem zeichnet er sich durch seine edle Abstammung aus.233 In einem pejorativen Sinn ist die Erwähnung einer barbarischen Herkunft also bei Fortunatus nicht in jedem Kontext zu

signis, / aut magis Argolico pange canora sopho. / barbara fraxineis pingatur rhuna tabellis, / quodque papyrus agit virgula plana valet. 225 Siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache oben. 226 Vgl. etwa Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 19, S. 173; IX, 13, S. 217f. 227 Siehe Anm. 25 u. 224 oben. Vgl. außerdem Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 8, 63 u. 69, S. 163. 228 Vgl. auch Stadermann 2017, S. 250–253. 229 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VI, 2, 7, S. 131: hine cui barbaries, illinc Romania plaudit. 230 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VI, 2, 81–84, S. 133. 231 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VI, 2, 97–100, S. 133: cum sis progenitus clara de gente Sigamber, / floret in eloquio lingua Latina tuo. / qualis es in propria docto sermone loquella, / qui nos Romanos vincis in eloquio? Auch für dux Chrodin (vgl. Martindale [Hrsg.] 1992a, S. 312f.) gilt laut Fortunatus: gentibus adstrictus, Romanis carus haberis (Venantius Fortunatus, Carm. [Leo 1881], IX, 16, 19, S. 220; vgl. auch Reimitz 2015, S. 92f.). 232 Vgl. dazu Buchberger 2016, S. 301–303; Buchberger 2017, S. 140–142, die darin – George 1992, S. 43–48 folgend – den gesellschaftlichen Konsens der Bevölkerungsgruppen unter der Herrschaft Chariberts ausgedrückt sieht. Vgl. auch ähnlich Reimitz 2015, S. 90. 233 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VI, 2, 27f., S. 131: maxima progenies, generosa luce coruscans, / cuius ab excelsis gloria currit avis.

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4 Fragmentierter Raum

verstehen,234 dass eine Person trotzdem über ‚römische‘ Tugend verfügen konnte, ist noch dazu keineswegs ausgeschlossen. Dass man sich in den Augen des Fortunatus das Römertum – zumindest im Raum des Poetischen – durch entsprechende Eigenschaften und adäquates Verhalten geradezu erwerben konnte, zeigen auch seine Gedichte über Vilithuta235 und den dux Launebod.236 Über die früh verstorbene Pariserin Vilithuta, sanguine nobilium generata,237 heißt es idealisierend, sie sei zwar von barbarischem Geschlecht, aber ihrem Bestreben nach römisch (Romana studio, barbara prole fuit).238 Romanitas kann also auch jenseits der Geburt erworben werden, was das harte Kriterium der Abstammung aufweicht. Die nobilis Vilithuta habe jedenfalls erfolgreich ihre natura bezwungen (vincere).239 Ähnlich liegt der Fall bei Launebod. Bei ihm sind es seine Taten, die ihn gleichsam zum ‚Römer‘ machen. Er ließ eine Kirche errichten, was – so vermerkt Fortunatus – eigentlich eine Aufgabe der Romana gens gewesen wäre und die nun von einem vir barbarica prole erledigt wurde.240 Aber auch die reine römische nobilitas durch Abstammung feiert Fortunatus. Wohl das beste Beispiel liefert der schon mehrfach erwähnte Leontius von Bordeaux.241 Er gehöre zu den ersten Bürgern Galliens, so Fortunatus,242 und die nobilitas seiner Vorfahren wird vom Dichter zusätzlich wortreich hervorgehoben.243 Ein ähnlich nobler Stammbaum wird auch Bischof Felix von Nantes244

234 Vgl. auch Wood 2011, S. 47. 235 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, S. 1377. 236 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, S. 765f. 237 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 26, 13, S. 95. 238 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 26, 14, S. 95. 239 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 26, 15f., S. 95: ingenium mitem torva de gente trahebat: / vincere naturam gloria maior erat. Vgl. zu diesem Gedicht und zum flexiblen Spiel ethnischer Zuschreibungen Brennan 1985a, S. 157; Buchberger 2016, S. 299f.; Buchberger 2017, S. 138f. 240 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), II, 8, 23f., S. 37: quod nullus veniens Romana gente fabrivit, / hoc vir barbarica prole peregit opus. Vgl. Buchberger 2016, S. 300 f.; Buchberger 2017, S. 139f. 241 Siehe für weitere Beispiele von Leontius’ Romanitas und nobilitas bei Fortunatus 4.2.2 Die „Senatoren“ und 4.2.3 Amt und Landbesitz oben. Vgl. außerdem den Epitaph seines Sohnes Arcadius Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 17, S. 90 (siehe dazu auch 4.2.2 Die „Senatoren“ oben). Vgl. zudem insgesamt zu diesem Komplex Brennan 1992, S. 121–127; George 1992, S. 108–113; Buchberger 2016, S. 298f.; Buchberger 2017, S. 136f. 242 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 15, 1–3, S. 16: Inter quos genuit radians Aquitanicus axis, / egregiis meritis culmina prima tenes, / civibus ex Gallis supereminet alta potestas. 243 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), I, 15, 15–32, S. 16. Brennan 1985a, S. 152 hält es aufgrund des langen aber wenig konkreten Lobes von Leontius’ Vorfahren für möglich, dass es Fortunatus eher um das Erzeugen einer „vague aura of Roman senatorial prestige rather than making a specific allusion to a Roman connection“ ging. Letztlich zeigt sich also sogar hier, wie wenig authentifizierend selbst die Zuschreibung römischer Abstammung für eine potentielle römische Oberschicht zum Ende des 6. Jahrhunderts in Gallien gewesen wäre. 244 Siehe auch 4.2.1 Der Blick zurück: Das römische Reich oben.

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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zugeschrieben: maxima progenies, titulis ornata vetustis, / cuius et a proavis gloria celsa tonat.245 Das gleiche gilt für die beiden Bischöfe von Limoges mit dem Namen Ruricius (einer von ihnen ist der Zeitgenosse des Sidonius und des Avitus), deren Fortunatus mit einem Gemeinschaftsepitaph gedenkt, der sie über ihre Verwandtschaft mit den Aniciern mit Rom verbindet (Ruricii gemini flores, quibus Aniciorum / iuncta parentali culmine Roma fuit).246 Auch die Verbindung die Fortunatus zwischen dem dux Lupus und dem vergangenen römischen Imperium zieht, wurde bereits thematisiert,247 doch der Dichter belässt es nicht nur bei einem Vergleich mit den Epigonen der Vorzeit. Lupus habe die antiquos animos seiner Romanae stirpis geerbt (adeptus).248 Grundsätzlich musste allerdings freilich nicht jede Kennzeichnung von nobilitas bei Fortunatus auch mit einer ethnischen Zuschreibung oder mit einer spektakulären Rückprojektion in die römische Vergangenheit einhergehen. Über Eumerius von Nantes249 heißt es relativ schlicht, seine Stammtafel habe einen strahlenden Beginn.250 Avolus251 ist nobilitate potens,252 Mommolenus253 ebenso.254 Conda255 hingegen, der an König Sigiberts Hof tätig war, erwarb sich die nobilitas durch seinen vorbildlichen Dienst.256 Fortunatus zeigt also Variabilität in seinen Zuweisungen von nobilitas, Romanitas und anderer ethnischer Zuschreibungen. In diesem Lavieren zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen und dem Changieren zwischen ethnischen Attributionen hat Helmut Reimitz jüngst „Spielräume [. . .], which enabled the coexistence of different social identities“257 erkannt. Ein Selbstverständnis einer römischen Oberschicht in Gallien ist damit bei Fortunatus allerdings nicht auszumachen. Vielmehr erscheint die Romanitas als persönliche Eigenschaft der lyrisch gelobten Akteure und deutet nicht

245 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 8, 11f., S. 58. 246 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 5, 7f., S. 82. Vgl. auch zur speziellen Ausprägung christlicher nobilitas in diesen Versen Brennan 1985a, S. 152–154; Buchberger 2017, S. 137f. 247 Siehe dazu 4.2.1 Der Blick zurück: Das römische Reich oben. 248 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 7, 45, S. 160. Vgl. nachdrücklich auf die biologisch-ethnische Qualität der Zuschreibung hinweisend Buchberger 2016, S. 296f.; Buchberger 2017, S. 134–136. 249 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 461. 250 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 1, 7, S. 79: stemmate deducit fulgens ab origine culmen. 251 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 155f. 252 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 21, 7, S. 92. 253 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992b, 2, S. 898 f. 254 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 14, 11, S. 169. 255 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 330f. 256 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 16, 11f., S. 171: nam si praefertur generis qui servat honorem, quanta magis laus est nobilitare genus? Vgl. Brennan 1985a, S. 157f.; Reimitz 2015, S. 93. Siehe dazu auch allgemein 4.2.3 Amt und Landbesitz oben. 257 Reimitz 2015, S. 96.

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auf ein geteiltes Gemeinschaftsgefühl einer gesellschaftlichen Gruppe hin, die sich – jenseits von situativen oder individuellen Momentaufnahmen – als ‚römisch‘ definieren würde. Zumindest aus der etischen Sicht des Fortunatus schwingen jedoch zweifellos ethnische Konnotationen in seinen Zuschreibungen mit. Immerhin im Reich der Poesie inszeniert Fortunatus eine römische Elite im Frankenreich des 6. Jahrhunderts. Im Geschichtswerk des Gregor von Tours hingegen ist davon nichts zu spüren. In einem vielbeachteten Aufsatz hat Patrick Geary auf den axiomatischen Konstruktionscharakter des Forschungsmodells der Ethnizität aufmerksam gemacht.258 Im Zuge dessen verwies er u. a. auch darauf, dass die wenigsten Personen in Gregors Libri Historiarum Decem durch den Autor einer ethnischen Gruppe zugeordnet wurden.259 Letztlich, so Geary, seien die Zuschreibungen, die die Forschung als ethnisch identifiziere, keineswegs allgemein verbindlich und gültig, sondern im Gegenteil situativ, variabel und von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen höchstwahrscheinlich gar nicht in einem ‚ethnischen‘ Sinn gemeint und verstanden worden.260 Auch Gregors Barbarenbild scheint keineswegs festgefügt oder lediglich durch die klassische Dichotomie von Römern und Barbaren geprägt.261 Der einzige Abschnitt, in dem ein barbarus prominent auftritt, findet sich im 15. Kapitel des dritten Buches.262 Zu den Senatorensöhnen, die die Könige Theuderich und Childebert als Teil eines Friedensschlusses untereinander als Geiseln austauschten,263 gehörte auch ein gewisser Attalus.264 Als sich die merowingischen Brüder erneut zerstritten, geriet Attalus in die Abhängigkeit. Er diente einem barbarus in der Nähe Triers als Pferdeknecht (Erat enim intra Treverici termini territurio cuidam barbaro serviens).265 Die Passage erzählt die Geschichte der Befreiung des Attalus, in der der namenlose barbarus nur vergleichsweise eindimensional geschildert wird. Der Begriff – möglicherweise von Gregor aus einer Vorlage der Erzählung übernommen266 – wird hier weniger im Sinne einer ethnischen Bezeichnung verwendet als vielmehr zur Kennzeichnung einer Figur, die unabhängig von ihrer Herkunft (die in diesem Fall vermutlich fränkisch war, ohne dass dies von Gregor erwähnt wäre) durch verhältnismäßig kulturloses Verhalten charakterisiert ist.267 Ansonsten zeichnen sich barbari bei Gregor durch zügelloses und allgemein

258 Vgl. Geary 1983. 259 Vgl. Geary 1983, S. 21. 260 Vgl. Geary 1983, S. 25f. Vgl. außerdem diese Gedanken aufnehmend Amory 1994a; siehe dazu auch 2.2.5.2 Die ‚Barbaren‘ oben. 261 Vgl. James 1998, S. 64. 262 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 15, S. 112–116. 263 Siehe 4.2.2 Die „Senatoren“ mit Anm. 152 oben. 264 Vgl. Martindale (Hrsg.) 1992a, S. 149. 265 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), III, 15, S. 112. 266 Vgl. James 1998, S. 59. 267 Vgl. Wood 2011, S. 48.

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unzivilisiertes Auftreten aus.268 Der Bischofskandidat Eufrasius etwa machte sie des Öfteren betrunken.269 Wundern muss man sich mit Gregor zudem über ihren Geschmack: bibit absentium cum vino et melle mixtum, ut mos barbarorum habet.270 Wenig Sympathie dürfte Gregor auch gegenüber den Plünderern eines Klosters gehegt haben, die von ihm ebenfalls als barbari bezeichnet werden und deren Heidentum gleichzeitig betont wird.271 „Barbarisch“ sind in Gregors Augen außerdem Aberglaube und Wahrsagerei, ut consuetudo est barbarorum.272 Wenig verwunderlich treten die ‚Barbaren‘ außerdem in Gregors hagiographischen Texten – hier öfter mit den Franken gleichgesetzt – ebenfalls in der Rolle der prototypischen Heiden auf, mit denen sich die heiligmäßigen Protagonisten auseinandersetzen müssen.273 In Gregors Texten konnten Franken also durchaus als ‚Barbaren‘ firmieren, sie wurden allerdings keineswegs immer oder grundsätzlich so von ihm bezeichnet und auf diese Art insgesamt auch nicht besonders häufig.274 Tatsächlich nutzte Gregor die Bezeichnung Francus oder Franci, je näher er in seinem Bericht seiner eigenen Zeit kam, immer seltener.275 Offensichtlich hatte das ‚Fränkische‘ in Gregors Augen keine große ethnische Identifikationskraft, wichtiger waren für ihn wohl politische Konnotationen.276 Diesen Befund deutete Helmut Reimitz zuletzt als Versuch Gregors, eine fränkische Identität zumindest in seiner Geschichtsdarstellung regelrecht zu dekonstruieren. Er habe gleichsam eine gesellschaftliche Hegemonie des Fränkischen befürchtet, die vor allem in Konkurrenz zu einer von ihm präferierten durch das Christentum und durch bischöflichen Einfluss geprägten Ordnung des Frankenreichs gestanden hätte.277 Letztlich bewegt man sich bei der Unterstellung einer solchen zielgerichteten Programmatik jedoch im Bereich der Spekulation. Keineswegs zu bezweifeln ist allerdings, dass Gregor auch

268 Vgl. auch die ähnliche Bedeutung in den Worten, die Gregor den burgundischen König Gundobad über die sich nähernden fränkischen Feinde sprechen lässt Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 32, S. 79. 269 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 35, S. 167: Erat quidem elegans in conversatione, sed non erat castus in opere, et plerumque inebriabat barbaros, sed rare reficiebat egenos. 270 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VIII, 31, S. 399. 271 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 48, S. 185: Cum ad eum unus cuneus hostium adventaret et fluvium, qui propinquus est, transire disponeret, ut monastirium spoliaret, clamaverunt monachi dicentes: ‚Nolite, o barbari, nolite huc transire; beati enim Martini istud est monasterium‘. Haec audientes multi, conpuncti a Dei timore, regressi sunt. Viginti tamen ex ipsis, qui non metuebant Deum neque beatum confessorem honorabant, ascendentes navem, illuc transgrediuntur et, inimico stimulante, monachos caedunt, monasterium evertunt resque diripiunt; de quibus facientes sarcinas, navi inponunt. 272 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VII, 29, S. 347. 273 Vgl. James 1998, S. 62–64. 274 Vgl. Buchberger 2017, S. 125. 275 Vgl. James 1998, S. 56–66. 276 Vgl. Goetz 2003, S. 335–341. 277 Vgl. Reimitz 2015, S. 52–70; zuvor schon Reimitz 2013; außerdem Reimitz 2016, S. 67, 78; Reimitz 2018, S. 293–295.

