Das Europa der Bibliographen: Von Brunet bis Estreicher 9783110649369, 9783110644692

Bibliographies and catalogs are crucial tools for academic research, but their authors are rarely given the recognition

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German Pages 177 [178] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Das Europa der Bibliographen
Jacques-Charles Brunets Manuel du libraire et de l’amateur de livres als Leistung und Vorbild
William Thomas Lowndes, Henry G. Bohn und das Bibliographer’s Manual
Ludwig Hains Repertorium bibliographicum – „Die hervorragende Leistung eines Dilettanten“
Universalität und musisches Empfinden – Johann Georg Theodor Graesse
Julius Petzholdt – Gründervater einer neuen Disziplin
Hugo Hayn – Der Mann, der die Liebe katalogisierte
Michael Holzmann – „Einer der großen Bibliographen der Welt“
Nil desperandum – die Bibliografia Polska als Teil der nationalen Selbstfindung und Werk der Familie Estreicher
Editorische Notiz
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Das Europa der Bibliographen: Von Brunet bis Estreicher
 9783110649369, 9783110644692

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Karl Klaus Walther Das Europa der Bibliographen

Bibliotheks- und Informationspraxis

 Herausgegeben von Klaus Gantert und Ulrike Junger

Band 66

Karl Klaus Walther

Das Europa der Bibliographen 

Von Brunet bis Estreicher

ISBN 978-3-11-064469-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064936-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064528-6 Library of Congress Control Number: 2019940613 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Einbandabbildung: jovan_epn / iStock / Getty Images Plus und Nastco / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorbemerkung  1 Das Europa der Bibliographen  2 Von der literarischen Gründerzeit zum Europa der Bibliographen  4 Die Ordnung der Bibliotheken  9 Bibliographen in ihrer Zeit  14 Curiosa und Erotica  20 Ausblick  23 Jacques-Charles Brunets Manuel du libraire et de l’amateur de livres als Leistung und Vorbild  26 William Thomas Lowndes, Henry G. Bohn und das Bibliographer’s Manual  37 Ludwig Hains Repertorium bibliographicum – „Die hervorragende Leistung eines Dilettanten“  48 Die frühen Jahre  48 Die rechte Hand von Brockhaus  51 Der Sturz  53 In München. Das Repertorium bibliographicum  56 Universalität und musisches Empfinden – Johann Georg Theodor Graesse  66 Literärgeschichte und Bibliographie  70 Volkskunde, Sagenforschung, Textausgaben  79 Neue Ordnungen – neue Themen  83 Julius Petzholdt – Gründervater einer neuen Disziplin  85 Modernisierungsschub und Selbstorganisation  87 Die Bibliotheca bibliographica  91 Der Katechismus der Bibliothekenlehre  95 Das Adreßbuch deutscher Bibliotheken  97 Hugo Hayn – Der Mann, der die Liebe katalogisierte  100 Michael Holzmann – „Einer der großen Bibliographen der Welt“  121

VI  Inhalt

Nil desperandum – die Bibliografia Polska als Teil der nationalen Selbstfindung und Werk der Familie Estreicher  135 Stanisław Estreicher  149 Karol Estreicher der Jüngere  151 Editorische Notiz  165 Register  167

Vorbemerkung Das Europa der Bibliographen – zwei Begriffe, die nicht zueinander zu passen scheinen. Täglich wird Europa mit seinen vielen Problemen neu diskutiert, doch die Tätigkeit der Bibliographen und ihrer Kollegen, der Bibliothekare, erregt nur selten das allgemeine Interesse. Daher stehen die Autoren, die hier versammelt sind, stellvertretend für all die Verfasser von Bibliographien und Katalogen, in denen das schriftliche Erbe Europas verzeichnet ist. Diese Werke gehören ebenso wie Lexika, Nationalwörterbücher, Quelleneditionen, Literaturgeschichten und umfangreiche Handbücher für einzelne Wissensgebiete zu den großen enzyklopädischen und verlegerischen Leistungen des 19. Jahrhunderts, das mit dem Blick auf diese Publikationen gelegentlich auch ein „goldenes Zeitalter“ genannt wird. Die Lebensumstände der Bibliographen sind in mehr als einem Fall diametral der Bedeutung ihrer Werke entgegengesetzt, doch beides, Leben und Werk, sind untrennbare Bestandteile einer großen gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur. Auf unterschiedliche Weise finden die Zeitverhältnisse ihren Widerhall, und deshalb stehen sich Jacques-Charles Brunet und die Familie Estreicher mit der Bibliografia Polska einander näher als es ein flüchtiger Blick zunächst vermuten läßt.

https://doi.org/10.1515/9783110649369-202

Das Europa der Bibliographen Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern –

Diese gern zitierten Eingangsverse zum West-Östlichen Divan Johann Wolfgang von Goethes sind der poetische Widerhall auf die Turbulenzen, deren Zeugen er und seine Zeitgenossen seit dem Beginn der Französischen Revolution geworden waren.1 Der Sturz der französischen Monarchie, die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Aufstieg und Sturz Napoleons und die militärischen Auseinandersetzungen griffen tief in das soziale und politische Gefüge Europas ein und prägten die Jahre zwischen 1790 und 1820. Verbunden waren diese Ereignisse mit einer bis dahin nicht bekannten Umschichtung von Kulturgütern aller Art, deren Schicksal von zwei grundlegenden Positionen abhing, der kulturrevolutionären Geringschätzung der Zeugnisse der Vergangenheit einerseits und andererseits den Bemühungen, sie vor Vandalismus, Raub und Verschleuderung zu bewahren. So unterschiedlich die Vorgänge im Detail ihrer Abläufe waren, in jedem Falle standen die Akteure einer Unmenge von Büchern, Kunstwerken und Dokumenten der verschiedensten Art gegenüber, über deren Schicksal sie zu entscheiden hatten, für deren geordnete Unterbringung und Erschließung die bestehenden Sammlungen und ihre Mitarbeiter jedoch nicht vorbereitet waren. So begann eine neue Generation von Bibliothekaren, Buchhändlern, Antiquaren und Sammlern mit der Sichtung, Ordnung und Beschreibung dessen, was sie vorfanden. Ihre Befunde veröffentlichten sie in gedruckten Bibliothekskatalogen oder in Bibliographien, die ebenso wie die Lexika, Wörterbücher oder Ausgaben älterer Literaturdenkmäler zwar formal zum tradierten wissenschaftlichen Kanon gehörten, jetzt aber eine inhaltlich neue Ausprägung erhielten. Es setzte trotz aller Schwierigkeiten eine „literarische Gründerzeit“ (Friedrich Sengle)2 ein. Bibliographien und Kataloge waren nichts absolut Neues, sondern sind seit dem Beginn schriftlicher Überlieferungen nachweisbar. Eine erste Blütezeit erlebten sie im 18. Jahrhundert, als umfassende Bücherverzeichnisse von Verlegern und Buchhändlern sowie Kataloge von öffentlichen und privaten Bibliotheken im Druck zu erscheinen begannen. Allerdings ist der Anspruch, den Theophil Georgis Allgemeines europäisches Bücherlexikon (Leipzig 1742–1758) im Titel erhob, irreführend, da vor allem die Titel verzeichnet wurden, die in

1 Es wird die „alte“ Rechtschreibung verwendet. 2 Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. 1. 2. Stuttgart 1971–1972. https://doi.org/10.1515/9783110649369-001

Das Europa der Bibliographen 

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Deutsch, Lateinisch oder Französisch auf der Leipziger Messe angeboten wurden. Bibliographien und Kataloge werden bis heute vor allem unter dem Aspekt der Nützlichkeit betrachtet, der innere Gehalt und die Zuverlässigkeit der Angaben bestimmen das Urteil über sie. Dieser Aspekt verschleiert die Tatsache, daß es sich bei den bibliographischen Nachschlagewerken um eine eigenständige Literaturgruppe handelt, in der sich im Zusammenspiel mit anderen Literaturformen Überlieferung und Vermittlung kultur- und geistesgeschichtlicher Kenntnisse niederschlagen. Bibliographien folgen in Theorie und Methodik ihrer Erarbeitung sowie in ihren Inhalten oder der Gliederung der allgemeinen wissenschaftlichen Entwicklung, in ihnen spiegeln sich Tendenzen der Zeit ebenso wie die modische Zuwendung zu bestimmten Themen oder deren Vernachlässigung und Ignorierung. Das aufmerksame Lesen in einer Bibliographie kann mehr sein als eine zweckorientierte Recherche, es macht den Leser auf Lücken, Auslassungen oder Unstimmigkeiten aufmerksam, vermittelt ihm einen ersten Eindruck zum Forschungsstand eines Themas und regt zu eigenen Forschungen an. Wie andere Formen wissenschaftlicher Literatur sind auch Bibliographien und Kataloge dem Prozeß des Veraltens unterworfen, der nicht allein vom Erscheinungsdatum abhängt. Die Häufigkeit, mit der einige ältere Bibliographien bis zum heutigen Tage zitiert werden, weist sie als Standardwerke ihrer Disziplin aus. Auch für den Autor waren Bibliographien und Kataloge zunächst nur nützliche Arbeitsinstrumente für die tägliche bibliothekarische Arbeit. Bei der Frage nach den Lebensumständen ihrer Urheber stellte er fest, daß die Bedeutung ihrer Werke nicht selten im Gegensatz zu den oft spärlichen Kenntnissen über die Autoren steht. Die biographischen Details, Interessengebiete und ihr Oeuvre binden die Autoren in einen größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang ein. Die populäre Vorstellung sieht in der Tätigkeit der Bibliothekare und Bibliographen mitunter etwas Skurriles, Weltabgewandtes, spitzweghaft scheinen sie in sich versunken auf einer Leiter zu stehen, von der sie nicht selten auch zu Tode stürzten, sie vergraben sich wie der arme Poet in der Dachstube vor einer unfreundlichen Umwelt in ihr warmes Bett, in diesem Falle in ihre Arbeit, oder bewegen sich fern der Niederungen des Alltags im Bereiche des Schönen und Erhabenen, im Ambiente eindrucksvoller barocker Saalbibliotheken, über einzigartige Handschriften und kostbare Drucke gebeugt und ihren Studien nachgehend. In den Details mancher Lebensumstände mögen diese Bilder zutreffen, doch der nähere Blick zeigt, daß Bibliographen und Bibliothekare sehr wohl Kinder ihrer Zeit waren und sich in privatem Glück oder Unglück, beruflicher Fortune, Rückschlägen oder Erfolgen nicht von ihren Zeitgenossen unterschei-

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den. Wer als Buchhändler, Antiquar, Bibliothekar oder Kustos großer Sammlungen tätig war, war wirtschaftlich relativ gut abgesichert. Jacques-Charles Brunet und Henry George Bohn wurden zu wohlhabenden Besitzern eigener Sammlungen. Wer aber von seiner bibliographischen Tätigkeit leben mußte, sei es freiberuflich wie Ludwig Hain und Hugo Hayn oder lohnabhängig wie William Thomas Lowndes, der lebte in einer wahrhaft prekären Situation. Bibliographische Arbeit bedeutete keineswegs eine déformation professionelle, eine durch die Jagd nach dem letzten noch unbekannten Titel bedingte Verengung des geistigen Gesichtsfeldes. So, wie Johann Georg Theodor Graesse zum Verfasser feuchtfröhlicher Bierstudien wurde, so trugen der österreichische Bibliothekar, Dichter und Übersetzer Michel Denis („Sined der Barde“, 1729–1800)3 und der französische Schriftsteller Charles Nodier (1780–1844) durch eigene Werke und Übersetzungen zum literarischen Leben ihrer Länder bei, wurde Henry George Bohn nicht nur als bedeutender Sammler, sondern auch als Gartenfreund und Rosenzüchter geschätzt. Die ordnenden und beschreibenden Tätigkeiten der Bibliographen und Bibliothekare des 19. Jahrhunderts bildeten eine der Voraussetzungen für das Entstehen neuer Forschungsgebiete und wissenschaftlicher Disziplinen, es war im weitesten Sinne des Wortes eine Kulturstiftung. Zunächst waren sie bei ihrer Arbeit weitgehend auf sich gestellt, ohne auf die Erkenntnisse anderer Autoren zurückgreifen zu können. Das änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, es entstand ein Netz wechselseitiger Zitierungen, sachkundiger Besprechungen der Werke der Kollegen und mitunter auch der direkten Kontakte, die über politische und konfessionelle Grenzen hinwegreichten – es war eine internationale wissenschaftliche Gemeinschaft. Zu ihren Kennzeichen gehört auch der sich weitende und unvoreingenommene Blick auf bisher weniger beachtete Regionen wie etwa die „Ränder Europas“, ein Begriff, der in dieser Zeit auftaucht.

Von der literarischen Gründerzeit zum Europa der Bibliographen Die Feiern zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution im Jahre 1989 waren kaum vorüber, als Entwicklungen einsetzten, die ebenfalls einer Revolution 3 Denis war Verfasser von Einleitung in die Bücherkunde, Wien 1777–1778; Grundriß der Bibliographie, Wien 1777; Bibliotheca typographica Vindobonensis ab anno 1482 usque ad annum 1560, Wien 1782; deutsch unter dem Titel Wiens Buchdruckergeschichte bis 1560, Wien 1782– 1793. Charles Nodier war neben seiner umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit Leiter der Pariser Bibliothèque de l’Arsenal.

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gleichkamen. Hinter der Wucht der politischen und wirtschaftlichen Ereignisse am Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts trat die allgemeine Wahrnehmung der Entwicklung des Internet, das Entstehen bibliographischer und fachlicher Datenbanken und die umfangreiche Digitalisierung von Bibliotheksund Archivbeständen zunächst in den Hintergrund. Denn so, wie im Gefolge der Französischen Revolution in den meisten europäischen Ländern neue Nachschlagewerke entstanden, so schienen die neuen technischen Möglichkeiten die üblichen Kataloge und Bibliographien oder die Zettelkästen und Notizblöcke der Leser abzulösen. Den Erdball umspannende, vielfältig vernetzte Katalogsysteme und Datenbanken verwirklichen die Ideen von Bibliographen und Bibliothekaren des 19. Jahrhunderts, die wie Julius Petzholdt oder Henry George Bohn von einem großen universalen Katalog aller wissenschaftlichen Publikationen geträumt hatten. Die belgischen Wissenschaftsorganisatoren Paul Otlet und Henri Lafontaine, die diesen Gedanken eines universalen Gesamtkataloges mit ihrem 1895 gegründeten Institut International de Bibliographie zu verwirklichen suchten, scheiterten an der Fülle des Stoffes. Die Kataloge des British Museum (heute British Library), der Library of Congress in Washington und der französischen Nationalbibliothek (Bibliothèque de France), deren Druck in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begonnen und die durch Neuauflagen oder Supplementbände immer wieder aktualisiert wurden, boten dank des inhaltlichen Reichtums und der Universalität der Bestände ein gewisses Äquivalent. Einem ähnlichen Ziel sollte der Preußische (später: Deutsche) Gesamtkatalog dienen, der jedoch ein Opfer des zweiten Weltkrieges wurde und deshalb über den Eintrag Beethordnung nicht hinauskam. Dank der Fortschritte in der Reproduktionstechnik konnten für den deutschen Sprachraum zwei Veröffentlichungen geschaffen werden, die auf den Kopien der Titel beruhten, die in früheren bibliographischen Nachschlagewerken verzeichnet waren. Unter dem Titel Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) wird in zwei Berichtsperioden – 1700 bis 1910 bzw. 1911 bis 1965 – das deutschsprachige Schrifttum dieser Jahre in insgesamt 396 Bänden verzeichnet. Erst mit dem Entstehen umfassender Katalogverbünde wie dem Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK) wurden die auf Universalität abzielenden Vorstellungen des 19. Jahrhunderts Wirklichkeit.4 Der Bezug auf die Französische Revolution ist mehr als nur ein kalendarischer Zufall.5 Trotz der zahlreichen Auseinandersetzungen, die die Zeit nach 4 Zu diesem Komplex Michael Knoche: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Göttingen 2018. 5 Histoire des bibliothèques françaises. Les bibliothèques de la Révolution et du XIXe siècle. 1789–1914. Paris 1991.

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1790 prägten, befaßten sich in Frankreich der Konvent, Buchhändler, Bibliothekare und Gelehrte mit Fragen der Bearbeitung und Nutzung konfiszierter Bestände. Der Konvent verfügte am 28. Juni 1793, daß das Büro für Bibliographie, das die Erfassung dieser Bestände zu überwachen hatte, bei der Nationalbibliothek anzusiedeln sei6. Auch Napoleon zeigte sich über seinen Bibliothekar Antoine-Alexandre Barbier an Bibliotheksfragen interessiert und ließ sich von diesem mit Werken versorgen, die seinen Interessen und Plänen dienen konnten. Das staatliche Interesse an diesen Büchermassen, die sich auch bei den Pariser Buchhändlern und Trödlern fanden, begünstigte das Erscheinen zahlreicher Veröffentlichungen, die sich bibliographischen und buchwissenschaftlichen Themen, aber auch praktischen Fragen der Bibliotheksverwaltung widmeten. Mit dem Journal typographique et bibliographique (1797–1810) von Pierre Roux und dem Journal général de la littérature de France (1798–1840) von Gilles Boucher de la Richarderie begannen zwei bibliographische Zeitschriften zu erscheinen, die als Vorläufer der französischen Nationalbibliographie gelten können. Diese begann auf Napoleons Befehl seit 1811 als Journal général de l’imprimerie et de la librairie zu erscheinen und wird bis heute, wenn auch unter verändertem Titel, fortgeführt. Sie eröffnet die Reihe der Publikationen, die seit dem 19. Jahrhundert die nationale Buchproduktion umfassend und kontinuierlich verzeichnen.7 Antoine-Alexandre Barbier (1765–1825) nutzte die Depots konfiszierter Bibliotheken, die ihm unterstanden8, für seine eigenen Arbeiten. Eine Frucht dieser Tätigkeit ist sein Dictionnaire des ouvrages anonymes et pseudonymes, der in den Jahren 1806–1809 erschien. Der Dictionnaire raisonné de bibliologie (Paris: Renouard 1802, Supplément 1804) des Bibliothekars Gabriel Peignot ist das erste umfassende Wörterbuch buchwissenschaftlicher Begriffe und Namen. Eine Umschichtung von Kulturgütern aller Art erfolgte auch in großen Teilen Süd- und Südwestdeutschlands. Nach der Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch die französische Revolutionsarmee wurden die dort ansässigen Territorialherrscher im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 mit den katholischen Territorien und Institutionen in den rechtsrheinischen Gebieten entschädigt. Damit war die Auflösung zahlreicher kirchlicher Bibliotheken und Sammlungen mit oft einmaligen Beständen verbunden. Während im zentralistisch organisierten Frankreich die anfallenden Kulturgüter unter eine

6 Decrets et lois 1789–1795. Collection Baudouin. 7 Eine Vorläuferpublikation der Deutschen Nationalbibliographie, das Bücherlexicon des Leipziger Buchhändlers und Verlegers J. W. Heinsius, begann 1812 in Leipzig zu erscheinen. 8 Pierre Ribrette: Bibliothécaires en Révolution. In: Histoire des bibliothèques françaises. Les bibliothèques de la révolution et du XIXe siècle. Paris 1991, S. 49.

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Verwaltung gestellt wurden, hatten die betroffenen Sammlungen in Deutschland unterschiedliche Schicksale. Eine der stets wiederholten, leider auch nicht ganz grundlosen Erzählungen ist die, daß Bibliotheksbestände dazu benutzt wurden, schlechte Wege zu reparieren. In der Summe bereicherten die geborgenen Bestände bestehende Sammlungen oder führten zur Gründung neuer Institutionen wie etwa den noch heute bestehenden bayerischen staatlichen Bibliotheken. Sie waren zunächst als Depotbibliotheken für das Säkularisationsgut gedacht, bilden aber heute wesentliche Bestandteile der bayerischen Bibliothekslandschaft.9 Münchens Bibliotheken, Kunst- und Gemäldesammlungen profitieren bis heute von dieser Umschichtung von Kulturgut. Bevor diese Sammlungen zum unerschöpflichen Fundus kommender kulturwissenschaftlicher Forschungen werden konnten, bedurfte es ihrer geordneten Aufstellung, eingehenden Beschreibung und Bewertung, eine Aufgabe, für die weder die vorhandenen Nachschlagewerke noch die Möglichkeiten der meisten zeitgenössischen Bibliotheken und musealen Sammlungen ausreichten. Die Bibliographien und Kataloge, die aus dieser Situation heraus entstanden, bilden zusammen mit den zur gleichen Zeit erscheinenden Lexika und Texteditionen älterer Literatur den Grundstock für einen bis in die Gegenwart gültigen Überlieferungskanon. Dieser Entwicklung folgten im Laufe des 19. Jahrhunderts fast alle europäischen Länder, wobei sich die zeitlichen Verzögerungen aus politischen, wirtschaftlichen oder personellen Konstellationen, mitunter aber auch dem allgemeinen Interesse oder Desinteresse ergaben. Parallel dazu entstanden die ersten modernen Handbücher zur Verwaltung von Bibliotheken und Archiven. Im deutschen Sprachbereich wurden die bis heute gebräuchlichen Termini Bibliothekswissenschaft und Archivwissenschaft geprägt. Begleitet wurde diese literarische Gründerzeit von neuen technischen Entwicklungen im Buchdruck. Die Erfindung der Schnellpresse durch Friedrich König 1810 und ihre kontinuierliche Weiterentwicklung beschleunigte die bis dahin üblichen Druckverfahren, während die Einführung der Papiermatrize es seit 1829 möglich machte, schnell neue und unveränderte Auflagen herzustellen. Durch die Einführung des auf Holzschliffbasis hergestellten Papiers verbilligte sich die Herstellung von Druckerzeugnissen aller Art, auch von Bibliographien und Katalogen. Aus der Fülle von Bibliographien und Katalogen, die am Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich erschienen, ragt Jacques-Charles Brunets (1780– 1867) Manuel du libraire et de l’amateur de livres heraus. Das Werk erschien erst9 Ihre Bedeutung würdigt der Ausstellungskatalog Gott, die Welt und Bayern. 100 Kostbarkeiten aus den regionalen staatlichen Bibliotheken Bayerns. Hg. für die Bayerische Staatsbibliothek von Bernhard Lübbers und Bettina Wagner. Petersberg 2018.

8  Das Europa der Bibliographen

mals 1810 und erlebte bis zum Tode des Autors mehrere, immer wieder ergänzte und veränderte Neuauflagen. Es wurde für Zeitgenossen wie Friedrich Adolf Ebert und Johann Georg Theodor Graesse in Deutschland und William Thomas Lowndes in England gleichermaßen Vorbild und Gegenstand kritischer Betrachtung. Alle Autoren beschrieben zunächst das literarische Erbe des mittel- und westeuropäischen Raumes, das sich in den Sprachen lateinischen oder germanischen Ursprungs niederschlug. Sie stützten sich dabei auf das, was sie in den Sammlungen ihrer Länder vorfanden. Brunet, Lowndes, Ebert und andere Zeitgenossen bezogen aus dieser nationalen Komponente die Motivation für die eigenen Publikationen, die zusammen gesehen ein sich ergänzendes, mitunter auch überschneidendes Ganzes bilden. Diese Entwicklungen gaben auch den slawischsprachigen Ländern Ost- und Südosteuropas Impulse, doch blieb die Rezeption dieser Veröffentlichungen „im Westen“ zunächst die Sache weniger Fachleute und Spezialsammlungen. Dazu trugen, und die Klage ist wiederholt zu finden, auch die mangelhaften buchhändlerischen Kontakte bei. Erst allmählich richtete sich der west- und mitteleuropäische Blick auf die „Ränder Europas“ und im Zuge der europäischen Expansion und der Herausbildung selbständiger Staaten wie auf dem amerikanischen Kontinent auch auf Entwicklungen in Übersee. Das Spektrum der Betrachtungen begann Goethes Begriff der Weltliteratur zu entsprechen. Die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Disziplinen mit ihrer zunehmenden Spezialisierung ließ die Zahl der Publikationen, vor allem durch die entstehenden Fachzeitschriften, anwachsen. Über ihre Inhalte informierten spezialisierte bibliographische Hilfsmittel. Sie wurden weniger durch die Prägekraft eines einzelnen Autors oder Herausgebers bestimmt als durch die Forschungseinrichtungen, Akademien oder Bibliotheken, unter deren Obhut sie erschienen. Zu den frühesten rein fachlich orientierten Bibliographien gehört in Deutschland das Pharmaceutische Centralblatt, das 1830 gegründet wurde und 1856 seinen Namen in Chemisches Zentralblatt änderte10. Bis zum Ende der Zeitschrift im Jahre 1969 arbeiteten an ihm Wissenschaftler des In- und Auslandes mit. Auch Karl Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung (1884 ff.) wurde zu einem Unternehmen, das im 20. Jahrhundert unter dem Dach eines Forschungsinstituts fortgeführt wurde. Die wachsende Zahl bibliographischer Veröffentlichungen bedurfte bald einer ständigen Berichterstattung. Angeregt durch das Gutenberg-Jubiläum 1840, gründete der Dresdener Bibliothekar Julius Petzholdt im gleichen Jahr den Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft. Hier wurden buch- und bib10 Der Terminus Zentralblatt wurde in der Folgezeit ein vielfach verwendeter Bestandteil von Zeitschriftentiteln.

Die Ordnung der Bibliotheken



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liothekswissenschaftliche Artikel veröffentlicht, neu erschienene Bibliographien und Kataloge verzeichnet und zum Teil mit kurzen Wertungen versehen. Auf dieser Sammlung beruhte Petzholdts Bibliotheca bibliographica (1866), die als Bibliographie der Bibliographien formal wie inhaltlich ein Novum darstellte. Petzholdts Nennung zahlreicher älterer Bibliographien und Kataloge bildet die Brücke zum reichen bibliographischen Erbe der Vergangenheit. In der Folgezeit entstanden immer neue Bibliographien der Bibliographien, wobei die Fülle des Materials einer umfassenden und universalen Berücksichtigung aller Fachgebiete zunehmend Grenzen setzte. Einen letzten Versuch einer umfassenden und international orientierten Bibliographie der Bibliographien machte Theodore Besterman mit seiner mehrbändigen World bibliography of bibliographies and of bibliographical catalogues, calendars, abstracts, digests, indexes, and the like, die als vierte und letzte Auflage 1971 erschien, kurz vor dem Beginn des elektronischen Zeitalters. Der Vorteil dieses Werkes liegt ebenso wie bei der Neubearbeitung von Georg Schneiders Handbuch der Bibliographie 1999 durch den Berliner Bibliothekswissenschaftler Friedrich Nestler darin, daß es einen zeitlich und fachlich gegliederten Überblick über den Stand der bibliographischen Arbeit eines Landes oder eines Fachgebietes gibt. Am Ende des 19. Jahrhunderts kündigten sich Entwicklungen an, die erst im 20. Jahrhundert zum Tragen kommen sollten. Mit Marie-Louise Pellechet (1840–1900) betrat zum ersten Male eine Frau das bisher von Männern beherrschte Gebiet der bibliographischen Arbeit. Sie steht am Anfang jener langen Reihe von Frauen, deren Tätigkeit das bibliothekarische Berufsbild bis heute prägt und denen zahlreiche Bibliographien und Kataloge zu verdanken sind. Ihrem Engagement sind die ersten drei Bände des französischen Inkunabelkatalogs Catalogue général des incunables des bibliothèques publiques de France (1897–1909) zu verdanken. Ihre Arbeit fand Anerkennung durch den englischen Berufskollegen Walter Arthur Copinger, der ihr 1902 sein Supplement zu Hains Repertorium bibliographicum widmete.

Die Ordnung der Bibliotheken Unabdingbare und selbstverständliche Grundlage für die Arbeit der Bibliographen sind die Bestände bedeutender Bibliotheken und deren Benutzbarkeit. Diese Selbstverständlichkeit war nicht immer gegeben, so daß sich Autoren wie Brunet, Renouard, Lowndes oder Bohn zunächst auf die Bestände stützten, die sie selbst besaßen oder die ihnen von befreundeten und interessierten Sammlern zugänglich gemacht wurden. Sieht man von Ausnahmen wie der Universitätsbibliothek Göttingen oder auch der Dresdener Bibliotheken ab, so ließen

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Räumlichkeiten, Kataloge, Aufstellungsordnungen und Benutzbarkeit sowie die finanzielle Ausstattung der öffentlichen Bibliotheken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach zu wünschen übrig. Als Friedrich Karl Forberg 1807 bei der Bewerbung um den Posten des Bibliothekars der Herzoglichen Bibliothek in Coburg die Bedingung stellte, daß er keine Bücher zur Entleihung heraussuchen müsse, solange die Bibliothek noch ungeordnet sei, war das kein Einzelfall. Das erst 1990 veröffentlichte Diarium Friedrich Adolf Eberts11 über seine Tätigkeit an der Universitätsbibliothek Leipzig und an der Königlichen Bibliothek Dresden ist voll mit Einträgen wie „Früh numerierte ich Bücher“, „Das Kab. C. umgestellt“, „Der Staub u. die Unordnung überstieg alle Vorstellung“, „Alle Säle liegen voll von nichteingetragenen Büchern“. Ludwig Hain, der an der Königlichen Bibliothek in München das Material für sein Inkunabelverzeichnis zusammentrug, wurde von einigen Mitarbeitern als Störenfried empfunden12.

Abb. 1: Friedrich Adolf Ebert. Bildnis von 1827. 11 Friedrich Adolf Ebert: Diarium über meine Arbeiten auf der Akademischen Bibliothek zu Leipzig und der Königlichen Bibliothek zu Dresden 1813–1822. Dresden 1990. 12 Elmar Herterich: Die Erschließung der Inkunabelsammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in Vergangenheit und Gegenwart. In: Bayerische Staatsbibliothek. Inkunabelkatalog. Bd. 1. Wiesbaden 1988, S. XVIII.

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Die Aufbruchstimmung der Zeit setzte Kräfte frei, die diese Zustände zu ändern suchten. Es entstanden die ersten Handbücher und Zeitschriften, die sich der praktischen Organisation von Bibliotheken und Archiven widmeten und damit nicht nur terminologisch die Disziplinen der Bibliotheks- bzw. Archivwissenschaft begründeten. Die wichtigsten Publikationen im deutschen Sprachgebiet kamen zunächst aus dem fränkischen Raum, der besonders von den Auswirkungen der Säkularisation mit ihrer Umschichtung von Kulturgütern aller Art betroffen war. 1804 erschienen die Ideen einer Theorie der Archivwissenschaft des Würzburger Domstiftsarchivars Anton Oegg. 1806 erschien in Bamberg die erste archivalische Zeitschrift, die Zeitschrift für Archivs- und Registraturwissenschaft. Martin Schrettinger, der nach der Auflösung des Klosters Weißenohe bei Erlangen nach München ging, verfaßte 1808 den Versuch eines vollständigen Lehrbuchs der Bibliothek-Wissenschaft oder Anleitung zur vollkommenen Geschäftsführung eines Bibliothekärs in wissenschaftlicher Form. Er prägte damit den bis heute verwendeten Begriff Bibliothekswissenschaft. 1833 erschien Christian Molbechs Om offentlige Bibliotheken in der Übersetzung des Kieler Bibliothekars Henning Ratjen unter dem Titel Über Bibliothekswissenschaft oder Einrichtung und Verwaltung öffentlicher Bibliotheken. Ratjen ergänzte die Übersetzung durch Erfahrungen, die er bei Besuchen in einer Reihe deutscher Bibliotheken gemacht hatte. Die weitere Entwicklung schlägt sich in Julius Petzholdts Katechismus der Bibliothekenlehre (1856) nieder. Der Katechismus wurde durch Arnim Graesels Grundzüge der Bibliothekslehre (1890) aktualisiert und fand auch im Ausland seine Resonanz. Solche Handbücher für die Organisation einer Bibliothek bedeuteten eine Hilfe für alle Bibliothekare, die sich bis dahin mühsam eigene Lösungswege für Routinearbeitsgänge erarbeiten mußten. Durch deren Fixierung entstanden Grundstrukturen, die bis in die Gegenwart ihre Gültigkeit behalten haben. Zugleich finden sich hier manche Überlegungen, die bis heute bedenkenswert geblieben sind. Die Kataloge, mit denen im Laufe des 19. Jahrhunderts zahlreiche Bibliotheken ihre Bestände neu katalogisierten, lösten die Kenntnis der Bestände von der persönlichen Gedächtnisleistung der Bibliothekare ab – die Vorstellung, daß ein Bibliothekar die Bücher seiner Bibliothek kennen müsse und daher keinen Katalog benötige, war ohnehin eher ein frommer Wunsch aus früheren Zeiten. Für die Neukatalogisierung erwiesen sich die Arbeiten von Autoren wie Barbier, Brunet, Renouard oder Ebert als unentbehrlich, um anonym oder pseudonym erschienene Werke eindeutig zuschreiben oder die Namensformen antiker oder mittelalterlicher Autoren verbindlich festlegen zu können. Diese philologische Akribie hatte ihren Ursprung in der Arbeitsweise der Theologen und Altphilologen, die sich bereits intensiv mit den korrekten Fassungen der überlieferten biblischen und antiken Texte befaßt hatten. So ist es kein Zufall,

12  Das Europa der Bibliographen

daß vier Schüler des Leipziger Altphilologen Gottfried Hermann Leiter bedeutender Sammlungen und Verfasser zahlreicher fachwissenschaftlicher Publikationen wurden: Friedrich Adolf Ebert, Johann Georg Theodor Graesse und Julius Petzholdt in Dresden, Robert Naumann in Leipzig. Philologische Akribie gehörte und gehört zu den unabdingbaren Elementen sauberer geisteswissenschaftlicher Arbeitsmethoden, ist aber, wie die bis in die Gegenwart an haltenden Klagen über schlampige Zitierweise und fehlerhafte Register belegen, keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Das Streben nach größtmöglicher Genauigkeit und Eindeutigkeit zeigt sich in den Katalogisierungsregeln, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern Europas entstanden und die zu einer Vereinheitlichung der bibliographischen Verzeichnung beitrugen. In England veröffentlichte Antonio Panizzi 1841 Regeln für den alphabetischen Katalog der Bibliothek des British Museum in London. Seinen Namen trägt auch der von ihm erfundene Panizzi-Stift, mit dessen Hilfe die Böden der Bücherregale der Höhe der Bücher angepaßt werden konnten, so daß eine bessere Ausnutzung des Stellplatzes möglich wurde. 1850 wurden Katalogisierungsregeln an der Münchener Hofbibliothek fixiert. Während der Reform der Kaiserlichen Bibliothek in Sankt Petersburg unter Modest von Korff veröffentlichte Vasilij Ivanovič Sobol’ščikov 1859 eine Anleitung zur Bibliotheksverwaltung und Führung der Kataloge unter dem Titel Ob ustrojstvě obščestvennych bibliotek i sostavlenii ich katalogov, die noch im gleichen Jahre in Paris in französischer Übersetzung erschien13 und in der sich der Autor auf Ebert und Schrettinger beruft. 1892 erklärte ein Ministerialerlaß die sogenannten Berliner Regeln für alle preußischen Universitätsbibliotheken als verbindlich. Der Plan für einen gedruckten Gesamtkatalog aller preußischen Bibliotheken führte zur Ausarbeitung der Instruktionen für die alphabetischen Kataloge der preußischen Bibliotheken und für den preußischen Gesamtkatalog, kurz als Preußische Instruktionen (PI) bezeichnet. Dieses Regelwerk erschien erstmals 1899, wurde immer wieder ergänzt und überarbeitet und auch von nichtpreußischen Bibliotheken übernommen. Im grammatischen Prinzip der Ordnung von Sachtiteln schlugen sich die Grundsätze philologischer Akribie nieder.14 1976 wurde dieses Regelwerk durch die Regeln für die alphabetische Katalogisierung (RAK) abgelöst. Die gängigen Katalogisierungsregeln erlaubten die Kürzung weitschweifiger Titel – die Auslassungen wurden mit […] markiert, Varianten im Zeilenfall ignoriert. Bei Druckvarianten findet sich nicht selten eine Bezeichnung wie „Andere 13 Principes pour l’organisation et la conservation des grandes bibliothéques. Paris: Renouard 1859. 14 Z. B. Frankfurter Allgemeine Zeitung – Zeitung, Frankfurter Allgemeine.

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Ausgabe“, eine Formulierung, die in der Praxis wenig hilfreich ist. Eine Ausnahme von dieser verknappten Verzeichnung bildeten die bis 1500 erschienenen Drucke, die in der Regel ausführlich und mit allen ihren typographischen Besonderheiten verzeichnet werden. Erst die umfassende Erschließung und Verzeichnung der Drucke des 16. bis 18. Jahrhunderts, die seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte, berücksichtigte abweichende Zeilenschlüsse auf dem Titelblatt, typographischen Schmuck, Varianten in der Bogen- und Seitenzählung und andere Unterscheidungsmerkmale. Einen ersten Schritt zur eindeutigen Identifizierung bildete seinerzeit Martin Birchers aufwendig gestalteter Katalog Deutsche Drucke des Barock 1600–1720 in der Herzog August Bibliothek (46 Bände, Wolfenbüttel 1977–1996), der die Titelblätter reproduzierte. Ähnlich ging John Roger Paas in seiner vielbändigen Veröffentlichung The German political broadsheet (Wiesbaden 1985 ff.) vor, der durch großformatige Reproduktionen die inhaltliche und formale Vielfalt dieser Literaturgattung deutlich machte. Die systematische Erforschung druck- und satztechnischer Varianten durch Martin Boghardts Analytische Druckforschung. Ein methodischer Beitrag zur Buchkunde und Textkritik (Hamburg 1977) lieferte ebenso wie die Veröffentlichungen von Christoph Weismann15 und Gérard Genette16 weitere Ansätze zu einer eindeutigeren Identifizierung älterer Drucke. Ein wichtiges Unterscheidungselement wurden die sogenannten „Fingerprints“, „Fingerabdrücke“, die bestimmte Merkmale aus Zeilenschlüssen und Bogensignaturen berücksichtigen und damit eine noch weitergehende Identifizierung eines Druckes und seiner Varianten ermöglichen. Die neuen technischen Möglichkeiten führten zum Entstehen von Datenbanken für die Druckerzeugnisse des 15.–18. Jahrhunderts, die Recherchen in vielfältiger Hinsicht ermöglichen. Diese umfassende Erschließung macht die kulturelle Vergangenheit lebendig und läßt Aussagen über die zeitgenössische Rezeption eines Autors oder die Verbreitung seines Werkes präziser werden. Für den einen oder anderen Autor kann es die Wiederentdeckung bedeuten, die Rückkehr in den Kanon der literarischen Überlieferung und der Wertschätzung durch einen neuen, aufgeschlossenen Leserkreis wie bei Grimmelshausen. Die Publikationstätigkeit mancher Druckereien und Verlage erscheint in einem neuen Licht, mancher Ort kann mit dem neu entdeckten Autor wirksam werben.

15 Christoph Weismann: Die Beschreibung und Verzeichnung alter Drucke. Ein Beitrag zur Bibliographie von Druckschriften des 16.–18. Jahrhunderts. In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Stuttgart 1981, S. 447–614. 16 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main/New York 1989.

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Während in Frankreich und England die Hauptstädte die Zentren bibliographischer Arbeit bildeten, gab es in Deutschland eine Vielzahl solcher Zentren. So war es im 19. Jahrhundert Dresden, dessen Bibliotheken und Kunstsammlungen die Grundlage für die Arbeiten Friedrich Adolf Eberts, Johann Georg Theodor Graesses, Julius Petzholdts und Hugo Hayns bildeten. Deren Arbeit und die vieler anderer Bibliographen wäre vergeblich gewesen, wenn sich nicht immer wieder Verleger gefunden hätten, die bereit waren, auch geschäftliche Risiken auf sich zu nehmen, um diese Arbeiten zu veröffentlichen. Als seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der Käufer für solche Veröffentlichungen mehr und mehr zurückging, hing das Erscheinen dieser Werke oft davon ab, daß sich für die Finanzierung der Veröffentlichung großzügige Förderer und Mäzene fanden.

Bibliographen in ihrer Zeit So spürbar die Impulse aus dem Geschehen der Französischen Revolution zunächst waren, die politischen Ereignisse des langen 19. Jahrhunderts scheinen für die meisten Bibliographen und Bibliothekare eher ein Geschehen im Hintergrund gewesen zu sein. Dieser Eindruck trügt, denn in manchen, oft an versteckter Stelle zu findenden biographischen Details, in Bemerkungen oder in den Themen ihrer Werke findet sich ein Widerhall. Die Bibliographen waren eine wissenschaftliche Gemeinschaft mit ihren Stärken und Schwächen, zitierten und kritisierten sich, wie es in einem solchen Umfeld üblich ist. Mit der Rezeption der Werke ihrer ausländischen Kollegen, dem Gedankenaustausch mit ihnen und der Beschäftigung mit Themen, die sich aus dem europäischen und überseeischen Kulturerbe ergaben, trugen sie auf ihre Weise zum Kulturtransfer bei. Ehrenvolle Auszeichnungen und Titel aus dem In- und Ausland zeigen, daß man die Bedeutung ihrer Arbeiten erkannte. Diese europäische Dimension bildet einen Gegenpol zu den rückwärtsgewandten oder nationalistischen Tendenzen der Zeit, die sich dagegen sträubten, Entwicklungen außerhalb der eigenen Landesgrenzen zur Kenntnis zu nehmen. Der Verleger Antoine-Augustin Renouard (1765–1853) wandte sich während der Französischen Revolution gegen bilderstürmerische Tendenzen, die alle heraldischen Zeichen früherer Zeiten von Einbänden und Titelblättern entfernen wollten. Mit den Publikationen seines Verlages, den eigenen Arbeiten über die Drucker und Verleger Aldus Manutius und Henri Estienne sowie dem Katalog seiner bedeutenden Bibliothek wurde er über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt und war Briefpartner und Ratgeber Friedrich Adolf Eberts in Dresden und Friedrich Karl Forbergs in Coburg. Nach langen Jahren politischer Absti-

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nenz wurde er nach der Revolution von 1830 noch einmal Bürgermeister eines Pariser Arrondissements17. Die Anregungen, die Ebert, Forberg oder Graesse aus den französischen Publikationen erhielten, sowie die persönlichen Kontakte zu Renouard bilden ein deutliches Gegengewicht zu den grassierenden antifranzösischen Tendenzen, wie sie sich in den Schriften Ernst Moritz Arndts oder Friedrich Ludwig Jahns finden. Jacques-Charles Brunet erlebte in seinem langen Leben mehrere Regierungsformen, er sah Umschichtungen im Buchbesitz und Veränderungen in den Interessen der Sammler. Die immer wieder überarbeiteten Auflagen seines Manuel du libraire et de l’amateur de livres boten ihm die Gelegenheit, um über die Wechselwirkungen zwischen politischer Entwicklung und literarischen Geschmackswandel, über die sich ändernden Interessen der Käufer oder den sich weitenden Blick der Sammler nachzudenken – es sind Überlegungen, wie sie eingehender erst im zwanzigsten Jahrhundert erfolgen sollten. Pierre Deschamps und Gustave Brunet veröffentlichten 1878, nach dem deutsch-französischen Krieg, ein umfangreiches zweibändiges Supplement zum Manuel Brunets. Sie vergleichen die Folgen des Krieges mit früheren Krisenzeiten, die Frankreich durchlebt hatte, und sehen in dem anhaltenden und sogar gesteigerten Interesse an bibliographischen und bibliophilen Themen ein Zeichen von Zuversicht – La confiance ist das Schlüsselwort, das im Grunde für jede bibliographische Tätigkeit gilt.18 Daher ist ihr Vorwort auch frei vom weit verbreiteten Gedankengut der Zeit, das auf eine Revanche gegenüber den Siegern von 1871 abzielte. Eine deutliche politische Aussage findet sich an versteckter Stelle in Henning Ratjens Vorwort zu seiner Übersetzung von Christian Molbechs Über Bibliothekswissenschaft oder Einrichtung und Verwaltung öffentlicher Bibliotheken. Molbech war unter deutschen Fachkollegen kein Unbekannter und gehörte zu den Briefpartnern Friedrich Adolf Eberts, der ihm den zweiten Teil seiner Bildung des Bibliothekars widmete. Der Übersetzung war in den Jahren 1830 und 1831 eine neunmonatige Studienreise Ratjens durch deutsche Bibliotheken vorausgegangen, auf der er einen Eindruck von der Resonanz erhielt, die die französische Revolution von 1830 in den deutschen Bundesstaaten und bei den besuchten Kollegen gefunden hatte. Im Vorwort seiner Übersetzung heißt es dazu: Ich hoffe, daß diese kleine Schrift selbst in dieser politischen, bewegten Zeit Leser in Deutschland finden wird, sie will, und gewiß im Interesse aller Bibliothekare – mögen sie, wie Fr. Jacobs, Pertz, Weitzel, Welcker, sich für politische Freiheit interessieren oder

17 http://histoire-bibliophilie.blogspot.de/2014/02/antoine-augustin-renouard-le.html 18 Pierre Deschamps et Gustave Brunet: Manuel du libraire et de l’amateur de livres. Supplément du dictionnaire bibliographique de M. J.-Ch. Brunet. T. 1. Paris 1878, S. VIII.

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nicht – auch dazu beitragen, gesetzliche Ordnung und Freiheit herzustellen und zu sichern, und dies ist doch das Ziel der politisch Freien und Bewegenden.19

Abb. 2: Christian Molbech: Über Bibliothekswissenschaft. 1833. 19 Friedrich Christian Wilhelm Jacobs (1764–1847) Bibliothekar der Hofbibliothek Gotha. Georg Heinrich Pertz (1795–1876), 1827 bis 1842 Direktor der Königlichen und Provinzialbibliothek und des Königlichen Münzkabinetts in Hannover. 1831 wirkte er an der Vorbereitung des neuen Staatsgrundgesetzes mit und war 1832/33 Abgeordneter in der Ständeversammlung. Johannes Weitzel (1771–1837) Bibliothekar in Wiesbaden, Verfasser staats- und verfassungsrechtlicher Aufsätze. Karl Theodor Georg Philipp Welcker (1790–1869), Publizist und führender Vertreter des süddeutschen Liberalismus.

