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German Pages [233] Year 2019
Franz-Alois Fischer
Das Recht und seine Voraussetzungen Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion von Hegels Rechtsbegriff
BAND 92 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495817056
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Bert Heinrichs, Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 92
https://doi.org/10.5771/9783495817056 .
Franz-Alois Fischer
Das Recht und seine Voraussetzungen Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion von Hegels Rechtsbegriff
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Franz-Alois Fischer Law and its prerequisites A jurisprudential reconstruction of Hegel’s legal concept The question of a »third way« in the justification of law beyond natural law and legal positivism keeps the philosophy of law in suspense to this day. On the basis of specific legal issues, this investigation reconstructs Hegel’s legal concept as an independent draft against the legitimacy models of modernity. Starting from a legal state that does not derive from a natural state, Hegel represents a decidedly antidualistic concept of law, which entails a primacy of law and thus of the spirit before nature. In this way, Hegel sees the peculiar relation of law to its prerequisites.
The Author: Franz-Alois Fischer studied law and philosophy in Erlangen, Würzburg, Berlin and Munich. He was awarded his Phd for this thesis in 2017 by Professor Hutter from the Faculty of Arts of LMU. After academic posts with Professor Horst Dreier (constitutional law and legal philosophy) in Würzburg and Professor Susanne Lepsius (legal history) in Munich, he is currently an independent lawyer, lecturer in philosophy and public law and a freelance author in Munich.
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Franz-Alois Fischer Das Recht und seine Voraussetzungen Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion von Hegels Rechtsbegriff Die Frage nach einem »Dritten Weg« der Rechtsbegründung jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus hält die Rechtsphilosophie bis heute in Atem. Auf Grundlage spezifisch juristischer Fragestellungen rekonstruiert diese Untersuchung Hegels Rechtsbegriff als einen eigenständigen Entwurf gegen die Legitimationsmodelle der Moderne. Ausgehend von einem Rechtszustand, der sich nicht von einem Naturzustand ableitet, vertritt Hegel einen dezidiert antidualistischen Rechtsbegriff, dem ein Vorrang des Rechts und damit des Geistes vor der Natur eingeschrieben ist. So bekommt Hegel das eigentümliche Verhältnis des Rechts zu seinen Voraussetzungen in den Blick.
Der Autor: Franz-Alois Fischer studierte Rechtswissenschaften und Philosophie in Erlangen, Würzburg, Berlin und München. Er wurde mit dieser Arbeit 2017 bei Prof. Dr. Hutter an der Philosophischen Fakultät der LMU promoviert. Nach akademischen Stationen bei Prof. Dr. Horst Dreier (Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie) in Würzburg und Prof. Dr. Susanne Lepsius (Rechtsgeschichte) in München ist er derzeit selbständiger Rechtsanwalt, Dozent für Philosophie und Öffentliches Recht sowie freier Autor in München.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48959-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81705-6
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1
Das Recht und seine Voraussetzungen . . . . . . . . . .
13
1.1
Verfahren und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . .
13
1.2 Das Schweigen des Rechts zu seinen Voraussetzungen . . 1.2.1 Der rechtspositivistische Erklärungsansatz . . . . . . . 1.2.2 Der naturrechtliche Erklärungsansatz . . . . . . . . . .
16 18 21
1.3
Die Suche nach dem dritten Weg jenseits von Rechtspositivismus und Naturrecht . . . . . . . 1.3.1 Das »Böckenförde-Diktum« . . . . . . . . . . . 1.3.2 Die Weiterführung der Debatte . . . . . . . . . 1.3.2.1 Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.2 Josef Isensee . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Hegel-Bezug bei Böckenförde, Kirchhof, Isensee
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
21 22 26 26 30 31
1.4
Hegels Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
1.5
Methodik: Rechtsphilosophische Rekonstruktion . . . . .
37
1.6
Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
ERSTER TEIL: RECHTSZUSTAND OHNE NATURZUSTAND 2
Rechtszustand ohne Naturzustand . . . . . . . . . . . .
47
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3
Explizite Auseinandersetzung mit dem Naturzustand Naturrechtsaufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte . §§ 432 f. der Enzyklopädie (Anerkennungskampf) .
50 51 56 59
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7
Inhalt
2.1.4 Anmerkung zu § 502 der Enzyklopädie . . . . . . . . . 2.1.5 Anmerkung zu § 93 der Grundlinien . . . . . . . . . .
61 62
2.2 Gibt es einen (impliziten) Naturzustand bei Hegel? . . . 2.2.1 Der Gedanke des Naturzustands . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Dualismus des Naturzustandsdenkens . . . . . 2.2.1.2 Der Naturzustand als Narrativ vom Ursprung . 2.2.1.3 Naturzustand und Natur der Sache . . . . . . . 2.2.2 Herr und Knecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Antike Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Übergang von der Natur- in die Geistphilosophie in der Enzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist in der Enzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Willensdialektik in der Einleitung der Grundlinien . .
. . . . . . .
66 66 67 71 73 76 82
.
86
. .
93 96
2.3
Hegels Kritik an der abstrakten Differenz von Recht und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Naturrechtsaufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Hegels Kant-Kritik in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . .
100 101 104
2.4
Systematische Gründe gegen einen Naturzustand bei Hegel
106
2.5
Zusammenfassung zum ersten Teil . . . . . . . . . . . .
113
ZWEITER TEIL: RECHT OHNE NATUR? 3
Recht ohne Natur?
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
3.1 Recht und Natur im abstrakten Recht . . . . . . 3.1.1 Eigentum und Besitz . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Eigentum und Besitz im abstrakten Recht 3.1.1.2 Das Zusammenspiel von Recht und Natur 3.1.1.2.1 Individuum – Sache . . . . . . 3.1.1.2.2 Besitz – Eigentum . . . . . . . 3.1.2 Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Vertrag im abstrakten Recht . . . . . . . 3.1.2.2 Das Zusammenspiel von Recht und Natur 3.1.2.2.1 Willenstheorie . . . . . . . . . 8
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. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
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121 122 123 127 127 133 136 136 138 139
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Inhalt
3.1.2.2.2 Hegels Vertragsbegriff und die Willenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.1 Das Recht gegen das Unrecht im abstrakten Recht . 3.1.3.2 Das Zusammenspiel von Recht und Natur . . . . 3.1.3.2.1 Zwei Zwangstheorien des Rechts . . . . 3.1.3.2.2 Vereinbarkeit einer Zwangstheorie des Rechts mit Hegels Rechtsbegriff? . . . . 3.1.4 Der Begriff der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Zusammenfassung zum Verhältnis von Natur und Recht; Vorausblick auf den dritten Teil der Arbeit . . . . . . .
3.2 Beispiele aus dem heutigen BGB . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Willenserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Besitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Besitz und Eigentum . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Unmittelbarer Besitz und Eigentum . . . . . . 3.2.2.3 Tatsächliche Sachherrschaft und Eigentum/Besitz 3.2.3 Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3
141 145 146 150 150 154 158 163
. . . . . . .
164 166 173 175 177 180 181
§ 502 Enzyklopädie als Konzentrat der Stärken und Defizite des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
184
DRITTER TEIL: STÄRKEN UND DEFIZITE DES RECHTSBEGRIFFS 4
Stärken und Defizite des Rechtsbegriffs
. . . . . . . . . 191
4.1 Stärken des Hegel’schen Rechtsbegriffs . . . . . . . . 4.1.1 Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Das Stabilitätsproblem am Beispiel von Hobbes 4.1.1.2 Hegels Vermeidung des Stabilitätsproblems . 4.1.2 Keine Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Das Melancholie-Problem am Beispiel von Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.2 Hegels Vermeidung des Melancholieproblems 4.1.3 Einheit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
192 193 194 196 198
. . 198 . . 200 . . 201
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Inhalt
4.2 Defizite des Hegel’schen Rechtsbegriffs? . . . . . . . . . 4.2.1 Keine Ursprungserzählung . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1 Ursprungserzählung in oder durch Hegels Rechtsbegriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1.1 Entbehrlichkeit einer kontraktualistischen Ursprungserzählung . . . . . . . 4.2.1.1.2 Philosophie des Rechts als Gestalt des Geistes als Ursprungserzählung? . . . . 4.2.1.1.3 Mögliche Verortung einer Ursprungserzählung in Hegels Geistphilosophie . . 4.2.1.2 Mangel der Ursprungserzählung ist kein Defizit des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Der Übergang vom abstrakten Recht in die Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.2 Heteronomie des abstrakten Rechts . . . . . . . . 4.2.2.3 Heteronomie als Defizit des Rechts . . . . . . . .
204 204
4.3
221
Ein »Dritter Weg« bereits bei Hegel . . . . . . . . . . .
Literatur- und Siglenverzeichnis
10
205 205 206 209 211 213 214 216 219
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München im Wintersemester 2016/2017 zur Promotion angenommen. Sie ist eine Gratwanderung zwischen Philosophie und Juristerei. Mein Dank gilt allen, die mir Halt bei dieser Gratwanderung gegeben haben. In erster Linie trifft dies zu auf meinen Doktorvater Professor Dr. Axel Hutter, der mich in seinen Lehrstuhl-Kreis aufgenommen und mir eine freie Promotion im besten Wortsinn ermöglicht hat, nicht ohne mir zur rechten Zeit mit Rat, Tat und Kritik beizustehen. Professor Dr. Armin Engländer danke ich für die Bereitschaft, als Vertreter der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität das Zweitgutachten übernommen und dieses zügig verfasst zu haben sowie für seine sehr hilfreichen inhaltlichen Anmerkungen zu dieser Arbeit. Neben Professor Dr. Hutter danke ich Professor Dr. Christoph Horn und Professor Dr. Karl-Heinz Nusser für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe »Praktische Philosophie« sowie Herrn Lukas Trabert für die freundliche und kompetente verlagsseitige Betreuung. Auf der juristischen Seite des Grates danke ich Professor Dr. Stefan Arnold, Dr. David Kuch und Dr. Sebastian Löffler dafür, Manuskripte meiner Arbeit kritisch gelesen und die Qualität der Arbeit durch ihre Anmerkungen wesentlich gehoben zu haben, Stefan Arnold darüber hinaus für unzählige Gespräche über Recht und Rechtsphilosophie. Professor Dr. Horst Dreier und Professor Dr. Fabian Wittreck danke ich dafür, mir in meiner Würzburger Anfangszeit das rechtsphilosophische Handwerkszeug beigebracht zu haben, auf das ich noch heute zurückgreifen kann. Frau Professor Dr. Susanne Lepsius danke ich dafür, mir durch eine Stelle an ihrem Lehrstuhl einen Zugang zur akademischen Gemeinschaft der LMU eröffnet und mich auch noch nach meiner Zeit an ihrem Lehrstuhl zur Fertigstellung meiner Dissertation motiviert zu haben. Außerdem bedanke ich mich bei Dr. Nikolaos Simantiras für lebhafte rechtsphilosophiDas Recht und seine Voraussetzungen
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Vorwort
sche Diskussionen und dafür, mir ein so guter Mitstreiter in der Promotionszeit gewesen zu sein. In meiner Zeit als angestellter Rechtsanwalt hat sich mein damaliger Kollege Professor Dr. Hartmut Kunstmann als steter Mahner, die Doktorarbeit nicht zu vergessen, verdient gemacht. Die philosophische Seite besteht aus dem Lehrstuhl-Kreis um Professor Dr. Axel Hutter, von dem ich Unzähliges über Hegel im Konkreten und einen philosophischen Denk- und Argumentationsstil im Allgemeinen gelernt habe. Besonders herausgreifen aus diesem Kreis möchte ich Dr. Christian Martin und Thomas Oehl, die mich stets in meinem Promotionsvorhaben bestärkt haben und die mich an ihrem reichen philosophischen Wissens- und Erfahrungsschatz teilhaben lassen. In persönlicher Hinsicht danke ich Amelie Czernia für ihre immerwährende Unterstützung und das Korrekturlesen der Arbeit sowie meinen Eltern: Meiner Mutter Rita Faulhaber-Fischer und meinem leider noch vor Erscheinen dieses Buches verstorbenen Vater Dr. Helmut Fischer. München, Anfang 2018
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1 Das Recht und seine Voraussetzungen
Heute gehört es zum Selbstverständnis der deutschen Juristenausbildung, der Rechtspraxis und von weiten Teilen der Rechtswissenschaft, dass es im Recht nicht um Gerechtigkeit geht. So selbstverständlich dies dem Rechtspraktiker, dem Jura-Studenten und zumindest dem dogmatisch ausgerichteten Rechtswissenschaftler vorkommen mag, so sehr verwundert die strikte Trennung von Recht und Gerechtigkeit den juristischen Laien. Denn der oft lakonische oder gar mit Zynismus vorgetragene Ausspruch des erfahrenen Juristen, man dürfe keine Gerechtigkeit vom Recht erwarten, es gehe im Recht nicht um Gerechtigkeit, Werte oder Moral, provoziert unweigerlich die Gegenfrage: Ja, worum geht es denn dann im Recht, wenn nicht um Gerechtigkeit?
1.1 Verfahren und Gerechtigkeit Die Antworten fallen gemischt aus, sie kommen dabei ganz ohne Gerechtigkeitsbezug aus oder nehmen diesen Bezug nur indirekt an: Es gehe beispielsweise darum, ein einigermaßen friedliches und geordnetes Zusammenleben der Individuen zu ermöglichen, das dem Einzelnen so viel Freiraum lässt, im Rahmen der durch diese Vorgabe gesetzten Grenzen seine privaten Interessen in autonomer Weise verfolgen zu können 1. Selbst wenn dem Recht als Ganzem zumindest ein indirekter Gerechtigkeitsbezug zugestanden wird, so steht die Gerechtigkeit dabei regelmäßig außerhalb der Klammer: Es gehe beispielsweise im Recht um Verfahren, Regeln und Prinzipien, deren Anwendung ohne Ansehung der Person allgemein geSiehe zu diesem meist unter Berufung auf Kant formulierten Modell nur Isensee, Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 80.
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schieht. In dieser Allgemeinheit liege sodann zumindest ein Moment allgemeiner Gleichheit 2. Das Etablieren bestimmter Verfahren und deren Anwendung erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines gerechten Ergebnisses oder garantiere dies sogar 3. Derlei Theorien prozeduraler Gerechtigkeit gehen von einem Dreischritt der Rechtslegitimität aus. In einem ersten Schritt werden Verfahren etabliert, die bestimmten Kriterien von Rationalität, Rechtssicherheit und gegebenenfalls auch Gleichheit folgen. Diese Ebene ist grundsätzlich Gegenstand des demokratisch legitimierten Gesetzgebungsprozesses, auf den freilich auch Überlegungen der Gerechtigkeit in faktischer Weise einwirken. Die dort etablierten Verfahren unterliegen aber in ihrer rechtlichen Entstehung keiner Gerechtigkeitsprüfung. Auf der Ebene der Anwendung und Einhaltung dieser Verfahren etabliert sich sodann das Kriterium der Rechtmäßigkeit, Gesetzesmäßigkeit oder allgemeiner: Richtigkeit. Die Einhaltung dieses Kriteriums gilt es, in Jurastudium und Rechtspraxis zu prüfen. Der Student prüft beispielsweise die formelle und materielle Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes, der Bundesverfassungsrichter die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich auf diesen ersten beiden Ebenen nicht explizit, sie ist also weder im Jurastudium noch in der Rechtspraxis direkt Gegenstand der Tätigkeit des Juristen. Es gibt aber noch eine dritte Ebene, die in der Rechtspraxis nicht thematisiert wird, die insofern außerhalb der Klammer steht. Es ist die Frage danach, ob es wirklich ausschließlich um Rechtmäßigkeit und Richtigkeit geht oder ob die Befolgung des Verfahrens im Großen und Ganzen nicht doch über die bloße Korrektheit der Anwendung hinausweist. Gerade angesichts der immensen Komplexität und Kleinteiligkeit des deutschen Verfahrensrechts lässt sich in diesem Zusammenhang fragen, ob all diese Regeln samt ihrer Kommentie-
Hart 1994, 206, der in der Allgemeingültigkeit der Gesetze ein Mindestmaß an Gleichheit und somit Gerechtigkeit verwirklicht sieht. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auch das Vorwort zur Erstauflage 1987 des von Josef Isensse und Paul Kirchhof herausgegebenen Handbuch des Staatsrechts zu verstehen, in dem es heißt: »Der Verfassungsstaat und die ihm gewidmete Wissenschaft werden geprägt durch dasselbe Ethos: die Idee der Allgemeinheit.« (VII) 3 Siehe hierzu Tschentscher 2000, v. a. 123, 219. 2
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Verfahren und Gerechtigkeit
rung und samt der zu ihnen ergangenen Judikatur wirklich reiner Selbstzweck sein können. Wäre dies der Fall, würde das zwei Probleme aufwerfen. Rechtstheoretisch könnte man einen solchen Rechtsbegriff, der nur auf Verfahren und ihre Einhaltung fußt, letztlich nur auf sich selbst rekurrieren lassen – ein zwar theoretisch mögliches, aber unbefriedigendes Unterfangen. Dem schließt sich nämlich ein weiteres Problem an. Ein auf komplexe, kaum noch nachvollziehbare Verfahren reduziertes Recht ist nicht dazu geeignet, Vertrauen in das Recht zu schaffen und zu erhalten. Der von rechtlichen Laien und der Öffentlichkeit oftmals gezeigten Erwartungshaltung, das Recht möge für Gerechtigkeit im Einzelfall sorgen, die Opfer befriedigen und sonstige moralische Konflikte lösen, kann zwar entgegengehalten werden, dass hierfür das Recht nicht zuständig sei. Jedoch ist die einzige Alternative zu einem solch moralisch aufgeladenen Recht keineswegs das rein positivistische Recht, das auf der Ebene von Rechtmäßigkeit und Richtigkeit Halt macht. Vielmehr sind Begriffe des Rechts denkbar, die der positivistischen Tendenz insofern folgen, als sie die Fragen nach Gerechtigkeit und Moral vor die Klammer ziehen, aber eben nicht ganz außen vor lassen. Solche Ansätze gehen davon aus, dass es zwar nicht in jedem Einzelfall und in jeder einzelnen Rechtsanwendung um Gerechtigkeit gehen kann, dass aber die Einhaltung der Verfahren im Großen und Ganzen nicht nur zu richtigen, sondern auch zu gerechten Entscheidungen führt. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Zusammenspiel von Recht und Gerechtigkeit in einer Entscheidung aus dem Jahr 1976 folgendermaßen zusammengefasst: »Das Verfahrensrecht dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt richtiger, aber darüber hinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen.« 4
Dieses Zitat ist bezeichnenderweise als »Motto« der Kommentierung der Zivilprozessordnung im wohl bedeutendsten Praktiker-Kommentar Zöller 5 vorangestellt. Über die genaue Intention der Herausgeber lässt sich zwar an dieser Stelle nur spekulieren. Dieses Zitat am Anfang einer ansonsten kleinteiligen, sehr detaillierten Kommentierung lässt aber zumindest darauf schließen, dass es den Herausgebern da4 5
BVerfGE 42, 64 (73). Zöller, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 31. Aufl. 2016, V.
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Das Recht und seine Voraussetzungen
rum geht, das, was in der Kommentierung folgt, durch dieses Motto in einen größeren Kontext einzuordnen. Dieser Kontext rechtfertigt in diesem Sinne die Mühe der detaillierten Fachkommentierung, indem er auf ein höheres Ziel, nämlich die Gerechtigkeit, verweist.
1.2 Das Schweigen des Rechts zu seinen Voraussetzungen Erklärungsansätze des Verhältnisses von Verfahren und Recht, die nicht gänzlich auf den Gerechtigkeitsbezug verzichten, verorten die Gerechtigkeit doch zumindest außerhalb des Rechts. Sie steht vor der Klammer, ist nicht dem Einzelfall, sondern dem Systemganzen zuzuordnen und findet gegebenenfalls Einfluss in das Recht durch die moralgeprägte Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Ermessenserwägungen im Einzelfall 6. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Begriff Gerechtigkeit im Bürgerlichen Gesetzbuch gar nicht und im Grundgesetz nur zweimal vorkommt. Im Falle des Grundgesetztes findet sich der Begriff der Gerechtigkeit in der Eidesformel des Bundespräsidenten sowie im eher programmatisch zu verstehenden Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz 7. Auch jenseits des ausdrücklichen Gebrauchs des Begriffs der Gerechtigkeit fällt auf, dass das Recht gerade bei seinen regelmäßig mit dem Begriff der Gerechtigkeit oder doch zumindest mit ihr vergleichbaren moralischen Begriffen in Bezug zu bringenden Kernbegriffen mit Ausführungen spart. Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet entsprechend lapidar: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«
Dabei geht es im Kern um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung und die Prüfung bestimmter Fehler bei der Ermessensausübung. Teilweise wird trotzdem in diesem Zusammenhang von Einzelfallgerechtigkeit gesprochen. 7 Art. 1 Abs. 2 GG im Wortlaut: »Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« Gerade wegen der mit dem Rekurs auf den Begriff der Gerechtigkeit einhergehenden Unbestimmtheit herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich in rechtswissenschaftlicher Hinsicht keine konkreten, rechtlich fassbaren Konsequenzen aus Art. 1 Abs. 2 ziehen lassen, siehe Dreier in: ders., GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 2 Rn. 23. 6
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Das Schweigen des Rechts zu seinen Voraussetzungen
Davon abgesehen, dass diese Eingangssätze des Grundgesetzes ihre Kraft vielleicht gerade aus ihrer Knappheit schöpfen, so sagen sie doch nichts darüber aus, was unter der Menschenwürde zu verstehen ist. Sie bieten keine Definition, keine begriffliche Herleitung, keine Beispiele. Dies ist für den am deutschen Recht geschulten Juristen selbstverständlich. Aber es könnte auch anders sein – zumindest theoretisch 8. Man könnte nun einwenden, das Grundgesetz als gesetztes Recht definiere den Begriff der Menschenwürde deshalb nicht, weil hierfür das Bundesverfassungsgericht und die Rechtswissenschaft zuständig seien. Das stimmt auch und die Praxis sowohl der Judikatur als auch der mittlerweile schier uferlosen Kommentierung zu Artikel 1 des Grundgesetzes zeigt, dass diese Aufgabe wahrgenommen wird. Sie führt zudem zu weitgehend akzeptierten Ergebnissen. Dem könnte man aber wiederum in rechtstheoretischer Hinsicht entgegnen, dass das vorgetragene explikatorische Defizit des Artikels 1 des Grundgesetzes nur das Gesetz betrifft, nicht aber das Recht, sofern man dem Recht auch die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft zuordnet. Diese Zuordnung soll zugestanden sein. Dennoch können auch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nicht die Frage nach dem Warum klären: Warum ist die Würde des Menschen unantastbar und warum ist es die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, sie zu achten und zu schützen? Hier kann auch das in diesem Sinne weit verstandene Recht (das Rechtswissenschaft und Judikatur mit einschließt) nur antworten: Weil es so im Grundgesetz steht. Dies ist der nicht zu hinterfragende Ausgangspunkt von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Das Bundesverfassungsgericht würde seine Aufgabe verfehlen, würde es anzweifeln, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Ebenso wäre der Grundgesetz-Kommentar, der sich den Wortlaut des Gesetzes nicht zumindest zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, eine groß angelegte Themenver-
Hier soll nicht eingehender thematisiert werden, inwiefern Definitionen in diesem Kontext überhaupt möglich oder auch nur praktikabel wären. Daran lässt sich zweifeln, wenn man sich vor Augen führt, dass trotz vielfacher Versuche der Wissenschaft bislang nicht einmal annähernd Einigkeit über eine Definition der Menschenwürde besteht (siehe Dreier in: ders., GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 1 Rn. 52; Herdegen in: Maunz/Dürig, GG, Art 1 Abs. 1 Rn. 33). Zu Berühmtheit gebracht hat es in diesem Zusammenhang ein Ausspruch von Theodor Heuss, der Satz von der Menschenwürde sei eine »nicht interpretierte These« (Heuss JöR 1951, 49). 8
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Das Recht und seine Voraussetzungen
fehlung. In diesem Sinne schweigt nicht nur das Gesetz zur explikatorischen Frage der Menschenwürde, sondern das Recht insgesamt. Noch auffälliger ist dieses Schweigen des Rechts im Eingangsparagraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Dieser lautet unter der Überschrift »Beginn der Rechtsfähigkeit« lapidar: »Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.«
Das BGB stützt sich an dieser Stelle auf etliche Voraussetzungen, die es selbst im weiteren Verlauf nicht thematisiert. Offenbar ist vorausgesetzt, dass es so etwas wie Rechtsfähigkeit gibt, wie auch, dass diese Rechtsfähigkeit dem Menschen zukommt. Ausdrücklich geregelt ist lediglich der Beginn der Rechtsfähigkeit. Eine streng dogmatische Kommentierung des § 1 BGB befasst sich konsequenterweise ausschließlich mit der Frage, wann der Zeitpunkt der Geburt des Menschen anzusetzen ist 9. Derartige Normen des Rechts, die auf offenbar vom Recht selbst nicht thematisierte Voraussetzungen verweisen, rufen unterschiedliche Reaktionen seitens der Rechtswissenschaft hervor, die sich danach kategorisieren lassen, ob sie sich eines rechtspositivistischen oder eines naturrechtlichen Erklärungsansatzes bedienen.
1.2.1 Der rechtspositivistische Erklärungsansatz Ihnen kann man zum einen in rechtspositivistischer Manier begegnen, die sich in leicht zugespitzter Version in etwa folgendermaßen zusammenfassen lässt 10: Die Rechtswissenschaft hat zur Kenntnis zu nehmen, dass es diese offenen Systemstellen gibt. Da sie sich aber ausschließlich mit dem Recht befasst, sind diese Stellen nur insofern von der Rechtswissenschaft zu thematisieren, als die Verweisung auf Dies lässt sich durchgängig in allen Kommentaren zum BGB feststellen, die auf die hier aufgeworfene Problematik gar nicht oder nur ganz am Rande und ohne eingehende Diskussion rekurrieren; hierzu sogleich in Fn. 12. 10 An dieser Stelle soll es nicht um eine Darstellung des Rechtspositivismus bzw. Spielarten des Rechtspositivismus in seiner/ihrer Gesamtheit gehen, sondern nur um eine dem Rechtspositivismus nahestehende Strategie, das eben skizzierte explikatorische Defizit des Rechts zu erklären; zum Begriff des Rechtspositivismus (insbesondere auch in Abgrenzung zu Vorurteilen gegenüber dem Rechtspositivismus) siehe Dreier 2011, Engländer 2000b, Hoerster 2006. 9
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Das Schweigen des Rechts zu seinen Voraussetzungen
eine ungeschriebene und nicht thematisierte Voraussetzung selbst Teil des Rechts ist. Nicht Teil der Rechtswissenschaft hingegen sind diese Voraussetzungen wie auch die Frage, warum das Recht an bestimmten Stellen auf von ihm nicht selbst thematisierbare Voraussetzungen verweist. Die Vorteile eines solchen Ansatzes liegen auf der Hand: Klarheit und Systematizität. Die Rechtswissenschaft kann so das im berühmtesten Fall von Kelsen ausgerufene Ideal der Reinheit verfolgen, begriffliche Strukturen entwickeln und den Versuch unternehmen, den Untersuchungsgegenstand klar und eindeutig zu definieren. Das Recht samt seinen offenen Verweisungen ist dann Thema der Rechtswissenschaft, eine Erklärung der Voraussetzungen hingegen Thema einer anderen Spezialwissenschaft, zum Beispiel der Ethik oder der Theologie. Somit ergibt sich aber auch sogleich das Defizit des rechtspositivistischen Ansatzes. Die Verteilung der Untersuchungsgegenstände auf die unterschiedlichen Spezialdisziplinen lässt nämlich die dritte Frage außen vor: Warum finden sich im Recht, und zwar gerade an den bedeutenden Stellen, an denen es besonders interessant wird (so am Anfang des Grundgesetzes und am Anfang des BGB), diese offenen Verweise? Diese Frage kann weder von positivistischer Rechtswissenschaft noch von Ethik und Theologie beantwortet werden. Es könnte sich hierbei freilich um eine genuin philosophische Frage handeln. Aber auch dann stellt sich im Anschluss die nächste Frage, ob sie Gegenstand allgemeiner, von Rechtswissenschaft völlig losgelöster Philosophie oder doch eher Gegenstand der Rechtsphilosophie ist, und falls Letzteres der Fall ist, wie sich die Rechtsphilosophie zur dogmatischen Rechtswissenschaft verhält. Es ergeben sich auch praktische Folgefragen wie die, ob ein Kommentar zum Grundgesetz oder zum BGB auf solche Fragen einzugehen hat oder nicht. Der empirische Befund an dieser Stelle ist gemischt: Manch ein Kommentar geht zumindest am Rande auf derlei (rechts-)philosophische Fragen ein, manch einer lässt sie gänzlich außen vor. Dies gilt sowohl für die Frage der Menschenwürde 11 als auch für die Frage der RechtsIm Grundgesetz-Kommentar von Horst Dreier finden sich unter den bekannten Kommentaren die detailliertesten Ausführungen zu ideengeschichtlichen und rechtsphilosophischen Grundlagen der kommentierten Normen. Entsprechend ist zu Beginn der Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG die Rede vom »ethisch-philosophischen Gehalt des Menschenwürde-Satzes«, der »mit zweieinhalbtausend Jahren Philosophiegeschichte belastet« sei, mit dem man aber aus rechtswissenschaftlicher Sicht
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fähigkeit 12. Die soeben aufgeworfenen Fragen sollen und können an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Es soll aber festgehalten sein, dass der strikte Rechtspositivismus einerseits eine nachvollziehbare Strategie ist, mit den einschlägigen explikatorischen Defiziten des Rechts umzugehen. Andererseits bringt er aber wiederum auf einen ersten Zugriff schwer zu lösende Folgeprobleme mit sich.
gerade deswegen vorsichtig umgehen müsse, da dieser Satz »als positivierte Verfassungsnorm in einer religiös-weltanschaulich neutralen Rechtsordnung Geltung unabhängig von einem bestimmten Glauben, einer bestimmten Ethik oder Philosophie Geltung beansprucht.« (Dreier in: ders., GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 1); der umfangreichste Grundgesetz-Kommentar von Maunz/Dürig widmet dem Problem der Voraussetzungen des Menschenwürde-Satzes unter der Überschrift »Geistesgeschichtlicher Hintergrund« einige Abschnitte unter der Vorgabe, dass »die Deutung der Menschenwürdegarantie von Vorverständnissen mitbestimmt« sei, »die in zweitausend Jahren philosophischer Ideengeschichte wurzeln.« (Herdegen in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 7) Einer metaphysischen oder naturrechtlichen Fundierung der Menschenwürde erteilt Herdegen indes eine Absage und kommt zum Schluss, dass es sich um einen »Begriff des positiven Rechts« handelt (Rn. 20). 12 Staudinger, der umfangreichste, wissenschaftlich am tiefsten gehende Kommentar zum BGB befasst sich in der Vorbemerkung zu § 1 BGB detailliert mit der rechtshistorischen Entwicklung des Begriffs der Rechtsfähigkeit. Das in der vorliegenden Arbeit thematisierte Problem der Voraussetzungen des Rechts wird nur in einem bestenfalls als lapidar zu bezeichnenden Einschub behandelt, wenn es heißt: »Rechtsfähigkeit und Personenqualität beruhen auf der Zuerkennung durch die geltende Rechtsordnung. Diese erfüllt aber, wenn sie allen Menschen Rechtsfähigkeit zuspricht, ein sozialethisches, naturrechtliches Postulat, denn die Rechtsfähigkeit aller Menschen anzuerkennen, ist eine elementare Forderung des natürlichen Rechts.« (Kannowski in: Staudinger, BGB 2013, vor § 1, Rn. 15); im zweiten bedeutenden Großkommentar zum BGB, dem Münchner Kommentar, findet sich der zutreffende Hinweis darauf, § 1 BGB betreffe nur »den zeitlichen Beginn der Rechtsfähigkeit des Menschen. Der Begriff der Rechtsfähigkeit wird dabei trotz seiner zentralen Bedeutung nicht definiert, sondern vorausgesetzt.« (Schmitt in: MüKo BGB, 7. Aufl. 2015, § 1 Rn. 1). Der bedeutendste Praktiker-Kommentar, der »Palandt«, stellt lediglich fest, in § 1 BGB komme »richtigerweise zum Ausdruck, dass die Rechtsfähigkeit dem Menschen nicht vom Gesetzgeber verliehen wird, sondern dem Gesetz vorgegeben ist.« (Ellenberger in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, vor § 1 Rn. 1), in der Einleitung zur Kommentierung werden unter der Überschrift »Quellen und Normen des Privatrechts« zudem keine außerrechtlichen Quellen, sondern nur verschiedene Quellen des positiven und des Gewohnheitsrechts abgehandelt (siehe Einleitung Rn. 17–25).
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Suche nach dem dritten Weg jenseits von Rechtspositivismus und Naturrecht
1.2.2 Der naturrechtliche Erklärungsansatz Die traditionell gegenläufige Position zum Rechtspositivismus ist das Naturrecht. Auch naturrechtliche Ansätze können daraufhin ausgelegt werden, die einschlägige Frage nach dem explikatorischen Defizit des Rechts zu erklären. Unter den Prämissen eines naturrechtlichen Ansatzes sind alle drei Punkte thematisierbar: Das Recht, seine Voraussetzungen und das Warum. Die Voraussetzungen des Rechts sind unter der Chiffre »Natur« selbst Teil des Rechts. Das Warum kann grundsätzlich thematisiert werden, führt aber zu einem Defizit naturrechtlicher Erklärungsansätze, das neben sonstigen Standardeinwänden (zum Beispiel: keine Berücksichtigung von Wertrelativismus und Pluralismus, Gefahr des Dogmatismus) an dieser Stelle besonders klar zu Tage tritt: Wenn unter naturrechtlichen Prämissen das Recht und seine Voraussetzungen, seien sie moralischer, religiöser oder sonstiger Natur, gleichermaßen Teil der Rechtswissenschaft sind, wie kann sich dann noch ein Kriterium definieren lassen, das das Recht von seinen Voraussetzungen trennt? Die begriffliche Klarheit und die enge Umgrenzung des eigenen Gegenstandsbereichs, die das Ideal des Rechtspositivismus ausmachen, geraten vor dem Hintergrund des so verstandenen Naturrechts in Gefahr.
1.3 Die Suche nach dem dritten Weg jenseits von Rechtspositivismus und Naturrecht Somit stellt sich die Frage nach einem dritten Weg, die seit der Erschütterung des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die rechtswissenschaftliche Debatte dominierenden Rechtspositivismus als eine Kernfrage zeitgemäßer Rechtstheorie gelten darf 13. Gibt es also einen Ansatz, der die aufgeworfenen Fragen in einer der heutigen Zeit gemäßen, begrifflich klaren Weise (im Unterschied zum Defizit des Naturrechts) beantworten kann, ohne zum Kern der Problematik schweigen zu müssen (das Defizit des Rechtspositivismus). Im Folgenden soll diese Suche nach einem dritten Weg anhand des sogenannten »Böckenförde-Diktums« und dessen Weiterführung Kaufmann 2011b, 89; Ein anderer Sinn des »dritten Wegs« findet sich bei Böckenförde 1991b, 142, der mit deutlich melancholischem Ton das moderne Gemeinwesen auf der Basis einer säkularen Wertegemeinschaft als »dritten Weg« bezeichnet.