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den Frankennamen auf mehrdeutige Weise verwendete und ihm keine feststehende Bedeutung zuwies.278 Insgesamt noch seltener verwendet Gregor die Bezeichnungen romanus oder romani. In der Darstellung der gallischen Frühzeit tauchen sie lediglich in offiziellen oder zumindest offiziösen Zusammenhängen auf.279 Erica Buchberger sah in ihnen jüngst bei Gregor zwar „a clearer political category“280 in Bezug auf das 5. und beginnende 6. Jahrhundert, kann zu diesem Schluss aber freilich nur kommen, da sie stillschweigend voraussetzt, dass die Bezeichnung als ‚Senator‘ oder die Erwähnung senatorischer Abstammung einer ethnischen Zuschreibung gleichkomme und in diesem Sinne gleichzeitig ‚römisch‘ zu bedeuten habe.281 Gregor bezeichnet die Bevölkerung unter dem Romanorum rex282 Syagrius nominell als Römer.283 Dieser habe seinen Sitz, wie schon sein Vater Aegidius, in der Stadt Soissons bezogen284 und die Romani würden bis in die südlicheren Bereiche hinein begrenzt durch die Loire leben, jenseits des Flusses hätten aber die Goten geherrscht.285 Dementsprechend waren es auch Romani, die durch Chlodwigs Vorfahren in der einen oder anderen Auseinandersetzung besiegt wurden.286 Doch kam es in Gallien ebenso zu Bündnissen in unterschiedlichen Konstellationen. Laut Gregor führte etwa der comes Paulus cum Romanis ac Francis Krieg gegen die Visigoten.287 Zudem kämpften „Römer“ gegen „Sachsen“.288 Feindschaften und Bündnisse wechselten in der Darstellung Gregors im 5. Jahrhundert überdies so häufig, dass sogar seltsame Anekdoten eine gewisse Glaubwürdigkeit beanspruchen konnten: Die

278 Vgl. Buchberger 2017, S. 126f. 279 Vgl. James 1998, S. 64 f. 280 Buchberger 2017, S. 110. 281 Vgl. Buchberger 2017, S. 110–120; mit derselben Gleichsetzung u. a. schon Stroheker 1948; Ewig 1976c, S. 233, Anm. 8; Näf 1995, S. 178–187; Wickham 2005, S. 182. Siehe dazu auch 4.2.2 Die „Senatoren“ oben. 282 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 27, S. 71. 283 Vgl. mit Zweifeln an einer ethnischen Ausdeutung u. a. zuletzt Jäger 2017, S. 211–214. 284 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 27, S. 71: Anno autem quinto regni eius Siacrius Romanorum rex, Egidi filius, apud civitatem Sexonas, quam quondam supra memoratus Egidius tenuerat, sedem habebat. 285 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 9, S. 58: In his autem partibus, id est ad meridianam plagam, habitabant Romani usque Ligerem fluvium. Ultra Ligerem vero Gothi dominabantur. 286 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 9, S. 58: Chlogio autem, missis exploratoribus ad urbem Camaracum, perlustrata omnia, ipse secutus, Romanus proteret, civitatem adpraehendit, in qua paucum tempus resedens, usque Sumenam fluvium occupavit. De huius stirpe g quidam Merovechum regem fuisse adserunt, cuius fuit filius Childericus. 287 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 18, S. 65: Paulos vero comes cum Romanis ac Francis Gothis bella intulit et praedas egit. 288 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 19, S. 65: His ita gestis, inter Saxones atque Romanos bellum gestum est; sed Saxones terga vertentes, multos de suis, Romanis insequentibus, gladio reliquerunt; insolae eorum cum multo populo interempto a Francis captae atque subversi sunt.

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Franken hätten, als sie mit ihrem König Childerich wegen dessen Sittenlosigkeit im Argen lagen, kurzerhand Aegidius von Soissons zu ihrem rex gemacht.289 Auch der Burgunderkönig Gundobad herrschte über Römer, die er sogar mit milderen Gesetzen bedachte, um sie vor Unterdrückung zu schützen.290 Eine Verbindung zwischen ethnischer Zuschreibung als Römer und einer römischen Oberschicht in Gallien zieht Gregor aber auch für die frühe Zeit expressis verbis nicht. Wenn Gregor zwar gerade in der Antike noch spärlich vom römischen Reich oder von ‚Römern‘ spricht,291 so gilt dies für seine eigene Zeit nicht mehr. Seine Umwelt beschrieb Gregor schlichtweg nicht als ‚römisch‘. Höchstens in den Worten anderer tauchen „Römer“ auf, meinen dann aber die Byzantiner, wie auf einer Goldmünze, die dem Bischof von Tours von König Chilperich gezeigt worden sei, die dieser von Kaiser Tiberius erhalten habe. Ich hatte mich damals nach dem Hofe Nogent zum König begeben; dort zeigte er mir ein großes Tafelgerät, das er aus Gold und Edelsteinen gearbeitet hatte, fünfzig Pfund schwer, und sagte: „Ich habe es angefertigt, um das Frankenvolk zu schmücken und zu veredeln. Und wenn mir das Leben vergönnt ist, werde ich noch mehr der Art machen.“ Er zeigte mir auch Goldstücke, jedes ein Pfund schwer, welche ihm der Kaiser schickte, auf der einen Seite war das Bild des Kaisers, und im Kreise darum standen die Worte: VON TIBERIUS CONSTANTINUS, DEM EWIG WÄHRENDEN KAISER, auf der anderen Seite hatten sie ein Viergespann und einen Wagenlenker und es stand darauf zu lesen: DER RUHM DER RÖMER.292

Gerade im etwas umständlichen Report Gregors mit dem stolzen, fast angeberischen Chilperich, der den Bischof bedrängte, seine fremden Kostbarkeiten zu begutachten, scheint sich doch eine gewisse Irritation und Distanz zur GLORIA ROMANORUM anzudeuten, so als habe Gregor dies alles nicht recht einordnen können. Ansonsten sind es ebenfalls andere, die bei Gregor von Romani sprechen. Auf diese Weise tritt die Bezeichnung etwa in hagiographischen Texten Gregors auf und

289 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 12, S. 61 f.: Childericus vero, cum esset nimia in luxoria dissolutus et regnaret super Francorum gentem, coepit filias eorum stuprose detrahere. Illique ob hoc indignantes, de regnum eum eieciunt. Conperto autem, quod eum etiam interficere vellent, Thoringiam petiit [. . .]. Denique Franci, hunc eiectum, Egidium sibi, quem superius magistrum militum a re publica missum diximus, unanimiter regem adsciscunt. Vgl. zur Glaubwürdigkeit der Geschichte außerdem Jarnut 1994b. 290 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 33, S. 81: Ipse vero regionem omnem, quod nunc Burgundia dicitur, in suo dominio restauravit. Burgundionibus leges mitiores instituit, ne Romanos obpraemerent. Vgl. dazu auch Goetz 2004, S. 552; Goetz 2010, S. 266f. 291 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), I, 32, S. 24; 36, S. 26. 292 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 2, S. 266 f.: Tunc ego Novigentum villa ad occursum regis abieram; ibique nobis rex missurium magnum, quod ex auro gemmisque fabricaverat in quinquagenta librarum pondere, ostendit dicens: ‚Ego haec ad exornandam atque nobilitandam Francorum gentem feci. Sed et plurima adhuc, si vita comis fuerit, faciam‘. Aureus etiam singularum librarum pondere, quos imperatur misit, ostendit, habentes ab una parte iconicam imperatoris pictam et scriptum in circulo: TIBERII CONSTANTINI PERPETUI AUGUSTI; ab alia vero parte habentes quadrigam et ascensorem contenentesque scriptum: GLORIA ROMANORUM. Übers. in Buchner 2000b, S. 7.

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bekommt eine religiöse Konnotation.293 Den visigotischen König Theudegisel lässt er über die Homöer sagen, diese würden die Angehörigen der homousianischen Ausprägung des Christentums Romani nennen,294 unabhängig von ihrer Abstammung. Die Römer als abgegrenzte Volksgruppe oder römische Ethnizität als Unterscheidungsmerkmal hatten für Gregor jedoch offenbar grundsätzlich keine Relevanz.295 So ist es wenig verwunderlich, dass der Geschichtsschreiber „Romani im Franken[. . .]reich nicht mehr registrier[t]“.296 Wie auch in Bezug auf die „fränkische Identität“ unterstellt Reimitz daher (bewusste) Dekonstruktion der Romanitas.297 Zumindest mit Blick auf ein Selbstverständnis einer römischen Oberschicht wäre damit Gregor aber wohl schon zu viel Kalkül zugesprochen. Tatsächlich erscheint es so, als habe der historische Diskursraum keinen Platz mehr für ein dezidiert römisches Selbstverständnis einer Oberschicht im Merowingerreich eingeräumt, weil es schlicht aus der Zeit gefallen, nicht mehr artikulierbar und höchstens noch zu erahnen war. Zumal Gregor nicht einmal sich selbst als ‚Römer‘ bezeichnet: Among all the labels he uses, the conspicuous absentee is the most natural one, the one that ought automatically to accompany the senatorial title that Gregory willingly assumes. Senatorial, yes; Roman, no. Gregory speaks for his place and time precisely by refusing to espouse the ethnic identity that he has the most historic reason to assume. No longer Roman but not yet a Frank, he found in his faith and its principles of conduct a position that was adequate for a portrayal of his surroundings – a world in which all men were neither insiders nor outsiders but merely potential citizens in God’s kingdom.298

Freilich ist Goffarts Diktum als argumentum ex silentio ebenso schwer zu be- wie zu widerlegen. Allerdings scheint es so, als sei ein Selbstverständnis einer ‚römischen‘ Oberschicht nicht mehr ausdrückbar gewesen, denn davon findet sich in Gregors Texten keine Spur. Wie Margarete Weidemann aufführt, nutzte Gregor eine Vielzahl von Begriffen, um Führungsgruppen im Frankenreich zu bezeichnen. Er bezieht sie unterschiedslos auf „Germanen und Romanen“.299 Nobilitas war für Gregor also keineswegs zwangsweise mit einer ethnischen Zuschreibung verbunden.300

293 Siehe außerdem die Beispiele aus 4.2.1 Der Blick zurück: Das römische Reich oben. 294 Gregor, Liber in gloria martyrum (Krusch 1969), 24, S. 52: ‚Ingenium est Romanorum‘ – Romanos enim vocitant nostrae homines relegionis –, ‚ut ita accedat, et non est Dei virtus‘. Gregor, Liber in gloria martyrum (Krusch 1969), 78, S. 91: ‚Quid putatis, quid isti nunc Romani dicant?‘ 295 Vgl. Goetz 2010, S. 266f. 296 Goetz 2010, S. 276. Vgl. auch Goetz 2003. 297 Vgl. Reimitz 2015, S. 70–73. 298 Goffart 1989a, S. 291. Zustimmend James 1998, S. 66: „Gregory was not a Roman [. . .]; to begin with, his use of Romanus demonstrates that he did not think of himself as a Roman at all.“ Ähnlich Drinkwater 2013, S. 74f.; damit vor allem gegen Rouche 1977, der in Gregor in erster Linie den überlegenen Römer sieht, der auf die unkultivierten Franken herabblickte. 299 Vgl. Weidemann 1993, S. 536. 300 Vgl. Weidemann 1993, S. 536.

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Romanitas ist damit zum Ende des 6. Jahrhunderts vollends zur Eigenschaft geworden, die in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten auftreten konnte, über die Akteurinnen und Akteure verfügen oder die sie erwerben konnten. In einer festen Verbindung mit der nobilitas scheint sie dabei im historischen Diskursraum des 6. Jahrhunderts in Gallien allerdings nicht mehr zu stehen. Ein entsprechendes ethnisch ‚römisch‘ geprägtes Gruppenbewusstsein einer Elite wird nicht einmal mehr konsistent durch einen vergleichsweise externen Zeitgenossen wie Fortunatus vorgestellt. Alles in allem scheint „that ethnicity was not actually as important as many historians have thought“.301 Denn gerade in Bezug auf Gregor von Tours bleibt festzuhalten, dass ethnische „Abgrenzungen [. . .] für ihn offenbar bedeutungslos (geworden)“302 sind. Zumindest was etwaige ‚Römer‘ einer Oberschicht betrifft, scheint es so, als würde das Forschungsmodell der Ethnizität am späten 6. Jahrhundert für Gallien scheitern.303 Dennoch ist der historische Diskursraum in dieser Beziehung offenbar fragmentiert, wie jedenfalls Fortunatus leicht andere Sicht vermuten lässt. Zumindest in der Lyrik lebt noch eine alte Dichotomie von der Romanitas einer alten Elite gegenüber den ‚Barbaren‘ auf. Sie bleibt allerdings auf jenen poetischen Raum beschränkt, bei Gregor von Tours findet sich davon nichts. Damit ist es mehr als fraglich, ob die Zeitgnossinnen und Zeitgnossen tatsächlich noch ein dezidiert ‚römisches‘ Selbstverständnis einer Oberschicht im Frankenreich empfanden. Zumal eben auch die dichterischen Zuschreibungen des Fortunatus, wie gezeigt, oftmals eher den Charakter einer erwerbbaren Eigenschaft hatten oder wohl doch eher die Außensicht des schmeichelnden Dichters darstellten.

4.2.6 Onomastik Gerade Veränderungen (oder deren Ausbleiben) in der Praxis der Namengebung werden von der geschichtswissenschaftlichen Forschung häufig als ergänzende Indikatoren herangezogen, um Transformationsprozesse – auch einer römischen Oberschicht in Gallien – nachzuzeichnen.304 Allerdings wird zum Beleg

301 James 1998, S. 65. 302 Vgl. Goetz 2004, S. 553f. 303 von Rummel 2013a, S. 388: „Since the middle of the sixth century, it was no longer possible to relate the concept of ‚Romans‘ to any meaningful political unit in the western Empire; its meaning becomes increasingly blurred. Romanness remains as a linguistic, Christian, and historicalsymbolic category. These aspects, however, can only to a certain extent be used as a contrast to Goths, Lombards, and Franks.“ Vgl. auch Pohl 2014, S. 406–409; Halsall 2018. 304 Vgl. zum Siegeszug ‚germanischer‘ Namen in Europa Ebling/Jarnut/Kampers 1980; Jarnut 1997b; Haubrichs 2008; mit einem Überblick zu den verschiedenen Facetten der gesellschaftlichen Bedeutung der Namengebung allgemein Goetz 2002b; speziell zu christlichen Einflüssen Schorr 2011; zur Relevanz für die Oberschicht und zu performativen Aspekten Althoff 1997; Jarnut 1997a; zu Einflüssen von Personennamen der Oberschicht auf Topographie und Raumwahrnehmung Greule 1997; Haubrichs 2001.