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Ratjen schrieb diese Zeilen im Juli 1832, wenige Wochen nach den Zusammenkünften demokratisch und liberal gesonnener Kräfte auf dem Hambacher Fest, an der Konstitutionssäule im unterfränkischen Gaibach und an anderen Orten. Georg Heinrich Pertz, Johannes Weitzel und Georg Philipp Welcker äußerten sich zu verfassungsrechtlichen und politischen Fragen, die die Diskussionen in der Zeit des Vormärz prägten. Politisches Engagement trieb den Leipziger Buchhändler Emil Weller nach der Revolution von 1848 ins Exil. Dort fand er das Material für sein Werk Die falschen und fingierten Druckorte (Leipzig 1864–1867). Die Verschleierung des Erscheinungsortes hatte vielfältige Gründe, wobei die gewählten Fiktionen nicht selten auf die Tendenz der Schrift hindeuteten. Hinter einem „Erscheinungsort“ Rom verbarg sich oft eine antikatholische Schrift. Dieses Verzeichnis erscheint auf den ersten Blick als Teil der historisch-antiquarischen Forschungen der Zeit, doch verbirgt sich dahinter auch ein Stück Oppositionswissenschaft, mit dem an die verschütteten demokratischen und liberalen Traditionen Deutschlands erinnert wird. Unter den fingierten Erscheinungsorten fallen die mit Zusammensetzungen wie Fried-, Frei- und Wahr- auf. Erstmals listete Weller einen großen Teil der Titel auf, die sich des fingierten Impressums Köln, bei Pierre Marteau/Peter Hammer bedienten, das bis ins frühe 19. Jahrhundert eine Art Markenzeichen der politisch-publizistischen Opposition war.20 Auch durch das Deutsche Anonymen-Lexikon 1501–1850 von Michael Holzmann und Hanns Bohatta weht noch der Geist des Vormärz, denn Holzmann war durch die Beschäftigung mit Ludwig Börne auf die Publizistik des Vormärz und der Revolution von 1848 aufmerksam geworden und baute darauf seine Materialsammlung auf. Der Anbruch einer „neuen Zeit“ manifestiert sich in den Titeln der Bibliographien, die der österreichische Bibliothekar Josef Stammhammer (1847 bis 1922) am Anfang des 20. Jahrhunderts erscheinen ließ: Bibliographie des Socialismus und Communismus (Bd. 1–3, Jena 1900–1909) und Bibliographie der Social-Politik (Bd. 1–2, Jena 1893–1912).21 In keinem anderen europäischen Land besaß die bibliographische Arbeit von Anbeginn an einen solch ausgesprochen politischen Akzent wie in Polen. 20 Vgl. Karl Klaus Walther: Zur Typologie fingierter Druck- und Verlagsorte des 17. bis 19. Jh. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 91(1977)2, S. 101–107. Wellers Aufstellung wurde zur Grundlage der Arbeit des Verfassers: Die deutschsprachige Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer, Köln. Leipzig 1983. Unter www.pierre-marteau.com steht die Ausgabe im Internet zur Verfügung. 21 Kurt Metschies: Josef Stammhammer (1847–1922). In: Bewahren – Verbreiten – Aufklären. Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung. Hrsg. von Günter Benser und Michael Schneider. Bonn-Bad Godesberg 2009, S. 316–320.

18  Das Europa der Bibliographen

Das Land war bis zum Ende des ersten Weltkrieges unter Rußland, Preußen / Deutschland und Österreich aufgeteilt und wurde immer wieder durch Aufstände erschüttert, die sich vor allem gegen die russische Teilungsmacht richteten. Der lange Zug von Flüchtlingen, der nach dem gescheiterten Aufstand von 1830/31 durch Deutschland zog, löste Sympathiebekundungen aus, die sich mit aktuellen politischen Bestrebungen verbanden. Angesichts territorialer, politischer und kultureller Verlusterfahrungen der Vergangenheit trug die Pflege der kulturellen Traditionen zur Bewahrung der nationalen Identität Polens bei. Dazu gehört die von dem Krakauer Bibliothekar Karol Estreicher begründete Bibliografia Polska (1870ff.), die von Sohn und Enkel Estreichers fortgeführt wurde. Dieser werksgeschichtlich einmalige Vorgang ist um so bemerkenswerter, als beide von den einschneidenden politischen Vorgängen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betroffen wurden. Estreichers hochbetagter Sohn Stanisław wurde 1939 mit anderen Krakauer Professoren in das KZ Sachsenhausen verschleppt, wo er umkam. Der Enkel, der Kunsthistoriker Karol Estreicher jun., widmete sich im Exil der Dokumentation der polnischen Verluste an Kulturgütern. Als Mitglied der Sondereinheit der „Monument Men“ sorgte er für die Rückführung geraubter polnischer Kulturgüter. Die Arbeit an der Bibliographie bot den Estreichers sowie den heutigen Bearbeitern Gelegenheit, Probleme zu erörtern, die noch immer (oder wieder) aktuell sind. Die wachsende Zahl der Publikationen machte es immer schwieriger, die Spreu vom Weizen zu trennen und den richtigen Einstieg in ein Fachgebiet oder in ein Thema zu finden. Diesem Zweck dienten und dienen die Auswahl- oder empfehlenden Bibliographien mit Titeln wie Einführung in das Studium der … oder Was sollen Germanisten lesen? Diese begrüßenswerten pädagogischen Absichten verbanden sich bereits im 19. Jahrhundert mit ideologischen Zielsetzungen, wie es beispielsweise die Literaturlisten des Bamberger Anzeigers für die katholische Geistlichkeit aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen, in denen die Werke der „Akatholiken“ besonders gekennzeichnet wurden. Diese Form der Abgrenzung war kein Einzelfall. Emil Freiherr Marschalk von Ostheim, ein Vertreter der liberalen Traditionen des Bamberger Bürgertums des 19. Jahrhunderts, sammelte alle Zeugnisse demokratischer und liberaler Strömungen seiner Zeit. Er vermachte diese Sammlung am Anfang des 20. Jahrhunderts der heutigen Staatsbibliothek Bamberg mit der Maßgabe, sofort einen gedruckten Katalog zu veröffentlichen, da er befürchtete, daß die Bibliothek unter die Zuständigkeit des Bamberger Lyzeums geraten könnte, unter dessen geistlicher Leitung „seine Sammlung der wissenschaftlichen Benützung entzogen, manches sogar vernichtet, oder doch versteckt werden“ könnte22. Die ideologische Indoktrination durch empfehlende und Auswahlbibliographien sollte sich unter den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts voll ent-

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falten. Philipp Bouhlers Nationalsozialistische Bibliographie (1936–1944) stand ganz im Dienste der Propaganda des Regimes. Ihr diente auch ein namhafter Bibliograph wie Joris Vorstius, der für Alfred Rosenbergs antisemitisches Kampfblatt Der Weltkampf bis zum Ende der Zeitschrift 1944 regelmäßig eine Rubrik über einschlägige Neuerscheinungen beisteuerte.23 In der Sowjetunion diente die empfehlende Bibliographie ähnlichen Zwecken und fand ihre Nachahmung nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Eines der Beispiele ist Werner Rittners Bibliographie der Veröffentlichungen zu J. W. Stalins Arbeit ‚Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft‘, die 1954, ein Jahr nach Stalins Tod, durch das Zentralinstitut für Bibliothekswesen Berlin veröffentlicht wurde. 24 Durch die theoretischen Diskussionen vor allem der fünfziger und sechziger Jahre geisterten Schlagworte wie „Parteilichkeit des Bibliographen“ und „Kampf gegen den bürgerlichen Objektivismus“. Was auch immer diese Begriffe bedeuten mochten, vielfach wurde mit ihnen die aus der kirchlichen Zensur des Mittelalters bekannte Praxis der damnatio memoriae kaschiert, mit der mißliebig gewordene Personen oder unbequeme Themen aus der allgemeinen Wahrnehmung getilgt werden sollten. Die Kriege und Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts beeinflußten in allen europäischen Ländern die Arbeiten an der aktuellen Nationalbibliographie wie auch an retrospektiven Verzeichnissen. Dazu kamen mehr oder weniger direkte Einflüsse durch politische Entwicklungen. Durch die Teilung Deutschlands entstand in Frankfurt am Main die Deutsche Bibliographie, die parallel zur bereits in Leipzig bestehenden Deutschen Nationalbibliographie die Neuerscheinungen des geteilten Landes verzeichnete. Ihre Existenz wurde in der Atmosphäre des Kalten Krieges zeitweise von heftigen politisch motivierten Auseinandersetzungen begleitet. Nach 1990 wurden mit der Vereinigung von Deutscher Bücherei Leipzig und Deutscher Bibliothek Frankfurt am Main zur Deutschen Nationalbibliothek beide Unternehmen unter dem tradierten Titlel Deutsche Nationalbibliographie zusammengeführt.25

22 Katalog der Bibliothek des Freiherrn Emil Marschalk von Ostheim. 3. Abt. Bamberg 1911, S. VII–VIII. 23 Joris Vorstius (1894–1964). Seit 1948 Professor an der Humboldt-Universität Berlin. Am Institut für Bibliothekswissenschaft hielt er Vorlesungen in Bibliographie, Wissenschafts- und Bibliotheksgeschichte. Einer seiner Hörer war der Verfasser. 24 Hierzu die Schilderung Günter de Bruyns: 40 Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt am Main 1998, S. 51. Rittner wurde Abteilungsleiter in der Deutschen Bücherei Leipzig und ging 1961 in den Westen (Christian Rau: >Nationalbibliothek< im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945–1990. Göttingen 2018, S. 285–286). 25 Christian Rau: >Nationalbibliothek< im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945–1990. Göttingen 2018.

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Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft begann in der Bundesrepublik die Arbeit am Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16), das zunächst in Buchform veröffentlicht wurde. Diese Arbeit wurde von Bibliothekaren in der DDR aufmerksam verfolgt, die in einigen Bibliotheken mit der Erfassung dieser Drucke begannen. Sie waren meistens Einzelkämpfer, die diese Arbeiten neben ihren anderen Dienstpflichten erledigten und deren Arbeitsergebnisse nach 1990 in das Verzeichnis eingingen. Eine politische Note ganz anderer Art begleitete die Arbeiten von Bibliographen und Forschern aus den USA und der Bundesrepublik wie Paul Dünnhaupt, Claus Garber oder Roger Paas. Für ihre Forschungen zu den deutschen Druckerzeugnissen des 17. Jahrhunderts reisten sie noch in den Zeiten des Kalten Krieges in Bibliotheken Osteuropas und der Sowjetunion. Sie fanden Bestände deutscher Bibliotheken, die dorthin als Folge des Krieges gelangt waren, als vernichtet und verschollen galten und über deren Verbleib es oft mehr Mutmaßungen als konkrete Informationen gab. Dank ihrer Arbeit, die immer wieder diplomatisches Geschick erforderte, und den politischen Veränderungen seit 1990 sind die Kenntnisse über diese Bestände konkreter geworden und haben in den entsprechenden Kapiteln des Handbuchs der historischen Buchbestände Aufnahme gefunden. Einige der besuchten Bibliotheken arbeiten heute an den großen Verzeichnissen mit, die die deutschen Drucke des 16. bis 18. Jahrhunderts erfassen (VD 16, VD 17, VD 18).

Curiosa und Erotica Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandten sich Bibliographen und Sammler Themen zu, die dem „Curiösen“, „Kuriosen“ oder „Merk-würdigen“ zugerechnet werden konnten, wobei der Begriff wie bei Brunet weitgehend im Sinne von „Bemerkenswert“ verwendet wurde. Vielfach handelte es sich um Titel, die sich in älteren Katalogen und Bibliographien in der Gruppe der Miscellanea oder Varia finden, da man sie in den gängigen Klassifikationssystemen der Zeit nicht unterzubringen wußte. Diese Gruppen verschwanden, als mit dem Entstehen neuer wissenschaftlicher Disziplinen und differenzierter Klassifikationssysteme diese Werke den eigentlichen Sachgebieten zugeordnet und damit in einen größeren wissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden konnten. Hier finden sich Themen aus der Volkskunde oder der Mythologie, deren Ursprünge mitunter weit zurückreichen wie etwa die Geschichte von der Päpstin Johanna oder dem Ewigen Juden. Dennoch blieben die Grenzen in der Begriffsbestimmung weiterhin fließend.

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Die Bedeutungsverschiebung zu Merkwürdig zeigte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in den Titeln englischer und französischer Werke. Beispiele sind Gustave Brunets Curiosités théologiques (1861), Henry Spencer Ashbees (Pisanus Fraxi) Index librorum prohibitorum: being notes bio- biblio- iconographical and critical, on curious and uncommon books (1877), der Catalogue des livres rares et curieux sur l’amour, les femmes et le mariage, faisant partie du cabinet d’un bibliophile suédois (1883–1884) oder Hugo Hayns Vier Kuriositätenbibliographien. In den Bereich des „Kuriosen“ gehören auch Kataloge fiktiver Buchtitel, die mehr sind als nur die Zeugnisse des Spieltriebs ihrer Autoren. Eines der frühesten Beispiele ist Johann Fischarts Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis. Das ist. Ein Ewigwerende Gordianischer Pergamenischer vnd Tirraninonischer Bibliothecken gleichwichtige vnd richtige verzeichnuß vnd registratur von 1590, der aus 526 Titeln besteht, die teils frei erfunden, teils Verballhornungen existierender Publikationen sind26. In den politischen Auseinandersetzungen, die Europa im 17. und 18. Jahrhundert beschäftigten, dienten Kataloge mit fiktiven Buchtiteln als Mittel des publizistischen Kampfes wie z.B. Ein Catalogus etzlicher sehr alten Bücher/ welche neulich in Irrland auf einem alten eroberten Schlosse in einer Bibliothec gefunden worden (1649). Unter den Autoren finden sich Johann Jacob Grimmelshausen, Christian Weise und Gottfried Wilhelm Leibniz27. Während des Siebenjährigen Krieges zirkulierte handschriftlich, mit der fiktiven Verlagsangabe Pierre Marteau, ein Catalogus neuer Bücher, die seit der Leipziger Messe aufgelegt worden28. Darin finden sich „Titel“ wie Ihre Durchl. Des Prinzen Moritz von Dessau gründlicher Unterricht nach der neuesten Methode Reverse auszustellen, nebst einem Anhange, wie man Kriegs-Gefangene quälen soll. Pirna den 21. Oct. 1756 oder Die Vortrefflichkeit des Faust-Rechts, eine Tragödie, wird täglich auf dem Sächs. Theatro aufgeführet. Kataloge fiktiver Titel haben auch heute nichts von ihrem Reiz verloren, wie Hartwig Rademachers Akute Literatur (Berlin 2003) mit dem bezeichnenden Untertitel „Bibliographischer Zeilenwurf“ zeigt. Auf 77 Seiten werden fiktive Titel fiktiver Autoren aufgelistet, die das (pseudo-)wissenschaftliche Geschwurbel mancher zeitgenössischer Publikationen zeigen.29 26 Johannes Fischart: Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis (1590). Mit Einleitung und Erläuterungen herausgegeben von Michael Schilling. Tübingen 1993. 27 Karl Klaus Walther: Grimmelshausen und Leibniz als Verfasser von Katalogen fiktiver Gegenstände und Bücher. In: Marginalien (1979)73, S. 23–30. 28 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Ms. Boruss. quart. 402, T. 4. 29 Der Artikel Der Penis als Klimakiller von Sebastian Herrmann in der Süddeutschen Zeitung vom 24./25. Mai 2017 befaßt sich ebenfalls mit den Auswüchsen gegenwärtiger Publikationsgepflogenheiten.

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Zunächst den Kuriosa zugerechnet, wurden die sogenannten Erotika zu einem Sammelgebiet, das seine Liebhaber in fast allen europäischen Ländern hatte. Die Definition des Begriffes, die Abgrenzung von oder Gleichsetzung mit Pornographica hängt vom Zeitgeschmack und den vorherrschenden kulturellen Traditionen ab, wobei sich die Diskussion über diese Begriffe am konkreten Einzelfall bis in die jüngste Zeit stets neu entzünden kann. Die Haltung zu dieser Literatur oder die Suche nach „Stellen“, die vermeintlich oder tatsächlich anstößig sind, verrät etwas über die individuelle Einstellung, über Lebensfreude und Toleranz, aber auch über Lustfeindlichkeit, Prüderie und Heuchelei. Da das Verbotene reizte, entwickelte sich ein weitverzweigter, meist klandestiner Markt für Titel, denen der Ruch des Pikanten oder Obszönen anhaftete. Sie fanden ihren Weg nicht nur in Hof- und Schloßbibliotheken, wo sie, separat aufgestellt, dem Besitzer zur alleinigen Verfügung standen, auch in den Bücherschränken großbürgerlicher Besitzer des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts fand sich dafür ein Platz, nicht selten hinter einer unverdächtigen Ausgabe der Klassiker mit Goldschnitt und Lederrücken. In großen Bibliotheken wurden diese Werke „sekretiert“, das heißt in gesonderten Magazinen aufgestellt und in Katalogen verzeichnet, die nicht allgemein zugänglich waren. Der Vertrieb im Verborgenen und kleine Auflagen führten dazu, daß auf manche Titel das werbewirksame Attribut „Selten und Gesucht“ zutraf, bevor Nachdrucke oder die Digitalisierung für eine größere Verfügbarkeit sorgten. Natürlich mochte sich niemand öffentlich zu seiner Neigung für diese Literatur bekennen, und so war die Arbeit der ersten Bibliographen auf diesem Gebiet alles andere als einfach. Ihre Werke erschienen nur in kleinen Auflagen, meist anonym oder pseudonym. Zu den Vorreitern gehört der Pariser Buchhändler und Verleger Jules Gay, der 1861 anonym seine Bibliographie des principaux ouvrages relatifs à l’amour, aux femmes et au mariage et des livres facétieux, pantagruéliques, scatologiques, satyriques veröffentlichte. Diese Publikation und sein politisches Engagement trieben Gay und seine Frau ins Exil, wo weitere Auflagen dieses Werkes erschienen. In Deutschland widmete sich Hugo Hayn, der Mann, der die Liebe katalogisierte, wie es Paul Englisch formulierte, der bibliographischen Bearbeitung dieses Themas. Die Krönung seiner jahrzehntelangen Recherchen ist die vielbändige Bibliotheca Germanorum erotica & curiosa (1912–1914), die bis heute zum international anerkannten und immer wieder zitierten Corpus der Bibliographien und Kataloge gehört, die sich explicit diesem Thema widmen. Die Diskussionen über Erotika und Pornographica waren in der Vergangenheit Teil der Auseinandersetzungen um das künstlerische und literarische Selbstverständnis und trugen letztlich auch zum gesellschaftlichen Wandel bei. Die Debatten und Polemiken vergangener Zeiten zu diesem Thema, so erbittert

Ausblick



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sie vielleicht auch geführt wurden, zeugen von den Bemühungen, den ästhetischen Rang eines Werkes zu beurteilen und individuelle Positionen oder Geschmacksrichtungen zu würdigen. Die Vielschichtigkeit des Begriffes macht es möglich, ihn auch zum Kampfbegriff gegen unerwünschte oder unbequeme Richtungen in Kunst und Literatur zu verwenden. In einer Zeit, in der John Clelands Fanny Hill, die Werke de Sades oder die Erinnerungen der Sofie Mutzenbacher als preiswerte Taschenbücher angeboten werden und mitunter zu reduzierten Preisen auf den Wühltischen der Warenhäuser und Supermärkte zu finden sind, wirken die Diskussionen um dieses Thema zunächst ebenso überholt wie manche feinsinnigen Unterscheidungsversuche früherer Zeiten zwischen „erotisch“ und „pornographisch“. Wie es das Beispiel des Gedichtes Eugen Gomringers an einer Berliner Hauswand zeigt, kann die Lawine undifferenziert verwendeter Schlagwörter wie Sexismus oder ausufernder Genderdebatten im Verein mit einer neuen Prüderie diese Werke und die sachlichen Diskussionen um sie zum Schaden der Gesellschaft unter sich begraben. In Erinnerung gerufen sei, was Goethe 1824 in seinen Gesprächen mit Eckermann über die „gereinigten“ Ausgaben der Werke Shakespeares zu sagen hatte, die der englische Arzt Thomas Bowdler veranstaltete: Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und was Shakespeares kräftigen Mitmenschen durchaus anmutete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr ertragen, so daß in der neuesten Zeit ein Family-Shakespeare ein gefühltes Bedürfnis wird. 30

Ausblick Die akribische Arbeit der Bibliographen und Bibliothekare des 19. Jahrhunderts zeugt vom Streben, das kulturelle Gedächtnis in einer sich rapide verändernden Zeit lebendig zu erhalten. Die Häufigkeit, mit der manche ihrer Werke bis heute zitiert werden, zeugt von deren anhaltender Bedeutung. Die gedruckten Bibliographien und Kataloge früherer Zeiten mit ihren oft voluminösen Bänden mögen unter den sich ändernden technischen Bedingungen entbehrlich erscheinen, so daß sie in ihrer körperlichen oder analogen Präsenz in den Handapparaten der Bibliotheken nicht selten der vielzitierten „Furie des Verschwindens“ (Hegel) anheimfallen, in entlegene Bibliotheksmagazine verbannt oder ganz aus dem Bestand ausgesondert werden. Dennoch kann das Stöbern, das „Browsing“, auch das haptische Gefühl, den Band einer Bibliographie mit seinen Spu30 Goethe zu Eckermann am 25. Februar 1824. In Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Wiesbaden 1955, S. 80.

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ren der Alterung und der Benutzung in den Händen zu halten, durch nichts ersetzt werden – es ist eine Aura, die durch nichts zu ersetzen ist und der sich wohl kaum ein Benutzer entziehen kann. Die vielen Regalmeter, die die Bände einer Nationalbibliographie oder des gedruckten Kataloges einer der großen Bibliotheken der Welt in den Lesesälen oder Katalogräumen füllen, zeugen deutlich sichtbar von den schöpferischen Leistungen einer Zeit, von der wir Heutigen noch immer zehren. In ihrer digitalisierten Form bilden diese Werke einen Verbund mit den ebenfalls digitalisierten Beständen von Büchern, Archivalien und anderen Dokumenten, die sich oft an entlegener oder unerwarteter Stelle finden. Das Browsing, das Stöbern am Bildschirm fördert eine Fülle oft neuer Informationen zutage, führt zu unbekannten oder entlegenen Beständen, macht unerwartete Querverbindungen und Sachverhalte deutlich und regt im Idealfall zu neuen Fragen und Gedanken an. Das aber ist nur möglich mit dem kritischen Blick des Nutzers auf die Zuverlässigkeit und Aktualität der angebotenen Informationen, mit der Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Mittlerweile ist der ungetrübte Glaube an die Zuverlässigkeit und Vollständigkeit von Datenbanken und Katalogverbünden ins Wanken geraten, denn der Nutzer wird möglicherweise auch mit bewußten und interessengesteuerten Fehlinformationen, politisch motivierter Unterdrückung von Sachverhalten oder Verschwörungstheorien aller Art konfrontiert. Die viel beschworene „Medienkompetenz“ bedeutet mehr als die Beherrschung der technischen Möglichkeiten, die Geräte, Dateien und Portale aller Art bieten, die nur Mittel zum Zweck sind. Nur die gute Ausbildung des Nutzers und sein gesunder Menschenverstand bieten die Gewähr, daß er die verfügbaren Informationen sinnvoll nutzen kann. Zum Selbstverständnis der Bibliographen früherer Zeiten gehörte es, die eigene Tätigkeit und die ihrer Kollegen kritisch zu hinterfragen. Waren sie bei der Beschreibung des Vorgefundenen zunächst weitgehend auf sich gestellt, so setzte im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zunehmende wechselseitige Zitierung ein. An die Stelle erneuter Beschreibung identischer Ausgaben trat die Angabe der Nummer, in der das Werk in einer anderen Bibliographie zitiert wurde, etwa beim Inkunabelverzeichnis Ludwig Hains. Dazu kam die Beschäftigung mit Themen, die sich aus der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung ergaben und die ihre Wurzeln in den gemeinsamen kulturellen Traditionen hatten. Das Bewußtsein für diese Traditionen, die über Landes- und Konfessionsgrenzen hinausreichten, schloß nationalistische Überheblichkeiten aus. Was selbstverständlich klingt, mußte mitunter deutlich formuliert werden, wie es der polnische Kunsthistoriker und Bibliograph Karol Estreicher jun. im Vorwort zur Neuausgabe der Bibliografia Polska im Jahre 1959 tat. In einer Zeit, in der die Erinnerung an gerade Durchlebtes noch ebenso lebendig wie der aktuelle politi-

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sche Druck stark war, gingen seine Worte weit über den aktuellen Anlaß hinaus und können als Resümee der Arbeit der Bibliographen Europas dienen: Un beau paysage qui s’étend au delà de la frontière réjouit les habitants de deux pays: voilà l’image qui naît en nous lorsque nous lisons dans la Bibliographie les titres des travaux de nos voisins concernant la Pologne31. (Eine schöne Landschaft, die sich längs der Grenze erstreckt, erfreut die Einwohner beider Länder. Dieses Bild entsteht in uns, wenn wir in der Bibliographie die Titel der Arbeiten unserer Nachbarn lesen, die sich auf Polen beziehen.)

31 Bibliographie polonaise du XIXème siècle. 2. Éd. T. 1. Cracovie 1959, S. LXIII.

Jacques-Charles Brunets Manuel du libraire et de l’amateur de livres als Leistung und Vorbild

Abb. 3: Jacques-Charles Brunet: Stahlstich von Gustave Staal (1868).

Unter den großen bibliographischen Nachschlagewerken des 19. Jahrhunderts nimmt Jacques-Charles Brunets Manuel du libraire et de l’amateur de livres eine Sonderstellung ein. Das Werk war für ausländische Zeitgenossen wie Friedrich Adolf Ebert, William Thomas Lowndes oder Johann Georg Theodor Graesse Anregung, Vorbild und Gegenstand kritischer Distanz zugleich. Eine über Generationen tradierte und gepflegte Bibliothek bedeutete für den französischen Adel ebenso wie für Teile des dem Hofe nahestehenden Großbürgertums den Nachweis der Kontinuität in sozialer wie kultureller Hinsicht. Der Besitz einer Bibliothek orientierte sich nicht allein am Aspekt der Nützlichkeit für den persönlichen und beruflichen Bedarf, sondern trug auch ästhetischen Aspekten Rechnung. Daraus entwickelte sich seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts eine bibliophile Strömung mit einem Markt für das ästhetisch ansprechende Buch, der Druckereien und Buchbinder inspirierte und den Antiquariatsbuchhandel https://doi.org/10.1515/9783110649369-002

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und Bücherauktionen beflügelte. Diese bibliophilen Tendenzen fanden ihren Niederschlag in einer Reihe von Bibliothekskatalogen und Bibliographien. Zu den einflußreichsten gehört Guillaume-François de Bures Bibliographie instructive ou traité de la connoissance des livres rares et singuliers (1763–68), in der zwischen der literarischen und der kommerziellen Bedeutung eines Buches unterschieden wird und versucht wird, bisherige Fehlurteile über einzelne Titel zu korrigieren. Die Französische Revolution bedeutete zunächst eine Zäsur in dieser Tradition. Aus aufgelösten oder konfiszierten Bibliotheken standen gewaltige Büchermengen zur Disposition, die in die staatlichen Depots oder in den Antiquariatshandel gelangten. Vertreter radikaler Positionen betrachteten die literarischen Zeugnisse früherer Epochen mit Geringschätzung, verlangten die Entfernung von Wappen und Insignien früherer Herrscher von Einbänden und Titelblättern oder propagierten sogar ihre Vernichtung. Eine zentralisierte staatliche Kulturgutbergung und der weiterhin bestehende Antiquitätenhandel suchten diesen Tendenzen zu begegnen und schufen die Grundlage für die Erweiterung bestehender oder die Gründung neuer Sammlungen, die in den folgenden Jahrzehnten zum Ausgangspunkt für kultur- und geistesgeschichtliche Forschungen werden sollten. Die vorhandenen Nachschlagewerke reichten allerdings nicht mehr aus, um die literarische Produktion vergangener Zeiten in ihrem finanziellen oder ideellen Wert zu bewerten. Es kam die Stunde der Bibliographen, die nicht nur im stillen Kämmerlein ihren Studien nachgingen, sondern die ihre Erkenntnisse in einer Fülle von Katalogen, Bibliographien und Abhandlungen veröffentlichten und die damit einen Gegenpol zu den kulturrevolutionären und zerstörerischen Strömungen ihrer Zeit bildeten. Die Arbeiten von Joseph Van Praet, Antoine-Alexandre Barbier, Etienne Gabriel Peignot, Antoine Augustin Renouard und Charles Nodier fanden trotz der einschneidenden Ereignisse zwischen 1789 und 1815 wagemutige Verleger und einen aufnahmebereiten Markt und trugen so zur Kontinuität französischer bibliographischer Tätigkeit und Bibliophilie bei. Diese Werke fanden vielfältige Resonanz im Ausland und machten die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zur „époque la plus glorieuse de la bibliographie française“.1 In den Biographien der zeitgenössischen Bibliographen und Bibliothekare ist die Unruhe der Zeit zwischen 1790 und 1820 zu erkennen, denn sie sind geprägt von Aufstieg und Fall, politischer Verfolgung und Rehabilitierung, Verlust von Ämtern und Berufungen auf neue Posten. Auch in diesem Auf und Ab sind sie Kinder ihrer Zeit. Unbeirrt von den Zeitereignissen scheint dagegen Jacques1 Jean Viardot: Les nouvelles bibliophiles. In: Histoire de l’édition française. T. 3. Paris 1985, S. 344.

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Charles Brunet seinen buchkundlichen Studien nachgegangen zu sein, die ihren Niederschlag im mehrfach aufgelegten Manuel du libraire et de l’amateur de livres fanden. Die biographischen Details, die sich im Vorwort zur fünften Auflage und anderen, eher verstreuten Quellen finden, stehen dabei stets im Zusammenhang mit diesem großen Oeuvre, in dessen inhaltlich immer wieder erweiterten und ergänzten Auflagen sich die Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts niederschlagen. Jacques-Charles Brunet wurde am 2. November 1780 in Paris geboren. Sein Vater war aus der Provinz nach Paris gekommen und begann in der Nachbarschaft renommierter Buchhändler und Antiquare seine Tätigkeit als Buchhändler, Verleger, Antiquar und Auktionator. Er hatte dabei offensichtlich eine glückliche Hand, verbunden mit Spürsinn und Sachkenntnis. Der reisende englische Sammler Thomas Frognall Dibdin berichtet, daß der Vater Brunets die Bibliothek eines Klosters aufkaufte, in dessen Speicher er ein seltenes Exemplar der 1462 auf Pergament gedruckten Biblia latina gefunden hatte. Nachdem Brunets Mutter und dessen Tante früh verstorben waren, schien es der Vater zufrieden zu sein, daß der Sohn sich darauf vorbereitete, sein Nachfolger zu werden. Seit 1804 war Brunet junior registrierter Teilhaber der Buchhandlung seines Vaters, eine Position, die 1812 und 1820 nochmals bestätigt wurde.2 Das Interesse des offensichtlich frühreifen Knaben wurde durch die unübersehbaren Mengen von Büchern geweckt, die sich im väterlichen Laden ebenso wie bei den Händlern in der unmittelbaren Nachbarschaft häuften. Bereits im Alter von 15 Jahren begann sich Brunet mit den gängigen bibliographischen Nachschlagewerken zu befassen. Neben Guillaume-François de Bures Bibliographie instructive war es vor allem der Dictionnaire bibliographique, historique et critique des livres rares, precieux, singuliers, curieux (1790) von Charles Pinot Duclos und André Charles Cailleau, aus dem er seine Kenntnisse schöpfte. Die Notizen, die er sich bei der Lektüre dieser Werke machte, und die Funde bei den Händlern in seiner Umgebung veranlaßten ihn, 1802 in weniger als drei Monaten ein Supplement zu Cailleaus Dictionnaire zusammenzustellen und zu veröffentlichen. Die Resonanz auf dieses Werk ermutigte ihn, in seiner Arbeit fortzufahren, so daß nach sechsjähriger Arbeit 1810 die erste Auflage des Manuel erschien. Die alphabetische Titelfolge wird im dritten Band durch einen „Table méthodique“ erschlossen, der außerdem weitere Titel enthält. Alphabetischer und systematischer Teil sind durch Verweisungen miteinander verzahnt, eine

2 Jean-Paul Fontaine, dit Le Bibliophile Rhemus: Jacques-Charles Brunet, notre maître à tous (2013). http://histoire-bibliophilie.blogspot.com/2013/10/jacques-charles-brunet-notre-maitretous.html

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Praxis, die auch in den folgenden Auflagen beibehalten wurde und die bei Ebert und Lowndes nicht über Ansätze hinauskam. Der Ruf Brunets verbreitete sich schnell im Ausland. Als ihn Thomas Frognall Dibdin 1818 auf einer seiner Europareisen besuchte, traf er ihn in einem kleinen Raum im Hause der väterlichen Buchhandlung an, umgeben von Büchern, die sich bis an die Decke stapelten, und vertieft in seine Arbeiten. Mit Erstaunen vermerkte Dibdin, daß die erste Auflage des Manuel in einer Höhe von 2000 Exemplaren erschienen war. Außerdem wurden für Freunde und Kollegen 20 Exemplare auf großem, d.h. besonders gutem, Papier gedruckt. Dibdin bewunderte den Enthusiasmus, mit dem sich Brunet seiner Arbeit widmete, und die Weite seines Blickes, und so nennt er Brunet einen „citizen of the world. In short, he has as little nationality in his opinions and conversation, as any Frenchman with whom I have yet conversed.“ In den folgenden Jahren redigierte Brunet einige Auktionskataloge von Bibliotheken, bevor er 1814 eine vierbändige zweite Auflage des Manuel veröffentlichte, die um mehr als 4000 Artikel und zahlreiche Anmerkungen erweitert wurde. Mit dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Kontinent belebte sich der Antiquariatshandel. Vor allem die finanzstarken englischen Sammler profitierten davon bei ihren Streifzügen durch die Antiquariate des Kontinents und trieben durch ihre Ankäufe die Preise in die Höhe. Für sie wurde der Manuel zu einer unverzichtbaren Hilfe, so daß die zweite Auflage schnell vergriffen war. Brunet veröffentlichte daher 1820 eine dritte erweiterte Auflage. Im Vorwort notiert er mit Befriedigung, daß die Verbindungen zwischen den europäischen Nationen jetzt wiederhergestellt seien. So hatte er für diese Auflage stärker als bisher die italienische, spanische, englische und deutsche Literatur berücksichtigt. Für die Bestimmung der Frühdrucke bediente er sich der Ergebnisse der Inkunabelforschung Georg Wolfgang Panzers, der mit seinen Annalen der älteren deutschen Litteratur oder Anzeige und Beschreibung derjenigen Bücher, welche von Erfindung der Buchdruckerkunst bis 1526 in deutscher Sprache gedruckt worden sind (1788) und den Annales typographici ab artis inventae origine usque ad annum MDXXXVI (1793–1803) die Grundlagen zur modernen Inkunabelforschung gelegt hatte. Die engere Verbindung zu England zeigt sich auch darin, daß auf dem Vorsatzblatt die zwei Londoner Filialen der Pariser Buchhändler genannt werden, bei denen das Werk bezogen werden konnte. Brunet wandte sich gegen die zeitgenössischen Auswüchse bibliophiler Leidenschaften, die sogenannte Bibliomanie, die er als Gegensatz zur Bibliophilie ansah. Brunet wollte mit seinem Werk dem Gebildeten ermöglichen, eine Sammlung von Büchern anzulegen, deren Lektüre gleichermaßen angenehm und bildend sein solle. Waren schon drei kurz hintereinander folgende Auflagen einer Bibliographie bemerkenswert, so war es ihr kommerzieller Erfolg

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noch mehr. 1821 besaß Brunet ein Vermögen von ungefähr 100000 Francs, das größtenteils aus den Honoraren des Manuel stammte. Obwohl Brunet offiziell Teilhaber der Buchhandlung war, hatte sie sein Vater bis zu seinem Tode am 26. Mai 1824 allein geführt. Brunet gab das Geschäft 1825 auf, denn dank des finanziellen Erfolges des Manuel gehörte Brunet jetzt zu jenem Teil der „Leisure class“ (Thorsten Veblen), deren Angehörige finanziell weitgehend unabhängig, gebildet und literarisch interessiert waren. Sie bildeten zu dieser Zeit vor allem in Frankreich und England die Grundlage bibliophiler Sammel- und Editionstätigkeit, die sich in der Gründung von bibliophilen Vereinigungen wie dem 1812 gegründeten englischen Roxburghe Club und den dazu gehörenden Zeitschriften niederschlug. Brunet blieb zeitlebens ein großer Sammler, der, wie es Zeitgenossen berichten, auf Auktionen auch überzogene Preise bezahlte, nur um in den Besitz eines Werkes zu gelangen. Ein Netzwerk sachkundiger Freunde unter Verlegern, Antiquaren, Bibliothekaren und Sammlern und die Auswertung von Auktionskatalogen und anderen einschlägigen Veröffentlichungen bildeten die Grundlage für die immer wieder überarbeiteten Auflagen des Manuel. Obwohl er genügend Material gesammelt hatte, zögerte Brunet zunächst mit der Veröffentlichung einer weiteren Auflage. Erst als Charles Nodier, der Schriftsteller und Direktor der Bibliothèque de l’Arsenal, 1834 das Bulletin du Bibliophilie gründete, veröffentlichte Brunet seine bis dahin gesammelten Ergänzungen unter dem Titel Nouvelles Recherches bibliographiques als Supplement zum Manuel. Ein derart erfolgreiches Werk wurde für Raubdrucker, die vor allem in Brüssel ihren Sitz hatten, zum begehrten Objekt. Bereits 1821 wurde dort die dritte Auflage nachgedruckt, deren Titelblatt als Tarnung die Titelseite der Originalausgabe nachahmte.3 Jetzt verband ein anderer belgischer Nachdrucker die Nouvelles Recherches bibliographiques mit der dritten Ausgabe des Manuel, die als sogenannte vierte Auflage zwischen 1838 und 1845 in Brüssel erschien. Brunets Name war inzwischen über die Grenzen Frankreichs zum Begriff geworden, denn der Verleger Julius Campe wählte für die erste Auflage von Ludwig Börnes Briefe aus Paris das fingierte Impressum L. Brunet, das allerdings von Kennern und den deutschen Zensurbehörden schnell durchschaut wurde. Brunet wollte seinen Namen auf keinen Fall mit einem Werk verbunden sehen, das nicht von ihm autorisiert war, und entschloß sich deshalb, eine echte vierte Auflage des Manuel herauszubringen. Sie erschien in den Jahren 1842–44 und nahm die Erkenntnisse aus den Nouvelles Recherches auf. Brunets Arbeit 3 Roger Eliot Stoddard: Jacques-Charles Brunet. In: The Book-Collector 42(1993), S. 340–362, 523–546.

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wurde tatkräftig durch den Verleger Louis-Catherine Silvestre unterstützt, auf dessen Anregung die Ausgabe um Reproduktionen früher französischer Druckermarken erweitert wurde. Mit dem von Durand Narat entwickelten Reproduktionsverfahren wurde die verbale Beschreibung von Handschriften und Frühdrucken um Illustrationen ergänzt und erleichterte so die einwandfreie Identifizierung. Diese Neuerung schreckte fixe Nachdrucker schon aus technischen Gründen von einem Nachdruck ab. Noch einmal machte sich Brunet an die Überarbeitung seines großen Werkes, und so erschien zwischen 1860 und 1865 die fünfte Auflage. Für diese umfangreiche Arbeit fand der hochbetagte Brunet einen wichtigen Gehilfen in Olivier Barbier, dem Sohn Antoine-Alexandre Barbiers, des Verfassers des Dictionnaire des ouvrages anonymes. Olivier Barbier war Conservateur an der Bibliothèque Impériale, der heutigen Bibliothèque de France. Er hatte bereits bei der vierten Auflage mitgeholfen, jetzt las er u.a. die Korrekturen und überprüfte die Druckerzeichen. Eine Schlüsselstellung kam dem Verleger Ambroise Firmin-Didot zu, mit dem Brunet bereits Ende 1857 Kontakt aufgenommen hatte4. Als Verleger großer wissenschaftlicher Werke, die sich durch das hohe Niveau ihrer typographischen Ausstattung auszeichneten, und Besitzer einer eigenen umfangreichen Sammlung von Büchern und Kunstwerken sah er in der Neuauflage ein erfolgversprechendes Unternehmen, das er durch seine Mitwirkung bei der Auswertung einschlägiger Bibliographien ebenso unterstützte wie durch die Einbindung der Korrektoren und Mitarbeiter seiner Firma. Firmin-Didots Essai typographique et bibliographique sur la gravure de bois (1863) lenkte Brunets Aufmerksamkeit auf Werke mit Holzschnittillustrationen, wodurch sich unter anderem der Umfang des Artikels über Jost Amman von der vierten auf die fünfte Auflage verdoppelte. Durch die Zusammenarbeit mit Barbier und weiteren Freunden und Kollegen wurde die fünfte Auflage um ein Drittel vermehrt und bildet die Krönung der bibliographischen Arbeit Brunets. Sie enthält Erkenntnisse aus den zahlreichen Bibliographien, die seit der letzten Auflage des Manuel erschienen waren, den Eintragungen in Brunets Handexemplar sowie 4–5000 ergänzenden handschriftliche Notizen. Dank dieser gemeinsamen Bemühungen konnte Silvestre de Sacy im Vorwort zum zweiten Band das Werk als ein „répertoire immense de la science bibliographique“ bezeichnen, das dank der Bemühungen des Verlegers Firmin-Didot auch zu einem „chef d’oeuvre de typographie“ wurde. Brunet lebte inmitten seiner Bücher, die sein Leben waren, und so blieb er unverheiratet. Sein Begleiter auf den täglichen Spaziergängen war ein großer 4 André Jammes: J.-Ch. Brunet et A. Firmin-Didot. In: Bulletin du bibliophile (1991)2, S. 426– 443.

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gelber Hund. Am 14. November 1867 verstarb er in seinem Hause und wurde zwei Tage später, am 16. November, an der Seite seines Vaters auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt. Das Grabmal und die Grabstelle wurden 1999 aufgelassen, die sterblichen Überreste in das Beinhaus auf dem Friedhof Père-Lachaise überführt. Brunet hinterließ eine umfangreiche Bibliothek, die 1868 versteigert wurde. Neben bibliographischen Werken umfaßte sie Werke mit schönen Einbänden, die er zu sammeln begonnen hatte, als dieses Gebiet noch nicht das allgemeine Interesse gefunden hatte. Zur Auktion erschien ein zweibändiger Katalog der Drucke sowie ein weiterer Katalog für die Auktion der Autographen, unter denen sich Briefe John Lockes und Jean-Jacques Rousseaus befanden. Der Erlös von über 300000 Franken bestätigt den Wert der Sammlung. Zehn Jahre nach seinem Tode gaben die Buchhistoriker und Bibliographen Pierre Deschamps (1821–1907) und Gustave Brunet (1805–1896) ein Supplement zum Manuel in zwei Bänden heraus. Brunets Manuel gehört zu den wenigen Bibliographien, die mehrere Auflagen erlebten und ihren Autor zu einem vermögenden Mann machten. So betrug sein Vermögen 1844 ungefähr 500000 Francs. Die Gesamtauflage des Manuel betrug 20000 Exemplare. Brunet wurde für seine Arbeit 1845 mit dem Kreuz der Ehrenlegion, einer der höchsten französischen Auszeichnungen, geehrt. 1848 und 1849 gehörte er zum Komitee, das sich mit der Organisation der öffentlichen Bibliotheken befaßte. Der Erfolg des Manuel liegt unter anderem in seiner ständigen Anpassung an neue Erkenntnisse, an Strömungen des literarischen Geschmacks, an Entwicklungen auf dem Gebiet der Bibliophilie oder der Textkritik, die durch die bis ins hohe Alter geistige Regsamkeit und Aufgeschlossenheit des Autors möglich wurde. Brunets Ausführungen in den Vorworten zu den einzelnen Auflagen zeugen von einer inneren Gelassenheit, die ihn über seine Erfahrungen und Beobachtungen reflektieren läßt und die in der fünften Auflage die Summe der langen Traditionen bibliographischer Arbeit und bibliophiler Aktivitäten bildet. Auch wenn sich Brunet anders als manche seiner Fachkollegen von jeglichem Engagement in öffentlichen Angelegenheiten fern gehalten zu haben scheint, sein kritischer Blick auf den Umgang mit dem literarischen Erbe vor allem während und nach der Revolution zeugt von einem wachen Sinn für die Ereignisse um ihn herum. Kritisch betrachteten Brunet und seine Fachkollegen die Tendenzen, die aus politischem Fanatismus und Ignoranz heraus überlieferte Dokumente und historisch gewachsenen Sammlungen gering schätzten und die Zeugnisse der älteren französischen Literatur vernachlässigten, so daß seltene Ausgaben sich zunächst bei den Trödlern auf den Quais an der Seine wiederfanden, bevor ein Wechsel in der Wertschätzung dieser Literatur einsetzte. Auch

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diese Veränderungen zeichnet Brunet in den verschiedenen Auflagen seines Werkes nach. Für seine Ausführungen zu den Entwicklungen im Ausland, vor allem „am Rande“ Europas oder in Übersee, suchte er Informationen direkt von den Fachleuten zu erhalten. Ein wichtige Kontaktperson für das russische Reich war Baron Modest Andreevič Korf (1800–1876), der als Direktor der Kaiserlichen Bibliothek in Sankt-Petersburg die Verbindungen nach Mittel- und Westeuropa ausbaute und unter dessen Redaktion der umfangreiche Catalogue de la section des Russica ou écrits sur la Russie en langues étrangères (1873) entstand. Der große Anteil der ausländischen Literaturen an der fünften Auflage veranlaßte den Publizisten und Verleger Silvestre de Sacy zu der Feststellung: Nous sommes tous devenus un peu Allemands et un peu Anglais, ce qui ne serait pas un mal si nous ne risquions pas, en même temps, de devenir un peu moins Français (Bd. 2, S. III).5

In allen Auflagen des Werkes finden sich Ergänzungen und Korrekturen zu den Angaben in früheren Auflagen. Aus den Publikationsdaten der Werke von Autoren wie Cervantes, Shakespeare oder Camoens folgert Brunet, daß sie zu Lebzeiten nicht unbekannt gewesen waren, doch daß ihre materielle Not daraus herrührte, daß es keine Gesetze gab, die sie vor unberechtigten Nachdrucken ihrer Werke schützten. Brunets Schlußfolgerung, überlieferte Vorstellungen durch ein umfassendes und genaues Werkverzeichnis zu korrigieren, erscheint heute als eine Selbstverständlichkeit, die zu den Bestandteilen geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung gehört und den immer wieder anzutreffenden Legendenbildungen entgegenwirkt. Ein Beispiel für Brunets Arbeit sind die 13 Spalten über Pierre de Ronsard in der fünften Auflage des Manuel. Das Interesse an diesem bedeutenden französischen Dichter des 16. Jahrhunderts wurde zunächst durch den Tableau de la littérature française au 16ème siècle (1828) des französischen Literaturkritikers und Essayisten Charles-Augustin Sainte-Beuve und eine von ihm besorgte Gedichtauswahl geweckt. Brunets Auflistung wurde zur Grundlage für die weitere Beschäftigung mit Ronsard und eine Reihe neuer Ausgaben seiner Werke. Hier treffen sich die Belange von Bibliophilie, Bibliographie und Philologie. Brunet widmete seine Publikationstätigkeit ganz dem Manuel. Einzelne Beiträge daraus wurden zunächst selbständig veröffentlicht wie z.B. über die gotischen Stundenbücher oder Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, oder sie stellen 5 Sylvestre de Sacy in Brunet: Manuel du libraire et de l’amateur de livres … 5. éd. T. 2. Paris 1861, S. III.