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in der rechtswissenschaftlichen Debatte durch Paul Kirchhof und Josef Isensee skizziert werden.
1.3.1 Das »Böckenförde-Diktum« Im Zuge dieser allgemeinen rechtstheoretischen Debatte lebte in den letzten Jahrzehnten die Debatte um das Verhältnis von Recht und Religion wieder auf. Ihre bis heute wohl prägnanteste Formulierung fand das mit dieser Debatte verknüpfte Problem der Voraussetzungen des modernen demokratischen Staates schon 1964. In diesem Jahr verfasste Ernst-Wolfgang Böckenförde die erste Fassung seines Aufsatzes Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, der 1967 in überarbeiteter Version erstmals erschien. In dieser Schrift findet sich der heute als »Böckenförde-Diktum«, »Böckenförde-Paradox« oder »Böckenförde-Theorem« bekannte Ausspruch: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« 14 Dieser Ausspruch hat es zu beträchtlicher Berühmtheit weit über die Grenzen rechtswissenschaftlicher Fachdebatten hinaus gebracht. Er wurde, wie freilich auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit, hundertfach zitiert, hat zahlreiche Debatten angestoßen und gilt sowohl als Gemeinplatz heutigen Staatsverständnisses als auch als pointierte Zusammenfassung eines grundsätzlichen Problems, mit dem sich die heutige Rechtswissenschaft auseinanderzusetzen hat. Das Böckenförde-Diktum wurde unterschiedlich eng oder weit aufgefasst und hat entsprechende Debatten rund um das Verhältnis von Recht und Religion angestoßen 15. Böckenförde zeigt in seinem Aufsatz zwei Dialektiken des Verhältnisses des Staats zu seinen Voraussetzungen: Die erste Dialektik betrifft die historische Entwicklung der Säkularisation, die das eigentliche und titelgebende Thema des Aufsatzes ist. Er bezeichnet zwei sich überlappende historische Bewegungen der Säkularisation, die in gegenläufiger Stoßrichtung beide den Weg des modernen säkularen Staates geebnet haben. Die erste Bewegung der Säkularisation besteht laut Böckenförde in der Trennung des Geist14 15
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Böckenförde 1991/1967, 112. siehe zum Beispiel den kurzen Überblick bei Palm 2013, 24 f.
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lichen vom Weltlichen 16. Diese sei von der kirchlichen Sphäre ausgegangen und habe als Argumentationsfigur der Päpste gedient, um den Vorrang der Kirche zu rechtfertigen. Gleichwohl sei durch diese begriffliche Differenzierung bereits ein erster, seitens der Protagonisten unbeabsichtigter Schritt der Trennung und somit der Säkularisation gegangen worden. Der zweite Schritt habe sodann in der Aufgabe bestanden, eine rein politische, naturrechtliche Begründung der Legitimation des Staates zu entwerfen 17. Diese Bewegung falle zusammen mit den Bemühungen der Staatsphilosophen der frühen Neuzeit, allen voran Thomas Hobbes, unter den Vorzeichen von Individualismus, Rationalismus und einem säkularen Staatsverständnis dessen Legitimität zu begründen. Diese geschichtliche Dialektik ist das Hauptthema von Böckenfördes Aufsatz. Berühmtheit erlangt hat der Aufsatz jedoch aufgrund einer Dialektik, die Böckenförde am Ende nur knapp anspricht. Diese zweite Dialektik drückt sich aus in dem eingangs zitierten Diktum von den Voraussetzungen des modernen Staates. Das Zitat hat zwei Seiten: Einmal geht es Böckenförde um das Verhältnis des Staates zu seinen legitimatorischen Voraussetzungen. Dies ist der »Voraussetzungs«-Teil des Zitats, der die Frage nach der Legitimation des Staates und seines Verhältnisses zu anderen Bereichen wie der Moral oder der Religion aufwirft. Der zweite Teil des Zitats, der mit dem »Wagnis der Freiheit« 18 bezeichnet werden kann, zielt hingegen ab auf das Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern. Das Wagnis der Freiheit besteht nämlich, in einer ersten Annäherung, darin, den Bürgern auch die Freiheit zu geben, den Staat abzulehnen oder sich gar nicht für ihn zu interessieren 19.
Böckenförde 1991/1967, 96. Böckenförde 1991/1967, 100 ff. 18 Böckenförde 1991/1967, 112 in direktem Anschluss an das Vorraussetzungs-Zitat: »Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« 19 Diesen Aspekt des Zitats greift beispielsweise Paul Kirchhof auf, hierzu sogleich. Parallel zum von Harry Frankfurt aufgeworfenen Problem des »Bullshit« (Frankfurt 2005) stellt sich an dieser Stelle außerdem die Frage, ob das Desinteresse an Recht und Staat nicht noch gefährlicher sei als seine Ablehnung. 16 17
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Die Debatten um die Bedeutung dieser zweiten Dialektik werden teils politisch, teils wissenschaftlich geführt. Die politischen Debatten drehen sich eher um die Frage, ob Böckenförde und in seinem Gefolge manch anderer dem konservativen Lager zugeordnete Staatsrechtler die säkulare Basis des modernen Verfassungsstaates durch eine Rückbeziehung auf die Religion in Frage stellen wolle. Dieser Strang der Debatte soll im Folgenden nicht weiter verfolgt werden, da seine Protagonisten dazu tendieren, ideologische Grabenkämpfe auszufechten, für die teilweise, so der Eindruck, das Zitat nur der willkommene Anlass ist, die sich aber schnell vom theoretischen Kern der Problematik entfernen. Wissenschaftliche Debatten zum Böckenförde-Diktum beschäftigen sich hingegen mit der Frage, wie weit es verstanden werden kann. Auf der einen Seite stehen Auffassungen, die das Zitat eng an die erste Dialektik der geschichtlichen Entwicklung der Säkularisation knüpfen. Das Zitat sei in diesem Zusammenhang lediglich die pointierte Zuspitzung der Analyse einer geschichtlichen Entwicklung, die zum modernen freiheitlichen Staat geführt habe. Dafür spricht der Kontext des Zitates, das ja gerade am Ende eines Aufsatzes über den historischen Vorgang der Säkularisation steht. Das Zitat lässt sich indes auch grundlegend rechtstheoretisch auffassen. Böckenförde befasse sich in dieser Hinsicht nicht nur mit dem konkreten modernen Staat und seinen historischen Voraussetzungen, sondern mit einer spezifischen Eigenheit des Rechts, das von Voraussetzungen lebt, die es selbst nicht garantieren kann 20. Nach dieser Lesart lassen sich die beiden Seiten der zweiten Dialektik wie folgt auffassen: Das Recht lebt von Voraussetzungen, die es selbst nicht garantieren kann. Dies lässt sich verknüpfen mit dem eingangs An dieser Stelle soll nicht entschieden werden, welche Lesart des BöckenfördeDiktums nun die »richtige« ist. Vielmehr geht es im Rahmen eines einführenden Gedankens in das Thema der vorliegenden Arbeit lediglich darum, eine bestimmte Eigenheit des Rechts plausibel zu machen. Auch soll nicht entschieden werden, um welche konkreten Voraussetzungen es sich handelt: Denn auch hinsichtlich dieser Frage gibt es mehrere Möglichkeiten einer Antwort: Sie ließen sich beispielsweise in der Religion verorten (so z. B. die Stoßrichtung der Interpretation des BöckenfördeDiktums in Palm 2013), in der Kultur (siehe hierzu sogleich die Ausführungen zu Kirchhof, 1.3.2.1), in einer Idee der Gerechtigkeit (siehe hierzu sogleich die Ausführungen zu Isensee, 1.3.2.2) oder in einer Trennung von Staat und Gesellschaft (siehe hierzu den von Böckenförde herausgegebenen Band »Staat und Gesellschaft«, in dessen Einleitung Böckenförde die Trennung von Staat und Gesellschaft – freilich in kritischer Stoßrichtung – »als positive Gegebenheit« (XI) bezeichnet).
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umrissenen Problem des explikatorischen Defizit des Rechts. Das Recht kann bestimmte Voraussetzungen, auf die es angewiesen ist, deswegen nicht garantieren, weil es sie nicht thematisieren kann. Der Grund der Menschenwürde, die Frage, warum es Rechtsfähigkeit gibt und warum sie ausnahmslos allen Menschen zukommt, kann vom Recht nicht beantwortet werden. Vielmehr lebt das Recht davon, im Beispielsfall das Bürgerliche Gesetzbuch als wichtigstes Gesetz des Zivilrechts und das Grundgesetz als höchstes Gesetz des öffentlichen Rechts, von diesen von ihm selbst nicht weiter zu thematisierenden Voraussetzungen den Ausgang nehmen zu können. Für diese weite Lesart der zweiten Dialektik in Böckenfördes Aufsatz spricht die immense Bedeutung, die das Zitat erlangt hat. Selbst wenn Böckenförde selbst das Zitat auf die von ihm geschilderte historische Dialektik bezogen hat, so hat er doch offenbar einen Nerv getroffen. Dies gilt nicht nur für Juristen, sondern auch für am Recht interessierte Laien, für die das Böckenförde-Diktum ebenfalls als pointierter Ausdruck modernen Rechtsverständnisses gilt. Der Einwand der Anhänger einer engen Interpretation, man dürfe das Zitat nicht aus dem Kontext des Aufsatzes reißen, lässt sich zudem entkräften. Es schließt sich nicht aus, in einer Abhandlung eine historische Entwicklung zu analysieren und durch diese Analyse zu einem Ergebnis zu gelangen, das über das analysierte Thema hinausweist. Im Gegenteil: Zu einem Gedanken rechtsphilosophischer Tragweite kann man gerade dann gelangen, wenn man ihn als Ergebnis einer historischen Entwicklung begreift. So gesehen, verwundert es nicht, dass Böckenförde am Ende seines Aufsatzes ausdrücklich auf Hegel Bezug nimmt 21. Somit lässt sich festhalten, dass Böckenförde ein zentrales Problem moderner Rechtstheorie aufgreift, das auf Grundlage der eingangs zitierten Beispiele aus dem deutschen Recht für den weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit wie folgt definiert sein soll: Dem Recht wohnt ein explikatorisches Defizit insofern inne, als es auf Voraussetzungen rekurriert, die es selbst nicht thematisieren kann (dies entspricht dem Voraussetzungs-Teil des Böckenförde-Diktums). Außerdem wohnt dem Recht das Paradox inne, dass es, um in einem modernen Sinne Recht zu sein, seine Subjekte so begreifen muss, dass Böckenförde 1991/1967, 110 ff.; in ebendieser Passage findet sich das »Böckenförde-Diktum«.
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sie das Recht auch jederzeit ablehnen oder es ignorieren können (dies entspricht dem Wagnis der Freiheit-Teil). Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen dieser rechtstheoretische Befund auf unser Verständnis vom Recht hat. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass das Recht funktionieren muss und ein funktionierendes Recht zu den Voraussetzungen des modernen Staates zählt.
1.3.2 Die Weiterführung der Debatte Die von Böckenförde zu einem vorläufigen Höhepunkt geführte Debatte wurde in den Folgejahren weiter vertieft. Einige Rechtswissenschaftler griffen die zugrundeliegende Thematik auf und machten sie zu einem Kernthema ihrer eigenen rechtswissenschaftlichen Tätigkeit. Unter diesen seien im Folgenden zwei Beispiele herausgegriffen, Paul Kirchhof und Josef Isensee, die als Herausgeber der wohl bedeutendsten Abhandlung zum Deutschen Staatsrecht 22 jenseits der Kommentarliteratur des Grundgesetzes eine herausragende Rolle in der Staatsrechtswissenschaft spielen. Paul Kirchhof ist zudem über die Grenzen der Jurisprudenz hinaus als Verfassungsrichter, Politiker und populärwissenschaftlicher Publizist zu Berühmtheit gelangt. Beide greifen in ihrem Werk, sofern sie auf grundsätzliche Themen des Verhältnisses des Staates zu seinen Voraussetzungen wie auch zu seinen Bürgern eingehen, die von Böckenförde beschriebene Dialektik auf. 1.3.2.1 Paul Kirchhof Am deutlichsten wird dies in einer Rede, die Paul Kirchhof im Jahr 2005 beim Neujahrsempfang des Diözesankomitees der Katholiken im Bistum Münster gehalten hat. Die Rede trägt den etwas sperrigen Titel »Wollen wir eine im Erwerbsleben sterbende oder im Kind vitale Gesellschaft sein?« 23 Aufhänger dieser Rede ist das aufgrund der rückgängigen Geburtenzahlen entstehende demographische Problem Deutschlands und die sich in seinem Anschluss stellende Frage, inwiefern der Staat in die Familienplanung seiner Bürger eingreifen 22 23
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darf. Kirchhof reformuliert anhand dieses Problems heutiger Gesellschaft und Staatlichkeit den dem Böckenförde-Diktum zugrunde liegenden Gedanken wie folgt: »Der Staat weiß, dass er darauf angewiesen ist, auch in Zukunft junge demokratiefähige Bürger zu haben. Dennoch muss er als ein freiheitlicher Staat die Entscheidung für oder gegen die Familie in die Hand der Freiheitsberechtigten geben. Freiheiten sind immer Angebote, die der Freiheitsberechtigte annehmen, aber auch ausschlagen kann. Der Staat baut dennoch darauf, dass die Mehrzahl der Freiheitsberechtigten von sich aus die Freiheit tatsächlich wahrnimmt. […] Würde die Mehrzahl der Menschen in Deutschland sich entscheiden, als Diogenes in der Tonne zu leben, sich also um Ökonomie nicht zu kümmern, hätte niemand das Recht verletzt, weil auch diese Entscheidung Inhalt der Freiheit ist. Die soziale Marktwirtschaft, der Steuer- und Finanzstaat, wären aber an ihrer eigenen Freiheitlichkeit zugrunde gegangen. […] Auch unser Kulturstaat ist darauf angewiesen, dass es immer wieder Menschen gibt, die sich wissenschaftlich für die Erkenntnis der Wahrheit anstrengen; die sich künstlerisch bereit finden, das Schöne zu empfinden und in Formen auszudrücken; die religiös immer wieder nach dem Unerforschlichen fragen. Gäbe es solche Menschen nicht, wäre wiederum das Recht sorgfältig beachtet, dieser Kulturstaat aber sprachlos und handlungsunfähig.« 24
Freilich handelt es sich hierbei und eine plakative Formulierung in einem populärwissenschaftlichen Vortrag für ein juristisches Laienpublikum. Nichtsdestotrotz bringt Kirchhof hier ein Thema auf den Punkt, das sich ebenso durch sein juristisch anspruchsvolles Werk zieht. In seinem wegweisenden Beitrag »Die Identität der Verfassung« 25 aus dem Handbuch des Staatsrechts zeichnet er das differenzierte Bild eines Verfassungsstaates, der weder auf natürliche Gegebenheiten zurückzuführen ist noch allein aus sich selbst Geltung beanspruchen kann. Die Verfassung eines Staates greife sehr wohl auf einen Fundus von Voraussetzungen zurück, die er als einen Dreiklang von Wissen, Wirklichkeit und Willen definiert 26. All diese Faktoren seien Faktoren einer »Rechtskultur« und nicht unrechtliche, dem Recht vorgelagerte Gegebenheiten der Natur. Auf diesen Kulturfundus greife die Verfassung zurück. Sie »nimmt die in der Nation 24 25 26
Kirchhof 2005, 3. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 21. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 2 ff.
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und im Staatsvolk wirksamen Ordnungsideen und ethischen Grundsätze auf und setzt sie zum Maßstab für die Entwicklung von Staat und Recht.« 27 Das unterscheidet die Verfassung auch vom übrigen Recht, das seine Geltung auf die Verfassung stützen kann: »Verfassungsrecht unterscheidet sich vom sonstigen Recht dadurch, daß es keine positivrechtliche Erkenntnisquelle für sein Entstehen und keine ihren Bestand garantierende Instanz gibt.« 28 Unter explizitem Verweis auf Böckenförde stellt Kirchhof sodann heraus, dass die Verfassung stets auch von kontingenten Maßgaben abhängt wie den Überzeugungen der Bürger des Staates, der durch die Verfassung konstituiert wird. Einen rein rechtsinternen Geltungsrekurs des Rechts nennt Kirchhof in Anlehnung an Radbruch eine »alte List der Weltgeschichte« 29, eine Formulierung, die wiederum an Hegel angelehnt ist. In konkreter Hinsicht wirft ein solches Verfassungskonzept, das sich jenseits vom klassischen Paradigma Naturrecht-Rechtspositivismus bewegt, die Frage auf, welche Anforderungen sich dem Verfassunggeber im Hinblick auf die Stabilität von Staat und Rechtsordnung stellen. Denn eine (rechts-)kulturell bedingte Verfassung kann schwer aus sich heraus eine unerschütterliche Geltung auf alle Zeit beanspruchen. Dafür lassen sich weder logische noch tatsächliche Gründe anführen. Vielmehr scheint der kulturelle Wandel die einzige Konstante in der Gleichung zu sein. Die Verfassungsrealität zeigt aber, dass einige Verfassungen eine gewisse Dauer haben – man denke nur an das Grundgesetz, das sogar die Deutsche Wiedervereinigung überlebt hat. Außerdem kann die Verfassung selbst Vorkehrungen zu ihrer Fortdauer treffen – ohne diese freilich in jedem Fall und für alle Zeit garantieren zu können. Am Deutschen Grundgesetz lassen sich diese Anforderungen und die getroffenen Maßnahmen in besonderem Maße veranschaulichen 30. Die einmal in Kraft getretene Verfassung entzieht sich zunächst einmal dem einfachen gesetzesändernden Zugriff des Parlaments, indem sie in Art. 79 Abs. 2 GG 31 ihre eigene Abänderbarkeit an höhere Voraussetzungen knüpft als die Änderung der einfachen RechtsordKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 17. Ebd. 29 Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 19. 30 Dreier 2009 fasst die Änderbarkeit des Grundgesetzes in drei Stufen zusammen: Verfassungsänderung, Verfassungsverewigung und Verfassungsablösung. 31 Wortlaut Art. 79 Abs. 2 GG: »Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei 27 28
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nung. In einem nächsten Schritt stellt sie besonders wichtige Grundsätze (die Menschenwürde und die in Art. 20 GG aufgezählten Staatsgrundsätze) unter die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Nach Art. 79 Abs. 3 GG 32 können selbst bei Einstimmigkeit in Bundestag und Bundesrat die genannten Vorschriften nicht in verfassungskonformer Weise in ihrem Wesen abgeändert werden. Auch damit ist eine solche Änderung freilich nicht faktisch ausgeschlossen. Sie kann aber nur im Wege des Verfassungsbruchs erfolgen 33. Und selbst zum Extremfall der kompletten Verfassungsablösung sieht das Grundgesetz in Art. 146 34 eine Regelung vor. Es ist zwar äußerst umstritten, ob diese Regelung nach der Wiedervereinigung noch Geltung beanspruchen kann 35. Für eine weitere Geltung spricht, dass sie nach wie vor Teil des Grundgesetzes ist und im Zuge der Wiedervereinigung gerade nicht aufgehoben oder entscheidend abgeändert wurde. Spricht man ihr daher nach wie vor Geltung zu, so ist sie nicht allein als auf den Übergangscharakter des Grundgesetzes bis zur Wiedervereinigung hinweisende Norm zu verstehen, sondern als eine solche, die die verfassungsablösende Revolution normiert. Eine neue Verfassung kann sich demnach nur das Volk als Ganzes geben. Die Volkssouveränität – also wiederum ein Element der Rechtskultur, keines der Natur und auch kein rein rechtsinterner Faktor – ist dann die vom Recht nicht hintergehbare Voraussetzung. Kirchhofs auf die Böckenförd’schen Gedanken rekurrierende Sicht auf das Recht, die in dessen Gefolge nach einem dritten Weg jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus sucht, zeichnet sich durch folgende Punkte aus:
Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.« 32 Wortlaut Art. 79 Abs. 3 GG: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.« 33 Kirchhof 2004, 284 f. 34 Wortlaut Art. 146 GG: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« 35 Siehe einen Überblick zu dieser Debatte bei Dreier, in: Dreier, GG, Art. 146 Rn. 29 ff. Das Recht und seine Voraussetzungen
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Sie erkennt Voraussetzungen des Rechts an, die vom Recht nicht vollständig hervorgebracht werden können – dies gilt selbst im Falle des Grundgesetzes, das eine weitreichende normative Kraft bis hin zur verfassungsablösenden Revolution entfaltet. Außerdem ist selbst der hochkomplex und differenziert ausnormierte und die (Rechts-) Wirklichkeit normativierende Verfassungsstaat des Grundgesetzes von kontingenten Faktoren wie den Überzeugungen seiner Bürger abhängig. Diese wiederum kann der freiheitliche Verfassungsstaat nicht erzwingen, ohne sich gegen sich selbst zu wenden. Er kann nur indirekt, indem er ein in diesem Sinne guter, funktionierender, das Postulat der Allgemeinheit befolgender Staat ist, auf diese Überzeugungen einwirken. 1.3.2.2 Josef Isensee Auch der Mitherausgeber des Handbuchs des Staatsrechts, Josef Isensee, nimmt in seinem nicht weniger umfassenden staatswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Werk Bezug auf das BöckenfördeDiktum und beschreibt das Recht dabei in einer Weise, die sowohl rechtspositivistische als auch naturrechtliche Erklärungsstrategien zu vermeiden versucht. Das Recht ist nach seiner Auffassung sowohl Gegenstand als auch Grenze der Gerechtigkeit 36. Die Gerechtigkeit sei dem Recht zwar vorgelagert, aber nur durch das Recht fass- und bestimmbar. Ihr Inhalt lässt sich demnach nicht durch genuin nichtrechtliche Faktoren wie die Natur fassen, sondern nur im gesellschaftlichen Miteinander. Gerechtigkeit ist also nur durch das Recht bestimmbar, nicht durch nichtrechtliche Faktoren. Nichtsdestotrotz ist sie dem Recht insofern vorgelagert, als das Recht auf die Gerechtigkeit abzielt. Das Recht ist – in Abgrenzung zu rechtspositivistischen Erklärungsansätzen – nicht aus sich selbst heraus beschreibbar, sondern bedarf des Bezuges auf die Gerechtigkeit. Ein so verstandenes Geflecht von Recht und Gerechtigkeit führt aber zu zwei Problemen. Zum einen hat die Idee der Gerechtigkeit vor dem Hintergrund des heutigen common sense vom liberalen, relativistischen und pluralistischen Verfassungsstaat einen schweren Stand. Im Widerstreit der verschiedenen Gerechtigkeitsauffassungen und nach dem Wegbrechen einer vermittelnden religiösen Instanz hat sich nach Isensee die Vorstellung vom Staat als Friedenssicherer
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Isensee 2009, 285.
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gegen die Vorstellung des Staats als Gerechtigkeitsgaranten durchgesetzt: »Der moderne Staat, der wählen muß zwischen Gerechtigkeit und Frieden, wählt den Frieden« 37
Zweitens lässt sich durch den Gerechtigkeitsbezug das explikatorische Defizit des Rechts nicht lösen. Es verkompliziert sich allenfalls. Denn die Beziehung zwischen dem Recht und der Gerechtigkeit – das Recht hat die Gerechtigkeit zur Voraussetzung; was Gerechtigkeit ist, bestimmt sich durch das Recht, das sie zur Voraussetzung hat – lässt sich weder im Vokabular des Rechts noch im Vokabular der Gerechtigkeit begreifen. Entsprechend findet sich der einschlägige Aufsatz Isensees in seiner Schriftsammlung unter der Rubrik »Grenzübergänge«. Dem folgt ein weiterer Abschnitt, der mit »Aufhebung der Grenzen« betitelt ist. In ihm findet sich ein weiterer Aufsatz aus dem Jahre 2009: »Von der Notwendigkeit zu feiern: die Philosophie des Festes«. Schon auf einen ersten, systematisch ausgerichteten Blick zeigt sich also, dass dem Grenzübergang, den Isensee anhand des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit aufzeigt, noch eine weitere Stufe folgt, die er nicht mehr mit dem Recht, sondern mit Religion und Philosophie identifiziert. Schon an der Oberfläche tritt hier ein Hegel’scher Gedanke zu Tage.
1.3.3 Hegel-Bezug bei Böckenförde, Kirchhof, Isensee Es fällt auf, dass bei allen drei vorgestellten Staatsdenkern Hegel eine Rolle spielt. Ganz eindeutig ist dies bei Böckenförde der Fall. Bei Kirchhof kommen Hegel’sche Gedanken der Sache nach vor, bei Isensee sowohl der Sache nach als auch an einigen Stellen ausdrücklich, wenn auch eher oberflächlich 38. Im Folgenden soll dieser Verknüpfung der heutigen staatsrechtlichen Denker, die sich mit dem Böckenförde-Diktum befassen, mit dem Hegel’schen Rechtsbegriff nachgegangen werden. Dem liegt die VerIsensee 2009, 290. Beispielsweise Isensee, Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 70 (hinsichtlich der Scheidung von Staat und Gesellschaft) und Rn. 74. Auch die Formulierung in Rn. 173: »Der Verfassungsstaat ist die Wirklichkeit der Freiheit« erinnert stark an Hegel.
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mutung zu Grunde, dass es sich bei den zuvor in aller Kürze aufgezeigten Bezügen weder um Zufälligkeiten, noch um bloßes intellektuelles Schmuckwerk handelt. Vielmehr sind diese Bezüge der Sache nach gerechtfertigt, weil sich Hegels Begriff des Rechts mit genau dem Problem befasst, das im 20. Jahrhundert als BöckenfördeDiktum bekannt wurde. Hegel liefert schon zu Beginn seiner Grundlinien geradezu eine Blaupause für das Problem, dem Böckenförde und seine Epigonen aus staats- und verfassungsrechtlicher Perspektive nachgehen: »Der Begriff des Rechts fällt daher seinem Werden nach außerhalb der Wissenschaft des Rechts, seine Deduktion ist hier vorausgesetzt, und er ist als gegeben aufzunehmen.« 39
Dieser vor allem angesichts Hegels starker Opposition zu Unmittelbarkeit und unmittelbarer Gegebenheit womöglich zunächst verblüffende Ausspruch soll an dieser Stelle nur als erster Anhaltspunkt für die Parallele zum Böckenförde-Diktum gelten. Seiner genauen Bedeutung wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt dabei auf Hegels Rechtsbegriff und dem ihm eingewobenen Problem des Verhältnisses des Rechts zu seinen Voraussetzungen. Bevor der Gedankengang im Folgenden in Hegels Rechtsbegriff übergeht, soll noch auf zwei über die bloße Hegel-Affinität hinausgehende Gemeinsamkeiten der drei vorstehend zitierten Staatsrechtler hingewiesen werden. Die erste Gemeinsamkeit – und diese ist eine Gemeinsamkeit ganz im Geiste Hegels – besteht darin, dass alle drei Staatsrechtler, so unterschiedlich ihre Konzeptionen im Detail auch ausfallen mögen, das Verhältnis des Rechts zu seinen Voraussetzungen nicht als reines (naturrechtliches) Ableitungsverhältnis denken, dem als rechtspositivistisches Pendant ein striktes Außenvorlassen der Voraussetzungen des Rechts gegenüberstünde. Vielmehr denken sie das Verhältnis des Rechts zu seinen Voraussetzungen als komplexes Wechselspiel: Böckenförde mit einem starken Akzent in der Religion, Kirchhof unter Rekurs auf eine Rechtskultur, Isensee in Bezug auf Gerechtigkeit. Dabei postulieren sie gerade nichts dem Recht strikt Getrenntes, Vorgelagartes, aus dem sich Inhalt und Geltung des Rechts speisen würden. Vielmehr tritt das Recht bei Böckenförde, Kirchhof und Isensee in ein komplexes, dialektisches Wechselspiel 39
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Grundlinien § 2 (TWA 7, 30; GW14/1, 23).
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zu seinen Voraussetzungen, die wiederum – seien sie religiöser, kultureller oder moralischer Natur – ebenfalls nur in diesem Wechselspiel mit dem Recht zu begreifen sind. Die zweite Gemeinsamkeit der drei Staatsrechtler besteht darin, dass sie ungeachtet ihrer großen wissenschaftlichen und rechtspolitischen Erfolge und ungeachtet ihres großen Einflusses auf Rechtswissenschaft, Rechtsprechung und Rechtspolitik (z. B. als Bundesverfassungsrichter im Falle von Böckenförde und Kirchhof, als Herausgeber des Handbuchs des Staatsrechts im Falle von Kirchhof und Isensee) durchaus als sehr kontroverse Figuren der juristischen Gemeinschaft, ja vielleicht sogar der Sache nach als Außenseiter gelten dürfen. Das mag, so eine mögliche Nebenpointe der vorliegenden Arbeit, unter anderem im Einfluss Hegels auf ihr Denken begründet liegen.
1.4 Hegels Rechtsbegriff Die Untersuchung der Vermutung, dass sich das von Böckenförde prominent gemachte Problem des Verhältnisses des Rechts zu seinen Voraussetzungen schon bei Hegel findet, soll in zwei Schritten geschehen, dem die zwei ersten Teile der vorliegenden Arbeit entsprechen. (1) In einem ersten Schritt (und im ersten Teil dieser Arbeit) gilt es nachzuvollziehen, dass Hegel einen Rechtszustand begreift, der nicht aus einem Naturzustand hervorgeht. Mit Hegel lässt sich das Recht gegen weite Teile der rechtsphilosophischen Tradition der Neuzeit so verstehen, dass das Recht nicht auf natürliche Faktoren zurückgeführt werden kann, die wiederum ohne das Recht begreifbar wären. Mit Hegel lässt sich das Recht aus vielfachen Gründen, die es im Verlauf der vorliegenden Arbeit im Einzelnen auszuführen gilt, nur im Kontext eines von vornherein normativen Gebildes verstehen, das Hegel Geist nennt. Mit Hegel lässt sich das vermeintliche Dilemma, dass das Recht von Voraussetzungen lebt, die es selbst weder hervorbringen noch überhaupt thematisieren kann, gar nicht erst als genuines Defizit des Rechts begreifen. Vielmehr ist ein (Hegel’scher) Rechtszustand, der nicht aus einem Naturzustand hervorgegangen ist, der gegenüber dem traditionell kontraktualistischen Verständnis stärkere und stabilere Begriff des Rechts. Denn zwei Probleme der klassischen kontrakDas Recht und seine Voraussetzungen
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tualistischen Theorien stellen sich für Hegels Konzept des Rechtszustands nicht. Erstens beruht das Recht nach Hegel nicht auf einem kontingenten, natürlichen Bedürfnis des Menschen – im Falle von Hobbes ist das das Bedürfnis nach Sicherheit und Frieden. Der Hobbes’sche Staat ist dann nicht mehr legitimiert, wenn er dieses Bedürfnis und seine hiervon abgeleitete Funktion der Friedenssicherung nicht mehr erfüllen kann. Er steht somit ständig auf dem Prüfstand. Dieses Thema wird in der vorliegenden Arbeit als Stabilitäts-Problem bezeichnet 40. Zweitens ist das Recht nach Hegel nicht der zweitbeste denkbare, aber einzig mögliche Weg des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Das Recht ist bei Hegel als Gestalt des objektiven Geistes in die Bewegung des Geistes eingeschrieben. Sein Rechtsbegriff ist somit nicht mit der beispielsweise für Rousseau typischen Melancholie verknüpft. Diese besteht darin, dass es einen theoretisch denkbaren, aber praktisch nicht durchführbaren besseren Weg zur Freiheit gebe als den Eintritt in einen Rechtszustand. Eine solche Melancholie, die letztlich darauf beruht, dass ein natürlicher Zustand theoretisch erstrebenswerter sei als ein rechtlicher, kann bei Hegel nicht aufkommen. Denn in seiner Philosophie des objektiven Geistes gibt es keinen rein natürlichen Zustand, aus dem heraus das Recht als der Natur Entgegengesetztes hervorgehen kann. Vielmehr sind Natur und Recht in der Bewegung des Geistes stets miteinander verknüpft. Dieses Thema wird in der vorliegenden Arbeit als Melancholie-Problem bezeichnet 41. (2) Im zweiten Teil der Arbeit soll Hegels Rechtsbegriff anhand der Formen des abstrakten Rechts dahingehend untersucht werden, wie vermeintlich dem Recht äußere Faktoren im von Hegel beschriebenen Rechtszustand vorkommen und wie das Recht mit diesen rechtsexternen Faktoren umgeht. Hier wird sich zeigen, dass das Recht weder mit ausschließlich außerrechtlichen Faktoren konfrontiert wird, noch ein rein innerrechtliches Spiel mit Begriffen ohne Außenwirkung stattfindet. Auf dieser Ebene lässt sich Hegels Rechtsbegriff in der Die Grundlagen dieser Problematik werden im ersten Teil der vorliegenden Arbeit erarbeitet, im dritten Teil (4.1.1) wird sodann die Stärke von Hegels Rechtsbegriff hinsichtlich des Stabilitäts-Problems herausgestellt. 41 Die Grundlagen dieser Problematik werden im ersten Teil der vorliegenden Arbeit erarbeitet, im dritten Teil (4.1.2) wird sodann die Stärke von Hegels Rechtsbegriff hinsichtlich des Melancholie-Problems herausgestellt. 40
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erstgenannten Hinsicht vom klassischen Naturrecht, in der zweitgenannten Hinsicht vom klassischen Rechtspositivismus abgrenzen. Im Durchgang durch das Recht treffen zwar natürliche Faktoren auf das Recht. Das Zusammenspiel von diesen rechtsexternen Faktoren mit dem Recht lässt sich mit Hegel allerdings so begreifen, dass nie ein strikter Dualismus besteht zwischen getrennt voneinander auftretenden Bereichen (das Recht auf der einen Seite und »störende« natürliche Entitäten auf der anderen Seite). Vielmehr hängt die durch das Recht stattfindende Bewegung des Geistes gerade auch vom Zusammenspiel des Rechts mit natürlichen Faktoren ab. Diese natürlichen Faktoren sind aber nicht ohne das Recht denkbar und haben insofern wiederum das Recht zu ihrer Voraussetzung. Der strikte Dualismus zwischen dem Recht und rechtsexternen Faktoren wird, wie in der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein wird, von Hegel gerade abgelehnt. Dieser monistische Zug des Hegel’schen Rechtsbegriff wird anhand einer Analyse der drei Formen des abstrakten Rechts (Eigentum, Vertrag, Unrecht) herausgearbeitet. Dies geschieht jeweils in Abgrenzung zu naturalistischen, in der Rechtswissenschaft auch tatsächlich vertretenen Positionen (ein naturalistischer Begriff des Besitzes, die Willenstheorie, Zwangstheorien des Rechts), anhand derer auch Hegels Rechtsbegriff naturalistisch gelesen werden könnte. Anschließend wird anhand einiger Beispiele aus dem heutigen BGB gezeigt, dass derart konsequent anti-dualistisches Denken auch in das BGB Einzug gefunden hat. Gerade vermeintlich naturalistische Konzepte wie die Willenserklärung, der Besitz oder die Vaterschaft sind, so wie das BGB sie normiert, unter den Prämissen eines Dualismus von Natur und Recht nicht verstehbar. Hegels Rechtsbegriff leistet infolge dieses monistischen Zuges auch einen Begriff einheitlichen Rechts, ohne dabei zumindest auf ein Mindestmaß an inhaltlicher Verfasstheit zu verzichten. Sein zwar auch von Hegel abstrakt oder formell genanntes Recht leistet in Form der mit der rechtlichen Person verknüpften Verwirklichungsmodi der Freiheit ein Mindestmaß an Inhalt. Dies grenzt Hegel wiederum von klassischen rechtspositivistischen Rechtsbegriffen Kelsen’scher Prägung ab, die ohne einen solchen inhaltlichen Bezug auskommen und gerade durch dieses Auslassen einen Begriff der Einheit des Rechts anstreben 42. 42
Dies wird unten in 4.1.3 thematisiert.