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onomastischer Akkulturation immer wieder auf dieselben (isolierten) Einzelbeispiele verwiesen,305 die in ihrer Aussagekraft damit zweifelhaft bleiben müssen.306 Tatsächlich bieten die überlieferten Quellen zum 6. Jahrhundert auch nicht viel mehr brauchbare Exempel, was damit allerdings auch das methodische Dilemma und die Problematik der geschichtswissenschaftlichen Auswertung des Namenguts im frühen Frankenreich deutlich macht. Gerade in Verbindung mit ethnographischen Fragestellungen liefern die Quellen zwar eine Vielzahl von Namen fränkischer (germanischer) und lateinischer Etymologie oder Mischformen,307 aber dann in den seltensten Fällen überhaupt verwertbare Informationen über ihre Trägerinnen und Träger. Das gilt vor allem für verlässliche und fundierte weitere Aussagen über deren ethnische Affiliation, Identitäten oder Selbstverständnis. Selbst bei den ‚bekannten‘ Beispielen existiert diese Problematik. Gregor berichtet über einen Gefolgsmann König Childeberts mit Namen Gundulf, dux und ehemaliger domesticus aus senatorischem Geschlecht (Gundulfum ex domestico duce facto, de genere senatorio).308 Bei einem eher zufälligen Zusammentreffen erkannte der Bischof von Tours, dass es sich bei Gundulf um seinen Großonkel handeln müsse.309 Des Onkels etymologisch offensichtlich germanischer Name310 erscheint der Forschung nun unbedingt erklärungsbedürftig.311 Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Anomalie aufzulösen. Gundulf bekam von seinen Eltern einen lateinischen Namen. Um am fränkischen Hof zu reüssieren, könnte er sich jedoch einen neuen germanischen gegeben haben (andere Beispiele für solche Namenwechsel sind jedoch nicht belegt). Auch möglich wäre, dass schon seine Eltern einen Posten am (zur Zeit von Gundulfs Geburt burgundischen) Hof für ihren Sohn vorsahen, den zu erreichen die Wahl des germanischen Namens erleichtern sollte. Außerdem könnten die Eltern sich selbst durch die Namenvergabe in ihrer ‚gentilen‘ Umgebung zu profilieren versucht haben oder Gundulf und sein Name waren das Produkt einer ‚römisch-gentilen‘ Mischehe. Freilich lässt sich keine dieser Hypothesen belegen.312 Eine Namensänderung scheint bei der Vielzahl lateinischer Namensträger, die an den merowingischen Höfen tätig waren, nicht gerade obligatorisch, genauso wenig wie die frühzeitige Vergabe durch

305 Vgl. stellvertretend jüngst Buchberger 2017, S. 117–124. Vgl. zuvor schon fast in Gestalt von Handbuchwissen u. a. van Dam 2005, S. 217; Wickham 2005, S. 176. 306 Vgl. zur grundsätzlichen methodischen Kritik und Erkenntnisreichweite des namenkundlichen Ansatzes gerade in Bezug auf ein Postulat gentilspezifischer Namengebung Goetz 2002a; Goetz 2012. 307 Vgl. zum Phänomen der „Hybridnamen“ u. a. Haubrichs 2004. 308 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 11, S. 281. 309 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 11, S. 281: Quem benigne susceptum recognosco matris meae avunculum esse, retentumque mecum quinque diebus, inpositisque necessariis, abire permisi. 310 Haubrichs 2008, S. 97. 311 Vgl. der Überblick bei Buchberger 2017, S. 117; außerdem Werner 1965, S. 99 f.; Jarnut 1997b, S. 50; Haubrichs 2008, S. 97–99. 312 Vgl. ausführlicher und mit weiteren Deutungen der Forschung jüngst Jochum-Godglück 2019, S. 26–34.

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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die dann sehr weitblickenden Eltern. Zuletzt könnte die Namenswahl auch vollkommen unreflektiert erfolgt sein, ohne dass dabei eine spezifische Agenda verfolgt wurde. Vielleicht folgten die Eltern schlicht einer aktuellen Mode oder der Name gefiel, ohne dass man sich über die genauen Gründe dafür Gedanken machte.313 Letztlich ist es denkbar schwierig, aus einem solchen Befund auf das Selbstverständnis Gundulfs, seiner Eltern oder ihres Umfelds rückzuschließen. Gleiches gilt auch für den anderen häufig aufgerufenen Fall, der die Familie des dux Lupus314 betrifft. Lupus, der selbst mit dem „Wolf“ einen Tiernamen trägt und damit schon einer onomastischen Akkulturation an den ‚germanischen‘ Brauch der Namengebung verdächtig ist, hat einen Bruder mit Namen Magnulf315 („Groß-wolf“ oder „Kraft-wolf“) und nennt seinen Sohn Romulf (Romulfus, filius Lupi ducis)316 („Romwolf“ oder auch „Ehr-wolf“).317 Mit letzterem hätte er die natürliche Synthese aus römischem und germanischem Namengut geschaffen.318 Helmut Reimitz schließt daraus: What we observe in the histories of Lupus’ family and of other members of the Merovingian elites is not a clash between Roman and Germanic culture, or a ‚barbarian mentality‘ that finally prevailed over a Roman mentality. Rather, the histories reveal a competition between different efforts to synthesise Roman traditions and institutions, which were themselves already syntheses of different cultural, political and social traditions of the late and post-Roman world.319

Jedoch ist die unhinterfragte Prämisse bei solchen oder ähnlichen sich auf onomastische Evidenzen stützenden Befunden stets,320 dass Akteurinnen und Akteure – und hier setzt ein Zirkelschluss ein – in der Regel zunächst (nur) aufgrund ihres Personennamens als ‚Römerinnnen‘ und ‚Römer‘ identifiziert werden und dies umstandslos auf Identität und Selbstverständnis der Namenträger übertragen wird. Wenn dann die scheinbar ‚römische‘ Namenstradition abbricht und durch eine ‚germanische‘ ersetzt wird, muss damit, um in dieser Logik zu bleiben, auch ein mentaler Wandel bei den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu Grunde liegen. Der tatsächliche Stellenwert des Namens für das (ethnische) Selbstverständnis wird im Einzelfall allerdings gar nicht mehr hinterfragt. Daher stellt sich die Frage, ob anhand der aufgezählten Beispiele tatsächlich „the beginnings of a shift from a Roman to a Frankish identity“321 registriert werden. Für den dynamischen und

313 Vgl. etwa auch die Überlegung zur Semantik des Namens bei Jochum-Godglück 2019, S. 31–33. 314 Siehe die vorherigen Kapitel oben. 315 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 10, S. 164. 316 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 19, S. 513. 317 Vgl. zum ‚Wolf‘ in der frühmittelalterlichen Personennamengebung Jochum-Godglück 2011; zur Familie außerdem Jochum-Godglück 2013. 318 Vgl. zuletzt Reimitz 2015, S. 210–212; Buchberger 2017, S. 120–122; Reimitz 2018, S. 302f. 319 Reimitz 2015, S. 212. 320 Vgl. jüngst auch die Kritik bei Jochum-Godglück 2019, S. 37. 321 Buchberger 2017, S. 121.

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4 Fragmentierter Raum

heterogenen Prozess der Entstehung einer fränkischen Identität im Frühmittelalter liefern Quellen und Forschung zwar zahlreiche Belege, Anhaltspunkte und Hypothesen,322 die ‚römische‘ Identität oder ein ‚römisches‘ Selbstverständnis wird bei den Nachkommen der antiken Römer dabei jedoch stets a priori vorausgesetzt und kaum hinterfragt. Da es jedoch zum Ende des 6. Jahrhunderts keine Anhaltspunkte für die Persistenz des Selbstverständnisses einer römischen Oberschicht gibt, wäre es möglicherweise treffender, nicht von einem beginnenden „shift“ zu sprechen, sondern voraussetzungslos schlicht von „beginnings“.

4.2.7 Bildung Sidonius und seine Zeitgenossen hatten zum Ende des 5. Jahrhunderts noch die Bildung als „letztes Zeichen der nobilitas“ und des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien ausgerufen,323 doch vordergründig ‚römisch‘ konnotiert erscheint die Bildung zum Ende des 6. Jahrhunderts nicht mehr. Selbst Fortunatus, der lateinische Sprache und Bildung noch im klassischen Stil preist, war sich bewusst, dass es sich bei ihnen nicht mehr um Alleinstellungsmerkmale einer römischen Elite im Frankenreich handeln konnte. In seinem an Gregor von Tours gerichteten Vorwort stellt sich Fortunatus ganz ähnlich dem ersten Brief aus der Sammlung des Sidonius in die Tradition großer klassischer Autoren der Vergangenheit.324 Auch bei ihm, dem Amateur aus Italien (ego impos),325 findet sich der Topos der Bescheidenheit und er versäumt es ebenfalls nicht zu erwähnen, er veröffentliche sein Werk nur halbfreiwillig auf Drängen des Bischofs von Tours.326 Aufgrund des fragmentierten historischen Diskursraums zum Ende des 6. Jahrhunderts in Gallien scheint Fortunatus’ Werk jedoch nicht das gleiche formative Potential für das Selbstverständnis einer römischen Oberschicht

322 Vgl. zuletzt Reimitz 2015. 323 Siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache u. 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben. 324 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), praef., 1, S. 1: Acuminum suorum luculenta veteris aetatis in genia qui natura fervidi, curatura fulgidi, usu triti, auso securi, ore freti, more festivi, praeclaris operibus celebrati posteris stupore laudanda reliquere vestigia, certe illi inventione providi, partitione serii, distributione librati, epilogiorum calce iucundi, colae fonte proflui, commate succiso venusti, tropis paradigmis perihodis epichirematibus coronati pariter et cothurnati tale sui canentes dederunt specimen, ut adhuc nostro tempore quasi sibi postumi vivere credantur etsi non carne, vel carmine. Zu Sidonius’ Eröffnung siehe 2.2.5.1 Bildung und Sprache oben. 325 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), praef., 4, S. 2. 326 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), praef., 4, S. 1f.: Vnde, vir apostolice praedicande papa Gregori, quia viritim flagitas, ut quaedam ex opusculis inperitiae meae tibi transferenda proferrem, nugarum mearum admiror te amore seduci, quae cum prolatae fuerint nec mirari poterunt nec amari.

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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zuzukommen wie den vergleichbaren Texten drei Generationen zuvor.327 Denn gerade die Motive der klassischen Bildung und Sprache mit ihrer poetologischen Qualität werden in den Gedichten des Fortunatus nicht wie zuvor in ihrer Verbindung mit der Romanitas konsequent auf eine gesellschaftliche Gruppe bezogen und damit auch nicht als ethnisches Distinktionscharakteristikum inszeniert. Über die beiden Ruricii dichtet Fortunatus, sie seien nicht nur von vornehmer Herkunft,328 sondern auch beredt und gebildet gewesen: Pectore vena loquax, mundano culta sapore / venit ad aeternos lingua colenda libros.329 Besonders dux Lupus330 wird wortreich für seine Klugheit und sein rhetorisches Talent gepriesen.331 Allerdings wird man sich die Frage stellen müssen, ob es tatsächlich klassische Beredsamkeit und Eloquenz in der lateinischen Tradition sind, auf die Fortunatus in dem Gedicht anspielt. Es sind legati am Hofe Sigiberts, die vom iaculo verbi des Lupus getroffen werden.332 Offen bleibt dabei, ob die Verkehrssprache mit Fremden am Hofe nicht vielleicht sogar Fränkisch gewesen sein könnte. Zumal Fortunatus im Anschluss betont, Lupus allein verstehe es, den sensus gentis zu begreifen, das votum populi zu äußern und in diesem Umfeld die Dinge für alle verständlich zu erklären.333 Lupus’ Eloquenz kommt also keineswegs im elitären Kontext – etwa beim Dichten oder bei der Korrespondenz – zum Ausdruck. Bischof Felix von Nantes334 wiederum scheint zunächst klassisch für seine Beredsamkeit und Bildung gelobt zu werden. Er sei eloquii flumen und fons salis und dies sogar explizit in alter Tradition (cuius in ingenium hic nova Roma venit).335 Im

327 Siehe dazu besonders 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben. 328 Siehe 4.2.5 Nobilitas: Barbarisch und Römisch mit Anm. 246 oben. 329 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), app. 32, S. 291. 330 Siehe die vorherigen Kapitel oben. 331 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 7, 11–20, S. 159: fundatus gravitate animi, quoque corde profundus / tranquilli pelagi fundis ab ore salem; / sed facunda magis plebi tua munera prosunt: / tu condis sensus, nam salis unda cibos. / consilii radix, fecundi vena saporis, / ingenio vivax, ore rotante loquax, / qui geminis rebus fulges, in utroque paratus, / quidquid corde capis prodere lingua potest. / pectore sub cuius firmantur pondera regis, / pollet et auxilio publica cura tuo. 332 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 7, 25–28, S. 159: legati adveniunt: te respondente ligantur / et iaculo verbi mox iacuere tui. / lancea sermo fuit, quoque vox armata loquentis, / auspicium palmae te Sigibercthus habet. Vgl. auch Sarti 2013, S. 114f., die andeutet, die Zuschreibung von Beredsamkeit könnte in diesem Fall vor allem als Mittel gedient haben, die charakteristischen kriegerischen Eigenschaften des Lupus in abgeschwächter Form erwähnen zu können. 333 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 7, 29–36, S. 159 f.: responsum gentis sensu profertur ab illo / et votum populi vox valet una loqui. / cuius ab ingenio sortita est causa triumphum, / adsertoris ope iustior illa fuit. / nullus enim poterit proprias ita pandere causas, / ceu tua pro cunctis inclita lingua tonat. / Nilus ut Aegyptum recreat, dum plenus inundat, / sic tu colloquii flumine cuncta foves. 334 Siehe Anm. 116 oben. 335 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 8, 15–24, S. 58: germinis antiqui venerabile culmen in orbe, / laudibus in cuius militat omne decus, / flos generis, tutor patriae, correctio plebis, / eloquii flumen, fons salis, unda loquax, / semita doctrinae, ius causae, terminus irae, / cuius in ingenium hic

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4 Fragmentierter Raum

Kontext mit anderen Texten des Fortunatus über Felix wird deutlich, dass der Dichter hier aber vor allem auf Felix als Actor apostolicus336 in seiner Funktion als Bischof anspielt. Der bischöflichen Beredsamkeit des Felix widmete Fortunatus sogar einen ausführlichen Brief.337 Auf ähnliche Weise wird auch Bischof Sidonius von Mainz für seine Predigerkünste gelobt: te doctrina probum, providentia sacra modestum / facit eloquio vincere mella tuo. / templa vetusta novans specioso fulta decore / inseris hinc populis plus in amore deum.338 Die lingua potens zeichnet damit nicht mehr in erster Linie eine römische Oberschicht aus, sondern eine christliche nobilitas, im Dreiklang mit pietas praesens und oratio iugis.339 Im weltlichen und politischen Kontext konnte damit auch der merowingische König – zumindest im Lobgedicht – über ‚römische‘ Bildung verfügen und das Lateinische in Vollendung beherrschen: cum sis progenitus clara de gente Sigamber, / floret in eloquio lingua Latina tuo. / qualis es in propria docto sermone loquella, / qui nos Romanos vincis in eloquio?340 Die Meisterschaft der lateinischen Sprache und klassische Bildung waren somit nicht mehr als Ausdruck eines besonderen Selbstverständnisses einer römischen Oberschicht zu verstehen, die sich darüber als Gruppe definierte, sondern waren von ethnischen Zuschreibungen letztlich unabhängig. Dies zeigt auch die Darstellung Gogos, nutricius am austrasischen Hof,341 in einem Gedicht des Fortunatus. Analog zu Lupus wird auch Gogo für seine Bildung und Eloquenz gelobt. Fortunatus setzt ihn mit Orpheus gleich342 und preist ihn für seine Dichtkunst.343 Dass es hier jedoch nicht um die ‚römische‘ Qualität der Bildung in Konkurrenz zu einem fränkischen oder gentilen Selbstverständnis geht, zeigt sich daran, dass ihr lediglich der Status einer zu lobenden Eigenschaft und Fähigkeit zukommt, die unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit einer Person erworben werden kann. Denn

nova Roma venit / (illic quod poterat per plures illa docere, / te contenta suo Gallia cive placet), / ornamenta geris gemino fulgentia dono, / et te concelebrant hinc opus, inde genus. 336 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 5, 7, S. 54. 337 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 4, S. 52–54. 338 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IX, 9, 23–26, S. 216. 339 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 11, 11, S. 87. 340 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VI, 2, 97–100, S. 133. 341 Siehe auch siehe 3.3 Epistolae Austrasicae oben. 342 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 1, 1–4, S. 153: Orpheus orditas moveret dum pollice chordas / verbaque percusso pectine fila darent, / mox resonante lyra tetigit dulcedine silvas, / ad citharae cantus traxit amore feras. 343 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), VII, 1, 11–26, S. 153f.: sic stimulante tua captus dulcedine, Gogo, / longa peregrinus regna viator adit. / undique festini veniant ut promptius omnes, / sic tua lingua trahit sicut et ille lyra. / ipse fatigatus huc postquam venerit exul, / antea quo doluit te medicante caret. / eruis adflictis gemitus et gaudia plantas; / ne tamen arescant, oris ab imbre foves. / aedificas sermone favos nova mella ministrans, / dulcis et eloquii nectare vincis apes. / ubere fonte rigat labiorum gratia pollens, / cuius ab arcano vox epulanda fluit. / pervigili sensu dives prudentia regnat, / fomite condito cui salis unda natat; / qui fulgore animi radios a pectore vibras, / et micat interior lux imitata diem. Vgl. zu diesem Gedicht auch George 1992, S. 137–139; Williard 2014, S. 698 f.