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eine thematische Zusammenfassung dar, wie etwa die Kapitel über französische Zeitschriften und Zeitungen oder über in Paris gedruckte lateinische und italienische Titel. Brunets Anmerkungen umfaßten auch Fragen zum äußeren Zustand eines Werkes, denn Papier oder Einband konnten den Preis ebenso bestimmen wie der Verlag oder die Zuverlässigkeit des Textes. In der letzten Auflage wandte Brunet seine Aufmerksamkeit auch solchen Ausgaben zu, die weder inhaltlich noch von ihrem Äußeren her auf ein größeres bibliophiles Interesse rechnen konnten, die aber für die Geschichte des Werkes oder des Faches von Bedeutung waren oder die sich durch andere bemerkenswerte Details auszeichneten. Es waren Titel, die nicht immer kostbar oder gefragt waren, die in der Gunst der Sammler gesunken waren oder von denen er annahm, daß ihre Zeit noch kommen würde. Aus seiner langjährigen Erfahrung und seiner profunden Detailkenntnis heraus betrachtete er diese Werke unabhängig von Marktwert oder persönlicher Wertschätzung als Bausteine für die Geschichte des menschlichen Geistes. Ein ähnlicher Gedanke findet sich rund ein Jahrhundert später in der Formulierung Horst Kunzes, der in jedem Druckwerk einen „Urbeleg der schwarzen Kunst“ sah. Der von Brunet in diesem Zusammenhang verwendete Begriff „curieux“ wird im Sinne von bemerkenswert gebraucht – die Werke, die er dazu rechnet, bindet er in die kulturelle und historische Überlieferung ein. Damit unterscheidet er sich z.B. von der zeitgenössischen Entwicklung im deutschen Sprachraum, wo der Bedeutungswandel von Kurios = Bemerkenswert zu Kurios = Merkwürdig erfolgte, wie er sich u.a. in Hugo Hayns Vier Kuriositätenbibliographien niederschlägt. Aus dieser Position heraus fehlen im systematischen Teil des Manuel, im Unterschied zu manchen bibliothekarischen oder bibliographischen Gliederungssystemen der Zeit, solche Gruppen wie Miscellanea, Kuriosa oder Varia. Der bei Sammlern und Bibliophilen beliebte Begriff der Erotika bildet bei Brunet lediglich einen Anhang zu den Fictions en prose. Die wenigen Titel zeigen, daß er den Begriff eng begrenzte und damit fast nur Werke eines bestimmten literarischen Genres meinte. Brunets Arbeit ist nicht ohne die Wechselbeziehungen zu seinen Zeitgenossen im In- und Ausland denkbar. In der Würdigung ihrer Werke wie auch der anderer ausländischer Bibliographen ist Brunet ausgewogener und objektiver als es umgekehrt bei manchen seiner ausländischen Kollegen der Fall ist. Unter den deutschen Bibliographen, deren Arbeit er sich verpflichtet fühlt, nennt er Friedrich Adolf Ebert, Johann Samuel Ersch, Johann Georg Theodor Graesse, Ludwig Hain, Johann Georg Meusel und Georg Wolfgang Panzer. Brunets Werk wirkte vor allem in England und Deutschland anregend. Bei Lowndes stand die Erkenntnis im Vordergrund, daß die retrospektive Verzeich-

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nung der englischen Literatur trotz verschiedener Vorarbeiten äußerst lückenhaft war. Daraus entstand sein umfangreiches Werk The Bibliographer’s Manual. Der Leipziger Verleger Friedrich Arnold Brockhaus und sein Mitarbeiter Ludwig Hain ermutigten den Dresdener Bibliothekar Friedrich Adolf Ebert, mit seinem Allgemeinen bibliographischen Lexikon ein Werk zu schaffen, daß dem Brunets vergleichbar ist. Ebert erkennt Brunet als seinen Lehrer in Methode und Form an, doch ist für ihn Brunets Werk „lediglich und ausschließlich der angewandten Bibliographie gewidmet“ und auf die Bedürfnisse der französischen Sammler ausgerichtet. Nichts spricht deutlicher für den Unterschied zwischen Brunet und Ebert als die Formulierung seiner Prinzipien für das Lexikon. So wollte er die Tendenz des Brunet’schen Werks einer höhern und zwar wissenschaftlich begründeten […] Liberalität unter[…]ordnen, dass ein und dasselbe Werk mit gleicher Freundlichkeit dem strengen Ernst des Forschers wie den heitern, ja frivolen Launen des Dilettanten begegne, ohne dabei selbst den wissenschaftlichen Ernst zu verläugnen und über aller Vielseitigkeit flach und charakterlos zu werden6.

Mit den „Dilettanten“ waren jene Sammler gemeint, die sich ihre Bibliotheken nach ihren Interessen und Neigungen geschaffen hatten und von deren Vermächtnissen die Königliche Bibliothek Dresden zu Eberts Zeiten ebenso wie in späteren Jahrzehnten profitierte. Johann Georg Theodor Graesse, der in Dresden als Bibliothekar und Direktor der Königlichen Porzellansammlung, ab 1863 als Direktor des Grünen Gewölbes tätig war, verfaßte 1859 einen Trésor des livres rares et précieux ou nouveau dictionnaire bibliographique, contenant plus de cent mille articles de livres rares, curieux et recherchés, d’ouvrages de luxe etc. Avec des signes connus pour distinguer les éditions originales des contre-façons qui en ont été faites, des notes sur la rareté et le mérite des livres cités et les prix que ces livres onts atteints dans les ventes les plus fameuses, et qu’ils conservent dans les magasins des bouquinistes les plus renommés de l’Europe. Den hier verzeichneten Werken fügt er Auktionspreise, Standorte und bibliographische Besonderheiten hinzu. Die ausführliche Titelfassung und die typographische Ausstattung zeigen den Bezug zum Manuel Brunets. Die große thematische Nähe von Manuel und Trésor zueinander führte unter Zeitgenossen zu Vorwürfen des Plagiats, über die ebenso wie über Diskussionen über die Brauchbarkeit beider Verzeichnisse die Zeit hinweg gegangen ist. Die dominierende Rolle des Manuel Brunets ergibt sich aus der Aufnahmebereitschaft des französischen Buchmarktes für solche Veröffentlichungen. Der 6 Friedrich Adolf Ebert: Allgemeines bibliographisches Lexikon. 1. Bd. Leipzig 1821, S. XI.

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Vergleich mit den Erscheinungsdaten der Werke von Lowndes, Ebert oder Graesse zeigt, daß der Bedarf für manche Werke wie auch für die Bearbeitung bestimmter Themen sozusagen „in der Luft“ lag. Ein Beispiel sind die zeitgleichen Arbeiten Brunets und Graesses an einem Verzeichnis der historischen geographischen Bezeichnungen für Erscheinungsorte. Während Graesses Orbis latinus erstmals 1860 veröffentlicht wurde, gab Pierre Deschamps 1870 auf Grund der Aufzeichnungen Brunets das thematisch verwandte Dictionnaire de géographie ancienne et moderne aus dessen Nachlaß als Supplement zum Manuel heraus. Brunets Werk ist das Produkt einer Periode, in der grenzübergreifend wesentliche Grundlagen für spätere kulturwissenschaftliche Forschungen gelegt wurden. War der Manuel zunächst nur ein Titel unter den zahlreichen Bibliographien und Katalogen der Zeit, so erlangte er durch die wiederholten und aktualisierten Neuauflagen eine Bedeutung, hinter der andere Werke dieses Genres in den Hintergrund traten. Julius Petzholdt faßte in seinem Nachruf im Neuen Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft die Leistungen Brunets wie folgt zusammen: Mit dem Gefühle, daß er sein auf dem bibliographischen Felde thatenreiches Leben durch die Veröffentlichung der neuen, reich vermehrten und verbesserten Auflage in der rühmlichsten Weise abgeschlossen habe, ist Brunet von der Erde geschieden, wo ihm, mindestens innerhalb der Grenzen seines grossen Vaterlandes, die Ehrenstelle eines Altmeisters der Bibliographie zugestanden war.7

7 Julius Petzholdt: Zur Erinnerung an Jacques Charles Brunet. In: Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft (1868)1, S. 1–3.

William Thomas Lowndes, Henry G. Bohn und das Bibliographer’s Manual Anders als auf dem europäischen Kontinent gab es in England um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keine gewaltsamen Besitzveränderungen, ererbter Besitz wurde nach Möglichkeit vermehrt, durch verständige Erben öffentlichen Sammlungen vermacht oder, falls doch notwendig, verkauft. Zu den Sammlern und Käufern aus adligen Häusern kamen die Angehörigen des Bürgertums, die durch Geschäftssinn und glückliche Umstände zu Geld gekommen waren und die sich eigene Sammlungen zulegten. So entstand ein weitverbreitetes Interesse für Handschriften, herausragende Erzeugnisse der Schwarzen Kunst und Antiquitäten aller Art, das von einem Netz erfahrener Händler unterstützt wurde. Auf der Suche nach Erstausgaben oder Exemplaren, die sich durch das verwendete Papier, Einband oder andere Äußerlichkeiten auszeichneten, lieferten sich zahlungskräftige Käufer auf Auktionen wahre Bieterschlachten, es entstand eine bereits von den Zeitgenossen verspottete „Bibliomanie“, die nur wenig mit den Vorstellungen der ernsthaften Bibliographen und Sammler zu tun hatte und die Thomas Frognall Dibdin bereits 1809 in seiner Bibliomania verspottete. Die immer wieder erweiterten und aktualisierten Neuauflagen seines Buches zeigen, daß das Thema aktuell blieb. Zugleich wuchs die Zahl der Abhandlungen, die sich speziellen buchkundlichen und bibliographischen Fragen widmeten und die zum Teil bis heute für die Forschung bedeutsam sind. Allerdings fehlten die zuverlässige und umfassende Verzeichnung der bisherigen Buchproduktion des Landes, Informationen über die Werke einzelner Autoren, deren Erscheinungsdaten oder über den aktuellen Marktwert. Auf diese Mängel hatte bereits im 18. Jahrhundert der Schriftsteller und Publizist Samuel Johnson in bildhafter Sprache hingewiesen, der selbst Erfahrungen als Lexikograph hatte, nämlich daß by the means of catalogues only can be known what has been written on every part of learning, and the hazard avoided of encountering difficulties which have already been cleared, discussing questions which have already been decided, and digging in mines of literature which former ages have exhausted. 1

Einen ersten Versuch, die Lücke der bibliographischen Berichterstattung für England zu schließen, machte der schottische Arzt Robert Watt (1774–1819). Nachdem er 1812 einen Katalog seiner umfangreichen medizinischen Fachbib1 Zit. von Lowndes in seinem Preface vom 1. Januar 1834. In: The Bibliographer’s Manual of English Literature. Vol. 1. London 1864 (Nachdr. 1967). Der Nachdruck faßt alle Vorworte im ersten Band ohne Seitenzählung zusammen. https://doi.org/10.1515/9783110649369-003

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liothek veröffentlicht hatte, begann er die Arbeit an der Bibliotheca Britannica. Das Werk konnte erst 1824 erscheinen und verzeichnete ungefähr 50000 Titel mit knappen Angaben zu den Autoren. Noch bevor dieses Werk erschienen war, begann William Thomas Lowndes 1820 mit der Arbeit am Bibliographer’s Manual. Lowndes wurde, die Quellen sind unsicher, vermutlich im Jahre 1798 in London geboren. Er war der älteste

Abb. 4: William Thomas Lowndes: The Bibliographer’s Manual. 1834.

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Sohn einer seit zwei Generationen in London ansässigen angesehenen Verlegerund Buchhändlerfamilie, die sich auf die Herausgabe von Theaterstücken spezialisiert hatte. Er wuchs so in eine Welt der Bücher hinein, die seinen Lebensweg bestimmen sollte. Die Kenntnisse des Berufs und der Entwicklungen im Ausland machten ihn auf Fragestellungen aufmerksam, die in England ebenso akut waren wie auf dem Kontinent. Das Manual orientierte sich nicht nur im Titel an Brunets Manuel du Libraire. Lowndes verzeichnete in alphabetischer Abfolge der Autoren alle Werke, die seit der Erfindung des Buchdrucks in Großbritannien und Irland erschienen waren oder sich auf diese Länder bezogen. Ergänzt wurden die Angaben um Informationen über unterschiedliche Ausgaben, Anonyme und Pseudonyme. Die Annotationen sollten Urteile über das Werk umfassen, Angaben über die Art und Weise der Veröffentlichung, Hinweise auf Auktionskataloge, in denen das Werk verzeichnet wurde, und die Preise, die es erzielte. Den Benutzern seines Werkes sollte so geholfen werden, sich nicht nur eine große Sammlung von Büchern anzulegen, sondern eine wirkliche Bibliothek zu errichten, die sich aus den besten Ausgaben der Interessengebiete ihrer Besitzer zusammensetzte. Qualität galt nicht nur für das äußere Erscheinungsbild der Bücher, sondern im Sinne der entstehenden historisch-philologischen Textkritik auch für die Zuverlässigkeit des Textes selbst. Darin ähnelte seine Zielstellung der seiner Zeitgenossen auf dem Kontinent. Lowndes’ Ziele gingen über eine rein wirtschaftliche Orientierung hinaus. Er sah bibliographische Arbeit als Grundlagenforschung an und entschied sich aus diesem Grunde für die ausführliche Verzeichnung der Titel, da nur die vollständige Information über ein Werk und dessen verschiedene Ausgaben seine korrekte Beurteilung möglich mache. Es ist eine Erkenntnis, die heute zum Allgemeingut bibliographischer Arbeit gehört und die Fehlurteilen entgegenwirkt. Seine Erfahrungen ließen Lowndes auch über das Verhältnis von Erstausgaben zu späteren Auflagen nachdenken, und mit dem Hinweis, daß „a first edition contains valuable extraneous matter“ nimmt er Überlegungen vorweg, die später Allgemeingut der Textkritik wurden. Zugleich verteidigte Lowndes die Bedeutung der Bibliographie, die durch die Auswüchse der „Bibliomanie“ in Mißkredit geraten war. Bibliographie ist nach seinen Worten für den Intellektuellen das, was der Kompaß für den Seefahrer ist, ein Instrument zur Orientierung im „immense ocean of literature“. Ähnlich wie auf dem Kontinent war die Zeit in England für bibliographische und bibliophile Vorhaben günstig. Lowndes begann seine Arbeiten unter dem „hospitable roof“ von William Meredith, bevor er weitere Bibliotheken privater Sammler und kenntnisreicher Bibliophilen hinzuzog. Zu ihnen gehörte der Politiker und Sammler Thomas Grenville (1755–1846), der seine Sammlungen später

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der Bibliothek des Britischen Museums vermachte. Richard Heber (1773–1833) unterhielt für seine Sammlungen sogar Dependancen in Frankreich, Belgien und Deutschland und entsprach in seiner Sammelleidenschaft eher dem Typ des Bibliomanen als des Bibliophilen. Weitere Beratung und Unterstützung erhielt Lowndes durch seinen späteren Verleger William Pickering und die Auktionsfirma Sotheby, die Lowndes ihre umfangreiche Sammlung von Auktionskatalogen zur Verfügung stellte. Erst bei Werken, für die er keine andere Quelle fand, gibt Lowndes die Bibliothek des British Museum, die Bodleian Library Oxford oder eine andere öffentliche Bibliothek als Standort an. Diese Reihenfolge sagt etwas über die damalige Qualität privater Sammlungen aus, sie bezeichnet, und das ist nicht auf England beschränkt, aber auch die damalige Haltung der öffentlichen Bibliotheken gegenüber umfassenden Recherchen in den eigenen Beständen durch Außenstehende. William Pickering war als Sammler und Händler wertvoller Bücher bekannt und der Verleger namhafter englischer Autoren wie John Marlowe, Charles Darwin, Robert Malthus, Samuel Butler, Samuel Coleridge sowie Herausgeber älterer Werke und historischer Veröffentlichungen.2 Ohne Zögern übernahm er die Veröffentlichung des Werkes, das anders als geplant mittlerweile auf 50000 Titel angewachsen war, das sich aber in das Verlagsprogramm einfügte und am 1. Januar 1834 in vier Oktavbänden erschien. Der Verleger rechnete mit einem regen Absatz und ließ daher Stereotypien vom Satz herstellen – das Verfahren war zu dieser Zeit noch relativ neu. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Bibliographer’s Manual begann Lowndes auf der Grundlage dieses Werkes einen Sachkatalog der besten Werke der besten Autoren zu erarbeiten, der unter dem Titel The British Librarian erscheinen sollte. Es gelang ihm jedoch nur, den ersten Teil (Religion und Religionsgeschichte) fertigzustellen, denn Auswahl, sachliche Anordnung der Titel mit Angaben der Preise und Auszügen aus den Urteilen der Fachwelt über einzelne Werke mußten die Arbeitskraft und die fachliche Kompetenz eines Einzelnen überfordern. Schon bald nach dem Erscheinen des Bibliographer’s Manual erwarb der Verleger und Buchhändler Henry George Bohn die Rechte an dem Werk und an den Stereotypien. Damit verbunden war die Anstellung von Lowndes, der an seinem Werk keine eigenen Rechte besaß. Bis zum heutigen Tage haftet an Bohn der Makel, seinen Mitarbeiter Lowndes über Gebühr ausgebeutet zu ha2 Bernard Warrington: William Pickering and the book trade in the early nineteenth century. In: Bulletin of the John Rylands Library 65(1983), S. 247–266; Bernard Warrington: William Pickering, bookseller and book collector. In: Bulletin of the John Rylands Library 71 (1989), S. 121–138.

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ben – der amerikanische Soziologe und Bibliograph Francesco Cordasco spricht sogar von „servitude to Henry G. Bohn“3. In der Tat war die Arbeitsleistung von Lowndes für Bohn immens, denn zusätzlich zu seinen laufenden Arbeiten erstellte er den Guinea Catalogue von 1841, der als Lagerkatalog Bohns auf 1948 Seiten 23208 Titel des In- und Auslandes aus allen Wissensgebieten in sachlicher Ordnung verzeichnete. Mit ihm begründete Bohn seinen Ruf und sein Vermögen. Der junge Bernard Quaritch, der um 1842 bei Bohn seine ersten Kenntnisse auf dem Gebiet des Buch- und Antiquariatshandels erwarb, bevor er mit einer eigenen Firma auf diesem Gebiet zu internationalem Ansehen gelangte, sah, wie schlimm es um Lowndes bestellt war. Physisch und psychisch erschöpft von diesen Arbeiten verstarb er 1843 und ließ seine Frau mit zwei kleinen Kindern zurück. Lebens- und Arbeitsbedingungen von Lowndes ähneln zeitgenössischen Schilderungen, wie sie etwa in den Werken von Charles Dickens zu finden sind. Das harsche Urteil Cordascos relativiert sich, denn was Bohn von Lowndes forderte, forderte er auch von sich selbst, allerdings mit dem kleinen Unterschied, daß er bei seinen Geschäften auch mehr Fortune als sein Angestellter hatte. Henry George Bohn wurde am 4. Januar 1796 in London als erster Sohn eines Buchbinders und Buchhändlers geboren, der aus Deutschland eingewandert war.4 Dank der guten Beziehungen zum königlichen Hofe gehörte er zu jenem Dutzend Knaben deutscher Abkunft, die unter George III. von dem Musiker und Kapellmeister August Friedrich Christian Kolmann in Deutsch und Musik unterrichtet wurden5. Bei seinen Reisen auf dem Kontinent suchte Bohn nach Büchern und Kunden und war, wie berichtet wird, am Tage der Schlacht von Waterloo auf einer Buchauktion in Leipzig einer der wenigen Bieter. Bohn begann 1831 seine Tätigkeit zunächst als Auktionator und Händler mit den Restauflagen anderer Verlage. Es war für das englische Buchgewerbe eine wirtschaftlich schwierige Zeit, wovon auch ein Titel wie Thomas Dibdins Bibliophobia. Remarks on the present languid and depressed state of literature and the book trade zeugt, den Bohn 1832 verlegte. Einen großen Teil seines Umsatzes erzielte Bohn über Auktionen und den Verkauf von Restauflagen anderer Verlage. Davon zeugt der Guinea Catalogue von 1841, der auf 1948 Seiten 23208 Titel des In- und Auslandes in sachlicher Ordnung aus allen Wissensgebieten verzeichnete und an dessen Entstehen Lowndes, wie beschrieben, wesentlichen 3 Francesco Cordasco: William Thomas Lowndes and The Bibliographer’s Manual. In: Lowndes, William Thomas: The Bibliographer’s Manual of English Literature. Vol. 1. London 1864 (Nachdr. 1967). 4 Derek Jones: Henry George Bohn: a biographical note. http://www.derekjones.org/Bohnlife. htm; Bohn, Henry George. Wikisource, the free online library. en.wikisource.org. 5 Lowndes, Manual, Pt. 3, 1858.

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Anteil hatte. Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten scheint der Markt für bibliographische Werke aufnahmebereit gewesen zu sein, wie es nicht nur der von Bohn verlegte Manual of classical bibliography von Joseph William Moss (2. Auflage 1837) zeigt, sondern auch die Übersetzung von Friedrich Adolf Eberts Allgemeines bibliographischem Lexikon, die 1837 im Verlag der Oxford University Press erschien. Eine der großen verlegerischen Leistungen Bohns sind seine preiswerten Reihen von Literatur aller Wissensgebiete, die seit 1846 unter dem Titel Library zu erscheinen begannen. Hier erschienen Standardwerke zur Geschichte, Theologie, Literatur des klassischen Altertums, zu den Naturwissenschaften sowie zeitgenössische Autoren des In- und Auslands – insgesamt waren es 766 Bände, die in verschiedenen Reihen erschienen. Die zahlreichen Übersetzungen ausländischer Werke machten englische Leser mit wissenschaftlichen und literarischen Entwicklungen im Ausland vertraut. Bohn selbst übersetzte u.a. Friedrich Schillers Die Räuber und Ferrando Ferrandino von Christian August Vulpius sowie eine Reihe italienischer und französischer Werke. Diese Reihen fanden im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung unter anderem in der Everyman Library und in den Penguin Books. Die Veröffentlichung zeitgenössischer Autoren und die Verbreitung englischer Werke im Ausland berührte Fragen des internationalen Urheberrechts, die bis dahin ungeklärt waren und zu denen Bohn 1851 in seiner Schrift The Question of unreciprocated foreign copyright in Great Britain Stellung nahm. 1856 wurde Bohn Vizepräsident des Brüsseler Freihandelskongresses (Congrès international des réformes douanières)6, auf dem er sich für günstige Portoregelungen für Bücher einsetzte. Seine Erfahrungen als Verleger und Buchhändler nutzte er auch für Vorschläge zur Verbesserung des Kataloges der Bibliothek des British Museum, die er 1866 unter dem Titel Observations on the plan and progress of the catalogue of the Library of the British Museum veröffentlichte. Das Manual war für den Verleger Pickering zunächst kein Erfolg gewesen, wurde aber, nachdem es vergriffen war, in Antiquariaten teuer gehandelt. Nachdem Bohn die Rechte erworben hatte, plante er zunächst einen unveränderten Neudruck, doch stellte er an Hand seines Exemplars mit den eigenen Ergänzungen fest, daß eine Neubearbeitung notwendig sei. Der Gedanke zu einer Überarbeitung und Aktualisierung fand vermutlich durch die Weltausstellung von 1851 in London neue Nahrung. Zu den Charakteristika dieser ersten großen Leistungsschau der Industrienationen wie auch der weiteren Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts gehörte, daß auf ihnen neben hervorragenden Leistungen der 6 J. F. Waller: The imperial Dictionary of universal biography. Zit. British biographical Archive, Mikrofiche 039.

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Druckkunst auch Bibliographien und Bibliothekskataloge ausgestellt wurden, die mitunter auch Preise erhielten. Bohn wurde zum Vorsitzenden der Buchabteilung der Weltausstellung gewählt. Bohn widmete sich von 1857 bis 1864 der Überarbeitung und Ergänzung des Bibliographer’s Manual. Diese Arbeit verlief parallel zur umfangreichen Verlagstätigkeit und zwang ihn in die Siele kontinuierlicher Arbeit an diesem Werk, um es auch zu einem kommerziellen Erfolg zu machen. Bohn erweiterte das Werk um zeitgenössische Autoren, ergänzte vorhandene Einträge und aktualisierte Preisangaben. Durch seine Arbeiten erhielt er Zugang zu einer bis dahin unbekannten privaten Sammlung seltener Flugschriften vor allem des 18. Jahrhunderts, durch die es ihm möglich wurde, die Einträge unter den Begriffen Jests, Junius und London vollständig umzuarbeiten und zu erweitern. Diese Kenntnisse nutzte er später bei der Herausgabe der unter dem Pseudonym Junius erschienenen politischen Schriften. Der siebente Teil (1861) wurde von Bohn nahezu vollständig umgearbeitet, Ergänzungen und neue Artikel verdoppelten den Umfang gegenüber der Ausgabe von Lowndes. Im Vorwort verteidigte er sich gegen Vorwürfe, daß sein Werk zu umfangreich sei, mit dem Hinweis, daß er es „practically useful to book-buyers of every class, especially the literary student“, machen wollte, und daß fünfzig Jahre praktischer Erfahrungen ihn mit einem entsprechenden Urteilsvermögen ausgestattet hätten. Seine Ausführungen zu diesem Teil beschließt er mit dem Ausblick auf den achten Band, der Shakespeare und Swift enthalten sollte, und er schließt mit dem Seufzer: My subscribers must therefore be prepared for a Ninth part, – to nobody’s regret more than my own.

Auch dieser Band mit den Einträgen zu Walter Scott und William Shakespeare wurde von Bohn einer grundlegenden Revision unterzogen und verdoppelte sich dadurch im Umfang. Bohn verzeichnete alle Shakespeare-Ausgaben, kollationierte die Folioausgaben und die ersten Einzeldrucke. Diese Arbeit kostete ihn nach eigenen Worten zwar viele Monate Arbeit, doch „nothing but the pleasure of working on so congenial a subject could have stimulated me through the task.“ Dabei war er sich bewußt, daß der Ertrag aus dem Verkauf dieses Bandes in keinem Verhältnis zu seinen und seiner Helfer Mühen stehen wird: The labour of this extensive revision has been very exacting, and no sale of this book is likely to repay even the cost of my amanuenses, much less the value of my own time.7

7 Lowndes, Manual, Pt. 8, London 1863, Notice, S. IV.

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Bohn äußerte sich in den Vorworten zu den einzelnen Bänden über den Fortgang der Arbeiten, aber auch über die Mühen bibliographischer Tätigkeit, die er nun selbst erlebte und die wohl nur bedingt durch Erfolgserlebnisse wie dem Auffinden unbekannter Ausgaben aufgewogen wurden. Bereits im Vorwort zum zweiten Teil vom 30. April 1858 weist er darauf hin, daß die Arbeit an einem solchen Werk weit über die Vorstellungen derer hinausgeht, die mit solchen Arbeiten nicht vertraut sind: To these I reply, that the labour required to make anything like a perfect Manual of Bibliography, is, both physically and mentally, far beyond what would be conceived by those who have not engaged in such duties ….8

In der „Notice“ zum zehnten Teil spricht er dann selbst von den „seven years of anxiety and application“, die er bereits durchlebt habe. Im Vorwort zum Appendix to the Bibliographer’s Manual (1864) gibt Bohn noch einmal einen Bericht über die Lage der Bibliographie und faßt seine Erfahrungen als Bibliograph, und diese Feststellung gilt letztlich nicht nur für seine eigene Arbeit, wie folgt zusammen: And this gives me occasion to observe that Bibliographical knowledge alone is not sufficient for producing a satisfactory Manual – it requires unremitting industry and perseverance.9

Aus seinen Worten spricht auch an mehr als einer Stelle die nachträgliche Anerkennung der Leistungen von Lowndes, die er zu dessen Lebzeiten wohl nicht recht zu würdigen wußte. Der erste Band der Neuauflage erschien 1857 ohne die Nennung Bohns als Herausgeber. Den Dank an seine Helfer aus dem Buchhandel und den öffentlichen Bibliotheken verbindet er zum Abschluß der Arbeiten mit der Erinnerung an seinen früheren Mitarbeiter William Thomas Lowndes, der sich in „bibliographical drudgery“ aufzehrte und „both in body and mind, to a mere wreck of his former self“ wurde. Nach Bohns Worten zehrte sich Lowndes nicht nur in der bibliographischen Arbeit auf, sondern „in his own history realised a fact, of which he was always conscious, that Bibliography has no recognised status in England“. Zu der Einsicht, daß bibliographische Arbeit kein kommerziell lohnendes Geschäft sei – bereits 1859 teilte er mit, daß er den veranschlagten Preis nicht halten könne und ihn für alle die, die nicht subskribiert hatten, erhöhen müsse – kam die Erkenntnis, daß umfassende und vollständige Bibliographien die

8 Lowndes, Manual, Pt. 2, London 1858. 9 Lowndes, Manual, Pt. 8, Appendix, London 1863, S. IV.

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Kräfte eines Einzelnen übersteigen und nur mit finanzieller Hilfe der öffentlichen Hand und der Zusammenarbeit von Experten bewältigt werden können: There would be no difficulty in making a perfect book, – as far as anything human can be perfect – where the appliances sufficient; but nothing less than a liberal and independent appointment from the Crown can ever provide a stimulus adequate to the desired object.

Aus der Erfahrung als Verleger, Auktionator, Sammler entstand auch bei Bohn die Idee zur Schaffung eines universalen Kataloges, der alle bekannten Bücher umfassen sollte, ein Ziel, das binnen weniger Jahre zu erreichen wäre: It would be possible to register and describe, under one alphabet, every book known to literature, and to indicate the particular libraries where they are to be found; and if undivided attention could be bestowed on such an object, it might be accomplished in a very few years.10

Diese Wunschvorstellung eines universalen Kataloges beschäftigte Bibliothekare und Buchhändler in dieser Zeit immer wieder aufs Neue, scheiterte aber, wie es das Vorhaben Paul Otlets und Henri Lafontaines zeigt, an der Fülle des zu bearbeitenden Stoffes und wurde erst verwirklicht durch das Entstehen umfassender Katalogverbünde wie etwa dem Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK). Bohn konnte sein ehrgeiziges Ziel, die Tradition eines großen Verlagshauses zu begründen, nicht verwirklichen, da seine Erben kein Interesse an der Fortführung hatten. Er verkaufte daher 1864 „Bohn’s Libraries“ an den Verlag Bell and Daldy, später Bell & Sons, der diese Reihen mit Bohns Namen bis ins frühe 20. Jahrhundert fortführte. Bohn war ein großer und kenntnisreicher Sammler von Bildern, Büchern, Elfenbeinarbeiten und Porzellan, die auch zur Grundlage eigener Veröffentlichungen wurden. Seine Porzellansammlung bildete die Grundlage für den umfangreichen Guide to the knowledge of pottery, porcelain, and other objects of vertu: comprising an illustrated catalogue of the Bernal Collection of works of art […] To which are added an introductory essay on pottery and porcelain, and an engraved list of marks and monograms, der 1871 erschien. 1857 verfaßte er für die Philobiblon Society die Schrift Origin and progress of printing. 1861 war er der Verfasser eines Beitrages über Holzschneider der Zeit für das umfangreiche Werk von John Jackson: A treatise on wood engraving historical and practical. With upwards of three hundred illustrations engraved on wood. The historical portion by W[illiam] A[ndrew] Chatto. Second edition with a new chapter on the artists of the present day by Henry G. Bohn and 145 additional wood engravings. Bohns Wohnhaus in Twickenham, heute ein Stadtteil Londons, beherbergte sei10 Lowndes, Manual, Pt. 2. London 1858.

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ne umfangreichen Sammlungen. Es lag inmitten eines Gartens mit seltenen Gehölzen und seiner Rosenzucht, der von Freunden und Kollegen gern besucht wurde. So, wie er sich bereits zu Lebzeiten von einigen seiner Verlagsrechte getrennt hatte, so trennte er sich schon vor seinem Tode von Teilen der Sammlungen, die auf Auktionen beträchtliche Ergebnisse erzielten. Hier, in diesem gepflegten Anwesen, starb Bohn am 22. August 1884.

Abb. 5: William Thomas Lowndes: The Bibliographer’s Manual. New edition. 1858.

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Trotz der zahlreichen Ergänzungen blieb das Werk in seiner Grundstruktur unangetastet, es blieb das Werk seines Urhebers Lowndes, nach dem es noch immer zitiert wird. Nachdem Bohn seine Rechte an dem Werk und die Lagerbestände 1865 an die Firma Bell & Daldy verkauft hatte, wurden bis 1914 eine Reihe unveränderter Stereotypiedrucke veröffentlicht. Die anhaltende Bedeutung wurde 1967 durch einen unveränderten Neudruck unterstrichen. Francesco Cordasco nannte den Manual im Vorwort dazu eines der großen bibliographischen Werke aller Zeiten.11 Seine Bedeutung zeigt sich auch darin, daß es in der Fachliteratur und auch im Dictionary of National Biography immer wieder zitiert wird. „Unknown to Lowndes“ bleibt bis heute das höchste Prädikat, das englische Antiquare einem Titel zuteil werden lassen können und das der amerikanische Lyriker Eugene Field (1850–1895) in dem Gedicht „The Bibliomaniac’s Prayer“ in folgende Verse faßte: Let my temptation be a book, Which I shall purchase, hold, and keep, Whereon when other men shall look, They’ll wail to know I got it cheap. Oh, let it such a volume be As in rare copperplates abounds, Large paper, clean, and fair to see, Uncut, unique, unknown to Lowndes.12

11 Franceso Cordasco: William Thomas Lowndes and the Bibliographer’s Manual. In: Lowndes, William Thomas: The Bibliographer’s Manual of English Literature. Vol. 1. London 1864 (Nachdr. 1967). 12 Eugene Field: The Bibliomaniac’s Prayer. In: The Poems of Eugene Field. Complete Edition. New York 1930, S. 22–23.

Ludwig Hains Repertorium bibliographicum – „Die hervorragende Leistung eines Dilettanten“ Nannte der Inkunabelforscher Konrad Haebler in seinem 1925 erschienenen Handbuch der Inkunabelkunde das Repertorium bibliographicum Ludwig Hains. Er vermutete sogar, daß es z.T. in Schuldhaft abgefaßt worden sei. Der Begriff „Dilettant“ hat heute eine abwertende Bedeutung, denn er bezeichnet den Unterschied zum ausgebildeten und professionell arbeitenden Fachmann eines Gebietes. Allerdings waren Bibliothekare und Bibliographen zur Zeit Hains fast immer Dilettanten, die fehlende berufliche Ausbildung im modernen Sinne durch Engagement, Umsicht und kritisches Hinterfragen eigener und fremder Positionen ersetzten. Was sie taten, war „Learning by Doing“ im weitesten Sinne des Wortes und nötigt bis heute Achtung ab. Erich von Raths Aufsatz aus dem gleichen Jahre1 und weitere, in der Zwischenzeit bekannt und zugänglich gewordene Quellen vermögen Lücken in der Biographie eines Mannes zu schließen, dessen Name bis heute mit der Erforschung der frühesten Zeugnisse europäischer Druckkunst verbunden ist.

Die frühen Jahre Ludwig Friedrich Theodor Hain wurde in Stargard, einer Kleinstadt in Pommern, am 5. Juli 1781 als Sohn eines Rates der Zoll- und Akziseverwaltung geboren. Seit 1797 besuchte er das Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, zu dieser Zeit eine der besten Bildungsstätten Preußens. Hier wurde der Grundstock für seine Kenntnisse in den alten Sprachen gelegt, die ihm bei seinen späteren Arbeiten zugute kommen sollten. Aus der Berliner Zeit rühren zwei wichtige Freundschaften her, die vielleicht auch einen Teil seines Lebensweges mitbestimmten. Es handelt sich um August Bode (1778–1804), den Sohn des Berliner Astronomen Johann Elert Bode, und den späteren Orientalisten und Forschungsreisenden Julius Klaproth (1783–1835). Am 30. April 1801 immatrikulierte sich Hain an der Universität Halle für das Studium der Theologie, während sich Klaproth an der Philosophischen Fakultät einschrieb.2 Halles Ruf wurde zu dieser Zeit vor allem durch das Wirken des Altphilologen Friedrich August Wolf geprägt, bei dem auch Hain Vorlesungen hörte. In seiner Studienzeit war Hain 1 Erich von Rath: Zur Biographie Ludwig Hains. In: Bok- och bibliotekshistoriska studier tillägnande Issak Collijn. Uppsala 1925, S. 161–182. 2 Matrikel der Universität Halle, Auskunft des Archivs der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. https://doi.org/10.1515/9783110649369-004

Die frühen Jahre



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auch Mitglied der sogenannten Freitag-Gesellschaft, in der aktuelle literarische und wissenschaftliche Themen diskutiert oder eigene Texte vorgelesen und kritisch kommentiert wurden. Zu dieser Gruppe gehörten u.a. Friedrich von Raumer, Friedrich Heinrich von der Hagen, Friedrich August Gotthold, Karl Wilhelm Ferdinand Solger, die später wichtige Positionen im Kultur- und Geistesleben einnahmen. Vermutlich unter dem Einfluß seines Freundes Klaproth wandte sich Hain den orientalischen Sprachen zu, die er bei dem Kameralwissenschaftler und Linguisten Johann Christoph Christian Rüdiger studierte und für die er auch seine Freunde in der Freitag-Gesellschaft zu begeistern suchte.3 Er erreichte darin in kurzer Zeit solche Kenntnisse, daß er 1802 eine Erzählung des persischen Dichters Nizâmî in lateinischer Übersetzung und mit Glossar herausgeben konnte. Hain blieb vermutlich bis zum Oktober 1802 in Halle, danach reiste er zusammen mit den Freunden Klaproth und Bode nach Weimar. Hier wollten sie für ihre Studien die Bibliothek und den Nachlaß des 1801 verstorbenen Sprachwissenschaftlers Christian Wilhelm Büttner benutzen, vielleicht auch ordnen, da er sie in heilloser Unordnung der Universität Jena vermacht hatte. Bei Goethe wurden Hain und seine Freunde durch ein Schreiben des polnischen Grafen, Politikers und Schriftstellers Tadeusz Morski (1752–1825) eingeführt. Morski war Kammerherr des letzten polnischen Königs und ein prominenter Teilnehmer des polnischen Aufstandes von 1794 unter Tadeusz Kościuszko gewesen. Von 1799–1803 hielt er sich in Weimar auf und war ein reger Benutzer der dortigen Bibliothek4. Goethe muß die drei jungen Männer geschätzt haben, denn in seinen Tag- und Jahresheften 1802 vermerkt er: Gar manches andere von erfreulichen Verhältnissen find’ ich noch angemerkt; drei junge Männer: Klaproth, Bode, Hain, hielten sich in Weimar auf, und benutzten mit Vergünstigung den Büttnerischen polyglottischen Nachlaß.5

Klaproth gab 1802 im Verlag des Industrie-Comptoirs in Weimar das kurzlebige Asiatische Magazin heraus, zu dem Hain die Übersetzungen von zwei Gedichten beisteuerte, eines „Aus dem Arabischen des Abulata Assindi“ genannt, ein weiteres „Indischer Gesang“6. Ob er hierzu auf die Originale oder auf bereits vorhandene europäische Übersetzungen zurückgriff, ist nicht erkennbar. Im Juni 3 Uta Motschmann (Hrsg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815. Berlin 2015. (Online-Version). 4 vgl. Briefe an Goethe. Bd. 4. Weimar 1988, S. 572. Florian Witczuk: Goethes polnische Bekanntschaften. In: Weimarer Beiträge 16(1970)6, S. 201; Johann Wolfgang von Goethe: Begegnungen und Gespräche. Bd. 5. 1800–1805. Berlin 1985, S. 315. 5 Johann Wolfgang von Goethe: Tag- und Jahreshefte 1802. In: Werke (Weimarer Ausgabe). 1. Abt., Bd. 35, Weimar 1892, S. 142. 6 Asiatisches Magazin. Weimar 2(1802), S. 173–174.

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und Juli des folgenden Jahres hielten sich Hain und seine Freunde im damaligen Modebad Bad Lauchstädt südwestlich von Halle auf. Dort gehörten sie zum geselligen Bekannten- und Freundeskreis von Christiane Vulpius, die Hain auch in ihren Briefen an Goethe erwähnt. Bei Goethe war Hain am 30. Oktober 1803 mittags zusammen mit August Bode und Haude zu Gast7, am 19. Februar 1804 fand er sich zur Lesegesellschaft und einem anschließenden Abendessen u.a. mit Bode und Johann Heinrich Voß dem Jüngeren ein8. Voß schildert in einem Brief vom 22. Februar 1804 den Aufbruch einer lustigen Gesellschaft nach Erfurt, zu denen außer ihm auch Bode, Hain und Christiane Vulpius gehörten9. Der Aufenthalt in Weimar beschränkte sich jedoch nicht allein auf gesellig-gesellschaftliche Kontakte zu Goethe, sondern Goethe bezog Hain auch in seine Projekte literarischer Zusammenkünfte ein, wie aus einem Brief von Voß vom 10. April 1804 hervorgeht: Nun will Göthe ein paar mal Wöchentlich eine andere Geselschaft constituiren, wo aus mehreren Fächern u. Sprachen vorzügliche Schriften gelesen u. besprochen werden sollen. Bode, Hain u. ich sind constituirte Mitglieder, u. mancher talentvolle junge Mensch, vielleicht der Kanngießer10 der auch nach W. kommt, werden sich noch anschließen.11

Das Netzwerk von Freunden und vielseitig interessierten Gesprächspartnern zerfiel bald. Klaproth ging 1804 über Berlin nach St. Petersburg, Bode erkrankte schwer und verstarb am 19. Oktober 1804. In dessen Nachlaß fand sich die Übersetzung von Dantes Inferno, die Hain fertigstellte und die Eingang in die von Carl Ludwig Kannegießer besorgte deutsche Übersetzung der Divina Commedia fand, die 1809 im Industrie-Comptoir des Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus in Amsterdam erschien. Um Hain bildete sich ein neuer Freundeskreis, zu dem der Bibliothekar und Goethebiograph Friedrich Wilhelm Riemer, die Schriftsteller Johann Heinrich Voß und Stephan Schütze gehörten12. Im Laufe des Jahres 1805 verließ Hain Weimar und hielt sich bis 1812 unter anderem in Berlin auf, wo er die Texte der Verordnungen und Gesetze der französischen Besatzungsmacht ins Deutsche übersetzte. Es war ein mühsames Geschäft, und so kam er bereits in dieser Zeit in finanzielle Schwierigkeiten. Über Riemer versuchte er erneut Kontakt zu Goethe zu bekommen. Aus einem Brief Riemers an den Weimarer Schauspieler und Theaterregisseur Anton Genast aus 7 Goethe: Werke. (Weimarer Ausgabe). 3. Abt. Bd. 3, S. 85. 8 Goethe: Werke. (Weimarer Ausgabe). 3. Abt., Bd. 3, S. 85 bzw. 99. 9 Goethe: Begegnungen, Bd. 5, S. 434. 10 Carl Ludwig Kannegießer (1781–1861), Schriftsteller, Übersetzer Dantes, Scotts, Leopardis, Mickiewicz’. 11 Goethe: Begegnungen, Bd. 5, S. 464. 12 Goethe: Begegnungen, Bd. 5, S. 542, 554.

Die rechte Hand von Brockhaus



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Karlsbad vom 24. Juni 1807 geht hervor, daß er „in seiner Angelegenheit […] nichts thun könne, und auch nicht eher können werde, als bis wir wieder nach Hause gekommen sind“.13 Das Gesuch Hains blieb offensichtlich ohne Resonanz.

Die rechte Hand von Brockhaus Durch die Mitarbeit an der Übersetzung der Divina Commedia war der Verleger Brockhaus auf Hain aufmerksam geworden, der für ihn die Autobiographie des italienischen Dramatikers und Vertreters der Aufklärung, Graf Vittorio Alfieri (1749–1803), übersetzte. Da Alfieri sich von einem Anhänger der Französischen Revolution zu ihrem Gegner entwickelt hatte, hielt es Brockhaus für geraten, das Werk 1812 zunächst mit dem fingierten Impressum Peter Hammer erscheinen zu lassen. Auf diese Weise entstanden die ersten Kontakte zu Brockhaus. Das Conversations-Lexicon, das Brockhaus von einem anderen Verleger übernommen hatte und weiterführte, erwies sich als ein solcher Erfolg, daß er für die Redaktion eine tatkräftige Unterstützung suchte. Er wandte sich daher kurz und knapp am 2. August 1812 mit folgenden Zeilen aus Altenburg an Hain: Sollten Sie Neigung haben, mich in der Redaction des ’Conversations-Lexicons’ und sonstigen literarischen Arbeiten zu unterstützen, so komme ich auf unsere alte Idee zurück, daß Sie zu dem Zweck wenigstens eine Zeit lang hierher kommen. Wir könnten den Versuch miteinander auf 1–2 Monate machen […] Gefällt Ihnen dieser Vorschlag, so können Sie jeden Augenblick hier eintreffen, um willkommen geheißen zu werden. Ist er Ihnen nicht anständig, so erwarte ich Mittwoch Ihre Antwort.14

Hain bedachte sich nicht lange und wurde so festangestellter Hauptredakteur des Konversationslexikons. Der Versuch der beiden Männer miteinander währte bis zum Jahre 1820, als die fünfte Auflage vollendet war. Hain stand dabei gleichberechtigt neben Brockhaus – während dieser die großen Linien, auch die Tendenzen und die aufzunehmenden Themenkomplexe bestimmte, hatte Hain „die innere Leitung im Ganzen und im Einzelnen“. 15 Er korrespondierte mit den zahlreichen, oft namhaften Autoren, redigierte eingesandte Artikel und verfaßte selbst eine Reihe von Artikeln. Dabei war er stets darauf bedacht, durch Zusammenfassungen und Verweisungen Platz für die Aufnahme neuer Erkenntnisse zu gewinnen, so daß man diese 5. Auflage wohl weitgehend als 13 Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), 4. Abt., Bd. 30, Weimar 1905, S. 105. 14 Heinrich Eduard Brockhaus: Friedrich Anton Brockhaus. 2. T. Leipzig 1876, S. 135. 15 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. 10. Bd. Leipzig 1820, S. XI.