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(3) In einem dritten Teil der vorliegenden Arbeit gilt es, die in den ersten beiden Teilen herausgearbeiteten drei markanten Stärken des Hegel’schen Rechtsbegriffs (Vermeidung des Stabilitäts- und Melancholieproblems, materiale Verfasstheit eines Begriffs der Einheit des Rechts) zusammenfassend zu explizieren. Als Stärke des Hegel’schen Rechtsbegriffs wird sich hierbei außerdem herausstellen, dass das Schweigen des Rechts zu seinen Voraussetzungen vor dem Hintergrund einer Geistphilosophie gar nicht als Schwäche des Rechts zu verstehen ist. Hegels Ablehnung der kontraktualistischen Prämissen befreit das Recht von dem Erfordernis, eine Ursprungserzählung beinhalten zu müssen. Derartiges zu leisten, ist das Recht als Gestalt des objektiven Geistes gar nicht imstande. Wird dem Recht dennoch eine derartige Bringschuld auferlegt, ehrt man dadurch womöglich das Recht und den Juristen durch die Zuschreibung einer mit Sinngebung verknüpften Kompetenz, schwächt aber dadurch nur das Recht und die Jurisprudenz. In diesem Zusammenhang zeichnet sich die Stärke des Hegel’schen Rechtsbegriffs gerade durch eine Reduktion seines Zuständigkeitsbereichs aus 43. Hegel schreibt dem Recht allerdings auch Schwächen zu. Ein Rechtsbegriff, der das Recht als Gestalt des Geistes begreift, betont nämlich ebenfalls die Uneigenständigkeit des Rechts. Dies entspricht Hegels Einwebung des Rechts in die Philosophie des Geistes, die offenbar nicht im Recht gipfelt, sondern dem abstrakten Recht folgen weitere Gestalten des objektiven Geistes, namentlich Moral und Sittlichkeit, und dem objektiven Geist folgt der absolute Geist. Die Schwäche des Rechts soll in einer ersten Annäherung in der vorliegenden Arbeit unter der These zusammengefasst werden, dass das Recht keine individuelle Sinngebung leisten kann. Innerhalb dieses Pauschalvorwurfs an das Recht lässt sich mit Hegel sodann zwischen berechtigten und unberechtigten Vorwürfen differenzieren. Ein unberechtigter Vorwurf besteht, wie eben bereits anhand der mangelnden Ursprungserzählung skizziert, darin, dem Recht etwas aufzubürden, wozu es von vornherein nicht in der Lage ist. Dem Recht kann mit Hegel aber auch ein berechtigter Vorwurf in dem Sinne gemacht werden, dass das Recht an einer traditionell mit dem Recht verknüpften Aufgabe scheitert. Dies ist die Forderung nach Autonomie. Hegels Rechtsbegriff kann, wie am Ende der vor43
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Siehe unten 4.2.1.
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liegenden Arbeit zu zeigen sein wird, nur einen engen Begriff der Autonomie erfüllen (die Selbstgesetzgebung der rechtlichen Person), nicht aber einen sinnerfüllenden weiten Autonomiebegriff 44. Hinsichtlich dieses Gesichtspunktes soll sodann zum Ende der vorliegenden Arbeit eine kurze Kritik an Hegel aus heutigem Rechtsverständnis heraus erfolgen; und zwar dahingehend, dass er analog der Verkehrung des Problems der mangelnden Ursprungserzählung die Forderung nach umfassender Autonomie ebenfalls als unberechtigt entlarven und somit einen stärkeren Rechtsbegriff hätte schaffen können 45.
1.5 Methodik: Rechtsphilosophische Rekonstruktion In methodischer Hinsicht leistet die vorliegende Arbeit eine rechtsphilosophische Rekonstruktion des Hegel’schen Rechtsbegriffs. Der Gegenstand der vorliegenden Analyse – Hegels Rechtsbegriff – ist zwar Hegels Begriff des Rechts als Gestalt des Geistes und somit gerade nicht Hegels »Rechtsphilosophie« 46 (hierzu sogleich unter 1.6 Textgrundlage). Die Methode der Analyse ist aber eine rechtsphilosophische Rekonstruktion im folgenden Sinne: Sie nimmt, wie bereits in den einführenden Gedanken zur vorliegenden Arbeit praktiziert, ihren Ausgangspunkt in einer StandardGeschichte heutiger Rechtsphilosophie, wie sie teilweise unter der Bezeichnung Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie 47, aber gerade auch als Annex zu den Fächern dogmatischer Rechtswissenschaft an deutschen Universitäten praktiziert und gelehrt wird 48. Siehe unten 4.2.2. Siehe unten 4.2.2.3. 46 Das Recht mit Hegel als Gestalt des Geistes zu begreifen, mag zwar womöglich zunächst unzeitgemäß erscheinen, ist aber, Hegels Philosophie des Geistes ernst genommen, geboten, hierzu Fulda 1982 und Pawlik 2002, 186. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit besteht in diesem Zusammenhang darin, durch die vorzunehmende Rekonstruktion des Hegel’schen Rechtsbegriffs auch seine Zeitgemäßheit nachzuweisen. 47 In letzter Konsequenz besteht kein trennscharfer Unterschied zwischen den Disziplinen Rechtsphilosophie und Rechstheorie, hierzu Kaufmann 2011a, 8–10; Hilgendorf 2008, 112. 48 Womit freilich nicht gesagt sein soll, dass es eine völlig einheitliche Lehre der Rechtsphilosophie gibt, geschweige denn, dass alle Rechtsphilosophen die gleiche Rechtsphilosophie vertreten und lehren würden. Es geht an dieser Stelle nur darum, einige Standardthemen der Rechtsphilosophie sowie Denkfiguren der Rechtsphiloso44 45
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Kern dieser Standardgeschichte der Rechtsphilosophie ist die Abgrenzung von Naturrecht und Rechtspositivismus samt der Zuordnung von Denkern der Philosophiegeschichte zu der einen oder der anderen Richtung. Diese Abgrenzungsproblematik hat die Rechtsphilosophie über Jahrzehnte beschäftigt und insbesondere führende Rechtspositivisten sahen sich immer wieder gezwungen, ihre Positionen gegenüber (oft unberechtigten und unreflektierten) Vorwürfen zu verteidigen 49. Aus dieser Verteidigungsposition heraus hat sich wiederum eine Standardgeschichte des Rechtspositivismus entwickelt, wie sich der richtig verstandene Rechtspositivismus vom Naturrecht abzugrenzen habe. Weite Teile der rechtspositivistischen Tradition können sich hierbei auf die Trennungs- oder Neutralitätsthese einigen. Die Trennungsthese bezeichnet, in deutscher Übersetzung einer Formulierung von H. L. A. Hart: »Die Behauptung, dass kein notwendiger Zusammenhang besteht zwischen Recht und Moral oder zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte. 50« Die Neutralitätsthese besagt, in einer Formulierung von Norbert Hoerster: »Der Begriff des Rechts ist inhaltlich neutral zu definieren. 51« Auf Grundlage dieser Standardthesen des Rechtspositivismus lassen sich naturrechtliche und rechtspositivistische Rechtsbegriffe voneinander abgrenzen. Das führt unter anderem dazu, dass dem Recht ein weiter Begriff der Natur gegenübersteht. Nicht nur Begriffe, die auf einen empirischen Naturbegriff, sondern auch solche, die auf andere rechtsexterne Faktoren wie zum Beispiel eine Schöpfungsordnung oder die Vernunft rekurrieren, werden so als naturrechtliche Rechtsbegriffe angesehen 52. Unter diesen Prämissen gilt auch Hegel als Naturrechtler 53. phie zu benennen, die sich zumindest insofern durchgesetzt haben, als sie heute den Ausgangspunkt (auch ihnen gegenüber kritischer) Argumentationen in der Rechtsphilosophie darstellen. 49 Heute scheint das teils immer noch so zu sein, siehe Dreier 2011. 50 Hart 1958, Übersetzung Hoerster 1971, 23. 51 Hoerster 2006, 70. 52 Siehe zum Beispiel Welzel 1951/1990, der schon im Titel »Naturrecht und materiale Gerechtigkeit« auf diese Verbindung hinweist. 53 Siehe zum Beispiel die Kategorisierung von R. Dreier 2006, der das Naturrecht
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Methodik: Rechtsphilosophische Rekonstruktion
Diese Einteilung gilt es im Verlauf der vorliegenden Arbeit zu hinterfragen. Methodisch nimmt sich die vorliegende Arbeit den weiten Naturbegriff der rechtsphilosophischen Tradition zum Ausgangspunkt. Das bedeutet, dass der Begriff der Natur, wie er im Verlauf der Arbeit gebraucht wird, nicht nur vereinzelte empirische Naturphänomene bezeichnet, sondern ebenso Spielarten des Individualismus, soziale Phänomene, Moral und Religion – rechtsexterne Faktoren 54. Die vorliegende Arbeit folgt somit einem genuin rechtsphilosophischen Interesse – der Frage nach Hegels Rechtsbegriff und dem Zusammenspiel von Recht und Natur in diesem weiten Sinne – und ist damit eine rechtsphilosophische Rekonstruktion. Der Zugriff auf Hegels Rechtsbegriff erfolgt dabei auf Grundlage des Problems eines Dualismus von Recht und Natur, der, wie in der vorliegenden Arbeit anhand ebendieser Rekonstruktion zu zeigen sein wird, sowohl dem Naturrecht als auch dem Rechtspositivismus zugrunde liegt. Unter einem Dualismus von Recht und Natur ist dabei eine Auffassung zu verstehen, die strikt trennt zwischen dem Recht und der Natur. Ein solcher Dualismus ist zum einen dann gegeben, wenn das Recht begrifflich auf die Natur zurückgeführt werden kann. Die Frage hiernach wird in der philosophischen Tradition unter den Schlagworten Reduktionismus oder Naturalismus behandelt. Die Frage nach diesem Dualismus ist Gegenstand des ersten Teils der vorliegenden Arbeit.
einteilt in: Naturrecht im engeren Sinne und Vernunftrecht, wobei er unter Letzteres auch Hegel fasst; Kaufmann 2011b, 64: »In Hegel hat der Deutsche Idealismus – und mit ihm das idealistische Naturrecht – seinen Höhepunkt erfahren.« Diese Zuordnung zum Naturrecht ist aus einer genuin rechtsphilosophischen Perspektive getroffen – Popper 1945/2003, 50 unterstellt Hegel hingegen einen »ehtische[n] und juridische[n] Positivismus«, hierzu kritisch Pawlik 2002. 54 Damit ist nicht gesagt, dass dieser rechtsphilosophischen Einteilung blind zu folgen wäre. Mit Hegels Geistphilosophie, die nicht nur eine Differenzierung von Recht und Natur, sondern beispielsweise auch von Recht, Natur, Moral und Religion erlaubt, lässt sich dieser weite Naturbegriff freilich auch kritisieren. Eine Pointe der vorliegenden Arbeit soll aber gerade darin bestehen, durch die rechtsphilosophische Rekonstruktion von Hegels Rechtsbegriff den Vorzug eines Begriffs des Rechts als Gestalt des Geistes auszuweisen, der sich vom dualistischen Paradigma der rechtsphilosophischen Tradition abhebt. Das Recht und seine Voraussetzungen
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Außerdem ist ein Dualismus gegeben, wenn zwar nicht die Frage nach dem Ursprung des Rechts in seiner Gesamtheit gestellt wird, aber einzelne Begriffe des Rechts so verstanden werden, dass sie sich auf Natur zurückführen lassen. Die Frage nach diesem Dualismus ist Gegenstand des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit. Die Gegenposition zu einem dualistischen Denken in diesen beiden Bedeutungen wird in der vorliegenden Arbeit als monistisch oder anti-dualistisch bezeichnet. Darunter ist eine Position zu verstehen, die im eben definierten Sinne nicht von einer strikten Trennung von Natur und Recht ausgeht. Davon zu unterscheiden, ist die weitergehende Frage, wie genau ein anti-dualistisches Zusammenspiel von Recht und Natur zu verstehen sein kann. Die vorliegende Arbeit ist methodisch eine rechtsphilosophische Rekonstruktion insofern, als Hegels Rechtsbegriff aus Hegels System heraus entwickelt wird. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, wie Hegel das Recht als Gestalt des Geistes auffasst, welche Zuständigkeiten und insbesondere auch nicht gegebene Zuständigkeiten, welche Stärken und Schwächen er damit dem Recht zuweist. Daher wird Hegel in erster Linie keiner externen Kritik unterzogen – wenngleich freilich an vielen Stellen die Rekonstruktion von Hegels Gedanken in Abgrenzung zu möglichen kritischen Einwänden erfolgt. Eine externe Perspektive nimmt diese Arbeit nur in einem kurzen Ausblick an ihrem Ende ein, in dem Hegels Kritik der Heteronomität des Rechts wiederum kritisch beleuchtet wird. Somit ist die vorliegende Arbeit in erster Linie eine Arbeit zu Hegels Begriff des Rechts. In zweiter Linie ist die vorliegende Arbeit auch eine (in der Ausbuchstabierung des Hegel’schen Rechtsbegriffs bestehende) Kritik an Paradigmata traditioneller Rechtsphilosophie, namentlich am Kontraktualismus und an einem Dualismus von Recht und Natur 55. Nicht im Zentrum, eher am Rande der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach einer modernen, anti-naturalistischen Philosophie des Geistes 56. Zu dieser Debatte mag diese Arbeit einen am konkreten Beide Paradigmata sehen sich starker Kritik ausgesetzt, zum Kontraktualismus siehe zum Beispiel Engländer 2002 und vor allem Engländer 2000a unter Verweis auf David Humes Kritik am Kontraktualismus; zur Kritik am dualistischen Rechtsdenken siehe zum Beispiel von der Pfordten 2011, 108–120. 56 Ansätze hierzu finden sich sowohl in der nicht spezifisch rechtsphilosophischen Philosophie des Geistes (Brandom 1994 und Brandom 2013 – in letztgenanntem Auf55
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Textgrundlage
Beispiel des Rechts durchexerzierten Beitrag liefern. Sie erhebt aber nicht den Anspruch, diese philosophische Debatte um eine antinaturalistische und antireduktionistische Philosophie des Geistes vollständig abzubilden.
1.6 Textgrundlage Die Textgrundlage der vorliegenden Arbeit folgt ihren drei vorangestellt skizzierten Gedankengängen. Im ersten Teil der Arbeit gilt es herauszufinden, ob Hegel tatsächlich einen Rechtszustand begreift, der nicht auf einen Naturzustand rekurriert. Prima facie findet sich in Hegels Werk ein ausdrücklich so genannter Rechtszustand 57, dem jedoch an dieser Stelle seines Werks gerade kein Naturzustand vorausgeht. Womöglich finden sich bei Hegel aber Textstellen, die strukturell dem Gegensatz Naturzustand/Rechtszustand der Tradition entsprechen, ohne aber ausdrücklich so benannt zu sein. Um solche Stellen identifizieren und in Hegels Gedankengang einordnen zu können, ist es von Nöten, die Stellen einzubeziehen, in denen Hegel auf den Naturzustand und das kontraktualistische Denken eingeht. Sein Werk wird daher daraufhin zu untersuchen sein, an welchen Stellen Hegel explizit auf den kontraktualistischen Begriff des Naturzustands eingeht, wie er das damit verknüpfte Denken bewertet und an welchen Stellen sich gegebenenfalls ein impliziter Naturzustand finden lässt. Da die vorliegende Untersuchung auf die Rolle des Rechts in Hegels Philosophie des objektiven Geistes abzielt, nimmt sie ihren Ausgangspunkt in Hegels Begriff des Rechts, wie er ihn in der Enzyklopädie 1830 entwickelt. Der dort vorzufindende Rechtsbegriff, der das Recht als eine Gestalt des objektiven Geistes begreift, und nicht eine etwaige eigenständig zu lesende Rechtsphilosophie, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. satz legt Brandom rechtliche Strukturen seiner Philosophie offen; zur Debatte, ob es eine naturalistische, aber trotzdem nicht-reduktionistische Philosophie des Geistes geben kann, siehe McDowell 1998, 167 ff. mit seiner Unterscheidung zwischen »two sorts of naturalism«) als auch in der Philosophie des Geistes, die sich ausdrücklich mit Hegels Rechtsbegriff befasst (Pippin 2005; Quante 2011, 116 ff.). 57 So nennt Hegel einen (kurzen) Abschnitt der Phänomenologie des Geistes zwischen antiker Sittlichkeit und Bildung, hierzu ausführlicher unten 2.2.3. Das Recht und seine Voraussetzungen
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Die Frage, ob sich bei Hegel Ansatzpunkte eines expliziten oder impliziten Naturzustandes finden lassen, fordert jedoch auch einen Blick über die Enzyklopädie hinaus. Es soll gezeigt werden, dass sich nirgends in Hegels Werk entsprechende Stellen finden lassen und dass in Hegels Denken aus vielerlei systematischen Gründen gar kein Naturzustand vorkommen kann. Um dies zu zeigen, müssen Stellen außerhalb der Enzyklopädie herangezogen werden, in denen Hegel ausdrücklich den Naturzustand thematisiert; außerdem solche Passagen, die einen auf den ersten Blick vergleichbaren Übergang wie den vom Naturzustand zum Rechtszustand beinhalten. Im erstgenannten Fall sind dies insbesondere Auszüge aus dem Naturrechtsaufsatz und Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte. Im zweitgenannten Fall sind dies auch Passagen aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Im zweiten Teil der Arbeit geht es um das Zusammenspiel zwischen Natur und Recht bei Hegel. Hierzu wird an ausgewählten Beispielen aus dem abstrakten Recht gezeigt, dass es in Hegels System nie einen strikten Dualismus zwischen Recht und Natur gibt, sondern dass sich vielmehr beide Seiten dieses Wechselspiels auf eine asymmetrische Weise voraussetzen. In diesem Teil der Arbeit sollen auch Beispiele aus dem heutigen deutschen Zivilrecht aufgegriffen werden. Dies soll zum einen den womöglich kontraintuitiven Rechtsbegriff Hegels plausibel machen und zum anderen zeigen, dass derart anti-dualistisches Denken auch unser heutiges Recht (vorgeführt an Beispielen aus dem BGB) prägt. Diese Untersuchung im zweiten Teil nimmt ihren Ausgangspunkt ebenfalls in der Enzyklopädie. Allerdings wird vereinzelt auf Beispiele aus den Grundlinien zurückgegriffen. Dieses Vorgehen ist dem Umstand geschuldet, dass Hegel viele Details des Rechtsbegriffs in der Enzyklopädie ausspart. Es legitimiert sich nicht zuletzt mit einem Blick auf Hegels ausdrücklichen Verweis auf die Grundlinien in § 487 der Enzyklopädie. Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit begreift sich als Fazit der ersten beiden Teile und zieht Schlüsse aus dem in den ersten beiden Teilen entwickelten Befund, dass Hegels Rechtsbegriff keinen Naturzustand voraussetzt und keine dualistische Trennung zwischen Recht und Natur beinhaltet. Dabei wird auch die (defizitäre) Kehrseite eines solchen Begriffs des Rechts als Gestalt des Geistes herausgearbeitet. 42
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Textgrundlage
Diese Defizite werden ebenfalls aus einer Hegel-immanenten Sichtweise entwickelt. Der dritte Teil nimmt, indem er das Recht als Gestalt des Geistes fokussiert, ebenfalls den Rechtsbegriff der Enzyklopädie zum Ausgangspunkt.
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2 Rechtszustand ohne Naturzustand
Gegenstand des ersten Teils ist die Frage, was es bedeutet, mit Hegel einen Rechtszustand ohne einen Naturzustand zu denken. Dem vorgeschaltet ist im Folgenden die Frage, ob es in Hegels Rechtsdenken einen Naturzustand gibt. Der Begriff Rechtszustand findet sich wörtlich in Hegels Phänomenologie des Geistes. Dort markiert er eine Stelle im mit »Der Geist« überschriebenen Abschnitt. Der Rechtszustand beendet das erste der drei dem Geist zugeordneten Kapitel, das Hegel mit »Der wahre Geist. Die Sittlichkeit« betitelt. Er leitet außerdem über in das zweite dem Geist zugeordnete Kapitel, das Hegel mit »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung« betitelt. Schon dem ersten Anschein nach auffällig dabei ist das Fehlen des üblichen Pendants zum Rechtszustand: des Naturzustands. In der Tradition neuzeitlicher Rechtsphilosophie von Hobbes bis Kant firmiert der Naturzustand stets als Gegenbegriff zum Rechtszustand. Hegel erwähnt den Naturzustand an dieser Stelle gar nicht und auch sonst nur an wenigen Stellen seines Werkes. Es stellt sich somit die Frage, warum ein dezidierter Naturzustand an prominenter Stelle (insbesondere als Gegenbegriff zum Rechtszustand) in Hegels Philosophie des Geistes nicht vorkommt. Aus dieser Lücke eines ausdrücklich vorkommenden Naturzustands lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres schließen, dass Hegel sich in dieser Hinsicht auch inhaltlich von der Tradition löst. Hegel könnte sich nämlich zwar im Hinblick auf die Begrifflichkeit von der Tradition neuzeitlicher Rechtsphilosophie abheben wollen, den Begriff des Naturzustands insofern aussparen, aber letztlich doch ein dem klassischen Naturzustand vergleichbares (Übergangs-)Moment in seine Philosophie integriert haben. Es ist daher zu erläutern, was traditionell unter einem Naturzustand verstanden wird und ob es in Hegels System womöglich anders betitelte, aber inhaltlich dem Naturzustand vergleichbare Stellen Das Recht und seine Voraussetzungen
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gibt. In Betracht hierfür kommt insbesondere das Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft aus der Phänomenologie, das Leo Strauss in einer Passage seines Buches über Hobbes’ Politische Wissenschaft mit dem Hobbes’schen Naturzustand in Verbindung bringt. Auch das Kapitel über die Sittlichkeit aus der Phänomenologie könnte naturzustandsähnliche Strukturen aufweisen, zumindest insofern, als in der Sittlichkeit der Phänomenologie gerade im Unterschied zum Rechtszustand noch eine natürliche Unmittelbarkeit vorhanden ist. Zuletzt könnte auch eine Leerstelle in Hegels Philosophie des Geistes bestehen, ein impliziter Naturzustand, den Hegel – aus welchen Gründen auch immer – nicht offenlegt und anders benennt. Es wird sich schließlich herausstellen, dass sich Hegels Rechtszustand nicht auf der Grundlage eines Naturzustands legitimiert. Somit ist nach den Gründen und nach den Folgen hiervon zu fragen. Die Gründe lassen sich mit Blick auf die wenigen Stellen in Hegels Werk rekonstruieren, an denen er den Naturzustand erwähnt. Im Fokus der folgenden Untersuchung soll sodann die Frage stehen, welche Folgen ein Fehlen des Naturzustandes für den Rechtszustand hat. Es wird sich zeigen, dass Hegel ein weithin radikaleres Bild des Rechtszustandes zeichnet als die Tradition. Diesen Fragen soll in folgender Reihenfolge nachgegangen werden: Zuerst folgt eine Analyse der Passagen, in denen Hegel explizit auf den Kontraktualismus eingeht, in denen er also den Begriff des Naturzustands verwendet und sich mit ihm zuzuordnenden Denkern und Gedanken auseinandersetzt (2.1). Diese Passagen sind spärlich gesät und erlauben es nicht, einen expliziten Naturzustand in Hegels Werk zu rekonstruieren. Zweitens soll die Frage nach einem impliziten Naturzustand in Hegels Werk gestellt werden (2.2). Dazu ist zunächst zu klären, was unter einem Naturzustand zu verstehen ist. Dabei soll sein Begriff, aber auch eine besondere Funktion des Naturzustandes zur Sprache kommen. Dies ist seine Funktion als Ursprungserzählung – diese Seite des Kontraktualismus soll im dritten Teil der vorliegenden Arbeit, in dem es um Stärken und Defizite des Hegel’schen Rechtsbegriffs geht, aufgegriffen werden. Daraufhin werden alle prima facie in Betracht kommenden Passagen des Hegel’schen Werkes auf ihre Vergleichbarkeit zum Naturzustand hin untersucht. Drittens soll beleuchtet werden, inwiefern Hegel indirekt eine Kritik am Kontraktualismus vornimmt (2.3). Dies tut er, seinem phi48
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losophischen Zugriff als »Zeit in Gedanken erfaßt« 58 gemäß, indem er den philosophischen Standard seiner Zeit kritisiert und mit ihm auch Ausformungen von philosophischen Gedanken der Tradition vornimmt, die sie zu Zeiten Hegels (durch ihre Rezeption durch andere Denker) angenommen haben. Wenn Hegel dementsprechend die abstrakte Differenz von Natur und Recht bei Kant kritisiert, kritisiert er zugleich einen Gedanken des Kontraktualismus – freilich in der Gestalt, den er bei Kant genommen hat. Zusammenfassend sollen sodann systematische Gründe angeführt werden, die die These widerlegen, es könne sich in Hegels philosophischem System ein Naturzustand finden (2.4). Damit einher geht eine Abgrenzung von einer bei Hegel durchaus gebräuchlichen Redeweise von der Natur: Der Redeweise von der Natur der Sache. Schließlich sollen die Konsequenzen des Fehlens eines Naturzustands für Hegels Philosophie des Rechts aufgezeigt werden. Dabei soll noch einmal eine Abgrenzung zum traditionellen Rechtsbegriff am Beispiel von Hobbes vorgenommen werden. Auch soll eine Erklärung für die auf den ersten Blick sehr spärliche Auseinandersetzung Hegels mit dem Kontraktualismus geboten werden. Textgrundlage für die Frage nach einem expliziten oder impliziten Naturzustand ist Hegels Gesamtwerk in zweierlei Hinsicht: Einmal gilt es Stellen zu analysieren, an denen Hegel explizit auf den Naturzustand eingeht – dies sind überraschend wenige, aber auf verschiedene Fundstellen in Hegels Werk verteilte Passagen. Auch bei der Frage nach einem impliziten Naturzustand gilt es werkübergreifend diejenigen Passagen zu analysieren, die eine ähnliche Struktur aufweisen wie der kontraktualistische Übergang: Dies sind Übergangsmomente der Enzyklopädie, aber auch Passagen aus der Phänomenologie des Geistes sowie der Grundlinien der Philosophie des Rechts. Die Passagen werden ausschließlich hinsichtlich der Frage nach dem Naturzustand und einem kontraktualistischen Übergangsmoment untersucht. Dabei erfolgen zwar, sofern dies für die Ausgangsfrage relevant ist, systembezogene Kontextualisierungen. Es wird aber nicht der Anspruch erhoben, diese Passagen jeweils in ihrem gesamten Gehalt zu analysieren.
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Vorrede der Grundlinien (TWA7, 26; GW14/1, 15).
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2.1 Explizite Auseinandersetzung mit dem Naturzustand Eine explizite Auseinandersetzung mit dem Naturzustand findet sich in Hegels Werk kaum 59. Eine eingehende ausdrückliche Beschäftigung mit dem Kontraktualismus leistet Hegel nicht. Am ehesten sind explizite Ausführungen im Naturrechts-Aufsatz von 1802/03 zu finden, in dem der Kontraktualismus im Zusammenhang mit der empirischen Behandlungsart des Naturrechts erwähnt wird. Hierauf soll sogleich näher eingegangen werden. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie spielt der Kontraktualismus nahezu keine Rolle. Der Naturzustand findet Erwähnung in dem kurzen Kapitel über Hobbes, in dem Hegel Hobbes’ Auffassung teilt, dass der »natürliche Zustand (…) abgestreift werden« 60 müsse. Erstaunlicherweise findet er eine etwas eingehendere Erwähnung im Kapitel über Platons Philosophie des Geistes aus dem 2. Band der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hier stellt Hegel die »Fiktion eines Naturzustandes« 61 dem sittlich-substanziellen Gerechtigkeitsdenken Platons gegenüber und positioniert sich auf Platons Seite. Der Gedanke des Naturzustands sei ein »sittliches Unding«, »das absolute Unrecht des Geistes« 62. Das platonische Modell gehe vom substanziellen Allgemeinen aus und begründe im Verhältnis hierzu den ontologischen Status des Einzelnen. Dagegen gehen die neuzeitlichen Kontraktualisten, allen voran Hobbes, den Hegel an dieser Stelle auch erwähnt, von der »Einzelheit der Person aus«. Die Seite des Allgemeinen, also insbesondere den Staat lasse man hingegen nur gelten »als Mittel für die einzelne Person« 63. Auf diese Gegenüberstellung des Allgemeinen und des Einzelnen gilt es in der systematischen Zusammenfassung am Ende des ersten Teils näher einzugehen (2.4).
Dementsprechend spielt Hegels Auseinandersetzung mit dem Kontraktualismus auch in der Sekundärliteratur eine untergeordnete Rolle. Schnädelbach 1987, 1 hierzu lapidar: »In vielen Bereichen der Philosophie ist Hegel durch seine Wirkungsgeschichte auch heute noch gegenwärtig; die Vertragstheorie gehört nicht dazu.«, wobei Schnädelbach hiermit sowohl Hegels Gegenposition zum Kontraktualismus als auch Hegels Theorie des privatrechtlichen Vertrags meint. 60 TWA20, 228. 61 TWA19, 108. 62 TWA19, 107. 63 Beide Zitate TWA19, 108. 59
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Es fällt außerdem auf, dass Hegel den neuzeitlichen Kontraktualisten, allen voran Hobbes und Rousseau 64, nur einen verschwindend geringen Raum in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie einräumt und in der Wiedergabe ihrer Hauptgedanken kaum über ein oberflächliches Referat hinauskommt. Im Folgenden sollen die Passagen aus Hegels Werk näher betrachtet werden, die sich in einer etwas eingehenderen Weise mit dem Naturzustand auseinandersetzen. Das sind Teile seines Naturrechtsaufsatzes sowie Abschnitte aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Schließlich soll noch ein kurzer Blick auf den Zusatz zu § 432 der Enzyklopädie geworfen werden, in dem eine Parallele zwischen dem Anerkennungskampf von Herr und Knecht zum Naturzustand gezogen wird, sowie auf die Anmerkung zu § 502 der Enzyklopädie, in der Hegel den Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität mit dem Denken vom Naturzustand verknüpft. Schließlich erwähnt Hegel den Naturzustand noch in der Anmerkung zu § 93 der Grundlinien, in dem es um die Abgrenzung von erstem und zweitem Zwang geht.
2.1.1 Naturrechtsaufsatz Im Naturrechtsaufsatz erwähnt Hegel den Naturzustand im Zusammenhang mit der von ihm so genannten empirischen Behandlungsart des Naturrechts 65. Diese zeichnet sich nach Hegel dadurch aus, das für eine Wissenschaft notwendige Mindestmaß an Einheit aus einer begrifflichen Fixierung von aus der Erfahrung gewonnenen Qualitäten zu gewinnen 66. Diese begriffliche Fixierung geht damit einher, dass aus einer willkürlichen Fülle erfahrungsmäßig gegebener Qualitäten ein Verhältnis gebildet wird, anhand dessen ungeordnetes, vorstellungsmäßig gereihtes Erfahrungsmannigfaltiges in eine Ordnung gebracht werden kann:
Zu Hegels Rousseau-Kritik sehe Pawlik 1999. Im Folgenden soll keine umfassende Interpretation des Naturrechtsaufsatzes erfolgen; vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich Hegel in diesem Aufsatz mit dem Kontraktualismus auseinandersetzt; zum Naturrechtsaufsatz insgesamt siehe Riedel 1982, 84 ff. 66 TWA2, 438 f.; GW4, 419 f. 64 65
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»Wissenschaften, deren Prinzip kein Verhältnisbegriff oder nur die leere Kraft des Einsseins ist, bleibt nichts Ideelles als das erste ideelle Verhältnis, nach welchem das Kind different gegen die Welt ist, die Form der Vorstellung, in welche sie die empirischen Qualitäten setzen und deren Mannigfaltigkeit sie hererzählen können.« 67
Diese Grundkonstellation des Empirismus führt nach Hegel zu einer Aufspaltung der absoluten Einheit. An die Stelle einer absoluten Einheit, die allein nur das organische Ganze in sich vereinen kann, tritt unter den Prämissen der empirischen Behandlungsart des Naturrechts eine »formale[n] Totalität« 68, die in Gestalt einer »formale[n] Einheit« nur den »Schein der Notwendigkeit« 69 gibt. Es wird nämlich immer nur einzelnes Bestimmtes herausgegriffen und begrifflich fixiert. Anderes lässt sich sodann in Bezug auf dieses Fixierte bestimmen. Die Kontingenz, die dem ersten Herausgreifen anhaftet, kann aber in der verhältnismäßigen Bestimmung alles Übrigen nicht geheilt werden. Derlei aufgebaute wissenschaftliche Systeme können zwar konsequent sein, aber bloß in ihrer »Inkonsequenz konsequent« 70. Die Einheit der empirischen (dann nur: sogenannten) Wissenschaft bleibt somit rein formal, defizitär und selbstwidersprüchlich. Dem Empirismus fehlt das »Kriterium darüber, wo die Grenze zwischen dem Zufälligen und Notwendigen gehe« 71. Neben dieser Struktur der formalen Totalität zeigt sich nach Hegel aber auch die absolute Einheit in dem defizitären System des Empirismus, dies auf zweierlei Arten: Einmal als einfache und ursprüngliche Einheit, sodann als verzerrte Erscheinungsform der Totalität »in dem Reflex des empirischen Wissens« 72. Hegel ordnet den Naturzustand der Form einfacher und ursprünglicher Einheit zu, wie sie im wissenschaftlichen System des Empirismus vorkommt. Da die empirische Behandlungsart des Naturrechts aufgrund der eben skizzierten Defizite keine komplexe Einheit widerspruchsfrei und wohlbegründet darstellen kann, ist die einzige Einheit, die mit ihren Mitteln nachvollziehbar ausgedrückt und die in sie integriert werden kann, eine möglichst einfache Einheit. Das bedeutet laut Hegel, dass diese Einheit aus möglichst wenig Mannig67 68 69 70 71 72
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TWA2, 438; GW4, 420. TWA2, 444; GW4, 424. Beide TWA2, 441; GW4, 422. TWA2, 443; GW4, 423. TWA2, 445; GW4, 425. TWA2, 444; GW4, 424.