4.2 Romanitas bei Fortunatus und Gregor

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nicht etwa Bildung und Beredsamkeit machen Gogo zum Mitglied der Oberschicht, sondern König Sigiberts arbitrium,344 der sich der Fertigkeiten Gogos freilich gerne bedient haben wird. In der Person Gogos als Figur der Dichtung des Fortunatus wird somit paradigmatisch vorgeführt, wie ehemals kulturelles in soziales Kapital umgewandelt wurde und wie es bei diesem Prozess seine ethnische Distinktionskraft gleichsam in gesellschaftliches Prestige transferierte.345 Auch bei Gregor von Tours finden sich noch schwache Reflexe der traditionellen Verbindung von Bildung, lateinischer Sprache, Romanitas und gallo-römischer Oberschicht, allerdings keineswegs in einer solch expliziten Form wie noch ein Jahrhundert zuvor. Wie bei Fortunatus scheint bei Gregor Bildung viel öfter im religiösen Kontext eine Rolle zu spielen.346 Wenn bei einzelnen Bischöfen zwar noch im gleichen Atemzug ihre Gelehrsamkeit und ihre senatorische Abstammung gelobt werden,347 so deuten seine Charakterisierungen des Sidonius Apollinaris, des Remigius von Reims und des Avitus von Vienne darauf hin, welche Art von Bildung Gregor vor allem hochschätzte.348 An Sidonius’ facundia hebt er besonders hervor, dass sie ihn vor allem dazu befähigt habe, Messen aus dem Stehgreif ohne Textvorlage abzuhalten.349 Remigius ist Gregor durch sein großes Wissen und seine Redekunst in Verbindung mit seiner Heiligkeit bekannt.350 Und Avitus von Vienne setzte in der Darstellung Gregors seine magna facundia vor allem im Kampf gegen Irrlehren ein.351

344 Siehe Anm. 190 oben. 345 Siehe dazu auch den Schluss von 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben. Vgl. außerdem jüngst zur „transformation of Roman eloquence and education“ (Reimitz 2018, S. 302) bei Fortunatus Reimitz 2018, S. 300–303. 346 Vgl. Näf 1995, S. 184 f. 347 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 45, S. 254–256: Agroecula enim Cabillonnensis episcopus hoc obiit tempore; fuitque homo valde elegans ac prudens, genere senaturio. Gregor, Hist. (Krusch/ Levison 1951), VI, 39, S. 310: Est enim vir valde nobilis et de primis senatoribus Galliarum, in litteris bene eruditus rethoricis, in metricis vero artibus nulli secundus. 348 Auch an Gregor dem Großen lobt er dessen Bildung (vgl. Gregor, Hist. [Krusch/Levison 1951], X, 1, S. 478). 349 Vgl. Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 22, S. 67: Sanctus vero Sidonius tantae facundiae erat, ut plerumque ex inproviso luculentissime quae voluisset, nulla obsistente mora, conponeret. Contigit autem quadam die, ut ad festivitatem basilicae monasterii, cui supra meminimus, invitatus accederet, ablatoque sibi nequiter libello, per quem sacrosancta sollemnia agere consueverat, ita paratus a tempore cunctum festivitatis opus explicuit, ut ab omnibus miraretur nec putaretur ab adstantibus, ibidem hominem locutum fuisse, sed angelum. 350 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 31, S. 77: Erat autem sanctus Remegius episcopus egregiae scientiae et rethoricis adprimum inbutus studiis, sed et sanctitate ita praelatus, ut Silvestri virtutebus equaretur. 351 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 34, S. 82f.: Magnae enim facundiae erat tunc temporis beatus Avitus; namque insurgente heresim apud urbem Constantinopolitanam tam illam quam Eutices quam quae Sabellius docuit, id est nihil divinitatis habuisse dominum nostrum Iesum Christum, rogante Gundobado rege, ipse contra eas scripsit. Extant exinde nunc apud nos epistolae admirabilis, quae sicut tunc heresim oppraesserunt, ita nunc eclesiam Dei aedificant. Scripsit enim humiliarum

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4 Fragmentierter Raum

Gleichsam als Fazit seines Werkes und vielleicht auch als allgemeine Einschätzung am Ende seines Lebens in den 590er Jahren muss Gregor allerdings einigermaßen betrübt in seinem Vorwort konstatieren, dass die Bildung in Gallien im Niedergang begriffen sei,352 was er jedoch wohl nicht auf die christliche Gelehrsamkeit bezogen wissen will.

4.3 Latenzrömer Da die Pflege der schönen Wissenschaften in den Städten Galliens in Verfall geraten, ja sogar im Untergang begriffen ist, hat sich kein in der Redekunst erfahrener Grammatiker gefunden, um in Prosa oder Versen zu schildern, was sich unter uns zugetragen hat; und doch hat sich Vieles ereignet, Gutes wie Böses, es raste die Wildheit der Heiden, und die Wut der Könige wurde groß, von den Irrgläubigen wurden die Kirchen angegriffen und geschützt von den Rechtgläubigen, in Vielen erglühte und in nicht Wenigen erkaltete der Glaube an Christus, die heiligen Stätten wurden von den Frommen reich geschmückt und geplündert von den Gottlosen. So mancher hat oftmals jenen Mangel beklagt und gesprochen: „Wehe über unsere Tage, daß die Pflege der Wissenschaften bei uns untergegangen ist, und niemand im Volke sich findet, der das, was zu unsern Zeiten geschehen ist, zu Pergament bringen könnte!“ Da ich unablässig bedachte, daß man dies und anderes der Art sagt, so konnte ich es nicht lassen, zur Erinnerung an das Vergangene und zur Kenntnis für die Nachkommenden selbst die Kämpfe der Ruchlosen und das Leben der Rechtschaffenen an das Licht zu bringen, wenn ich es auch nur in schlichter, kunstloser Rede vermag; es ermutigte mich hierzu vornehmlich, daß ich oft verwundert von den Unseren habe vernehmen müssen: den philosophierenden Kunstredner verstehen nur wenige, die Rede des schlichten Mannes aber Viele. Auch habe ich es wegen der Berechnung der Jahre für gut gehalten, von Anfang der Welt in dem ersten Buch zu beginnen, dessen Kapitel hier unten folgen.353

librum unum, de mundi principio et de diversis aliis conditionibus libros sex versu conpaginatus, epistolarum libros novem, inter quas supradictae contenentur epistolae. 352 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), praef., S. 1: Decedente atque immo potius pereunte ab urbibus Gallicanis liberalium cultura litterarum [. . .]. 353 Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), praef., S. 1: Decedente atque immo potius pereunte ab urbibus Gallicanis liberalium cultura litterarum, cum nonnullae res gererentur vel rectae vel inprobae, ac feretas gentium desaeviret, regum furor acueretur, eclesiae inpugnarentur ab hereticis, a catholicis tegerentur, ferveret Christi fides in plurimis, tepisceret in nonnullis, ipsae quoque eclesiae vel ditarentur a devotis vel nudarentur a perfides, nec repperire possit quisquam peritu dialectica in arte grammaticus, qui haec aut stilo prosaico aut metrico depingeret versu: ingemescebant saepius plerique, dicentes: ,Vae diebus nostris, quia periit studium litterarum a nobis, nec reperitur in populis, qui gesta praesentia promulgare possit in paginis‘. Ista etenim atque et his similia iugiter intuens dici, pro commemoratione praeteritorum, ut notitiam adtingerint venientum, etsi incultu effatu, nequivi tamen obtegere vel certamena flagitiosorum vel vitam recte viventium; et praesertim his inlicitus stimulis, quod a nostris fari plerumque miratus sum, quia:,Philosophantem rethorem intellegunt pauci, loquentem rusticum multi‘. Libuit etiam animo, ut pro suppotatione annorum ab ipso mundi principio libri primi poniretur initium, cuius capitula deursum subieci.

4.3 Latenzrömer

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Gregors Generalprolog und die auffällige Klage über den Bildungsverlust zu Anfang seines Geschichtswerks macht Erklärungsversuche der Forschung geradezu obligatorisch.354 Die Stelle fordert eine Deutung zwischen den Zeilen förmlich heraus, denn schon im Moment der Formulierung scheint sich Gregor selbst zu widersprechen. Wie kann denn die Bildungskultur in Gallien dem Untergang nahe sein, wenn er doch selbst noch in der Lage ist, diese Befürchtung zu formulieren – zu Beginn eines monumentalen Geschichtswerks? Ist nicht einer seiner Bekannten – Fortunatus – ein berühmter Dichter, zwar aus Italien eingewandert, aber doch in Gallien geblieben? Findet dieser nicht auch dort sein Publikum und lobt die Bildung seiner Auftraggeberinnen und Auftraggeber? Doch es bleibt nicht bei dieser ersten Erwähnung des Niedergangs im Generalprolog. Es folgt sogar noch eine wörtliche Rede: ,Vae diebus nostris, quia periit studium litterarum a nobis, nec reperitur in populis, qui gesta praesentia promulgare possit in paginis‘.355 Auch Gregor selbst gesteht ein, dass er getreulich berichten wolle, etsi incultu effatu.356 Die Bescheidenheit erscheint auf den ersten Blick topisch,357 eine gewisse Aufrichtigkeit könnte dennoch in Gregors Worten mitschwingen.358 Ein Ausweg aus dem Deutungsdilemma ist zu finden, wenn man Gregors Klage als symbolische Aussage begreift, der nicht nur eine oberflächliche übertragene Bedeutung zukommen könnte, und sie auch als Ausdruck eines unbewussten Empfindens und Echos von etwas Unterschwelligem versteht. Das Gefühl des Niedergangs der Bildung beschreibt als pars pro toto das Selbstverständnis der römischen Oberschicht, das in Gregors Gallien des späten 6. Jahrhunderts nur noch in einer latenten Form vorhanden war. Was Gregor hier (unintentional) unausgesprochen zum Ausdruck bringt, ist die latente Ahnung von etwas Verborgenem: etwas Vergangenes, ehemals Wirkmächtiges, das noch nicht ganz verschwunden, aber für Zeitgenossen wie ihn doch nur noch höchstens zu erahnen und nicht mehr bewusst zu greifen ist: Das Selbstverständnis einer ehemaligen römischen Oberschicht Galliens war im Lauf des 6. Jahrhunderts in einen Zustand der Latenz geraten. Gregors causa scribendi – geprägt durch seine Lebens- und Amtszeit während der bella civilia seit 562 – ist nicht die Propagierung eines römischen Selbstverständnisses im historischen Diskursraum. Sein Narrativ ist auf die merowingischen Könige ausgerichtet, die in ihrer genealogischen Abfolge trotz

354 Vgl. eine zufällige Auswahl aus nahezu unzähligen Kommentaren zu dieser Stelle Scheibelreiter 1983, S. 63–65; Goffart 1988, S. 145–147; Breukelaar 1994, S. 118f.; Heinzelmann 1994, S. 84–88; Wood 1994a, S. 58; Wood 1994b, S. 28–32; Goetz 2010, S. 263; Williard 2014, S. 691f. 355 Siehe Anm. 353 oben. 356 Siehe Anm. 353 oben. Vgl. auch Gregor, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 536. 357 Siehe dazu vor allem 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus für diverse analoge Stellen im Werk des Sidonius Apollinaris. 358 Vgl. Beumann 1964; Thürlemann 1974, S. 59–72.

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4 Fragmentierter Raum

allen Haders Sicherheit und Kontinuität versprechen.359 Gregor scheint fokussiert auf das Bedürfnis nach Sinnstiftung in unbeständigen Zeiten und damit auf aktuelle politische Kontexte. So heißt es im Generalprolog denn auch: Doch hat sich Vieles ereignet, Gutes wie Böses, es raste die Wildheit der Heiden, und die Wut der Könige wurde groß, von den Irrgläubigen wurden die Kirchen angegriffen und geschützt von den Rechtgläubigen, in Vielen erglühte und in nicht Wenigen erkaltete der Glaube an Christus, die heiligen Stätten wurden von den Frommen reich geschmückt und geplündert von den Gottlosen. [. . .] So konnte ich es nicht lassen, zur Erinnerung an das Vergangene und zur Kenntnis für die Nachkommenden selbst die Kämpfe der Ruchlosen und das Leben der Rechtschaffenen an das Licht zu bringen.360

Auch wenn Gegenwart und Zukunft also unwägbar, offen und kontingent erscheinen, kann die Vergangenheit doch nicht vollständig zurückgelassen werden und bleibt latent. Diese Latenz äußert sich in Gregors unbewusster und mittelbarer Klage über den Verlust des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien zu Anfang seiner Libri Historiarum Decem. Für die Charakterisierung des Zeitraums nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1945 und 1960 hat Hans Ulrich Gumbrecht jüngst eben diesen Begriff der „Latenz“ substanziiert,361 der auch in Bezug auf die Untersuchung Galliens im 6. Jahrhundert einen heuristischen Mehrwert zu versprechen scheint. Was Gumbrecht als „Situation der Latenz“ beschreibt, scheint sich auch im historischen Diskursraum des frühmittelalterlichen Frankenreichs realisiert zu haben und zeigt bemerkenswerte Paralleln: In einer Situation der Latenz sind wir ebenso wie in Gegenwart eines blinden Passagiers in erster Linie sicher, dass etwas (oder jemand) da ist, das wir nicht fassen oder berühren können – und dass dieses „Etwas“ (dieser „Jemand“) eine materielle Artikulation besitzt, was bedeutet, dass es (er, sie) Raum benötigt. Wir können offenbar weder sagen, woher wir diese Gewissheit einer Präsenz nehmen, noch wo das Latente genau sein soll. Und weil wir die Identität der latenten Sache oder Person nicht kennen, haben wir auch keine Garantie, dass wir das Latente überhaupt erkennen würden, wenn es sich denn zeigte. Natürlich kann sich das Latente verändern, während es ungreifbar bleibt. Blinde Passagiere sind beispielsweise nicht vor dem Altern gefeit. Am wichtigsten ist jedoch, dass wir keinen Grund zu der Annahme haben – jedenfalls keinen systematischen Grund –, dass das, was einmal latent geworden ist, sich eines Tages entweder zeigen oder vollkommen in Vergessenheit geraten wird.362

Eine über ihre als dezidiert ‚römisch‘ empfundene Lebensweise, Bildung, Abstammung, ethnische Zugehörigkeit usw. sich definierende Oberschicht gab es zum Ende des 6. Jahrhunderts in Gallien nicht mehr, zumindest wird ihr Selbstverständnis nicht mehr im historischen Diskursraum artikuliert. Was den politischen und

359 Siehe dazu auch 4.1.2 Gregor von Tours mit Anm. 61 oben. 360 Siehe Anm. 353 oben. 361 Vgl. Gumbrecht 2012. 362 Gumbrecht 2012, S. 39f.