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sein Werk ansehen kann. Die Zusammenarbeit zwischen Brockhaus und Hain war getragen von gegenseitiger Anerkennung und Respekt, denn an der gleichen Stelle, datiert vom 15. April 1820 und wichtig für spätere Entwicklungen, schreibt Brockhaus: Beide Redactoren behandelten ihre gegenseitigen Verhältnisse ohne alle Pedanterie und es hat in dieser Hinsicht in einer jetzt achtjährigen Dauer nie ein aus entgegengesetzten Ansichten herrührendes Mißverhältniß zwischen ihnen stattgefunden.

Brockhaus schenkte Hain auch bei anderen Unternehmungen sein Vertrauen. Während der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 redigierte Hain in Altenburg eigenverantwortlich die Deutschen Blätter – er konnte die Nachfrage nach Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz kaum befriedigen. Als es zwischen Johann Heinrich Voß und seinem Sohn auf der einen, Brockhaus auf der anderen Seite, wegen der Shakespeare-Übersetzung zu Meinungsverschiedenheiten kam, spielte Hain den, allerdings erfolglosen, Vermittler. Hain betätigte sich auch weiterhin als Übersetzer und Herausgeber. So fallen in diese Zeit die mehrfach aufgelegte Übersetzung von Jean Nicolas Bouillys Rath an meine Tochter, in Beispielen aus der wirklichen Welt (1814) und die Übersetzung und Herausgabe von Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondis Die Literatur des südlichen Europas, deutsch hrsg. und mit Anmerkungen begleitet (1816/18). Er gab 1818 die Studie des frühverstorbenen Carl Ludwig Fernow (1763–1808) über Francesco Petrarca heraus, versah sie mit eigenen Ergänzungen und einer ausführlichen Werkbibliographie aus der Feder Friedrich Adolf Eberts.16 Vermutlich mußte Hain auch einspringen, wenn eine Übersetzung nicht rechtzeitig fertig zu werden drohte, wie etwa beim dritten Band von William Coxes Geschichte des Hauses Österreich, dessen erste Hälfte er übersetzte (1817). Auch am Allgemeinen Bücherverzeichnis von J. W. Heinsius scheint er mitgearbeitet zu haben, denn Heinsius nennt im Vorwort unter denen, die ihm besonders halfen, den „durch seine Werke in den neuern Sprachen bekannten Privatgelehrten, Herrn H*** in Leipzig“17 – mit ziemlicher Sicherheit ist das Kürzel als Hain aufzulösen. Angeregt durch Brunets Manuel du libraire et de l’amateur de livres verfaßte der Dresdener Bibliothekar Friedrich Adolf Ebert für den Verlag Brockhaus das Allgemeine bibliographische Lexikon. Hain unterstützte ihn mit zahlreichen sachkundigen Hinweisen und las auch die Korrekturen für einen Teil des ersten Bandes mit, wofür ihm Ebert ausdrücklich dankt: 16 Carl Ludwig Fernow: Francesco Petrarca. Nebst dem Leben des Dichters und ausführlichen Ausgabenverzeichnissen (1818). 17 Wilhelm Heinsius: Allgemeines Bücher-Lexikon. Bd. 1, Leipzig 1812, Sp. XVI.

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Eben so sehr fühle ich mich durch die gehaltreichsten Bemerkungen über Umfang und Plan der Arbeit und durch Mittheilungen einzelner Notizen, Winke und Berichtigungen Herrn D. Hain verbunden, der zugleich auch die sorgfältigste Aufsicht über die Correctur des grössten Theils dieses erstes Bandes führte.18.

Ebert wiederum war Hain bei der Beschaffung von seltenen und kostbaren Drucken aus Dresdener Auktionen für die eigene Bibliothek behilflich.

Der Sturz Hains Leben scheint in sicheren Bahnen zu verlaufen, er hat eine feste Anstellung und ist in seinem eigenen Schaffen nicht ohne Erfolg. Im Gegensatz zu seinen intellektuellen Fähigkeiten steht eine ganz offensichtliche Labilität, die sich auch im unruhigen Duktus seiner Handschrift erkennen läßt, sowie eine gewisse hochstaplerische Neigung, mit der er z.B. einen Doktortitel führte. Abgesehen von dem Matrikeleintrag in Halle besitzt keine der auf Grund seines Lebens- und Studienweges möglichen Universitäten Leipzig oder Jena Unterlagen über ein Studium oder gar einen Promotionsvorgang19. Besonders ausgeprägt war sein Hang zum Schuldenmachen, der, soweit es die Korrespondenzen erkennen lassen, seine Ursache nicht zuletzt in der Neigung zu alten und kostbaren Büchern hatte. Der um neun Jahre ältere Brockhaus schätzte die Fähigkeiten seines Mitarbeiters so sehr, daß er über Jahre hinweg die Probleme, die sich daraus ergaben, tolerierte. Durch Vorschüsse und Arrangements befreite er ihn wiederholt aus Geldverlegenheiten, nahm allerdings dafür 1817 auch Hains Bibliothek als Pfand. 1820 war das Maß voll, als Brockhaus feststellte, daß Hain hinter seinem Rücken für einen anderen Verleger als Herausgeber eines Encyklopädischen Wörterbuchs tätig werden wollte und es darüber bereits einen Vertrag gab.20 Zu Recht erkannte er die Gefahr, die seinem Konversationslexikon drohte, wenn Hain hier sein Insiderwissen einbringen würde, und ging nun gegen diesen vor. Außerdem hatte er während seiner Tätigkeit in Altenburg Brockhaus gefälschte Papiere vorgelegt und Geld veruntreut. Aus dem Lager hatte er Bücher entwendet und bei Antiquaren verkauft. Nach der Entdeckung im Sommer 1819 ersetzte er Brockhaus den Schaden durch Überlassung von Büchern aus seiner Bibliothek, die Brockhaus aller18 Friedrich Adolf Ebert Allgemeines bibliographisches Lexikon. 1. Bd. Leipzig 1821, S. XVI. 19 Auskünfte der Universitätsbibliothek Leipzig und des Archivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 20 Zu diesen Vorgängen Adalbert Brauer: Über das Sammeln von Konversationslexiken. In: Imprimatur NF. 5(1967), S. 202.

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dings nur mit Verlust gegen englische Werke eintauschen konnte. Aus der Erklärung21, die Hain am 20. September 1820 angesichts einer sonst drohenden sofortigen Verhaftung unterschreiben mußte, geht hervor, daß er in den drei zurückliegenden Jahren jährlich 900 Taler verdiente, dazu kamen weitere erhebliche Einnahmen durch Korrekturlesen, Übersetzungen usw. Mit der Entdeckung der erneuten Veruntreuungen Hains, die er nicht mehr durch Geld kompensieren konnte, gingen seine Bibliothek und sein Mobiliar endgültig in den Besitz von Brockhaus über. Hain mußte sich verpflichten, über geschäftliche Dinge Stillschweigen zu bewahren und die Zusammenarbeit mit anderen Verlagen, sofern sie die Interessen von Brockhaus berührten, zu unterlassen. Brockhaus band ihn nicht nur mit der Zusage, an begonnenen Vorhaben weiter mitarbeiten zu dürfen, an den Verlag, sondern auch mit der folgenden Passage: Der Unterzeichnete erkennt ferner an, daß Herr B., wenn derselbe auf die ihm zustehende Genugthuung, ihn den Criminal-Gerichten zu gebührender Bestrafung zu übergeben, verzichten will, er dafür von lebhaftigster Dankbarkeit durchdrungen ist und daß er nicht aufhören wird, alle seine Kräfte aufzubieten, um das an H. Brockhaus begangene Unrecht und Vergehen so viel als möglich gutzumachen.

Binnen drei Tagen hatte Hain Leipzig, binnen acht Tagen das Königreich Sachsen zu verlassen. Ohne Spezial-Erlaubniß von Brockhaus durfte er sich auch künftig nicht im Königreich Sachsen, in der Provinz Sachsen oder in den thüringischen Herzog- und Großherzogtümern aufhalten. In einem Schreiben vom 19. September 1820 legte ihm Brockhaus als mögliche Aufenthaltsorte für seine weiteren Arbeiten Würzburg und Göttingen nahe. Die Übereinkunft, die Brockhaus mit Hain traf, bezeichnet er selbst als hart, aber als einzige Möglichkeit, um ihn vor einer Verurteilung zu bewahren, er glaubte an die heilsame Wirkung dieser Regelung: So bleibt Ihnen der Weg zu einer Lebensbeßerung und zu einer Rehabilitierung jeder Art offen u. wenn eine Reihe von Jahren Sie solche erst durch Handlungen documentiert, so werde ich mich Ihnen auch wieder persönlich zuwenden können, das, wie Sie fühlen werden, für jetzt und auf lange Zeit völlig abgethan sein muß.22

Aus den Formulierungen dieses Briefes und der Erklärung sprechen die Enttäuschung und Verletztheit eines Mannes, der gegenüber seinen geschäftlichen Widersachern nicht gerade sentimental zu sein pflegte, jedoch glaubte, mit diesen Maßnahmen Hain ändern zu können. Zugleich wollte er die speziellen Kennt-

21 Staatsarchiv Leipzig. Verlag F. A. Brockhaus, Nr. 233. 22 Staatsarchiv Leipzig. Verlag F. A. Brockhaus, Nr. 233. Brockhaus an Hain 19. 9. 1820.

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nisse Hains weiterhin nutzen und stellte ihm dafür die Möglichkeit einer Rückkehr nach Leipzig in Aussicht. Versehen mit Wegegeld von Brockhaus, reiste Hain zunächst nach Dresden, wo er vermutlich noch einmal Ebert traf. Den Vorschlag von Brockhaus, Würzburg oder Göttingen als künftige Aufenthaltsorte zu wählen, ignorierte er. Brockhaus hatte diese beiden Orte vermutlich wegen der größeren Nähe zu Leipzig vorgeschlagen, ohne allerdings zu bedenken, daß für einen Mann mit Hains Interessen und Arbeitsgebieten lediglich Göttingen mit seiner modernen und gut ausgestatteten Bibliothek der angemessene Ort wäre. Brockhaus hatte Würzburg vielleicht deshalb genannt, weil dem Lexikon zu dieser Zeit vor allem Mitarbeiter aus Süd- und Südwestdeutschland fehlten und Hain ein möglicher Vermittler geworden wäre. Von Dresden reiste Hain nach Wien weiter, wo er am 5. Oktober 1820 eintraf. Er führte jetzt die Existenz eines freiberuflich tätigen Privatgelehrten und Literaten, der, ohne weitere soziale Sicherungen und Bindungen, seine Kenntnisse vermarkten mußte, um von den kargen Erträgen seiner Feder leben zu können. Ein solches Unterfangen bedeutete, trotz eines Marktes, der zu dieser Zeit auch umfängliche Bibliographien, Kataloge und literärgeschichtliche Veröffentlichungen aufnahm und honorierte, in jedem Falle ein Risiko: keines der großen bibliographischen Unternehmen der Zeit entstand ohne eine wirtschaftliche Absicherung des Bearbeiters, der es entweder als Teil seiner Dienstpflichten, als Besitzer einer eigenen großen Sammlung oder in den sogenannten Nebenstunden seines Dienstes erarbeitete. Deshalb ist Hains weiteres Leben auch ein Lehrbeispiel für die Risiken freier literarisch-wissenschaftlicher Tätigkeit. Es ist nur schwer nachzuvollziehen, warum Hain nach Wien ging, denn ihm mußten die österreichischen Verhältnisse unter dem Regime Metternichs bekannt sein. Nicht nur wurden alle einreisenden Fremden mit Mißtrauen betrachtet, auch alle Druckerzeugnisse des Auslandes unterlagen einer strengen Kontrolle bis hin zum völligen Verbot, und selbst die Werke österreichischer Autoren konnten oft nur nach Konzessionen an die Zensurbehörden erscheinen. Die Briefkontrolle besaß einen für die damalige Zeit hohen Grad der technischen Perfektion. Insgesamt erweist sich der landläufige Begriff Zensur als nicht aussagekräftig genug, denn der Umfang der Überwachung ging weit über das Übliche hinaus und ist deswegen eher mit dem umfassenderen Begriff Kommunikationskontrolle zu bezeichnen. So blieben Hains Bemühungen, auch mit Hilfe anderer Buchhändler beim Grafen Josef Sedlnitzky, dem Polizeipräsidenten und Leiter der Hofzensurstelle, die Freigabe vor allem des 9. und 10. Bandes des Konversationslexikons zu erreichen, ergebnislos. Auch die Verhandlungen mit Carl Gerold, dem bedeutendsten Verleger Österreichs, wegen eines autori-

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sierten Nachdrucks des Lexikons schlugen fehl23. Hain wurde von der Fremdenpolizei ebenso mißtrauisch betrachtet wie die Erzeugnisse seines früheren Prinzipals, so daß seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wurde. Er wurde gezwungen, Wien binnen kürzester Zeit zu verlassen. Nur dank der finanziellen Unterstützung durch den bayerischen Gesandten konnte er der Ausweisung Folge leisten und Wien zum gesetzten Termin im Dezember 1820 in Richtung München verlassen. Der Aufenthalt in Wien war eine Fehlentscheidung, denn Hain überschätzte seine Möglichkeiten, auf die Aufhebung der Vertriebsbeschränkungen für Brockhaus einwirken zu können. Auch für eigene Arbeiten wäre Wien wohl wenig geeignet gewesen, denn zu jener Zeit lagen die Zentren für lexikalische Veröffentlichungen in den nördlichen Teilen Deutschlands, wo auch das Gros der Mitarbeiter lebte: Brockhaus hatte mit der Empfehlung der künftigen Aufenthaltsorte Hains den entschieden realistischeren Blick gehabt.

In München. Das Repertorium bibliographicum Nach den demütigenden Wiener Erfahrungen fand Hain in München eine ihm zusagende Atmosphäre, so daß er Anfang Januar 1821 enthusiastisch an Brockhaus schreibt: „Baiern ist ein herrliches glückliches Land von guten Menschen bewohnt“24. Nach dem Vergleich, den Brockhaus mit dem Buchhändler Hahn in Altenburg am 2. November 1821 schloß25 und der zur Übernahme des Encyklopädischen Wörterbuchs führte, arbeitete Hain weiterhin daran mit, tauschte sich mit Brockhaus auch über lexikalische Fragen aus. Mit weiteren Projekten hoffte er Geld zu verdienen und bot sich als Vermittler wertvoller antiquarischer Bücher an, die Brockhaus absetzen sollte. Brockhaus warnte ihn in einem Brief vom 25. Juni 1821 davor, sich abermals durch ihre unselige Liebhaberey […] verleiten [zu] lassen, Ihr einziges und unseres Interesse aus dem Auge zu verlieren u. auf Abwege zu gerathen, die sie schon in umfängliche Verlegenheiten ja an den Rand des Verderbens gebracht haben u. bey Wiederholung derselben unwiederbringlich verderben müssen.

Nur in der Erfüllung seiner Verpflichtungen ihm gegenüber sah Brockhaus für Hain die Möglichkeit, seine Ehre wiederherzustellen und sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Hain scheint diesem Rat gefolgt zu sein, hat sich aber in 23 Staatsarchiv Leipzig. Verlag F. A. Brockhaus, Nr. 233. Hain an Brockhaus 4. 12. 1820; 7. 11. 1820. 24 Staatsarchiv Leipzig. Verlag F. A. Brockhaus, Nr. 233. Hain an Brockhaus 8. 1. 1821. 25 vgl. Brauer: Über das Sammeln, S. 202.

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seinen Briefen wiederholt über neue Projekte ausgelassen, Brockhaus auch immer wieder um Aufträge gebeten und um Geld angegangen. Es war die Haltung eines Mannes, der verzweifelt versuchte, durch stets neue Projekte und Ideen zu Geld zu kommen. So verlockend manche Vorschläge auch klingen mochten, Hain fehlten vermutlich Kraft und Ausdauer zu ihrer Umsetzung, er überschätzte seine Möglichkeiten.

Abb. 6: Ludwig Hain: Repertorium bibliographicum. Bd. 1. 1826.

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Für Hains Arbeiten wurde die Bayerische Hof- und Centralbibliothek unentbehrlich. Ihre Bestände waren durch die Übernahme zahlreicher Bibliotheken im Zuge der Säkularisation quantitativ wie qualitativ stark angewachsen, doch die innere Organisation hatte damit nicht Schritt gehalten. Als regelmäßiger Benutzer sah Hain die Mängel des Bibliotheksbetriebes, die ihm durch die nähere Bekanntschaft mit den Bibliothekaren Johann Baptist Bernhart und Bernhard Joseph Docen bestätigt wurden. Ihre Urteile und die eigenen Erfahrungen führten ihn zu recht negativen Urteilen wie in dem Brief vom 9. Mai 182126: Docen ist zu beschäftigt und das ganze übrige Bibliothekspersonal von Scherer an bis zum letzten ist keinen Schuß Pulver werth. Die Wirtschaft in der Bibliothek ist in alle Weise schändlich und unverantwortlich. Es ist nicht möglich, einem so schönen und reichen Institut schlechter vorzustehen und es schlechter zu verwalten, als diese Herren thun.

Hain scheint nach der gleichen Quelle diese Meinung auch gegenüber Docen geäußert zu haben, denn darauf „wurde er auch offen u. konnte nicht Worte finden, um mir seinen Verdruß auszudrücken“. In vielem dürfte der innere Zustand der Bibliothek vergleichbar mit den Verhältnissen an anderen Bibliotheken der Zeit gewesen sein. Dank seiner Kenntnisse und durch den Kontakt zu Friedrich Adolf Ebert erkannte Hain sehr bald, welche Möglichkeiten die reichen Bestände der Münchner Hofbibliothek für seine Arbeiten bieten konnten. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem reichen Fundus an Inkunabeln, die die Bibliothek nicht zuletzt durch die Folgen der Säkularisation besaß. Die Erfindung Gutenbergs war seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Anlaß, sie in gebührender Form zu feiern, doch dauerte es bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, bevor eine systematische Beschäftigung mit seinem Erbe begann. Es hängt nicht unwesentlich mit dem Reichtum des süddeutschen Raumes an Inkunabeln zusammen, daß hier die ersten Verzeichnisse dieser Frühdrucke entstanden. Neben dem bereits aus dem 17. Jahrhundert stammenden Verzeichnis des Johannes Saubertus von 164327 ist hier der Nürnberger Georg Wolfgang Panzer mit seinen Annales typographici (Nürnberg 1793–1803) zu nennen, der ein nach Ländern und Orten und weiterhin chronologisch unterteiltes Verzeichnis der bis dahin bekannt gewordenen Inkunabeln schuf. Hain erhielt Unterstützung durch den langjährigen Kustos und Bearbeiter der Inkunabelsammlungen, Johann Baptist Bernhart, der ein Verzeichnis der Inkunabeln begonnen hatte und der vielleicht eine Art 26 Staatsarchiv Leipzig. Verlag F. A. Brockhaus, Nr. 233. Hain an Brockhaus 9. 5. 1821. 27 Joannes Saubertus: Historia bibliothecae reipublicae Noribergensis … Accessit … appendix de inventore typographiae itemque catalogus librorum proximus a inventione annus usque ad a. Chr. 1500 editorum. Noribergae 1643.

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Mentor Hains war28. Es mag ein Zufall sein, daß Hain am 20. Juli 1821, dem Tag, an dem Bernhart an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb, Brockhaus den Plan für ein Prachtwerk vortrug, das die genaue Beschreibung aller bis 1475 erschienenen Inkunabeln enthalten sollte, dazu die lithographische Wiedergabe von Beginn und Schluß eines jeden Werkes. Brockhaus ging auf dieses Projekt ebensowenig ein wie auf den Plan eines beschreibenden alphabetischen Verzeichnisses aller bis zum Jahre 1500 gedruckten Werke, durch das Panzers Annales typographici ersetzt werden sollten.29 Brockhaus, der zu dieser Zeit noch mit Eberts Bibliographischem Lexikon engagiert war, sah darin vermutlich nur eines der vielen Projekte, die ihm Hain angetragen hatte. Außerdem hatten sich die Beziehungen zwischen Hain und Brockhaus im Laufe des Jahres 1821 einem toten Punkt genähert, da größere Aufträge nicht in Sicht waren. Als ein Helfer in der Not erwies sich der Publizist und Schriftsteller Ludwig Börne, der während seines Münchener Aufenthalts 1821 die Bekanntschaft Hains machte. Für Börne war der Aufenthalt in München zunächst einmal Gegenstand einer ironisch gefärbten Betrachtung, die er am 13. Dezember 1821 an seine Freundin Jeannette Wohl sandte: Diese Woche ist München eine wahre Herberge vagabundirender Journalisten. Außer dem berühmten Verfasser der Wage [d. i. Börne] befinden sich gegenwärtig hier: Dr. Pfeilschifter, der von Madrid kommt; Dr. Heine [sic!], Verfasser-Redakteur des Konversationslexikons und literarischer Agent des Brockhaus, und Siewers [Sievers] aus Paris, Korrespondent im Morgenblatte und in der Musikalischen Zeitung. Ich muß mir den Spaß machen, dieses zufällige Zusammentreffen in irgendeiner Zeitung zu verkündigen, damit sie in Wien glauben, es stecke was dahinter und die Beurlaubten einrufen.30

Johann Baptist von Pfeilschifter war von einer Reise zurückgekehrt, die ihn als Korrespondenten der Augsburger Allgemeinen Zeitung bis nach Spanien geführt hatte, wo er Zeuge der Revolution wurde. Georg Ludwig Peter Sievers war Verfasser zahlreicher musiktheoretischer Abhandlungen. Beide waren auch Verfasser von Artikeln zum Konversationslexikon, die Hain jetzt persönlich kennenlernte.

28 Vgl. Elmar Herterich: Die Erschließung der Inkunabelsammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in Vergangenheit und Gegenwart. In: Bayerische Staatsbibliothek. Inkunabelkatalog. Bd. 1. Wiesbaden 1988, S. XVII. 29 Rath, a. a. O. S. 178. 30 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Bd. 4. Darmstadt 1968, S. 493. Auch in Ludwig Börne – Jeannette Wohl: Briefwechsel (1818–1824). Berlin 2012, S. 335.

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Wie aus den Briefen Hains an Brockhaus und Johann Friedrich Cotta hervorgeht31, stellte Börne den Kontakt zu Cotta her. Als Börne Ende 1821 nach Stuttgart reiste, gab ihm Hain einen Brief an Cotta mit, in dem er ihm den Plan eines Inkunabelverzeichnisses vorstellte, den Börne vermutlich durch weitere mündliche Ausführungen ergänzte. In einem ausführlichen Schreiben vom 31. Januar 1822 begründete Hain sein Vorhaben mit der Unzuverlässigkeit der Angaben Panzers, der „Nürnberg nie verlassen hat“. Hain gibt an, daß er neben München auch die Bibliotheken in Berlin, Dresden, Leipzig, Weimar, und Wien einbeziehen will. Ebert hat ihm auch „seine Beihülfe im ganzen Umfange zugesagt“. Von den vorgesehenen 15–16000 Titeln wird er „wenigstens 7000 nach eigener Ansicht und sorgfältiger Untersuchung beschreiben. Unter diesen 7000 werden sich wenigstens 700 befinden, die noch ganz unbekannt sind, und wenigstens eben so viele, die man bei Panzer gleichfalls vergebens sucht“. Es ist bezeichnend für Hains Hang zu Projekten, daß er mit gleicher Post ein Handbuch der griechischen und römischen Literatur anbietet, zu dem er ebenfalls bereits Material gesammelt habe32. Anfang Februar 1822 kam ein Brief Börnes mit einem beigelegten Brief Cottas, der sich zur Übernahme des Vorhabens bereit erklärte. In der darauf einsetzenden Euphorie teilt Hain Cotta am 9. Februar 1822 mit, daß er eventuell auch Paris und Italien für seine Arbeiten besuchen wolle, ein Plan, der nicht ausgeführt wurde. Mit Cottas Zusage wandte sich Hain am 26. Februar 1822 an den Direktor der Hof- und Centralbibliothek, Adolf Heinrich Friedrich Schlichtegroll, um „zum Behuf einer literarischen Arbeit“ die Erlaubnis zur Benutzung der Inkunabeln zu erhalten. Diese Erlaubnis wurde ihm am 1. März mit dem entschuldigenden Hinweis erteilt, daß die Katalogbearbeitung und Aufstellung „für jetzt bey uns nur einleitend u. vorbereitend bewirkt worden ist.“33 Trotz dieser Erlaubnis scheint man ihm in der Bibliothek nicht sonderlich entgegengekommen zu sein, denn noch in einem Verhandlungsprotokoll aus dem Jahre 1823 wurde vom „Eindringen dieses fremden Literators“ gesprochen.34 Obwohl sich Cotta zustimmend geäußert hatte und bereits drucktechnische Fragen erörtert worden waren, gab es Verzögerungen, weil Hain Zahlungen schon vor der Drucklegung wünschte. Aus der Briefpause von Cotta glaubte 31 Staatsarchiv Leipzig, Verlag F. A. Brockhaus; Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Cotta-Archiv. 32 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Cotta-Archiv. 33 Briefe Hains und Schlichtegrolls, mitget. von H. Schnorr von Carolsfeld. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 27(1910), S. 558. 34 zit. bei Elmar Herterich: Die Erschließung der Inkunabelsammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in Vergangenheit und Gegenwart. In: Bayerische Staatsbibliothek. Inkunabelkatalog. Bd. 1. Wiesbaden 1988, S. XVIII.

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Hain schließen zu müssen, daß das Projekt scheitern würde. So schreibt er zur Begründung seines Wunsches am 9. April 1822 an Cotta: Als ein Schriftsteller ohne Vermögen, dessen Erwerb allein in seiner schriftstellerischen Thätigkeit beruht, bin ich bisher nicht im Stande, mich jahrelang ausschließlich einer einzigen großen Arbeit, die mir ohne hin schon bedeutenden Aufwand verursacht, zu widmen und mit dem Ertrag derselben bis zu deren Beendigung zu warten. Es würden mir inzwischen die Mittel der Subsistenz fehlen“.35

Am 2. Mai 1822 wendet er sich wegen der ausstehenden Antwort Cottas nochmals flehentlich an Börne, da Cotta nichts hat von sich hören lassen: Da Sie nun die ganze Angelegenheit von Anfang her kennen und mir viel Gutes bewiesen haben, so bin ich so frei, Sie um Ihre nachdrückliche und kräftige Verwendung bei Cotta zu ersuchen, daß er auf meine billigen Forderungen endlich und ohne Verzug eingehe. Sollte er aber nachdrücklich bei seinem Entschluß bleiben, so bitte ich Sie, auch dies mir schnell und ohne Rückhalt mitzutheilen und da er dazu Gründe eigener Art haben muß, mir auch diese nicht vorzuenthalten. Ich hoffe und wünsche übrigens, daß Sie sich vollkommen wohl befinden und empfehle mich Ihrem freundschaftl. Wohlwollen von ganzem Herzen Der Ihre LHain.36

In einem weiteren, ebenso flehentlichen Brief an Brockhaus vom 6. Mai 1822 spricht Hain von dem „Abgrund von Noth und Verlegenheit“, in dem er sich befindet. Außerdem berichtet er, daß er nochmals Börne um Intervention bei Cotta gebeten habe, und trägt, da er das Scheitern fürchtet, das Projekt abermals Brockhaus an. Die Befürchtungen erwiesen sich letztlich als grundlos, denn am 9. Mai 1822 konnte Hain Brockhaus von der Zusage Cottas unterrichten: „Jetzt hoffe ich das Schlimmste überstanden zu haben“. Cotta ging nach einigem Zögern auch auf Hains Wunsch ein, ihm das Honorar ratenweise zu überweisen, „nur bitten wir höflichst, Sie wollen sich der Anweisungen auf uns so sparsam wie möglich bedienen.“ 37 Obwohl mit Cottas Abschlagszahlungen Hains Existenz einigermaßen gesichert war, lösten sie seine Schuldenprobleme kaum. Der Umfang seiner Schulden muß beträchtlich gewesen sein, denn in einem Brief vom 12. April 1827 erbietet er sich zur Übernahme von Korrekturarbeiten für Cottas Verlagswerke38, ein Angebot, das Cotta auch angenommen hat. So, wie er bereits gegenüber Brockhaus immer wieder neue Projekte entwarf, entwarf Hain sie auch gegen35 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Cotta-Archiv. 36 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Cotta-Archiv. 37 Bayerische Staatsbibliothek München, Rep. Hainiana. Cottasche Buchhandlung an Hain 6. August 1822. 38 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Cotta-Archiv. Hain an Cotta.

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über Cotta. Cotta hielt sich dabei zurück, vermutlich auch verärgert über die wiederholten Differenzen in den Honorarabrechnungen, die sich durch Vorschüsse und abweichende Bogenberechnungen ergaben. Zu Hains Projekten gehörte auch die Fortsetzung des Repertoriums für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Wenn er damit wie auch mit anderen Plänen die eigene Leistungsfähigkeit überschätzte und die Verleger nicht zu Unrecht skeptisch blieben, so zeugen Ideen wie die eines Handbuchs der ausländischen Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit, einer kritischen Zeitschrift für die ausländische Literatur oder einer Bibliographie der neueren medizinischen Literatur von einer aufmerksamen Beobachtung des literarischen Marktes und der Erkenntnis bestehender Lücken. Aus der Arbeit am Repertorium entstand der Artikel Die Buchdruckerkunst in Portugal im fünfzehnten Jahrhundert in Friedrich Adolf Eberts Überlieferungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Vor- und Mitwelt (1827). Vermutlich hat sich Hain durch journalistische Arbeiten zusätzliche Einnahmen zu verschaffen versucht, die aber ohne seinen Namen erschienen und daher nicht nachweisbar sind. Wie aus den Briefen an Cotta hervorgeht, lieferte Hain anfangs seine Manuskripte sehr zügig ab. Unvorhersehbare Schwierigkeiten der Materie, nachträgliche Korrekturen und Ergänzungen sowie die langsame Abwicklung des Druckes führten zu einer schleppenden Erscheinungsweise des Repertoriums, so daß die erste Hälfte des ersten Bandes erst 1826 statt wie geplant, 1824 erschien, die zweite 1827. Vom zweiten Band erschien die erste Hälfte 1831, die zweite Hälfte wurde aus dem Nachlaß 1838 herausgegeben. Insgesamt umfaßte das Repertorium 16334 Nummern, erreichte also die projektierte Zahl. Die Auflage jedes Teils betrug 1000 Exemplare.39 Hain berücksichtigte bei der Verzeichnung die wesentlichen Charakteristika der Drucke wie Format, Schrift und Kollationierung. Zur weiteren Identifizierung gab er, da die Drucke in der Regel ohne Titel erschienen, auch das „Incipit“ und das „Explicit“ exakt wieder. Vermutlich von Bernhart übernahm er den senkrechten Strich (|) zur Kennzeichnung des Zeilenschlusses. Hain selbst spürte die Mängel, die dem Werk anhaften mochten, denn in einem Brief an Friedrich Adolf Ebert vom 27. Mai 182740 erkennt er, daß ihm dafür „Vorbereitung“ und „Vorberatung“ gefehlt haben, und er bittet Ebert um sein Urteil. In einer ausführlichen Rezension in der Allgemeinen Literaturzei-

39 Bernhard Fischer: Der Verleger Johann Friedrich Cotta. Chronologische Verlagsbibliographie 1787–1832. Bd. 2. München 2003. 40 Sächsische Landesbibliothek Dresden, H 21, Briefe an Ebert Bd. 5. Brief Hains an F. A. Ebert vom 27. 5. 1827.

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tung41 legte Ebert 1828 die Vorzüge des Werkes dar und bezeichnet es als eine „der wesentlichsten neuern Beförderungen der Bibliographie“. Es war die neidlose Anerkennung einer bibliographischen Leistung durch einen erfahrenen Bibliographen, wenn er die Rezension mit den Worten einleitet: Je anspruchsloser und schweigsamer dieses höchst verdienstliche Werk, über dessen Zweck und Plan uns keine Vorrede unterrichtet, in die litterarische Welt eingetreten ist, desto mehr hält es Rec. für seine Pflicht, statt desselben das Wort zu nehmen und anzumelden, was es bringe und wofür es gelten wolle.

Das Werk, für das der Verleger spezielle Typen habe gießen lassen, zeuge sowohl von der „fleißigsten Benutzung der besten Hülfsmittel, als von eigener selbständiger Forschung“. Ebert ergänzt seine Rezension um Titel, die er aus eigenen Arbeiten kannte, und er bringt die Idee eines Typenrepertoriums ins Spiel, wie es später durch Konrad Haebler verwirklicht wurde. Der stets kritische Julius Petzholdt urteilte in seiner Bibliotheca bibliographica begeistert: Ein Meisterwerk, welches Niemand, der mit Inkunabeln zu thun hat, entbehren kann. Es haben zwar schon Manche daran herumzubessern und zu makeln versucht, aber noch Niemand hat etwas Besseres geliefert, und es dürfte auch vielleicht noch lange Zeit vergehen, ehe die bibliographische Litteratur mit einem trefflicheren Werke bereichert werden wird. Gewiss hat das Buch, zumal im vierten Bande, der erst nach dem Tode des Verf.’s erschienen ist, viele Lücken und Mängel, diese sind jedoch, der fast bewunderungswürdigen Genauigkeit und der außerordentlichen Sorgfalt gegenüber, mit der vom Verf. die Beschreibung der von ihm selbst eingesehenen zahlreichen Drucke gearbeitet ist, nicht hoch in Anschlag zu bringen.

Aus dem geselligen Umfeld, in dem sich Hain in Weimar bewegte, und aus seinem Hang zum Schuldenmachen könnte man auf eine gewisse Leichtigkeit und Unbedenklichkeit des Lebensgefühls schließen, doch gibt es auch eine andere Seite. In einem Brief vom 18. März 1822 schreibt Hain an Brockhaus, daß er unschlüssig gewesen sei, ob er Cotta bei seinem Besuch in München ansprechen sollte. Er unterließ es „theils aus meiner allgemeinen Scheu vor Fremde, theils aber auch, weil ich mich gepreßt fühlte, theils weil ich nicht zudringlich scheinen mochte“. Brockhaus blieb für ihn, trotz aller Konflikte, die wohl wichtigste Bezugsperson, eine Rolle, die Brockhaus neben der berechtigten Wahrung seiner eigenen Interessen auch akzeptiert zu haben scheint. Er, seine Söhne und auch Hains Studienfreund Klaproth haben immer wieder durch Aufträge und andere Hilfen versucht, Hains Not zu lindern. Lediglich im Jahre 1831 fand die intensive Arbeit für das Repertorium eine kurze Unterbrechung und ermöglichte

41 Allgemeine Literatur-Zeitung (1828)318, Sp. 865–872; 319, Sp. 873–877.

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ein Atemholen, als Hain die Korrekturen zu den Verhandlungen der Stände Bayerns übertragen wurden. Diese Tätigkeit fand wegen der Auseinandersetzungen um die Ständevertretung allerdings keine Fortsetzung. Auf Grund seiner Kontaktschwierigkeiten war Hain in München weitgehend vereinsamt, denn außer zu den Bibliothekaren Bernhart und Docen scheint er zu anderen Mitarbeitern der Hof- und Centralbibliothek keinen näheren Kontakt gehabt zu haben. Dieser Eindruck ergibt sich auch aus den sehr akkurat geführten Tagebüchern Johann Andreas Schmellers, des Bibliothekars und Verfassers des Bayerischen Wörterbuchs42, in denen Hains Name überhaupt nicht auftaucht, obwohl dessen spezielle Kenntnisse ihn für den fachlichen Gedankenaustausch prädestiniert hätten. Erschöpft und ausgezehrt starb Hain am 27. Juni 1836 in München. Hochbegabt wie er war, berechtigte er, wie man es damals nannte, zu den schönsten Hoffnungen, die durch die Kontakte zu Goethe und Brockhaus noch genährt wurden – aber vielleicht wurde ihm gerade diese Begabung zum Verhängnis. Aus seinem Nachlaß ersteigerte die Hofbibliothek München für 22 Gulden neben persönlichen Briefen und Notizen das Manuskript des Repertoriums und die Vorarbeiten, aus denen der zweite Band des Repertoriums erarbeitet wurde. Die äußeren Lebensumstände Hains ähneln denen zahlreicher Zeitgenossen, die ihr Leben als Journalisten oder Schriftsteller zu fristen suchten und denen oft Anerkennung und materieller Erfolg versagt blieben. Dennoch gibt es ein Nachleben, das sich nicht allein in der Häufigkeit niederschlägt, mit der das Repertorium bis heute zitiert wird. So wurde der Ruf, den Hain als Übersetzer aus dem Französischen besaß, für zwei Titel verwendet, deren Originalausgaben und Übersetzungen erst nach seinem Tode erschienen. Es handelt sich um M. de Thibiage’s Geschichte der berühmtesten Ritterburgen und Schlösser Frankreichs, Englands, Deutschlands, der Schweiz [et]c. Nebst deren Sagen, Legenden und den Erzählungen der Heldenthaten ihrer Besitzer (Merseburg: Louis Garcke 1846) und Alexander Baillys unter dem Pseudonym A. B. Le François erschienene Geheime Chronik der königlichen Lustschlösser Frankreichs (Leipzig: Literarisches Museum 1847). Beide Titel gehören zum umfangreichen zeitgenössischen Korpus von Übersetzungen aus dem Französischen, die neben der gängigen Unterhaltungsliteratur der Zeit auch Abhandlungen umfaßten, die um die Französische Revolution und die politischen Ereignisse der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kreisten. Diese Themen legen die Vermutung nahe, daß sich hinter diesem Pseudonym ein Autor verbarg, der unter den Bedingungen des Vormärz seine Identität nicht enthüllen wollte. Im Verlag von Louis Garcke erschienen mit wechselnden, auch fingierten Erscheinungsorten neben Werken des 42 Johann Andreas Schmeller: Tagebücher 1801–1852. 2 Bde. u. Reg. München 1954–1957.

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Publizisten Robert Prutz Werke von Paul de Kock, Eugène Sue und Gustave Flaubert.43 Hains Repertorium bibliographicum gab den Anstoß für eine umfassende Verzeichnung der Inkunabeln, sei es im nationalen Rahmen oder für einzelne Bibliotheken. Der englische Jurist und Bibliograph Walter Arthur Copinger veröffentlichte zwischen 1895 and 1902 das Supplement to Hain’s Repertorium bibliographicum. Es enthält 7000 Korrekturen und Ergänzungen zu Werken, die Hain verzeichnete, sowie eine Liste von 6000 Werken, die Hain nicht kannte. Im Vorwort dankt er den Kollegen in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, die sich mit der Katalogisierung von Inkunabeln befaßten und ihn bei seiner Arbeit unterstützten. Konrad Burger, Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums, bearbeitete das Register und verfertigte Konkordanzen, durch die die Entsprechungen in den Verzeichnissen von Panzer und Hain festgestellt werden konnten. Dietrich Reichling ergänzte das Werk um Appendices ad Hainii-Copingeri Repertorium bibliographicum (München 1905–1911, Münster 1914). Marie Pellechet, die Bearbeiterin der ersten drei Bände des Catalogue général des incunables des bibliothèques de France nennt im „Avertissement“ zum ersten Band das Repertorium „ce fidèle compagnon d’études des bibliographes d’incunables“ (S. XI). Diese Arbeiten der Inkunabelforscher verschiedener Länder bereiteten den Boden für die Schaffung des Gesamtkatalog der Wiegendrucke, der 1925 als internationales Gemeinschaftswerk an der Preußischen Staatsbibliothek Berlin begonnen wurde. Nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg bedurfte es unter den Bedingungen der folgenden Jahrzehnte, die durch die politische Teilung Deutschlands und den Kalten Krieg geprägt waren, vieler Bemühungen, damit diese Arbeit fortgeführt und die Ergebnisse veröffentlicht werden konnten. In diesem Unternehmen, das bis heute fortgeführt wird, wirken die Impulse nach, die „die hervorragende Leistung […] eines Dilettanten“ seinerzeit ausgelöst hatten.

43 Klaus Garcke: Geschichte der Familie Garcke. Der sich von Hans Garcke, Quedlinburg, geboren um 1600, ableitende Stamm. Insingen 2018, S. 142–146.

Universalität und musisches Empfinden – Johann Georg Theodor Graesse Als im Jahre 1837 der erste Band von Johann Georg Theodor Graesses Lehrbuch der allgemeinen Literärgeschichte aller bekannten Völker der Welt, von der ältesten bis auf die neueste Zeit erschien, verwendete der Autor einen Begriff, der zu jener Zeit eigentlich schon aus der Mode gekommen war. Der Begriff Literärgeschichte entstammte dem Polyhistorismus des 17. Jahrhunderts, er bezeichnete den schriftlichen Niederschlag der intellektuellen Tätigkeit aller Disziplinen in Veröffentlichungen und fand seine sprachlichen und konzeptionellen Entsprechungen in der historia litterarum und der histoire litteraire. „Litteratur“ war, wie es Johann Georg Meusel in seinem Leitfaden der Geschichte der Gelehrsamkeit (1799) formulierte, der „Inbegriff der Kenntnisse“ des Menschengeschlechts, die historia litteraria war die „Darstellung der äußeren Bildung und der vornehmsten Schicksale der gelehrten Kenntnisse des menschlichen Geistes“.1 Der Begriff wurde zum Synonym für Allgemeinbildung und die Aufgeschlossenheit des Lesers für Entwicklungen außerhalb seines Berufs- und Interessengebietes, die durch die „Literaturzeitungen“, die an den Zentren des geistigen Lebens des deutschen Sprachraums erschienen, befördert wurde. Graesse griff auf den Begriff der Literärgeschichte zurück, da ihm für sein Vorhaben ein passender Terminus fehlte. Aus seiner Suche nach einem anderen, passenden Terminus ist allein der Hinweis auf die „politische Geschichte“ erwähnenswert, „insofern diese oft ganz allein zu der richtigen Erklärung der mannigfachen Veränderungen im Reiche der Wissenschaften den Schlüssel darbietet.“2 Der Terminus Literärgeschichte wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts durch Begriffe wie Gelehrten-, Bildungs- oder Wissenschaftsgeschichte abgelöst, Literaturgeschichte bezog und bezieht sich vor allem auf die schöne Literatur. Graesse erkannte später, daß die Zeit über diesen Begriff hinweggegangen war und verwendete ihn nicht mehr, ohne daß das aber seinen Blick auf andere Kulturkreise und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen beeinträchtigt hätte. Bei seinen Arbeiten profitierte Graesse vom reichen Fundus der Dresdener Bibliotheken und musealen Sammlungen, von den großen bibliographischen Veröffentlichungen, die mit Namen wie Brunet, Ebert, Lowndes verbunden sind und von den Darstellungen zur Literatur- und Geistesgeschichte einzelner Länder und Epochen, die zu dieser Zeit in großer Zahl zu erscheinen begannen. Graesse beschränkte sich in seinen großen Werken nicht auf die Nennung der

1 Johann Georg Meusel: Leitfaden zur Geschichte der Gelehrsamkeit. Leipzig 1799. 2 Graesse: Lehrbuch der allgemeinen Literärgeschichte. Bd. 1,1. Dresden 1837, S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110649369-005

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Titel oder ihre kurze Annotierung, sondern baute sie in das System seiner Ausführungen ein. Seine umfassenden Kenntnisse machten es ihm möglich, schnell auf Themen zu reagieren, die quasi „in der Luft lagen“ und die auf eine entsprechende Resonanz bei einem größeren Publikum stoßen konnten.

Abb. 7: Johann Georg Theodor: Lehrbuch einer Literärgeschichte. 1. Abt. 1837.

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Johann Georg Theodor Graesse wurde am 31. Januar 1814 geboren. Sein Vater, Johann Gottlob Graesse, war Professor und Konrektor an der Landesschule Grimma, die bis heute zu den bedeutenden Bildungseinrichtungen Sachsens gehört. Zu ihren Schülern zählten unter anderem der Theologe und Liederdichter Paul Gerhardt, der Begründer der Naturrechtslehre, Samuel Pufendorf, und der Archäologe Walter Andrae. Den ersten Unterricht erhielt Graesse, wie in dieser Zeit vielfach üblich, durch seinen Vater. Nach dessen frühen Tode im Jahre 1827 kam er als Pensionär in das Haus des Pädagogen Karl Gottlob Witzschel, dessen Kenntnis der neueren Sprachen den Bildungsweg Graesses nachhaltig beeinflußte. 1833 begann er in Leipzig Philosophie, Klassische Philologie und Archäologie zu studieren. Einer seiner akademischen Lehrer war der Altphilologe Gottfried Hermann (1772–1848). Durch ihn lernte er die komparatistische Seite der Altertumswissenschaft kennen, es ging um das Verständnis des Eigenen am Fremden3, wie es Wilhelm von Humboldt herausgearbeitet hatte und das auch die Werke Graesses prägen sollte. Hermanns spezielles Arbeitsgebiet, die griechische Mythologie, regte in Verbindung mit den Werken der Brüder Grimm Graesse zu seinen späteren Studien über Sagen an. Hermanns Lehrtätigkeit bestimmte und prägte den Berufsweg von vier seiner Studenten, die sich als Bibliothekare und Bibliographen in der Folgezeit einen Namen machten: Friedrich Adolf Ebert (1791–1834), Robert Naumann (1809–1880) und Julius Petzholdt (1812–1891). Graesse und der zwei Jahre ältere Petzholdt waren in Leipzig Kommilitonen und wurden später in Dresden als Leiter von Bibliotheken und Museen und mit ihren Arbeitsgebieten Kollegen. Nach der Promotion ging Graesse nach Halle, um sich mit einer Habilitation auf die akademische Laufbahn vorzubereiten. Hier traf er auf einen Kreis politisch und kulturell aufgeschlossener Köpfe, die sich um den liberalen Altphilologen und Oberbibliothekar Gottfried Bernhardy (1800–1875) gesammelt hatten. Zu ihnen gehörten der Privatdozent Arnold Ruge und der Lehrer am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen, Ernst Theodor Echtermeyer. Echtermeyers Auswahl deutscher Gedichte erlebte bis ins 20. Jahrhundert zahlreiche erweiterte und den Zeitströmungen angepaßte Neuauflagen. Ruge und Echtermeyer gaben seit 1838 die Halleschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst heraus, deren Mitarbeiter einen wesentlichen Anteil an den geistigen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Revolution von 1848 hatten. Als die Zeitschrift bereits 1839 in Preußen verboten wurde, gingen Ruge und Echtermeyer in das politisch liberalere Dresden und publizierten die Zeitschrift von dort aus. Durch diese Kontakte 3 vgl. Günter Oesterle: Kulturelle Identität und Klassizismus. Wilhelm von Humboldts Entwurf einer allgemeinen und vergleichenden Literaturerkenntnis als Teil einer vergleichenden Anthropologie. In: Nationale und kulturelle Identität. Frankfurt am Main 1991, S. 306–307.