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faltigem bestehen darf und auf einem Minimalfundus von Bestimmtheit beruhen muss. Dieses Kriterium erfüllt der Naturzustand neuzeitlich-staatsphilosophischer Prägung. Dieser hat für Hegel zwei Facetten: eine gesellschaftliche sowie eine anthropologische. Auf erstgenannter Ebene stellt das Denken des Naturzustands das menschliche Zusammenleben als »Chaos« 73 und als ein »sich gegenseitig vernichtende[r] Kriege« 74 dar. Auch wenn Hobbes namentlich nicht erwähnt wird, klingt seine Konzeption des Naturzustandes vor allem in der letztzitierten Formulierung an. Auf zweiter Ebene trifft das Naturzustandsdenken auch anthropologische Grundannahmen über die Natur des Menschen. Hegel deutet diese Minimalbestimmungen, auf denen sodann in der neuzeitlichen Staatstheorie das Legitimationsgebäude des Staates samt Rechts- und Freiheitsverzicht aufgebaut werden soll, als Abstraktionen. Nach Hegels Darstellung liegt dem Kontraktualismus der Gedanke zugrunde, dass man aus der vorfindbaren Mannigfaltigkeit bestehender sozialer Verhältnisse alles Willkürliche tilgen müsse, um zu einem nicht hintergehbaren Kern zu gelangen, von dem aus alles Sonstige aufgebaut werden könne. Dieses Vorhaben scheitert nach Hegel aus verschiedenen Gründen: (1) Zum einen, und das entspricht seiner grundsätzlichen Kritik am Empirismus, fehlt es dem Empirismus schlichtweg am Kriterium, das Notwendige, Eigentliche, den Kern vom Kontingenten zu unterscheiden. Vielmehr wird willkürlich eine bestimmte Mannigfaltigkeit herausgegriffen und im Verhältnis zu ihr werden in einem zweiten Schritt weitere Mannigfaltigkeiten bestimmt. Dies gilt freilich auch für eine rechtstheoretische Frage wie die nach der Legitimation des Rechts. Diese Kritik hat zwei Stoßrichtungen: eine ontologische und eine methodische. Sie lässt sich als Kritik am ontologischen Status des Ausgangspunktes des kontraktualistischen Begründungsprogramms (eine bestimmte Natur des Menschen, bestimmte soziale Verhältnisse im Naturzustand) lesen. Kehrseite dieses defizitären ontologischen Status des Naturzustands ist die ebenso defizitäre Methodik des empirischen Kontraktualismus, deren Element der Willkür sich in der Willkür des Naturzustands niederschlägt.
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TWA2, 444 ff., GW4, 424 ff. mehrfach. TWA2, 446; GW4, 425.
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(2) Außerdem, zusammenhängend mit der methodenkritischen Stoßrichtung des oben genannten ersten Vorwurfs, wirft Hegel dem Kontraktualismus eine petitio principii vor 75. Die »Phantasie«, »Fiktion« oder »Hypothese« des Naturzustands 76 wird schon im Hinblick auf das gewollte Ergebnis, ein aus Prämissen des neuzeitlichen Individualismus legitimiertes Recht, konstruiert. Die vorfindbare soziale Situation des Naturzustandes (das Chaos, der Krieg) ist genau so beschaffen, dass sie in Kombination mit den anthropologischen Grundannahmen (Selbsterhaltung, Streben nach Sicherheit und Frieden) zu einer Begründung von Recht und Staat führt. (3) Drittens kritisiert Hegel bereits im Naturrechtsaufsatz das defizitäre Freiheitskonzept des empirischen Naturrechts und damit auch des Kontraktualismus. Hegel stellt in einer kurzen Passage des Naturrechtsaufsatzes zwei verschiedene Begriffe der Freiheit, wie sie dem Kontraktualismus zugrunde liegen, gegenüber. Nach Hegel geht das kontraktualistische Begründungsmodell von einem Zweischritt der Freiheit aus. Zunächst gebe es eine natürliche oder ursprüngliche Freiheit im Naturzustand, nach dem Eintritt in den Rechtszustand sei diese erste Freiheit aber durch eine zweite, übergeordnete Freiheit zu beschränken: »Alsdann soll die natürliche oder ursprüngliche Freiheit durch den Begriff der allgemeinen Freiheit sich beschränken; 77«
Das Konzept natürlicher Freiheit sieht sich aber dem gleichen Grundvorwurf ausgesetzt wie das Begründungsprogramm des empirischen Naturrechts insgesamt. Ein Begriff natürlicher Freiheit ist für Hegel eine bloße Abstraktion, die auf kontingenten Annahmen beruht. Aber auch ein vermeintlich philosophisch fundierter Begriff allgemeiner Freiheit, der die natürliche Freiheit im Rechtszustand einschränkt, ist nach Hegel ein defizitärer Begriff der Freiheit: Denn die allgemeine Freiheit eines Rechtszustandes ist, sofern ihr eine natürliche Freiheit gegenübersteht, eine zweckgebundene Freiheit. Freiheit ist jedoch nach Hegel Selbstzweck. Außerdem kann nach Hegel einem Begriff der Freiheit weder ein zweiter Begriff der Freiheit gegenüberstehen noch darf sich Freiheit durch etwas definieren lassen, Kurze Nachzeichnung bei Kersting 2009, 56. Hier klingt Humes berühmte Kritik am Gesellschaftsvertrag als überflüssiger Fiktion an, siehe zu Hume Engländer 2000a, 4–6. 77 TWA2, 476; GW4, 446. 75 76
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das außerhalb ihres Begriffes liegt. Nach Hegel kommt dieses Defizit des Freiheitsbegriffs im Begriff des Zwangs zum Ausdruck: »In dem Begriff des Zwangs selbst wird unmittelbar etwas Äußeres für die Freiheit gesetzt; aber eine Freiheit, für welche etwas wahrhaft Äußeres, Fremdes wäre, ist keine Freiheit; ihr Wesen und ihre formelle Definition ist gerade, daß nichts absolut Äußeres ist. 78«
(4) Es klingt noch ein Punkt an, der vor allem im Hinblick auf Hegels restliches rechtsphilosophisches Werk besondere Aufmerksamkeit verdient, nämlich seine Deutung der Theorie vom Gesellschaftsvertrag als fehlgeschlagene Abstraktionsleistung. Bezieht man nämlich Hegels späteres Werk mit ein, wird klar, dass Hegel nicht die Abstraktion als solche ablehnt, sondern nur eine bestimmte, defizitäre Art der Abstraktion kritisiert, wie sie der Empirismus vornimmt. Das Recht kommt nämlich nicht nur nicht ohne Abstraktion aus, sondern die Abstraktion ist ein zentrales Wesensmerkmal des Rechts – nicht umsonst nennt Hegel das Recht in der Enzyklopädie und in den Grundlinien »abstraktes Recht«, in der Phänomenologie charakterisiert sich der Rechtszustand als Zustand abstrakter Allgemeinheit. Somit stellt sich die Frage, wie der Unterschied zwischen der defizitären Abstraktion des Empirismus, wie Hegel sie im Naturrechtsaufsatz kritisiert, und der zwar auch vom Absoluten her als defizitär zu bestimmenden, aber notwendigen und in die Entwicklung des Geistes eingeschriebenen Abstraktion des Rechtszustandes der Phänomenologie im abstrakten Recht des Spätwerks zu charakterisieren ist. Der Unterschied liegt im Begriff der Person, den Hegel in der Phänomenologie entwickelt, später in den Grundlinien ausbuchstabiert. Die formale Einheit des Empirismus ist der Willkür entsprungen und kann diesen Mangel nicht mehr abstreifen. Die zunächst vollkommen abstrakte Einheit der Person ist hingegen aus einer begriffslogischen Notwendigkeit heraus entstanden, nämlich aus dem Umkippen eines mit der eigenen Defizität konfrontierten Subjektbegriffs der Person. Die Einheit des Empirismus leidet daran, dass sie mit einer willkürlich ausgewählten Bestimmtheit beginnt und somit in genau diesem Sinne nicht abstrakt genug ist. Der Rechtsbegriff der Person hingegen ist TWA2, 476; GW4, 446; Hegel greift die Frage nach dem Verhältnis von Recht, Freiheit und Zwang in seinem Spätwerk unter der Überschrift »Unrecht« dezidiert auf, siehe unten 3.1.3; zu Hegels Freiheitsbegriff siehe auch sogleich unter 2.4 die Zusammenstellung systematischer Gründe gegen die These, Hegels Werk beinhalte einen Naturzustand.
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im Moment seiner Entstehung vollkommen abstrakt. Nur so können im Folgenden immer konkreter werdende Bestimmtheiten (im abstrakten Recht: Eigentum, Vertrag, Unrecht) folgen, ohne im Prozess der Personwerdung den anfänglichen Mangel willkürlicher Grundbestimmtheit fortzuführen 79. Diese Gegenüberstellung klingt im Naturrechtsaufsatz bereits an, allerdings ohne dass Hegel den entscheidenden Unterschied mit dem Begriff der Person bezeichnet. Parallel zur Phänomenologie schildert er die Genese des Rechtszustandes aus einer sittlichen Einheit heraus 80. Auch hier deutet sich also eine Entwicklung von Abstraktion an, die Hegel aber nicht so klar benennt und zuordnet wie in der Phänomenologie. Am ehesten lassen sich Parallelen vom späteren Personbegriff und seiner Zweideutigkeit zu Passagen ziehen, die die Individualität zum Gegenstand haben. Bestes Beispiel ist folgende Passage: »[…] das Individuum ist nur als freies Wesen; d. i. indem Bestimmtheiten in ihm gesetzt sind, ist es die absolute Indifferenz dieser Bestimmtheiten« 81
Hier werden sowohl die Seite der Individualität in Gestalt von einzelnen Bestimmtheiten als auch die Seite der Allgemeinheit in Form der Vereinheitlichung deutlich. Zudem verknüpft Hegel die Mehrdeutigkeit dessen, was er später Person nennt, hier bereits mit dem Begriff der Freiheit.
2.1.2 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 82 beleuchtet Hegel, zumeist nur am Rande, die realgeschichtlichen Implikationen von Recht und Naturzustand. Hier entsteht anlässlich eines Exkurses über Afrika der Eindruck, als beinhalte Hegels Denken ebenfalls einen Naturzustand, der als Kriterium für die Fortschrittlichkeit eines Volkes fungiert. Hegel stellt (in kritischer Absicht) die Zu Hegels Begriff der Person siehe unten 3.1.4. Z. B. TWA2, 525 f.; GW4, 481 f. 81 TWA2, 478; GW4, 447. 82 Hegels ausdrückliche Erwähnung des Naturzustands an dieser Stelle wird unten 2.2.3 noch einmal hinsichtlich der Frage aufgegriffen, ob Hegels antike Sittlichkeit der Phänomenologie einen impliziten Naturzustand beinhaltet. 79 80
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Sklaverei als einen natürlichen Zustand dar und konstatiert, »daß der Naturzustand selbst der Zustand absoluten und durchgängigen Unrechts ist« 83. Zwischen diesem Naturzustand absoluten Unrechts und dem vernünftigen Staat gebe es sodann viele Zwischenstufen teilweiser Verwirklichung der sittlichen Idee bei teilweiser Fortsetzung des natürlichen Unrechts. So erklärt Hegel, dass auch in vergleichsweise vernünftigen Staaten wie dem antiken griechischen Staat und dem antiken römischen Staat noch Sklaverei existiert. Diese Passage erweckt den Eindruck, als erkenne Hegel doch den Gedanken des Naturzustands an und ordne ihn gar bestimmten real existierenden Staaten zu. Diese Auslegung greift aber zu kurz. In der sich mit der Verwirklichung des Geistes und der Freiheit in der Geschichte befassenden Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte schlägt Hegel einen anderen Ton an. Vom Standpunkt der Freiheit aus, und nur von diesem Standpunkt aus, kann sich im Hegel’schen System der objektive Geist erschließen 84, stellt sich die Vorstellung eines Naturzustandes als defizitär dar. Dies gilt sowohl für die Vorstellung, der Naturzustand sei ein real existierender Zustand der Sozialität als auch für den Naturzustand als theoretische Annahme. Hegel folgt gängigen Kritiken seiner Zeit, allen voran David Hume, der aber an dieser Stelle unerwähnt bleibt, wenn er schreibt: »Diese Annahme [des Naturzustandes] gilt nicht gerade dafür, daß sie etwas Geschichtliches sei, es würde auch, wenn man Ernst mit ihr machen wollte, schwer sein, solchen Zustand nachzuweisen, daß er in gegenwärtiger Zeit existiere oder in der Vergangenheit irgendwo existiert habe. Zustände der Wildheit kann man freilich nachweisen, aber sie zeigen sich (…) mit gesellschaftlichen (…) Einrichtungen verknüpft.« 85
Die Afrika-Passage ist daher als Kritik an einem Denken zu verstehen, das die Sklaverei als Ausdruck natürlicher Ungleichheit begreift, ein Denken, das fälschlicherweise, ohne die Vernunft und die Idee des Sittlichen zu berücksichtigen, einen Zustand der Ungleichheit rechtfertigt. Dieser Zustand ist aber nicht natürlich und muss in einem zweiten Schritt künstlich überwunden werden, sondern er ist schlichtweg eine falsche, auch nicht durch einen zweiten Schritt rechtfertigbare Vorstellung. 83 84 85
TWA12, 129. Hierzu unten 2.2.6. TWA12, 58.
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Auch gegen die theoretische Annahme des Naturzustandes wendet sich Hegel in der Einleitung. Er kritisiert sie unter zwei Aspekten. Einmal verkenne diese Annahme das Wesen der Idee. Es lasse sich, sofern es um den Menschen geht, schlicht nicht trennen zwischen dem natürlichen Teil des Menschen, dem man zum Beispiel Triebe und Begierden zuschreiben kann und einem vernünftigen Teil des Menschen, der allein mit Recht und Geist verknüpft sein kann. Vielmehr kann die Natur des Menschen nicht als vom Geist losgelöste empirische Natur, sondern nur als Spielart der Redensweise von der Natur der Sache verstanden werden: »Daß der Mensch von Natur frei ist, ist in dem Sinne ganz richtig, daß er dies seinem Begriffe, aber eben damit nur seiner Bestimmung nach, d. i. nur an sich ist; die Natur eines Gegenstandes heißt allerdings soviel wie sein Begriff.« 86
Hier klingt auch Hegels zweite, in dieser Passage zentrale Kritik an. Dem Denken vom Naturzustand liegt ein defizitäres Verständnis von Freiheit zugrunde. Wie Hegel das neuzeitliche Naturzustands-Denken an dieser Stelle eher holzschnittartig, aber doch pointiert widergibt, geht es von einem Dualismus der Freiheit aus: Zunächst besteht natürliche Freiheit im Naturzustand. Diese ist verknüpft mit einer, insbesondere bei Hobbes, düsteren Prognose der sozialen Umstände. Die natürliche Freiheit muss sodann durch die Einsetzung eines künstlich erzeugten Staates beschränkt werden. Für Hegel indes gibt es keine derartige natürliche Freiheit. Freiheit ist vielmehr erst unter der Bedingung vermeintlicher Beschränkungen denkbar. Freiheit verwirklicht sich nicht in einem Naturzustand, sondern in einem Rechtszustand: »Vielmehr ist solche Beschränkung schlechthin die Bedingung, aus welcher die Befreiung hervorgeht, und Gesellschaft und Staat sind die Zustände, in welchen die Freiheit vielmehr verwirklicht wird.« 87
Der Gedanke des Naturzustandes erweist sich so als »das direkte Gegenteil unseres Begriffes, daß der Staat die Verwirklichung der Freiheit sei« 88.
Ebd.; hier verwendet Hegel die Redeweise von der Natur der Sache, siehe unten 2.2.1.3 und 3.3. 87 TWA12, 59. 88 TWA12, 58. 86
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2.1.3 §§ 432 f. der Enzyklopädie (Anerkennungskampf) Im dem subjektiven Geist zugeordneten Abschnitt über das »anerkennende Selbstbewußtsein« kommt im Zusatz zu § 432 der Enzyklopädie ausdrücklich der Naturzustand zur Sprache. Der Paragraph handelt vom Anerkennungskampf auf Leben und Tod und die mit ihm zusammenhängende »rohe Negation der Unmittelbarkeit« 89 des anderen Selbstbewusstseins. Im Zusatz wird dieser Kampf als Auflösungsprozess natürlicher Bestimmtheit dargestellt: »Durch den Tod aber wird die Natürlichkeit tatsächlich negiert und dadurch zugleich deren Widerspruch mit dem Geistigen, mit dem Ich, aufgelöst.« 90
Im weiteren Verlauf des Zusatzes wird zweimal der Naturzustand ausdrücklich erwähnt. Einmal heißt es, der auf den Tod gehende Kampf um Anerkennung könne »bloß im Naturzustande, wo die Menschen nur als Einzelne sind, stattfinden« 91. An einer weiteren Stelle fällt der Vergleich mit dem mittelalterlichen Zweikampf des Rechts. Dieser sei nicht mit dem Anerkennungskampf zu verwechseln, denn der Zweikampf »fällt nicht wie der erstere in den Naturzustand der Menschen« 92. Dieser Stelle könnte sich entnehmen lassen, dass Hegel den Anerkennungskampf des subjektiven Geistes analog zum Naturzustand des Kontraktualismus auffasst 93. Eine ausdrückliche Relativierung erfährt diese mögliche Interpretation aber sogleich in der Anmerkung zu § 433. Der tatsächliche Kampf um Anerkennung sei nämlich »der äußerliche oder erscheinende Anfang der Staaten, nicht ihr substantielles Prinzip.« 94 Hegel zeichnet hier also Machtstrukturen nach, die tatsächlich mit der Entstehung von Staaten zusammenhängen können. Diese spielen sich aber nicht auf der logischen und rechtfertigungstheoretischen Ebene ab, auf der Hegel die Entwicklung des Rechts als Gestalt des Geistes schildert. Hegel schildert an dieser StelEnz. 1830 § 432 (TWA10, 221; GW20, 431). TWA10, § 432 Z (221). 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Da die Zusätze auf Vorlesungsmitschriften basieren und somit nicht ohne Weiteres Hegel zugerechnet werden können, ließe sich deren Aussagekraft allein schon deswegen in Frage stellen. Im Folgenden soll aber die Frage untersucht werden, ob diese Zusätze, selbst wenn sie Hegel zugerechnet werden könnten, Rückschlüsse auf einen Naturzustand in Hegels Philosophie des Geistes zulassen. 94 Enz. 1830 § 433 A (TWA10, 223; GW20, 431). 89 90
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le nicht die Entwicklung des Staates in einem dualistischen Gefüge von Natürlichkeit und Recht, sondern er referiert auf eine äußere Parallele seines Konzepts des Selbstbewusstseins zum Denken des Kontraktualismus. Dieser Stelle lässt sich demzufolge nur entnehmen, dass sich ein Naturzustand bei Hegel am ehesten an dieser Systemstelle finden ließe. Dies mag auch Leo Strauss zu seinem Vergleich von Hegel und Hobbes verleitet haben, der die gesamte Dialektik von Herr und Knecht mit dem Kontraktualismus vergleicht, hierzu aber sogleich unter 2.2.2. Ein ausgearbeitetes Konzept des Naturzustands, das im Hegel’schen System das Entstehen des Rechts erklären könnte, findet sich an dieser Stelle, an der Hegel den Naturzustand ausdrücklich erwähnt, jedenfalls nicht. Das ergibt sich aus drei Gründen. Erstens schildert Hegel den Kampf auf Leben und Tod nicht als Kampf um natürliche Freiheit, wie es zu erwarten wäre in einer dem kontraktualistischen Schema zuzuordnenden Darstellung. Die Individuen des vermeintlichen Naturzustands sind nämlich »nicht bloß natürliche, sondern freie Wesen« 95. In dieser Formulierung kommt klar der für Hegel systemtragende Unterschied zwischen Natürlichkeit und Freiheit zum Ausdruck. Natürlichkeit und Freiheit, nicht aber natürliche und rechtliche Freiheit stehen sich bei Hegel gegenüber 96. Wenn es im Anerkennungskampf darum geht, »meiner Freiheit Dasein« 97 zu geben, dann verweist dies auf einen einheitlichen Freiheitsbegriff, der sich nicht aufspalten lässt in eine natürliche und eine rechtliche Freiheit. Zweitens geht aus diesem Kampf nicht das Recht hervor. Denn selbst wenn man mit einigen heutigen Hegelinterpreten das Recht zuvörderst als intersubjektive Anerkennungsgemeinschaft deuten würde, so ist an dieser Stelle selbst ein solch reduzierter Begriff des Rechts nicht erfüllt. Denn Hegels Anerkennungskampf ist ein Kampf, der auf den Tod geht und nicht etwa auf bestimmte Rechtspositionen. Nach Hegel erzeugt der Anerkennungskampf lediglich einen neuen,
TWA10, § 431 Z (220). Damit ist nicht gemeint, dass sich Natürlichkeit und Freiheit in einem dualistischen Sinne getrennt gegenüber stehen, vielmehr sind Natur und Freiheit wie auch Natur und Geist nicht strikt getrennt voneinander denkbar, siehe hierzu insb. unten 2.2.4 und 3.1. 97 Enz. 1830 § 431 (TWA10, 220; GW20, 430). 95 96
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»höhere[n]« 98 im Sinne von »größere[n]« 99 Widerspruch. Denn da der Modus, in dem sich die Freiheit in diesem Anerkennungskampf durchsetzen kann, nur der Tod ist, bleibt kein anderer mehr als Anerkennungspartner übrig 100. Übrig bleibt also an dieser Stelle des möglichen Übergangs nur ein einzelner Sieger, den niemand anerkennen kann, weil der potentiell Anerkennende sein Leben lassen musste, damit der Sieger seine Freiheit verwirklichen konnte. Drittens ist diese Passage systematisch in die Entwicklung des Geistes eingebettet. Die Natur setzt den Geist hierbei voraus, der subjektive setzt den objektiven Geist voraus, hierzu näher die Punkte 2.2.4 und 2.2.5. Der Anerkennungskampf findet »im« 101 Geist statt, dem kein äußerer Zustand der Natürlichkeit gegenüberstehen kann. Die Natur und mit ihr der Naturzustand sind vielmehr in ihrer begrifflichen Verfasstheit als das Moment der Äußerlichkeit 102 vom Geist abhängig und können nicht isoliert von ihm gedacht werden.
2.1.4 Anmerkung zu § 502 der Enzyklopädie Ein weiteres Mal ausdrücklich erwähnt Hegel den Naturzustand in der Anmerkung zu § 502 der Enzyklopädie, der vom Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität handelt. Hegel geht an dieser Stelle ausdrücklich auf die Begriffe Naturzustand und Naturrecht ein. Zunächst unterscheidet er hierbei zwei noch heute in der rechtsphilosophischen Tradition gebräuchliche Redeweisen von der Natur, nämlich die Redeweise von der Natur der Sache auf der einen Seite, auf der anderen Seite diejenige, die ein Vorhandensein »in unmittelbarer Enz. 1830 § 432 (TWA10, 221; GW20, 432). TWA10, § 432 Z (221). 100 TWA10, § 432 Z (221): »Durch den Tod aber wird die Natürlichkeit tatsächlich negiert und dadurch zugleich deren Widerspruch mit dem Geistigen, mit dem Ich, aufgelöst. Diese Auflösung ist jedoch nur ganz abstrakt, nur von negativer, nicht von positiver Art. Denn wenn von den beiden um ihre gegenseitige Anerkennung miteinander Kämpfenden auch nur der eine untergeht, so kommt keine Anerkennung zustande, so existiert der Übriggebliebene ebensowenig wie der Tote als ein Anerkannter.« 101 Die Anführungszeichen dienen hier dazu, einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, nach dem die gewählte Formulierung örtlich gemeint sein könnte. Hier soll lediglich klargestellt werden, dass der Geist zwar mit dem Begriff der Natur das Moment der Äußerlichkeit beinhaltet, aber gerade kein dem Geist Äußeres denkbar ist. 102 Siehe Enz. 1830 § 247 (TWA9, 24; GW20, 237) und unten 2.2.4. 98 99
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Naturweise« 103 bedeutet 104. Die letztgenannte Rede von der Geltung des Rechts in unmittelbarer Naturweise ordnet er dem Kontraktualismus zu. Der Kontraktualismus beurteile das Verhältnis von Natur und Recht auf Grundlage eines falschen Verständnisses des Begriffs der Natur: Ein Naturzustand sei aus dem falschen der beiden Begriffe der Natur »erdichtet worden« 105. Das Recht gründe sich nicht auf Naturbestimmungen, sondern im Gegenteil »auf die freie Persönlichkeit, eine Selbstbestimmung« 106. Dem liegt ein anderes Freiheitsverständnis zugrunde als dem kontraktualistischen Denken: Recht und Staat sind nach Hegels Rechtsdenken Ausfluss freier Selbstbestimmung und nicht künstliche Institutionen, die die natürliche individuelle Freiheit einschränken. In diesem Freiheitsverständnis entstandene Institutionen sind keine Institutionen der »Gewalttätigkeit und des Unrechts«, wie sie der Naturzustand hervorbringen würde, sondern »der Zustand, in welchem allein das Recht seine Wirklichkeit hat« 107. Besonders aufschlussreich an dieser Stelle ist zudem nicht nur ihr Inhalt, sondern ihre systematische Stellung im Übergang zur Moralität. Daher soll sie eingehender am Ende des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit thematisiert werden 108.
2.1.5 Anmerkung zu § 93 der Grundlinien An einer etwas versteckten, auf den ersten Blick überraschenden Stelle der Grundlinien, der Anmerkung zu § 93, erwähnt Hegel den Naturzustand ebenfalls. Dort heißt es im Wortlaut: »Entweder ist ein sittliches Dasein in Familie oder Staat schon gesetzt, gegen welche jene Natürlichkeit eine Gewalttätigkeit ist, oder es ist nur ein Naturzustand, Zustand der Gewalt überhaupt vorhanden, so begründet die Idee gegen diesen ein Heroenrecht. 109«
Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488). Zur Redeweise von der Natur der Sache siehe sogleich 2.2.1.3. 105 Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488). 106 Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488). 107 beide Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311 f.; GW20, 488). 108 siehe unten 3.3. 109 Grundlinien § 93 A (TWA 7, 180; GW14/1, 288); ursprünglich stand statt »Heroenrecht« »Herrenrecht«, siehe Fn. in GW14/1, 288. 103 104
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Der Kontext dieser Passage sind Hegels Ausführungen zu Zwang und Verbrechen am Ende des abstrakten Rechts. In § 93 differenziert er zwei Begriffe des Zwangs: den ersten, natürlichen Zwang und den zweiten, rechtlichen Zwang 110. Die Anmerkung beinhaltet nähere Ausführungen zu dieser Differenzierung. Erster und zweiter Zwang ließen sich auf einen ersten Blick irrigerweise durch die zeitliche Abfolge eines vermeintlich zwanglosen Zustands und des gegen diesen Zustand gerichteten Zwangs abgrenzen. Im Bild des Kontraktualismus würde das bedeuten: Zunächst gibt es einen für sich gesehen zwanglosen (Natur-)Zustand, dem gegenüber zum Beispiel durch den Abschluss des Gesellschaftsvertrags und aus dieser Übereinkunft herzuleitenden Pflichten und Sanktionen ein Zwang ausgeübt wird. Nach Hegel ist diese Vorstellung verfehlt. Denn ein Naturzustand ist bereits ein Zustand der »Gewalt gegen die an sich seiende Idee der Freiheit 111«. Dieser Zwang ist nach Hegels Terminologie erster, natürlicher Zwang – den er in dieser Anmerkung vergleicht mit dem ersten Zwang des Vertragsbruchs in einem schon bestehenden Rechtszustand. Hegel fasst somit das Verhältnis von Zwang und Naturzustand genau gegenläufig zur kontraktualistischen Tradition auf. Nicht der durch den Gesellschaftsvertrag errichtete Rechtszustand ist Zwang gegen einen zwanglosen Naturzustand. Vielmehr ist der Naturzustand bereits Zwang gegen die Freiheit. Eine besondere Pointe erfährt diese Gegenüberstellung dadurch, dass er den Zwang des Naturzustands mit dem Zwang des Vertragsbruchs vergleicht – ist doch der (Gesellschafts-)Vertragsschluss in der kontraktualistischen Tradition gerade das Mittel, aus dem Naturzustand herauszugehen. Ein Zwang, der sich gegen den Naturzustand richtet, ist sodann nach Hegels Terminologie bereits zweiter, genuin rechtlicher Zwang. Es stellt sich aber hinsichtlich des an dieser Stelle behandelten Problems des Naturzustands die Frage, ob Hegel mit diesen Ausführungen zwar die kontraktualistische Tradition und ihre nach Hegel verfehlten Begriffe von Natur und Freiheit kritisiert, aber nicht eben doch von der Existenz oder Möglichkeit eines der kontraktualistischen Tradition vergleichbaren Naturzustands ausgeht. Das ist nicht der Fall, weil Hegel den Begriff des Naturzustands an dieser Stelle in einer anderen Weise gebraucht als die Tradition. Er 110 111
Hierzu näher im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit (3.1.3). Grundlinien § 93 A (TWA 7, 179; GW14/1, 288).
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fasst ihn nicht auf als Begriff in einem legitimatorischen Begründungsprogramm des Rechts und des Rechtszustands, sondern als einen tatsächlichen Zustand des Krieges. Hegel stellt einen Zustand des sittlichen Daseins einem Kriegszustand gegenüber, den er Naturzustand nennt und näher beschreibt als »Zustand der Gewalt überhaupt« 112. Seine Argumentation zielt an dieser Stelle nicht darauf ab, die Genese eines Rechtszustands zu beschreiben, sondern zu zeigen, dass selbst in einem solchen »Zustand der Gewalt überhaupt« das Recht obsiegt. Dies begründet er durch seine Differenzierung zwischen erstem und zweitem Zwang. Der Naturzustand in diesem Sinne ist ein Zustand des (ersten) Zwangs gegen die Freiheit. Hiergegen besteht ein von Hegel so genanntes »Heroenrecht« oder »Herrenrecht« 113 als zweiter Zwang und zwar selbst dann, wenn keine entwickelten staatlichen oder auch nur familiären Strukturen bestehen sollten. Daraus lassen sich zwei für die vorliegende Untersuchung maßgebliche Schlüsse ziehen: Erstens ist nach Hegel selbst ein so vorgestellter Naturzustand rechtlich verfasst. Er ist untrennbar verknüpft mit einem Recht gegen den Naturzustand. Dieser zweite Zwang ist ein rechtlicher, kein natürlicher Zwang und kann nicht als natürliche Reaktion auf einen natürlichen Zustand verstanden werden. Außerdem ist der Naturzustand als erster Zwang bereits gegen die nicht natürliche, sondern vom Blickwinkel dieser Gegenüberstellung aus beurteilt: rechtliche Freiheit gerichtet 114. Im Zusatz zu § 93 wird der Zwang der Heroen auch ausdrücklich als rechtlicher Zwang qualifiziert 115. Zweitens kommt anhand dieser konkreten Passage Hegels ontologischer Vorrang des Rechts vor der Natur zum Ausdruck. Vorranging vor einem natürlichen Zustand natürlicher Freiheit ist die Idee der Freiheit, die wiederum untrennbar mit dem Recht verknüpft ist. Ein Naturzustand und ein Zustand natürlicher Freiheit sind nach Hegel nicht isoliert, sondern immer nur in einem Verhältnis zum Recht zu denken – in zwei »Richtungen«: Ein Naturzustand ist bereits geEbd. Grundlinien § 93 A (TWA7, 180; GW14/1, 288). 114 Zur Frage, wie genau das Verhältnis von erstem zu zweitem Zwang zu verstehen ist, siehe unten 3.1.3. 115 TWA7, § 93 Z (180): »als das höhere Recht der Idee gegen die Natürlichkeit ist dieser Zwang der Heroen ein rechtlicher«. 112 113
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Explizite Auseinandersetzung mit dem Naturzustand
gen einen Zustand freier, personaler Selbstbestimmung gerichtet; gegen den Naturzustand besteht, und zwar nicht erst als Reaktion in einer zeitlichen Abfolge, sondern zwingend und »von vornherein«, ein Recht, das Hegel Heroenrecht nennt. Die kontraktualistische Prämisse des explikatorischen Vorrangs eines Naturzustandes natürlicher Freiheit vor dem Rechtszustand rechtlicher Freiheit ist vor diesem Hintergrund nicht mit Hegels Denken vereinbar. Somit lässt sich im Ausgang der analysierten Passagen festhalten: Hegel geht vor allem in Anbetracht der Wichtigkeit des Rechts in seiner Konzeption des objektiven Geistes an erstaunlich wenigen Stellen explizit auf den Gedanken des Naturzustands ein. Wenn er dies tut, dann eher in ablehnender Weise, teils polemisch und exkursorisch, lediglich im Falle des Naturrechtsaufsatzes eingehender 116. Die wenigen expliziten Passagen lassen folgende Punkte grundsätzlicher Kritik zumindest anklingen: Der Gedanke des Naturzustandes ist für Hegel verknüpft mit einem am Empirismus orientierten Unmittelbarkeitsdenken, das er an vielen Stellen seines Werks ablehnt. Der Kontraktualismus räumt zudem dem Individuellen explikatorischen Vorrang vor dem Allgemeinen ein – eine nach Hegel verfehlte Strategie. Zudem liegt dem Naturzustandsdenken ein dualistischer und daher defizitärer Begriff von Freiheit zugrunde 117. Nichtsdestotrotz wurden Versuche unternommen, Hegel einen impliziten Naturzustand zuzuschreiben. Diese Versuche sollen im Folgenden erörtert und bewertet werden. Außerdem sollen über explizite Versuche der Sekundärliteratur hinaus weitere Übergangsstellen des Hegel’schen Werkes daraufhin untersucht werden, ob sie einen impliziten Naturzustand beinhalten.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Hegel am Ende der Grundlinien auf einen Naturzustand zwischen den Staaten (§ 333) sowie am Ende des objektiven Geistes der Enzyklopädie 1830 (§ 545) auf einen Kriegszustand zwischen den Staaten – ohne diesen aber an dieser Stelle ausdrücklich als Naturzustand zu bezeichnen – eingeht. Diese Figur des Natur- bzw. Kriegszustands zwischen den Staaten setzt allerdings – unabhängig davon, wie Hegel diese Denkfigur bewertet und welche Rolle sie in seinem Gedankengang spielt – offensichtlich schon Recht und Staatlichkeit voraus und kommt somit nicht als Rechtfertigungsfigur für die Begründung von Recht überhaupt in Betracht. 117 Siehe näher unten 2.4; zu Hegels Kritik dualistischer Freiheitskonzepte siehe auch Vieweg 2012, insb. 48 ff. 116
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2.2 Gibt es einen (impliziten) Naturzustand bei Hegel? In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen: Die Frage, was überhaupt unter einem Naturzustand zu verstehen ist und außerdem die Frage nach Stellen in Hegels Werk, die einen impliziten Naturzustand beinhalten könnten. Erstens soll daher kurz beleuchtet werden, was überhaupt unter dem Gedanken des Naturzustandes zu verstehen ist (2.2.1). Dabei sollen weder ein historischer Abriss des Kontraktualismus noch eine vollständige systematische Aufstellung all seiner Aspekte erfolgen. Vielmehr sollen einige grundsätzliche Strukturen des Naturzustandsdenkens herausgearbeitet werden, anhand derer in einem zweiten Schritt Hegels Werk auf implizite Gehalte eines solchen Denkens hin untersucht werden kann. Die offensichtlichen Kandidaten für einen impliziten Naturzustand in Hegels Werk sind seine Herr-Knecht-Dialektik (2.2.2) der Phänomenologie 118 sowie sein dem Rechtszustand vorangehendes Kapitel zur Sittlichkeit in der Phänomenologie (2.2.3). Außerdem kommen weitere Passagen des Übergangs in Betracht, denen ein dem Kontraktualismus vergleichbarer Übergang eingeschrieben sein könnte, namentlich die Übergänge von der Natur- zur Geistphilosophie (2.2.4) sowie von subjektivem zu objektivem Geist (2.2.5) in der Enzyklopädie. Ein Wechsel von Natur zu Recht könnte sich schließlich auch in der in der Einleitung zu den Grundlinien ausgearbeiteten Willensdialektik finden lassen (2.2.6).