4.3 Latenzrömer

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gesellschaftlichen Wandel seit der Spätantike allerdings überlebt hat, sind Resonanzen eines Selbstverständnisses, das in einem Zustand der Latenz unter der Oberfläche weiter existierte. In das Konzept der Latenz passt auch die auffällige Figuration der Romanitas im Werk des Fortunatus, die sich bei Gregor in dieser Form nicht findet. Mit Gumbrecht nimmt in diesem Fall kurzzeitig „das Latente die Form eines ‚propositionalen Gehalts‘“363 an. In einem zunehmend fragmentierten historischen Diskursraum – zumindest in Bezug auf das römische Erbe – traten die Überreste des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien jedoch nicht mehr einheitlich auf. Auch bei Fortunatus zeigt sich nicht das Bild eines konsistenten Selbstverständnisses einer dezidiert ‚römischen‘ Oberschicht als gesellschaftliche Großgruppe. Ethnische Zuschreibungen als ‚römisch‘ wären ohnehin zu vieldeutig gewesen, um als wirksame Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen dienen zu können. Daher ist Fortunatus vielleicht auch gar nicht so deutlich als klarer Exponent einer programmatischen alten Romanitas zu betrachten, wie gemeinhin angenommen.364 Helmut Reimitz weist hingegen mit seinem Begriff der „Spielräume“ deutlich auf die Flexibilität des Fortunatus bei ethnischen Zuschreibungen hin,365 was ebenfalls die These zu stützen scheint, dass ein römisches Selbstverständnis einer Oberschicht im Gallien zum Ende des 6. Jahrhunderts höchstens noch latent vorhanden war, eine solche gesellschaftliche Gruppe aber nicht mehr existierte. Philip Rousseau stellte jüngst in Bezug auf Gregors Libri Historiarum Decem die Frage, „if romanitas endured“.366 Ausdrückliches Römertum spielt in seinem Aufsatz allerdings gar keine prominente Rolle. Vielmehr sind es (teilweise unausgesprochene) Zwischentöne, die er registriert und die ihn zu dem Schluss kommen lassen: „So it was that Gregory accommodated his reader to the exigencies of governance in Frankish Gaul – hinting equally at adjustment in the governors themselves and at fidelity to a Roman past.“367 Oder mit anderen Worten: Was Rousseau im

363 Gumbrecht 2012, S. 40. 364 Vgl. etwa George 1992, bes. S. 2, 16. Das poetische Motiv der Romanitas bei Fortunatus kann nicht ohne weiteres als Ausweis des Fortbestehens einer römischen Elite im Frankenreich gewertet werden, die sich noch genauso selbst definierte wie Generationen zuvor. Vgl. mit vorsichtigen Zweifeln an diesem Bild Buchberger 2016; Buchberger 2017, S. 133–146. 365 Vgl. Reimitz 2015, bes. S. 96 f. 366 Rousseau 2016, S. 209. 367 Rousseau 2016, S. 227: „Gregory’s portrayal of Guntram is remarkably reminiscent of older historians. For all his Frankish ‚barbarity‘; Guntram shows the urgent skill of a traditional emperor, necessarily adjusting himself, crisis by crisis, to both the threats and the aspirations of those upon whose collaboration he depends. Strategic vigilance, the administration of justice, and the effective collection of revenue remain the indispensable safeguards of power. In Gregory’s microcosmic mises en scene – in Paris, Bordeaux, Clermont, or Marseille – one can always detect his alertness to three long-standing pillars of government: the rights due to birth and station, the rights due to loyal service (and that would include in his eyes service to the Church), and the rights allowed,

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4 Fragmentierter Raum

Werk Gregors beobachtet, ist eine Latenz der Romanitas. Eben jenes „No longer Roman but not yet a Frank“ (Goffart),368 was Gregor auszeichnete, lässt sich auf den Begriff der Latenz bringen. Der Bischof von Tours schreibe geprägt durch eine Grenzerfahrung, „after the collapse of the Roman imperial dispensation, but before the crystalization of a new order“,369 heißt es zuletzt, was vielleicht noch treffender mit Latenz beschrieben wäre, um gleichzeitig anzudeuten, auf welche Weise die Romanitas tradiert wurde und eine Langzeitwirkung durch das gesamte Mittelalter entfalten konnte.370 Das Ringen der Forschung um angemessene Formulierungen für das Halbbewusstsein des Römischen im historischen Diskursraum Galliens am Ende des 6. Jahrhunderts, das sich nicht recht greifen und beschreiben zu lassen scheint, zeigt sich gerade in solchen oben zitierten Umschreibungen. Letztlich spielen sie in ihrer Bildhaftigkeit die Deutungshoheit über das Gemeinte an die wissenschaftliche Leserschaft zurück: Jeder Einzelne mag sich entscheiden, was genau er z. B. unter „dispensation“, „crystalization“, „new order“ usw.371 versteht oder jeder Einzelne vermag sein Verständnis im Geschriebenen wiederfinden. Ohne solche oder andere Begriffe zur Beschreibung der komplexen und dynamischen Prozesse und Verflechtungen im jungen Frankenreich als falsch oder unangemessen kritisieren zu wollen, bietet der Begriff der ‚Latenz‘ zumindest den Vorteil seiner relativen Kürze und bleibt dabei genauso offen wie lange Absätze der Abstrahierung des Amorphen und Vagen. Jene Latenz der Romanitas, die von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht mehr bewusst als soziales Distinktionsmerkmal innerhalb der Oberschicht wahrgenommen wurde, drückte sich am Ende des 6. Jahrhunderts außerdem durch die Fragmentierung des historischen Diskursraums vor allem in Gestalt der Unterschiede zwischen den Werken der Latenzrömer Fortunatus und Gregor von Tours aus: „Fortunatus’ writing contrasts with Gregory’s in the greater use of ethnicity as a strategy to describe his subjects. It is hard to know why precisely, though Fortunatus’ Italien background may play a role in his choices, as may the florid style of poetry.“372 ‚Römisch‘ wurde als rhetorisches Mittel und schmeichelnde Metapher genutzt, um ganz grundsätzlich etwa nobilitas zu symbolisieren, und wie eine

albeit grudgingly, to armed strength. [. . .] By stringing together in our minds the sequence of sometimes disjointed anecdotes that Gregory’s narrative presents, we arrive at a flow chart of vigorous and subtle control – labile, certainly, and exposed to treachery and sheer bad luck; but, by those most obviously successful in ruling, fully understood and assiduously maintained. So it was that Gregory accommodated his reader to the exigencies of governance in Frankish Gaul – hinting equally at adjustment in the governors themselves and at fidelity to a Roman past.“ 368 Siehe Anm. 298 oben. 369 Reimitz 2016, S. 59. 370 Jüngst Pohl 2018a, S. 34: „Romanness, then, is a sleeper: a thing of the past, still recognisable by its specific and venerable cultural flavour, which may hold a promise for the future.“ 371 Vgl. etwa auch ähnlich ungefähr z. B. Goetz 2010, S. 262–264. 372 Buchberger 2017, S. 145.

4.3 Latenzrömer

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individuelle Eigenschaft (nicht als kollektives Gruppencharakteristikum) gehandhabt, über die man verfügen konnte, die die ethnische Zugehörigkeit aber nicht mehr tangierte. Eine ‚römische‘ Abstammung diente kaum mehr zur ethnischen Unterscheidung373 und nicht mehr als Leitdifferenz einer gallo-romanischen Oberschicht. Was sich bereits bei den epistolographischen Übergangsrömern Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne in Bezug auf die Selbstverortung der römischen Oberschicht angesichts des Wandels des politischen Bezugsrahmens von Imperium Romanum zu den regna andeutete,374 findet spätestens zum Ende des 6. Jahrhunderts in Gallien seinen Abschluss.375 Der Appell zu Pragmatismus und Anpassung, der in den Briefen und Briefsammlungen des Netzwerkes der epistolographischen Übergangsrömer mitschwang,376 wurde offenbar angenommen. Auf eine Phase, die aufgrund der spärlichen Quellenlage aber auch aufgrund der Natur der wenigen überlieferten Quellen als hybrid gekennzeichnet wurde,377 folgte die Schaffenszeit der Latenzrömer Gregor von Tours und Venantius Fortunatus, in der das Selbstverständnis der römischen Oberschicht und die Romanitas im fragmentierten historischen Diskursraum Galliens in einen Zustand der Latenz getreten waren. Denn anders als noch etwa bei Sidonius, in dessen Fall die späteren Rezipientinnen und Rezipienten seiner Briefsammlung als ursprüngliche Briefempfängerinnen und Briefempfänger schon integraler Bestandteil und Anlass zur Entstehung der Einzelsegmente der Quelle waren, waren Publikum und Öffentlichkeit der Texte von Fortunatus und Gregor heterogener und wesentlich durch externe Einflüsse geprägt.

373 Vgl. Pohl 2013b, S. 23f. 374 Drinkwater 2013, S. 73: „To abandon the notion of perpetual hegemony, to be no longer part of the great enterprise, i. e. to be a citizen of something that was less than the Empire, was indeed to lose one’s essential Romanness. It may be argued that Romans living under barbarian kings might, for a while, have continued to believe in the Roman myth, because such kings were still at least nominally subordinaty to the eastern emperor, and the Empire might still return to take control of their lands. But even these would eventually have to accept the realities of the new world.“ von Rummel 2013a, S. 379: „To be Roman had lost one of its most important qualities in the late fifthcentury West, namely that of being part of the political and administrative system represented by the Roman Empire.“ Siehe außerdem Anm. 303 oben. 375 Felix von Nantes als ehrwürdiger Abschluss des alten Stammes: germinis antiqui venerabile culmen in orbe (Venantius Fortunatus, Carm. [Leo 1881], III, 8, 15, S. 58). 376 Siehe 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben. 377 Siehe 3 Zwischenräume oben.

5 Ausblick Die Latenz des ‚Römischen‘ in Gallien schlug im 7. Jahrhundert offenbar wieder verstärkt aus. Dabei widerspricht dies keineswegs der Vermutung bezüglich des relativ schnellen Verschwindens des formativen Selbstverständnisses der gallo-römischen Oberschicht im 6. Jahrhundert. Das Konzept der Latenz schließt Konjunkturen mit ein. Schon bei Venantius Fortunatus wurde ein kurzes Aufflackern der Romanitas registriert. Dabei ist Latenz nicht als eine lineare Entwicklung der Progression, Regression oder Stagnation zu verstehen, sondern als wellenartige Frequenz, weswegen es auch nicht zu verwundern braucht, dass die ‚Römer‘ im 7. Jahrhundert wieder stärker firmierten. Den Blick darauf, dass es sich tatsächlich um Konjunkturen und nicht etwa um Kontinuitäten handelte, verstellt ein wenig die Neigung der Forschung, „letzte Römer“ zu proklamieren (oder solche Zuschreibungen dankend aus den Quellen aufzunehmen) und damit unweigerlich einen teleologischen Prozess zu implizieren. Angefangen bei Aetius,1 über Syagrius,2 Sidonius Apollinaris,3 Venantius Fortunatus4 bis hin zu Desiderius von Cahors aus dem 7. Jahrhundert wurde noch jüngst die Reihe der „Last of the Romans“5 erweitert. Tatsächlich sind Desiderius und seine Adressaten aber wohl präziser als Latenzrömer zu bezeichnen. Von ihm und dem Kreis seiner Korrespondenten6 ist eine Briefsammlung vom Anfang des 7. Jahrhunderts überliefert. Die Sammlung enthält vor allem Freundschafts- und Empfehlungsbriefe von und an Desiderius in antiker Tradition,7 die auf den ersten Blick auf ähnliche Weise wie in den Jahrhunderten zuvor dazu dienten, ein Netzwerk aufrechtzuerhalten.8 Auffällig ist jedoch, dass direkte Zitate aus der antiken Literatur in den Briefen weitgehend fehlen.9 Das Briefeschreiben in traditioneller Form wurde vom Kreis um Desiderius zwar als nützliche Kulturtechnik praktiziert und sie „bedienten sich [. . .] derselben Selbstvergewisserungsstrategie“ wie die „spätantike[] Bildungselite“,10 aber sie demonstrierten dabei „einen 1 Vgl. zahlreich mit Berufung auf Prokop, BV (Haury 1962), I, 3, 15 S. 321; dazu zuletzt Meier 2016, S. 58–61. 2 Vgl. z. B. Rosen 2006, S. 83. 3 Vgl. z. B. Botermann 2005, S. 404. 4 Vgl. z. B. Dill 1926, S. 377. 5 Mathisen 2013b. 6 Vgl. zu Desiderius’ Korrespondentenkreis Mathisen 2013b, S. 456–458; Geary 2017. 7 Vgl. etwa Desiderius, Ep. (Arndt 1982), I, 6, S. 196; 7, S. 196f.; 10, S. 198f.; 11, S. 199f.; 14, S. 201; II, 6, S. 206; 16, S. 211f. 8 Desiderius, Ep. (Arndt 1982), II, 1, S. 203: Ergo nihil perdet absentiam, quod praesentialiter laborabit praesentiam. Semper in dirigendis apicibus beatitudo vestra solvit oficium, ut plus debeat reddendum agminis famulatum, quam meritis consideret debitorem. 9 Vgl. Schwitter 2013, S. 92f. 10 Schwitter 2013, S. 96. https://doi.org/10.1515/9783110629187-005

5 Ausblick

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radikalen Wandel im epistolaren Usus und in den Identitätskonzeptionen der Gruppe“.11 Ihr „self-fashioning“12 war nicht mehr ‚römisch‘ akzentuiert, zumal für das Netzwerk der Korrespondenten vor allem die fränkischen Höfe Chlothars II. und Dagoberts eine konstitutive Rolle gespielt zu haben scheinen.13 Die Briefsammlung des Desiderius ist damit kein Kennzeichen der geteilten Romanitas einer Elite, sondern vielmehr Ausdruck politischer Bündnisse und Allianzen.14 Ein „letzter Römer“ ist in Desiderius von Cahors also nicht unbedingt zu sehen, ‚Latenzrömer‘ wäre vielleicht zutreffender – so konstatiert Raphael Schwitter etwa: „Die Romanitas blieb über die literarische Tradition zwar latent [sic] präsent, hat aber ihre Funktion als zentrales Erkennungs- und Identitätsmerkmal der Bildungsgemeinschaft verloren.“15 Ethnische Zuschreibungen, wie sie in dieser Form bei Gregor von Tours nicht zu finden waren, liefert die Chronik des sog. Fredegar für den Beginn des 7. Jahrhunderts wieder.16 Nun treten scheinbar vereinzelt erneut ‚Römer‘ auf (genere Romanus).17 Diese Konjunktur des ‚Römischen‘ war jedoch, wie Helmut Reimitz jüngst konzise nachvollzogen hat, einer gezielten „reinvention of Roman and post-Roman history“18 geschuldet, die keineswegs Ausdruck eines römischen Selbstverständnisses im 7. Jahrhundert war.19 Vielmehr sollte so eine „integrative vision of the Franci“20 transportiert werden. Es ging also in erster Linie um die Konstituierung eines kollektiven fränkischen Selbstverständnisses,21 der etwa auch die gezielte Kürzung von Gregors Libri Historiarum Decem und selektive Textüberarbeitungen im 7. Jahrhundert dienten.22 ‚Latenz‘ erscheint erneut als gutes Konzept, um die amorphe „Romanness“ in der sog. Fredegar-Chronik auf einen Begriff zu bringen.23

11 Schwitter 2013, S. 94. 12 Siehe dazu 1.3 Methodik und Weg und für die Zeit des späten 5. und frühen 6. Jahrhunderts 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben. 13 Vgl. Drinkwater 2013, S. 74; Geary 2017, S. 29–32. 14 Patzold 2013, S. 561: „Um 630 definierten sich Angehörige der Elite in hohem Maße über ihren gemeinsamen Dienst am Königshof, und ihr Handeln war geprägt durch die Beziehungen, die sie in dieser Zeit bei Hof geknüpft hatten.“ 15 Schwitter 2013, S. 98. 16 Vgl. Goetz 2004, S. 557–560. 17 Fredegar, Chron. (Krusch 1888), IV, 24, S. 130; 28, S. 132; 29, S. 132; 78, S. 160. 18 Reimitz 2015, S. 228. 19 Vgl. auch Reimitz 2013, S. 285–288; Reimitz 2018, S. 303–306. 20 Reimitz 2015, S. 236. 21 Vgl. Reimitz 2015, S. 166–239. 22 Vgl. Reimitz 2015, S. 127–165, 198f. Vgl. dazu auch Reimitz 2012. 23 Vgl. hingegen suchend Fischer 2014, S. 443 f.: „rather than being clear-cut“, „deliberate selection of cultural components connected with Rome that were combined, or even mixed, with elements of different origins“, „constantly invented and reinvented“, „varied according to the specific context“, „different characteristics“, „refrain from an essentialism that constitutes Romanness as a homogeneous, absolute cultural category“, „highly changeable phenomenon“, „diverse cultural elements“, „merging with classical traditions“, „hybrid results“, „different ways and degrees of