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geriet Graesse in die inneruniversitären Auseinandersetzungen, die von den Vertretern der konservativen Strömungen in der Hochschulpolitik ausgingen und mit dem Namen des Historikers Heinrich Leo (1799–1878) verbunden sind4. Graesse gab daher den Plan auf, sich zu habilitieren, und ging ebenfalls nach Dresden5. Bereits bei den Vorarbeiten zu seinen großen Veröffentlichungen hatte er festgestellt, daß die Bestände der Universitätsbibliothek Halle als Folge jahrzehntelanger schlechter Dotierung zu wünschen übrig ließen, während bereits das Bibliographische Lexikon (1819–1821) Friedrich Adolf Eberts einen Eindruck vom Reichtum der Bestände der Königlichen Bibliothek in Dresden vermittelte. Ein weiterer gewichtiger Grund für den Ortswechsel war die aufgeschlossenere Atmosphäre der Stadt. Graesse wurde zunächst interimistischer, ab 1840 festangestellter Lehrer an der renommierten Kreuzschule. Dank der persönlichen Bekanntschaft mit dem sächsischen König Friedrich August II. wurde er 1843 dessen Privatbibliothekar. Dieser engen Beziehung zum Hofe ist es zu verdanken, daß er in der Folgezeit leitende Stellungen in den königlichen Sammlungen Dresdens innehatte, doch waren es, wie seine Publikationen zeigen, keine durch königliche Huld gewährten Sinekuren. Nachdem er Direktor der Königlichen Münzsammlung geworden war, konnte er im Jahre 1848 einen ehrenvollen Ruf als Professor der Archäologie nach Moskau ausschlagen. 1852 wurde er als Direktor der Königlichen Porzellansammlung Nachfolger des Kulturhistorikers Gustav Friedrich Klemm, 1863 Direktor des Grünen Gewölbes, zu der 1877 auch die Leitung des damit verbundenen Münzkabinetts kam. Infolge eines Augenleidens, das auch durch eine Operation nicht zu beheben war, mußte er 1882 in Pension gehen. Nach längerem Leiden verstarb er am 27. August 1885 auf seinem Landsitz, dem Barockschloß Wackerbartsruhe in Lößnitz bei Dresden, den er 1882 erworben hatte. Das Schloß hatte bereits zu dieser Zeit mehrere Vorbesitzer gehabt und ist heute Sitz eines bedeutenden Weingutes. Zu dieser Zeit war der Ort, der heute Teil der Stadt Radebeul ist, ein beliebter Wohnort von Künstlern, Schriftstellern und wohlhabenden Dresdnern. Graesse war dreimal verheiratet, den Ehen entstammten vier Söhne und eine Tochter. Er hinterließ eine umfangreiche Bibliothek, die 1887 in einem Ulmer Antiquariat verkauft wurde. Graesses Wirken wurde durch sächsische, preußische und russische Auszeichnungen gewürdigt. 4 Vgl. hierzu Hans Rosenberg: Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7(1929), S. 560–586; Heinz Kathe: Halle – Eine mittlere Universität der Provinz? Das 19. Jahrhundert. In: Martin-Luther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen. Opladen 1994, S. 57–79. 5 Vgl. den auf autobiographischen Notizen beruhenden Aufsatz: Theodor Graesse †. In: Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft 46(1885), S. 256–260.

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Er war Ehrenmitglied oder Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen wie der Archäologischen Gesellschaft Moskau, des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, korrespondierendes Mitglied der Accademia araldico-genealogica italiana zu Pisa. Unter den Auszeichnungen, die er erhielt, sind die päpstlichen Medaillen hervorzuheben, die er, obwohl Protestant, für seine Ausgaben der Legenda aurea des Jacobus de Voragine, des Speculum sapientiae des Cyrillus und des Dialogus creaturarum des Nikolaus Pergamenus erhielt. Zu Graesses umfangreichem Oeuvre gehören neben seinen Büchern Artikel und Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften. Dank einer klugen Personalpolitik waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Gustav Friedrich Klemm, Theodor Graesse und Julius Petzholdt in Dresden drei Männer tätig, die die ihnen anvertrauten Bibliotheken und Sammlungen pflegten und weiterentwickelten. Jeder von ihnen trug auf seine Weise zur kulturwissenschaftlichen Forschung bei und war in der einen oder anderen Weise den Arbeiten verpflichtet, die Friedrich Adolf Ebert während der vorhergehenden Jahrzehnte mit seinem Bibliographischen Lexikon begonnen hatte. Ihr Wirken entwickelte sich im Kontext der sächsischen, speziell der Dresdener Kulturlandschaft des 19. Jahrhunderts, die durch Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und ein aufgeschlossenes Publikum geprägt wurde. Außerdem wurde das Ambiente der Stadt durch eine Reihe prominenter „Zugereister“ geprägt, unter ihnen Polen und Russen, die mehr oder weniger freiwillig Dresden zu ihrem Aufenthaltsort genommen hatten. Die wechselseitige Anregung der Künste und Wissenschaften durch Personen und Sammlungen begünstigte Publikationen, deren Thematik und Bedeutung weit über den lokalen oder regionalen Bezug hinausreichen.

Literärgeschichte und Bibliographie Noch während seiner Zeit in Halle erschien 1837 der erste Band von Graesses Lehrbuch der allgemeinen Literärgeschichte aller bekannten Völker der Welt, von der ältesten bis auf die neueste Zeit. Das Buch erschien zu einer Zeit, als derartige Darstellungen florierten, die einerseits die Bestandsaufnahme des Bekannten waren, aber im Idealfall auch das Weltbild eines ausgedehnten und aufgeschlossenen Leserkreises ergänzen und prägen konnten. Stellvertretend seien hier genannt von Georg Gottfried Gervinus Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (5 Bde., 1835–1842) und von Heinrich Leo Lehrbuch der Universalgeschichte zum Gebrauch in höheren Unterrichtsanstalten (6 Bde., 1835).

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Eingeteilt nach Zeitaltern, gibt Graesse einen kommentierenden Überblick über die Literatur aller Wissenschaftsdisziplinen und deren geschichtliche Entwicklung. So sieht er selbst seine Literärgeschichte als Wissenschaftsgeschichte, wenn er in der Einleitung schreibt: Die Geschichte der Wissenschaften ist eine Erzählung der merkwürdigen Begebenheiten im Reiche der Wissenschaften oder eine Erzählung des Ursprungs, Fortgangs und der Veränderungen menschlicher Kenntnisse und Wissenschaften.6

Dieser Zielstellung läßt er sofort in einer Anmerkung die Definition des Begriffes „Merkwürdig“ folgen: Merkwürdig heißt aber in dieser Beziehung alles das, was einen großen Einfluß im Gebiete der Wissenschaften gehabt und viel zur Ausbildung und zum Wachsthum oder auch im Gegentheile zum Verfall und zur Verminderung derselben beigetragen hat.

Dieser Definition entspricht auch die ältere Bedeutung von kurios / kuriös, die ebenso wie merkwürdig zunächst die Bedeutung im Sinne von bemerkenswert hatte. Die Arbeit am Lehrbuch wurde in den vierziger Jahren unterbrochen, als auf Wunsch des Verlegers ein Auszug für einen größeren Leserkreis erscheinen sollte: das Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte aller bekannten Völker der Welt (1844–50). Die Formulierung „aller bekannten Völker der Welt“ ist im Lehrbuch wie im Handbuch mehr als eine werbewirksame Akzentuierung. Bereits im Vorwort zum ersten Bande des Lehrbuchs nannte Graesse ausführliche Beispiele für die „ungleichartige Behandlung der Literaturgeschichte der einzelnen Völker und Wissenschaften“, wie er sie in den von ihm benutzten Quellen vorgefunden hatte. Sein erklärtes Ziel war es, „immer das weniger Bekannte oder Unbearbeitete zum Gegenstand meiner Hauptforschungen zu machen“. Europa bestand für Graesse nicht nur aus den Kernlanden antiker und christlicher Traditionen, dem „christlichen Abendland“ mit seiner Konzentration auf Mittel- und Westeuropa, sondern sein Interesse erstreckten sich auch auf Osteuropa und Skandinavien, auf die „Ränder Europas“. Dabei bemängelte er, daß die bibliographische Berichterstattung und der buchhändlerische Verkehr aus Rußland, Polen, Schweden, Dänemark, Holland sehr zu wünschen lassen.7

6 Graesse: Lehrbuch der allgemeinen Literärgeschichte, Bd. 1,1. Dresden 1837, S. 3. 7 Graesse: Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte. Bd. 3. Dresden und Leipzig 1846, S. VI.

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Als Quellen und Anregungen dienten Graesse zunächst die weitverbreiteten Literaturgeschichten Johann Gottfried Eichhorns und Ludwig Wachlers8, doch die Lücken, die er hier feststellte, regten ihn zu eigenen Recherchen an. Programmatisch heißt es daher: Darum umfasst auch mein Werk nicht allein Nachrichten über die bisher völlig unbekannte oder noch gar nicht behandelte Literatur mancher Völker, z.B. der Aegypter, Assyrer, Mongolen, Neger und Mexicaner, sondern auch die Geschichte jeder einzelnen Wissenschaft […] wird in ihrem Entwickelungsgange während der einzelnen Perioden der politischen Geschichte bei den einzelnen Völkern nachgewiesen werden.9

Dank seiner Sprachkenntnisse lagen Graesse die orientalischen Literaturen besonders am Herzen. Für dieses Gebiet, für das oft nur wenige oder unzuverlässige Informationen vorlagen, stützte er sich neben den erreichbaren Nachschlagewerken auf ein ausgedehntes Netz sachkundiger Briefpartner. Persönliche Kontakte bestanden zu einer Reihe von Orientalisten mit ihren Spezialgebieten. Gustav Leberecht Flügel (1802–1870) besorgte eine über lange Zeit maßgebliche Ausgabe des Korans. Hermann Brockhaus (1806–1877), der dritte Sohn des Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus, war Indologe, Ivan Aleksandrovič Guljanov (1789–1841) ein russischer Ägyptologe. Der bekannteste unter ihnen war der Österreicher Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774–1856), der Goethe zu seinem West-Östlichen Divan angeregt hatte. Unter den zeitgenössischen Bibliographien, die er für seine Arbeiten auswertete, schätzte er besonders Charles Brunets wiederholt aufgelegten Manuel du libraire et de l’amateur de livres. Das Bibliographische Lexikon Friedrich Adolf Eberts sah er dagegen als „über die Gebühr geschätzt“ an10. Während Ebert sein Titelmaterial lediglich alphabetisch anordnete, Brunet auf seine alphabetische Folge eine erschließende und ergänzende Systematik folgen ließ, bietet Graesse das gesammelte Material in differenzierter zeitlicher und fachlicher Gliederung. In seine Darstellungen fließen eigene Urteile und Sichtweisen ein, die auch etwas über ihren Urheber aussagen, denn bei aller Nüchternheit und Unvoreingenommenheit, die ein Bibliograph besitzen sollte, wäre es ein nicht unerhebliches Maß an Selbstverleugnung, sollten nicht aus Vorworten, Anmerkungen und Urteilen auch persönliche Neigungen und Positionen, vielleicht auch das Leiden an solch umfangreichen Werken, erkennbar werden. Aus den Einleitun8 Johann Gottfried Eichhorn: Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten (Göttingen 1805–1813, 2. Auflage 1828 unvollendet; Ludwig Wachler: Versuch einer allgemeinen Geschichte der Literatur (Lemgo 1793–1801); Handbuch der allgemeinen Geschichte der literarischen Kultur (Erstauflage 1804, 3. umgearbeitete Auflage Leipzig 1833). 9 Graesse: Lehrbuch, Bd. 1, 1, S. VIII–IX. 10 Graesse: Lehrbuch, Bd. 2, 3,1, S. XIII.

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gen zu den einzelnen Bänden wird erkennbar, welche Schwierigkeiten er hatte, die für seine Arbeit wichtigen Neuerscheinungen zu erhalten, und so dankt er wiederholt den in- und ausländischen Gelehrten, die ihn mit Auskünften und Hinweisen unterstützten, dem Verleger, der ihm bestimmte Werke verschaffte, sowie den Dresdener Kollegen, Konstantin Karl Falkenstein, Gustav Klemm und Julius Petzholdt. Allerdings bedauert er auch, Geld für zwei durch Vermittlung des Verlegers erworbene Literärgeschichten ausgegeben zu haben, die von den greulichsten Fehlern wimmeln, […], wo ohne Angabe der Quellen mit jener auch bei uns wieder überhandnehmenden Vornehmheit, wo grobe Unwissenheit durch schlechtes und ungenaues Citiren als genial oder originell erscheinen will, mit vielen Worten wenig oder nichts […] berichtet wird.11

Diese Nachlässigkeiten waren dem mit Detailkenntnissen und Genauigkeit arbeitenden Graesse ein Greuel. Er sah sie als ein Zeichen des Verfalls an und kreidete sie auch dem von ihm geschätzten Gervinus und seiner Geschichte der poetischen National-Litteratur der Deutschen an, deren 1. Teil er für die Deutschen Jahrbücher 1842 rezensierte. Graesses Klage ist leider bis zum heutigen Tage aktuell geblieben. Und im Vorwort zu dem Teil des 2. Bandes, der sich mit den großen Sagenkreisen befaßt, heißt es bei aller Klage letztlich auch mit einer gewissen Genugtuung: Natürlich habe ich, um manche Kleinigkeiten zu beweisen und klar darzustellen, manches dickleibige schlechte Buch durchlesen müssen, allein ich kann dafür doch wenigstens das mit Zuversicht behaupten, daß […] ich überall selbständige Forschungen angestellt und somit auch höchst befriedigenden Resultate erlangt habe.12

Der Ärger über schlampig konzipierte oder redigierte Bücher war harmlos im Vergleich zu den Verdächtigungen, denen Graesse ausgesetzt war, als während der repressiven Atmosphäre des Vormärz Zweifel an seiner politischen Einstellung aufkamen. Deshalb beeilte er sich, nach einem anonymen Angriff seine Anhänglichkeit für das Bestehende und Hergebrachte zu betonen und zu erklären, daß ich mich glücklich schätze, nicht zu denen zu gehören, welche den seit dem 16ten Jhdt. aufgetauchten und seit dem Ende des vorigen zum Ausbruch gekommenen neuen Ideen über Freiheit etc. huldigen, weil ich selbige für die größten Hindernisse des Gedeihens der Wissenschaften halte.13 11 Graesse: Lehrbuch, Bd. 2, 1, S. VI–VIII. 12 Graesse: Lehrbuch, Bd. 2, 3,1, S. XII. Graesse spielt dabei die Bedeutung dieser Arbeit bewußt herab. 13 Graesse: Lehrbuch, Bd. 2, 3,2, S. IV.

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Doch nicht nur an seiner politischen Haltung wurde gezweifelt, an gleicher Stelle mußte er sich auch gegen den Vorwurf verteidigen, er hätte „zuweilen frivole Bücher mit erwähnt“. Und so erwidert er, daß in diesem Bande von mir die erotischen Schriften des Mittelalters, soweit es anging, neben einander gestellt sind und ich nach meinem Plane, das, was bisher weniger beachtet war, gerade besonders hervorzuheben und zu bearbeiten, auch dieser partie honteuse meine Aufmerksamkeit widmen mußte, welche zu berühren ich auch keinen Anstand nahm, da selbige ebensogut zur Literatur gehört und vorzüglich als seit dem 15ten Jhdt. entstanden für die Sittengeschichte jener Zeit, vorzüglich Italiens, höchst wichtig ist, mein Buch ferner nur als Handbuch für Gelehrte zum Nachschlagen seyn soll und nicht für Schulknaben etc. bestimmt ist, […] und es bisher noch keinem Verständigen in den Sinn gekommen ist, die Priapeia aus den Geschichten der Römischen Literatur zu verweisen.14

Diese Verteidigung verweist auf das Spannungsverhältnis zwischen Sexus und Eros, das vermutlich weniger sein privates war als das der zeitgenössischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Verdrängungsmechanismen und Formen der doppelten Moral. Zu den festgefügten Vorstellungen der Zeit gehörte, daß die sogenannte libertinäre Literatur eine der Ursachen der Französischen Revolution gewesen sei, so daß die aktuellen politischen Spannungen mit dem erneuten Erscheinen einer vermeintlich freizügigen Literatur in Verbindung gebracht wurden. Selbst die reine Titelverzeichnung konnte Mißfallen erregen, so daß Bibliographien und Kataloge zu diesem Thema meist nur anonym oder pseudonym erscheinen konnten. In Graesses Urteilen im Handbuch wie im Lehrbuch über die Literatur mit erotischen Themen spiegeln sich die Vorbehalte der Gesellschaft und sein persönlicher Geschmack. Zwar lehnt er alle Erscheinungen einer freien und ungezwungenen Gefühlsäußerung mit Entschiedenheit ab, erkennt aber, wenn auch widerstrebend, die künstlerische Leistung an und bemüht sich um ein sprachlich differenzierendes Urteil. So heißt es über die Schriftsteller des Sturm und Drang: […] leider aber fehlte ihnen der ästhetische Sinn für das Moralisch-Edle und so kam es, daß sich in ihren Leistungen zwar das kraftgenialische Element, aber auch rohe Sinnlichkeit, Lust am Gemeinen und Unnatürlichen ausspricht.15

Über die Schauspiele von Jakob Michael Reinhold Lenz heißt es: Trotz ihrer schlüpfrigen, frivolen Stellen sind seine Stücke darum sogar von denen vergessen, die sich an dergleichen unsaubern Phantasieauswüchsen zu erfreuen pflegen16. 14 Graesse: Lehrbuch, Bd. 2, 3,2, S. IV. 15 Graesse: Handbuch, Bd. 3, S. 703. 16 Graesse: Handbuch, Bd. 3, S. 704.

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Im Urteil über die Romane Friedrich Maximilian Klingers läuft er zur Hochform auf: Nun folgt eine Reihe von Romanen, denen Schwung der Phantasie ebenso wenig abzusprechen ist, als man leugnen kann, daß seine Ideale a priori unmögliche, von dem Pinsel eines Höllenbreughel hingeworfene Phantasmagorien sind, in denen der alles mit der angelaufenen Brille des finstern Menschenhassers betrachtende Dichter, den Wieland treffend der Löwenblutsäufer genannt hat, das nutzlose Fatum darstellen wollte.17

Die publizistischen Debatten der dreißiger Jahre schlagen sich im Urteil über die zeitgenössischen Autoren, vor allem die des Jungen Deutschland, nieder. Graesses Haltung deckt sich mit den Positionen des konservativen Publizisten Wolfgang Menzel, für den er lobende Worte findet, doch bei allen Vorbehalten verkennt er nicht das schriftstellerische Talent der umstrittenen Autoren: Daß den sämmtlichen Choragen des jungen Deutschlands Genialität und vielseitiges Talent nicht abgesprochen werden darf, braucht nicht erst näher beleuchtet zu werden; allein Oberflächlichkeit geht ihnen leider auch nicht ab […]18

So hat nach Graesses Worten das „Junge Deutschland […] von der Romantik eigentlich nur die Sinnlichkeit mit überkommen.“19 Bei allen Vorbehalten kann er den Vertretern des Jungen Deutschland wie dem ausführlich zitierten Heinrich Heine oder Ludwig Börne, eine gewisse Anerkennung nicht versagen, wobei es Graesses mitunter überlange Sätze dem Leser nicht immer leicht machen, seinen Urteilen zu folgen. Gleichsam formelhaft übernimmt Graesse gängige Ausdrücke aus den zeitgenössischen Polemiken wie „Rehabilitation des Fleisches“ oder „Emancipation des Weibes“, Formulierungen, hinter denen er ebenso wie hinter Begriffen von einer „freien Kirche“ oder einem „freien Weib“ politische Forderungen auftauchen sieht. Von Heine heißt es: Der Rehabilitation des Fleisches hat er übrigens unter allen dieser Schule angehörigen Jüngern am Frechsten das Wort (in d. Romant. Schule) geredet.20

Über Gutzkows „abscheuliche Wally, worin er ziemlich schamlos seinen Atheismus und seine Fleischemancipationsideen zur Schau trug“, vermerkt er mit Genugtuung, daß sie verboten wurde, „obgleich der bessere Theil des lesenden Publicums sie auch ohnedieß nicht gelesen hätte.“21 17 Graesse: Handbuch, Bd. 3, S. 704–705. 18 Graesse: Handbuch, Bd. 3, S. 772. 19 Graesse: Handbuch, Bd. 3, S. 771. 20 Graesse: Handbuch, Bd. 3, S. 774. 21 Graesse: Handbuch, Bd. 3, S. 775. Gemeint ist Gutzkows Roman Wally die Zweiflerin.

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Die sprachgewaltigen, variantenreichen Wendungen und Charakterisierungen, in die Graesse seine Vorbehalte gegen diese Literatur kleidet, nähren allerdings die Vermutung, daß er selbst für sie sehr wohl empfänglich war. Wenn er bei Johann Jakob Wilhelm Heinses Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln hervorhebt, daß der Held „bereits im 17ten Jahre in die Schule von zwei Mädchen gekommen, mit denen er einige der schönsten Jahre verlebte“, dessen „wollüstig-melancholische Gluth“ betont, vom „wahrhaft rasenden Drange nach materiellem Sinnengenuß“ und von den „Lehren von der Emancipation des Fleisches“ spricht, dann dürften Neid und Bewunderung für die erotischen Abenteuer des Helden wohl nicht allzuweit entfernt gewesen sein. Daran mag auch seine pauschale Verdammung „wie denn fast die ganze Deutsche erotische Literatur unter aller Critik ist“ (S. 708) nichts zu ändern. Daß ihm die erotisch akzentuierte Literatur gefühlsmäßig näher gestanden hat als die biederen Werke der zeitgenössischen Schriftstellerinnen, dieser Gedanke kommt zumindest dem heutigen Leser, wenn es von ihnen heißt, daß sie, größtentheils von Goethe’s Wahlverwandtschaften veranlaßt, theils die Ehe mit ihren Freuden und Mängeln, theils die Entsagung, Ehelosigkeit und falsche Pruderie beleuchten und uns eine Menge Tanten, Stiftsdamen, Ehelosen, alte Jungfern etc., umgeben von Roués und Titelträgern, Offizieren, Hofräthen etc. vorführen.22

Auch wenn er die „bürgerlich hausbackene Moral“ der Romane der Henriette Wilhelmine Hanke (1785–1862) bemängelt, so verdienen sie nach seiner Meinung unsere wärmste Empfehlung […], wenn wir bedenken, wie ihr Hauptzweck dahin geht, zu zeigen, daß eine sinnige Häuslichkeit und ein frommes eheliches Leben der alleinige Beruf des Weibes sei, obwohl freilich eigentliches poetisches Talent bei ihr schmerzlich vermißt wird.23

Graesse spielt zwar die Bedeutung der erotisch orientierten Literatur herunter, doch die Bedeutung seiner Arbeit für das 15. und 16. Jahrhundert war im Ausland nicht unbemerkt geblieben. 1865, als mit der Bibliographie Jules Gays die bibliographische Verzeichnung der erotischen Literatur eine erste europäische Konjunktur erlebte, erschien in Brüssel ein Auszug aus Graesses Werk in französischer Übersetzung: Notice sur les écrivains érotiques du quinzième siècle et du commencement du seizième. Extrait de l’ouvrage >Histoire de la littératureKommenden< an den Donnerstag-Abenden im Nollendorf-Casino. Redigiert von A. N. Gotendorf, H. Lux, v. Méville, E. Rossius vom Rhyn, Rudolf Steiner, Franz Colmers. Berlin: Selbstverl. der >Kommenden< 1901.

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der Zeitschrift, deren Ende 1902 er allerdings auch nicht abwenden konnte. Gotendorf und seine Frau besaßen zu dieser Zeit bereits eine nicht unbedeutende Bibliothek, für die zwei befreundete Graphiker Exlibris schufen: Hermann Hirzel für „Hansi“ Gotendorf und Johann Bossard (1874–1950). Gotendorf unterstützte Bossard um 1902 mit den Aufträgen für Exlibris für seine Frau und für ihn selbst28.

Abb. 12: Johann Bossard Exlibris für Alfred N. Gotendorf.

28 http://www.bossard.de/bossard-84/kunstwerk-des-monats/kunstwerk-des-monats-leser/ johann-bossard-exlibris-alfred-gotendorf-1902.html

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In dieser Zeit entstanden einige eigene Publikationen Gotendorfs. In der Reihe Deutsche Dichter in Auswahl für’s Volk, die Jacobowski begründet hatte, erschien 1900 eine Auswahl aus den Schriften Lessings mit dessen Porträt und einer Einleitung. 1910 veröffentlichte er als Faksimile-Nachdruck Der Große Klunkermuz, eine Satire aus dem Jahre 1671. In diese Zeit fällt Gotendorfs Engagement in zwei Gesellschaften. 1903 wird er als Mitglied der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten geführt. Vermutlich durch einen Teilnehmer im Kreis der „Kommenden“, H. H. Houben, wurde Gotendorf Mitglied der Deutschen Bibliographischen Gesellschaft. Sie wurde nach dem Vorbild der 1892 in London gegründeten „Bibliographical Society“ 1902 in Berlin ins Leben gerufen und widmete sich der Erschließung von Quellen zur deutschen Literatur vor allem des 19. Jahrhunderts. Hier kam es vermutlich zum ersten Kontakt zwischen Gotendorf und Hayn. 1901 oder 1902 zog Gotendorf von Berlin nach Niederlößnitz. Der Ort ist heute ein Ortsteil von Radebeul und gehörte schon damals zu den beliebten Wohnorten vor den Toren Dresdens. Bekannt ist Radebeul als Wohnort Karl Mays. Gotendorf bewohnte dort mit seiner Frau eine stattliche Villa im Stil der Neorenaissance, die noch heute den Namen Haus Gotendorf trägt, ohne daß der Bezug auf den Namensgeber noch bekannt zu sein scheint. Nachdem die Zusammenarbeit der beiden Männer feste Formen angenommen hatte, zog Hayn vorübergehend in die Nähe Gotendorfs, nach Kötzschenbroda, heute ebenfalls ein Ortsteil Radebeuls. Als Gotendorf in finanzielle Schwierigkeiten geriet und er die Villa aufgeben mußte, kam seine mäzenatische Großzügigkeit wohl zu einem Ende.29 Er zog nach Dresden, wo er am 25. September 1914, kurz nach Ausbruch des ersten Weltkrieges und vor der geplanten Rückkehr in die USA, an den Folgen eines Schlaganfalls starb.30 Die Zeitschrift für Sexualwissenschaft würdigte ihn in einem Nachruf mit folgenden Worten: Wenn die Sexualwissenschaft in Alfred N. Gotendorf den Verlust eines der besten Kenner der älteren Erotik, insbesondere der fast unübersehbaren Curiosa-Literatur zu beklagen hat, so gedenken wir persönlich mit Wehmut des liebenswürdigen Mannes und des stets hilfsbereiten feinsinnigen Bibliophilen. Have pia anima!31

29 Gotendorf an Bossard 26. Oktober 1902; 25. Mai 1903. Kunststätte Bossard, Jesteburg, AJB 0155 30 Walther, Wer war Alfred N. Gotendorf? In: Aus dem Antiquariat. NF. 16(2018)4, S. 180–182. 31 Zeitschrift für Sexualwissenschaft 1(1914)8, S. 304

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Die antisemitischen Töne, die sich in manche der damaligen literarischen und künstlerischen Diskussionen mischten, wie auch die öffentlichen Ausfälle auf diesem Gebiet blieben Gotendorf nicht verborgen. Er gab vermutlich den Anstoß zu einer Veröffentlichung, deren Titel Hayn vielleicht unter den Kuriosa gesammelt hatte, die aber die Reaktion auf die damaligen antisemitischen Strömungen bedeutete. Die Übersicht der meist in Deutschland erschienenen Litteratur über die angeblich von Juden verübten Ritualmorde und Hostienfrevel (1906) führt nicht nur ältere, eher historisch interessante Werke auf, sondern auch die Titel, die vor und nach 1900 entstanden und der antisemitischen Propaganda, aber auch ihrer Widerlegung und Abwehr dienten.

Abb. 13: Hugo Hayn: Übersicht der (meist in Deutschland erschienenen) Literatur über die angeblich von Juden verübten Ritualmorde und Hostienfrevel. Titelblatt.

Gotendorf konnte den Münchner Verleger Georg Müller für die Veröffentlichung der umfangreichen Materialsammlung Hayns gewinnen. Er ergänzte sie um die Notizen in seinem Handexemplar der zweiten Auflage der Bibliotheca und die

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Titel aus seiner eigenen Bibliothek.32 Die Neuauflage lag noch vor Ausbruch des ersten Weltkrieges abgeschlossen vor. Für die Arbeit an den acht Bänden der Bibliotheca erhielten Hayn und Gotendorf insgesamt 3200 Mark. Der Wert dieser Summe verringerte sich zunehmend durch die schleppende Abwicklung des Druckes. So klagte Hayn in einem erneuten Bittbrief an Ottmann vom 6. März 1912: Meine Lebenslage hat sich nach vieljährigem Verbrauch meines Honorars für bibliogr. Arbeiten und durch halsstarriges Verzögern der ‚Bibl. erot.‘ seitens des Münchener Verlegers wieder derart verschlimmert, daß ich einer Katastrophe kaum entgehen kann. Von der ‚Bibl. erot.‘ ist der erste Band (A-C), über 700 S. stark, in schönem Druck erschienen. …Die c[om]plette Herstellung [wohl 6 Bde. im Ganzen] wird einige Jahre dauern, wenn mit den früheren großen Unterbrechungen weiter gewurstelt wird.

Hayns Lage verschlimmerte sich weiter durch den plötzlichen Tod Gotendorfs. Der Erste Weltkrieg und die folgende Inflation verhinderten die geplante Herausgabe von Nachträgen, an denen Hayn bis dahin unablässig weitergearbeitet hatte. In einem Brief an die Sächsische Landesbibliothek vom 17. Mai 1920 aus Kötzschenbroda bei Dresden bat er um die Entleihung von 13 Werken.33 Die Not, die Hayn in dieser Zeit litt, konnten Verleger und Freunde kaum lindern. Wenn er nach 1915 als seinen Wohnort Breslau angibt, so liegt die Vermutung nahe, daß er vorübergehend bei Angehörigen seiner weitverzweigten Familie Zuflucht gesucht hatte. Doch das war nicht das Ende seiner Not. 1920 erschien im ersten Heft der von Carl Georg Maassen herausgegebenen Zeitschrift Der grundgescheute Antiquarius folgende Anzeige: Wie uns Graf C. v. Klinckowstroem mitteilt, befindet sich der 77jährige Herausgeber der jedem Sammler so wichtigen Bibliotheca Germanorum Erotica Hugo Hayn in äußerster Not. Hilfe durch Geldunterstützung ist dringend erforderlich. Geldsendungen, auch in kleinen Beträgen, herzlich erbeten entweder an Horst Stobbe, Verlag, München, oder direkt an Herrn Hugo Hayn, Kötzschenbroda bei Dresden, Bahnhofs-Gasthaus.34

32 Franz Bayer, Karl Ludwig Leonhardt: Selten und Gesucht. Bibliographien und ausgewählte Nachschlagewerke zur erotischen Literatur. Stuttgart 1993. Nr. 26, Reproduktion einer Doppelseite mit den Anmerkungen Gotendorfs. Ein Nachtrag erschien unter dem Titel: Franz Bayer: Nachschlagewerke und Studien zur erotischen Literatur und Kunst. Eine annotierte Bibliographie. Norderstedt 2018. 33 Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Akten 609m, Bl. 381 a-c. 34 1(1920)1, S. 42. Hg. von Carl Georg Maassen im Verlag Horst Stobbe.

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Ein Zeitungsausschnitt, dem die Jahreszahl 1921 handschriftlich beigefügt ist, ist im Exemplar der Bibliotheca erotica et curiosa Monacensis der Staatsbibliothek Bamberg eingeklebt und klingt wie ein letzter Hilfeschrei: Hugo Hayn, der Verfasser der bekannten Bibliographie Bibliotheca Germanorum erotica et curiosa (8 Bände, 1912–1914), befindet sich in großer Not. Der 79jährige alte Herr sieht sich infolgedessen gezwungen, einen Teil seiner Sammlungen zu verkaufen. Er bietet seine bibliographischen Zettelkollektaneen von 1914 bis 1921 und Band 1 der obigen Bibliographie zum Verkauf an. Seine Adresse ist: Dresden-N., Heinrichstraße, Stadt Görlitz.

An einem Morgen des Januar 1923 fand man Hayn halbverhungert und völlig hilflos auf einer Bank im Großen Garten in Dresden. Er wurde in die Bezirks-Anstalt in Dresden-Leuben gebracht, die der Unterbringung und Versorgung schwerkranker und unbemittelter Pflegebedürftiger diente, wo er am 20. Januar 192335, kurz nach seinem 80. Geburtstag, verstarb. Der Münchner Simplicissimus widmete ihm einen bewegenden Nachruf: Der bekannte Bibliograph der deutschen erotischen Literatur, Hugo Hayn, ist achtzigjährig in Dresden – sagen wir es ohne jede Beschönigung – verhungert. Er hat zwar der Welt auf seine Art mit dazu geholfen, ihr Getriebe durch den einen Faktor, die Liebe, zu erhalten; aber sie – die Welt – hat sich nicht bemüßigt gesehen, ihn dafür vor dem anderen Faktor, dem Hunger, zu bewahren. Denn er war bloß ein Gelehrter. Die klügeren Skribenten, die seine Bibliographie nutzbringend zu verwerten verstanden, werden sich voraussichtlich für eine weniger prekäre Todesart entscheiden dürfen, von der Lebensart ganz zu schweigen.36

Der Zeitpunkt seines Todes ist symptomatisch für die Zäsur, die die Inflation mit ihrer Vernichtung bedeutender Vermögen und einer Verarmung der bürgerlichen Mittelschicht auch für die Bibliophilie in Deutschland bedeutete. Auch das war einer der Gründe, weswegen es, sieht man von dem Aufsatz von Paul Englisch ab, in keiner der zeitgenössischen bibliophilen, buch- oder bibliothekswissenschaftlich orientierten Zeitschriften eine Würdigung Hayns gab. Dennoch, die Zeiten hatten sich geändert. Literatur und Kunst waren von vielen einengenden juristischen, moralischen und ästhetischen Bestimmungen und Tabus befreit. Wer sich auf juristische Auseinandersetzungen und Verbotsforderungen einließ, stand in der Regel als Verlierer da. Die Eingriffe einer übereifrigen Justiz gaben die Angreifer nicht selten der Lächerlichkeit preis wie in der einer Meldung im Simplicissimus aus dem Jahre 1923 unter dem Titel „Der neue Zensor“: „In der königlich bayrischen Republik bedient sich der Zensor neuer-

35 Amtliche Todesanzeige bei ancestry.com. 36 Simplicissimus 27(1923) 47,S. 662

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dings des Zollaufsehers als Sachverständigen über erotische Literatur.“37 Aus einer Büchersendung nach Österreich wurden neben dem antiken Hirtenroman Daphnis und Chloe und Fragmenten des Petronius auch „das bekannte wissenschaftliche Nachschlagewerk Bibliotheca Germanorum erotica von Hayn-Gotendorf“ beschlagnahmt. Die Aufnahme des Hayn-Gotendorf war durchweg positiv, die Beanstandungen eher formaler Natur. Bemängelt wurde, daß bei unterschiedlichen Zuschreibungen der Verfasserschaft mitunter die notwendigen Verweisungen fehlten. Für manche Werke, die in Bibliotheken kaum noch zu finden oder ihm aus anderen Gründen nicht zugänglich waren, übernahm Hayn ungeprüft Urteile aus anderen Quellen.38 Hayns Veröffentlichungen erschienen in einer Zeit, in der sich nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen von August Forel, Sigmund Freud und anderen die Auffassungen über Sexus und Eros zu wandeln begannen. Ivan Blochs Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur (1907) band die erotischen Elemente in einen größeren Zusammenhang ein. Deshalb sind Hayns Urteile zu manchen Titel wie „Harmlos“, „Sehr frei“, „ekelhafte Schmiererei“, „üppiges Sotadikon“, „mehrfach anstößiger Ritterroman“, „Hauptunzuchtsmagazin“ der Nachhall früherer Zeiten und klingen selbst wie Kuriosa. Seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte der Mediziner Magnus Hirschfeld für ein neues Verständnis der Homosexualität geworben, doch Hayn blieb auch bei diesem Thema in den Vorurteilen der Zeit gefangen, wenn er über Oscar Wilde urteilt: „Wilde’s, Oskar, Werke, wurden nicht eingereiht, da Urningthum mit Venuskult unvereinbar ist.“ In dieser Formulierung vermischen sich moralische und ästhetische Urteile – es sei dahingestellt, ob nicht der eine oder andere Autor früherer Zeiten, den Hayn in seine Bibliographie aufgenommen hatte, ähnlichen Neigungen wie Wilde frönte. Mit der Veröffentlichung eines Nachtragsbandes verwirklichte Paul Englisch 1929 den bereits von Hayn gefaßten Plan, wobei er dessen Werk klug abwägende Worte widmete. In den Urteilen Hayns sah er dessen Gewissenskonflikt mit den eigenen strengen Moralauffassungen, so daß er daran Überlegungen knüpfte, die nicht nur für Hayn zu gelten haben: Wer wie Hayn ein ganzes langes Menschenleben hindurch fast ausschließlich mit der Bibliographie erotischer Schriften sich befaßt hat, von dem darf man wohl auch ein menschliches Interesse an dem freiwillig zur Bearbeitung gewählten Stoff voraussetzen, ganz abgesehen davon, daß Werturteile einem Bibliographen schlecht zu Gesicht stehen. Seine 37 Simplicissimus 25(1923), S. 622. 38 Ein Beispiel für immer wieder tradierte Fehlurteile ist Die hitzige Indianerin (1700) des siebenbürgisch-deutschen Autors Andreas Pinxner. Die Originalausgabe ist in deutschen Bibliotheken äußerst selten. Eine Neuausgabe wurde 1991 durch den Verfasser veranstaltet.

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Aufgabe erschöpft sich in der kühl sachlichen Aufnahme der einschlägigen Buchtitel, ohne für oder wider zu der moralischen Tendenz der genannten Schriften empfehlend oder abfällig sich zu äußern. Jede Stellungnahme geht m.E. über die ihm gesteckten Grenzen hinaus.39

Hinter Englischs Ausführungen steht nicht nur die unbeantwortete Frage, inwieweit Hayn für diese von ihm verzeichnete Literatur auch eine gewisse Sympathie empfand, sondern sie gelten auch für andere Bibliographen, die glauben, mit der Auswahl von Titeln oder subjektiven Urteilen den Leser in eine bestimmte Richtung lenken zu können. Hayns Bibliographien sind das Ergebnis einer rastlosen Auswertung aller erreichbaren Quellen sowie von Reisen zu Bibliotheken in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Großbritannien. In ihnen erfaßte er Titel aus Bereichen, die sich in älteren Katalogen und Bibliographien nicht selten in Rubriken wie Varia oder Miscellanea finden, die aber in Gebiete wie Medizin, Volkskunde, Schöne Literatur, Geschichte und damit zur Überlieferungskette des Fachgebietes gehören. Manche Themen dürften damals den Nachgeborenen „merkwürdig“, „kurios“ vorgekommen sein, allerdings weniger im ursprünglichen Sinne von „bemerkenswert“ auf Inhalt oder Ausstattung des betreffenden Werkes. Hayn verwendete den Begriff erstmals in seiner Bibliotheca erotica et curiosa Monacensis. Verzeichniss französischer, italienischer, spanischer, englischer, holländischer und neulateinischer Erotica und Curiosa, von welchen keine deutschen Uebersetzungen bekannt sind, die 1889 erschien. Die Verwendung des Begriffs scheint zeittypisch gewesen zu sein, denn er taucht zu dieser Zeit auch in den Titeln englischer und französischer Bibliographien auf. Zu nennen sind unter anderem Gustave Brunets Les fous littéraires. Essai bibliographique sur la littérature excentrique (1880) und dessen Curiosités théologiques (1884), der Catalogue d’une collection de livres curieux, facéties, érotiques […] provenant de la bibliothèque d’un amateur distingué m. S… de S. … (Dresden 1875), der Catalogue des livres rares et curieux sur l’amour, les femmes et le mariage, faisant partie du cabinet d’un bibliophile suédois (Stockholm 1883–1884), Henry Spencer Ashbees Index librorum prohibitorum: being notes bio- biblio- iconographical and critical, on curious and uncommon books (1877), dessen Centuria librorum absconditorum: being notes bio-biblio- iconographical and critical on curious and uncom39 Paul Englisch: Vorwort. In: Hayn-Gotendorf, Bd. 9. 1929, S. VI. Englisch mag dabei auch an solche Urteile gedacht haben, wie sie die Bearbeiter in Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung Bd. 9, S. 498 im Jahre 1910 über Carl von Holteis Don Juan (1834) fällten, ohne die neue Sicht des Autors auf den Titelhelden zu würdigen: „Don Juan […] das an sittenlosem Schmutz weit mehr aufgenommen hat, als eine grobe Auffassung der mit dem Namen des Titelhelden allenfalls verbundenen Vorstellungen rechtfertigen oder entschuldigen kann.“

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mon books (1879) und Catena librorum tacendorum: being notes bio- biblio-iconographical and critical, on curious and uncommon books (1885), die unter dem phantasievollen Pseudonym Pisanus Fraxi erschienen. Innerhalb dieses umfangreichen Komplexes des Kuriosen oder Merkwürdigen bildeten die sogenannten Erotika ein besonders beliebtes Sammelgebiet. Das Interesse daran zeigte sich nicht zuletzt in der großen Zahl von Katalogen und Bibliographien, die auf den Beständen meist privater Sammlungen beruhten. Die Sammler, die sich diesem Gebiet widmeten, trugen dazu bei, daß diese Literatur nicht völlig verloren ging. Die Wechselbeziehungen zwischen Hayns Arbeiten, den Neigungen und speziellen Kenntnissen der Sammler und wagemutigen, bibliophil orientierten Verlegern führten zur Wiederentdeckung älterer, vor allem „galanter“ Autoren, deren Kenntnis der Prüderie und den Vorurteilen früherer Jahrzehnte zum Opfer gefallen war. Auch jüngere Autoren, die mit den Vorurteilen der Zeit zu kämpfen hatten, erhielten Publikationsmöglichkeiten. Als Privatdrucke für einen kleinen Kreis von Beziehern gekennzeichnet, konnten sie ebenso wie die von Franz Blei herausgegebenen Zeitschriften Die Opale und Der Amethyst die Zensurbestimmungen umgehen. Auf diese Weise konnte auch die fast vergessene Ausgabe von Beccadellis Hermaphroditus, die der Coburger Bibliothekar Friedrich Carl Forberg 1824 besorgt hatte, 1907 im originalgetreuen Nachdruck mit beigefügter Übersetzung ins Deutsche erscheinen. Trotz dieser verdienstvollen publizistischen Bemühungen gilt und galt für viele Veröffentlichungen die werbewirksame Charakterisierung „Selten und Gesucht“, die Franz Bayer und Karl Ludwig Leonhardt für ihr Verzeichnis der Bibliographien und Nachschlagewerke auf dem Gebiet der erotischen Literatur verwendeten.40 Die Restriktionen aus moralischen Gründen, die der Benutzung in Bibliotheken vielfach im Wege standen, sind weitgehend gefallen: heute stehen die Bibliotheken eher vor den Problemen der physischen Erhaltung ihrer Bestände. Angesichts gestiegener Benutzerzahlen gilt es nicht so sehr, die Leser vor den Büchern als die Bücher vor den Lesern zu schützen. Die Verfügbarkeit vieler dieser Werke über das Internet macht Benutzungsbeschränkungen ohnehin hinfällig. Der „Hayn-Gotendorf“ erfreut in Inhalt und äußerer Gestaltung bis heute das Herz der Sammler, Antiquare und sachkundigen Bibliothekare, die Häufigkeit, mit der das Werk noch immer im In- und Ausland zitiert wird, zeugt von seiner anhaltenden Bedeutung. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch würdigte 2009 die Bibliotheca mit folgenden Worten:

40 Franz Bayer, Karl Ludwig Leonhardt: Selten und Gesucht. Bibliographien und ausgewählte Nachschlagewerke zur erotischen Literatur. Stuttgart 1993.