2.2.1 Der Gedanke des Naturzustands Wenngleich sich anfängliche Strukturen des Denkens von Natur- und Rechtszustand bereits bei den Sophisten finden lassen 119, handelt es sich hierbei um eine typisch neuzeitliche Denkfigur. Neuzeitliche Staatsphilosophen sahen sich in zuvor nicht dagewesener Intensität mit dem Anspruch des Individualismus konfrontiert. Ohne noch auf 118 Hiervon zu unterscheiden sind die Passagen zum Anerkennungskampf in der Enzyklopädie, die als Exempel einer expliziten Auseinandersetzung Hegels mit dem Naturzustand bereits oben 2.1.3 thematisiert wurden. 119 Kersting 1994, 12 f.; Böckenförde 2002, 59 f.
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Gibt es einen (impliziten) Naturzustand bei Hegel?
eine übergeordnete, nicht hinterfragbare sinnstiftende Instanz verweisen zu können, stellte sich die Legitimitätsfrage des Rechts auf grundsätzlicher Ebene. Beginnend mit Hobbes wurde radikal nach der Legitimität des Rechts und staatlicher Herrschaft überhaupt gefragt 120. Im Folgenden sollen zwei Grundzüge des neuzeitlich kontraktualistischen Denkens dargestellt werden 121. Dies ist erstens der Dualismus zwischen einem vorrechtlichen und einem rechtlichen Zustand. Außerdem erfüllt der Kontraktualismus die Funktion einer säkularen Ursprungserzählung. Zudem soll, um Missverständnissen vorzubeugen, der Begriff des Naturzustandes vom bei Hegel durchaus gebräuchlichen Begriff der »Natur der Sache« abgegrenzt werden. 2.2.1.1 Dualismus des Naturzustandsdenkens Leitend für den kontraktualistischen Ansatz waren unter anderem folgende Grundüberlegungen, die hier in einem ersten Schritt allgemeinverständlich umrissen werden sollen: Warum ist es dem Individuum überhaupt zuzumuten, sich an in den meisten Fällen fremdgemachte Regeln zu halten? Woher kommt die Verpflichtung, sich an diese Regeln zu halten? Wie ist die Beschränkung der Freiheit eines jeden Individuums, die zwangsläufig mit dem menschlichen Miteinander einhergeht, zu rechtfertigen? In diesem Zuge wurden auch rechtsspezifischere Fragen neu formuliert, zum Beispiel: Wie ist Strafe zu rechtfertigen, welchen Zweck verfolgt sie? Warum muss man sich an Verträge halten und warum drohen Sanktionen im gegenteiligen Fall? Beginnend mit Hobbes haben sich viele Rechts- und Staatsphilosophen der Neuzeit zur Beantwortung der eben umrissenen Legitimationsfrage einer spezifischen Argumentationsstrategie bedient, die Siehe hierzu Kersting 1994, 11 ff. Siehe zu den Theorien vom Gesellschaftsvertrag den Überblick bei Engländer 2002, der das Argument des Gesellschaftsvertrags in die drei grundlegenden Begründungsschritte: Naturzustand, vertragliche Übereinkunft und (gerechtfertigte) staatliche Ordnung (381 f.) analysiert sowie im Hinblick auf neuere Vertragstheorien Engländer 2000a. Der Klarstellung halber sei darauf hingewiesen, dass es im Folgenden weder darum geht, sämtliche Variationen des Denkens vom Naturzustand nachzuzeichnen, noch darum, Debatten innerhalb des kontraktualistischen Diskurses nachzuzeichnen. Vielmehr geht es um eine Abgrenzung der Denkfigur des Kontraktualismus zu Hegels Rechtsdenken, siehe hierzu insbesondere die Zusammenfassung unten 2.4. 120 121
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aus heutiger Sicht kontraktualistisch genannt wird. Ihre Grundidee besteht darin, die Legitimität und die Notwendigkeit des Rechts und der staatlichen Herrschaft aus einer freien Übereinkunft seiner Bürger heraus zu begründen 122. Der Staat ist vor diesem Hintergrund keine göttlich oder natürlich gegebene Einheit, sondern ein künstlich geschaffenes Gebilde. Geltendes Recht ist rechtfertigungsbedürftig. Teil dieser Strategie ist ein Dualismus zwischen einem vorrechtlichen und einem rechtlichen Zustand. Der vorrechtliche Zustand, der Naturzustand, ist ein – sei es als real existierender oder realgeschichtlich vergangener oder als bloße Annahme gedachter – Zustand, in dem sich Individuen natürlich begegnen, ohne dass es eine ihnen übergeordnete, regelnde und vereinheitlichende Instanz gibt. In diesem Naturzustand gibt es keine Rechte oder zumindest in Ermangelung einer Durchsetzungsinstanz keine durchsetzbaren Rechte und damit keine Rechtssicherheit. Der Gedanke eines solchen Naturzustands ist verknüpft mit anthropologischen Grundannahmen und einer Sozialprognose. Aus dieser Situation heraus wird sodann begründet, warum es im Interesse eines jeden Individuums ist, warum es für jeden vernünftig ist, in einen rechtlichen Zustand überzugehen. Bei aller Verschiedenheit in den Details der Sozialanalyse des Naturzustands zwischen einzelnen Vertretern des Kontraktualismus besteht ein Hauptproblem des sozialen Miteinanders in einem ungeregelten Naturzustand in einer Struktur des Misstrauens 123. Während nämlich weitere Defizite des Naturzustands wie ein Kriegszustand, Rechtsunsicherheit oder die Anfälligkeit für den Prozess der Zivilisierung eher statische und unter Umständen auch für sich gesehen änderbare Faktoren darstellen, ist das Misstrauen ein Negativmotor. Dies wird am deutlichsten in Hobbes’ Schilderung des Naturzustands, gilt aber für jeden ungeregelten Zustand unter der Prämisse eines individualistischen Menschenbildes. Das Eigeninteresse des Individuums besteht nämlich nicht nur darin, für sich oder die Seinen eine besonders gute Stellung zu erreichen, wobei man die Anderen nur insofern einbeziehen müsste, als sie dem eigenen konkreten Interesse in einem konkreten Fall widerstreiten. Vielmehr
122 Siehe exemplarisch das 16. und den Anfang des 17. Kapitels des Leviathan (Hobbes 1651/1966, 147–154). 123 Siehe Hobbes’ Schilderung des Naturzustands im 13. Kapitel des Leviathan, insb. Hobbes 1651/1966, 114; Kersting 1994, 65; 2010, 50 in Bezug auf Hobbes; Hartmann 1994, Kapitel 15 (406 ff.).
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herrscht die permanente Angst, ein anderer könnte einem selbst zuvorkommen und man müsse somit präventiv vorgehen. Zudem kann sich ein jeder denken, dass der andere dieselben Überlegungen anstellt. Es entsteht eine sich stetig beschleunigende Spirale von Präventivhandlungen. Das Bindeglied zwischen dem Naturzustand und dem Rechtszustand erblicken die Kontraktualisten in der Rechtsfigur des Vertrages. Damit gehen zwei zentrale Aspekte einher. Zum einen ist der Vertrag eine rechtliche Institution des Privatrechts. Im Unterschied zum öffentlichen Recht, dessen Rechtsinstituten grundsätzlich ein Subordinationsverhältnis eingeschrieben ist, zeichnet sich der Vertrag durch eine Gleichordnung der beteiligen Personen aus. Das ohne eine vorgedachte Hierarchie strukturierte Nebeneinander der Individuen kommt somit schon in der Wahl des legitimationsstiftenden Umsetzungsinstruments zur Geltung. Zudem wird durch den Vertrag ein Mindestmaß an dem Misstrauen des Naturzustands entgegensetzbarem Vertrauen gewährleistet. Dem Vertrag, wie er im Kontraktualismus gedacht wird, ist nämlich eine strenge Reziprozität eingeschrieben 124. Dass der Naturzustands-Bewohner einem ihn selbst und seine natürliche Freiheit beschränkenden Rechtsereignis zustimmt, ist nur dann erklärbar, wenn er sichergehen kann, dass die anderen, denen er grundsätzlich misstraut, dies auf die exakt gleiche Weise tun wie er selbst, also insbesondere unter den exakt gleichen Einschränkungen. Die Strategie des Kontraktualismus bringt einige Argumentationsprobleme mit sich 125, insbesondere die Frage, wie der Verzicht na124 Kersting 1994, 16. Im Original bei Hobbes drückt sich diese Gegenseitigkeit wie folgt aus: »A commonwealth is said to be instituted, when a multitude of men do agree, and covenant, every one, with every one, that so whatsoever man, or assembly of men, shall be given by the major part, the right to present the person of them all, that is to say, to be their representative […]« (Hobbes 1651/1966, 159 – Beginn des 17. Kapitels des Leviathan). 125 Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht Hegel und sein Gegenentwurf zum kontraktualistischen Rechtsbegriff. Als weiterer wirkmächtiger und expliziter Kritiker des Kontraktualismus gilt David Hume, siehe Engländer 2000a, 4 ff.; Hoerster 2014, 3. Kapitel, Einleitung. Auch Hegel gilt der rechtsphilosophischen Tradition mitunter als Kritiker des Kontraktualismus, meist wird seinem Gegenentwurf indes eine gewisse Skepsis entgegengebracht, siehe Hoerster 2014, 4. Kapitel, Einleitung (Hegels Kritik sowie die Skepsis gegenüber seiner Kritik betreffend). Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, Hegels Rechtsbegriff aus seiner Kritik an dualistischem Rechtsdenken heraus zu rekonstruieren und somit nicht nur eine Hegel-Exegese zu
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türlicher Freiheit, der mit dem Eintritt in den Rechtszustand einhergeht, rechtfertigbar ist. Dieses Problem hat Rousseau in einer berühmten, auch von Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zitierten 126, Passage seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.« 127
Die folgenden Punkte lassen sich als kleinster gemeinsamer Nenner des klassischen Kontraktualismus festhalten: (1) Der Kontraktualismus ist ein Versuch, die Legitimität des Staates aus Prämissen der Individualität zu begründen. Ausgangspunkt des Denkens und der legitimatorischen Bemühungen ist die Vorstellung isolierter Individuen mit bestimmten Eigenschaften, Bedürfnissen und Interessen. (2) Dem geht einher ein Dualismus zwischen einem vorrechtlichen und einem rechtlichen Zustand, zwischen einem Naturzustand und einem Rechtszustand. Der Kontraktualismus muss die Aufgabe bewältigen, den Übergang vom Naturzustand in den Rechtszustand so nachzuzeichnen, dass er notwendig im eigenen Interesse eines jeden Individuums gründet. Hierzu bedient er sich der Rechtsfigur des Vertrages. (3) Dem eben genannten Dualismus korrespondiert ein Dualismus der Freiheit. Dem Kontraktualismus wohnt eine Differenz inne zwischen natürlicher Freiheit, die dem Naturzustand zugeordnet ist, und einer anderen Form von Freiheit, die nach dem Vertragsschluss besteht. Der Übergang zum Rechtszustand erweist sich so als rechtfertigungsbedürftiger Freiheitsverzicht.
leisten, sondern auch einen kritischen Beitrag gegen dualistisches (insbesondere kontraktualistisches) Rechtsdenken zu liefern. 126 TWA20, 307. 127 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762), Erstes Buch, 6. Kapitel, Rousseau 1762/1977, 17.
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Gibt es einen (impliziten) Naturzustand bei Hegel?
Bevor ein näherer Blick auf Hegel’sche Passagen geworfen wird, die eine Parallele zum Naturzustand des kontraktualistischen Denkens aufweisen könnten, soll im Folgenden eine zweite Dimension des Denkens vom Naturzustand angesprochen werden, die in modernen, analytisch geprägten Debatten zum Thema in der Regel keine Rolle zu spielen pflegt, die aber, wie sich zeigen wird, einige fruchtbare Aspekte für die Debatte um Hegels Rechtsbegriff in sich birgt. Es handelt sich um die Dimension des Naturzustands, nicht nur Versatzstück in einem logischen Verfahren zur Legitimation von Recht und Staat zu sein, sondern auch eine Ursprungserzählung, die ein Bedürfnis nach einem Narrativ vom Anfang bedient. 2.2.1.2 Der Naturzustand als Narrativ vom Ursprung Philosophie, Kunst, Religion, aber auch Disziplinen wie die Psychoanalyse beinhalten – sei es als wesentlicher Bestandteil der Wissenschaft als solcher oder als Element bloß bestimmter Werke oder Spielarten der jeweiligen Disziplin – oftmals ein Narrativ vom Ursprung. Narrative vom Ursprung tragen dem Bedürfnis Rechnung, die in einer Theorie, einem Kunstwerk oder dem Normensystem einer Religion auffindbaren Sinnzusammenhänge nicht nur in ihrem internen Verhältnis zueinander zu verstehen, sondern auch in ihrem Ursprung. Das hier skizzierte Bedürfnis geht dahin, nicht nur nach dem Wie der Dinge zu fragen, sondern auch nach dem Warum. Damit hängen verschiedene, konkretere Aspekte des Ursprungsnarrativs zusammen. Das Narrativ eines sinnvoll den Lauf auf den Jetzt-Zustand anstoßenden Ursprungs ist erstens schlichtweg ein weiteres Argument für den entwickelten Sinnzusammenhang des Jetzt-Zustands innerhalb der Logik dieses Jetzt-Zustands. Außerdem besteht ein Bedürfnis, die vielleicht zunächst einmal als fragil und erschütterbar erfahrene Gegenwart durch eine Verknüpfung mit der Vergangenheit zu stabilisieren. Die Gegenwart erscheint als Teil eines großen, sinnvollen Narrativs, ihr Gehalt erscheint als nicht kontingent, nicht jederzeit wieder wandelbar: es konnte nicht anders kommen, als es gekommen ist 128. Zukünftige Veränderungen müssten somit nicht nur einzelne Aspekte der Gegenwart verändern, sondern die aus einer langen Vergangenheit ge-
128
Vgl. Manow 2011, 12.
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wordene Gegenwart als Ganze. Ein Narrativ vom Ursprung erfüllt so eine stabilisierende Funktion 129. Drittens bedienen Ursprungserzählungen ein metaphysisches Bedürfnis des Menschen nach einer Sinnhaftigkeit des faktisch Vorfindbaren. Eine Möglichkeit, dem Sinn beizumessen, besteht darin, es in einen geschichtlichen Kontext einzuordnen und als Ergebnis nachvollziehbarer Prozesse in der Zeit darzustellen. Der Naturzustand nimmt in den kontraktualistischen Theorien die eben beschriebene Rolle der Ursprungserzählung ein. Leitfaden des kontraktualistischen Denkens ist das Streben nach einer Legitimation des Staates. Dieses Streben ist nicht nur rechtfertigungstheoretisch motiviert und umgesetzt, sondern auch in praktischer Hinsicht. Gemeint ist das den kontraktualistischen Theorien innewohnende Bestreben, nicht nur auf rein theoretischer Ebene den Staat zu erklären, sondern auch, einen dauerhaft stabilen Staat zu beschreiben und zu festigen. An dieser Stelle nicht im Fokus stehen soll die dritte, realpolitisch-realgeschichtliche Seite, die meist aus historischen Kontextualisierungen politischer oder biografischer Umstände der kontraktualistischen Denker besteht 130. Der erstgenannte Gesichtspunkt konkreter Bedürfnisse nach einem Ursprungsnarrativ (das Narrativ als weiteres Argument für das Rechtfertigungsprogramm) ist im Kontraktualismus besonders virulent. Die Statik der Argumentation der Kontraktualisten hängt nämlich vom Dualismus zwischen Naturzustand und Rechtszustand ab. Das Narrativ vom Naturzustand liefert so nicht nur ein zusätzliches Argument unter mehreren gleichwertigen für die Legitimität des Staates, sondern das zentrale Argument überhaupt. Der zweite Punkt, das Bedürfnis nach der Einordnung der Gegenwart in einen größeren Kontext, ist für den Kontraktualismus wesentlich. Es geht ihm auch um die praktisch-politische Stabilität von Recht und Staat, und zwar nicht nur theoretisch oder für eine kurze Zeitspanne, sondern auf Dauer. Um diese Dauer zu gewährleisten, wird nicht nur auf eine als isoliert gedachte Gegenwart zurückgegriffen, sondern auf eine aus ihrer Vergangenheit heraus erklärte, als Ergebnis eines sinnvollen Prozesses entstandene Gegenwart. Näheres unten 4.2.1 und 4.1.1. Siehe zum Beispiel Manow 2011, 12 f., der auf Hobbes’ Zeitumstände hinweist und das ihnen inhärente Bedürfnis nach Vergewisserung, eine »Zeit, in der der revolutionäre Umbruch tatsächlich nach ganz neuen Ursprungsvorstellungen verlangt.« (12) 129 130
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Gibt es einen (impliziten) Naturzustand bei Hegel?
Auch der dritte Punkt, das metaphysische Bedürfnis des Individuums nach einem tieferen Sinn des alltäglich Vorfindbaren, wird durch den Kontraktualismus bedient. Dies darf vor allem für das Rousseau’sche Modell gelten, das mehr noch als das Hobbes’sche den Menschen durch den kontraktualistischen Prozess zu einem anderen Menschen macht. Der Mensch wird zum Bürger und somit von seiner durch die Zivilisation hervorgerufenen Entfremdung »geheilt«. Das Rousseau’sche Modell bietet eine Erklärung dafür, warum der Bürger Bürger ist und nicht freier Wilder, warum er frei ist und wie er zu dem geworden ist, der er ist. Hier soll diese kurze Skizze genügen. An späterer Stelle soll thematisiert werden, ob auch Hegels Begriff des Rechts oder seine Philosophie des Geistes als Ursprungserzählung in diesem Sinne gelesen werden kann und, falls nein, was dies über Hegels Begriff vom Recht im Unterschied zu dem kontraktualistischen Rechtsbegriff aussagt 131. Insbesondere soll auch eine Auseinandersetzung mit der Kehrseite der Rousseau’schen Philosophie des Gesellschaftsvertrags erfolgen, der eine Melancholie des zweitbesten Weges eingeschrieben ist, die sich in Hegels Geistphilosophie nicht finden lässt. Bevor sogleich ein Blick auf die Passagen in Hegels Werk geworfen wird, in denen sich ein impliziter Naturzustand finden könnte, soll nun der begrifflichen Klarheit halber noch eine bei Hegel gebräuchliche Rede von der Natur, nämlich die Redeweise von der Natur der Sache, von der Redeweise vom Naturzustand unterschieden werden. 2.2.1.3 Naturzustand und Natur der Sache Streng zu unterscheiden vom Kontraktualismus und Theorien des Naturrechts ist die Redeweise von der Natur der Sache. Hegel spricht an vielen Stellen seines Werks von der Natur eines bestimmten Begriffs, die sich nach allem zuvor Gesagten von der dem Recht entgegengesetzten Natur unterscheidet. Beispielsweise finden sich die Formulierungen »Natur des Geistes« 132, »Natur des Willens« 133 und »Natur des Denkens und Wollens« 134. Solche Formulierungen zielen nicht darauf ab, die Natur-Verfasstheit der so bezeichneten Begriffe 131 132 133 134
siehe unten 4.2.1.1. Enz. 1830 § 380 (TWA10, 16; GW20, 381). Grundlinien § 5 A (TWA7, 50; GW14/1, 32). Grundlinien § 13 A (TWA7, 64; GW14/1, 37).
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zu behaupten, sondern die Rede der Natur der Sache verweist, ganz im Gegenteil, auf die begriffliche Verfasstheit der Sache. Hegel macht diese Unterscheidung ausdrücklich in der Anmerkung zu § 502 der Enzyklopädie klar, der den Übergang vom Recht zur Moral markiert: »Der Ausdruck Naturrecht, der für die philosophische Rechtslehre gewöhnlich gewesen, enthält die Zweideutigkeit, ob das Recht als ein in unmittelbarer Naturweise vorhandenes oder ob es so gemeint sei, wie es durch die Natur der Sache, d. i. den Begriff, sich bestimme. Jener Sinn ist der vormals gewöhnlich gemeinte […]« 135
Hegel wendet sich im Anschluss daran einer Kritik der erstgenannten Möglichkeit zu. Auf die Rede von der Natur der Sache geht er weiter nicht explizit ein. Er hält sie jedoch offenbar nicht für kritikwürdig, gebraucht er sie ja selbst an vielen Stellen 136. Die Redeweise der Natur der Sache verweist dabei nicht auf eine Natur-Verfasstheit der Sache selbst. Das ergibt sich sowohl aus dem Kontext der Passagen, in denen diese Redeweise vorkommt, als auch aus der eben zitierten Anmerkung, in der Hegel die Unterscheidung selbst trifft. Ein möglicher Vorwurf, Hegel selbst bemühe die Natur ja an vielen Stellen und dies verhalte sich widersprüchlich zu seiner strikten Ablehnung einer jeden mit Natur verknüpften kontraktualistischen Theorie, geht in Anbetracht dieser begrifflichen Differenzierung ins Leere. Von der allgemeinen Art und Weise, die Rede von der Natur der Sache zu gebrauchen, wie sie bei Hegel stellenweise im eben beschriebenen Sinne vorkommt, zu unterscheiden ist die Rede von der Natur der Sache, wie sie in der modernen Rechtstheorie verwendet wird. Die nach einem dritten Weg jenseits des rechtsphilosophischen Paradigmas Naturrecht oder Rechtspositivismus suchende rechtstheoretische Debatte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich ebenfalls wirkmächtig der Rede von der Natur der Sache bedient 137. In diesem Zusammenhang wurde der Versuch unternommen, eine inhaltsreiche Rechtstheorie zu entwickeln, die bestimmte unhintergehbare Gegebenheiten in sich aufnimmt. Solche Versuche waren gerichtet gegen inhaltsarme und vermeintlich beliebige und willkür135 Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488); hierzu noch mehrfach im Verlauf der vorliegenden Arbeit, insb. 3.3. 136 Nach Spaemann 2001, 327 habe Hegel sogar gänzlich den Begriff der Natur durch den der Natur der Sache ersetzt. 137 Übersicht bei Kaufmann 2011b, 85.
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anfällige Rechtstheorien rechtspositivistischer Provenienz. Vom klassischen Naturrecht auf der anderen Seite versuchten sich Vertreter der Natur der Sache insofern abzugrenzen, als nicht einfache natürliche Gegebenheiten postuliert, sondern der Versuch unternommen wurde, das Gegebene einer sachlogischen, strukturellen Analyse zu entnehmen 138. Die Rede von der Natur der Sache in der Rechtstheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war somit ein Versuch, die Vorzüge des Naturrechts (inhaltliche Bestimmtheit und vermeintliche Resistenz gegenüber totalitären Systemen 139) wiederzubeleben, ohne ihre Nachteile (vor allem der Verdacht schlechter Metaphysik) gleichzeitig in Kauf nehmen zu müssen. Somit steht die Rede von der Natur der Sache dem naturrechtlichen Ansatz näher als dem positivistischen, sie kann aber als eine Spielart der Suche nach dem »Dritten Weg« gelten. Mit Hegels Redeweise der Natur der Sache hat die moderne rechtstheoretische Spielart nur gemeinsam, dass beiden ein Bestreben innewohnt, der logischen und nicht der natürlichen Verfasstheit einer Sache nachzugehen. Aus Hegels Sicht ließe sich die moderne Redeweise von der Natur der Sache insofern kritisieren, als sie zwar auf die Struktur und begriffliche Logik einer Sache abzielt, die Sachen aber dennoch als isolierte, der Natur oder dem sozialen Miteinander entnommene Gegebenheit identifiziert. Ihr ließe sich mithin der gleiche Vorwurf machen wie der empiristischen Behandlungsart des Naturrechts. Unter Zugrundelegung der vorangegangenen begrifflichen Differenzierungen kann nun ein näherer Blick auf die Passagen des He-
Siehe hierzu die Übersicht bei Ellscheid 2010, 196–198. Dieser vermeintliche Vorzug des Naturrechts speist sich aus dem Standardvorwurf gegenüber dem Rechtspositivismus, sich affirmativ zu totalitären System zu verhalten. Historisch wirkmächtig hat Radbruch 1946 diesen Vorwurf gegenüber dem vermeintlichen Rechtspositivismus der NS-Zeit erhoben. Er hält sich aber bis heute, beispielsweise bei Höffe 1987, 23 und Braun 2006, 41. Dieser Vorwurf geht einher mit der These, dass ein gewisser grad an Ungerechtigkeit einer positiven Rechtsnorm die Geltung nehme (sog. Unrechtsargument, siehe Engländer 2000b, 115). Letztlich unterstellt dieser Vorwurf den rechtspositivistischen Denkern Thesen (die sog. Gehorsamsthese, nach der sich das Individuum an das Recht umstandslos halten müsse sowie die sog. Subsumtionsthese, nach der Rechtsanwendung in streng logischen Verfahren ohne jede Wertungsmöglichkeit erfolge), die diese gar nicht vertreten, siehe hierzu Hoerster 2006 und Dreier 2011. 138 139
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gel’schen Werks geworfen werden, die einen dem Übergang Naturzustand-Rechtszustand vergleichbaren Übergang beinhalten. Begonnen werden soll mit einem populären Vergleich der Hegel’schen Herr-und-Knecht-Dialektik mit dem kontraktualistischen Übergang, wie er insbesondere von Leo Strauss propagiert wurde.
2.2.2 Herr und Knecht (1) Die Idee, eine Parallele zu ziehen zwischen dem Hobbes’schen Naturzustand und der Herr-und-Knecht-Dialektik, wie sie Hegel in der Phänomenologie entfaltet, geht zurück auf eine These von Leo Strauss, die er in seinem Buch Hobbes’ politische Wissenschaft vertritt. Nach Strauss’ Auffassung »bahnt [Hobbes] Hegel den Weg« 140. Dies begründet Strauss damit, dass Hobbes in seiner Schilderung des Naturzustandes die Anerkennungsstruktur des Kampfes auf Leben und Tod aus dem Herr-und-Knecht-Kapitel vorwegnehme 141. Hobbes habe, wie auch Hegel im Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft, die anerkennungsfundierte, »ursprüngliche Form des Selbstbewußtseins« 142 erkannt. Hinter diese gebe es kein Zurück, sie sei die grundlegende Einheit nicht nur jeglicher politischen Philosophie, sondern jeglicher Philosophie überhaupt: »Hegel hat den Vorzug von Hobbes’ Grundlegung der Philosophie vor derjenigen Descartes’ stillschweigend anerkannt.« 143
Auch innerhalb des Kampfes um Anerkennung treffen laut Strauss Hegel und Hobbes die gleiche Grundentscheidung, nämlich die, dem knechtischen Bewusstsein den Vorrang vor dem Bewusstsein des Herrn einzuräumen. Dabei sei beiden gemein eine »›immanente‹, nicht an einem von vornherein explizierten Maßstab messende Prüfung.« 144 Diese sei geschichtlich eingebettet. Nur so lässt sich nach der Auffassung von Leo Strauss Hobbes angemessen lesen. Man müsse
Strauss GS 3, 124. Strauss GS 3, 74 f. 142 Strauss GS 3, 75. 143 Strauss GS 3, 74. 144 Brief an Jacob Klein vom 10. 10. 1934, GS 3, 522–524 (523), der 523 f. einen kurzen, zusammenfassenden Überblick über die Parallelen zwischen Hobbes und Hegel bietet. 140 141
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Gibt es einen (impliziten) Naturzustand bei Hegel?
»(im Hegel’schen Sinn) phänomenologisch vorgehen, die Geschichte des Menschen darstellen und die eigentlichen Voraussetzungen erst nach und nach hervortreten lassen.« 145
Der Hobbes’schen Philosophie gewinnt Strauss auf diesem Weg die Pointe ab, dass der Mensch aufgrund seiner geschichtlich verfassten Menschwerdung, wenn er »im Naturzustand bleiben will, sich selbst widerspricht« 146. So wird Hobbes vor dem Vorwurf gefeit, aus mehr oder minder willkürlich zusammengestellten anthropologischen Grundannahmen eine nur vermeintliche Notwendigkeit des Übergangs zu konstruieren, um zu einem von vornherein festgelegten Ergebnis zu gelangen – also just vor einem der Vorwürfe, die Hegel gegenüber dem Naturzustandsdenken empiristischer Provenienz erhebt. Strauss führt nur wenige Textbelege für seine These an. Er zitiert aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in denen Hegel einräumt, dass Hobbes den Naturzustand »in seinem wahrhaften Sinne« nehme, nämlich als den »tierische[n] Zustand, [den] des nicht gebrochenen eigenen Willens.« 147 Strauss räumt aber sogleich ein, dass Hegel Hobbes auch als »seicht, empirisch« 148 bezeichnet. Diesem überschaubaren Befund wollte Strauss schon zu Zeiten der Abfassung von Hobbes’ politischer Wissenschaft eine eingehendere Untersuchung folgen lassen, zu der es aber nie kam 149. (2) Es stellt sich sodann die Frage nach der Stichhaltigkeit der skizzierten Parallelen zwischen Hobbes und Hegel. Der Textbefund spricht zunächst eine eindeutige Sprache. Jenseits der kurzen von Strauss zitierten Passagen überwiegen, wie oben dargestellt, diejenigen, in denen Hegel ausdrücklich Hobbes oder zumindest den kontraktualistischen Ansatz teils polemisch und scharf kritisiert. Auch die Tatsache, dass Hobbes kaum eine explizite Rolle in Hegels Philosophie spielt, spricht zunächst gegen Strauss. Die Parallelen müssten also seitens Strauss zumindest so gut begründet sein, dass sie diesen ersten Anschein entkräften können. Das sind sie allerdings aus zwei Gründen nicht. Zum einen sind Strauss’ Ausführungen über Hegel teilweise unplausibel. Außerdem 145 146 147 148 149
Brief an Gerhard Krüger vom 17. 11. 1932, Stauss GS 3, 403–407 (407). Strauss GS 3, 124. TWA20, 227; bei Strauss: GS 3, 142. Ebd. Siehe dazu den Strauss-Herausgeber Heinrich Meier im Vorwort, XII f.
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liegt die Vermutung nahe, dass Strauss auch Hobbes im Hinblick auf die gewünschte Parallele zu Hegel deutet 150 – also wiederum genau das tut, was Hegel den Naturzustandsdenkern vorwirft. Strauss argumentiert in einer Passage von Hobbes’ politischer Wissenschaft bezüglich der angeblichen Parallele zwischen Hegel und Hobbes widersprüchlich. Denn einerseits baut er die Pointe der Parallele auf eine Ähnlichkeit zwischen dem Hobbes’schen Naturzustand und dem Anerkennungskampf des Herr-und-Knecht-Kapitels. An anderer Stelle parallelisiert Strauss jedoch das Natürliche des Hobbes’schen Naturzustands mit dem Zustand der Geistlosigkeit des Kapitels über sinnliche Gewissheit am Anfang der Phänomenologie 151. Naturzustand zu Staat bei Hobbes verhalte sich demnach wie natürliches Bewusstsein zum absoluten Wissen bei Hegel. Außer der sehr weitgefassten Parallele, dass zwischen beiden Polen jeweils ein Prozess der Konkretisierung abläuft, gibt es keine den Vergleich stützende Parallelen. Wie auch immer man im Detail das Kapitel über sinnliche Gewissheit verstehen mag, es schildert jedenfalls keine soziale Situation, in der Menschen interagieren, sondern es kritisiert die Vorstellung eines unmittelbaren Gegenstandsbezugs des Bewusstseins. Ziel der Phänomenologie ist außerdem eben nicht der Staat, wie es in den Grundlinien der Fall ist, sondern das absolute Wissen. Auch gegenüber einer zu weiten Interpretation des Herr-undKnecht-Kapitels ist Vorsicht geboten. Ohne dass dieser Punkt an dieser Stelle ausführlich erörtert werden soll, liegt die Vermutung nahe, dass Strauss Hegel von vornherein unter dem Raster des Politischen interpretiert. Dann allerdings verwundert die Konzentration auf eine Schrift Hegels, nämlich die Phänomenologie des Geistes, die dem ersten Anschein nach gerade nicht nur das Politische, sondern das gesamte Hegel’sche System in erkenntnistheoretischer Perspektive beinhaltet. Neben all den an späterer Stelle noch zu erörternden systematischen Gründen, die gegen die These sprechen, Hegels Werk beinhalte einen impliziten Naturzustand, ist die Parallele zwischen Hobbes und Hegel, wie sie Strauss zieht, schon auf den ersten Blick unplausibel und nicht hinreichend begründet. Dazu treten ernsthafte Bedenken, ob Strauss Hobbes in seiner Interpretation nicht überstrapaziert. Strauss behandelt die Parallele 150 151
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Kersting 2009, 59 ff. Strauss GS 3, 124.