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5 Ausblick

Als Emergenzen der Latenz sind weiterhin das je unterschiedliche Anknüpfen an die römische Vergangenheit der fränkischen Origo-Erzählungen24 und der ‚römische‘ Einfluss auf die allgemeine Perzeption von Geschichte, auf ihre Synthese und ihre Darstellung etwa in der Karolingerzeit zu verstehen.25 Ohne dass ihr dabei identitätsstiftender Charakter im historischen Diskursraum zugekommen zu sein scheint, zeigte sich die Romanitas ebenso in der Darstellung von Einzelpersönlichkeiten,26 gerade auch in der Hagiographie,27 in kulturellen Aspekten einzelner gallischer Regionen,28 in Teilen des Rechts,29 im anhaltenden Einfluss auf administrative, mentale und familiäre Strukturen bei der politischen Formierung des mittelalterlichen Adels30 und schließlich in der Erneuerung des römischen Kaisertums31 und der karolingischen Kunst.32 Wie sehr sich jedoch auch der Gehalt der Latenz im Laufe der Zeit wandeln konnte, illustriert eine spätmittelalterliche33 Marginalglosse, die den Text des Liber Historiae Francorum kommentiert, nachgetragen in einen Lütticher Codex aus dem 9. Jahrhundert34: Omnesque Romanes (!) tunc, qui tunc in Gallia habitabant, exterminavit Clodoveus, ut unus vix potuisset inveniri. Et videntur Franci illis temporibus linguam Romanam, qua usque hodie utuntur, ab illis Romanis, qui ibi habitaverant, didicisse.35 Sie steht am Rande des neunten Kapitels an einer Stelle, die von Chlodwigs Sieg über Syagrius 486/87 berichtet.36 Der unbekannte Kommentator erläutert dazu zunächst: Alle Römer in Gallien seien durch Chlodwig vernichtet worden. Wie gesehen, berichtet jedoch keine der überlieferten Quellen aus dem 5. oder 6. Jahrhundert (und auch nicht der Liber Historiae Francorum) von diesem Genozid an Römern in Gallien verantwortet durch den fränkischen König. Es darf vermutet werden, dass der Kommentator – nach einer Erklärung suchend, warum sich in der eigenen Gegenwart in seiner Umgebung niemand mehr als Römer verstand – schlechterdings annahm, die letzten Römer müssten schon vor vielen Generationen ohne Hinterlassenschaft verschwunden sein. Freilich wurde ihre Sprache (lingua

being Roman after Rome“. Siehe dazu auch 4.3 Latenzrömer oben. Von einer finalen Ablösung von der römischen Vergangenheit kann damit sicher auch nicht die Rede sein, vgl. so allerdings noch Stroheker 1948, S. 134f. 24 Vgl. Plassmann 2006, S. 147–190. 25 Vgl. McKitterick 2004. 26 Vgl. z. B. Scheibelreiter 2004 über Eligius von Noyon. 27 Vgl. Ewig 1976c, S. 247f. 28 Vgl. Geary 1985. 29 Vgl. etwa zum Sonderfall Burgunds im 7. Jahrhundert Esders 1997. 30 Vgl. Werner 1998. 31 Vgl. Sarti 2016. 32 Vgl. Chazelle 2007. 33 Vgl. Reimitz 2004, S. 295 mit Anm. 72. 34 Vgl. Lib. hist. Franc., App. (Krusch 1920), S. 772. Vgl. dazu auch Mathisen 2018, S. 267f. 35 Lib. hist. Franc., App. (Krusch 1920), S. 773. 36 Vgl. Lib. hist. Franc. (Krusch 1888), 9, S. 251.

5 Ausblick

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Romana) bewahrt: Vor der Vernichtung hätten die Franken sie noch rasch von den Römern erlernt, so erklärt der Kommentator – natürlich auf Latein. Die Sprache war also von den Römern zu den Franken übergegangen und diente nicht mehr der Unterscheidung der beiden Volksgruppen. Sprache (lingua) wiederum sei einer der Parameter, der die nationes von einander abgrenze, wie Regino von Prüm im 9. Jahrhundert ausführt: diversae nationes populorum inter se discrepant genere moribus lingua legibus.37 Fern war ein solches sprachliches Konzept der Differenzierung den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des 6. Jahrhunderts zwar auch nicht: In seiner Enzyklopädie führt Isidor von Sevilla etwa aus, dass ex linguis gentes, non ex gentibus linguae exortae sunt.38 Aber unabhängig von ihren Sprachkenntnissen (und den Sprachkenntnissen der Franken) war das römische Selbstverständnis der gallischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Isidors aus der Oberschicht jedoch offensichtlich latent geworden. Diese Latenz erschien im Rückblick dann als derartig radikaler Verlust, dass er sich im 9. Jahrhundert nur durch das Auslöschen eines Volkes erklären ließ, wie der Kommentator des Liber Historiae Francorum mit seinen Worten belegt. Vielleicht ist der Blick der Forschung auf das 5. und 6. Jahrhundert bisher etwas zu stark abgelenkt – etwa vom Wissen um die ‚ethnische Theorie‘ eines Regino aus dem 9. Jahrhundert –, um den Wahrnehmungen der Akteurinnen und Akteure der „Schwellenzeit“39 in Gallien gerecht zu werden. So wurde jüngst festgestellt: „we have been conditioned to expect ethnic rhetoric in the post-Roman world“40 – entlarvend wird dabei diese Konditionierung schon durch die Verwendung von „postRoman“ hier sogar offenbar ungewollt demonstriert. Mit anderen Worten: „Ethnische Abgrenzungen, so ließe sich folgern, sind [. . .] (allein) ein Problem der Forschung.“41

37 Regino, Ep. ad Hathonem (Kurze 1890), S. XX. Vgl. zu dieser Stelle auch Geary 1983, S. 19f. und zuletzt Haubrichs 2012, S. 36 f. 38 Isidor, Etym. (Lindsay 1911), IX, 1, 14. Vgl. auch Pohl 2012b, S. 16f. 39 Siehe 1 Einleitung oben. 40 Buchberger 2017, S. 131. Zu den „preconceptions“ (Mathisen 2018, S. 272) der Forschung bei der Identifikation von ‚Römern‘ vgl. Mathisen 2018, S. 272f. 41 Goetz 2004, S. 555.

6 Zusammenfassung Der fast hundertjährige Hiatus von in ihrer Aussagequalität vergleichbaren Quellen im Zeitraum zwischen den einschlägigen Werken des Sidonius Apollinaris, des Ruricius von Limoges und des Avitus von Vienne einerseits und schließlich des Gregor von Tours und des Venantius Fortunatus andererseits führt leicht in Versuchung, diese Bresche von drei Generationen ohne belastbare zeitgenössische Zeugnisse in der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung zu marginalisieren. Transformationen, vermeintliche Kontinuitäten, kalkulierte Fortführungen und Wiederholungen werden dort gesehen, wo sie zu Gunsten eines in sich geschlossenen Geschichtsbildes (oder -narrativs) Diskontinuitäten und Wesensänderungen der Zwischenzeit zu überbrücken und zu überdecken vermögen.1 Aber die Geschichte verläuft nur in der naturwissenschaftlichen Theorie des Chronometers linear. Tatsächlich ist sie von Unregelmäßigkeiten, Zufällen, Konjunkturen, Gleichzeitigkeiten, Ungleichzeitigkeiten und nicht zuletzt von Latenz geprägt. In Bezug auf die Frage nach der Entwicklung des Selbstverständnisses der gallo-römischen Oberschicht in der Schwellenzeit zwischen Imperium Romanum und regna motivierte das Bewusstsein um die Fallstricke reflexartiger Erklärungsmuster zur Anlage eines Dreischritts. Mit Sidonius, Ruricius und Avitus erwies sich der historische Diskursraum als Heimat epistolographischer Übergangsrömer, die ihr ‚römisches‘ Selbstverständnis durch ein pragmatisches zu ersetzen suchten, um ihrem sich ändernden politischen Umfeld effektiv zu begegnen. In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts durchliefen die Überreste des elitären Selbstverständnisses einen Prozess der Hybridisierung – die Hybridrömer bewegten sich in mehrerlei Hinsicht in Zwischenräumen. Keine römische Oberschicht mehr formierten die Latenzrömer, deren historischer Diskursraum in Bezug auf die Romanitas zunehmend fragmentiert erschien. Die Grenzen der drei Phasen hin zu den Latenzrömern der Generation um Gregor und Fortunatus sind dabei als fließend zu denken. Mit Pierre Bourdieu lässt sich die Entwicklung zwischen dem Ende des 5. und dem Ende des 6. Jahrhunderts als eine Veränderung der Kapitalformen beschreiben. Wenn etwa Sidonius Apollinaris mit Hilfe seiner Briefsammlung seine Rezipientinnen und Rezipienten implizit dazu anregt, das kulturelle Kapital der Romanitas in soziales Kapital in den neuentstehenden regna in Gallien umzuwandeln, dann ging der postulierte Pragmatismus unweigerlich zu Lasten des ethnischen Distinktionspotentials des 1 Mit der Deutung der Prozesse als Resultat der Besinnung der Akteurinnen und Akteure auf eine Form des Pragmatismus (siehe vor allem 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben) soll keine ausdrückliche Positionierung in der Debatte um Ende, Kontinuität oder Transformation der Antike (siehe zur Forschungskontroverse und ihrer Geschichte 1.2 Forschungsstand oben) verbunden sein, sondern sie darf als Appell verstanden werden, von Meistererzählungen und Verallgemeinerungen abzurücken und stattdessen den induktiv-kritischen Blick auf die Individualität der einzelnen Quellen wieder in den Vordergrund zu stellen. https://doi.org/10.1515/9783110629187-006

6 Zusammenfassung

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geteilten Selbstverständnisses. Jene Transformierung des Kapitals führte damit gleichzeitig zu einer Diffusion des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht. Der Begriff ‚Diffusion‘ macht dabei auch deutlich, dass hier kein Ende oder ein Bruch beschrieben werden sollen, sondern dieses Selbstverständnis allmählich in einen latenten Zustand überging und unterhalb der bewussten Oberfläche von Wahrnehmung und Darstellungsmöglichkeiten der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen weiterexistierte. Der Habitus und die „social marker“ der nobilitas mögen zwar in der Form ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Bezeichnung und mit Blick auf den ihnen zugeschriebenen Motivkreis in manchen Fällen bis in die Zeit Gregors und Fortunatus’ weitgehend ähnlich geblieben sein (etwa Prestige durch Amt, edle Abstammung, Landbesitz, Bildung etc.), wurden aber nicht mehr als (exklusiv) ‚römisch‘ verstanden. Selbstverständnis ist dabei grundsätzlich als Prozess des Verstehens der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu begreifen. Mit den Worten Wilhelm Diltheys gesprochen bedeutet dies, dass in den gleichen oder ähnlichen „Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind“ nicht mehr länger ein ‚römisches‘ „Inneres erk[annt]“2 wurde. Das ‚Römische‘ (Romanitas, Romanus, Romani) als Signifikat wird in der Schwellenzeit von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der Oberschicht zunehmend nicht mehr als ethnisch konnotiert wahrgenommen oder im historischen Diskursraum auf diese Weise dargestellt. Als in erster Linie politisch und kulturell verstandenes Sinnfeld, dessen biologisch-ethnisches Identifikationspotential ohnehin hinter seiner grundsätzlichen Integrationskraft zurückstand,3 rückte es unter dem Eindruck des verfassungsmäßigen Endes des weströmischen Imperiums in die Sphäre ethnischneutraler Deskription. Ethnische Bedeutungsnuancen waren entweder im doppelten Sinne nicht mehr Signifikant/signifikant oder wurden nur noch situativ und ad hoc aktiviert. Dies zeigte sich schon in der Zeit des Sidonius4 und trifft noch viel mehr auf Gregor von Tours zu, für den das Imperium Romanum kaum mehr als eine Randnotiz der (Heils-)Geschichte darstellte.5 Die Romanitas der Oberschicht wurde im Angesicht der Umwälzungen in Gallien nicht etwa dauerhaft mit patriotischem Widerstandsgeist aufgeladen oder zum politischen Sehnsuchtsideal stilisiert, sondern sie wurde zu einem amorphen Grundrauschen von Wissen und Praktiken im historischen Diskursraum – das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien wurde erst hybrid und dann latent. Gerade auf der Suche nach der diffusen fränkischen Identität scheint es so, als habe sich die ältere Forschung häufig einer scheinbar obligatorischen monolithischen römischen Identität als Kontrastfolie bedient. Das mag im Groben statthaft erscheinen, bei näherer Betrachtung bleibt die Fahndung nach einem dazugehörigen römischen

2 Dilthey 1968, S. 318. 3 Vgl. dazu etwa Pohl 1997, S. 33f.; Heather 1999, S. 241: „There was no overriding ethnic content, for instance, to concepts of Romanitas: ‚Romanness‘.“ 4 Siehe 2.3 Übergangsrömer: Poetologie und Pragmatismus oben. 5 Siehe 4.2.1 Der Blick zurück: Das römische Reich oben.

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6 Zusammenfassung

Selbstverständnis der Oberschicht aber erfolglos. Mögen (die Eliten der) Visigoten, Burgunder und Franken auch bemüht gewesen sein, ein ethnisch basiertes Selbstverständnis im 5., 6. und 7. Jahrhundert zu konstituieren, so bedeutet dies nicht unweigerlich im Umkehrschluss, dass dies auch für die Oberschicht der ‚Römer‘ zutreffen muss. Ganz im Gegenteil scheint zum Ende des 5. Jahrhunderts vielmehr die Etablierung eines flexiblen Selbstverständnisses in ihrem Interesse gewesen zu sein. Gerade die Festlegung auf eine gemeinsame Abstammung als Distinktionsmerkmal der Gruppe wäre dabei eher hinderlich gewesen, denn – einmal etabliert – wäre es gewissermaßen unumstößlich gewesen. Abstammung als Leitdifferenz kann nicht überzeugend wieder geändert werden und war damit für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu statisch, um auf die dynamischen Veränderungen in Gallien reagieren zu können.6 ‚Römisch‘ sollte damit nicht mehr das (ethnische) Selbstverständnis einer Elite bezeichnen, sondern in diesem Kontext einen amorphen Zustand der Latenz. Das indicium der nobilitas, die litterae (Sidonius Apollinaris), hatten das Feld verlassen (decedere) wie Gregor von Tours mit dem ersten Wort seiner Libri Historiarum Decem unbewusst festhielt. Die Romanitas war zu einer Eigenschaft geworden, die man unabhängig von seiner Geburt erwerben konnte und die sich unabhängig von der gentilen Zugehörigkeit ihrer Trägerinnen und Träger zuschreiben ließ (Fortunatus). Die ‚Zwischenräume‘ der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts waren einerseits durch eine relative Quellenarmut in Gallien gekennzeichnet und andererseits geprägt durch Hybridisierungen der Romanitas in den unabhängigen Reichen der Visigoten, Burgunder und Franken. In den barbarischen Leges, der Memoria, der brieflichen Korrespondenz, bei Marius von Avenches und in der Hagiographie sind hybride Phänomene zu greifen, die bereits Spuren der Latenz in sich tragen. Gregors ‚Klage‘ zu Anfang seines Geschichtswerks ist dann ein letztes äußeres Anzeichen des Übergangs eines hybriden Selbstverständnisses zu einer latenten Form. Seine Wahrnehmung eines Bildungsverlusts scheint unbewusster Ausdruck der Fragmentierung des historischen Diskursraums, der vormals ‚Ort‘ der Konstituierung des Selbstverständnisses einer römischen Oberschicht Galliens war. Gregor war offensichtlich mit seiner Agenda fest in seiner eigenen Gegenwart des merowingischen Frankenreichs mit seinen internen Auseinandersetzungen verankert. Er hatte das Imperium Romanum trotz seiner Ahnen aus seinem Geschichtsbild bereits

6 Die jüngere Forschung glaubt sich (berechtigterweise) von den Voreingenommenheiten der älteren Wissenschaft frei. Allerdings wird mit der Kontinuität von Institutionen und Strukturen (vgl. Werner 1998) vielleicht allzu leicht auch die Persistenz eines Bewusstseins der Romanitas gleichgesetzt, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Als Sinnbild mag das in Mode gekommene Adjektiv ‚post-römisch‘ dienen, das zwar eigentlich ‚nicht-mehr-römisch‘ sagt, aber dann doch in Wirklichkeit ‚irgendwie noch römisch‘ meint (vgl. als zufälliges jüngeres Beispiel für diese Diktion Sarris 2015; siehe dazu auch 5 Ausblick oben).