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Was Jules Gay (1807–1887) mit seiner Bibliographie des ouvrages relatifs à l’amour, aux femmes, aux mariage usw. für die Franzosen und Henry Spencer Ashbee (1834–1900) unter dem Pseudonym Pisanus Fraxi […] mit seinem Index librorum prohibitorum usw. für die Engländer zustande brachte, schenkte H[ayn] den Deutschen. Denn ohne seine Verzeichnisse fehlten beispielsweise den Sexual- und Kulturwissenschaftlern wichtige, nirgendwo erfaßte Daten – trotz L’Enfer der Bibliothèque Nationale, Private Case der British Library und Krenneriana der Bayerischen Staatsbibliothek, deren Betreiber in Angst und Schrecken vor dem ‚pornographischen Schund und Schmutz‘ agierten.41

41 Volkmar Sigusch, Günter Grau (Hg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt am Main 2009, S. 266–267.

Michael Holzmann – „Einer der großen Bibliographen der Welt“ „Ein Leben voll bitterster und traurigster Enttäuschungen, dem keine Stufe menschlichen Elends erspart geblieben ist, geht endlich zur Neige“1. Der Mann, der das am 9. März 1906, im Alter von 46 Jahren, im Vorwort zum Deutschen Pseudonymen-Lexikon schrieb und seinen Freunden „meine heitersten Scheidegrüße“ sandte, war der Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Wien, Michael Holzmann. Hin und wieder finden sich Klagen von Bibliographen über die Mühen ihrer Arbeit, doch ein solcher, sehr persönlicher Gefühlsausbruch ist ungewöhnlich und scheint eher in den melancholisch gefärbten Bereich der schönen Literatur der Zeit der Jahrhundertwende zu gehören. Diese düstere Aussage beruht nach Ansicht der Kenner Holzmanns auf seiner Veranlagung zu abgrundtiefem Pessimismus und Hypochondrie, von der ihn auch die Anerkennungen, die er für seine Publikationen erhielt, nicht abbringen konnten. Dabei hatte er gerade zusammen mit seinem Kollegen Hanns Bohatta zwei Nachschlagewerke veröffentlicht, die, nach ihren Verfassern zitiert, bereits bei Erscheinen hoch gelobt wurden und die bis heute zum Handwerkszeug eines Jeden gehören, der sich mit anonym oder pseudonym erschienenen Drucken des deutschen Sprachbereichs beschäftigt: Deutsches Anonymen-Lexikon 1501–1850. Aus den Quellen bearbeitet von Dr. Michael Holzmann und Dr. Hanns Bohatta. Bd. 1– 7. (Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1902–1927) und Deutsches Pseudonymen-Lexikon. Aus den Quellen bearbeitet von Dr. Michael Holzmann und Dr. Hanns Bohatta. (Wien: Akademischer Verlag 1906). Herkunft und Bildungsweg Michael Holzmanns zeugen wie bei zahlreichen seiner Zeitgenossen von der ethnischen, konfessionellen und kulturellen Verzahnung der einzelnen Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie, wie sie bis zum Ende des ersten Weltkrieges bestand. Holzmann wurde am 21. Juni 1860 im mährischen Slawathen (Slavetín) geboren, einem kleinen Ort nahe der Grenze zu Niederösterreich. Sein Vater war der Privatgelehrte mosaischen Glaubens, Moritz Holzmann2. Nach dem Besuch der Mittelschule in Waidhofen an der Thaya (Niederösterreich) legte er am 3. Juli 1877 am Staatsgymnasium in Iglau (Jíhlava) das Abitur ab. Er studierte Germanistik und Geschichte in Wien, von April bis Juni 1884 auch in Berlin3, und setzte seine Studien in Lemberg4 1 Michael Holzmann und Hanns Bohatta: Deutsches Pseudonymen-Lexikon, Wien 1906, S. IX. 2 Soweit nicht anders angegeben, folgen die biographischen Angaben der Mitteilung der Universitätsbibliothek Wien aus der Personalakte Holzmann an den Verfasser vom 19. November 1996. Außerdem Salomon Frankfurter: Michael Holzmann. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 49(1932), S. 146–148. https://doi.org/10.1515/9783110649369-008

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bei Richard Maria Werner fort, einem Schüler des Germanisten Wilhelm Scherer. Werner stammte aus dem mährischen Iglau und hatte 1883 den Ruf an die Universität Lemberg erhalten, wo er bis zu seiner Emeritierung wirkte. Lemberg war einer der geistigen und kulturellen Mittelpunkte Galiziens, die Universität die östlichste der k. u. k. Monarchie. Obwohl Polnisch in Vorlesungen und im Umgang mit den Behörden der Universität vorgeschrieben war, hielt Werner seine Vorlesungen auf Deutsch – seine Kenntnis des Tschechischen wurde offenbar als Äquivalent akzeptiert. Werner widmete sich in seinen Forschungen der deutschen Literatur der Goethezeit und des 19. Jahrhunderts. Wenn er über seine „nationale Einsamkeit“ in einer fremdsprachigen Umgebung klagte5, so war das die Eigenwahrnehmung und der Ausdruck einer gewissen Frustration darüber, daß er keine Berufung an eine deutsche oder deutschösterreichische Universität erhalten hatte. Allerdings wurde sein Wirken für eine Reihe von polnischen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern wichtig, und für die Germanistik der heutigen ukrainischen Universität Lviv ist er Teil ihrer Traditionen.6 Als Herausgeber einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Friedrich Hebbels machte sich Werner einen Namen. Holzmann wurde hier 1886 mit einer Arbeit über Ludwig Börne promoviert, die 1888 unter dem Titel Ludwig Börne. Sein Leben und Wirken, nach den Quellen dargestellt erschien. Holzmanns Dissertation fiel mit dem 100. Geburtstag Börnes zusammen, an den auch durch die Studien von Georg Brandes (Ludwig Börne und Heinrich Heine. Leipzig 1886) und Conrad Alberti (Ludwig Börne. Leipzig 1886) erinnert wurde. Börne war ein zu dieser Zeit vielgelesener Autor, dessen Werke auch im östlichen Mitteleuropa rezipiert wurden. 1884 erschien im Verlag von Max Bartels im entlegenen Rybnik in Oberschlesien eine zwölfbändige, mit Anmerkungen versehene Ausgabe der Gesammelten Schriften, einige Werke wurden in Lemberg auch ins Jiddische übersetzt. Die Beschäftigung mit diesem Autor mußte unweigerlich zur Beschäftigung mit der Publizistik des Vormärz und ihren Strategien führen, zu denen auch die Verschleierung der Urheberschaft gehörte. Holzmann erging es offensichtlich ähnlich wie anderen Litera3 Auskunft der Archivs der Humboldt-Universität Berlin vom 24. Januar 1997. 4 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird durchgehend die Ortsbezeichnung Lemberg für polnisch Lwów, ukrainisch Lviv verwendet. 5 Vgl. Herbert Zeman: August Sauer (1855–1926) – ein altösterreichischer Gelehrter in seinem persönlichen Umfeld. Mit bisher unveröffentlichten Briefen und Dokumenten. In: Christoph Fackelmann, Wynfrid Kriegleder (Hg.): Literatur – Geschichte – Österreich. Wien, Berlin 2011, S. 129–200, hier S. 144. 6 Bogdan Maksimčuk, Natalija Petraššuk, Volodimir Sulim: Zur Geschichte der Lwiwer Germanistik: Generationen und Traditionslinien. In: Visnik L’viviskogo universitetu. Serija istorićna 49(2013), S. 311–318.

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turwissenschaftlern und Historikern vor und nach ihm: diese Zeit blieb bis zu seinem Lebensende ein Thema, das ihn nicht mehr losließ und dessen Behandlung sich zunehmend mit den Wurzeln seiner eigenen Herkunft verband. Holzmann widmete die im Druck erschienene Dissertation seinem Doktorvater, mit dem er auch später freundschaftlich verbunden blieb. Im Vorwort zum Anonymenlexikon bezeichnet er ihn als „meinen altbewährten, väterlichen Freund“, der ihm während seiner Krankheit Mut zugesprochen und die Hand über ihn gehalten hat.

Abb. 14: Michael Holzmann, Hanns Bohatta: Deutsches Anonymen-Lexikon. Bd. 1. 1902.

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Nach der Promotion war Holzmann zunächst auf der Suche nach einer ihm zusagenden Anstellung, bevor er 1891 als Volontär, d.h. ohne Bezahlung, in die Universitätsbibliothek Wien eintrat. Holzmann gehörte hier zu dem umfangreichen Stab wissenschaftlicher Mitarbeiter, mit denen der damalige Direktor Ferdinand Grassauer die Neukatalogisierung und Neuaufstellung des gesamten Bestandes betrieb. Diese Reorganisation war Teil der am Ende des 19. Jahrhunderts an verschiedenen Bibliotheken des deutschen Sprachgebietes einsetzenden Modernisierungsbestrebungen, die in Deutschland mit Namen wie dem preußischen Universitätsreferenten Friedrich Althoff und dem Direktor der Universitätsbibliothek Halle, Otto Hartwig, verbunden sind. Diese umfangreichen Arbeiten stellten ein gewaltiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für einen oft hochqualifizierten akademischen Nachwuchs dar, der nach dem Studium nicht sofort eine Anstellung fand, die seiner Ausbildung entsprach. Nicht wenige, die zunächst als schlechtbezahlte akademische Hilfskräfte in einer Bibliothek begonnen hatten, wurden in späteren Jahren zu angesehenen Vertretern ihres Faches7. Bis zum heutigen Tage zehren manche Bibliotheken im Aufbau ihrer Sachkataloge oder der Erschließung von Sonderbeständen von den Spezialkenntnissen ihrer damaligen Mitarbeiter. Zu den Kollegen, die zu Holzmanns Zeit an der Universitätsbibliothek Wien tätig waren und die sich später einen über die Grenzen Österreichs hinausgehenden Namen machten, gehören der Historiker Heinrich Ritter von Srbik (1904–1912) und der Indogermanist und Keltist Julius Pokorny (1910–1915). Holzmann durchlief an der Bibliothek die mühsame, kärglich bezahlte, aber mit wohlklingenden Titeln verzierte bibliothekarische Laufbahn, die mit den Stationen Praktikant (1894), provisorischer und definitiver Amanuensis (1899), Scriptor ad personam (1907), etatmäßiger Skriptor (1908), Oberbibliothekar (1912) und schließlich Oberbibliothekar ad personam (1918) sowie dem allmählichen Vorrücken auf der Gehaltsskala gekennzeichnet ist. 1921 wurde ihm der Titel eines Regierungsrates verliehen. Über den kollegialen Kontakt hinausgehende Beziehungen entstanden zu dem vier Jahre jüngeren Hans Bohatta, einem gebürtigen Wiener, der nach dem Studium der klassischen Philologie 1890 ebenfalls in den Dienst der Universitätsbibliothek eingetreten war. Analog zu den in anderen Ländern entstehenden Adreßbüchern von Bibliotheken gaben Bohatta und Holzmann das Adressbuch der Bibliotheken der österreichisch-ungarischen Monarchie (1900) heraus. Zwischen 1906 und 1913 schuf Bohatta den Schlagwortkatalog der Universitätsbi7 Ein Beispiel unter vielen ist der dänische Sprachwissenschaftler Carl Verner. Karl Klaus Walther: Carl Verner als Bibliothekar in Halle. In: Aus Vergangenheit und Gegenwart der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle/Saale. Halle 1969, S. 13–20. (Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in Sachsen-Anhalt. 28.)

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bliothek, den ersten im deutschsprachigen Raum, um den sich seinerzeit zahlreiche Kontroversen entspannen. Im Unterschied zu Holzmann war Bohatta zeitlebens sehr publikationsfreudig. Mit den Namen Holzmanns und Bohattas bleibt deren Arbeit an den Anonymen- und Pseudonymenlexika verbunden. Die Entschlüsselung der Urheberschaft anonym oder pseudonym erschienener Werke war bis ins 18. Jahrhundert hinein eine Art Gesellschaftsspiel der literarisch gebildeten Welt, wie es die Kupfertitel zu Vincentius Placcius’ Theatrum anonymorum et pseudonymorum (1708) oder zu Peter Dahlmanns Schauplatz der masquirten und demasquirten Gelehrten bey ihren verdeckten und entdeckten Schriften (1710) nahelegen. Die intensive Beschäftigung mit den Zeugnissen der Vergangenheit und die wachsende Zahl neuerer Veröffentlichungen, deren Urheber sich aus unterschiedlichen Gründen nicht zu erkennen geben wollten, erforderte für die Entschlüsselung systematische Arbeit mit den Quellen. Die Fülle des Materials brachte es mit sich, daß die Anonymen- und Pseudonymenlexika, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu erscheinen begannen, sich auf die Veröffentlichungen im eigenen Lande beschränkten. Emil Weller machte 1886 einen letzten Versuch, in der 2. verbesserten und vermehrten Auflage seines Lexicon Pseudonymorum mit dem Untertitel „Wörterbuch der Pseudonymen aller Zeiten und Völker“ ein universelles Verzeichnis zu schaffen. Diesen Anspruch erfüllte er vor allem im Vorwort mit der Nennung der in fast allen europäischen Ländern erschienenen Verzeichnisse der Anonymen und Pseudonymen. Mit dem Dictionnaire des ouvrages anonymes von Antoine-Alexandre Barbier, das erstmals 1806–1808 erschien und 1872–1889 eine dritte Auflage erlebte, kommt auch auf diesem Gebiet Frankreich eine Vorreiterrolle zu. 1845–1860 erschien von J. M. Quérard Les supercheries littéraires dévoilées, das 1869–1879 in einer zweiten Auflage erschien. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden im Ausland weitere Pseudonymen- und Anonymenlexika, deren Erscheinungsdaten die Lücke für den deutschsprachigen Raum deutlich machen: Italien: 1848–1859. Gaetano Melzi: Dizionario di opere anonime e pseudonime di scrittori italiani. Niederlande: 1875. Jan Izaak van Doorninck: Bibliotheek van Nederlandsche Anonymen en Pseudonymen. Großbritannien: 1882–1888. Samuel Halkett and John Laing: A dictionary of the anonymous and pseudonymous literature of Great Britain.

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USA: 1885. William Cushing: Initials and pseudonyms. Norwegen: 1890. Hjalmar Pettersen: Anonymer og pseudonymer i den norske literatur.

Holzmann hatte nach eigenen Aussagen bereits Ende der achtziger Jahre begonnen, eine Sammlung deutscher Anonymen anzulegen, die im Laufe der Zeit bis auf 30000 Nummern angewachsen war. Die Katalogarbeiten an der Universitätsbibliothek Wien versorgten ihn mit weiterem Material8. In Bohatta fand Holzmann einen Kollegen, der ihm bei der Ordnung des Materials zur Seite stand und für die Publikation sorgte. Die Feststellung der Verfasserschaft anonym oder pseudonym erschienener Literatur ist kein Selbstzweck und geht über die Verbesserung von Bibliothekskatalogen weit hinaus. Mit der Entschlüsselung der phantasievollen Pseudonyme, die Grimmelshausen, Christian Reuter oder Johann Beer verwendeten, wurde die vergessene oder vernachlässigte Literatur einer ganzen Epoche wieder ins Gedächtnis gerufen, es wurden die ersten Schneisen in die „Terra incognita“ der Barockliteratur geschlagen und diesen Autoren ihr Platz in der literarischen Überlieferung zurückgegeben. Während Johann Georg Meusel in einem der Vorworte zu seinem Gelehrten Teutschland ausführlich begründete, warum er die wahre Urheberschaft zu enthüllen suchte und wann er die Maskierung der Autoren zu respektieren gedachte9, suchten Holzmann und Bohatta für ihre Veröffentlichung alle erreichbaren Informationen, also auch solche über noch lebende Autoren, zu sammeln. Eine solche Enttarnung konnten die Betroffenen in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in der Regel gelassen hinnehmen, denn sie bedeutete zumindest in Mittel- und Westeuropa nicht den Verlust von Leib und Leben, und selbst für den Verlust einer Anstellung oder das Verbot einer Veröffentlichung ließ sich ein Ausgleich finden. Unter den existenzbedrohenden Verhältnissen des 20. Jahrhunderts gehörte es jedoch für viele Autoren und Publizisten zur Überlebensstrategie, ihre wahre Identität zu verbergen. Wie stark ein solches Pseudonym sein konnte, zeigt das Beispiel des Schriftstellers B. Traven, das erst nach jahrzehntelanger philologischer und historischer Kleinarbeit enthüllt werden konnte. Umfassende Lexika der anonymen und pseudonymen Literatur des deutschen Sprachraumes konnten nur durch eine regionale und politische Grenzen 8 Vgl. Salomon Frankfurter: Michael Holzmann. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 49 (1932), S. 147. 9 Johann Georg Meusel: Vorerinnerungen vor der zweyten Abtheilung des fünften Nachtrages der vierten Ausgabe. In: Das gelehrte Teutschland. Bd. 12, Lemgo 1806, S. LXXXIV–XC.

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überspringende bibliothekarische Gemeinschaftsarbeit entstehen. Die größte Unterstützung des Unternehmens kam zunächst durch Kollegen österreichischer Bibliotheken, die Holzmann und Bohatta oft persönlich kannten. Unter den Kollegen deutscher Bibliotheken nennt Holzmann Eduard Ippel (Königliche Bibliothek Berlin), der neben seiner Tätigkeit am alphabetischen und Realkatalog u.a. mit der Ausarbeitung der Katalogisierungsregeln für die preußischen Bibliotheken befaßt war10, den Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Gustav Milchsack11 und Johannes Paalzow (Marburg), der damals noch am Anfang seiner bibliothekarischen Laufbahn stand12. Für den Nachtragsband, der vor allem den Zeitraum 1740–1792 erfaßt, konnte er die umfangreichen Sammlungen des Privatgelehrten Max von Portheim benutzen, der ein bedeutender Sammler und Kenner der österreichischen Geschichte zwischen 1740 und 1820 war. Außerdem fand er die Unterstützung des damaligen Herausgebers von Goedekes Grundriß zur deutschen Literatur, Alfred Rosenbaum13, der 1923 bereits 814 Ergänzungen und Korrekturen in der Zeitschrift für Bücherfreunde14 veröffentlicht hatte, die z.T. auf seinem Handexemplar von Kaysers BücherLexicon beruhten. Inkunabeln wurden nur in einer begrenzten Auswahl aufgenommen, da sie bereits durch spezielle Verzeichnisse erschlossen wurden. Die Anordnung des Titelmaterials folgte den Regeln, wie sie in den Bibliographien von Kayser und Heinsius, aber auch für die Wiener und Münchner Bibliotheken festgelegt waren. Der Umfang des Anonymenlexikons erfaßte den deutschen Sprachraum im weitesten Sinne und verzeichnete mit den Nachträgen 11978 Einträge. Zu den Fortschritten gegenüber früheren derartigen Lexika gehörte die durchgängige Angabe der Quellen, aus denen die Informationen stammten. Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren nur noch wenige Verlage bereit und willens, ein großes bibliographisches Nachschlagewerk zu verlegen, dessen schneller kommerzieller Erfolg fraglich war. Es bedurfte dazu eines Kreises von Förderern, Mäzenen und festen Subskribenten, die eine Veröffentlichung ermöglichten. Diese Entwicklung war bereits 1884 in einer Notiz des Zentralblatts für Bibliothekswesen über die Veröffentlichung des Pseudonymenlexikons von William Cushing abzulesen gewesen: „Charakteristisch für amerikanische 10 Karl Bader: Lexikon deutscher Bibliothekare. Leipzig 1925, S. 119–120. 11 Vorstand der Herzoglichen Bibliothek Wolfenbüttel, schrieb zur Literaturgeschichte und Buchkunst. Vgl. Bader, a. a. O., S. 168. 12 Habermann, Alexandra, Rainer Klemmt, Frauke Siefkes: Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925–1980. Frankfurt a. Main 1985, S. 242. 13 Alfred Rosenbaum 1861–1942 KZ Theresienstadt, lieferte Beiträge zum Anonymen-Lexikon in der „Zeitschrift für Bücherfreunde“ (1923), Verfasser der „Bibliographie der Zeitschriften, Bücher und Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte“. 14 Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 15(1923), S. 77–88; 112–128.

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Verlagsverhältnisse ist, daß kein Verleger für das Buch zu finden ist, ehe sich nicht 200 bis 300 feste Subscribenten darauf eingezeichnet haben“15. So ist die Veröffentlichung des Anonymen- wie des Pseudonymen-Lexikons nicht zuletzt der wirtschaftlichen Leistungskraft der zeitgenössischen Bibliophilie zu danken. Sie stützte sich auf eine Schicht von Sammlern, die dank eines ererbten oder anderweitig akkumulierten Kapitals, entsprechender Bildung und Interessen ihren Neigungen nachgehen konnte und für die das „Erhabene und Schöne“ mehr war als ein Objekt der Repräsentation oder der Geldanlage, sondern auch eine Sache des ästhetischen Erlebens. Sie schlossen sich in Gesellschaften zusammen, gaben eigene Zeitschriften heraus, betrieben die Edition seltener oder kostbarer Werke, traten als Mäzene und Förderer von Verlagen und Zeitschriften auf oder förderten lebende, noch wenig bekannte Autoren. Dem Beispiel organisierter bibliophiler Tätigkeit, wie sie sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich herausgebildet hatte, folgten auch die USA und Deutschland und trugen so zur Herausbildung eines internationalen Netzwerks bei. Dieser Konstellation ist es zu verdanken, daß die 1899 in Weimar gegründete Gesellschaft der Bibliophilen die Herausgabe und den Verlag des Anonymenlexikons übernahm. Bei ihrer Entscheidung stützte sie sich auf das Urteil angesehener Fachwissenschaftler und Bücherfreunde. Aus dem Herausgebergremium der angesehenen Zeitschrift für Bücherfreunde waren es der Archivar am Goethe-Schiller-Archiv Weimar, Carl Schüddekopf16, der Bibliograph Arthur L. Jellinek17 und der Leipziger Germanist Georg Witkowski18, der auch für alle sechs Bände die „mühsame Korrektur“ las.19 Die Entscheidung, dieses Werk als Veröffentlichung der Gesellschaft herauszubringen, bedeutete für die kleine Zahl der Mitglieder ein erhebliches finanzielles Opfer. Auch später, nach den wirtschaftlichen Folgen des ersten Weltkrieges und der Vernichtung zahlreicher privater Vermögen durch die Inflation, waren die Mitglieder bereit, für ihr „Hobby“ finanzielle Opfer zu bringen, um so das Erscheinen des 7. Bandes im Jahre 1928 zu ermöglichen. Der lange Atem für die Vollendung eines solchen 15 Zentralblatt für Bibliothekswesen 1(1884), S. 453. 16 1861–1917, u.a. Herausgeber zahlreicher Textausgaben zur klassischen deutschen Literatur, Mitarbeiter an der Weimarer Goethe-Ausgabe. 17 1851–1929, u.a. Hrsg. der „Internationalen Bibliographie der Kunstwissenschaft“, Mithrsg. der „Österreichischen Bibliographie“, der „Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur“ und der „Bibliographie der deutschen Rezensionen“. 18 1863–1939, Verfasser zahlreicher Abhandlungen zur klassischen deutschen Literatur, Herausgeber von Werken Lessings, Goethes, Schillers, Christian Reuters, Georg Büchners. Seine Erinnerungen erschienen unter dem Titel „Von Menschen und Büchern“ 2003 im Lehmstedt Verlag Leipzig. 19 Witkowski, Georg: Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933. Leipzig 2003, S. 238.

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Werkes spricht ebenso für die Autoren wie für die Mitglieder der Gesellschaft. Als Veröffentlichung der Gesellschaft der Bibliophilen wurden Anonymen- und Pseudonymen-Lexikon nicht im Buchhandel vertrieben, sondern sie erhielten nur die Mitglieder – der Name der Subskribenten wurde im Exlibris auf der Innenseite des Einbandes eingedruckt. Im Jahre 1902 war es soweit. Die Druckerei Breitkopf & Härtel in Leipzig vollendete am 29. März den Druck des ersten Bandes des Anonymen-Lexikons, der neben dem Vorwort und dem Verzeichnis der ausgewerteten Quellen die Buchstaben A–D umfaßte. Die buchkünstlerische Ausstattung ist von einer zurückhaltenden zeitlosen Eleganz und geht in seiner Gestaltung auf die Gesellschaft der Bibliophilen zurück, deren Signet die blauen Leinenbände auf dem Rücken und auf der Vorderseite des Einbandes tragen. Auch auf dem Schmutztitel findet sich eine Vignette mit den Initialen der Gesellschaft, dem Gründungsjahr und dem Motto Aut prodesse volunt delectare. Die Vignetten wurden, wie die Signatur Hzl zeigt, von Hermann Robert Catumby Hirzel (1864–1939) gestaltet20, dessen um die Jahrhundertwende geschaffene Gebrauchsgraphik, Reklameblätter, Notenumschläge, Kopfleisten, Schlußvignetten und Exlibris das Bild der dekorativen Kunst der Zeit prägte21. Die typographischen Schmuckelemente im Text stammen vermutlich von dem Schriftgestalter des Jugendstils, Otto Eckmann, die Schrift ist eine gängige Mediäval. Der Titel wurde in Rot und Schwarz gedruckt. In ähnlicher Aufmachung, allerdings ohne die Schmuckelemente, erschien 1928 der 7. Band, der für die Zeit 1501–1926 die Nachträge und Berichtigungen enthielt. Die begeisterte Besprechung des ersten Bandes des Anonymen-Lexikons im Zentralblatt für Bibliothekswesen mag für viele andere stehen: Wer das von denselben beiden Verfassern vor Kurzem herausgegebene ’Adreßbuch der Bibliotheken der österreichisch-ungarischen Monarchie’ (Wien 1900) kennt, der weiß auch ihre Arbeitsfreudigkeit und Ausdauer gebührend zu schätzen und wird von vornherein auch ihrem neuen Unternehmen volles Vertrauen entgegenbringen; wer es aber näher prüft, wird bereitwillig zugestehen, daß sie auch hier ein großes Stück ehrlicher Arbeit geleistet haben.22

Mit dem Blick auf bereits existierende ausländische Verzeichnisse dieser Art wurde das „nützliche Unternehmen“ als „ganz besonders patriotisch“ bezeichnet. Das Urteil über die inhaltliche Seite zeugt dagegen von den fortdauernden

20 Vgl. Franz Goldstein: Monogramm-Lexikon. Berlin 1964. 21 Vgl. Walter von zur Westen: Zur Kunstgeschichte des Notentitels und der Dekoration musikalischer Druckwerke. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 12(1908/09), S. 151. 22 Arthur Goldmann in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 20(1903), S. 75.

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Vorurteilen gegenüber der literarischen Produktion früherer Epochen, die sich nicht am Kanon der Klassik messen lassen konnte: […] wer aber in die deutsche anonyme Literatur tiefer einzudringen versuchte, überzeugte sich bald, daß die Beschäftigung mit ihr nicht weniger Entsagung, als Geduld erheischt, da unsere hervorragendsten Schriftsteller verhältnismäßig seltener mit geschlossenem Visier vor die Leser traten, als dies anderwärts geschah. Infolgedessen hat der Sammler der deutschen Anonyma auch nur selten mit wirklich wertvollen Geistesprodukten, um so häufiger aber mit mittelmäßigen, gleichgiltigen, ja ganz inferioren Preßerzeugnissen zu thun, die seine Arbeit unendlich erschweren und nur einen Ballast darstellen, von dem er sich nicht befreien kann, da der gewissenhafte Bibliograph ohne Rücksicht auf den inneren Wert oder Unwert registrieren muß, was dem Wesen nach in sein Arbeitsgebiet gehört (S. 74).

Doch gerade die Tatsache, daß Holzmann und Bohatta keinen erreichbaren Titel aussparten, also keine wie immer geartete subjektive Bewertung und Auswahl vornahmen, hat ihr Werk für die in der Folgezeit einsetzende Neubewertung des Kleinschrifttums und den Kanon der literarischen Überlieferung zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel gemacht. Der Bibliothekar Paul Trommsdorff steuerte im Jahre 1906 in der Zeitschrift für Bücherfreunde mehrere Hundert Ergänzungen und Nachträge allein zum Buchstaben A bei, die er aus der Arbeit am gerade beginnenden Gesamtkatalog der preußischen Bibliotheken kannte. Seine Ergänzungen betrachtete er als eine Dankespflicht: Bei den großen Diensten, die das deutsche Anonymenlexikon dem Gesamtkatalog beständig leistet, ist es für die Geschäftsstelle des Gesamtkataloges eine Pflicht der Dankbarkeit, ihrerseits zur Verbesserung des Lexikons beizusteuern, was sie vermag.23

Zugleich kommt von ihm der wohl gewichtigste Einwand unter den zeitgenössischen Urteilen, indem er auf die Angaben hinweist, die aus handschriftlichen Bibliothekskatalogen, Eintragungen in Büchern oder auf dem Rückentitel älterer Einbände oder in Sammelbänden zu gewinnen sind – so interessant der Gedanke ist, er wäre mit den damaligen Möglichkeiten nicht zu verwirklichen gewesen. Parallel zum Anonymen-Lexikon und in ähnlicher Ausstattung erschien 1906 das Deutsche Pseudonymen-Lexikon im Akademischen Verlag Wien und Leipzig, gedruckt bei J. Hans Posl in Leoben. Wie aus der Vignette auf der Innenseite des Einbandes hervorgeht, handelte es sich um eine Auflage von 700 handschriftlich numerierten Exemplaren. Die unsignierte Vignette auf dem Ein23 Paul Trommsdorff: Berichtigungen und Nachträge zum Deutschen Anonymen-Lexikon. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 10(1906), Beibl. 2, S. 6.

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band zeigt einen Jüngling mit Schwert und Buch vor einem Tempel mit der Inschrift Ad Astra sitzend. Der künstlerische Stil und die Wiederholung dieser Vignette auf dem Schmutztitel in verkleinerter Form deuten darauf hin, daß es sich wahrscheinlich um ein fertiges, serienmäßig hergestelltes typographisches Schmuckelement handelte, das weniger dem Jugendstil als der vorhergehenden Periode verbunden war. Wenn man nostalgisch der früheren Leistungskraft bibliophiler Vereinigungen gedenkt, so sollte man nicht übersehen, daß in der Zeitschrift für Bücherfreunde kein Nachruf auf Holzmann erschien. Er erfuhr hier letztlich die gleiche stiefmütterliche Behandlung wie sein Zeitgenosse Hugo Hayn, dem erst Jahrzehnte nach seinem Tode eine eingehendere Würdigung zuteil wurde. Die Folgen des ersten Weltkrieges, die Inflation und die Weltwirtschaftskrise vernichteten zahlreiche Vermögen und führten zur Auflösung bedeutender Sammlungen. Die schwierige wirtschaftliche Lage Österreichs nach dem ersten Weltkrieg brachte einen allgemeinen Stellenabbau mit sich, so daß Holzmann und Bohatta in den Ruhestand versetzt wurden, dekoriert mit dem inflationär verwendeten Titel Hofrat – ein Titel ohne Mittel. Bohatta widmete sich in der Folgezeit buchkundlichen Studien. Seine vorwiegend bibliographischen Veröffentlichungen befaßten sich mit Stundenbüchern und liturgischen Drucken. Aus seiner Lehrtätigkeit im Fach Buchkunde an der Universität Wien entstand die Einführung in die Buchkunde (1927). Im Nebenamt war Bohatta bis zu seinem Tode 1947 Bibliothekar der Fürstlich Liechtensteinschen Bibliothek in Wien, deren Katalog er 1931 herausgab, außerdem Berater des renommierten Buch- und Kunstantiquariats Gilhofer und Ranschburg in Wien. Als Ergebnis der Zusammenarbeit mit Franz Hodes und Wilhelm Funke erschien 1950 seine 1939 begonnene, durch die Kriegsjahre unterbrochene Internationale Bibliographie der Bibliographien. Mit diesen Tätigkeiten war sein Ruhestand finanziell vermutlich besser abgesichert als der seines Kollegen Holzmann.24 Am 9. Juli 1916, also im Alter von 56 Jahren, hatte Holzmann seine Kusine Charlotte Planer geheiratet, der es wohl zu danken ist, daß er die entbehrungsreiche Kriegs- und Nachkriegszeit leidlich überstand und trotz seiner hypochondrischen Veranlagung auch nach der Pensionierung seinen wissenschaftlichen Arbeiten nachgehen konnte. Bereits 1904 erschien als Ergebnis seiner früheren Studien in der Reihe Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts ein Band unter dem Titel Aus dem Lager der Goethe-Gegner, den er als Ergänzung zur Goethe-Literatur der Zeit gedacht hatte. Er enthielt neben Äußerungen Franz von Spauns, Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchens, Christian Dietrich Grabbes, Wolfgang Menzels und Joseph Görres’ auch Auszüge aus Bör24 Eugen Paunel: Hanns Bohatta †. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 62(1948)1/2, S. 1–4.

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nes Schriften über Goethe. Aus dem Besitz des damaligen Verwalters des Nachlasses Börnes, Gottlieb Schnapper-Arndt, wurden Briefe des Schriftstellers Heinrich Laube und Jeannette Wohls, der Freundin Börnes, an Börne veröffentlicht. 1926 erschien unter dem Titel Prärie und Urwald eine Auswahl aus den Werken des ebenfalls aus Mähren stammenden Karl Anton Postl (1793–1864), dessen unter dem Pseudonym Charles Sealsfield erschienene Reisebücher und Abenteuerromane sich erneut großer Beliebtheit erfreuten. Postum, 1931, erschien der anastatische Nachdruck des satyrisch-literarischen Taschenbuches für 1848, X. Y. Z., mit einer Lebensbeschreibung Otto Bernhard Friedmanns, des Herausgebers des Originals. Ein weiteres Arbeitsfeld Holzmanns wurde die Beschäftigung mit der Geschichte der Juden in Österreich und in seiner Heimat, der neu entstandenen Tschechoslowakei. Er war an den Arbeiten der Historischen Kommission der Wiener jüdischen Gemeinde beteiligt und lieferte zahlreiche Artikel zu Salomon Winingers Großer jüdischer National-Biographie25. Außerdem war er einer der Redakteure des Sammelbandes Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart (Brünn 1929) und Mitbegründer der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in der Tschechoslowakei. Gemeinsam mit Max von Portheim, mit dem er bereits am Nachtragsband des Anonymen-Lexikons zusammengearbeitet hatte, veröffentlichte Holzmann 1930 Materialien zu einer Bibliographie über europäische Juden26. Im gleichen Jahre erschienen, ebenfalls als Gemeinschaftswerk, Materialien zu einer Sonnenfels-Biographie in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in der Tschechoslowakei27. Diese Veröffentlichungen trugen zur Bewahrung des jüdischen Erbes bei, das in der Folgezeit den Vernichtungszügen der österreichischen und deutschen Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Holzmann starb am 20. Oktober 1930 an den Folgen eines Schlaganfalles in Wien, wo er zeitlebens in der Alserbachstraße 2, im angesehenen IX. Bezirk, gewohnt hatte. Er wurde in der jüdischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs beigesetzt. Die Inschrift des Grabsteins nennt ihn „Einer der großen Bibliographen der Welt“. Seine Witwe verwahrte die Bibliothek und den handschriftlichen Nachlaß ihres Mannes, darunter Briefwechsel mit namhaften Berufskollegen, Schriftstellern und Gelehrten. Bevor sie am 20. Juni 1942 nach Theresienstadt und von dort weiter in das Todeslager Treblinka deportiert wurde, übergab sie alles einer Vertrauten, in deren Garage die Hinterlassenschaft den 25 Das Jahrbuch der Wiener Gesellschaft. Hg. von Franz Planer. Wien 1929. 26 Jüdisches Archiv 2(1930), S. 65–68. 27 Zeitschrift für die Geschichte der Juden in der Tschechoslowakei 1(1930/31), S. 198–207; 2 (1931), S. 60–66.

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Krieg überdauerte. Wie es scheint, hat keiner von Holzmanns Kollegen sich um die Witwe oder die Bewahrung dieser Hinterlassenschaft gekümmert, die nach dem Kriege in die Bibliothek der Stadt Wien gelangte. Dort galt sie zunächst als „herrenloses Gut“, bevor sie in den Bestand eingearbeitet wurde. Im Rahmen der Restitutionsverfahren der jüngsten Zeit erfolgte eine eingehende Darstellung des Vorgangs und eine Auflistung der übernommenen Bestände. 28

Abb. 15: Michael Holzmann: Grabstein auf dem Zentralfriedhof Wien. 28 http://www.artrestitution.at/druckansicht/items/631.html. Außerdem: Sechster Bericht des amtsführenden Stadtrates für Kultur und Wissenschaft über die gemäß dem Gemeinderatsbeschluß vom 29. April 1999 erfolgte Übereignung von Kunst- und Kulturgegenständen aus den Sammlungen der Museen der Stadt Wien sowie der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. 2005. https://www.wienbibliothek.at/sites/default/files/files/wien-restitutionsbericht-2005.pdf.

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Das Schicksal der Witwe Holzmanns und seines Nachlasses sind symptomatisch für die Ausgrenzung, Vertreibung oder Ermordung jüdischer Wissenschaftler, Sammler und Bibliophilen nach 1933. Ihr Engagement, Sachverstand und Mäzenatentum hatten in den vorhergehenden Jahrzehnten viele Aktivitäten überhaupt erst möglich gemacht; zugleich kamen aus ihrem Kreis auch Ergänzungen und sachkundige Rezensionen der beiden Lexika. Zu nennen sind hier Georg Witkowski, der Leipziger Ordinarius, der hochbetagt am 21. September 1939 im holländischen Exil starb. Alfred Rosenbaum, der unermüdliche Herausgeber des Goedeke, kam ebenso im KZ um wie die Verfasser der ersten Besprechungen der Lexika, Arthur Goldstein und Max Harrwitz29, und der Verfasser des Nachrufs auf Holzmann, Salomon Frankfurter. Seit dem Erscheinen des ersten Bandes des Anonymenlexikons hat die Forschung weitere Anonyme und Pseudonyme entschlüsselt oder Zuschreibungen korrigiert, manche Autoren sind durch diese und spätere Forschungen überhaupt erst in ihrem ganzen Profil deutlich geworden. Diese neuen Erkenntnisse schmälern nicht die Bedeutung des Werkes, das durch einen Nachdruck vor einigen Jahren eine erneute Anerkennung fand. Es bleibt ein Desiderat, die Erkenntnisse der zurückliegenden Jahrzehnte auf diesem Gebiet zusammenzuführen. Dazu käme das reiche Material aus dem Kreis der Autoren des deutschen Sprachraumes, die zwischen 1933 und 1989 in die Emigration oder in den Untergrund getrieben wurden und deren Veröffentlichungen nur unter Pseudonym oder anonym erscheinen konnten. Auch heute noch gilt für das Werk Holzmanns und Bohattas das Lob, das Alfred Rosenbaum 1923 in der Zeitschrift für Bücherfreunde dem Unternehmen zollte: […] denn das A. L. [Anonymenlexikon] ist trotz aller Mängel ein wahres Hauptwerk, das man sich gar nicht mehr aus dem übrigen bibliographischen Rüstzeug hinwegdenken kann, ohne mit leisem Grauen sich jener Zeit zu erinnern, da man mühselig und auf Umwegen das suchen mußte, was einem jetzt so bequem dargeboten wird.

29 Harrwitz, Max: Unser Deutsches Anonymen-Lexikon. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 12 (1908/09), S. 209–211.

Nil desperandum – die Bibliografia Polska als Teil der nationalen Selbstfindung und Werk der Familie Estreicher Als Karol Estreicher 1870 die Einleitung zum ersten Bande der Bibliografia Polska mit den Worten „Nil desperandum“ – „Nicht verzweifeln“ beendete, war es zunächst ein Seufzer der Erleichterung über das Geleistete, doch zugleich auch eine Ahnung von dem, was noch zu leisten blieb. Mochte es auch sein Wunsch gewesen sein, daß sein Sohn das begonnene Werk fortsetzen würde, so dürfte es doch kaum vorstellbar gewesen sein, unter welchen Umständen Sohn und Enkel die Arbeit weiterführen würden. Auch deshalb stellt die enge, über drei Generationen währende Bindung an ein großes bibliographisches Unternehmen eine Ausnahme in der Geschichte der Bibliographien dar. Die Familie Estreicher gehörte zur geistigen und kulturellen Elite Polens, die ebenso wie das Gros ihrer Landsleute von den Verlusterfahrungen geprägt wurde, die das Land im Laufe seiner Geschichte an Territorium, Menschen und Kulturgütern erlitten hatte. Daraus erwuchs für die Estreicher nicht die Klage um Vergangenes und Verlorenes, sondern der Blick zurück auf frühere Leistungen verlieh ihrem Kampf um die Bewahrung der kulturellen Identität neue Impulse. Vorfahren der Familie Estreicher sind bis ins 17. Jahrhundert in Iglau (Jíhlava) in Mähren nachweisbar.1 Iglau war bis ins 20. Jahrhundert hinein ein wichtiges geistig-kulturelles Zentrum Mährens, das bis zum Ende des zweiten Weltkrieges von der dort ansässigen deutschsprachigen Bevölkerung geprägt wurde. Ein Dominik Oesterreicher d. Ä. (1721–1790) war dort als Maler von Altarbildern tätig gewesen. Dessen Neffe Dominik Oesterreicher (1750–1809), Sohn des Iglauer Arztes Josef Oesterreicher, wanderte nach einem längeren Studienaufenthalt in Rom 1778 als Maler nach Warschau aus. Am polnischen Hof schuf er Porträts der Familie des polnischen Königs Stanislaus Joseph Poniatowski und anderer polnischer Adliger und änderte seinen Namen in Estreicher. Seit 1781 war er Professor für Malerei an der Universität Krakau2. Sein Sohn Aloys (1786–1852) machte sich einen Namen als Naturforscher und wurde Professor der Botanik an der Universität Krakau. Als Rektor der Universität unterstützte er während des polnischen Aufstandes 1831–1833 die 1 Dariusz Matelski: Karol Estreicher Jr. 1906–1984. Biografia wielkogo polaka. T. 1 do roku 1939. Kraków 2016, S. 369. Karol Estreichers Dziennik wypadków. T. 1.–7. Kraków 2001–2013. und die Biographie von Dariusz Matelski: Karol Estreicher Jr. 1906–1984. Biografia wielkogo polaka. T. 1.2. do roku 1939. Kraków 2016–2017 bilden die Quelle für die biographischen Details. 2 Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Bd. 25. 1931, S. 346. https://doi.org/10.1515/9783110649369-009

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Kämpfer gegen die russische Teilungsmacht und half ihnen vermutlich auch bei der Flucht ins westliche Ausland. 1818 heiratete er Antonina Rozbierska, die Tochter eines Professors der Universität Lemberg. Aus der Ehe gingen 7 Kinder hervor, die die weitverzweigte Familie Estreicher begründeten. Ihre Angehörigen waren oft musisch veranlagt und wurden prägende Teile der polnischen, besonders der Krakauer, kulturellen und wissenschaftlichen Elite. Der Sohn Karol Józef Teofil wurde am 22. November 1827 in Krakau geboren. Er studierte Jura in Krakau, hörte aber auch Vorlesungen bei Michał Wiszniewski, dem Verfasser der umfangreichen Historia literatury polskiej (1840–1857). Józef Muczkowski, Professor für Bibliographie und Diplomatik und Direktor der Jagiellonischen Bibliothek Krakaus, führte ihn in die bibliographische und bibliothekarische Theorie und Praxis ein. Schon als junger Mann, seit Februar 1848, begann Estreicher mit der Sammlung bibliographischen Materials, um den Reichtum der polnischen Kultur in Vergangenheit und Gegenwart zu dokumentieren, ohne dabei, wie es sein Enkel formulierte, in patriotische Sentimentalität oder nationale Vorurteile zu verfallen.3 Nach Abschluß seiner Studien ging Estreicher 1855 zunächst als Gerichtsassessor und Untersuchungsrichter nach Lemberg. Die kulturelle Entwicklung der Stadt wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem Bestreben der österreichischen Teilungsmacht geprägt, eine Aussöhnung mit dem polnischen Bevölkerungsteil zu erreichen. Dazu gehörten die Wiedereröffnung der Universität 1817, die Einrichtung eines Lehrstuhls für polnische Sprache und Literatur im Jahre 1826 und 1827 die Eröffnung des Ossolineum, einer bis in die Gegenwart bestehenden Stiftung für Wissenschaft und Kultur der polnischen Magnatenfamilie Ossoliński. Aus den engen Kontakten Estreichers zum literarischen und intellektuellen Leben der Stadt entstanden ein Abriß des Lebens von Adam Mickiewicz sowie eine Reihe bibliographischer und literarischer Studien, die er zunächst in den örtlichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte. Diese Neigungen schienen seinen Vorgesetzten mit dem Ernst des Juristenlebens nicht vereinbar, so daß er wiederholt deren Schikanen ausgesetzt war. In dieser Zeit entstand auch die erste Fassung des Manuskripts der Bibliographie, die sein Enkel 1945 wiederentdeckte. Dank seiner zahlreichen Veröffentlichungen wurde Estreicher 1862 stellvertretender Direktor der Universitätsbibliothek Warschau und erhielt zugleich den Ruf auf den neugegründeten Lehrstuhl für Bibliographie an der Universität. Die Berufung verzögerte sich allerdings durch den polnischen Aufstand von 1863/64 gegen die russische Teilungsmacht, so daß Estreicher seine Antrittsvorlesung erst am 22. März 1865 halten konnte. In seiner Dissertation aus dem Jahre 3 Karol Estreicher: Résumé de la préface. In : Bibliographie polonaise du XIXéme siècle. 2. éd. Cracovie 1959, S. LX.

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1867 über den ersten polnischen Drucker widerlegte Estreicher die bis dahin gängige Meinung, daß Günter Zainer aus Augsburg der erste Drucker Polens gewesen sei4.

Abb. 16: Karol Estreicher d. Ä. Foto von Ignacy Krieger nach 1864.

Die Antrittsvorlesung und die drei Vorlesungen über Bibliographie im Jahre 18665 stehen im Schatten des gescheiterten Aufstandes. Der Blick Estreichers auf die Entwicklungen im Ausland ist die Antwort auf die Bestrebungen Rußlands, seine Dominanz auf allen Gebieten zu festigen. Im Zuge der umfangreichen Repressionsmaßnahmen der russischen Teilungsmacht nach dem gescheiterten Aufstand wurde das Russische als Amtssprache sowie als Unterrichts4 Karol Estreicher: Günter Zainer i Świętopełk Fiol. Warszawa 1867. 5 Karol Estreicher: O bibliografii. Warszawa 1965. Ders.: O bibliografii. Trzy lekcii wygłoszone 6, 13 i 16 listopada 1866 roku w szkole głównej w Warszawie. Warszawa 1978.