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zwischen Hobbes und Hegel hauptsächlich in einem »Adelstugend« betitelten Kapitel. Er legt also den Hobbes’schen Naturzustand tugendtheoretisch aus 152, lädt ihn somit moralisch auf. Auch im Hinblick auf den Personbegriff funktioniert die Parallele zwischen Hobbes und Hegel nicht. Bei beiden ist der Übergang in einen Rechtszustand mit dem Begriff der Person verknüpft. Bei Hegel ist der Personbegriff auch in seiner abstraktesten Form mit einer normativen Mindestbestimmtheit, also mit einem Rechtszustand verknüpft 153. Bei Hobbes hingegen, erst recht in der normativ aufgeladenen Deutung Strauss’, entfaltet der Begriff der Person schon im Naturzustand seine Dynamik. Hobbes’ Naturzustandsbewohner ist mithin auch nicht an Anerkennung interessiert und daran, in bestimmten rechtlichen Rollen zu mehr Bestimmtheit zu gelangen, sondern am bloßen Überleben 154. Diese Verknüpfung von Naturzustand und normativem Personbegriff ist nach Hegel undenkbar. Letztlich scheitert auch die Parallele bezüglich des Werdens des Menschen und der Person. Der Hobbes’sche Naturzustandsbewohner muss sich gerade nicht völlig entäußern, seine Subjektivität muss nicht völlig in einer übergeordneten Instanz aufgehen. Er ist nicht Teil einer alle Individualität übersteigenden und auslöschenden dialektischen Dynamik. Hobbes schildert nicht, wie Hegel, die notwendige Vernünftigkeit des Rechts und des Staates, sondern eher die pragmatische Notwendigkeit des Übergangs in einen rechtlichen Zustand 155. Bei Hobbes geht der Abschluss des Gesellschaftsvertrages vor allem mit einem Verzicht auf natürliche Rechte 156 und dem Erlangen von Frieden und Rechtssicherheit einher. Es lässt sich abgesehen davon darüber streiten, ob nicht Hobbes’ Staatsentstehung vor allem wegen der Verknüpfung mit dem Begriff der Person und den oft außen vor gelassenen religiösen Bezügen im Leviathan mehr ist als eine isoliert auf das Recht bezogene, pragma-
Hinweis darauf bei Kersting 2009, 60. Näheres zu Hegels Begriff der Person unten 3.1.4. 154 Kersting 2009, 59. 155 Kersting 2009, 62. 156 Es lässt sich darüber streiten, ob im Naturzustand bei Hobbes überhaupt sinnvoll von Rechten gesprochen werden kann, da ihnen im vorstaatlichen Zustand einige der Charakteristika eines heutigen Rechtsbegriffs wie normative Verfasstheit oder Durchsetzbarkeit nicht zukommen. 152 153
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tisch-rationale Entscheidungssituation 157. Dem Naturzustand wohnt aber selbst unter einer solchen erweiterten Lesart keinesfalls die von Strauss konstatierte dialektische Dynamik nach Hegel’schem Vorbild inne. (3) Strauss’ Exegese ließe sich sogar der Vollständigkeit halber noch um zwei Textstellen erweitern, die Strauss selbst nicht anspricht. Auch die Berücksichtigung dieser weiteren Passagen führt jedoch zu keiner anderen Bewertung der Strauss’schen Parallele zwischen Hegel und Hobbes. In den Passagen der Phänomenologie zum Anerkennungskampf bezeichnet Hegel das Leben als »die natürliche Position des Bewußtseins«, den Tod hingegen als »die natürliche Negation desselben« 158. Man könnte diese Auszüge auf den ersten Blick so verstehen, dass der Anerkennungskampf, aus dem letztlich die Anerkennungsdialektik von Herr und Knecht hervorgeht, ein natürlicher Vorgang ist, aus dem, parallel zum Kontraktualismus, Normativität entsteht. Mit einem Blick auf die Anmerkung zu § 433 der Enzyklopädie ließe sich dieser Gedanke auch auf das Recht übertragen. Dort schreibt Hegel: »Der Kampf des Anerkennens und die Unterwerfung unter einen Herrn ist die Erscheinung, aus welcher das Zusammenleben der Menschen, als ein Beginnen der Staaten, hervorgegangen ist. 159«
Hier erwähnt Hegel den Naturzustand zwar nicht explizit, spielt aber deutlich auf den Übergangsgedanken des Kontraktualismus an. Doch wie bereits oben 2.1.3. gezeigt, kritisiert Hegel in der Enzyklopädie gerade den Gedanken des kontraktualistischen Übergangs. Der Kampf, den er in § 433 schildert, ist »nicht Grund des Rechts« und nicht »ihr [der Staaten, Anm. Verf.] substantielles Prinzip« 160. In der Phänomenologie gewinnt Hegel der Vorstellung des Anerkennungskampfes als natürlichem Vorgang eine besondere Pointe ab. Diese Vorstellung verbindet er mit einem abstrakten Begriff des Todes:
157 Siehe hierzu Manow 2011, der den zweiten Teil seines Buches den religiösen Bezügen des Leviathan widmet. 158 Beide Zitate TWA3, 149; GW9, 112. 159 Enz. 1830 § 433 A (TWA10, 223; GW20, 431). 160 Beide ebd.
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»die Mitte fällt in eine tote Einheit zusammen, welche in tote, bloß seiende, nicht entgegengesetzte Extreme zersetzt ist« 161
Ein natürlich vorgestellter Anerkennungskampf endet im Nichts. Was sich in einer Vorstellung der Natürlichkeit zwischen den Individuen abspielen würde, ist daher nicht Leben. Das entsprechende Resultat des Anerkennungskampfes ist auch nicht der Tod in einem reicheren Sinne, sondern die Leere einer »tote[n] Einheit«. Nun könnte man argumentieren, genau im Übergang von diesem natürlichen Anerkennungskampf zum höheren des Herrn und Knechts liege die Parallele zum Kontraktualismus. Dem ist aber zu erwidern, dass auch in der Phänomenologie die beiden Erfahrungen 162 des Bewusstseins als Einheit gedacht werden müssen. Auch wenn die erste Erfahrung (der »natürliche« Anerkennungskampf) als Moment der Anerkennungsdialektik isoliert gedacht werden kann, so setzt sie doch das höhere, normative Moment der Herr-und-Knecht-Dialektik voraus. In der Phänomenologie fasst Hegel diesen Zusammenhang im Begriff des Aufhebens, dem er nicht nur ein aufbewahren und erhalten, sondern (im eben umschriebenen Sinne) auch ein überleben einschreibt 163. In der Enzyklopädie fasst er diesen Zusammenhang klarer. Dort bezeichnet er den Anerkennungskampf als bloße »Erscheinung« und unterscheidet zwischen der Erscheinung zuzuordnenden Vorgängen (also den Naturzustand, sofern man ihn mit dem Anerkennungskampf gleichsetzt) auf der einen Seite und Vorgängen des Rechtszustands als »Grund des Rechts« und »substantielle(m) Prinzip« 164 auf der anderen Seite. Hegel stellt dabei ausdrücklich klar, dass Naturzustand und Anerkennungskampf ihre Rolle nur auf Seiten der äußeren Erscheinung spielen und weder »Grund des Rechts« noch »substantielles Prinzip« des Rechts sind. Es lässt sich festhalten, dass im Herr-und-Knecht-Kapitel der Phänomenologie sowie in den Passagen zum Anerkennungskampf in der Enzyklopädie kein versteckter Naturzustand zu finden ist. TWA3, 150; GW9, 112. So Hegels Terminologie ebd. 163 »[…] die Negation des Bewußtseins, welches so aufhebt, daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält und hiermit sein Aufgehobenwerden überlebt.«, Ebd. (S. 150 oben). Hegel grenzt diese »Negation des Bewußtseins« von der defizitären, »abstrakte [n] Negation« ab. 164 Beide Enz. 1830 § 433 A (TWA10, 223; GW20, 431). 161 162
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Strauss’ These greift bei Hegel zu kurz und bei Hobbes zu weit. Nichtsdestotrotz könnte Strauss insofern Recht haben, als Hegel der radikalere Hobbes sei 165, allerdings in einem anderen, später zu erläuternden Sinne.
2.2.3 Antike Sittlichkeit Eine zweite Möglichkeit eines impliziten Naturzustandes in Hegels Werk könnte die antike Sittlichkeit sein, wie sie in der Phänomenologie auftritt. Zunächst soll klargestellt sein, dass im Folgenden Sittlichkeit diejenige der Phänomenologie bezeichnet, also ein mit Hegels Vorstellung der griechischen Antike verknüpfter Zustand unmittelbarer Einheit, die nicht von vermeintlich modernen Dualismen wie dem zwischen subjektivem Willen und substanzieller Einheit gespalten ist. Nicht thematisiert wird hier die Sittlichkeit seines Spätwerks, die offenkundig nach dem Recht und nicht vor ihm steht. (1) Allein die systematische Stellung der Sittlichkeit in der Phänomenologie vor dem Rechtszustand könnte darauf schließen lassen, dass in der Sittlichkeit noch keine rechtliche Normativität verwirklicht ist. Das, was hingegen in der Sittlichkeit verwirklicht ist, könnte die Natur sein. Allerdings finden sich die Ausführungen über die Sittlichkeit bereits im Geist-Kapitel der Phänomenologie und sind nicht nur mit »Sittlichkeit«, sondern auch mit »wahrer Geist« betitelt. In zweierlei Hinsicht schließt dieser Befund aber nicht von vornherein die Möglichkeit aus, eine Parallele zum Naturzustand zu ziehen. Geist bedeutet zu Beginn des Geist-Kapitels der Phänomenologie erst einmal nicht viel mehr als die Konkretion zunächst abstrakt vorgestellter Beziehungsweisen von Bewusstsein und Gegenstand in der Wirklichkeit. Der Geist »ist die sittliche Wirklichkeit« 166, das »sich selbst tragende, absolute reale Wesen« 167. Geist bedeutet also an dieser Stelle keineswegs bereits ein ausdifferenziertes Gemein-
165 »Hegel wendet sich gegen Hobbes (…) auf dem Boden von Hobbes und in Radikalisierung von Hobbes’ Methode.«, Brief an Jacob Klein vom 10. 10. 1934, Strauss GS 3, 522–524 (524). 166 TWA3, 325; GW9, 238. 167 TWA3, 325; GW9, 239.
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wesen mit klar geformten Herrschaftsstrukturen. Auch der Naturzustand ist mehr als das bloße Aufeinanderprallen blindwütiger Menschen, die ausschließlich ihren tierischen Trieben folgen und sich gegenseitig umbringen, um zu überleben. Es gibt im Naturzustand Sozialstrukturen und soziale Dynamiken, insbesondere eine komplexe Struktur des Misstrauens. Es gibt Rechte, die zwar insofern defizitär sind, als sie weder durchsetzbar noch zwangsbewehrt sind 168, die aber eben doch als fester Bestandteil in jeder Naturrechtstheorie vorkommen. Bei Locke gibt es sogar unverfügbare Rechte im Naturzustand, die selbst bei übereinstimmendem Willen aller nicht im Übergang in den staatlichen Zustand verloren gehen können. Also: Weder bedeutet Geist voll entwickelte Normativität und Staatlichkeit von vornherein, noch bedeutet Naturzustand völlige Rechtlosigkeit. Somit ist eine Parallele grundsätzlich möglich. (2) Die Idee, Naturzustand und antike Sittlichkeit zu parallelisieren, stammt zudem von Hegel selbst. Er tut dies in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In seinen Vorüberlegungen über den Geist in der Einleitung präsentiert Hegel den Staat als reale Einheit von Individuellem und Allgemeinem und Wirklichkeits-Modus für das Individuum. In diesem Zusammenhang rekurriert er auf mögliche Theorien über die Anfänge des Staates und behandelt neben der von ihm scharf angegriffenen kontraktualistischen Theorie auch die Vorstellung eines Zustands, den er patriarchalisch 169 nennt. Dieser unterscheidet sich zwar vom Naturzustand insofern, als er eher »gegen die Ausbildung überhaupt des Rechts zur gesetzlichen Form« 170 geht und nicht, wie es die Naturzustandstheorien versuchen, eine Notwendigkeit von Recht und Staat begründet. Dennoch ist dieser Zustand in eine Entwicklung eingebettet, deren Momente Hegel im Folgenden analysiert und die einen vorrechtlichen Zustand im Sinne des Naturzustands darstellen könnten. Auch wenn er also den Ansatz des patriarchalischen Zustands nicht als eigenen präsentiert und ebenso wie den Kontraktualismus kritisiert, spricht er in seiner Analyse in seinem eigenen Werk vorkommende Elemente an, die er mit dem Naturzustand parallelisiert. Insbesondere greift er die dem patriarchalischen Zustand vorweggehende Familien-Sittlichkeit 168 169 170
Zur Frage, ob Recht begriffsnotwendig zwangsbewehrt ist, siehe unten 3.1.3.2. TWA12, 59. Ebd.
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auf, die an die antike Sittlichkeit der Phänomenologie erinnert. Ausdrücklich räumt Hegel auch Elemente eines Naturzustandes ein. Die Kinder nämlich, die neben der personalen Einheit der Familie keinen eigenen Personstatus beanspruchen können, seien »zunächst in dem vorhin angeführten Naturzustande« 171. Es stellt sich also die Frage, ob diese weitgehend rechtlose Form des Zusammenlebens dem Naturzustand vergleichbar ist, ob sich hier gegebenenfalls Hegels Naturzustand verbirgt. (3) Dies ist aus drei Gründen trotz des aus der systematischen Stellung in der Phänomenologie und den Stellen aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erwachsenen Anfangsverdachts nicht der Fall. Erstens ist Hegels Sittlichkeit in einem weit über die Theorien des Naturzustands hinausgehenden Maße normativ verfasst. Das zeigt sich insbesondere in dem personentheoretisch ausgestalteten Begriff der Familie: »Die Familie ist […] Person« 172. Gemeint ist hier noch nicht der volle Rechtsbegriff der Person, der erst im Kapitel über den Rechtszustand zur Entfaltung kommt. Die Familie spiegelt aber bereits Bewegungen der Wechselseitigkeit wider, die als normativ zu charakterisieren sind und über die Natur hinausgehen. Hegel schildert das am Beispiel des Todes. Unter dem Blickwinkel isolierter Individualität ist der Tod für den Einzelnen eine natürliche Allgemeinheit, »das unmittelbare natürliche Gewordensein« 173. Der Tod hat aber den zweiten Aspekt, eine Arbeit am allgemeinen Gemeinwesen zu sein. Die Verbindung zwischen der Seite der Individualität, die als natürliche erscheint und der Seite der Allgemeinheit ist aus dem Blickwinkel des Einzelnen zufällig und damit sinnlos und der Natur zuzuordnen 174. Dazu tritt aber die sinnstiftende Begräbnishandlung der Familie. Diese findet ihren Ursprung zwar in der Blutsverwandtschaft, also einer Kategorie, die wiederum ihren Ursprung im Natürlichen hat. Durch die Handlung wird aber das »Werk der Natur [unterbrochen]« 175. Bereits in der Sittlichkeit sind also normative, über die Natur hinausgehende Prozesse in Gang, die in einer der Person
171 172 173 174 175
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TWA12, 60. Ebd. TWA3, 332; GW9, 244. TWA3, 332 f.; GW9, 244 f. TWA3, 333; GW9, 245.
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des Rechtszustandes vorgreifenden Weise von Wechselseitigkeit geprägt sind. Zweitens ist Hegels Sittlichkeit durchdrungen von einem Dualismus zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz. Wenngleich darüber gestritten werden kann, inwiefern es überhaupt Recht in einem Naturzustand geben kann, ist eindeutig, dass es einen Unterschied zwischen positivem Recht und Naturrecht gerade nicht geben kann. Gäbe es diesen Unterschied, wäre allein dadurch die universalistische Legitimationsstrategie des Rechts zunichte gemacht. Es ließe sich nicht mehr begründen, warum alle Individuen aufgrund allen zugleich zukommender Interessen und Eigenschaften einem Gesellschaftsvertrag zustimmen. Die Unterscheidung zwischen positivem Recht und Naturrecht setzt eine normsetzende Instanz voraus, die, selbst wenn sie noch nicht Staat in einem modernen Sinne genannt werden kann, das Gemeinwesen derart normativ prägt, dass nicht mehr von einem Naturzustand gesprochen werden kann. Zudem bringt die Unterscheidung zwischen positivem Recht und Naturrecht die Unterscheidung zwischen Recht und Moral mit sich. Zwischen Recht und Moral lässt sich auch nur anhand eines Kriteriums unterscheiden, das mit einer übergeordneten Instanz verknüpft ist, sei es hinsichtlich der Normsetzung (der Herkunft der Norm) oder der Sanktion im Falle des Normbruchs (den mit der Norm verknüpften Folgen) 176. Selbst soziologische und psychologische Theorien, die bei der Frage nach der Abgrenzung von Recht und Moral beispielsweise auf die psychologische Reaktion auf den Normbruch seitens der Gesellschaft 177 abstellen, setzen eben eine Gesellschaft voraus. Zudem werden auch die psychologischen Reaktionen auf den Normbruch geprägt von Herkunft der Norm und Qualität des folgenden organisierten Zwangsakts. Dies bringt bei Normen des Rechts sodann wieder einen übergeordneten Zwangsapparat ins Spiel. Drittens bietet die Familie in der Sittlichkeit gerade die Einheit, die im Naturzustand fehlt. Der Naturzustand ist ein Zustand isoliert auftretender Individuen, die sich zwar auch in Familien oder Clans zusammenrotten, denen aber keine vereinheitlichende Instanz wie die Familie nach Hegel’schem Begriff gemein ist. Die Hegel’sche Familie ist Geist und somit »ebenso ein substantielles Wesen als der 176 Siehe Kelsen 1960, 64 f., der die Möglichkeit einer begriffsscharfen Abgrenzung nur in der Sanktion sieht. Zu Zwangstheorien des Rechts siehe unten 3.1.3.2. 177 Ehrlich 1967, 132.
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Geist eines Volkes im Staate« 178. Die Familie des Naturzustands ist hingegen ein soziales Phänomen, sei es als empirische Annahme oder als Gedankenkonstrukt. Ihr kommt nicht die einheitsstiftende Funktion der Hegel’schen Familie zu. Aus diesen Gründen kann die Sittlichkeit der Phänomenologie nicht als impliziter Naturzustand im Werk Hegels gelten. Nun sollen noch drei weitere Stellen bei Hegel untersucht werden, die einen mit Recht und Normativität verknüpfbaren Übergang markieren und deswegen mit dem Übergang vom Naturzustand in den Rechtszustand verglichen werden können: Der Übergang von der Natur zum Geist, vom subjektiven Geist zum objektiven Geist sowie der Übergang, der der Willensdialektik zu Beginn der Grundlinien innewohnt.
2.2.4 Übergang von der Natur- in die Geistphilosophie in der Enzyklopädie Innerhalb des Hegel’schen Systems, wie er es in der Enzyklopädie ausarbeitet, folgt die Geist- auf die Naturphilosophie. Zwischen beiden Stufen gibt es eine zusammenhängende, von Hegel explizierte Entwicklung, aber auch einen qualitativen Schnitt. Um festzustellen, ob in diesem Übergang ein impliziter Naturzustand sowie ein dem Kontraktualismus vergleichbares Übergangsmoment enthalten sind, sollen zunächst Textstellen benannt werden, die eine solche Vergleichbarkeit nahelegen, um sodann im zweiten Schritt diesen Anfangsverdacht der Vergleichbarkeit zu widerlegen. (1) In seiner Schilderung des Übergangs gibt es zwei Textbefunde, die für eine Parallele zum Kontraktualismus sprechen könnten. Ein Befund findet sich in den letzten Paragraphen der Naturphilosophie, ein weiterer zu Beginn der Geistphilosophie. In den §§ 375/376 der Enzyklopädie, den Übergangsparagraphen am Ende der Naturphilosophie, entwickelt Hegel das Übergangsmoment von der Natur zum Geist aus dem Tod des Individuums.
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Hegel schildert diesen Tod als notwendige Folge einer Anpassung des Individuums an seine Allgemeinheit als endliche Existenz. 179 Das Übergangsmoment ist das Moment des »Tod(es) des Natürlichen« 180. Dieses Moment ließe sich auf den ersten Blick so verstehen, dass am Ende der Naturphilosophie die Natur untergeht und im Übergang zur Geistphilosophie der Geist an ihre Stelle tritt. Das Verhältnis dieser beiden Begriffe zueinander könnte sodann als zeitliche Abfolge gedacht werden. Hierfür spricht eine Formulierung aus dem Zusatz zu § 376: »Dies ist der Übergang des Natürlichen in den Geist; im Lebendigen hat die Natur sich vollendet und ihren Frieden geschlossen, indem sie in ein Höheres umschlägt. Der Geist ist so aus der Natur hervorgegangen.« 181
So verstanden, ließe sich eine Parallele zum kontraktualistischen Übergang ziehen, da sowohl eine zeitliche Abfolge als auch ein vergleichbarer qualitativer Bruch bestünden. Eine zweite Stelle, die für die Vergleichbarkeit zum Kontraktualismus spricht, findet sich zu Beginn von Hegels Geistphilosophie. In § 381 der Enzyklopädie schreibt Hegel: »Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung […] 182«
Unabhängig davon, wie die Einschränkung für uns genau zu verstehen ist 183, formuliert Hegel hier ausdrücklich ein Voraussetzungsverhältnis von Geist und Natur. Dieses ließe sich auf einen ersten Zugriff auch mit Blick auf diese Stelle als dem Kontraktualismus vergleichbar interpretieren. Auch hierfür finden sich Anhaltspunkte im Zusatz zu § 381. Dort heißt es:
Enz. 1830 § 375 (TWA9, 535; GW20, 374 f.). Enz. 1830 § 376 (TWA9, 537; GW20, 375). Eine entsprechende Passage findet sich auch in der Begriffslogik der Enzyklopädie: »Der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit ist das Hervorgehen des Geistes«, Enz. 1830 § 222 (TWA8, 377; GW20, 221). 181 § 376 Z (TWA9, 538 zweiter Absatz). 182 Enz. 1830 § 381 (TWA10, 17; GW20, 381). 183 Quante 2011, 118–121 beispielswese fasst diesen Zusatz auf als Verweis auf die Perspektive der Subjekte, die im noch defizitären Verlauf des Geistes zunächst eine Differenz von Geist und Natur vorfinden. Martin 2012, 619 interpretiert das »für uns« als Hinweis auf einen Schein, der »zunächst« entsteht, indem geistiges Leben die ihm innewohnende Teleologie auf die Zeit des Naturkontinuums projiziert, die zur Erfassung der Teleologie des Geistigen ungeeignet ist. 179 180
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»Alle Bestimmtheit ist aber Bestimmtheit nur gegen eine andere Bestimmtheit; der des Geistes überhaupt steht zunächst die der Natur gegenüber« 184
Diese Stelle ließe sich so verstehen, dass Geist und Natur sich zumindest an einer bestimmten Stelle (»zunächst«) getrennt gegenüber stehen. In Bezug auf den Vorgang des Übergangs findet sich zudem folgende Formulierung: »Dies [der Begriff gelangt zu seiner Wirklichkeit, Anm. Verf.] geschieht erst im Geiste, der eben durch diese in ihm zustandekommende Überwindung sich selber von der Natur unterscheidet, so daß diese Unterscheidung nicht bloß das Tun einer äußeren Reflexion über das Wesen des Geistes ist.« 185
Diese Stelle betont zwar in erster Linie die monistische Struktur des Geistes und seiner Vollzüge, die nicht »außerhalb« des Geistes stattfinden. Sie ließe sich selbst unter dieser monostischen Prämisse so verstehen, dass zumindest im Übergangsmoment von der Natur zum Geist ein strikter Gegensatz zwischen Natur und Geist entsteht. (2) Selbst eine einseitig auf den Begriff der Natur bezogene Betrachtung dieser eben zitierten Passagen des Übergangs von der Natur- zur Geistphilosophie lässt aber nicht auf eine Ähnlichkeit zum kontraktualistischen Übergang schließen. Denn die eben skizzierten naturalistischen Interpretationsansätze verkennen bereits Hegels Naturbegriff. Dieser ist kein Begriff der Natur als empirischer Begebenheit. Der Begriff der Natur definiert sich nach Hegel bereits in Abgrenzung zum Begriff des Geistes. Die Natur ist nach Hegel die »Idee in der Form des Andersseins 186« und damit die Äußerlichkeit schlechthin. Dies ist sie aber als begriffslogisches Moment der Idee und ist nicht, wie Hegel ausdrücklich in § 247 der Enzyklopädie klarstellt, der Idee oder dem Geist äußerlich. Daraus ergeben sich zwei Folgen, die eine Parallele zum Kontraktualismus ausschließen: Erstens sind Natur und Geist als Momente der Idee miteinander verknüpft. Es gibt für Hegel kein außerhalb, von dem aus sich die Natur dem Geist gegenüberstellen könnte. So ist auch das monistische Moment der eben zitierten Passage aus dem Zusatz zu § 381 der 184 185 186
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Enz. 1830 § 381 Z (TWA10, 18 Mitte). Enz. 1830 § 381 Z (TWA10, 21 Ende 1. Absatz). Enz. 1830 § 247 (TWA9, 24; GW20, 237).
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Enzyklopädie zu verstehen. In dem Zusatz finden sich auch weitere Belege für die Untrennbarkeit von Natur und Geist: »Die Natur ist zwar das Unmittelbare, – aber ebenso, als das dem Geiste Andere, nur ein Relatives und damit, als das Negative, nur ein Gesetztes.« 187
Das Übergangsmoment aus dem Tod des Individuums heraus kann demnach nicht so gedacht werden, als entstünde in diesem Tod (als natürlicher Vorgang verstanden) der Geist wie ein deus ex machina: »In dem Gesagten liegt schon, daß der Übergang der Natur zum Geiste nicht ein Übergang zu etwas durchaus anderem, sondern nur ein Zusichselberkommen des in der Natur außer sich seienden Geistes ist. Ebensowenig wird aber durch diesen Übergang der bestimmte Unterschied der Natur und des Geistes aufgehoben, denn der Geist geht nicht auf natürliche Weise aus der Natur hervor.« 188
Im Zusatz zu § 381 wird in diesem Kontext ausdrücklich eine entsprechende Lesart des § 222 der Begriffslogik 189 abgelehnt 190. So wird der Geist auch nicht als Untergang des (natürlichen) Lebendigen verstanden, sondern gerade als Garant der Lebendigkeit, da das rein natürliche, ungeistige »Leben« das Tote ist. Zweitens kann das Verhältnis von Natur und Geist nicht als zeitliche Abfolge gedacht werden. Eine solche zeitliche Abfolge ist für Hegel schon innerhalb der einzelnen Stufen der Natur abwegig. So schreibt er in der Anmerkung zu § 249 der Enzyklopädie: »Es ist eine ungeschickte Vorstellung älterer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere für eine äußerlich-wirkliche Produktion anzusehen, die man jedoch, um sie deutlicher zu machen, in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt hat. Der Natur ist gerade die Äußerlichkeit eigentümlich […] 191«
§ 376 Z (TWA9, 538 unten). Enz. 1830 § 381 Z (TWA10, 25 oben). 189 »Der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit ist das Hervorgehen des Geistes«, Enz. 1830 § 222 (TWA8, 377; GW20, 221). 190 »Wenn § 222 gesagt wurde, der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit sei das Hervorgehen des Geistes, so ist dies Hervorgehen nicht fleischlich, sondern geistig, nicht als ein natürliches Hervorgehen, sondern als eine Entwicklung des Begriffs zu verstehen […]«, Enz. 1830 § 381 Z (TWA10, 25 Mitte) 191 Enz. 1830 § 249 A (TWA9, 31; GW20, 239). 187 188
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Eine zeitliche Abfolge ist erst recht nicht beim Übergang von der Natur zum Geist denkbar. Dies betont Hegel in einem zweiten Aspekt des Verhältnisses von Natur und Geist in § 381 der Enzyklopädie. Denn nicht nur hat der Geist die Natur zu seiner Voraussetzung. Die Natur hat vielmehr ebenso den Geist zu ihrer Voraussetzung, indem er »deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes« 192 ist. Der Geist steht am Anfang der Natur, die sich als das der Idee Äußerliche in Abgrenzung zum Geist definiert. Der Geist der Geistphilosophie ist daher nach Hegel Geist »als Zurückkommen aus der Natur« 193. Damit sind drei Aspekte des Verhältnisses von Natur und Geist bei Hegel ausgesagt. Zum einen erweist sich die Natur als unselbständig. Dies ist aber zweitens nicht so zu verstehen, als negiere der Geist die Natur auf eine abstrakte Weise oder trete an ihre Stelle, wobei die Natur sich erledigt habe oder ersatzlos gestrichen sei. Vielmehr ist und »bleibt« die Natur ein (unselbständiger) Teil des Geistes 194. Drittens erweist sich die Natur aus sich selbst heraus als unselbständig – weil sie von Anfang an als das Äußerliche der Idee dem Geist verbunden ist 195. Im Zusatz zu § 376 der Enzyklopädie kommt dieses mehrseitige Voraussetzungsverhältnis wie folgt zum Ausdruck: »Es ist die Macht des freien Geistes, der diese Negativität [der Natur, Anm. Verf.] aufhebt; er ist ebenso vor als nach der Natur, nicht bloß die metaphysische Idee derselben. Als der Zweck der Natur ist er eben darum vor ihr, sie ist aus ihm hervorgegangen, jedoch nicht empirisch, sondern so, daß er in ihr, die er sich voraussetzt, immer schon enthalten ist.« 196
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass auch in umgekehrter Abfolge (Entwicklung der Natur aus dem Geist) nicht von einer zeitlichen Abfolge ausgegangen werden kann. Das kommt in der eben zitierten Passage zum Ausdruck, die das Hervorgehen ausdrücklich als »nicht empirisch« bezeichnet. Somit kann auf Grundlage einer Analyse der Übergangsparagraphen von der Natur- zur Geistphilosophie der Enzyklopädie keine Parallele zum kontraktualistischen Übergang gezogen werden. 192 193 194 195 196
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Enz. 1830 § 381 (TWA10, 17; GW20, 381). Ebd. Hierzu näher im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. Zu diesen Aspekten im Ausgang von § 381 der Enzyklopädie: Martin 2012, 620. Enz. 1830 § 376 Z (TWA9, 538 unten bis 539 oben).
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(3) Zwei weitere, systematische Gründe sprechen zudem gegen eine sinnvolle Parallele zwischen Naturzustand/Rechtszustand auf der einen und Natur/Geist auf der anderen Seite. Erstens lässt sich die Natur im Hegel’schen System nicht mit dem Naturzustand des Kontraktualismus vergleichen. Hegel unterscheidet zwischen der Natur und dem Menschen, dem zwar auch natürliche Eigenschaften zukommen und der sich mit einer äußeren Natur konfrontiert sieht. Das Höchste einer nur für sich betrachteten Natur, also einer Natur, die nicht als Moment der Totalität des Geistes gedacht wird, ist das nicht vernünftige, nicht reflektierende Tier. In den Theorien vom Naturzustand begegnen sich aber Menschen, es werden soziale Strukturen geschildert, die, wie das Misstrauen der Akteure des Hobbes’schen Naturzustands, rational sind und deren negative Dynamik sich gerade aus einem vorhandenen Moment der Rationalität ergibt. Hobbes’ Diktum homo homini lupus setzt zwar den Menschen mit dem Tier gleich, ist aber in diesem Sinne eher als metaphorische Pointe auf die von ihm analysierten sozialen Strukturen zu verstehen. Ein soziales Miteinander, wie es Hobbes in seinem Naturzustand schildert, der eben nicht nur von animalischer Furcht und Überlebenskampf, sondern auch und gerade von Rationalität und Reflexionsvermögen geprägt ist, könnte in Hegels System nicht auf der Ebene der reinen Natur stattfinden. Dies gilt selbst dann, wenn man zugestehen würde, dass derlei soziale Interaktionen ohne Recht und Staat möglich seien. Außerdem ist der Übergang von der Natur zum Geist in Hegels System kategorial anders dargestellt als der Übergang vom Naturzustand in den Rechtszustand im Kontraktualismus. Zwar expliziert Hegel ausdrücklich eine Differenz zwischen Natur und Geist. Diese Differenz ist aber in zweifacher Hinsicht relativiert. Erstens ist diese Differenz eben nur für die Vorstellung, die wiederum eine Zwischenstufe darstellt, um zum Begriff zu gelangen, in dem sich die Differenz letztlich als defizitär aufweist und verschwindet: »Was wir daher hier zu Anfang unserer Betrachtung des Geistes versicherungsweise von demselben sagen, kann nur durch die ganze Philosophie wissenschaftlich bewiesen werden. Zunächst können wir hier nichts anderes tun, als den Begriff des Geistes für die Vorstellung erläutern. Um diesen Begriff festzusetzen, ist nötig, daß wir die Bestimmtheit angeben, durch welche die Idee als Geist ist. Alle Bestimmtheit ist aber Bestimmtheit nur gegen eine andere Bestimmtheit; der des Geistes überhaupt steht zu-
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nächst die der Natur gegenüber; jene ist daher nur zugleich mit dieser zu fassen.« 197
Zweitens handelt es sich bei der Differenz zwischen Natur und Geist nur um ein Moment der Totalität des Geistes, das im Verlauf der Selbsterkenntnis des Geistes aufgeht. Im Übergang von Natur zu Geist entsteht zudem nicht etwas völlig Neues, das vorher nur als Möglichkeit war. Denn wenngleich »der Geist […] für uns die Natur zu seiner Voraussetzung« hat, ist er doch »deren absolut Erstes« 198. Geist setzt also nicht nur Natur voraus, sondern Natur setzt Geist voraus. Im Zusatz zu § 381 der Enzyklopädie ist dieses Verhältnis folgendermaßen zusammengefasst: »Wir haben gesagt, der Geist negiere die Äußerlichkeit der Natur, assimiliere sich die Natur und idealisiere sie dadurch.«
In diesem Prozess verkehrt sich das vom Kontraktualismus angenommene Verhältnis zwischen Natur und Geist (sofern der Geist mit dem Rechtszustand parallelisiert werden kann). Im Kontraktualismus wird der Naturzustand als der erste, ursprüngliche, natürliche vorgestellt, der Rechtszustand hingegen als das zweite, aus den Prämissen des ersten geschaffene. Im Idealisierungsprozess des Geistes bei Hegel wird hingegen die Natur erschaffen. Die geänderte Stoßrichtung zum empiristisch geprägten Denken des Kontraktualismus wird im Zusatz zu § 381 auch der Sache nach betont, ohne aber die Gegenposition beim Namen zu nennen: »Aus unserer bisherigen Auseinandersetzung erhellt aber schon, daß das Hervorgehen des Geistes aus der Natur nicht so gefaßt werden darf, als ob die Natur das absolut Unmittelbare, Erste, ursprünglich Setzende, der Geist dagegen nur ein von ihr Gesetztes wäre; vielmehr ist die Natur vom Geiste gesetzt und dieser das absolut Erste.« 199
Die Entwicklung von Natur und Geist ist dialektisch strukturiert. Sie ist »nicht fleischlich, sondern geistig, nicht als ein natürliches Hervorgehen, sondern als eine Entwicklung des Begriffs zu verstehen.« 200 Die einzige Möglichkeit, eine Parallele im hier diskutierten Sinne zu ziehen, bestünde sodann darin, den Kontraktualismus hegelisch aus197 198 199 200
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Enz. 1830 § 381 Z (TWA10, 18). Enz. 1830 § 381 (TWA10, 17; GW20, 381). Enz. 1830 § 381 Z (TWA10, 24 unten). Ebd.
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zulegen. Man könnte im Naturzustand bereits normative Rahmenbedingungen erkennen, die den Übergang zum Rechtszustand so erscheinen lassen, dass er innerhalb einer normativen Ordnung abläuft, die Parallelen zum Geist aufweist. Diese normative Ordnung wäre sodann in einem ähnlichen Sinne Ergebnis und ebenso Voraussetzung der Entwicklung wie der Geist im Hegel’schen Sinne. Man würde sich aber bei einem solchen Vorgehen wiederum dem Vorwurf ausgesetzt sehen, den Ausgangspunkt des Übergangs schon so zu interpretieren, dass er zum gewünschten Ergebnis »passt«. Diesen berechtigten Vorwurf hat sowohl Hegel dem empirischen Naturrecht gegenüber als auch Kersting Strauss gegenüber erhoben. Der Übergang von Natur zu Geist ist somit nicht vergleichbar mit dem Übergang vom Naturzustand zum Rechtszustand.