6 Zusammenfassung

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(halb) verdrängt.7 Desiderius von Cahors – wie auch andere „letzte Römer“ – taugt nicht wirklich als Revenant und Vertreter eines alten römischen Selbstverständnisses der Elite in Gallien. Sein epistolographisches Erbe hatte mit dem des Sidonius nur Äußerlichkeiten gemein und war lediglich Ausdruck der Konjunktur der Latenz im Frankenreich. „‚Eliten‘ im frühen Mittelalter waren, so scheint es, ein Faktum ohne Diskurs“,8 schreibt Hans-Werner Goetz zum Abschluss eines jüngeren Aufsatzes. Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht in der Schwellenzeit von Spätantike und Frühmittelalter war, so scheint es, am Ende ein latenter Diskurs ohne Faktum.

7 Vgl. zu Gregors Zurückhaltung bezüglich seiner ‚senatorischen‘ Abstammung Heinzelmann 1994, S. 8–10, 21f. 8 Goetz 2011, S. 125.

Abkürzungsverzeichnis CCSL

Corpus Christianorum, Series Latina

CSEL

Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum

EME

Early Medieval Europe

FmSt

Frühmittelalterliche Studien

FS

Festschrift

HABES

Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien

HZ

Historische Zeitschrift

KFHist

Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike

LAEMI

Late Antique and Early Medieval Iberia

MIÖG

Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung

MGH

Monumenta Germaniae Historica

AA

Auctores Antiquissimi

Epp.

Epistolae

LL nat. Germ.

Leges nationum Germanicarum

SS rer. Germ.

Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi

SS rer. Lang.

Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum saec. VI-IX

SS rer. Merov.

Scriptores rerum Merovingicarum

NA

Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde zur Beförderung einer Gesamtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichten des Mittelalters

ND

Neudruck

NF

Neue Folge

PLRE

The Prosopography of the Later Roman Empire

RGA

Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

RHDFE

Revue historique de droit français et étranger

RICG

Recueil des inscriptions chrétiennes de la Gaule antérieures à la Renaissance carolingienne

TRW

Transformation of the Roman World

VuF

Vorträge und Forschungen

https://doi.org/10.1515/9783110629187-007

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Stellenregister Augustinus, De civitate Dei – I, 7 41 Avitus, Contra Arrianos – 101 Avitus, Contra Eutychianam haeresim – I 102 – II 102 Avitus, Ep. – 1 56, 96 – 2 56, 96 – 3 56, 96 – 4 56, 96 – 5 56, 96 – 6 56, 96 – 7 47, 98 – 8 96 – 9 56 – 10 97 – 12 97 – 21 56, 96 – 22 56, 96 – 23 56 – 24 28, 55, 98 – 27 54 – 29 56, 96 – 30 56, 96 – 31 56, 96 – 32 56, 63, 96 – 34 69, 102 – 35 97 – 36 28, 55, 98 – 37 55, 97 – 38 56 – 39 55 – 43 47, 77 – 44 56, 96 – 45 56, 96 – 46 46, 56, 96–98 – 46a 56, 96 – 47 56, 68, 96 – 48 56 – 49 56, 97 – 50 55f. – 51 28, 55–57, 78, 98 – 52 28, 55, 98f. – 53 55, 77 https://doi.org/10.1515/9783110629187-010

– 55 57 – 56 54f., 63 – 57 78 – 66 65 – 72 65 – 74 65 – 76 56, 97 – 77 56, 97 – 78 56, 68, 96 – 79 56, 97 – 80 55, 57 – 81 55, 57 – 82 55 – 83 55, 65 – 84 55, 107 – 85 55 – 86 65, 70 – 90 103 – 91 56, 68, 96 – 92 56, 96 – 93 56, 96 – 94 56, 96 – 95 55, 78 Avitus, Hom. – XVI 102 Caesarius – Dum nimium 53, 103 – Serm. 102 Cassiodor, Chron. – 1217 43 – 1226 43 – 287f. 81 Cassiodor, Var. – IX, 21 73 Chron. Gall. – 68f. 42 – 102 43 – 106 43 – 118 43 Cicero, Lael. – 81 62 Claudianus Mamertus, De statu animae – praef. 77 Claudianus Mamertus, Ep. – 2 73

Stellenregister

Codex Euricianus – 276 120 – 277 120 – 312 120 Con. Gall. 511–695 127 Desiderius, Ep. – I, 6 176 – I, 7 176 – I, 10 176 – I, 11 176 – I, 14 176 – II, 1 176 – II, 6 176 – II, 16 176 Ep. Aust. – 1 126 – 2 46 – 3 126 – 5 133 – 6 126, 133 – 7 125, 133 – 9 126 – 10 126 – 12 126 – 13 125f. – 15 126 – 16 125f. – 17 126 – 18 125 – 19 125 – 20 118, 125 – 21 126, 133 – 22 125f. – 23 94 – 28 126 – 29 126 – 30 126f. – 32 126 – 33 126 – 34 126 – 35 126 – 36 126 – 37 126 – 38 126f. – 39 126 – 45 126 – 46 126

– 47 126 – 48 125f. Eufrasius, Postquam taediosam – 77 Faustus – De Gratia Dei 101 – De Spiritu Sancto 101 Faustus, Ep. – 8 101 – 9 101 – 10 101 Fredegar, Chron. – IV, 14 141 – IV, 16 141 – IV, 20 142 – IV, 24 177 – IV, 28 177 – IV, 29 177 – IV, 78 177 Gregor, Hist. – praef. 1, 170 – I, 17 143 – I, 18 143 – I, 19 143 – I, 24–35 143 – I, 25 143 – I, 31 147 – I, 32 161 – I, 36 144, 161 – I, 39 144 – I, 47 147 – I, 48 144 – II, 9 41, 138, 160 – II, 11 144, 147 – II, 12 161 – II, 13 147 – II, 18 44, 160 – II, 19 160 – II, 20 53, 147 – II, 21 30, 147 – II, 22 147, 169 – II, 27 44, 160 – II, 31 169 – II, 32 56, 159 – II, 33 45, 148, 161 – II, 34 169 – II, 37 45, 98

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Stellenregister

– III, 1 140 – III, 5 46 – III, 6 140 – III, 7 140 – III, 9 148 – III, 11 140 – III, 12 148 – III, 15 148, 158 – III, 17 147 – III, 18 140, 148 – III, 21 140 – III, 23 140 – IV, 13 148, 150 – IV, 20 141 – IV, 21 138, 141 – IV, 22 141 – IV, 23 139, 141 – IV, 24 150 – IV, 27 132 – IV, 30 141, 150 – IV, 35 148, 150, 159 – IV, 39 151 – IV, 43 151 – IV, 45 141 – IV, 46 148 – IV, 47 141 – IV, 48 159 – IV, 49 141 – IV, 51 138, 141 – V, praef. 131, 139 – V, 1 141 – V, 17 118 – V, 36 151 – V, 45 147, 169 – V, 46 125 – V, 47–49 151 – V, 49 146, 151 – VI, 2 161 – VI, 4 152 – VI, 7 147, 154 – VI, 9 148 – VI, 11 148, 164 – VI, 13 140 – VI, 32 151 – VI, 39 147, 169 – VI, 46 141 – VII, 29 159 – VIII, 18 151 – VIII, 31 159

– VIII, 32 153 – VIII, 39 147 – IX, 7 151 – IX, 20 141 – X, 1 169 – X, 19 165 – X, 31 131, 136f., 147, 171 Gregor, Lib. vit. pat. – I, 1 148 – II, praef. 136 – II, 2 136 – IV, 3 148 – VI 129 – VI, praef. 148 – VI, 1 129, 146, 148 – VII 129 – VIII 129 – VIII, 1 148 – XIV, 3 148 Gregor, Liber in gloria confessorum – 5 148 Gregor, Liber in gloria martyrum – 24 162 Hieronymus, Ep. – 123 41 Hydatius, Cont. Chron. Hier. – 69 42 – 92 43 – 93 43 – 98 43 – 108 43 – 112 43 – 117 43 – 160 44 Isidor, Etym. – IX, 1, 14 78, 179 – IX, 4, 12 6 Jordanes, Get. – XXXI 42 – XLV 32, 45 – XXXVI 43 Juvenal, Sat. – I, 15 31 Lex Romana Visigothorum – III, 14 121

Stellenregister

Lib. Const. – 54 121 – 55 121 – 84 121 Lib. hist. Franc. – 9 178 – 36 141 – App. 178 Marius, Chron. – 516 46 – 534 128 – 535 128 – 547 128 – 555 128 – 556 128 – 572 128 Merobaudes, Rel. – II 43 Pactus Legis Salicae – 41 122 Paulus Diaconus, Hist. Lang. – II, 13 133 Priscus, Frag. – 30, 1 44 – 39, 1 44 Prokop, BG – II, 29 133 – III, 33 118 Prokop, BV – I, 2 41 – I, 3 176 Prosp. Cont. Hav. – 406 41 – 411 41 Prosper Tiro, Chron. – 1230 41 – 1243 41 – 1250 42 – 1271 42 – 1290 43 – 1298 43 – 1322 43 – 1338 43 Regino, Ep. ad Hathonem – 179 Ruricius, Ep.

– I, 1 38, 101 – I, 2 38, 101 – I, 3 31, 38, 76 – I, 4 31, 77 – I, 5 31, 77 – I, 8 27 – I, 9 27 – I, 10 63, 77 – I, 11 53, 66, 95 – I, 12 62 – I, 18 38, 101 – II, 1 62 – II, 5 62, 107 – II, 7 53, 95 – II, 8 97 – II, 10 62 – II, 12 53, 95 – II, 13 101 – II, 15 96, 101 – II, 16 107 – II, 21 101 – II, 22 77 – II, 24 63 – II, 25 63 – II, 26 27f., 57, 112 – II, 27 28 – II, 32 28, 101 – II, 33 38, 103, 107 – II, 35 38, 103 – II, 36 107 – II, 39 53 – II, 41 28 – II, 43 64 – II, 44 64 – II, 45 64 – II, 49 62 – II, 51 106 – II, 53 53 – II, 54 64 – II, 55 62 – II, 59 62 – II, 61 53 – II, 63 53 Salvian, De gubernatione Dei – VI, 39 43 Salvian, Ep. – I 43 Sedatus

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Stellenregister

– Reficit me 107 – Satis credidi 107 Sidonius, Carm. – I 31 – II 31 – IV 31 – V 2, 31, 82 – VI 31 – VII 31, 43f., 82 – IX 31 – XXIII 83 Sidonius, Ep. – I, 1 27, 33, 36f., 104 – I, 2 47, 79f. – I, 3 30, 49, 57, 61 – I, 4 49, 61 – I, 6 50, 58, 61 – I, 7 81f. – I, 8 92 – I, 9 32 – I, 11 31, 59, 81 – II, 1 67, 85, 91 – II, 2 30, 66 – II, 3 60 – II, 4 59, 62, 87, – II, 6 70 – II, 9 65f. – II, 10 31, 70f., 107f. – II, 11 108 – II, 14 66 – III, 1 84 – III, 3 85f. – III, 4 86 – III, 6 50, 58, 61 – III, 7 88 – III, 8 51 – III, 11 62 – III, 14 35, 108 – IV, 1 31, 94, 109 – IV, 3 110 – IV, 8 84 – IV, 10 34, 90, 110 – IV, 12 30, 69 – IV, 14 67, 110 – IV, 15 53, 66 – IV, 16 27 – IV, 17 93, 100 – IV, 20 83 – IV, 21 110

– IV, 22 33f., 70, 87, 91 – V, 1 110 – V, 5 94f. – V, 6 88 – V, 8 70 – V, 9 58, 61, 70 – V, 10 71f., 111 – V, 12 92 – V, 13 85 – V, 15 27 – V, 17 109 – V, 21 111 – VI, 6 86 – VII, 1 68, 86 – VII, 5 68 – VII, 6 68, 86, 88, 90 – VII, 7 32, 86, 90 – VII, 8 101 – VII, 9 101 – VII, 10 94 – VII, 12 58, 61, 91, 100 – VII, 14 65, 86, 111f. – VII, 17 53, 85 – VII, 18 33–35, 89, 106 – VIII, 1 35f., 75, 105 – VIII, 2 1, 30, 72 – VIII, 3 32, 75, 86f., 91 – VIII, 4 71, 75, 100 – VIII, 5 75, 104 – VIII, 6 35, 76, 91f. – VIII, 7 51f., 57, 61 – VIII, 8 52, 58, 61 – VIII, 9 30, 33, 52, 76, 87 – VIII, 10 27 – VIII, 12 65 – IX, 1 33, 35f., 105 – IX, 2 100 – IX, 5 90 – IX, 9 101 – IX, 11 35, 106 – IX, 13 109 – IX, 16 36 V. Caesarii – I, 3 129 – I, 9 130 V. Gaugerici – 1 129 V. Germani

Stellenregister

– 1 129 V. Remedii – 1 130 Venantius Fortunatus, Carm. – praef., 1 166 – praef., 3 134 – praef., 4 133, 166 – praef., 5 134 – I, 1 133 – I, 2 133 – I, 15 156 – I, 18 153 – I, 18–20 153 – II, 8 144, 156 – III, 1 154 – III, 4 168 – III, 5 168 – III, 8 145, 157, 167, 175 – III, 18 145f. – III, 21 134 – IV, 1 157 – IV, 5 145f., 157 – IV, 10 145f. – IV, 11 168 – IV, 17 146, 156 – IV, 21 157 – IV, 26 156 – V, 3 133 – VI, 1 132 – VI, 2 155, 168 – VII, 1 152, 168

– VII, 7 145, 152, 157, 167 – VII, 8 155 – VII, 9 154 – VII, 10 165 – VII, 11 154 – VII, 12 146 – VII, 14 157 – VII, 16 152, 157 – VII, 18 154 – VII, 19 155 – VIII, 3 146 – VIII, 14 154 – VIII, 17 154 – VIII, 19 133, 154 – VIII, 19–21 154 – VIII, 20 133 – IX, 6f. 154 – IX, 9 168 – IX, 13 155 – IX, 16 155 – X, 6 146 – app. 32 167 Venantius Fortunatus, V. S. Martini – I 133 – IV 133 Vergil, Ecl. – VIII 33 Zosimos, Hist. nov. – VI, 5 41

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Orts- und Personenregister Nicht aufgenommen wurden ‚Gallien, Gallier, gallisch‘, ‚Römer, römisch‘ und Bezeichnungen, die auf das (west)römische Reich, Imperium, Imperium Romanum etc. verweisen. Abkürzungen: Ad. = Adressat/in; Bf. = Bischof; B. = Bruder; Gem. = Gemahlin; Gv. = Großvater; Ks. = Kaiser; Kg. = König/in; M. = Mutter; O. = Onkel; S. = Sohn; Schw. = Schwester; V. = Vater Aegidius, Heermeister 44, 78, 93, 160f. Aetius, Heermeister 43f., 80, 176 Afrika 128 Agde 38 Agricola, S. d. Eparchius Avitus 28, 80f. Agroecola, Bf. v. Chalon 169 Agroecola, patricius 150 Aire 85 Alanen, alanisch 41, 94 Alarich I., visigot. Kg. 41 Alarich II., visigot. Kg. 45, 56, 98, 120 Albofledis, Schw. d. Chlodwig 126 Alemannen, alemannisch 41, 43 Amiens (Ambiani) 41 Ansemundus, Ad. d. Avitus 57, 97 Anthemius, weström. Ks. 31f., 45, 81, 85 Aper, Ad. d. Sidonius 110 Apollinaris, Bf. v. Valence 54 Apollinaris, Gv. d. Sidonius 61 Apollinaris, O. d. Sidonius 66, 69 Apollinaris, S. d. Sidonius 28, 30, 56f., 69, 77f., 98f., 112 Aquilinus, Ad. d. Sidonius 58, 61, 70 Aquitanien (Aquitania I, II), aquitanisch 41f., 68, 140, 156 Arbogast, Ad. d. Sidonius 92–94, 126 Arcadius, S. d. Leontius 146, 156 Arcadius, senator 148 Arigius, Ad. d. Avitus 56f., 97 Arles 31, 118, 150 Arras (Atrabatae) 41 Arvandus, Bekannter d. Sidonius 81f., 88, 91 Attalus, senator 158 Attila, hunn. Kg. 43 Audax, Ad. d. Sidonius 51f., 57, 61 Augustus 143 Aurelianus, Ad. d. Avitus 97 Auspicius, Bf. v. Toul 94 Austrasien, austrasisch 124–127, 168 Autun (Augustidunensis) 128f.