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sprache in Mittel- und Hochschulen eingeführt, polnische Behörden durch russische ersetzt und die russisch-orthodoxe Kirche im Kampf gegen die katholische polnische Geistlichkeit gefördert. Die Universität Warschau wurde rein russischsprachig und daher von den meisten Polen boykottiert.6 Die russische Haltung wurde Estreicher durch den Regierungsrat Teodor Witte, den Kurator der wissenschaftlichen Anstalten in Kongreßpolen, 1868 mit den folgenden Worten deutlich gemacht: Ihr Polen habet keine Sprache, nur ein Idiom, ihr habet keine Literatur, ihr müsset euch einmal diesen Provinzialismus aus dem Sinne schlagen und euch in die grosse russische Literatur einverleiben.7

Unter diesen Voraussetzungen konnte Estreicher weder in Warschau bleiben noch an der geplanten Bibliografia Polska arbeiten, so daß er nach Krakau zurückkehrte. Österreich bemühte sich nach der Niederlage Rußlands im Krimkrieg und der Niederschlagung des polnischen Aufstandes um die friedliche Entwicklung seiner östlichen Provinzen. Erkennbares Zeugnis sind bis zum heutigen Tage die öffentlichen Bauten wie Bahnhöfe, Rathäuser, Theater, Schulen, die sich im ehemaligen Galizien und in einigen der heutigen Staaten Südosteuropas finden. Damit bildete die österreichische Politik ein Gegengewicht zu den panslawischen Ideen, die vom zaristischen Rußland propagiert wurden, aber letztlich nur dazu dienten, seinen Einfluß in Osteuropa auszudehnen. Rußland unterstützte die Bestrebungen der slawischen Völker unter osmanischer, österreichischer oder preußischer Herrschaft nach politischer oder kultureller Eigenständigkeit, ohne aber den nichtrussischen nationalen Minderheiten innerhalb des russischen Reiches vergleichbare Rechte zu gewähren. Krakau profitierte vom Autonomiestatus Galiziens8, der die Stadt mit ihrer Universität zu einem intellektuellen Zentrum machte, von dem aus die Bestrebungen um die kulturelle Eigenständigkeit Polens gefördert wurden. 1872 wurde die seit 1815 existierende Krakauer Wissenschaftliche Gesellschaft (Towarzystwo Naukowe Krakowskie) in die Akademia Umiejętności (Akademie der Gelehrsamkeit) umgewandelt, die in den folgenden Jahrzehnten die Grundlage für die intensive Beschäftigung mit der polnischen Vergangenheit bildete. Ihre Quelleneditionen, Überblicksdarstellungen und Nachschlagewerke verschafften ihr ein über 6 Dazu auch Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerstaat. Entstehung, Geschichte, Zerfall. München 1992. 7 Karol Estreicher: Polnische Bibliographie des XIX. Jahrhunderts. Bd. 5. Krakau 1880, Vorwort. Die einzelnen Bände erschienen mit unterschiedlichen Titelfassungen. 8 Jörg K. Hoensch: Geschichte Polens. 2. neubearb. u. erw. Aufl. Stuttgart 1990. Bogumiła Kosman: Die Rolle der Bibliotheken im Prozeß der Nationalintegration polnischer Territorien in der Zeit der Teilungen (1795–1918). In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 22(1997)2, S. 135.

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Polen hinausgehendes hohes Ansehen und finden ihre Entsprechungen in zeitgenössischen Vorhaben anderer europäischer Länder.

Abb. 17: Karol Estreicher: Bibliografia Polska. 1875.

Estreicher fand in Krakau günstige Voraussetzungen für seine Pläne und nahm 1868 den Posten des Direktors der Jagiellonischen Bibliothek Krakau an, die bis heute die bedeutendste wissenschaftliche Bibliothek Krakaus im Range einer Nationalbibliothek ist. Während seiner 36jährigen Amtszeit erfuhr die Bibliothek einen Modernisierungsschub, der mit dem vergleichbar ist, den auch andere europäische Bibliotheken zu dieser Zeit erfuhren. Die Liberalisierung der Benutzung führte zu einer steigenden Zahl von Lesern, die Polonica-Sammlung

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wurde zielgerichtet erweitert. Estreichers musische Neigungen lebten fort im engen Kontakt zum Krakauer Theater und einer Reihe theaterwissenschaftlicher Veröffentlichungen, z.B. über Shakespeare in Polen. Auf seine Veranlassung wurden die sterblichen Überreste des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz 1890 von Paris in den Wawel überführt. Estreicher wurde Vorsitzender der bibliographischen Kommission der Akademie, unter deren Patronat die Bibliographie zu erscheinen begann. Der österreichische Kaiser Franz Joseph I., der zugleich Großherzog von Krakau war, erhob Estreicher 1881 in Anerkennung seiner Tätigkeit als Karl Estreicher Ritter von Rozbierski in den Adelsstand – sein Sohn führte den Adelstitel bis zum Ende der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Nach der Emeritierung 1905 erhielt Estreicher außerdem den inflationär verliehenen Titel eines österreichischen Hofrats. Er starb am 30. September 1908 im 81. Lebensjahr. Sein Tod wurde im Zentralblatt für Bibliothekswesen, der führenden deutschen Bibliothekszeitschrift, nur als knappe Personalnachricht gemeldet, obwohl Julius Petzholdt ihn bereits 1875 in einem längeren Artikel gewürdigt hatte und die österreichischen Kollegen ihm einen ausführlichen Nachruf widmeten.9 Karol Estreichers Arbeit an der Bibliografia Polska lag der Gedanke einer polnischen Kulturnation zugrunde, die trotz der territorialen Veränderungen und Teilungen der zurückliegenden Jahrhunderte weiter bestand. Die umfassende Verzeichnung des literarischen Erbes kann mit dem griffig klingenden Begriff vom Schrifttum als geistiger Raum der Nation charakterisiert werden, ohne dabei den Ausführungen Hugo von Hofmannsthals aus dem Jahre 1927 weiter zu folgen. Die Bibliografia Polska ist nicht denkbar ohne die bibliographischen und historischen Vorarbeiten, die in Polen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts erschienen waren. Sie widmeten sich vor allem dem osteuropäischen Raum und hatten deshalb vermutlich im „Westen“ nur eine geringe Resonanz gefunden. Estreicher wertete die Bestände der Universitätsbibliotheken von Warschau, Krakau, Lemberg und Kiew aus, dazu die Bibliotheken wissenschaftlicher Gesellschaften wie des Ossolineum in Lemberg und bedeutende private Sammlungen wie die des Fürsten Czartoryski, der Grafen Potocki und Działyński. Dazu kamen Literaturgeschichten, Verlags- und Buchhändlerkataloge sowie die umfangreiche Sammlung zur Kultur und Geschichte Krakaus, die sein Schwiegervater, der Krakauer Antiquar und Sammler Ambroży Grabowski, besaß. Eine weitere Quelle war Walenty Rafalskis Katalog ogólny ksiażek polskich drukowanych od roku 1830 do 1850, der 1852 in Leipzig bei Brockhaus erschienen war 9 Kuntze, E.: Dr. Karl von Estreicher-Rozbierski †. In: Mitteilungen des österreichischen Vereins für Bibliothekswesen 12(1908), S. 231–238.

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und ungefähr 4500 Titel umfaßte. Im gleichen Verlag erschien zwischen 1861 und 1865 als Verzeichnis von Neuerscheinungen eine Bibliografia Polska. In der Aufnahme der Arbeiten seiner Vorgänger und der Verarbeitung eigener Forschungen besitzt Estreichers Werk eine Brückenfunktion, denn seine Arbeit emanzipierte sich von regionalen Begrenzungen ebenso wie von den kommerziellen Orientierungen des Buchhandels und seiner Verzeichnisse. Erste Bemühungen, die gesammelten Titel zu veröffentlichten, scheiterten zunächst an der Furcht der Verleger vor einem finanziellen Debakel.

Abb. 18: Karol Estreicher: Bibliografia Polska. 2. Aufl. 1959

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Im Bewußtsein der Einzigartigkeit seines Werkes schrieb Estreicher 1888 im Vorwort zur Polnischen Bibliographie des XVIII. Jahrhunderts: Von heute an geht die polnische Bibliographie allen andern voran; sie steht da als ein formvollendetes und abgerundetes Ganzes und bietet eine Leuchte denjenigen, welche etwas ähnliches für die eigene Literatur zu schaffen sich bestreben. Ohne einen solchen Wegweiser ist es äußerst schwer und zeitraubend sich in der Masse der deutschen, französischen ja selbst der Drucke von geringrem Umfange zurechtzufinden.10

Was zunächst pathetisch klingt, entsprach der Realität. Abgesehen von den Drucken der Frühdruckzeit hat es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gedauert, bevor die umfassende Verzeichnung der Drucke späterer Jahrhunderte oder Epochen in Angriff genommen wurde. Die Probleme, denen Karol Estreicher bei seiner Arbeit begegnete, ähnelten denen, vor denen auch andere Bibliographen der Zeit standen. So dürften die Arbeitsbedingungen in den besuchten Bibliotheken nicht besser und nicht schlechter gewesen sein als in anderen Bibliotheken Europas: schlecht beleuchtete und im Winter unbeheizte Räume, ungenaue Kataloge, Regale und Leitern, bei denen der klassische Sturz mit Todesfolge vorprogrammiert schien. Die Autoren, die er auswertete, hatten nicht immer das Material selbst eingesehen, sondern sich auf Vor- und Zuarbeiten von Kollegen verlassen. So beruhen manche Uneinheitlichkeiten und Ungenauigkeiten in Estreichers Bibliographie auf dem damaligen Erkenntnisstand und den Arbeitsmöglichkeiten, die sich ihm boten. Die Anordnung des Materials in Form eines Kreuzkataloges, der neben dem Alphabet der Autoren auch eine umfangreiche Schlagwortliste mit entsprechenden Verweisungen umfaßte, zeugt von einem pragmatischen Denken, gab es doch bereits zu dieser Zeit eine Reihe alphabetisch angeordneter Bibliographien und Kataloge, bei denen die geplanten Register nicht verwirklicht wurden. Diese Anordnung war nicht nur in formaler Hinsicht modern, die Modernität Estreichers zeigt sich auch darin, daß er bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Schlagwort Autorki auf die polnischen Autorinnen aufmerksam machte, die zu dieser Zeit noch um ihre Anerkennung kämpfen mußten. Mit der formalen Erschließung und Darbietung des gesammelten Materials war es nicht getan. Es bedurfte auch der näheren Definition der Begriffe Polen und Polnisch. Polens Territorium war bis zur Teilung zahlreichen Veränderungen unterworfen und umfaßte innerhalb der jeweiligen Grenzen zahlreiche ethnische, sprachliche und konfessionelle Gruppen mit den dazu gehörenden Bildungseinrichtungen, Druckereien, Verlagen und Buchhandlungen. Daher ver10 Karl Estreicher: Polnische Bibliographie des XVIII. Jahrhunderts. Chronologisch geordnet und mit Nachträgen … versehen. Bd. 8. Krakau 1888, S. IV.

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suchte Estreicher in den Vorworten zu den Bänden, die zu seinen Lebzeiten erschienen, in Polnisch, Deutsch und Französisch seine Aufnahmekriterien zu definieren. Verzeichnet werden sollten auch Veröffentlichungen, die außerhalb des polnischen Staats- und Sprachgebiets, also im Ausland oder in den Ländern des Exils, erschienen waren, außerdem Werke polnischer Autoren, die sich anderer Sprachen wie z.B. des Deutschen oder des Französischen bedienten. Eine besondere Rolle kam dabei dem Lateinischen als Kommunikationsmittel polnischer Autoren des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu. Dazu gehört auch die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche, ohne daß Estreicher ihr eine dominierende Rolle im Leben Polens zugestand. Die Verwendung des Lateinischen in Wissenschaft und Kultus war für Estreicher der Beleg dafür, daß Polen der Kultur West- und Mitteleuropas näher stand als den slawischen Völkern, die durch den Einfluß der orthodoxen Kirche geprägt wurden. Als östlichster Teil des lateinisch geprägten Europa ergab sich daraus für Polen quasi von selbst eine Führungsrolle unter den slawischen Völkern: Jene Verbindung Polens mit Europa mittels der gemeinschaftlichen wissenschaftlichen Sprache, d.i. des Lateins, ist eben das wichtigste Merkmal, welches Polen von anderen slawischen Völkern unterscheidet, und ihm den Vorrang unter denselben zusichert.11

Zehn Jahre nach dieser Äußerung legte Estreicher 1885 nochmals nach und betonte den Zusammenhang mit dem übrigen Mitteleuropa: Das verknüpfende Band unter den Gelehrten von einem bis zum andern Ende der Welt bildete die lateinische Sprache. Polen, Ungarn, Deutsche, Čechen – die dazumal rohen Russen ausgenommen – arbeiteten gemeinsam in dem großen Laboratorium des Wissens.12

Wiederholt ging Estreicher auf die Fragen des vielfältigen und fruchtbaren multiethnischen, auch gemischtkonfessionellen Nebeneinanders, ein, wie es heute nicht mehr existiert13, das aber für die Zeitgenossen nichts Außergewöhnliches war. Er bildete in der Bibliographie das vielgestaltige Bild des östlichen Mitteleuropa ab, von dessen äußerem Erscheinungsbild Eduard Hitzigs Schilderung Warschaus zu Zeiten E. T. A. Hoffmanns am Beginn des 19. Jahrhunderts ein plastisches Bild gibt: Die Straßen von stattlicher Breite, gebildet aus Palästen im schönsten italienischen Geschmack, und aus Holzhütten, die ihren Einwohnern jeden Augenblick über dem Kopfe

11 Karol Estreicher: Bibliografia Polska XV. – XVI. stólecia. Kraków 1875, S. XIV. 12 Karol Estreicher: Polnische Bibliographie des XIX. Jahrhunderts. Bd. 8. Krakau 1885, S. VII. 13 Zu diesem Problem vgl. Tomasz Nastulczyk: Mehrsprachiges Schrifttum und das Problem der nationalen Bibliographien. 2012. (http://www.estreicher.uj.edu.pl/chronologia/opis/)

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zusammenzustürzen drohen; in diesen Gebäuden asiatischer Prunk mit grönländischem Schmutz in seltsamsten Verein; ein immerbewegtes Publicum, die schneidendsten Contraste bildend; wie in einem Maskenzuge, langbärtige Juden, und Mönche in allen Ordenstrachten, ganz verschleierte, tief in sich gekehrte, Nonnen von der strengsten Regel, und über weite Märkte hinüber conversierende Schaaren junger Polinnen in den hellfarbigsten seidenen Staubmänteln, ehrwürdige alte polnische Herren mit Schnurrbärten, Kaftan, Paß (Gürtel), Säbel, und gelben oder rothen Stiefeln, und das neue Geschlecht in den incroyablesten Pariser Moden, Türken und Griechen, Rußen, Italiener und Franzosen, in immer wechselnder Menge; dazu, eine über allen Begriff tolerante Polizei, die keiner Volkslust störend in den Weg trat, so daß sich kleine Pulcinellen-Theater, Tanzbären, Kameele und Affen, unaufhörlich, auf Plätzen und in den Gassen bewegten, vor denen die elegantesten Equipagen, wie der Packträger gaffend stille standen.14

Da Estreicher sich nicht direkt über die politischen Verhältnisse äußern konnte, tat er es im Gewande statistischer Erhebungen. Aus seinen Berechnungen zur Buchproduktion der slawischen Völker folgert er, daß die russische Literatur nur ein Viertel aller slawischen Literaturen ausmacht, während die polnische, obwohl Polen als eigener Staat nicht mehr existiert, die slawischen Literaturen mit zwei Dritteln dominiert. Dabei sieht er eine schnelle Entwicklung der tschechischen und serbischen Literaturen voraus. Zugleich warnt er vor falschen Freunden, die die russische Sprache als generelles Verständigungs– und Ausdrucksmittel unter den slawischen Völkern propagierten. Er sieht das Russische als ungeeignet für eine moderne innerslawische Kommunikation an, ja, er bezeichnet dessen Verwendung als „véritable suicide“, als einen „sicheren Selbstmord“. Es ist die Antwort auf die Maßnahmen der russischen Teilungsmacht, die durch den obligatorischen Russischunterricht in den polnischen Schulen die Russifizierung ihres Herrschaftsbereiches vorantreiben wollte. Daß die Verbreitung des Russischen mit dem kyrillischen Alphabet zugleich eine Trennung vom lateinschriftlichen Kulturkreis bedeuten würde, kann man zwischen den Zeilen lesen. Estreichers Bedenken und Vorbehalte sollten erneut ihre Bestätigung erfahren, als nach 1945 unter dem Druck der Sowjetunion Russisch zur allgemeinen Verständigungssprache in Ost- und Südosteuropa werden sollte, ein Vorhaben, das in der Praxis jedoch scheiterte15. Der Kampf gegen die Dominanz des Russischen gehört in der Ukraine und in Weißrußland bis zum heutigen Tage zu den Elementen des Kampfes um die nationale Identität.

14 Julius Eduard Hitzig: Aus Hoffmann’s Leben und Nachlass. T. 1. Berlin 1823, S. 286f. Zit. bei Dorsch, Nikolaus: Julius Eduard Hitzig. Frankfurt am Main 1994, S. 137. 15 Weder bei privaten noch dienstlichen Reisen hat der Verfasser vor 1989 in den ost- und südosteuropäischen Ländern Russisch zur Verständigung verwendet.

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In einer Berechnung des Jahres 1880 im Vorwort zum 5. Band der Bibliografia Polska setzt Estreicher den 245 Werken, die in Rußland bis 1655 erschienen waren, 20000 polnische Werke entgegen, und er bemerkt ergänzend, dass diese russischen Drucke lauter liturgischen Inhalts sind und kein einziger wissenschaftlichen, so müssen wir zur Überzeugung kommen, dass die Civilisation im Norden der Slavenländer bis zur Hälfte des XVII. Jahrhunderts nur in Polen gediehen ist, da sie in Russland unbekannt war.

Und an gleicher Stelle setzt er die Polemik fort: Bis auf Peter den Grossen stand die Kyrillik in Polen unter dem Schutze polnischer Magnaten, und von dorten ging sie nach Moskau in die dortigen griechischen Kirchen über. Derart war der Einfluss der höheren polnischen Civilisation. Russische Bibliographen zählen absichtlich die in Polen in kleinruthenischer Sprache für ruthenische16 Kirchen gedruckten liturgischen Werke zur russischen Literatur, um den Umfang derselben und ihr Alterthum zu steigern.

Und auch die zahlenmäßige Entwicklung der russischen Literatur im 19. Jahrhunderts ist für ihn Nichts wunderbares, da wir nicht seit gestern aufgewachsen sind, sondern seit dem Anfange der Buchdruckerkunst, während die grosse russische Literatur erst mit Hälfte des XVII. Jahrhunderts beginnt.

Die Bedeutung der polnischen Literatur seiner Zeit reißt Estreicher zu poetischen Äußerungen folgenden hin: Noch bis zum Augenblicke steht die polnische Literatur durch ihre Ursprünglichkeit, ihren Ideenreichthum und ihre Lebensfülle unter den slavischen Schwestern obenan. Einer hohen Königin nicht unähnlich, blickt sie, in ihr Witwengewand gehüllt, majestätisch und Achtung gebietend um sich. Es muss sogar wunderbar erscheinen, dass sie inmitten der ungünstigsten Bedingungen nicht verfällt, nicht dahinsiecht. Stünden ihr Bedingungen zu Gebote, wie sich solcher andere Völker erfreuen, sie würde fürwahr nicht hinter denselben zurückbleiben.17

Hinter diesen Äußerungen stehen auch die traumatischen Erfahrungen aus der Niederschlagung der polnischen Aufstände durch russische Truppen und die massiven kulturellen Repressionen, die er selbst erlebt hatte. Dadurch erscheinen für ihn die beiden deutschsprachigen Teilungsmächte – Preußen/Deutschland und Österreich – in einem anderen Licht. Auch die Politik Bismarcks, die 16 Ruthenisch – ältere Bezeichnung für Ukrainisch. 17 Karol Estreicher: Polnische Bibliographie des XIX. Jahrhunderts. Bd. 8. Krakau 1885, S. IV.

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sich im Rahmen des Kulturkampfes mit einer Reihe von diskriminierenden Maßnahmen gegen die katholische polnische Bevölkerung richtete, wird anders bewertet. So heißt es im Vorwort des 1885 erschienenen Bandes: Von Galizien und Preußen verpflanzt sich der deutsche Einfluß nach Litthauen und ruft daselbst die Epoche Lelewel’s und Mickiewicz’ ins Leben. Als nach dem unglücklichen Jahre der Revolution von 1831 die Nation von einem lethargischen Schlummer befallen wurde, bildet Posen, wo im Augenblicke größere Freiheit herrschte, den Herd der Cultur. Es gewinnt daselbst die ganze Literatur, die gesammte von der deutschen Philosophie zehrende Cultur ein bisher ungekanntes Leben.18

Und an gleicher Stelle ist zu lesen: Die sprachliche Toleranz in den Schulen gestattete freie Entfaltung dem deutschen Idiom in Thorn, Danzig, Schlichtingsheim und anderen Städten, was jedoch nicht hinderte, daß Apostel des Deutschthums polnischen Großen ihre Werke widmeten und als zweier Nationen Zugehörige sich geberdeten.19

Posen war zu dieser Zeit ein Zentrum der preußisch-deutschen Politik mit dem Ziel der völligern Eindeutschung der Stadt und ihres Umlandes, während Thorn und Danzig für das Neben- und Miteinander der deutschen und polnischen Bevölkerung bekannt sind. Das kleine Schlichtingsheim (Szlichtyngowa) dürfte auch damals nur noch Wenigen bekannt gewesen sein, doch die Nennung dieses Namens war und ist mehr als eine historische Reminiszenz für Historiker. Während der Rekatholisierung Schlesiens im Dreißigjährigen Krieg flohen Protestanten in das katholische Polen und konnten hier mit Hilfe des Rittergutsbesitzers Johann Georg von Schlichting (polnisch Jerzy Szlichtyng) und mit Erlaubnis des polnischen Königs Władysław IV. Wasa im Jahre 1644 eine Stadt gründen, die den Namen des Gutsherren bis heute trägt. Unter der Schirmherrschaft der Bibliographischen Kommission der Krakauer Gesellschaft der Gelehrsamkeit erschien 1870 der erste Band der Bibliografia Polska, die für das 19. Jahrhundert 50000 Drucke verzeichnete. Die erste Serie umfaßt die Bände 1–5 mit den Berichtsjahren 1800–1870, Band 6 und 7 sind die bis 1880 reichenden Supplemente. Der Zauber, der von den technischen Fortschritten des 19. Jahrhunderts ausging, schlug sich in den großen Weltausstellungen nieder, auf denen neben technischen und naturwissenschaftlichen Werken als Zeugnisse für die kultur-

18 Karol Estreicher: Polnische Bibliographie des XIX. Jahrhunderts. Bd. 8. Krakau 1885, S. III– IV. 19 Estreicher, Polnische Bibliographie, S. VIII. (Alle Zitate folgen in Rechtschreibung und Sprachduktus dem Original).

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elle Leistungsfähigkeit eines Landes wiederholt auch Bibliographien und Kataloge gezeigt wurden. Auf Geheiß der österreichischen Behörden schuf Estreicher für die Wiener Weltausstellung 1873 die Bibliographie Galizien’s und anderen Länder des ehemaligen Polens aus den Jahren 1871–1872, sammt den betreffenden Berichten der galizischen Buchhändler. Estreicher unterlief diese aus reinem Behördendenken vorgenommene geographische Begrenzung mit der Begründung, daß Autoren aus Galizien auch in anderen Teilen Polens oder im Ausland publizierten und machte das Verzeichnis zu einer Art polnischen Nationalbibliographie, die 3010 Titel umfaßt. Die umfangreichsten Sachgebiete waren Rechtswissenschaft, Theologie und Romanliteratur, die wichtigsten Verlagsorte Krakau, Warschau, Lemberg und Posen, im Ausland neben Paris und Wien Leipzig, Berlin und Dresden. War die Bibliografia Polska zunächst nur für die Verzeichnung der Literatur des 19. Jahrhunderts gedacht, so wurde sie dank der unermüdlichen Sammeltätigkeit Estreichers und der Unterstützung durch Buchhändler und Gelehrte zum Ausgangspunkt für die Verzeichnung der älteren Buchproduktion. Die zweite Serie, die Bände 8–11, enthält eine chronologische Liste der polnischen und Polen betreffenden Drucke der Jahre 1455–1889. In der dritten Serie, die 1891 zu erscheinen begann, werden die Drucke dieser Jahre in alphabetischer Folge verzeichnet. Bis zu Estreichers Tod erschienen insgesamt 26 Bände. Die Veröffentlichung der Bibliografia Polska erfuhr ihre materielle Unterstützung durch die wissenschaftlichen Institutionen Krakaus und eine Reihe von Mäzenen. Dennoch mußte Estreicher 1891 resignierend feststellen, daß ihm nur 72 ständige Bezieher geblieben seien, die vor allem in Warschau und Krakau ansässig waren. Obwohl die Bezieher kaum die Unkosten für Papier und Buchbinder deckten, sollte das Werk weiterhin in einer Auflage von 500 Exemplaren erscheinen.20 Estreichers Vorhaben fand von Anfang an die Aufmerksamkeit Julius Petzholdts, des Herausgebers des Neuen Anzeigers für Bibliographie und Bibliothekwissenschaft21. Im traditionsbewußten Dresden erinnerte man sich noch gut daran, daß im 18. Jahrhundert sächsische Kurfürsten polnische Könige gewesen waren, jetzt, im 19. Jahrhundert, hatten Künstler und Schriftsteller aus Polen die Stadt zu ihrem Aufenthaltsort gewählt, und vermutlich hatte Petzholdt auch die Züge von Emigranten gesehen, die nach den polnischen Aufständen durch die Stadt gezogen waren. Petzholdt war, trotz einge-

20 Karol Estreicher: Polnische Bibliographie (3. Abtheilung, Bd. 1) Jahrhundert 15 bis XVIII. Krakau 1891, S. XIX. 21 Zu Petzholdt das Kapitel in diesem Buch.

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standener Sprachschwierigkeiten, bestrebt, möglichst vollständig über neu erscheinende Bibliographien und Kataloge aus Osteuropa zu berichten. Er zeigte die von 1861–1865 bei Brockhaus in Leipzig erschienene Bibliografia Polska22 an und veröffentlichte 1877 auch eine Anzeige der Monumenta Poloniae historica, die August Bielkowski in Lemberg im Selbstverlag herausgegeben hatte. Im Mittelpunkt der Berichterstattung über polnische bibliographische Aktivitäten stand aber die Anzeige der Lieferungen von Estreichers Bibliografia Polska. Welchen Stellenwert Petzholdt ihr beimaß, zeigt bereits der vollständige und nicht übersetzte Abdruck der polnischen Subskriptionsankündigung des Krakauer Verlegers T. Nowakowski aus dem Jahre 187023, der aus dem Rahmen der üblichen Redaktionspolitik fiel. Estreicher wiederum, der im 1. Band seiner Bibliographie einen Überblick über die bibliographische Situation gegeben hatte, sprach von dem „ouvrage remarquable de J. Petzholdt: Bibliotheca bibliographica.“ Klang Petzholdts Kommentar zu den ihm zugegangenen Probebogen und zu dem Vorhaben zunächst noch etwas herablassend, er sprach von einem „doch recht tüchtigen und brauchbaren Werke“, so zollte er in der Folgezeit allen eingehenden Lieferungen höchstes Lob für die Akkuratesse, den Umfang und die Schnelligkeit des Erscheinens. Beeindruckt zeigte er sich auch von dem „grossen Reichthume der Polnischen Litteratur, der in einem gewiss von so Manchem nicht geahnten Umfange zu Tage tritt“24, und widmete der Arbeit Estreichers 1875 einen ausführlichen Artikel unter dem Titel Die Polnische Bibliographie und ihr Pfleger Estreicher.25 Anerkennend sprach er von der „seltenen Arbeitskraft“ Estreichers, von seinem „ernsten und keine Mühe scheuenden Eifer“. Gelegentliche Einwände lagen eher auf technischem oder fachwissenschaftlichem Gebiet. Auch die zur gleichen Zeit erscheinenden anderen Veröffentlichungen Estreichers fanden die Anerkennung Petzholdts – in Arbeitspensum und beruflichem Engagement waren beide Männer einander wohl ebenbürtig. Petzholdts Besprechungen und dieser Artikel dürften der Bibliographie den Weg in deutsche, mittel- und westeuropäische Bibliotheken, in den „Westen“, gebahnt haben, so daß die Geldgeber dem Werk weiterhin ihre Unterstützung angedeihen ließen. Die Leistungen Estreichers, seines Sohnes und seines Enkels wurden allerdings im deutschsprachigen Raum bis zum Aufsatz des Autors im Jahre 2001 nicht näher gewürdigt.26 22 Neuer Anzeiger (1861)3, S. 96. 23 Neuer Anzeiger (1870)2, S. 64–65. 24 Neuer Anzeiger (1872)6, S, 239. 25 Die Polnische Bibliographie und ihr Pfleger Estreicher. In: Neuer Anzeiger (1875)5, S. 161– 163. 26 Karl Klaus Walther: Nil desperandum – Karol Estreichers Bibliografia Polska. In: Aus dem Antiquariat (2001)6, A 332–340.

Stanisław Estreicher 

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Frei von äußeren Störungen – Kriegen, Wirtschaftskrisen, innenpolitischen Auseinandersetzungen – ging Karol Estreicher in Krakau der Arbeit an der Bibliografia Polska nach und fand außerdem Zeit, umfangreiche Arbeiten zur Theater- und Literaturgeschichte zu publizieren. Als die Welt der habsburgischen Monarchie mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges endete, gerieten auch die Bibliographie und ihre Bearbeiter in die Turbulenzen der Zeiten. Der Sohn Stanisław und der Enkel Karol setzten die Arbeit an der Bibliographie im Angesicht von Entwicklungen fort, die beim Tode ihres Schöpfers die Vorstellungskraft und die Phantasie der Zeitgenossen überstiegen. Die Arbeit an der Bibliographie wurde von einem Teil der Geistesgeschichte zu einem Element der Zeitgeschichte.

Stanisław Estreicher Stanisław Estreicher wurde am 26. November 1869 in Krakau geboren. Er besuchte von 1879 bis 1887 das dortige Lyzeum und studierte Rechts- und Literaturgeschichte an den Universitäten Krakau und Wien, wo er 1892 zum Doktor der Rechte promoviert wurde. Nach einem Studienaufenthalt 1893–1894 in Berlin habilitierte er sich 1895 mit der rechtshistorischen Schrift Studya nad historya kontraktu kupna w prawie niemieckiem epoki frankonskiej (Studien zur Geschichte des Kaufkontracts im deutschen Recht der fränkischen Periode). 1902 wurde er zum außerordentlichen, 1906 zum ordentlichen Professor an der Universität Krakau berufen, wo er 1914 Mitglied im Akademischen Rat wurde. Er lehrte zunächst Geschichte des deutschen Rechts, ab 1919 Geschichte des westeuropäischen Rechts und war wiederholt Dekan der Juristischen Fakultät. 1914 erfolgte die Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAU), 1930 wurde er deren ordentliches Mitglied. In den Jahren 1919 bis 1921, als Polen seine Unabhängigkeit gegen den Vormarsch ukrainischer und russischer Truppen verteidigen mußte, war er Rektor der Universität und gründete die Konferenz polnischer Hochschulrektoren. Von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit legen zahlreiche, vor allem rechtshistorische, Veröffentlichungen Zeugnis ab. Von 1908 bis zu seiner Emeritierung 1939 leitete er die Arbeit an der Bibliografia Polska als Redakteur. Stanisław Estreicher war mit Helene Longchamps de Bérier verheiratet, die einer angesehenen Lemberger Juristenfamilie entstammte, deren Vorfahren aus Frankreich eingewandert waren. Aus der Ehe ging u.a. der Sohn Karol hervor. Nach der Besetzung Lembergs durch deutsche Truppen im Jahre 1941 wurden Angehörige der Familie Longchamps de Bérier zusammen mit weiteren Angehörigen der Lemberger Intelligenz ermordet.

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Das Leben eines angesehenen, vor allem seinen wissenschaftlichen Studien lebenden Gelehrten endete jäh am 1. September 1939 mit dem Überfall Deutschlands auf Polen. Am 6. September besetzten deutsche Truppen Krakau. Die neuen deutschen Behörden suchten das Ansehen Stanisław Estreichers zu nutzen und boten ihm den Posten als Präsident des geplanten „polnischen Protektorats“ an27. Da er ablehnte, wurde Estreicher im Zuge der sogenannten „Sonderaktion Krakau“ am 6. November 1939 zusammen mit über 100 Professoren der Universität verhaftet und ins KZ Sachsenhausen nördlich von Berlin verschleppt. Dieser Vorgang wurde sehr schnell im Ausland bekannt und führte zu zahlreichen diplomatischen und privaten Bemühungen um die Freilassung der Inhaftierten. Daran beteiligten sich auch namhafte deutsche Gelehrte wie der Afrikanist Diedrich Hermann Westermann und der Slawist Max Vasmer, der Inhaber des Lehrstuhls für Slawistik an der Berliner Universität28. Vasmer war der Nachfolger des Slawisten Alexander Brückner, der mit Estreicher befreundet war. Viele der Inhaftierten kamen wieder frei, doch für einige von ihnen wie Stanisław Estreicher kam die Hilfe zu spät, er erlag wegen der fehlenden ärztlichen Versorgung am 28. Dezember 1939 einem Prostataleiden. Die Urne mit seiner Asche wurde den Angehörigen in Krakau mit der Post zugesandt. Bereits als Jugendlicher hatte Stanisław Estreicher an der Bibliografia Polska mitgearbeitet. Vier Bände der Bibliographie für die Berichtsjahre 1881 bis 1900, die sein Vater noch erarbeitet hatte, wurden von ihm in den Jahren 1906 bis 1916 veröffentlicht. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Polens brachten es mit sich, daß erst seit dem Ende der zwanziger Jahre weitere Bände erscheinen konnten. Die Fortführung war, wie der Sohn Karol am 12. November 1958 notierte, umstritten, erhielt jedoch Rückendeckung durch die polnischen Bibliophilen. Der Streit hing mit der Haltung Estreichers zusammen, der sich gegen die Kräfte wandte, die Polen zu einem autoritären und antidemokratischen Staat machen wollten und die in den dreißiger Jahren auch nicht vor einem offenen Antisemitismus zurückschreckten.29 Band „Z“ befand sich bei 27 Gazette de Lausanne vom 18. Januar 1940, zit. bei Henryk Pierzchała: Den Fängen des SSStaates entrissen. Die ‚Sonderaktion Krakau‘ 1939–1941. Krakau 1998, S. 234; Weitere Details in: Die Verhaftung der Krakauer Wissenschaftler am 6. November 1939. Hg. von Jochen August. Hamburg 1997; Stanisław Gawęda: Die Jagiellonische Universität in der Zeit der faschistischen Okkupation 1939–1945. Jena 1981, S. 98–99. 28 Frauke Kerstens: Die „Sonderaktion Krakau“ 1939–1941. 2001. URL: http://gplanost.x-berg. de/widerstand.html. 29 Borodziej, Włodzimierz: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010; KozińskaWitt, Hanna: Die Krakauer Konservativen und der intellektuelle Diskurs in der Zweiten Republik. Galizische Erfahrungen und neue Herausforderungen. In: Fragmentierte Republik? Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918–1939. Hg. Von Michael G. Müller und Kai Struve. Göttingen 2017, S. 191–222.

Karol Estreicher der Jüngere



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Kriegsbeginn im Druck, der abgebrochen wurde, die Arbeit an der Bibliographie kam zum Erliegen. Als die Mitarbeiter der Jagiellonischen Bibliothek 1940 unter deutscher Aufsicht in den gerade fertiggestellten Neubau der Bibliothek umzogen, hielten sie das Material zur Bibliografia Polska sorgsam vor der deutschen Besatzung versteckt, so daß es ebenso wie die Bibliothek den zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstand. Der Sohn Karol versuchte vom Exil aus immer wieder Auskunft über das Schicksal der Bibliographie zu erhalten, zugleich suchte er in den Ländern seines Exils nach Beständen an Polonica.

Karol Estreicher der Jüngere Karol Estreicher der Jüngere wurde am 4. März 1906 in Krakau geboren. Nach dem Studium der Kunstgeschichte war er an der Universität Krakau tätig. Im Januar 1939 half er dem hochbetagten Alexander Brückner in Berlin bei der Fertigstellung der Encyklopedia staropolska, die noch kurz vor Kriegsausbruch erschien. Brückner war ein alter Freund seines Vaters und hatte jeden Band der Bibliographie besprochen. Bei diesem Aufenthalt und vor allem nach der Kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes durch Deutschland im März des gleichen Jahres erkannte Estreicher die militärische Bedrohung Polens. Diese Befürchtung teilte er mit Professor Adolf Szysko-Bohusz, dem Direktor der Sammlungen des Wawel. Vergeblich bemühten sie sich um die Unterstützung der polnischen Regierung für die Sicherung der Krakauer Kulturgüter vor den Folgen militärischer Konflikte, so daß sie auf eigene Faust mit Vorbereitungen für eine mögliche Evakuierung begannen.30 Die Gobelins und andere wertvolle Stücke des Wawel wurden sachgemäß für eine Auslagerung verpackt. Estreicher begann am 24. August 1939 zusammen mit freiwilligen Helfern mit dem Abbau des Veit-Stosz-Altars in der Marienkirche, der am 30. August auf dem Wasserwege in ein Kloster in Sandomierz (Sandomir) nördlich von Krakau abtransportiert wurde. Dort wurde er Anfang Oktober 1939 von deutschen Truppen aufgefunden, zunächst nach Berlin und später nach Nürnberg gebracht, wo er in einem Gewölbe unter der Burg bis zum Kriegsende blieb. Estreicher selbst kehrte am 31. August, einen Tag vor Kriegsbeginn, nach Krakau zurück. Vor den schnell vorrückenden deutschen Truppen flohen Tausende polnische Zivilisten und Militärangehörige nach Rumänien und Ungarn, mit denen Polen zu dieser Zeit eine gemeinsame Grenze besaß. Bedroht wurden die Flüchtlinge von den vorrückenden deutschen Truppen, seit Mitte September 30 Eine eingehende Darstellung bei Henryk Pierzchała: Den Fängen des SS-Staates entrissen. Die ‚Sonderaktion Krakau‘ 1939–1941. Krakau 1998.

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auch von den Einheiten der Roten Armee, die auf Grund des Hitler-Stalin-Paktes Ostpolen mit Lemberg besetzten. Außerdem sahen ukrainische Freischärler ihre Stunde gekommen, um einen eigenen ukrainischen Staat zu errichten, und begannen ebenfalls mit militärischen Aktionen gegen die flüchtenden Polen. Dank der Vorbereitungen Estreichers und seiner Kollegen konnten die Gobelins aus dem Wawel, Manuskripte Frédéric Chopins und weitere wertvolle Gegenstände zusammen mit einem Teil des Goldes der polnischen Nationalbank, das im Wawel lagerte, ins Ausland gebracht werden. Unter den Schätzen befand sich auch die Gutenberg-Bibel aus dem Kloster Pelplin im polnischen Teil Pommerns, die der Geistliche und Kunsthistoriker Antoni Liedtke kurz vor Kriegsausbruch zunächst nach Warschau gebracht hatte. Der Transport erreichte über die Zwischenstationen Sandomierz, Lublin, Zamość und Tarnopol in der Nacht vom 17. zum 18. September die rumänische Grenze bei Kuty (Cutury) am Tscheremosch südöstlich von Iwano-Frankiwsk (Stanislau). Das Gold wurde in einem gesonderten Transport nach Constanza am Schwarzen Meer und von dort über Zwischenstationen in französisches Kolonialgebiet in Afrika gebracht. Auch die Kunstschätze wurden nach Constanza gebracht, von wo sie der rumänische Dampfer Ardeal nach Marseille transportierte, wo sie am 8. Januar 1940 ankamen. Estreicher floh mit anderen polnischen Soldaten zur ungarischen Grenze, die er am 1. Oktober 1939 bei Ushgorod (Uschhorod) überschritt. Obwohl Ungarn unter dem starken Einfluß der deutschen Regierung stand, erhielten die Flüchtlinge eine umfassende Hilfe. Wer nicht weiterreisen konnte oder wollte, konnte sich in Ungarn niederlassen, jüdische Flüchtlinge erhielten zum Teil neue Papiere, die ihre Identität verschleierten. Auch Italien, das ein enger Verbündeter Deutschlands war, half den Flüchtlingen, die vor allem nach Frankreich weiterreisen wollten. Die Wehrfähigen unter ihnen bildeten dort neue militärische Einheiten oder schlossen sich den Streitkräften Frankreichs und später Großbritanniens an. Mit einem Paß des polnischen Generalkonsulats, der ihn als Kurier im diplomatischen Dienst auswies, reiste Estreicher nach Paris, wo er sich am 14. Oktober bei Marschall Władysław Sikorski, dem Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung, meldete. Er wurde bis zum Tode Sikorskis 1943 einer seiner engsten Mitarbeiter und erfuhr dadurch Einzelheiten über das Schicksal der polnischen Soldaten und Zivilisten, die ihre Zuflucht vor dem deutschen Einmarsch in der Sowjetunion gesucht hatten, sowie über die Verhandlungen über die künftigen Grenzen Polens.31

31 Hierzu mit vielen Details Halik Kochanski: The Eagle unbowed. Poland and the Poles in the Second World War. London 2013.

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Von Anbeginn seiner Tätigkeit sorgte Estreicher für die Erfassung der polnischen Kulturgüter, die von den deutschen und sowjetischen Besatzungstruppen geraubt oder zerstört worden waren. Zunächst mußte er sich aber nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich im Frühjahr 1940 um die Sicherung und Evakuierung der nach Frankreich geretteten polnischen Kulturgüter kümmern, die sich größtenteils in Aubusson, dem Zentrum der französischen Gobelinproduktion, befanden. Nach dreitägiger Irrfahrt mit einem LKW gelangte Estreicher mit ihnen nach Bordeaux. Von dort transportierte das kleine polnische Handelsschiff Chorzow bei stürmischer See die Kunstschätze sowie 200 weitere polnische Flüchtlinge und einige Seeleute aus gesunkenen französischen Schiffen nach England, wo das Schiff am 21. Juni 1940 im Hafen Falmouth an der Südküste Cornwalls landete. Aus Furcht vor einer drohenden deutschen Invasion wurden die Kunstschätze am 4. Juli 1940 an Bord des polnischen Dampfers Batory in einem stark gesicherten Geleitzug nach Kanada transportiert.32 Estreicher blieb in England, auch zum Schutze polnischer Emigranten jüdischer Abstammung. Für Sikorski bereitete er die Radioansprache an die polnische Bevölkerung zum Weihnachtsfest 1940 vor. Als Ergebnis seiner Recherchen erschien 1944 in London The cultural Losses of Poland, ein Werk, das die Grundlage für die spätere Bergung und Rückführung verschleppter polnischer Kulturgüter bildete. Raub und Zerstörung polnischer Kulturgüter in den seit 1939 sowjetisch besetzten Teilen Polens wurden jedoch erst nach 1990 in ihrem vollem Umfang bekannt. Durch Flüchtlinge sowie durch Kuriere der polnischen Untergrundbewegung erhielt Estreicher Nachrichten über die Zustände unter der deutschen Besatzung und über das Schicksal von Verwandten und Freunden. So erfuhr er vom Tode seines Vaters im KZ und vom Tode seiner Mutter im Jahre 1940. Zahlreiche Verwandte und Freunde fielen im Kampf gegen die deutschen und die sowjetischen Besatzungstruppen, wurden verhaftet, deportiert oder ermordet. Estreichers Sorge galt immer wieder dem Schicksal des Krakauer Marienaltars. Seit 1941 verdichteten sich die Informationen, daß er nach Nürnberg gebracht worden sei, eine Nachricht, die 1943 durch einen Brief aus Stockholm nochmals bestätigt wurde. Deshalb sprach Estreicher bei wiederholten Reisen in die Schweiz, die USA und nach Kanada wiederholt mit einflußreichen Persönlichkeiten über die Notwendigkeit, Kulturgüter vor den Kriegsfolgen zu schützen und geraubte Objekte an die rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Nicht zuletzt durch seine Bemühungen wurde die Sondereinheit der „Monument Men“ gegründet, die Kunstschätze in Kampfgebieten und Auslagerungs32 Einen Eindruck von der Dramatik des Geschehens vermitteln die Eintragungen Estreichers in seinem Dziennik wypadków. T. 1. 1939–1945. Kraków 2001.

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depots sichern, aber auch die Kunstschätze bergen sollte, die von den deutschen Truppen in den besetzten Ländern geraubt worden waren. Bei Kriegsende wurde Estreicher in der amerikanischen Besatzungszone zum Verbindungsoffizier der polnischen Regierung für die Rückführung von Kulturgut und arbeitete eng mit der U.S. Army Monuments, Fine Arts, and Archives (MFA&A) Section zusammen. Dadurch konnte er die Rückführung des Veit-Stosz-Altars und weiterer geraubter polnischer Kunstschätze vorbereiten. Diese Aktion ist zunächst einmal Teil der Aktionen der Nachkriegszeit, geraubte Kulturgüter wieder an ihren ursprünglichen Standort zurückzubringen. Nachdem seit der Konferenz von Jalta im Februar 1945 feststand, daß Polen große Teile seiner östlichen Landesteile an die Sowjetunion verlieren würde, bemühten sich Estreicher und polnische Regierungsstellen um die Sicherung und Rückführung von Kulturgut aus Orten wie Vilnius oder Lemberg, was allerdings, wie es das Beispiel des Ossolineum in Lemberg zeigt, nur zum Teil gelang. Zur gleichen Zeit erstellten offizielle polnische Stellen Listen mit Adressen von wissenschaftlichen und musealen Sammlungen, die sich in den ehemals deutschen Gebieten befanden und die besonders zu sichern waren. Im Sommer 1945, zur Zeit der Potsdamer Konferenz, reiste Estreicher über Berlin nach Warschau, wo er erste direkte Kontakte mit den Vertretern der neuen polnischen Regierung hatte, die ganz unter sowjetischem Einfluß stand. Schon seit langem machte er sich keine Illusionen über die politische Entwicklung Polens im sowjetischen Machtbereich, denn bereits am 28. Oktober 1944 hatte er notiert, daß der russische Kommunismus als Erbe des Zarismus die Polen in die Rolle von Dienstboten hinabdrücken wolle. Die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz verglich er mit denen von Versailles. Mit großer Energie betrieb Estreicher die Rückführung polnischer Kunstschätze aus dem Ausland und besaß dabei als Mitglied der „Monument Men“ einen erheblichen Handlungsspielraum. Die in Warschau amtierende Regierung zeigte zunächst kein größeres Interesse an der Rückführungsaktion. Die Londoner Exilregierung fühlte sich politisch an den Rand gedrängt und kritisierte die Rückführungen aus politischen Gründen. Seit dem Vorstoß der Roten Armee auf polnisches Gebiet waren die Angehörigen der Armija Krajowa Repressalien ausgesetzt, die vom Verlust der Arbeitsstelle über Verhaftungen und Deportationen bis zur willkürlichen Hinrichtung reichten. Begleitet wurden diese Aktionen seit Ende 1945 von einer massiven publizistischen Verleumdungskampagne. Mit der Rede Winston Churchills am 5. März 1946 im amerikanischen Fulton, in der er das Wort vom Eisernen Vorhang verwendete, wurden die Konfliktlinien des Kalten Krieges deutlich. Sie führten unter anderem dazu, daß sich in der Folgezeit die Rückführung von Kulturgut aus den westlichen Bergungsländern in die ost- und südosteuropäischen Herkunftsländer verzögerte.