2.2.5 Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist in der Enzyklopädie Ein dem Kontraktualismus vergleichbarer Übergang könnte sodann im Übergang von subjektivem zu objektivem Geist zu finden sein. Einen Anhaltspunkt hierfür könnte Hegels Kategorisierung der Gestalten des Geistes bieten. In § 385 der Enzyklopädie charakterisiert Hegel den subjektiven Geist als Entwicklungsstufe des Geistes »in der Form der Beziehung auf sich selbst«, wohingegen sich der objektive Geist die »Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt« 201 gibt. Das bedeutet, dass in der Entwicklung vom subjektiven zum objektiven Geist hin ein Wechsel stattfindet von einer Selbstbezüglichkeit der Subjektivität hin zur Beziehung der Subjektivität 202 zu einer ihr äußeren Welt. Es stellt sich die Frage, ob dieser Entwicklung ein dem Kontraktualismus vergleichbarer Dualismus innewohnt. Hierfür könnte ein Zitat aus dem Zusatz zu § 385 der Enzyklopädie sprechen: »Die noch ganz abstrakte, unmittelbare Realität ist aber die Natürlichkeit, die Ungeistigkeit. Aus diesem Grunde ist das Kind noch in der Natürlichkeit
Beide Zitate Enz. 1830 § 385 (TWA10, 32; GW20, 383). In der dem Recht genuinen Ausformung der Person, hierzu unten der zweite Teil der vorliegenden Arbeit, vor allem 3.1.4. 201 202
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befangen, hat nur natürliche Triebe, ist noch nicht der Wirklichkeit, sondern nur der Möglichkeit oder dem Begriffe nach geistiger Mensch. 203«
Unabhängig davon, ob dieser erste, unmittelbare Bezug zur äußeren Welt als Realität bereits im Durchgang des subjektiven Geistes verortet ist oder erst im Übergangsmoment vom subjektiven zum objektiven Geist, könnte diese Stelle dualistisch zu verstehen sein: Es gibt zunächst eine natürliche Weise der Realität, sodann eine geistige. Eine solche Lesart wäre grundsätzlich mit der kontraktualistischen Prämisse kompatibel. Die erste Gestalt des subjektiven Geistes nennt Hegel außerdem in § 387 der Enzyklopädie »Naturgeist«. Im Kontext der eben zitierten Passage könnte dies so zu verstehen sein, dass ein naturalisierter Geist am Anfang der Entwicklung vom subjektiven zum objektiven Geist steht. Dies ist aber nicht der Fall. Denn die unmittelbare Natürlichkeit ist als Moment der Entwicklung des subjektiven Geistes nur ein Schein. Sie ist ja bereits Teil der Bewegung des (subjektiven) Geistes. Im Zusatz zu § 385 der Enzyklopädie wird die eben zitierte Passage auch sogleich relativiert: »[…] das unmittelbar im Geist vorhanden zu sein Scheinende ist nicht ein wahrhaft Unmittelbares, sondern an sich ein Gesetztes, Vermitteltes. […] Der Geist ist zwar schon im Anfange der Geist, aber er weiß noch nicht, daß er dies ist. 204«
Parallel der Argumentation zum Übergang von der Natur- zur Geistphilosophie stehen die Elemente der Natürlichkeit des subjektiven Geistes und der objektive Geist in einem mehrseitigen Voraussetzungsverhältnis zueinander. Der objektive Geist ist, da er noch nicht zu vollem Selbstbewusstsein gelangt ist, in seiner Entwicklung abhängig vom subjektiven Geist samt seiner Elemente der Natürlichkeit. Die Natürlichkeit des subjektiven Geistes wiederum ist eine Setzung des objektiven Geistes. Sie kann nur insofern Realität erlangen, als sie sich als das Äußerliche oder das Andere des Geistes in den Geist einschreibt. Wie beim Übergang von der Natur in den Geist finden diese Voraussetzungsverhältnisse »intern« statt. Sie lassen keinen Raum für den Dualismus des Kontraktualismus. 203 204
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Enz. 1830 § 385 Z (TWA10, 33 oben). Enz. 1830 § 385 Z (TWA10, 33 Mitte).
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Auch aus den übrigen im vorigen Kapitel 2.2.4 genannten Gründen (Vergleichbarkeit des Ausgangspunktes der Entwicklung; Qualität des Übergangs) sowie aus den in der Diskussion um die Vergleichbarkeit des Phänomenologie-Kapitels über Herrschaft und Knechtschaft genannten Gründen verbietet sich eine Parallele Naturzustand/ Rechtszustand zu subjektiver Geist/objektiver Geist. Das erstgenannte Argument aus dem vorigen Kapitel lautete: Die Natur in Hegels System ist dem Naturzustand nicht vergleichbar, weil komplexe soziale Interaktionen, die dem Naturzustand zugeschrieben werden, in Hegels System nicht auf Ebene der Natur stattfinden können. Dieses Argument ist hinsichtlich des Übergangs vom subjektiven zum objektiven Geist leicht schwächer, weil der subjektive Geist »näher« am Naturzustand ist als die Natur im Hegel’schen System. Insbesondere findet in der Herr-und-KnechtDialektik bereits ein Minimum an sozialer Interaktion statt. Diese sind aber so beschränkt, dass sie nicht dem komplexen Naturzustand vergleichbar sind. Komplexe soziale Interaktionen, wie sie die Kontraktualisten schildern, wären auf der Ebene des objektiven und nicht des subjektiven Geistes anzusiedeln. Das zweite Argument betraf die Qualität des Übergangs, der in der kontraktualistischen Erzählung einen einschneidenden Bruch beinhaltet. Im Übergang von der Natur zum Geist ist ein solcher Bruch wie zwischen Rechts- und Naturzustand nicht nachzuweisen. Dieses Argument ist an dieser Stelle noch stärker, weil der Bruch zwischen subjektivem und objektivem Geist nicht so einschneidend ist wie der Bruch zwischen Naturzustand und Rechtszustand. Insbesondere findet kein Bruch der Freiheitsbegriffe von einer natürlichen zu einer rechtlichen Freiheit statt. Auf einen verfehlten natürlichen Freiheitsbegriff, wie er auch dem Kontraktualismus zugrunde liegt, weist Hegel in der Anmerkung zu § 482, dem Übergangsparagraphen vom subjektiven zum objektiven Geist, hin. Hier stellt Hegel einen Freiheitsbegriff des Menschen »durch Geburt« einem christlichen Freiheitsbegriff gegenüber 205. Nach diesem ist der Mensch weder durch Geburt, noch durch im Endlichen zu verortende Freiheitsmodi 206 frei, sondern nur in seiner Bestimmtheit auf das Absolute hin. Freiheit ist
Enz. 1830 § 482 A (TWA10, 301 f.; GW20, 476 f.). Hegel nennt ebd. beispielhaft Charakterstärke, Bildung und die (antike) Philosophie. 205 206
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vor diesem Hintergrund etwas, das man nicht haben, sondern nur etwas, das man sein kann: »Wenn das Wissen von der Idee, d. i. von dem Wissen der Menschen, daß ihr Wesen, Zweck und Gegenstand die Freiheit ist, spekulativ ist, so ist diese Idee selbst als solche die Wirklichkeit der Menschen, nicht die sie darum haben, sondern (die) sie sind.« 207
Auch hier kann also keine Parallele zum kontraktualistischen Denken gezogen werden. Nun soll abschließend zur Frage nach einem impliziten Naturzustand der Blick von der Enzyklopädie weg hin zu den Grundlinien gelenkt werden. In den Grundlinien könnte sich in der in ihren einleitenden Paragraphen von Hegel geschilderten Willensdialektik ein dem kontraktualistischen Übergang vom Natur- zum Rechtszustand vergleichbares Übergangsmoment finden.
2.2.6 Willensdialektik in der Einleitung der Grundlinien Zuletzt könnte in der die Grundlinien einleitenden Willensdialektik ein dem kontraktualistischen Übergang vom Natur- zum Rechtszustand vergleichbarer Übergang von einem natürlichen Willen zu einem Willen als Geist verborgen sein. (1) Die Idee hierzu gibt Hegel selbst in § 4 der Grundlinien. Der freie Wille ist der »Ausgangspunkt« des Rechts, der »die Welt des Geistes (…) als eine zweite Natur« hervorbringt. Diese Passage könnte man so verstehen, dass es zunächst einen natürlichen freien Willen gebe, der in eine Entwicklung eintritt und zu einem geistigen Willen wird, der wiederum eine Welt des Geistes, somit auch das Recht hervorbringt. Hegel veranschaulicht das Verhältnis von Wille und Freiheit zudem im Zusatz zu § 4 mit einer Analogie zur Natur. Die Freiheit hafte dem Willen auf die gleiche Weise an wie die Schwere dem Körper, nämlich als »Grundbestimmung«. Betrachtet man diese Passage isoliert, scheint sie eine Parallele zum kontraktualistischen Denken zuzulassen. Es gebe demnach zwei Zustände, der eine natürlich, der andere nach-natürlich, geistig. Zwischen beiden findet ein Übergang statt und der zweite (der Komplexere, Vermittelte, Geistige) ist 207
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Enz. 1830 § 482 A (TWA10, 302; GW20, 477).
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aus dem ersten (der Unmittelbare, Ursprüngliche, Natürliche) hervorgegangen. (2) Diese Sichtweise des Willens wäre allerdings ein Fremdkörper im Hegel’schen System und man müsste die Frage stellen, ob der Wille, wie er in den Grundlinien auftritt, sich denn gerade durch diese Hegel untypische dualistische Struktur von allen anderen Begriffen des Geistes unterscheidet. Das auf die Totalität des Absoluten gerichtete Einheitsdenken des Geistes müsste auf den Prüfstand gestellt werden. Dem ist aber bei näherem Hinsehen nicht so. Dies zeigen die folgenden §§ 5 ff., in denen Hegel die Elemente des Willensbegriffs ausbuchstabiert. Das erste Moment des Willensbegriffs, das Hegel in § 5 schildert, das noch unbestimmt und abstrakt ist, ist bereits (in einer noch defizitären Weise) gegen natürliche Beschränkungen gerichtet. In diesem Moment des Willens ist »jede Beschränkung, jeder durch die Natur, die Bedürfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandene oder, wodurch es sei, gegebene und bestimmte Inhalt aufgelöst […]; die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst.« 208
In der weiteren Entwicklung der Besonderung entsteht Inhalt als Setzung des Willens (§ 6). In der darauffolgenden, diese beiden ersten Momente vereinheitlichenden Einzelheit ist sodann bestimmter Gehalt nur Gesetzter: »Ich bestimmt sich, insofern es die Beziehung der Negativität auf sich selbst ist […], als eine bloße Möglichkeit, durch die es nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt. – Dies ist die Freiheit des Willens, welche seinen Begriff oder Substantialität, seine Schwere so ausmacht wie die Schwere die Substantialität des Körpers.« 209
Auch hier ruft Hegel zwar wieder eine Analogie zum Naturphänomen der Schwere des Körpers auf. Es wird aber klar, dass der erste, unbestimmteste Inhalt des Willens bereits normativ verfasst, hervorgebracht und eben nicht natürlich oder unmittelbar gegeben ist. Die Analogie zielt somit nicht darauf, den Willen mit dem Körper zu vergleichen, sondern das Verhältnis von Freiheit zu Wille mit dem Verhältnis von Schwere zu Körper. Hegel will die gleiche Intensität der Substantialität betonen, gerichtet gegen mögliche Einwände, der Wille könne auch als unfrei gedacht werden, Freiheit sei mithin nur eine 208 209
Grundlinien § 5 (TWA 7, 49; GW14/1, 32). Grundlinien § 7 (TWA 7, 54 f.; GW14/1, 34).
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Möglichkeit unter mehreren, den Willen näher zu bestimmen. Dies ist nach Hegel nicht möglich. Einen unfreien Willen zu denken wäre ebenso unsinnig, wie einen schwerelosen Körper zu denken. In den §§ 10 und 11 bezeichnet Hegel sodann, nach dem vorher Gesagten zunächst überraschend, den Inhalt der an dieser Stelle nur an sich oder für uns freien Willen als »zunächst unmittelbar« 210, den »nur erst an sich freie[n] Wille[n]« als den »unmittelbare[n] oder natürliche[n] Wille[n].« 211 Diese Begriffe sind aber im Kontext der vorhergehenden Entwicklung des Willens zu begreifen. Auch dieser noch defizitäre, mit den im Hegel’schen Kontext negativ konnotierten Begriffen unmittelbar und natürlich versehene Begriff des Willens ist bereits im Modus des Setzens. Der Inhalt ist »an sich vernünftig«, er »kommt (…) von der Vernünftigkeit des Willens her« 212. Bereits an dieser Stelle eines noch unterentwickelten Willens besteht ein Unterschied zur Natur. Im Zusatz zu § 11 heißt es hierzu: »Triebe, Begierden, Neigungen hat auch das Tier, aber das Tier hat keinen Willen und muß dem Triebe gehorchen, wenn nichts Äußeres es abhält. Der Mensch steht aber als das ganz Unbestimmte über den Trieben und kann sie als die seinigen bestimmen und setzen.« 213
Auch hier wird deutlich, was der an dieser Stelle noch nicht ausgearbeitete Begriff der Person des Rechtszustandes leistet. Er erscheint zwar durch seine absolute Abstraktion zu Beginn als ein Rückschritt aus der Bestimmtheit, schafft aber Raum für eine neue Art von Bestimmtheit, die hier als das Bestimmen als Seiniges und als Setzen umschrieben wird und die im Unterschied zur Unmittelbarkeit natürlicher Triebe geistig ist. In der Anmerkung zu § 19 kritisiert Hegel zudem eine der empirischen Psychologie zuzuordnende Vorstellung des Verhältnisses von Natur und Recht, die er zwar nicht so benennt, die aber dem kontraktualistischen Denken nahekommt. Er nennt diese Vorstellung die »Forderung der Reinigung der Triebe« von ihren kontingenten Teilen und eine Rückführung auf eine in den Trieben liegende substanzielle Wesenheit, die dann »das vernünftige System der Willensbestimmung« und zum »Inhalt der Wissenschaft des Rechts« 214 zu machen 210 211 212 213 214
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Grundlinien § 10 (TWA 7, 60; GW14/1, 35). Grundlinien § 11 (TWA7, 62; GW14/1, 36). Ebd. TWA7, § 11 Z (63). Alle drei Zitate Grundlinien § 19 (TWA7, 70; GW14/1, 40).
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sei. Nach dieser Vorstellung mache das Wesen des Triebsystems ein »Trieb zum Recht« 215 aus. Solch eine Vorstellung der empirischen Psychologie ließe sich »wohlfeil« in eine philosophische umwandeln, indem man nicht isoliert von Trieben spreche, sondern davon, dass der Mensch ein Wollen des Rechts »als Tatsache seines Bewußtseins in sich« 216 finde. Diese Vorstellung zielt nach Hegel sodann zwar einerseits am Wesen des Willens vorbei, hat aber einen Wert als Durchgangsstadium der Reflexion insofern, als sie im Prozess der Bildung ein Moment formeller Allgemeinheit hervorbringt 217 – eine Bewegung, die in der bürgerlichen Gesellschaft wiederkehrt und die Kontingenzreste der konkreten Privatperson ebenfalls auf eine höhere Stufe formeller Allgemeinheit hebt 218. In diesem späteren Zusammenhang gebraucht Hegel auch wieder den Begriff des Naturzustandes. Er spricht zwei defizitäre Vorstellungen dieser Bildungsbewegung an und führt diese unter anderem auf die Vorstellung »von der Unschuld des Naturzustandes« 219 zurück. Die falschen Vorstellungen zeichnen sich beide dadurch aus, den Übergang zur formellen Allgemeinheit nicht als notwendig zu erachten, sondern in einem Fall als abzuwehrendes Übel, im anderen Fall als zweckgerichtetes Instrument. Die erstgenannte Vorstellung idealisiert den Naturzustand, den es vor der fortschreitenden Zivilisation zu schützen gelte. Hier spielt Hegel auf Rousseaus glücklichen Wilden an 220. Die zweite Vorstellung setzt Bedürfnisse des Menschen auch absolut, sieht aber keine Möglichkeit, Recht und Zivilisation abzuwehren und instrumentalisiert den Übergang insofern, als sie ihn unter den Vorbehalt stellt, nur ein Mittel zum Schutz bestimmter natürlicher Gegebenheiten zu sein. Diese Vorstellung entspricht dem kontraktualistischen Denken der früheren Zeit. Hier ist Hobbes das beste Beispiel, bei dem das aus der Furcht vor dem Tod abgeleitete Bedürfnis nach Sicherheit absolut gesetzt ist 221. Der Übergang in den Rechtszustand sowie der hierdurch entstehende Staat haben zum Zweck, dieses Bedürfnis zu befriedigen. An die Stelle des dualistisch gepräg-
215 216 217 218 219 220 221
Grundlinien § 19 A (TWA7, 70; GW14/1, 40). Ebd. Grundlinien § 20 (TWA7, 71; GW14/1, 41). Grundlinien § 187 (TWA7, 343; GW14/1, 162). Grundlinien § 187 A (TWA7, 344; GW14/1, 162). Hierzu näher unten 4.1.2. Hierzu näher unten 4.1.1.
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ten Bildes des Kontraktualismus tritt bei Hegel das einheitsorientierte Konzept der Bildung. Auch der noch nicht zum an und für sich seienden Willen vermittelte Wille aus der Einleitung zu den Grundlinien kann mithin nicht mit dem Naturzustand parallelisiert werden. Hinzu kommt, dass dieser noch defizitäre, bloß an sich oder für uns freie Wille des § 10 dem Recht, mithin dem objektiven Geist vorgeschaltet ist. Die Behandlung des Rechts bei Hegel beginnt mit dem an und für sich freien Willen, der die in der Einleitung geschilderte Entwicklung schon abgeschlossen hat und der im Recht in einen weiteren Entwicklungsprozess eintritt 222. Somit lässt sich keine Stelle in Hegels Werk ausweisen, die ein dem kontraktualistischen Übergang vergleichbares Moment beinhaltet. Im Folgenden soll noch ein Blick auf die Frage geworfen werden, inwiefern Hegel in indirekter Weise das kontraktualistische Denken kritisiert. Dies tut er an den Stellen seines Werkes, an denen er das dualistische Denken von Recht und Natur seiner Vorgänger kritisiert.
2.3 Hegels Kritik an der abstrakten Differenz von Recht und Natur Bevor im Folgenden eine systematische Zusammenfassung der Gründe dafür erfolgt, dass Hegels Rechtszustand nicht aus einem Naturzustand hervorgeht, soll ein Blick auf einen weiteren Aspekt des Hegel’schen Werks über das Recht geworfen werden: Die Tatsache, dass Hegel kaum explizit auf den Kontraktualismus eingeht und die mit ihm verbundenen Denker, vor allem Hobbes und Rousseau, eher knapp und oberflächlich behandelt, spricht nicht zwangsläufig dafür, dass Hegel die Thematik des Kontraktualismus völlig aussparen wollte. Vielmehr findet sich eine Auseinandersetzung mit Gedanken des Kontraktualismus und seiner Denker auch in mittelbarer Weise, nämlich in einer direkten Kritik einer Weiterführung dieser ursprünglichen Gedanken bei späteren Denkern. Es lassen sich insbesondere in Hegels Auseinandersetzung mit Kant Passagen finden, in denen Hegel Kant in Aspekten seines Denkens 222
100
Hinweis darauf beispielsweise bei Quante 2005, 80.
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Hegels Kritik an der abstrakten Differenz von Recht und Natur
kritisiert, die wiederum als Reaktionen auf Hobbes’sche oder Rousseau’sche Gedanken des Kontraktualismus gelesen werden können. Diese Vorgehensweise darf als typisch für Hegel gelten, entspricht sie doch in direkter Anwendung seiner berühmten Bestimmung der Philosophie aus der Vorrede zu den Grundlinien als »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« 223. Zwingende Konsequenz dieser Vorstellung eines historisch bedingten Ausgangspunkts des Philosophierens zu einer jeden Zeit ist ein Beginnen mit dem status quo der Philosophie der jeweiligen Zeit, von dem aus dann sein historisches Gewordensein rekonstruiert werden kann. Entsprechend befasst sich Hegel mit Kant und den Idealisten und betrachtet sie nicht isoliert, sondern als vorläufigen Höhepunkt der Geschichte der Philosophie. Hegel thematisiert nicht nur das charakteristisch Neue an diesen Philosophen, sondern auch die Ausformungen, die Gedanken der Vorgänger in ihrem System angenommen haben. Anhaltspunkte für eine über die direkte Auseinandersetzung mit den klassischen Kontraktualisten hinausgehende Beschäftigung mit kontraktualistischer Denkweise lassen sich im zweiten Teil des Naturrechtsaufsatzes (2.3.1) finden, der sich mit der von Hegel sogenannten formellen Behandlungsart des Naturrechts befasst, sowie im Kant-Kapitel der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (2.3.2). Im Folgenden soll es ganz gezielt um punktuelle Passagen gehen, in denen kontraktualistisches Denken zur Sprache kommt. Diese sollen wiederum nicht in einen Gesamtkontext der Hegel’schen KantInterpretation eingeordnet werden.
2.3.1 Naturrechtsaufsatz Hegel hat eine kritische Stoßrichtung gegen den Empirismus mit Kant gemein. Im Naturrechtsaufsatz kritisiert Hegel in einem ersten Zug die empirische Behandlungsart des Naturrechts. Stoßrichtung dieser Kritik sind die klassischen Kontraktualisten. Im zweiten Teil des Naturrechtsaufsatzes wendet sich Hegel gegen die formelle Behandlungsart des Naturrechts. Diese Kritik wendet sich insbesondere gegen Fichte und Kant. Die formelle Behandlungsart des Naturrechts präsentiert Hegel nicht als eine weitere, willkürlich neben der empirischen Variante bestehende Theorie von Natur und Recht. Vielmehr 223
Vorrede der Grundlinien (TWA7, 26; GW14/1, 15).
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interpretiert Hegel sie als defizitäre Gegenreaktion auf die empirische Behandlungsart. Die formelle Behandlungsart des Naturrechts unterscheidet sich von der empirischen insofern, als sie natürliche Bestimmungen aus der Bestimmung der praktischen Vernunft tilgt. Sie unternimmt den Versuch, den Inhalt der rechtlichen Pflicht allein aus formellen Bestimmungen herzuleiten. In diesem Sinne deutet Hegel sodann auch Kants Kategorischen Imperativ. Der Versuch, den die formelle Behandlungsart dabei unternimmt, bleibt aber defizitär, weil sie den abstrakten Gegensatz zwischen Natur und Recht, der auch dem Kontraktualismus zugrunde liegt, ebenfalls zu ihrer Voraussetzung hat. Nicht nur scheitert dadurch der Versuch, Inhalt aus einer rein formellen Bestimmung zu gewinnen. Diese Kritik ist eine Kernkritik Hegels an Kant und wird im Kapitel über die Moralität wieder aufgegriffen. Darüber hinaus perpetuiert die formelle Behandlungsart in ihrer nicht weit genug gehenden Wendung gegen den Empirismus dessen das ganze hierauf aufbauende Theoriegebäude infizierende Defizit: die abstrakte Trennung von Natur und Recht. Hegel fasst im Naturrechtsaufsatz diese Differenz in ihrer Ausgestaltung als Differenz des Ideellen und des Reellen: »Es ist an dem, was praktische Vernunft heißt, deswegen allein die formelle Idee der Identität des Ideellen und Reellen zu erkennen, und diese Idee sollte in diesen Systemen der absolute Indifferenzpunkt sein; aber jene Idee kommt nicht aus der Differenz und das Ideelle nicht zur Realität, denn ungeachtet in dieser praktischen Vernunft das Ideelle und Reelle identisch ist, bleibt doch das Reelle schlechthin entgegengesetzt. Dieses Reelle ist außer der Vernunft wesentlich gesetzt, und nur in der Differenz gegen dasselbe ist die praktische Vernunft, deren Wesen begriffen wird als ein Kausalitätsverhältnis zum Vielen, – als eine Identität, welche mit einer Differenz absolut affiziert (ist) und aus der Erscheinung nicht herausgeht.« 224
Die formelle Behandlungsart des Naturrechts strebt also, wie Hegel selbst auch, in der praktischen Philosophie nach einer Vergeistigung der Natur, geht dabei aber nicht weit genug. Sie bleibt dualistisch konzipiert. Wie auf der Seite der empirischen Naturrechtler Hobbes ist auch Kant auf der Seite der formellen Naturrechtler nach Hegels Darstellung nicht radikal genug im Bestreben, Bestimmungen der Natur zu verrechtlichen. Die formelle Behandlungsart ist zwar insofern überlegen, als in ihrer Bestimmung des Rechts keine unmittel224
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Hegels Kritik an der abstrakten Differenz von Recht und Natur
baren natürlichen Bestimmungen enthalten sind. Sie vermag aber aus sich heraus zu keinem Inhalt zu gelangen. Hegel veranschaulicht das am Beispiel des Eigentums. Die formell verstandene praktische Vernunft ist »die absolute Abstraktion von aller Materie des Willens« 225. Dennoch soll ein Inhalt allein aus der formellen Bestimmung gewonnen werden, genau diese Abstraktion zu sein. Die formelle Bestimmung ist aber leer. Es bedarf nach Hegel einer Bestimmtheit, die ihre Quelle nicht allein in dieser formellen Bestimmung haben kann. Keine inhaltliche Bestimmung ist sodann nur für sich gegeben, sondern immer auch über andere Bestimmungen definiert, die von ihr ausgeschlossen werden. Die praktische Vernunft muss eine dieser Bestimmtheiten setzen. Erst dann können Aussagen über diese Bestimmtheit und ihr Verhältnis zu anderen getroffen werden. So kann sowohl gesetzt sein, dass es Eigentum geben muss als auch, dass es gerade kein Eigentum geben muss 226. Erst im Verhältnis zu dieser Gesetztheit können weitere Bestimmungen und Handlungsanweisungen getroffen werden. Dieser erste Inhalt ist aber kontingent, da aus dem rein Formellen kein Kriterium für die Inhaltsgewinnung – also die Frage, ob es Eigentum geben soll oder nicht – entwickelt werden kann. »Aber es ist gerade das Interesse, zu erweisen, daß Eigentum sein müsse; es geht allein auf dasjenige, was außerhalb des Vermögens dieses praktischen Gesetzgebens der reinen Vernunft liegt, nämlich zu entscheiden, welche von entgegengesetzten Bestimmtheiten gesetzt werden müsse; aber daß dies schon vorher geschehen und eine der entgegengesetzten Bestimmtheiten zum voraus gesetzt sei, fordert die reine Vernunft, und dann erst kann sie ihr nunmehr überflüssiges Gesetzgeben vollführen.« 227
So zeichnet sich sodann Hegels Gegenmodell ab, das sowohl der empirischen als auch der formellen Behandlungsart des Naturrechts, mithin überhaupt der dem Konzept des Naturrechts zugrundeliegenden abstrakten Trennung von Natur und Recht entgehen will. Das im Naturrechtsaufsatz noch nicht in letzter Konsequenz entwickelte Gegenmodell ist später Hegels Philosophie des Geistes, die sowohl eine komplexe Vermittlung von Natur und Recht als auch ein begriffliches TWA2, 461; GW4, 435. Hegel greift diesen Gedanken in der späteren Philosophie des Rechts auf: Nach der Analyse von Ritter 1969/2005 besteht eine wesentliche Pointe der Grundlinien darin, Freiheit und Eigentum nicht getrennt voneinander denken zu können. 227 TWA2, 463; GW4, 437. 225 226
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Instrumentarium zur Differenzierung von Natur, Recht und Moral beinhaltet. Diesem Recht als Gestalt des Geistes ist keine abstrakte Differenz vorausgesetzt und es hebt sich so ab vom Dualismus seiner Vorgänger, sowohl der Empiristen wie auch der Formalisten. Im Naturrechtsaufsatz drückt Hegel das noch so aus: »Der Unterschied ist aber, daß die wahrhafte Realität und das Absolute derselben von diesem Gegensatz gegen die Natur ganz frei und daß sie absolute Identität des Ideellen und des Reellen ist.« 228
2.3.2 Hegels Kant-Kritik in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Die gleiche Stoßrichtung hat Hegels Kritik an Kants Kritik der praktischen Vernunft in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hegel deutet Kants praktische Philosophie als Philosophie des an und für sich freien Willens und stellt sich dabei implizit in die Kant’sche Tradition – sind die Grundlinien ja gerade eine Ausbuchstabierung der Entwicklung des an und für sich freien Willens. Hegel führt die Bestimmung des Willens als an und für sich freien auf Rousseau zurück und stellt Kant wiederum in dessen Tradition. Der an und für sich freie Wille ist in dieser Lesart der Wille, der es sich zur Aufgabe macht, die von Hegel in seiner kurzen Rousseau-Passage aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zitierte 229 Rousseau’sche »Fundamentalaufgabe« der Staatsphilosophie zu lösen. Diese lautet in der Wendung Rousseaus: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.« 230
Dies ist die freiheitsbezogene Formulierung des Grundproblems der klassischen Staatsphilosophie, aus individuellen Prämissen heraus eine Gemeinschaft zu legitimieren. Nach Hegel ist bereits dieser dualistische Denkansatz falsch. Indem er nun Kant direkt in diese TradiTWA2, 456; GW4, 432. TWA20, 307. 230 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762), Erstes Buch, 6. Kapitel, Rousseau 1762/1977, 17. 228 229
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tion stellt, deutet er an, was er im Naturrechtsaufsatz ausgeführt hat. Der Kant’schen praktischen Philosophie ist eine abstrakte Differenz zwischen Natur und Recht eingeschrieben, die sie gemein macht mit den Philosophien der Tradition, von der sie sich gerade abgrenzen will. Kant reformuliert nach Hegels Darstellung die Rousseau’sche Fundamentalaufgabe als Problem von Autonomie und Heteronomie. Kant gelange zu dem Prinzip, »daß der Mensch nichts, keine Autorität gelten läßt, insofern es gegen seine Freiheit geht.« Aber Hegel führt an: »Dies ist das Prinzip; aber dabei bleibt es auch stehen.« 231 Sodann wiederholt Hegel in etwas klarerer Manier seine Kritik aus dem Naturrechtsaufsatz. Der formalistische Ansatz vermag es nicht, aus sich heraus Inhalt zu generieren und er perpetuiert die abstrakte Differenz von Natur und Recht. »So hat Kant zur Bestimmung der Pflicht […] nichts gehabt als die Form der Identität, des Sich-nicht-Widersprechens, was das Gesetzte des abstrakten Verstandes ist.« 232
Hegel betont an dieser Stelle die Pflicht, weil sie gerade etwas Inhaltsreiches, Substantielles ist, das nicht aus rein formalen Bestimmungen hergeleitet werden kann. Dieses Defizit der Gesetztheit des abstrakten Verstandes ist zudem insofern dem Kontingenz-Defizit des empirischen Kontraktualismus vergleichbar, als in beiden Fällen das Defizit am Anfang steht und durch dann folgende, folgerichtige Systementwürfe nicht geheilt werden kann. Am Beispiel des Eigentums zeigt sich, dass sich zwar unterschiedliche Konzepte von Eigentum aus dem formellen Ansatz entwickeln lassen, diese aber die entscheidende Frage, warum es Eigentum geben muss und nicht nur geben kann, nicht beantworten können. Insofern lautet Hegels blumige Schlussfolgerung: »Dies ist der Mangel des Kantisch-Fichteschen Prinzips, daß es formell überhaupt ist. Die kalte Pflicht ist der letzte unverdaute Klotz im Magen, die Offenbarung gegeben der Vernunft.« 233
Hegel leitet sodann auf die Kritik der Kant’schen Moralität über und stellt somit diese Kritik in die Nähe der eben skizzierten Kritik an der formellen Behandlungsart des Naturrechts. 231 232 233
Beide TWA20, 367. TWA20, 368. TWA20, 369.
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Am Ende seiner Kritik der Kant’schen praktischen Philosophie spielt Hegel noch auf einen Kerngedanken seiner Philosophie des Geistes an, seinen berühmten Ausspruch aus der Vorrede der Grundlinien: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« 234 Hegels Fazit zur Kant’schen praktischen Philosophie lautet: »Das absolute Gut bleibt Sollen ohne Objektivität; und dabei soll es bleiben.« 235 Hegel scheint es nicht nur um theoretische Einwände oder das Nachweisen von Inkonsistenzen im Kantischen System zu gehen, sondern er scheint auch ehrliche Verwunderung auszudrücken über die Hemmung und die mangelnde Radikalität in Kants Gegenentwurf zum Empirismus, wenn er zuvor konstatiert: »Es kommt den Menschen schwer an, zu glauben, daß die Vernunft wirklich sei; es ist aber nichts wirklich als die Vernunft, sie ist die absolute Macht. Die Eitelkeit des Menschen will vermeintliches Ideal im Kopf haben, um alles zu tadeln: Wir sind die Gescheiten, haben es in uns, aber vorhanden ist es nicht.« 236
Für die hier diskutierte Frage nach der Legitimation des Rechts aus einem Naturzustand sei an dieser Stelle festgehalten, dass die spärliche ausdrückliche Auseinandersetzung Hegels mit der kontraktualistischen Tradition nicht ohne Weiteres darauf schließen lässt, dass diese für Hegel nicht von Interesse gewesen sei. Vielmehr finden sich in seiner Kant-Kritik auch insofern versteckte Kritiken an der kontraktualistischen Tradition, in der Ausformung, die sie bei Kant genommen hat.