https://doi.org/10.1515/9783110629187-011

Auvergne, Auvergnaten, auvergnatisch 1, 32, 36, 45, 47, 51f., 68, 70, 72, 84–86, 90, 92, 98, 105, 110, 135, 147f., 151 Avenches 127f. Avitus, Ad. d. Sidonius 84 Avitus, Archidiakon 136 Avitus, Bf. v. Vienne 3, 13, 20, 25, 27f., 39f., 46–48, 54–57, 59, 63, 65, 67–69, 74, 76–78, 96–99, 101–103, 107, 112–116, 118, 124, 126f., 131, 154, 157, 169, 175, 180 Avolus, Bekannter d. Venantius Fortunatus 157 Bagauden 42 Barbaren, barbarisch 9f., 15, 24, 42, 56, 59, 67, 71, 73, 78f., 82–87, 90–95, 114–116, 121, 128, 133f., 154–156, 158f., 163, 165, 173, 182 Belgien (Belgica I, II), belgisch 46, 93, 126 Belisar, oström. General 128, 133 Bobolen, Günstling d. Fredegunde 153 Bordeaux 33, 173 Bourges 101, 147 Britianius, V. d. Palladius 151 Britannien 41 Brunichilde, Gem. d. Sigibert 126, 132, 134 Burgund 123, 178 Burgunder, burgundisch 2, 7, 12, 17, 32, 39, 41–45, 47, 51, 56f., 63, 65, 68, 81, 86, 88–90, 94–97, 100, 102, 114–116, 119, 121f., 124, 126f., 131, 140, 147, 159, 161, 164, 181f. Butilin, dux 128 Byzantiner, byzantinisch, Byzanz 68, 103, 119, 125–127, 133, 161 Caesar 76, 91, 143 Caesaria, M. d. Palladius 151 Caesarius, Bf. v. Arles 53, 102f., 107, 129f. Calminius, Ad. d. Sidonius 92 Cambrai (Camaracum) 160 Carcassonne 32

Orts- und Personenregister

Cassiodor 73 Cato, röm. Politiker 145 Celsus, Ad. d. Ruricius 62 Celsus, patricius 150 Ceraunia, Ad. d. Ruricius 96 Ceretius, Bekannter d. Avitus 55 Chalon (Cabillonnensis) 169 Champagne 151 Charibert, fränk. Kg. 141, 155 Childebert I., fränk. Kg. 140f., 148, 158 Childebert II., fränk. Kg. 124f., 141, 164 Childerich, fränk. Kg. 44, 160f. Chilperich I., fränk. Kg. 118, 141, 161 Chilperich II., fränk. Kg. 125 Chlodomer, fränk. Kg. 140, 148 Chlodwig, fränk. Kg. 44–46, 56, 97f., 118, 126, 131, 135f., 139f., 144, 160, 178 Chlogio, fränk. Kg. 160 Chlothar I., fränk. Kg. 131, 138, 140f. Chlothar II., fränk. Kg. 141f., 177 Chrodin, dux 155 Cicero 72f., 107 Claudianus Mamertus, Ad. d. Sidonius 77, 109f. Clermont 1, 32f., 36, 39, 45, 68, 84, 86–88, 98, 100, 147f., 150f., 173 Conda, Bekannter d. Venantius Fortunatus 157 Consentius, Ad. d. Sidonius 71, 75, 100 Constantius, Ad. d. Sidonius 33, 36, 104, 106 Constantius, Heerführer 41f. Constantius, vermutl. S. d. Ruricius 63 Dagobert, fränk. Kg. 177 Demosthenes 72f. Desiderius, Bf. v. Cahors 5, 26, 176f., 183 Domitius, grammaticus 30, 65 Domnicius, Ad. d. Sidonius 83 Domnola, Witwe 153 Domnulus, Bekannter d. Avitus 98 Donidius, Ad. d. Sidonius 66 Ecdicius, magister militum 32, 67, 78, 85 Elaphius, Ad. d. Ruricius u. Sidonius 53, 66, 95 Eleutherius, V. d. Germanus 129 Eligius, Bf. v. Noyon 178 Ennodius, Bf. v. Pavia 73 Epao 40, 103 Eparchius Avitus, weström. Ks. 28, 31f., 38, 44, 80–82, 144, 147

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Eriphus, Ad. d. Sidonius 109 Eucherius, Ad. d. Sidonius 50f., 67, 85, 147 Eudomius, Ad. d. Ruricius 53 Eufrasius, Ad. d. Avitus u. Ruricius 77 Eufrasius, Priester 159 Eufronius, Bf. v. Tours 136, 154 Eumerius, Bf. v. Nantes 157 Euodius, Ad. d. Sidonius 84 Eurich, visigot. Kg. 1, 32f., 36, 45, 52, 67f., 75f., 81f., 84, 86–88, 90, 116, 120 Eusebia, M. d. Germanus 129 Eusebius, grammaticus 31 Eutropius, Ad. d. Sidonius 50, 52, 58, 61 Eutyches, Presbyter 169 Exsuperius, Bf. v. Toulouse 41 Faustus, Ad. d. Avitus 68 Faustus, Bf. v. Riez 38, 101 Felix, Bf. v. Nantes 145, 156, 167f., 175 Ferreolus, Ad. d. Sidonius 58, 61, 66, 91 Ferreolus, Bf. v. Uzès 154 Filimatius, Ad. d. Sidonius 49, 52, 57, 61 Firminus, Ad. d. Sidonius 105 Firminus, comes 150 Flavius Nicetius, Gelehrter 76, 92 Flavius, Bekannter d. Venantius Fortunatus 154 Fortunalis, (vermutl. fiktiver) Ad. d. Sidonius 75 Franken, fränkisch 1f., 7, 11–15, 17, 19, 23f., 43–46, 56, 83, 92f., 97, 100, 102, 114–116, 119, 121–128, 131–133, 135f., 138–145, 149–155, 158–168, 172–175, 177–179, 181–183 Fraretrius, Bekannter d. Ruricius 95 Freda, Ad. d. Ruricius 53, 66, 95 Fredegar (sog.), Geschichtsschreiber 26, 177 Fredegunde, Gem. d. Chilperich I. 141, 153 Gallus, Bf. v. Clermont 129, 136, 148 Gascogne (Novempopulana) 41 Gaudentius, Ad. d. Sidonius 49f., 52, 60 Gaugerich, Bf. v. Cambrai 129 Gepiden 41 Germanen, germanisch 15, 52, 79, 94, 118, 124f., 142, 162–165 Germanien 41 Germanus, Bf. v. Paris 129f. Gogo, nutricius 125, 127, 133, 152, 168f. Graecus, Bf. v. Marseille 86 Gregor d. Gr. 169

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Orts- und Personenregister

Gregor, Bf. v. Langres 129 Gregor, Bf. v. Tours 1–3, 7, 13–15, 18, 21, 26, 30, 56, 98–100, 115, 118, 129, 131–140, 143–154, 158–164, 166, 169–175, 177, 180–183 Grenoble (Gratianopolis) 108 Gundobad, burgund. Kg. 40, 45f., 56, 96, 121, 159, 161, 169 Gundulf, dux 164f. Gunthram, fränk. Kg. 141, 150, 173 Helpidius, Ad. d. Avitus 55 Heraclius, Ad. d. Avitus 77, 96 Herodes 143 Heruler 41 Hesperius, grammaticus 30f., 33, 70–73, 76f., 107f. Hibernia, Gem. d. Ruricius 38 Hieronymus, Kirchenvater 41 Hispanien, hispanisch 41f., 53 Hoenius, grammaticus 31 Honorius, weström. Ks. 41f., 61 Hunnen, hunnisch 43 Isidor, Bf. v. Sevilla 179 Italien, Italier, italisch 2, 21, 26, 32, 40–42, 45, 55, 80, 97, 128, 132f., 135, 140, 145, 147, 166, 171, 174 Javols 151 Johannes, Ad. d. Sidonius 1, 30, 72f., 75, 77, 93, 103 Jordanes, Geschichtsschreiber 32 Jovinus, weström. Usurpator 41 Julian, Ad. d. Sidonius 89f. Julius Nepos, weström. Ks. 1, 32, 45, 86, 90 Justinian, oström. Ks. 118 Justinus, Ad. d. Sidonius 111 Juvenal, Dichter 31 Kimbrische Halbinsel (Cymbricae) 41 Köln 43, 92 Konstantin d. Gr., röm. Ks. 144 Konstantin, weström. Ks. 41 Konstantinopel 40, 42, 56, 169

Lampridius, Ad. d. Sidonius 30, 32f., 87 Langobarden 163 Launebod, dux 156 Laurentius, Bekannter d. Avitus 56 Lausanne 128 Leo, Ad. d. Sidonius 32–34, 75f., 87, 91, 96, 116 Leonianus, Bote 65 Leontius, Bf. v. Bordeaux 146, 153, 156 Leudast, comes 151 Limoges 38 Livia, Festung 32 Lugdunensis 41 Lukullus, röm. Feldherr 65 Lupus, dux 145, 151f., 154, 157, 165, 167f. Lyon 30f., 50, 143 Mâcon 127 Magnulf, B. d. Lupus 165 Magnus Felix, Ad. d. Sidonius 34, 60, 86, 90, 110 Mainz (Mogontiacum) 41, 43, 92 Majorian, weström. Ks. 31, 82 Marius, Bf. v. Avenches 3, 26, 127f., 182 Marseille 173 Martin, Bf. v. Tours 133, 136, 144, 148 Maximus, Bf. v. Genf 65 Menander, Dichter 69 Menstruanus, Bekannter d. Sidonius 70 Merowech, fränk. Kg. 160 Messianus, Ad. d. Avitus 54f., 63 Mommolenus, Bekannter d. Venantius Fortunatus 157 Montius, Ad. d. Sidonius 59 Moriner 41 Namatius, Ad. d. Sidonius 75f., 78, 91f. Narbonensis 41 Narbonne 83 Nero, röm. Ks. 143 Nicetius, Bf. v. Lyon 129 Nicetius, Bf. v. Trier 133 Nicetius, dux 151 Nogent (Novigentum) 161 Ommatius, S. d. Ruricius 38 Orléans 140 Ostgoten, ostgotisch 12, 97, 128

Orts- und Personenregister

Palladius, comes 151 Pannonien, pannonisch 41 Päonius, Verleumder d. Sidonius 59, 81 Papianilla, Gem. d. Sidonius 31, 65 Paris 118, 129, 140, 156, 173 Parthenius, Bf. v. Javols 151 Paulinus, Bf. v. Nola 60 Paulus, comes 44, 78, 93, 160 Pegasius, Ad. d. Sidonius 70 Petronius Maximus, weström. Ks. 80 Petronius, Ad. d. Sidonius 75, 105, 110 Philagrius, Ad. d. Sidonius 111f. Placidus, Ad. d. Sidonius 108f. Platon 101 Plinius d. J. 27, 104 Poitiers 133f., 141 Polemius, Ad. d. Sidonius 67, 110 Pompeius, röm. Politiker 145 Praesidius, Ad. d. Ruricius 53, 95 Pragmatius, Bekannter d. Sidonius 71 Probus, Ad. d. Sidonius 109 Proiectus, Bekannter d. Sidonius 59, 62 Provence 140 Quaden 41 Ragnahilda, Gem. d. Eurich 84 Ravenna 133 Regino, Abt v. Prüm 179 Reims (Remorum) 41, 140 Remigius, Bf. v. Reims 46, 126, 130, 169 Ricimer, Heermeister 45 Rodez (Rutena) 151 Rom 1, 31f., 40f., 50f., 81, 128, 145 Romanen, romanisch 15, 24, 118, 130 Romanus, Konkurrent d. Palladius 151 Romulf, S. d. Lupus 165 Romulus Augustulus, weström. Ks. 45, 144 Ruricius II., Bf. v. Limoges 157, 167 Ruricius, Bf. v. Limoges 3, 13, 20, 25, 27f., 30f., 38–40, 46–48, 53f., 56f., 59, 62–70, 74, 76–78, 95–97, 101, 103, 106f., 112–116, 118, 124, 126f., 131, 154, 157, 167, 175, 180 Rusticus, Ad. d. Sidonius 108 Rusticus, Gv. d. Simplicius 61 Sabellius, Priester 169 Sacerdos, Ad. d. Sidonius 111 Sachsen, sächsisch 41, 43, 91, 160

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Sagittarius, Ad. d. Sidonius 59, 62 Sapaudus, Ad. d. Sidonius 70–72, 111 Sarmaten 41 Saturninus, Bf. v. Toulouse 144 Scipio, röm. Politiker 145 Secundinus, Ad. d. Sidonius 70 Sedatus, Bf. v. Nîmes 107 Seronatus, Verbündeter d. Visigot. 85, 91 Sidonius Apollinaris, Bf. v. Clermont 1–3, 5, 7, 13, 18, 20, 23, 25, 27f., 30–40, 44, 46–53, 56–63, 65–116, 118, 124, 126f., 130f., 139f., 147, 153–155, 157, 166, 169, 171, 175f., 180–183 Sidonius, Bf. v. Mainz 168 Sigibert, fränk. Kg. 132, 134, 136–139, 141, 145, 150–152, 157, 167, 169 Sigismer, vermutl. fränk. Prinz 83 Sigismund, burgund. Kg. 40, 46, 56, 63, 68, 96f., 121 Simplicius, Ad. d. Sidonius 61f. Simplicius, Bf. v. Bourges 101 Simplicius, O. d. Sidonius 61, 69 Sizilien 128 Soissons 118, 140, 160f. Solon 94f. Speyer (Nemetae) 41 Straßburg (Argentoratum) 41 Sueben, suebisch 41 Syagrius, Ad. d. Sidonius 52, 58, 61, 94f. Syagrius, S. d. Aegidius 44, 78, 93, 160, 176, 178 Symmachus, Ad. d. Avitus 68 Symmachus, Rhetoriker 27, 60, 104 Terenz, Dichter 69 Theoderich II., visigot. Kg. 31, 44, 79–83, 85 Theodosius d. Gr., röm. Ks. 2 Theodosius II., oström. Ks. 85 Theudebald, fränk. Kg. 126, 141 Theudebert I., fränk. Kg. 118, 126, 140f. Theudebert II., fränk. Kg. 142 Theudegisel, visigot, Kg. 162 Theuderich I., fränk. Kg. 140, 148, 158 Theuderich II., fränk. Kg. 142 Thüringer 140, 161 Tiberios Konstantinos, oström. Ks. 161 Toulouse (Tolosa) 41f., 53, 103, 144 Tournai (Tornacum) 41 Tours 131, 133, 136–139, 141, 146f.

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Orts- und Personenregister

Trajan, röm. Ks. 155 Trier 92f., 158 Ulfila, Bote 95 Uzès (Ucetica) 151 Valence 54 Valentinian III., weström. Ks. 43, 80 Vandalen, vandalisch 12, 41 Venantius Fortunatus 3, 13, 21, 26, 118, 129, 131–135, 144–158, 163, 166–169, 171, 173–176, 180–182 Venetien 133 Vergil, Dichter 33

Victorius, comes 53, 90, 147 Vienne 39, 147 Vilithuta, Bekannte d. Venantius Fortunatus 156 Visigoten, visigotisch 1f., 7, 12f., 17, 31–33, 38f., 41–45, 47, 51–54, 56, 64, 66f., 72–74, 76, 79–88, 90–92, 95f., 98, 100, 102, 114–116, 119–121, 131f., 140, 144, 160–162, 182 Vittamerus, Ad. d. Ruricius 53, 96 Vouillé 45 Wallia, visigot. Kg. 42 Worms (Vangionum) 41