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Es war unter den Bedingungen der Nachkriegszeit eine logistische und politische Meisterleistung, die Kunstschätze sicher zu verpacken und den Eisenbahntransport über die von der Roten Armee besetzte Tschechoslowakei zu organisieren. Unter Estreichers Kommando, begleitet von drei weiteren Mitgliedern der Monument Men und bewacht von Soldaten der US-Army, erreichte der Sonderzug mit 26 Waggons am 30. April 1946 Krakau. In ihm befanden sich außer dem Marienaltar Leonardo da Vincis Die Dame mit dem Hermelin aus dem Besitz der Familie Czartoryski, Sammlungen der Universität Krakau, kirchlicher Kunstbesitz, Bilder von Rembrandt, Canaletto, Rubens, Watteau, Cranach.33 Auch wenn die örtlichen Behörden und die Bevölkerung den Transport freudig begrüßten, so kam es doch am 3. Mai, dem Nationalfeiertag zur Erinnerung an die Verfassung von 1791, zu Zusammenstößen zwischen der Miliz und antikommunistischen Demonstranten, die auf beiden Seiten Opfer forderten. Außerdem erschoß ein US-Soldat zwei Polen bei einem Diebstahlsversuch.34 Noch sieben Mal reiste Estreicher auf der Suche nach geraubten Kulturgütern in die amerikanische Besatzungszone, bevor er seine Tätigkeit als Kunsthistoriker an der Universität Krakau wieder aufnahm.

Abb. 19: Karol Estreicher jun. mit Leonardo da Vincis Die Dame mit dem Hermelin nach der Ankunft in Krakau am 30. April 1946. 33 Zbigniew Witek in: Karol Estreicher jr. (1906–1984). T. 2. Kraków 2002, S. 9 34 [email protected]. Vom 5. 6. 2017. Iris Lauterbach: Der Central Collecting Point in München. Kunstschutz, Restitution, Neubeginn. Berlin 2015, S. 135–140.

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1946 heiratete Estreicher Teresa Lasocka (1905–1974), mit der er seit 1938 verlobt war. Seine Bemühungen, sie ins Exil nachzuholen, waren erfolglos gewesen. Als Mitglied der polnischen Widerstandsorganisation Armia Krajowa half sie polnischen Häftlingen im KZ Auschwitz, darunter dem späteren Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz35. Vermutlich ist es ihm zu verdanken, daß Estreicher und seine Angehörigen von den Repressalien verschont blieben, denen die Angehörigen der Armia Krajowa über viele Jahre hinweg ausgesetzt waren. Nach seiner Rückkehr bemühte sich Estreicher um die Fortführung der Bibliografia Polska und arbeitete nach eigenen Worten an ihr in jedem freien Moment. Dafür erhielt er von November 1946 bis Oktober 1948 225000 Zł., was nach seinen Berechnungen ungefähr 6225 Monatsgehältern entsprach. Auch auf dem Gebiet der bibliographischen Arbeit machten sich ideologische und politische Einflüsse bemerkbar. So war sich Estreicher beim Artikel Załuski der Brisanz dieses Eintrags bewußt. Die katholischen Bischöfe Józef Andrzej Załuski und sein Bruder Andrzej Stanisław errichteten in Warschau zwischen 1736 und 1747 die erste Öffentliche Bibliothek Polens, die als Folge des Kościuszko-Aufstandes von 1794 von russischen Truppen 1795 beschlagnahmt und nach St. Petersburg gebracht wurde. Der Eintrag Załuski mußte daher an den Verlust polnischer Kulturgüter durch die russische Teilungsmacht, aber auch an den von Zentren polnischer Kultur wie Lemberg oder Vilnius erinnern. Als 1952 mit dem 34. Band die von seinem Vater begonnene, durch den Krieg unterbrochene Reihe vollendet war, lag eine bedeutende kulturpolitische Leistung vor, die angesichts der damaligen wirtschaftlichen Lage Polens nicht hoch genug einzuschätzen ist. Im Jahre 1953 beschloß die polnische Akademie der Wissenschaften eine zweite, verbesserte und vermehrte Auflage der Bibliografia Polska XIX. stólecia unter der Leitung Estreichers und mit Hilfe eines Redaktionskollegiums zu erarbeiten. Sie sollte in einem Alphabet das gesamte, während des 19. Jahrhunderts erschienene Schrifttum verzeichnen, das bisher auf mehrere Bände und Supplemente verteilt war. Die Grundstruktur des Werkes blieb erhalten, einige wenige Schlagwortbegriffe wurden modernisiert oder hinzugefügt. Aus der ersten Auflage wurde die Ordnung des Kreuzkataloges übernommen. Die Rubrik Katalogi in der neuen Auflage umfaßte die ausgewerteten Bibliotheks-, Buchhandelsund Antiquariatskataloge, die für die Buchhandelsgeschichte Osteuropas interessante Quellen darstellen. Außerdem wurden die in den Ländern des Exils entstandenen Werke sowie unveränderte (stereotypierte) Neuauflagen aufgenommen. Wenn sich für manche Titel keine Standorte mehr nachweisen ließen, so lag das nicht allein an den Kriegsfolgen oder dem Verschleiß, sondern bei 35 Angaben nach Wikipedia.

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Drucken des 19. Jahrhunderts auch an den chemischen Substanzen, die bei der Papierherstellung verwendet worden waren. Das Problem war kein spezifisch polnisches, sondern beschäftigt bis in die Gegenwart Experten auf der ganzen Welt. Die Arbeit an der Bibliographie bildete nur einen Teil der Aktivitäten Estreichers in der Nachkriegszeit. Neben seiner Lehrtätigkeit widmete er sich seit 1946 der Restaurierung des historischen Gebäudekomplexes des Collegium Maius, das die Keimzelle der Universität Krakau bildet. Nach den territorialen Veränderungen durch den zweiten Weltkrieg und den gezielten und vorsätzlichen Zerstörungen durch die deutsche Besatzung in Warschau und anderen Orten kam dem Collegium Maius eine Bedeutung zu, die über die Tradition der Universität weit hinausreichte. Zusammen mit anderen Stätten Krakaus war das Collegium Maius das Symbol für die fortlebenden kulturellen Traditionen Polens, die auch in einer Zeit lebendig erhalten werden sollten, in der die offizielle Politik sie aus dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen suchte. Es war ein Verdrängungsprozeß, der sich auch in anderen Staaten Osteuropas beobachten läßt, die wie Polen unter sowjetischer Hegemonie standen. In dieser Lücke der Erinnerungskultur liegt eine der Quellen aktueller nationalistischer Strömungen. Die Rückführung der Kulturgüter, die Restaurierung des Collegium Maius und die Fortführung der Bibliographie erscheinen so als Akte widerständigen Verhaltens. Welchen Schwierigkeiten Estreicher zu begegnen hatte und welche inneren Konflikte er mit sich auszumachen hatte, davon zeugen seine Aufzeichnungen im Dziennik wypadków, seinem Tagebuch, das er seit 1939 heimlich führte. Es wurde erst in den letzten Jahren veröffentlicht und zeigt neben den persönlichen Erfahrungen den politischen Druck, dem Polen und seine Intellektuellen in der Nachkriegszeit ausgesetzt waren. Zur Veröffentlichung einer Liste verbotener Bücher vom 15. Februar 1949 notiert er: „Dunkle Nacht senkt sich über Polen“. Dazu kommen Meldungen über Verhaftungen und Schauprozesse gegen vermeintliche Spione und „Volksfeinde“ sowie Kampagnen gegen Kunstrichtungen, die nicht den Dogmen des sozialistischen Realismus entsprachen und von denen auch Freunde und Kollegen betroffen wurden. Wie zum eigenen Trost notierte er am 23. Juni 1949: „Noch ist unser Leben nicht so schwer wie das anderer Bekannter.“ Zu den allgemeinen Repressionen gesellten sich 1957 fortgesetzte Kontrollen seiner Tätigkeit, die Überprüfung von Rechnungen, Intrigen und Erpressungsversuche durch die Miliz. Er registrierte die Maßregelungen seines Freundes, des Dichters Antoni Słonimski, des Dichters und Publizisten Mieczysław Jastrun und des Literaturwissenschaftlers Jan Kott.36 Es dürfte 36 Jan Kott (1914–2001), einer der bedeutenden Theatertheoretiker der Gegenwart, spezialisiert auf die Interpretation von Shakespeare-Dramen. Seit 1949 Professor für Literaturwissenschaft,

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für Estreicher kaum ein Trost gewesen sein, daß diese Kampagnen und Repressionen nicht auf Polen beschränkt waren, doch sie bestärkten seine Abneigung gegen das kommunistische Regime Polens und die Sowjetunion. Rezepte zur Herstellung von Obstwein und Schnaps, die Auflistung der Artikel, die er von seinen Auslandsreisen mitbrachte oder die Notiz über den Mangel an Zucker in Krakau im Februar 1960 verraten etwas von den materiellen Nöten des Alltags, die das Leben der Polen in wechselnder Intensität bis 1989/90 begleiteten und die nur dank der Schattenwirtschaft des Schwarzmarktes gelindert werden konnten.37 In dieser Situation beschäftigte Estreicher vor allem im Jahre 1959 eine Frage, die sich zwischen 1945 und 1990 viele Bewohner osteuropäischer Länder und der DDR stellten: Bleiben oder Gehen? Die Stellenangebote, die er bereits während des Krieges in den USA und in England erhalten hatte, hatte er ausgeschlagen, weil er in seine Heimat zurückkehren wollte. Und nach einer schlaflosen Nacht vom 31. März zum 1. April 1959 notierte er: „Warum bin ich 1946 mit dem Marienaltar nach Polen zurückgekehrt?“ Auch in späteren Jahren beschlichen ihn immer wieder Zweifel, ob es richtig gewesen sei, nach dem Kriege zurückzukehren.38 Handelte es sich 1939 und 1940 um eine konkrete Bedrohungssituation, so galt es in der Nachkriegszeit, die kulturelle Selbstbehauptung Polens zu stärken. Für Estreicher bedeutete das die Rückführung der Kulturgüter, die Wiederherstellung des Collegium Maius und die Arbeit an der Bibliographie. Die Verantwortung für diese drei Komplexe hielten ihn, trotz aller Zweifel, davon ab, das Land erneut zu verlassen, wie es viele polnische Intellektuelle und Künstler taten. Diese Haltung wurde immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Als Mitglied des polnischen Pen-Klubs gehörte Estreicher 1964 zu den Unterzeichnern eines Schreibens von 34 polnischen Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern, die damit gegen eine Verschärfung der Pressezensur und die Kürzung der Papierzuteilung für Verlage protestierten. Zu den Unterzeichnern gehörten unter anderem der Physiker Leopold Infeld, der Romancier Jerzy Andrzejewski (Autor von Asche und Diamant), der Shakespeare-Forscher Jan Kott, der Lyriker Antoni Słonimski sowie Mieczysław Jastrun. Die Verfasser forderten eine Änderung der polnischen Kulturpolitik im Geiste der Verfassungsrechte, da sie befürchteten, daß die chronische Papierknappheit des Landes als Vorwand dienen

trat 1957 aus der Kommunistischen Partei aus und emigrierte in die USA. Mieczysław Jastrun (1903–1983), Lyriker, Essayist, Publizist. 37 Hierzu die materialreiche Studie von Jerzy Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944–1989. Göttingen 2013. 38 Karol Estreicher: Dziennik wypadków. T. 5. 1973–1977. Kraków 2006.

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könnte, wichtige Werke polnischen Geistesschaffens nicht oder nicht in genügend hoher Auflage zu veröffentlichen. Außerdem waren sie der Meinung, daß die Vorzensur die freie Diskussion einengt. Dieser Vorgang fand auch im Ausland Beachtung, in der Bundesrepublik berichteten u.a. der Spiegel und Die Zeit darüber39, über Radio Free Europe erfuhren Hörer in Osteuropa davon. Estreicher bezieht sich wiederholt auf diesen Sender, den er am 10. März 1968 die „offizielle Opposition“ nennt. Die Ereignisse der Jahre 1968 und 1969 in Polen stehen in der allgemeinen Wahrnehmung im Schatten der Unruhen, die zur gleichen Zeit die Länder Mittel- und Westeuropas aufwühlten. In den Jahren 1968/69 erfaßte eine „Woge des Antisemitismus“ (Estreicher am 12. März 1968) das Land, die viele Polen jüdischer Abkunft aus dem Lande trieb, unter ihnen Freunde und Kollegen. Estreicher nannte diese Vertreibungen ein Verbrechen gegen das Menschenrecht und folgte damit der Haltung seiner Familie, die den polnischen Antisemitismus, wie er bereits in den dreißiger Jahren offen zum Ausbruch gekommen war, stets abgelehnt hatte. Im Frühjahr 1968, während der Demonstrationen gegen politische Repressionen und antisemitische Propaganda, stand Estreicher auf der Seite der Protestierenden und suchte seine Studenten zu schützen. Sicherheitskräfte schossen eine Tränengasgranate in sein Institut, die glücklicherweise nicht explodierte. In den Nachkriegsjahren hielt der damalige polnische Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz seine Hand über Estreicher, seine Angehörigen und seine Vorhaben. Als Anerkennung für ihre Widerstandsarbeit erhielt Estreichers Frau Teresa am 24. Januar 1960 durch Cyrankiewicz den Orden „Polonia Restituta“ verliehen, die zweithöchste Auszeichnung der Republik. Cyrankiewicz sorgte auch dafür, daß für die Wiederherstellung des Collegium Maius immer wieder Mittel bereitgestellt wurden und Estreicher 1955 einen Bezugschein zum Kauf eines PKW erhielt. Diese Verbindung dürfte die Genehmigung für Reisen Estreichers in die DDR, nach Belgien, Luxemburg, die USA und Kanada erleichtert haben. Dabei ging es um die Rückführung von Kunstschätzen, die noch in Kanada und in den USA lagerten, und um die Auffrischung persönlicher und dienstlicher Kontakte. Für Estreicher als Kunsthistoriker war auch die Begegnung mit Werken wichtig, die er noch nicht kannte oder die zu den Strömungen gehörten, die aus dem Geist der Zeit heraus in Polen verfemt waren. Unter den Museen und Ausstellungen, die er besuchte, hebt er die Expressionismus-Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin hervor. Zugleich nutzte er seine Reisen, um in 39 Vgl. General Gasrohr. In: Der Spiegel (1964)18, S. 84; Hansjakob Stehle: „Warum ist es in Polen so kalt?“ Das Protest-Memorandum der 34 – Warschauer Sorgen-Katalog. In: Die Zeit (1964)14 (Online-Version).

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den großen Bibliotheken vor Ort nach Polonica zu suchen. Diese Reisen waren für ihn in geistiger Hinsicht quasi Lebensmittel, eine Erfahrung, die er mit all denen teilte, die zu dieser Zeit in den „Westen“ reisen durften. Ergänzt wurden diese kulturellen Eindrücke um die Einkäufe von oft trivialen Dingen des täglichen Bedarfs, die in seinem Heimatland nicht zu erhalten waren. Großvater und Vater Estreichers waren musisch veranlagt, Gedichte für den Hausgebrauch sind überliefert, die Theaterliebe ist durch eigene Veröffentlichungen dokumentiert. Diese musische Veranlagung setzte sich zunächst in Estreichers kunsthistorischen Arbeiten fort, manifestierte sich aber in der düsteren Zeit am Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre in der Ausschau nach anderen Betätigungsfeldern. 1949 entwarf er das Libretto für eine Oper über Veit Stosz, doch wurde der Plan nicht weiter verfolgt. 1955 vollendete er den Roman Krystianna. Vordergründig geht es um die Rivalität von zwei Frauen vor dem Hintergrund der polnischen Geschichte am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Handlung ist reich an Intrigen, Geheimbündelei, Verrat, Liebe und spielt in Polen, Preußen, Frankreich, Italien, Österreich und in der sibirischen Verbannung einer der Akteurinnen. Die Auseinandersetzungen unter den polnischen Emigranten oder die Verwüstung eines polnischen Landgutes durch russische Truppen im Bunde mit polnischen Bauern sind mehr als Phantasieprodukte Estreichers. In historischem Gewande wird die Vielschichtigkeit der polnischen Geschichte dargestellt, in der der aufmerksame Leser Parallelen zur Gegenwart entdecken konnte. Dieser Ausflug in die Belletristik blieb singulär, lenkte aber Estreicher vermutlich von den Widrigkeiten dieser Jahre ab, ohne in billigen Eskapismus oder eine unkritische Verklärung der Vergangenheit abzugleiten. Bereits 1957 erschien der Roman im Volksverlag Weimar in der Übersetzung Kurt Harrers, der bis zu seinem Tode 1959 zahlreiche Werke aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt hatte. Estreicher würdigte ihn am 19. Januar 1959 in seinen Aufzeichnungen als einen Menschen, dessen Leben durch seine Herkunft aus der deutsch-polnischen Grenzregion geprägt wurde. In Krakau fand für ihn ein Trauergottesdienst statt. Mit dem Honorar, das Estreicher für den Roman in der DDR erhielt, finanzierte er dort seinen Aufenthalt. Da er nicht alles, was er und die Angehörigen in Polen brauchten, in der DDR erhielt, tauschte er sein Geld auch für Einkäufe in Westberlin ein. Estreichers Haltung blieb nicht ohne Folgen für ihn und seine Arbeiten. Die Mischung aus akademischem Futterneid und politischen Repressionen, die er schon in früheren Jahren kennengelernt hatte, überschattete auch die letzten Jahre seiner Berufstätigkeit, so daß er erst 1972 eine ordentliche Professur an der Universität Krakau erhielt. Die geistige Engführung der Zeit machte auch vor der bibliographischen Arbeit nicht Halt. Verbittert notierte er, daß in bibliographischen Verzeichnissen Name und Werk seines Großvaters unerwähnt blie-

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ben oder marginalisiert wurden, wodurch er aus der geisteswissenschaftlichen Überlieferung verdrängt werden sollte.40 In Józef Korpałas Abriß der Geschichte der Bibliographie in Polen (Leipzig 1957) wird nur die Arbeit seines Großvaters erwähnt; zugleich werden in dieser und auch noch in der polnischen Ausgabe von 1986 die Leistungen ausländischer, also auch nichtdeutscher Bibliographen lediglich in Nebensätzen, Fußnoten und Anmerkungen erwähnt. In der Neuauflage des Nowy Korbut von 1968, einer wichtigen Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur zu polnischen Schriftstellern, fehlt der Name Estreichers überhaupt! Es war eine Praxis, die der mittelalterlichen damnatio memoriae vergleichbar ist, der Auslöschung der Erinnerung an unliebsame Personen und Sachverhalte und die nicht auf Polen beschränkt war. Am Ende der sechziger Jahre mußte sich Estreicher gegen Versuche wehren, die Bibliografia Polska in Bibliografia Narodowa umzunennen, so daß der Name des Urhebers aus der Öffentlichkeit verschwunden wäre. 1976 ging Estreicher in den Ruhestand. Als er am 29. April 1984 in Krakau starb, hatte er mit dem Entstehen der Solidarność-Bewegung noch den Beginn von Veränderungen erlebt, die er zeitlebens ersehnt hatte, war aber auch Zeuge der Folgen des Ausnahmezustandes geworden, den die Regierung als Gegenmaßnahme verhängte und der zu neuen Repressionen führte. Die drei großen Tätigkeitsfelder Estreichers, seine kunsthistorischen Studien, die Restaurierung des mittelalterlichen Collegium Maius und die Fortführung der Bibliographie machen ihn zu einem einflußreichen Kulturpolitiker, dessen Bestreben es war, Polen im Bereich der christlichen, vom mediterranen Raum geprägten Kultur zu halten41, um damit einen Gegenpol zu den Einflüssen aus der Sowjetunion zu bilden. In einer Tagebuchnotiz vermerkte er 1972, daß Krakau seit dem Aufstand Kościuszkos 1794 immer ein Zentrum der antirussischen Bewegungen gewesen sei. 1959 war es soweit, daß der 1. Band der 2. Auflage der Bibliografia Polska erscheinen konnte, der in einem Alphabet die Titel des 19. Jahrhunderts verzeichnete, die bis dahin auf mehrere Bände verteilt waren. Im Vorwort, das auch in französischer Übersetzung erschien, zieht Estreicher eine Bilanz der fast neunzigjährigen bibliographischen Arbeit von Vater und Großvater. Es ist die Antwort an alle, die Estreicher persönlich angegriffen hatten und sich der Fortführung der Bibliografia Polska entgegengestellt hatten. Kollegen und

40 In der politisch gespannten Situation der sechziger Jahre sucht der Aufsatz von Jadwiga Grzybowska: Karol Estreicher (1827–1908). In: Księga pamiatkowa ku czczi Karola Estreichera (1827–1908). In: Studia i rozprawy. Kraków 1964, S. 7–28 diesen Tendenzen zu begegnen. 41 Vgl. Zbigniew Witek in Karol Estreicher: Dziennik wypadków. T. 4. 1967–1972. Kraków 2004, S. 9.

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Freunde wie der angesehene Krakauer Literaturwissenschaftler Stanisław Pigón hatten ihn zur Veröffentlichung ermutigt. Nach Estreichers Worten zeigt die Bibliographie, daß das 19. Jahrhundert trotz der Teilung Polens „une sorte de second âge d’or“, eine Art zweites goldenes Zeitalter der polnischen Kultur gewesen sei, in dem sich die Blüte der Wissenschaften, wie sie unter König Stanislaus August begonnen hatte, fortsetzte.42 Er konnte weder eine Begriffsbestimmung von Polen und Polnisch vornehmen, wie sie sein Großvater versucht hatte, noch über den Verlust der polnischen Ostgebiete schreiben, doch die Westverschiebung des polnischen Staatsgebietes bis an Oder und Neiße setzte neue Akzente. Die Veröffentlichungen aus den ehemals deutschen Gebieten wurden in die Bibliographie aufgenommen, soweit sie sich auf diese Regionen bezogen. Damit wurde das deutsche intellektuelle und kulturelle Erbe dieser Regionen gewürdigt, das nach dem Kriege negiert und nicht selten Opfer einer politisch motivierten Geschichtsklitterung geworden war. Die schlimmen Erfahrungen der zurückliegenden Jahre wurden auf polnischer wie auf deutscher Seite politisch und propagandistisch instrumentalisiert, sodaß die wenigen Stimmen, die sich um Aussöhnung und Verständigung bemühten, mitunter argwöhnisch betrachtet wurden. Es gibt vermutlich kaum einen Bibliographen, bei dem die Zeitereignisse stärkere Spuren hinterlassen haben als bei Karol Estreicher, doch es sind gerade diese Erfahrungen, die ihn an Traditionen anknüpfen lassen, die das Europäische, das Grenzüberschreitende, ins Gedächtnis zurückrufen. Die Vorbehalte gegenüber dem übermächtigen russischen Nachbarn waren in der Familientradition der Estreicher tief verwurzelt. Der Großvater konnte sie in statistische Erhebungen zur osteuropäischen Buchproduktion und philologische Überlegungen kleiden, der Enkel mußte sie in seinen Aufzeichnungen verstecken, als er im Herbst 1949 notierte, daß nicht Deutschland, sondern die Sowjetunion das Problem sei. Und so würdigt er im Vorwort der zweiten Auflage der Bibliografia Polska ausführlich die Leistungen des deutschen Volkes, das trotz nationalistischer und feindseliger Stimmen durch seine „activité laborieuse“ zum Aufbau der polnischen Kultur beigetragen habe. In der Erweiterung der Bibliographie um die einschlägigen Veröffentlichungen über die Westgebiete spiegelt sich für Estreicher „le labeur et l’apport culturel du peuple allemand, mais aussi ses graves méfaits.“43 In einer Zeit, in der die Erinnerung an gerade Durchlebtes noch ebenso lebendig wie der aktuelle politische Druck stark war, 42 Karol Estreicher: Bibliographie polonaise de XIXème siècle. 2. Éd. T. 1. Cracovie 1959, S. LXII. 43 Karol Estreicher: Bibliographie polonaise du XIXème siècle. 2. Éd. T. 1. Cracovie 1959, S. LXVII.

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formulierte Estreicher Sätze, die versöhnlich und versöhnend klingen, in die er auch die litauischen und ukrainischen Nachbarn einbezieht und die als Resümee der grenzüberschreitenden Arbeit der Bibliographen Europas gelten können: Un beau paysage qui s’étend au delà de la frontière réjouit les habitants de deux pays: voilà l’image qui naît en nous lorsque nous lisons dans la Bibliographie les titres des travaux de nos voisins concernant la Pologne.44

Diese Haltung bekräftigte er persönlich, als er sich am 22. August 1960 ins Gästebuch der Universitätsbibliothek Leipzig eintrug: Von der Geschichte deutsch-polnischer Beziehungen im XIX. Jahrh. sollte man jetzt das Positive hervorheben, an erster Stelle die mannigfachen kulturellen Beziehungen: z.B. Mickiewicz’ Aufenthalt in Weimar, die polnischen Maler in München, Kraszewski’s Aufenthalt in Dresden, die Freundschaft zwischen Stanisław Przybyszewski und Richard Dehmel. Eine große und gut ausgestattete Bibliothek wie die Universitäts-Bibliothek in Leipzig dient in hervorragendem Maße solchem Ziel.45

Aus dieser Haltung heraus sprach sich Estreicher dagegen aus, die Bestände der Preußischen Staatsbibliothek Berlin, die während des Krieges nach Schlesien ausgelagert worden waren, als Entschädigung für die polnischen Verluste an Kulturgütern in den Bestand der Jagiellonischen Bibliothek einzuarbeiten, sondern befürwortete die Rückführung der Bestände nach Berlin. Dahinter stehen die Erfahrungen, die er als Monument Man bei der Sicherung und Bergung von Kulturgut gemacht hatte. Zugleich wäre die Rückgabe der Bestände ein Signal an die Sowjetunion gewesen, in der sich noch immer polnische Kulturgüter befanden, die durch die Kriegsfolgen dorthin gelangt waren. Estreicher sah es als seinen persönlichen Erfolg an, daß er trotz aller Schwierigkeiten bis 1972 10 Bände der Bibliografia Polska für das 19. Jahrhundert herausgegeben hatte, auch wenn die öffentliche Resonanz gering blieb. Mit dieser Arbeit war auch eine für polnische Verhältnisse ansehnliche Honorierung verbunden. Nach eigenen Angaben erhielt er 1972 für den Band H der Bibliografia Polska des 19. Jahrhunderts 22000 Złoty. Die Arbeit an der Bibliographie wurde dadurch begünstigt, daß ein US-amerikanischer Verlag einen unveränderten Neudruck der bisher erschienenen Bände veranstaltete. Es war eines der vielen Reprintvorhaben, mit denen seit den sechziger Jahren große Verlage in Westeuropa und den USA auf den Bedarf an älteren, längst vergriffenen 44 Karol Estreicher: Bibliographie polonaise du XIXème siècle. 2. Éd. T. 1. Cracovie 1959, S. LXIII. 45 Estreicher, Dziennik wypadków, T. 2, S. 751.

164  Nil desperandum – die Bibliografia Polska als Teil der nationalen Selbstfindung

Nachschlagewerken reagierten, die aus dem Bedarf neugegründeter Bibliotheken und Forschungsvorhaben entstanden. Die Deviseneinnahmen aus dem Nachdruck und aus den neu erscheinenden Bänden waren dem polnischen Staat, der wie alle osteuropäischen Staaten unter dauerndem Devisenmangel litt, hochwillkommen. Leben und Werk der drei Generationen der Estreicher sind in den letzten Jahren zum Thema zahlreicher polnischer Publikationen geworden. Die Veröffentlichungen der umfangreichen Tagebücher (Dziennik wypadków) Karol Estreicher des Jüngeren und eine noch nicht abgeschlossene mehrbändige Biographie vermitteln einen umfangreichen Einblick in sein Leben und Wirken. Eine Büste im Hof des Collegium Maius erinnert seit Kurzem an ihn, ein Museum in seinem Wohnhaus in einem Vorort Krakaus würdigt die Leistungen der Familie. Ein Stab von Mitarbeitern führt heute die Bibliographie fort und erweitert sie durch die Zusammenarbeit mit anderen Ländern um unbekannte oder bisher unzugängliche Bestände von Polonica. Die Mitarbeiter fühlen sich dem bibliographischen Ethos der Estreicher verbunden und gewinnen aus dieser Traditionslinie den Rückhalt, um sich gegen die Instrumentalisierung des Unternehmens für enge nationalistische und tagespolitische Zwecke zur Wehr setzen zu können. Sie berufen sich im Jahre 2012 auf die bereits zitierten Sätze Estreichers aus dem Jahre 1959 und wenden sich gegen Bestrebungen, die all das auszublenden suchen, was nicht den gängigen politischen Anschauungen entspricht: Es geht darum, die polnische Literaturgeschichte vor dem Verdrängen von Elementen unseres gemeinsamen Kulturerbes zu bewahren, die nicht in das heutzutage dominierende national-konfessionelle Modell passen. Ähnliche Absichten hatten wohl auch die drei Generationen der Estreicher, die ohne jegliche Zweifel auch orthodoxe Drucksachen, darunter auch Werke in kyrillischer Schrift, in ihrer Bibliographie berücksichtigten. Auch mit dieser Überzeugung blieben sie über lange Jahre hinweg relativ isoliert.46

46 Nastulczyk: Mehrsprachiges Schrifttum, S. 9.

Editorische Notiz Die Artikel haben ihre Anfänge in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als der Verfasser Notizen und Kopien in Bibliotheken und Archiven sammelte, sie „getrost nach Hause trug“ und die Ergebnisse seiner Recherchen veröffentlichte, soweit es die Vorgaben der Redaktionen zum Umfang der Artikel zuließen. Als ich mich später mit bibliotheks- und kulturpolitischen Vorgängen der jüngsten Zeit beschäftigte, deren Zeuge ich zum Teil noch geworden war, erinnerte ich mich erneut dieser Arbeiten. Die neuen Recherchemöglichkeiten brachten nicht nur neue Erkenntnisse, sie waren auch der Anstoß, um sich den hier versammelten Autoren erneut zu widmen. Sie stehen zunächst für die kulturellen Traditionen ihrer Herkunftsländer, doch in Zeiten, in denen kulturelle Leistungen für nationalistische Ziele mißbraucht wurden und werden, sind sie mit ihrem vorurteilsfreiem Blick auf die Leistungen ihrer Kollegen und Freunde jenseits der Grenzen Europäer – daran galt es zu erinnern.

https://doi.org/10.1515/9783110649369-010

Register Alberti, Conrad 122 Aldus Manutius 14 Alfieri, Vittorio 51 Althoff, Friedrich 124 Amman, Jost 31 Andrae, Walter 68 Andrzejewski, Jerzy 158 Arndt, Ernst Moritz 15 Ashbee, Henry Spencer 21, 118, 120 Bailly, Alexander 64 Bakunin, Michail 105 Barbier, Antoine-Alexandre 6, 11, 27, 31, 125 Barbier, Olivier 31 Bartels, Max 122 Bayer, Franz 115, 119 Beccadelli 119 Beer, Johann 126 Benthem, Heinrich Ludolf 101 Bernhardy, Gottfried 68 Bernhart, Johann Baptist 58, 59, 62, 64 Besterman, Theodore 9 Bielkowski, August 148 Bismarck, Otto von 145 Blei, Franz 119 Bloch, Ivan 117 Bode, August 48–50 Bode, Johann Elert 48 Bohatta, Hanns 17, 98, 109, 121, 124–127, 130, 131, 134 Bohn, Henry George 4, 5, 9, 37, 38, 40–47, 83 Börne, Ludwig 17, 30, 59–61, 75, 122, 132 Bossard, Johann 112, 113 Boucher de la Richarderie, Gilles 6 Bouhler, Philipp 19 Bouilly, Jean Nicolas 52 Bowdler, Thomas 23, 102 Brandes, Georg 122 Braverman, Carole 110 Breitkopf & Härtel 129 Brockhaus, Friedrich Arnold 35, 50–61, 63, 64, 72, 92, 140, 148 Brockhaus, Hermann 72 Brückner, Alexander 150, 151 https://doi.org/10.1515/9783110649369-011

Brunet, Gustave 15, 21, 32, 81, 83, 105, 118 Brunet, Jacques-Charles 1, 4, 7–9, 11, 15, 20, 26, 28–36, 39, 52, 66, 72, 78, 92, 105 Brunet, L. 30 Bülow, Eduard von 105 Bure, Guillaume-François de 27, 28 Burger, Konrad 65 Butler, Samuel 40 Büttner, Christian Wilhelm 49 Cailleau, André Charles 28 Camoens, Luis de 33 Campe, Julius 30 Canaletto, Bernardo Bellotto 155 Cervantes Saavedra, Miguel de 33, 102 Chézy, Helmine von 80 Chopin, Fréderic 152 Churchill, Winston 154 Cleland, John 23 Coleridge, Samuel 40 Copinger, Walter Arthur 9, 65 Cordasco, Francesco 41, 47 Cotta, Johann Friedrich 60–63 Coxe, William 52 Cranach, Lucas 155 Cushing, William 126, 127 Cyrankiewicz, Józef 156, 159 Cyrillus 70 Czartoryski: Familie 140, 155 Dahlmann, Peter 125 Dante Alighieri 50, 86 Darnton, Robert 102 Darwin, Charles 40 Dehmel, Richard 163 Denis, Michel 4 Deschamps, Pierre 15, 32, 36 Dewey, Melvil 91 Dibdin, Thomas Frognall 28, 29, 37, 41 Dickens, Charles 41 Docen, Bernhard Joseph 58, 64 Doorninck, Jan Izaak van 125 Droysen, Gustav 77 Duclos, Charles Pinot 28 Dünnhaupt, Paul 20 Działyński: Familie 140

168  Register

Ebert, Friedrich Adolf 8, 10–12, 14, 15, 26, 34–36, 42, 52, 53, 55, 58–60, 62, 63, 66, 68–70, 72, 85, 90, 92, 95 Echtermeyer, Ernst Theodor 68 Eckermann, Johann Peter 23, 102 Eckmann, Otto 129 Emerson, Ralph Waldo 109 Englisch, Paul 22, 100, 101, 116–118 Ennemoser, Joseph 80 Ersch, Johann Samuel 34 Estienne, Henri 14 Estreicher, Aloys 135 Estreicher, Karol der Ältere 18, 92, 93, 135– 140, 142–149, 155, 161 Estreicher, Karol der Jüngere 18, 24, 149, 151–164 Estreicher, Stanisław 18, 149, 150 Estreicher: Familie 1, 135, 164 Falkenstein, Konstantin Karl 73 Fernow, Carl Ludwig 52 Field, Eugene 47 Firmin-Didot, Ambroise 31 Fischart, Johann 21 Flaubert, Gustave 65 Flügel, Gustav Leberecht 72 Forberg, Friedrich Karl 10, 14, 15, 90, 119 Forel, August 117 Frankfurter, Salomon 12, 121, 126, 134 Franz Joseph I. 140 Fresenius, Carl Remigius 111 Freud, Sigmund 117 Friedmann, Otto Bernhard 132 Friedrich August II.: König von Sachsen 69 Frobenius, Leo 111 Fuller, Margaret 109, 110 Funke, Wilhelm 131 Garber, Claus 20 Garcke, Louis 64, 65 Gay, Jeanne-Desirée 105 Gay, Jules 22, 76, 105, 106, 120 Geibel, Emanuel 80 Genast, Anton 50 Gennadi, Grigorij Nikolaevič 90, 98 George III. 41 Georgi, Theophil 2 Gerhardt, Paul 68

Gerold, Carl 55 Gervinus, Georg Gottfried 70, 73 Gilhofer und Ranschburg 131 Goedeke, Karl 8, 118, 127 Goethe, Johann Wolfgang von 2, 8, 23, 49– 51, 64, 72, 76, 84, 102, 128, 131, 132 Goldschmidt, Abraham 110 Goldstein, Arthur 129, 134 Gomringer, Eugen 23 Görres, Joseph 131 Gotendorf, Adele 110 Gotendorf, Alfred N. 100, 109–115, 117–119 Gotendorf, James N. 110 Gotendorf, Nanny 110 Gotendorf, Silvanus 110 Gotthold, Friedrich August 49 Grabbe, Christian Dietrich 131 Grabowski, Ambrožy 140 Graesel, Arnim 11, 97 Graesse, Johann Georg Theodor 4, 8, 12, 15, 26, 34–36, 66, 68–78, 80–86, 92, 105 Graesse, Johann Gottlob 68 Grassauer, Ferdinand 124 Greeley, Horace 109, 110 Grenville, Thomas 39 Grimm, Jacob 79, 81 Grimm, Wilhelm 79 Grimm: Brüder 68, 79 Grimmelshausen, Johann Jacob 13, 21, 126 Guljanov, Ivan Aleksandrovič 72 Günther, Karl Gottlob 104 Gutenberg, Johannes 8, 58, 87, 152 Gutzkow, Karl 75 Haebler, Konrad 48, 63 Hagen, Friedrich Heinrich von der 49, 80 Hahn, Christian 56 Hain, Ludwig 4, 9, 10, 24, 34, 35, 48–65 Halkett, Samuel 125 Hammer, Peter: s. Marteau, Pierre Hammer-Purgstall, Joseph von 72 Hanke, Henriette Wilhelmine 76 Harrer, Kurt 160 Harrwitz, Max 134 Hart, Heinrich 111 Hartwig, Otto 21, 91, 124 Haude 50

Register

Hawthorne, Nathaniel 109, 110 Hayn, Adolph 106, 108 Hayn, Hugo 4, 14, 21, 22, 34, 100, 102, 104– 110, 112–120, 131 Hebbel, Friedrich 122 Heber, Richard 40 Heine, Heinrich 59, 75, 80 Heinse, Johann Jakob Wilhelm 76 Heinsius, J. W. 6, 52, 127 Heres, Gerald 81, 84 Hermann, Gottfried 12, 68, 85 Herzog, Karl 108 Hesse, Hermann 81 Hirschfeld, Magnus 117 Hirsching, Friedrich Carl Gottlob 97 Hirzel, Hermann 112, 129 Hitzig, Eduard 143 Hodes, Franz 131 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 143 Hofmannsthal, Hugo von 140 Holzmann, Michael 17, 98, 109, 121–128, 130–134 Holzmann, Moritz 121 Houben, Heinrich Hubert 111, 113 Howe, Julia Ward 110 Humboldt, Wilhelm von 68, 84 Infeld, Leopold 158 Ippel, Eduard 127 Jackson, John 45 Jacobowski, Ludwig 111, 113 Jacobs, Friedrich Christian Wilhelm 15, 16 Jacobus de Voragine 70, 81 Jaeck, Joachim Heinrich 90 Jaennicke, Friedrich 83 Jahn, Friedrich Ludwig 15 Jastrun, Mieczysław 157, 158 Jellinek, Arthur L. 128 Johann: König von Sachsen 85 Johnson, Samuel 37 Kannegießer, Carl Ludwig 50 Klaproth, Julius 48–50, 63 Klemm, Gustav Friedrich 69, 70, 73, 84, 104 Klinckowstroem, C. von 115 Klinger, Friedrich Maximilian 75 Kock, Paul de 65 Kolmann, August Friedrich Christian 41



169

König, Friedrich 7 Korf, Modest Andreevič 12, 33, 89 Korff: s. Korf Korpała, Józef 161 Kościuszko, Tadeusz 49, 156, 161 Kott, Jan 157, 158 Kraszewski, J. J. 88, 163 Krenner, Franz von 103, 107, 108 Kuntze, Rudolf 78 Kunze, Horst 34, 97 Kürschner, Joseph 91, 107 Lafontaine, Henri 5, 45 Laing, John 125 Lasker-Schüler, Else 111 Lasocka, Teresa 156 Laube, Heinrich 132 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21 Lelewel, Joachim 146 Lenz, Jakob Michael Reinhold 74 Leo, Heinrich 69, 70 Leonardo da Vinci 155 Leonhardt, Karl Ludwig 115, 119 Lessing, Gotthold Ephraim 113, 128 Liedtke, Antoni 152 Locke, John 32 Longchamps de Bérier 149 Longchamps de Bérier, Helene 149 Lowndes, William Thomas 4, 8, 9, 26, 34, 36–47, 66 Ludwig I. 104 Ludwig II. 107 Maassen, Carl Georg 115 Malthus, Robert 40 Marlowe, John 40 Marschalk von Ostheim, Emil Freiherr von 18, 19 Marteau, Pierre 17, 21, 51, 101 Marx, Karl 105 Maximilian I. 103 May, Karl 113 Melzi, Gaetano 125 Menzel, Wolfgang 75, 131 Meredith, William 39 Metternich, Klemens Wenzel von 55 Meusel, Johann Georg 34, 66, 97, 126 Mickiewicz, Adam 50, 136, 140, 146, 163

170  Register

Milchsack, Gustav 127 Molbech, Christian 11, 15, 95 Montez, Lola 104 Morski, Tadeusz 49 Moss, Joseph William 42 Muczkowski, Józef 136 Mühlner, Manfred 85, 93 Müller, Georg 114 Mutzenbacher, Sofie 23 Napoleon Buonaparte 6 Narat, Durand 31 Nathan, James: s. a. Gotendorf, James N. 109, 110 Naumann, Robert 12, 68, 85, 87 Nestler, Friedrich 9 Nikolaus Pergamenus 70 Nizâmî 49 Nodier, Charles 4, 27, 30 Nowakowski, T. 92, 148 Oegg, Anton 11 Oesterreicher d. Ä., Dominik 135 Oesterreicher, Dominik 135 Oesterreicher, Josef 135 Ossoliński: Magnatenfamilie 136 Otlet, Paul 5, 45 Ottmann, Victor 108, 109, 115 Owen, Robert 105 Paalzow, Johannes 127 Paas, Roger 13, 20 Panzer, Georg Wolfgang 29, 34, 58–60, 65 Peignot, Gabriel 6, 27 Pellechet, Marie-Louise 9, 65 Pertz, Georg Henrich 15–17 Pettersen, Hjalmar 126 Petzholdt, Alexander 88 Petzholdt, Hermine 86 Petzholdt, Johann Gottlieb Samuel 85 Petzholdt, Johannes 86 Petzholdt, Julius 5, 8, 9, 11, 12, 14, 36, 63, 68, 70, 73, 78, 81, 85–88, 90–98, 140, 147, 148 Pfeilschifter, Johann Baptist von 59 Pfister, Philipp 107 Pfitzner, Hans 111 Pfund, Theodor Gottfried Martin 106 Pickering, William 40, 42

Pigón, Stanisław 162 Pisanus Fraxi: s. Ashbee, Henry Spencer Placcius, Vincentius 125 Planer, Charlotte 131, 132 Pokorny, Julius 124 Portheim, Max von 127, 132 Posl, J. Hans 130 Postl, Karl Anton: s. Sealsfield, Charles Potocki: Familie 140 Prutz, Robert 65, 77 Przybyszewski, Stanisław 163 Pufendorf, Samuel 68 Pustkuchen, Johann Friedrich Wilhelm 131 Quaritch, Bernard 41 Quérard, Joseph Marie 125 Rabelais, François 33 Rademacher, Hartwig 21 Rafalski, Walenty 140 Ranke, Leopold von 106 Rath, Erich von 48 Ratjen, Henning 11, 15, 17 Raumer, Friedrich von 49 Reichard, Hermine: s. Petzholdt, Hermine Reichling, Dietrich 65 Rembrandt Harmensz van Rijn 155 Renouard, Antoine-Augustin 6, 9, 11, 12, 14, 15, 27 Reuter, Christian 126 Riemer, Friedrich Wilhelm 50 Rittner, Werner 19 Ronsard, Pierre de 33 Rose, Valentin 106 Rosenbaum, Alfred 127, 134 Rosenberg, Alfred 19 Rothe, Edith 85–87 Rousseau, Jean-Jacques 32 Roux, Pierre 6 Rozbierska, Antonina 136 Rubens, Peter Paul 155 Rüdiger. Johann Christoph Christian 49 Ruge, Arnold 68 Ruland, Anton 93, 94 Rullmann, Friedrich 90 Sacy, Silvestre de 31, 33 Sade, Donatien-Alphonse-François de 23 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 33

Register

Saubertus, Johannes 58 Scherer, Joseph 58, 104 Scherer, Wilhelm 122 Schiller, Friedrich 42, 128 Schlaf, Johannes 111 Schlichtegroll, Adolf Heinrich Friedrich 60 Schlichting, Johann Georg von 146 Schmeller, Johann Andreas 64, 103, 104 Schnapper-Arndt, Gottlieb 132 Schneider, Georg 9, 93 Schnorr von Carolsfeld, Franz 60, 108 Schnorr von Carolsfeld, Hans 108 Schrettinger, Martin 11, 12, 85, 95, 104 Schüddekopf, Carl 128 Schütze, Stephan 50 Schwenke, Paul 98 Scott, Walter 43 Sealsfield, Charles 132 Sedlnitzky, Josef 55 Sengle, Friedrich 2 Shakespeare, William 23, 33, 43, 52, 102, 140, 157 Sievers, Georg Ludwig Peter 59 Sigusch, Volkmar 119, 120 Sikorski, Władysław 152, 153 Silvestre, Louis Catherine 31 Simonde de Sismondi, Jean-CharlesLéonard 52 Słonimski, Antoni 157, 158 Sobol'ščikov, Vasilij Ivanovič 12 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 49 Sotades 105 Sotheby: Auktionshaus 40 Spaun, Franz von 131 Srbik, Heinrich Ritter von 124 Stalin, Iosef Vissarionovič 19 Stammhammer, Joseph 17 Stein, Henri 93 Steiner, Rudolf 111 Stobbe, Horst 115 Sudermann, Hermann 108 Sue, Eugène 65, 80 Swift, Jonathan 43



Szysko-Bohusz, Adolf 151 Tedder, H. K. 91 Thibiage, M. de 64 Tieck, Ludwig 79, 80 Trommsdorff, Paul 130 Van Praet, Joseph 27 Vasmer, Max 150 Veblen, Thorsten 30 Venette, Nicolas 102 Verner, Carl 124 Vogel, Ernst Gustav 98 Vorstius, Joris 19 Voß, Johann Heinrich 50, 52 Voß, Johann Heinrich d. J. 50 Vulpius, Christian August 42 Vulpius, Christiane 50 Wachler, Ludwig 72 Wagner, Richard 80 Watt, Robert 37 Watteau, Antoine 155 Weber, Carl Maria von 81 Weber, J. J.: Verlag 95 Weise, Christian 21 Weitzel, Johannes 15–17 Welcker, Karl Theodor Georg 15–17 Weller, Emil 17, 83, 125 Werner, Richard Maria 122, 123 Westermann, Anton 85 Westermann, Diedrich Hermann 150 Wilde, Oscar 117 Wininger, Salomon 132 Wiszniewski, Michał 136 Witkowski, Georg 128, 134 Witte, Teodor 138 Witzschel, Karl Gottlob 68 Władysław IV. Wasa 146 Wohl, Jeannette 59, 132 Wolf, Friedrich August 48 Wolzogen, Ernst von 111 Zainer, Günter 137 Załuski, Andrzej Stanisław 156 Załuski, Józef Stanisław 156

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