2.4 Systematische Gründe gegen einen Naturzustand bei Hegel Aus den obigen Passagen können sodann zusammenfassend einige Punkte abstrahiert werden, die in systematischer Hinsicht gegen die These sprechen, Hegels Werk beinhalte einen impliziten Naturzustand 237. Vorrede der Grundlinien (TWA7, 24; GW14/1, 14). TWA20, 372. 236 Ebd. 237 Die folgenden Punkte gehen über Schnädelbach 1987, 117 ff. hinaus, der Hegels Kontraktualismus-Kritik in drei Argumente zusammenfasst: Die Vermischung von Privatrecht und Öffentlichem Recht durch den Rekurs auf den Vertrag; die nicht auf234 235
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Hegels Begriff des Rechts ist dezidiert anti-kontraktualistisch, weil er anti-dualistisch ist. Hegel kennt keine strikte Trennung zwischen Natur und Recht. In Hegels Philosophie des objektiven Geistes gibt es keine von Recht und sozialen Strukturen losgelöste Natur 238. Auch gibt es keine vollständig isolierten Individuen, wie sie der Kontraktualismus vorstellt. Somit ist weder ein Zustand denkbar, der einem Naturzustand vergleichbar wäre, noch kann ein Übergang von einem Natur- in einen Rechtszustand stattfinden. Hegels anti-dualistisches und damit anti-kontraktualistisches Denken zeigt sich an vielen, im Folgenden zu skizzierenden Punkten: (1) Hegel denkt das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum von der Gemeinschaft, also vom Recht her. Nur als Rechtsperson hat das Individuum im Recht Wirklichkeit. Die Verwirklichung des Rechts bringt ein Aufgehen des Individuellen mit sich. In der Phänomenologie führt der Anspruch des Individualismus zu einer Anerkennungsgemeinschaft der Personen, in denen das Individuelle als vom Allgemeinen her gedachte Rolle (Eigentümer, Vertragspartner usf.) vorkommt. In den Grundlinien erlangt die nicht ohne das Recht denkbare Person mehr und mehr Bestimmtheit im Recht und durch das Recht. Vereinzelt isolierte Individuen eines Naturzustandes sind diesem Rechtsdenken fremd. (2) Die Wirklichkeit des Rechtszustandes ist die abstrakte Allgemeinheit. Diese ist eine Einheit, in der bestimmter Gehalt durch und in Bezug auf Personen, also immer nur hinsichtlich einer konkreten Bestimmtheit auftritt. Das Individuum des abstrakten Rechts ist Eigentümer und Vertragspartner und dies sind die Verwirklichungsformen seiner Freiheit. Wie oben erörtert, ist diese abstrakte Allgemeinheit zu Beginn der Rechtsbewegung abstrakt und somit defizitär und die Beispiele des Eigentümers und Vertragspartners sind erste, noch
hebbare Kontingenz der Vereinigung von Einzelwillen durch den Vertragsschluss; das Paradox des Kontraktualismus, etwas vorauszusetzen (den Vertrag und mit ihm das bürgerliche Recht), das es erst zu legitimieren gilt. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Schnädelbach zwar Hegels Kontraktualismus-Kritik kritisch sieht, ihm aber keineswegs, was Gegenstand der Kritik der vorliegenden Arbeit ist, einen impliziten Naturzustand unterstellt. 238 Hierzu anhand der konkreten Gestalten des abstrakten Rechts sogleich im zweiten Teil der Arbeit. Das Recht und seine Voraussetzungen
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vergleichsweise abstrakte Weisen der Konkretion. Zudem haftet der abstrakten Allgemeinheit der Mangel eines nur engen Autonomiebegriffs an 239. Ungeachtet dieser Defizite, auf die es später noch näher einzugehen gilt, spielt sich jedenfalls die Entwicklung des Rechts auf dieser Ebene der abstrakten, im weiteren Verlauf konkreteren Allgemeinheit ab, die sich gerade dadurch auszeichnet, vom konkreten Individuum zu abstrahieren. Der Vertrag, dessen sich der Kontraktualismus bedient, ist hingegen die Rechtsfigur des Privatrechts schlechthin und geht grundsätzlich von isoliert sich gegenüberstehenden Individuen aus. Eine Staatslegitimation im Medium des Privatrechts ist ein kategorialer Fehler 240, der dem von Hegel abgelehnten Vorrang des Individualismus seitens der Kontraktualisten Genüge tun soll. (3) Hegels Denken setzt eine Einheit voraus und entwickelt sich von ihr her, die Kontraktualisten gehen von der Differenz der isolierten Individuen in einem Naturzustand aus. Ein solcher Zustand ist mit Hegel in voller Konsequenz gar nicht denkbar. Die Bewegung zum Recht hin bringt zwar auch bei Hegel eine Zersplitterung mit sich, die er in der Phänomenologie noch wie folgt ausdrückt: »Das Allgemeine in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert, dieser gestorbene Geist ist eine Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten.« 241
Bei Hegel entsteht jedoch keine völlig einheitslose Welt isolierter Individuen, sondern die geistige Verfasstheit der Person hält ein Mindestmaß an Einheit aufrecht 242, das in der zitierten Passage im Moment der abstrakten Gleichheit zum Ausdruck kommt. Man könnte meinen, ein vergleichbares Einheitsmoment auch in den kontraktualistischen Theorien erkennen zu können. Dieses ist aber bestenfalls in kontingenzbehafteten anthropologischen Annahmen wie der gemeinsamen Furcht vor dem Tode zu sehen. Eine normative, begriffliche Einheit ist nach dem Kontraktualismus erst mit dem rechtlichen Zustand denkbar – sie ist ein Ziel des Abschlusses des Gesellschaftsvertrags. Siehe unten 4.2.2. Kersting 1994, 252, der hierin den Grundeinwand Hegels gegen den Kontraktualismus erblickt. 241 TWA3, 355; GW9, 260. 242 Siehe unten 3.1.4. 239 240
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(4) Für Hegel ist dementsprechend der Vertrag kein legitimes Mittel, um die Entstehung von Recht und Staatlichkeit zu erklären. Der Vertrag als Instrumentarium des Privatrechts setzt Recht bereits voraus. Somit rekurriert der Gesellschaftsvertrag auf etwas, dessen Legitimität erst erwiesen werden soll. Außerdem gibt der Vertrag einer willkürlichen Übereinkunft von Privatwillen bloß den Anschein absoluter Rechtmäßigkeit. Diese Argumente sind bereits in Hegels Architektonik des abstrakten Rechts verarbeitet, in der schon der äußeren Abfolge nach dem Vertrag das Eigentum vorsteht, welches somit in einem im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit näher zu klärenden Sinne ursprünglicher als der Vertrag ist. Eine besondere Pointe bietet Hegels abstraktes Recht in dem, was auf den Vertrag folgt. Aus dem Vertrag folgt bei Hegel nämlich nicht, wie es in einem kontraktualistischen Narrativ zu erwarten wäre, das Recht, sondern: das Unrecht. Die Urform des Unrechts ist für Hegel nicht etwa das im Durchgang seines Unrechts-Kapitels entwickelte Verbrechen, sondern »das Gesetztsein des akzidentellen Willens 243«, also der Vertrag, insofern er seine Voraussetzungen (die Willkür der Privatindividuen) zu einer Allgemeingültigkeit hypostasiert. (5) Ein weiteres Abgrenzungskriterium ist in der Zuordnung des Inhaltsleeren und des Inhaltsreichen zu sehen. Der Naturzustand ist aus Hegel’scher Sicht zu inhaltsreich, in dem Sinne, dass ihn etliche nicht als vernünftig erkannte, sondern der Willkür entsprungene Aspekte wie anthropologische Grundannahmen oder Sozialprognosen prägen. Diese Unmittelbarkeit kann auch nicht durch den Abschluss des Gesellschaftsvertrags geheilt werden. Das auf diesem Weg entstehende Recht schleppt diesen Überschuss an Natur weiter mit sich herum. Bei Hegel hingegen steht am Anfang des Rechts die Abstraktion eines Rechtsbegriffs der Person. Der entstandene Staat des Kontraktualismus ist hingegen zu inhaltsarm. Seine Aufgabe besteht laut Hobbes nur darin, den Frieden zu sichern. Hierzu hat er alle Macht, ansonsten fehlt es ihm weitgehend an integrativer Funktion 244. Hegels Begriff des Rechts hin-
Enz. 1830 § 495 (TWA10, 308; GW20, 484): »Der Vertrag, als eine aus der Willkür entstandene Übereinkunft und über eine zufällige Sache, enthält zugleich das Gesetztsein des akzidentellen Willens«. 244 Ein Punkt, den man aus modern-liberaler Sichtweise Hobbes zu Gute halten könnte. 243
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gegen konkretisiert sich immer mehr und reichert sich in diesem Zuge mit Inhalt an. (6) Ein weiterer, wichtiger Gegensatz besteht in den unterschiedlichen Freiheitsbegriffen. Der Kontraktualismus geht von einem Dualismus natürlicher Freiheit und Freiheit im rechtlichen Zustand (sei es gegen oder durch das Recht) aus. Bei Hegel gibt es diesen Dualismus nicht 245. Freiheit ist nur mittels der durch das Recht bereitgestellten Institutionalität denkbar. Heutige Vertreter von Begriffen positiver Freiheit wie Robert Brandom knüpfen in diesem Punkt an Hegel an. Dualistische Konzepte der Freiheit, wie sie dem Kontraktualismus eingeschrieben sind, können nicht Konzepte ausschließlich positiver Freiheit sein, da sie ja gerade eine vor-positive Freiheit postulieren. Ob der Kontraktualismus hingegen zwingend Konzepte rein negativer Freiheit mit sich bringt oder nicht vielmehr einen gemischten Freiheitsbegriff, wäre zu diskutieren, spielt aber an dieser Stelle keine Rolle. Hegels Freiheitsbegriff lässt sodann auch keine Staatsgründung durch individuellen Vertragsschluss zu 246. Denn der individuelle Entschluss zum Abschluss des Gesellschaftsvertrags ist unter den Prämissen des Hegel’schen Freiheitsbegriffs nicht als Akt der Freiheit begreifbar. Der Übergang in den Rechtszustand wäre so, anders als es die kontraktualistische Tradition, allen voran Rousseau darstellt, kein Akt der Freiheit, sondern ein Akt der Willkür.
245 Knappik 2013, 317–323 unterscheidet zwei Begriffe der Natur: Einen materialen, nach dem die Natur eine »ontologische Sphäre« (321) darstellt, die für die Verwirklichung von Freiheit unabdingbar ist, sowie einen formalen, nach dem die Natur als Gegenbegriff des Geistes fungiert (322); Unter dieser Prämisse müsste man mit Hegel dem Kontraktualismus vorwerfen, einseitig den formalen Begriff der Natur zu betonen mit dem Resultat, diesem formalen Begriff in Ermangelung eines materialen Gegenbegriffs der Natur einen Begriff der Freiheit zuzuordnen – ein Unterfangen, das vor dem Hintergrund des differenzierten Naturbegriffs Hegels zum Scheitern verurteilt ist. Die kontraktualistische Vorstellung einer Staatsbegründung durch individuellen Vertragsschluss ließe sich so folgerichtig als rechtliche Ausgestaltung eines kollektiven, wahl-basierten Freiheitsbegriffes deuten – ein Konzept, das Hegel ablehnt, siehe Knappik 2013, 75 ff. 246 Jaeschke 2012 sieht hierin einen spezifisch modernen Zug Hegels – »in einem guten Sinne ›modern‹, nämlich im Sinne eines »Fortschritts im Bewußtseyn der Freyheit« (188).
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(7) Eine letzte inhaltliche Gegenüberstellung verbietet die Annahme eines Naturzustandes in Hegels Philosophie: Die Kontraktualisten vertreten einen anderen Begriff der Person als Hegel. Hegel spricht diese Differenz ausdrücklich an systematisch aufschlussreicher Stelle an, nämlich in der Anmerkung zu § 502 der Enzyklopädie, der den Übergang vom Recht zur Moralität markiert. Dort differenziert Hegel zunächst zwischen zwei Arten der Redeweise von Naturrecht. Die erste Weise, die mit der kontraktualistischen zu identifizieren ist, geht damit einher, dass ein »Naturzustand erdichtet worden ist« 247. Von dieser kontraktualistischen Spielart der Redeweise vom Naturrecht grenzt sich Hegel scharf ab. Er führt an dieser Stelle einen Grund hierfür an, den er an anderer Stelle nicht in der gleichen Ausdrücklichkeit ausführt. Die Kontraktualisten vertreten nämlich einen natürlichen Begriff der Person, indem sie der Person natürliche Eigenschaften wie einen Hang zur Gewalt zuschreiben und den Begriff der Person so mit einer Struktur der Ungleichheit und des Unrechts verknüpfen. Das Recht hingegen ist von Beginn an mit einem anderen Begriff der Person verknüpft, dessen Wesenhaftigkeit Hegel hier mit Selbstbestimmung angibt: »In der Tat aber gründen sich das Recht und alle seine Bestimmungen allein auf die freie Persönlichkeit, eine Selbstbestimmung, welche vielmehr das Gegenteil der Naturbestimmung ist.« 248
Auch diese Passage könnte grundsätzlich so ausgelegt werden, als beschreibe Hegel gerade den Dualismus zwischen Natur- und Rechtszustand, wie er sich im Begriff der Person ausdrückt. Insbesondere fährt Hegel fort, über den Naturzustand könne »nichts Wahreres gesagt werden […], als daß aus ihm herauszugehen ist.« 249 Diese Lesart zugrunde gelegt, könnte man, wie Hobbes es auch tut, den Übergang vom Naturzustand zum Rechtszustand gerade auch im Begriff der Person nachvollziehen und im Begriff der Person die den Übergang tragende abstrakte Einheit von Natur und Recht, vom Anfang der Bewegung zu ihrem Ende verankern. Genau hierin liegt aber der maßgebliche Unterschied zwischen Hegel und den Kontraktualisten. Hegels Begriff der Person ist von Anfang an normativ in dem Sinne, dass er sich in Selbstbestimmung, also positiver, nicht natürlicher
247 248 249
Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488). Ebd. Ebd. Näheres zu § 502 der Enzyklopädie unten 3.3.
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Freiheit gründet 250. Dem Kontraktualismus ist hingegen auch im Begriff der Person ein Dualismus eingeschrieben. Die Einheit zwischen Anfang und Ende der Bewegung des Kontraktualismus entstammt sodann dem vermeintlich freien individuellen Entschluss zum Abschluss des Gesellschaftsvertrags. (8) In methodischer Hinsicht bedient sich die rechtslegitimatorische Argumentation des Kontraktualismus eines rechtfertigungstheoretischen Prozeduralismus 251. Hegels Darstellung der Verwirklichung des Rechts ist jedoch von vornherein normativ verfasst. Die mit seinem Personbegriff zusammenhängende Anerkennungsprozedur ist kein bloß mit formalen Kriterien bestückter, ergebnisoffener Prozess, sondern eine nach inhaltsvorgebenden Kategorien ablaufende Verwirklichungsbewegung des Geistes. Inhalt und Struktur des Vertrages sind nach Hegel nicht zu trennen. So erklärt sich auch sein aus heutiger, gerade juristischer Sicht »sehr eigenwilliges Vertragskonzept« 252, das nur ein sehr begrenztes Maß an Vertragsinhalten zulässt. Die moderne Vorstellung des Prozeduralismus, also die Vorstellung, in Ermangelung der Existenz einer übergeordneten Sinninstanz oder zumindest des erkenntnistheoretischen Zugriffs auf sie (im Recht zum Beispiel einer Idee der Gerechtigkeit) auf Verfahren rückgreifen zu müssen, die bei Einhaltung ihrer Voraussetzungen das Auftreten eines bestimmten Ergebnisses herbeiführen oder zumindest die Wahrscheinlichkeit hierzu erhöhen, ist Hegel völlig fremd. Aber gerade einer solchen Strategie bedient sich der Kontraktualismus, in früher Form noch unter Zuhilfenahme bestimmter anthropologischer Grundannahmen, in modernerer Form, zum Beispiel bei Rawls, dem Anspruch nach gereinigt hiervon. (9) Dies führt zu einem weiteren Punkt. In methodischer Hinsicht kritisiert Hegel ausdrücklich insbesondere die empirischen Kontraktualisten, die als die ersten und wirkmächtigsten gelten dürfen. Von ihrer Methode ist, wie oben im Rahmen der Behandlung des Naturrechtsaufsatzes gezeigt, Hegels dialektische Methode strikt zu unterscheiden. Sie lässt keinen Naturzustand zu. 250 Zur Frage, ob diese Selbstbestimmung einem Anspruch auf umfassende Autonomie genügen kann, siehe unten 4.2.2. 251 Kersting 1994, 17. 252 Kersting 1994, 253.
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Zusammenfassung zum ersten Teil
Es lässt sich mithin festhalten, dass sich aus einer Vielzahl von systematischen Gründen Hegels Rechtsbegriff nicht auf einen Naturzustand zurückführen lässt. Er positioniert sich so, auch wenn er das nur an wenigen Stellen ausspricht, eindeutig und scharf gegen den Kontraktualismus. Abschließend zum ersten Teil soll nun beleuchtet werden, was aus dem Fehlen eines dem Rechtszustand vorgeschalteten Naturzustandes für Hegels Rechtsdenken folgt.
2.5 Zusammenfassung zum ersten Teil Es lässt sich zugespitzt fragen, ob Hegel durch sein anti-dualistisches Denken und die systematische Konsequenz, das Recht nicht aus einem Naturzustand zu konstruieren, letztlich der radikalere Hobbes ist. Ein Problem des Kontraktualismus 253, das Hegel in seiner Kritik der empirischen Behandlungsart des Naturrechts in einer methodenkritischen Stoßrichtung anspricht, besteht darin, dass ihm wegen seines Rekurrierens auf die Natur ein Mangel anhaftet, der nicht vollständig geheilt werden kann. Am deutlichsten wird das einmal mehr bei Hobbes. Auch nach dem Übergang in den staatlichen Zustand bleibt ein legitimatorischer Rest Natur bestehen, der die letzte Rechtfertigung für die Macht des Leviathan und die Normativität des Rechts ist. Das ist die Furcht der Individuen vor dem gewaltsamen Tode. Nur solange der Staat in seiner friedenssichernden Funktion den Individuen diese Furcht nimmt, ist und bleibt er gerechtfertigt 254. Das gilt für den Staat in seiner Gesamtheit, wirkt sich aber auch in einzelnen Rechtsverhältnissen aus. Wenn es dem einzelnen Bürger an das Leben geht, hat er nämlich auch im vermeintlich absolutistischen Machtstaat des Leviathan das Recht zu fliehen 255. Dies lässt Das Stabilitätsproblem, siehe auch unten 4.1.1. Siehe hierzu Hofmann 2000, 140. 255 Auch wenn sich Hobbes anders als zum Beispiel John Locke nicht ausdrücklich in einer noch dem heutigen Sinne vergleichbaren Weise mit einem Widerstandsrecht befasst, so herrscht doch Einigkeit darüber, dass der Delinquent, so es ihm ans Leben geht, zumindest das Recht zu fliehen hat. Bei Hobbes finden sich einige Passagen, die das stützen, insbesondere im 21. Kapitel sowie im 27. Kapitel des Leviathan (zum Beispiel: »If the sovereign command a man, though justly condemned, to kill, wound, or maim; or not to resist those that assault him; or to abstain from the use of food, air, 253 254
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sich eben mit dem Zweck des Staates begründen. In dem Moment, in dem vom Staat aus eine Gefahr für das Leben des Einzelnen ausgeht, erfüllt er seinen Zweck, die Furcht vor dem gewaltsamen Tode abzuwenden, dem Einzelnen gegenüber nicht mehr 256. Dieser dem Leviathan anhaftende Mangel des Naturrests ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Einmal ist in theoretischer Sicht das normative Gebilde des Staates naturalisiert. Es gründet sich in einem letzten Schritt auf eine natürliche Eigenschaft des Menschen und auf ein tatsächlich bestehendes Merkmal des sozialen Miteinanders. Der Diagnose, worin genau die grundsätzliche Eigenschaft des Menschen oder das grundsätzliche Merkmal des menschlichen Miteinanders besteht, haftet zudem der Verdacht der Kontingenz an, den Hegel in seinem Naturrechtsaufsatz ausarbeitet. Diesem rechtfertigungstheoretischen Einwand könnte man mit Kersting entgegenhalten, Hobbes gehe es gerade nicht um eine absolute Begründung des Staates, sondern um eine pragmatische 257. Eine solche Begründungsstrategie genügt aber freilich Hegels Anforderungen an echte Wissenschaft nicht. Neben diesen rechtfertigungstheoretischen Überlegungen ist der Rekurs auf die Natur auch in praktischer Hinsicht fragwürdig, weil er wenig Stabilität bietet. Wenn die Hobbes’sche Legitimation des Staates in etwa zutrifft, erscheint es als eine witzlose und enttäuschende Pointe, dass all die Komplexität des modernen Staates mit ihren vielfach ineinander verschränkten Ausgleichs- und Stabilitätsmechanismen letztlich auf eine vermeintliche Eigenschaft des Menschen und einen vermeintlichen Aspekt des tatsächlichen menschlichen Miteinanders im staatenlosen Zustand rückführbar ist. Hegels Begriff des Rechts hingegen erhebt den Anspruch, ein in sich vernünftiges Ganzes abzubilden, dessen Stabilität letztlich gar nicht mehr in Frage steht. Hegels Rechtfertigungsstrategie ist im Untermedicine, or any other thing, without which he cannot live; yet hath that man the liberty to obey«, Hobbes 1651/1966, 204 oder »If a man, by the terror of present death, be compelled to do a fact against the law, he is totally excused; because no law can oblige a man to abandon his own preservation«, Hobbes 1651/1966, 288). 256 Hier könnte der Einwand erfolgen, es handele sich um einen Extremfall und der Staat sei doch trotzdem im Großen und Ganzen gerechtfertigt und damit stabil. Diesem Einwand lässt sich Carl Schmitts Gedanken von der über den Ausnahmezustand definierten Souveränität entgegnen, siehe Schmitt 1922/2009. 257 Kersting 2009, 62.
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Zusammenfassung zum ersten Teil
schied zu den kontraktualistischen Rechtfertigungsstrategien der Denker des 17. und 18. Jahrhunderts 258 vom Bestreben beseelt, einen echten Rechtszustand ohne einen legitimatorischen Rest an Natur aufzuzeigen. Dem entsprechen folgende Aspekte in Hegels Rechtszustand: Der Rechtszustand ist ein Zustand von Normativität. Entsprechend anderen Teilen seines Systems, in denen er die vermeintliche Natürlichkeit bestimmter Konzepte oder Ereignisse kritisiert und aufzeigt, dass sie in Wirklichkeit nicht natürlich, sondern bereits komplex vermittelt sind, macht Hegel ernst mit der Idee eines nur auf Recht basierenden Rechtszustandes. Der Rechtszustand der Phänomenologie sowie das abstrakte Recht der Enzyklopädie wie auch der Grundlinien beschreiben denkbar primitive Formen des Rechts und der menschlichen Gemeinschaft. Selbst diese, denen Staaten zur Zeit Hegels und zur heutigen Zeit an Komplexität weit voraus sind, sind in ihren Grundfesten rechtlich und nicht natürlich. Ein weiteres Beispiel ist wiederum der Begriff der Person. Die rechtliche Person ist nicht das fleischliche Individuum mit seinen individuellen Bedürfnissen und Merkmalen, sondern sie ist der einheitsstiftende Sammelbegriff für normative Zuschreibungen 259. Diese bilden dann nicht das volle Individuum ab, sondern die Individuen sind im Recht genau das, was der Personbegriff zulässt und ausdrückt: Sie sind Eigentümer füreinander, Vertragspartner usf. In der Enzyklopädie spricht Hegel die Frage nach einem Rest der Natur ausdrücklich an. Der Geist setzt zwar die Natur tatsächlich voraus, er sei denkbar nur »als Zurückkommen aus der Natur.« 260 Dies ist aber nur die Seite eines tatsächlichen Voraussetzungsverhältnisses »für uns«. Die Natur hingegen hat den Geist als ihre Wahrheit zur Voraussetzung. Ihre Vernunft-strukturierte Verfasstheit und Entwicklung ist auf den Geist hingerichtet. In der Wahrheit des Geistes ist sodann »die Natur verschwunden« 261. Der Geist setzt sich die Natur selbst als mit ihm zusammenhängende Welt: Auf mögliche Unterschiede zu eindeutig prozeduralistischen Spielarten des Kontraktualismus im 20. Jahrhundert soll hier nicht eingegangen werden. Der Vorwurf des Naturalismus kann diesen wohl nicht mehr, jedenfalls nicht so leicht und eindeutig gemacht werden wie den klassischen Kontraktualisten des 17. und 18. Jahrhunderts. 259 Siehe hierzu näher unten 3.1.4. 260 Enz. 1830 § 381 (TWA10, 17; GW20, 382). 261 Ebd. 258
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Rechtszustand ohne Naturzustand
»Das Offenbaren, welches als das Offenbaren der abstrakten Idee unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist.« 262
Wesentlich für die Wirklichkeit des Geistes ist es, mit der von ihm erschaffenen Wirklichkeit durch die Erschaffung in einem, zunächst abstrakten, dann immer konkreter werdenden Zusammenhang zu stehen. Eine ursprüngliche, einmal getrennt vom Geist vorhandene Natur kann nicht Teil dieser Wirklichkeit sein 263. Wenn es also Hobbes’ Anliegen war, die der menschlichen Natur und der Natur des sozialen Miteinanders entspringenden Grausamkeiten durch die Legitimation eines neuen, besseren Zustandes zu überwinden, also: die Natur des Menschen zu tilgen, dann lässt sich sagen, dass Hegel in diesem Sinne der radikalere Hobbes ist. Bislang wurde nur die Frage beantwortet, ob Hegels Rechtszustand aus einem Naturzustand hervorgeht. Im nun folgenden zweiten Teil der Arbeit soll analysiert werden, wie sich im Durchgang des abstrakten Rechts Recht und Natur zueinander verhalten.
262 263
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Enz. 1830 § 384 (TWA10, 29; GW20, 382). Dieser Punkt steht im Zentrum des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit.
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3 Recht ohne Natur?
Nachdem im ersten Teil der Arbeit aufgezeigt wurde, dass Hegels Rechtszustand nicht aus einem Naturzustand hervorgeht, soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern Natur in Hegels Rechtsbegriff eine Rolle spielt. Zunächst wird (3.1) ein Blick auf das abstrakte Recht der Enzyklopädie und, von ihr ausgehend, auf einzelne Aspekte des abstrakten Rechts, wie Hegel sie detailliert in den Grundlinien ausarbeitet, geworfen werden. Anhand des von Hegel vollzogenen Dreischritts: Eigentum/Besitz, Vertrag und Unrecht gilt es nachzuvollziehen, welche Rolle außerrechtliche Faktoren im Recht spielen und wie Hegels abstraktes Recht mit ihnen umgeht. Hierbei wird sich herausstellen, dass auch in der dialektischen Entwicklung des Rechts, wie Hegel sie nachvollzieht, nie ein strikter Dualismus zwischen dem Recht und außerrechtlichen Faktoren vorliegt. Unter diesem Blickwinkel kristallisiert sich ein aus traditioneller Sicht eigenartiges Verständnis vom Recht heraus: Denn weder ist das Recht etwas strikt Anderes als außerrechtliche Faktoren (zum Beispiel die soziale Wirklichkeit), noch ist die Welt des Rechts in sich streng geschlossen und insofern ausschließlich rechtlich. Mit Hegel hingegen lässt sich die Interaktion zwischen dem Außerrechtlichen und dem Recht differenziert begreifen. Die Natur spielt im Recht nämlich eine Rolle derart, dass das Recht auf Außerrechtliches verweist, dieses aber im Recht nur als rechtlich verfasster Begriff vorkommen kann. Ein so verstandenes Zusammenspiel hat zwei Seiten. Einmal – und darauf kommt es schwerpunktmäßig in der vorliegenden Arbeit an – kann Hegel so einen Rechtsbegriff entwerfen, der sich dem klassischen Paradigma Naturrecht/Rechtspositivismus und seiner Trennung zwischen Recht und Natur entzieht. Zweitens stellt die soziale Wirklichkeit des Rechts, die anti-dualis-
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tisch verfasst ist 264, Hegel die konkrete Substanz des objektiven Geistes zur Verfügung. Somit ist Hegels Rechtsphilosophie keinesfalls eine abstrakte oder »vergeistigte« Begriffsspielerei, sondern der Versuch, die Wirklichkeit des Rechts dialektisch zu durchdringen, indem das Recht als Gestalt des objektiven Geistes aufgefasst wird. Dazu ist es nötig, sich mit den konkreten Erscheinungsformen des Rechts auseinanderzusetzen. Wie das Verhältnis von Recht und Natur konkret beschaffen ist, soll daher im Folgenden anhand der drei Gestalten des abstrakten Rechts nachvollzogen werden 265. Sodann (3.2) soll die von einem solchen Rechtsverständnis womöglich hervorgerufene Irritation insofern relativiert werden, als anhand konkreter Beispiele aus dem heutigen deutschen Zivilrecht gezeigt wird, dass das Zusammenspiel von Recht und außerrechtlichen Faktoren auf Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in der gleichen Weise verstanden werden kann. Denn viele abstrakte Rechtsbegriffe des BGB zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie weder von einem strikten Dualismus von Recht und außerrechtlichen Faktoren ausgehen, noch das Recht als in sich geschlossene Einheit ohne Bezug zu außerrechtlichen Faktoren auffassen. Drittens (3.3) soll ein Blick auf die Wiederkehr der Natur im Übergang zur Moralität in Hegels enzyklopädischem System geworfen werden (§ 502 der Enzyklopädie). Dadurch wird betont, dass allgemein Hegels objektiver Geist nicht im abstrakten Recht sein Ende findet und dass dies konkret damit zusammenhängt, dass der Einfluss der Natur nicht im Durchgang des abstrakten Rechts vollständig getilgt wird. Hierbei soll keine detaillierte Auseinandersetzung mit der Moralität erfolgen. Vielmehr 264 Dieser Gedanke ist eine Variation von Hegels berühmten Ausspruch aus der Vorrede der Grundlinien: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« 265 Somit ist die vorliegende Arbeit rechtsphilosophisch im doppelten Sinne: Einmal ist ihre Methodik eine, wie oben 1.5 ausgewiesen, rechtsphilosophische Rekonstruktion des Hegel’schen Rechtsbegriffs; außerdem führt sich diese Methodik auch in concreto in Hegels Gestalten des abstrakten Rechts (also in der Enzyklopädie und den Grundlinien) durch. Eine ebenfalls dualismus-kritische Rekonstruktion Hegelscher praktischer Philosophie, jedoch mit einem Fokus auf die Phänomenologie, findet sich bei Ranchio 2016.
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soll dieser Blick auf den Übergang des abstrakten Rechts zur Moralität für diese Arbeit dazu dienen, auf ihren dritten Teil überzuleiten, in dem die Stärken und Schwächen des Hegel’schen Rechtsbegriffes herausgearbeitet werden. Mit dem ersten Teil der vorliegenden Arbeit ist dieser zweite Teil insofern auch inhaltlich verknüpft, als sich in den im Folgenden zu explizierenden Weisen der Freiheitsverwirklichung im Recht ein weiteres Argument gegen den Naturzustand gewinnen lässt. Denn das Recht ist nach Hegels Darstellung geprägt davon, dass sich die Person die Natur als Sache rechtlich aneignet 266.
3.1 Recht und Natur im abstrakten Recht Das Zusammenspiel von Recht und Natur soll nun in concreto anhand der Untersuchung der drei Bestandteile des abstrakten Rechts: Eigentum/Besitz (3.1.1), Vertrag (3.1.2) und Unrecht (3.1.3) herausgearbeitet werden. Hierzu wird vom Begriff des abstrakten Rechts ausgegangen, wie er in der Enzyklopädie §§ 488–501 entwickelt wird. Vereinzelt wird dabei auch auf Details aus den Grundlinien zurückgegriffen 267. Methodisch erfolgt die Analyse der drei Gestalten des abstrakten Rechts in jeweils zwei Schritten: Es gilt zum einen, zumindest in groben Zügen Hegels dialektische Vorgehensweise in der Entfaltung der drei Gestalten des abstrakten Rechts nachzuvollziehen. Dies bereitet erstens Erkenntnissen in Bezug auf die hier aufgeworfene Problematik des Verhältnisses von Natur und Recht den Weg. Außerdem soll schon durch diese methodische Weichenstellung der Fehler vermieden werden, einzelne Begriffe des abstrakten Rechts isoliert von Hegels Philosophie des Geistes zu betrachten und sie somit zu depotenzieren. 266 Dieser Gedanke findet sich schon bei Ritter 1969/2005, dessen Formulierungen (Beispiel: »Der Mensch […] kann erst actu frei werden, indem er sich aus der Unfreiheit des Naturzustandes befreit und die Natur, ihre Macht durchbrechend, zur Sache macht.« auf der einen, »Die Freiheit der Person und die Versachlichung der Natur gehören unabdingbar zusammen« auf der anderen Seite, beide 65) allerdings die Möglichkeit eines Dualismus zwischen Recht und Natur offenlassen. 267 Siehe zur Textgrundlage oben 1.6.
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Unter den Vorzeichen dieser Hegel-exegetischen Weichenstellung soll sodann in einem zweiten Schritt Hegels Verständnis vom Verhältnis von Recht und Natur in Abgrenzung zu traditionellen dualistischen Konzepten zum jeweiligen konkreten Rechtsthema (ein naturalistischer Begriff des Besitzes, eine reine Willenstheorie, eine Zwangstheorie des Rechts) herausgearbeitet werden. Schließlich folgt ein zusammenfassendes Kapitel zum Begriff der Person, der sich in allen drei Gestalten des abstrakten Rechts (Eigentum/ Besitz, Vertrag, Unrecht) als zentraler Begriff erweist (3.1.4). Der Begriff der Person markiert in der Hegel’schen Philosophie des Geistes einen Begriff der abstrakten Einheit. Das bedeutet nach der im Verlauf dieser Arbeit zu entwickelnden Bestimmung: Im Begriff der Person fließen die Stärken des Hegel’schen Rechtsbegriffs zusammen, nämlich die Umgehung des Stabilitäts- und Melancholie-Problems (das ist der Moment der Einheit). Diese sind aber untrennbar verknüpft mit der Schwäche des Hegel’schen Rechtsbegriffs, das ist seine nicht mit einer Forderung nach Autonomie im weiten Sinne vereinbare Inhaltsarmut und die Unfähigkeit des Rechts, eine individuelle Sinngebung zu leisten (das ist das Moment der Abstraktheit) 268.
3.1.1 Eigentum und Besitz Es gilt in diesem Kapitel zu skizzieren, welche Rolle Eigentum und Besitz im Gang des abstrakten Rechts spielen (3.1.1.1). Sodann soll untersucht werden, wie sich Recht und Natur auf den Stufen von Eigentum und Besitz zueinander verhalten (3.1.1.2). Dabei wird sich zeigen, dass in Hegels abstraktem Recht selbst in den basalsten Formen des Aufeinandertreffens von Individuum und äußerlicher Welt sowie im Zusammenspiel von rechtlicher Begrifflichkeit und ihrem außerrechtlichen Bezugspunkt nie ein strikter Dualismus von Natur und Recht vorliegt. Konkret werden das Zusammenspiel von Individuum und Sache, von Individuum und eigenem Körper sowie von Besitz und Eigentum analysiert. Die Auswahl genau dieser drei Beispiele folgt dem Gedanken, dass genau bei diesen Punkten am ehesten sowohl Hegel-exegetisch als auch vom Stand-
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Siehe hierzu auch den dritten Teil der vorliegenden Arbeit.
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punkt einer gängigen Rechtsauffassung aus von einem Dualismus von Natur und Recht ausgegangen werden könnte. 3.1.1.1 Eigentum und Besitz im abstrakten Recht Ausgangspunkt des Rechts, mithin des objektiven Geistes ist der freie Wille, der zunächst (im abstrakten Recht) unmittelbar, als Einzelner auftritt 269. Als Gestalt des objektiven Geistes ist das Recht eine Gestalt der nur an sich seienden absoluten Idee 270. Das bedeutet, dass der Begriff sich seine Verwirklichungsformen in der Sphäre des Endlichen suchen muss 271. Die erste Erscheinungsform dieser Sphäre des Endlichen ist die Wirklichkeit des Rechts. Diese charakterisiert Hegel als ein ungelöstes Spannungsverhältnis des freien Willens. Der freie Wille ist nach Hegel auf dieser Stufe des Geistes gekennzeichnet durch ein Spannungsverhältnis zwischen absoluter Freiheit, die seine »innere Bestimmung und Zweck« 272 und sein »Begriff« 273 ist, und einer äußeren Wirklichkeit. Letztgenannte, die »äußerliche vorgefundene Objektivität«, teilt sich auf in »das Anthropologische der partikulären Bedürfnisse, in die äußeren Naturdinge, die für das Bewußtsein sind, und in das Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen, welche ein Selbstbewußtsein ihrer als verschiedener und partikulärer sind. 274« Im Durchgang des objektiven Geistes findet nun ein Wechselspiel zwischen diesen beiden Seiten des freien Willens als endliche Wirklichkeit statt. Das abstrakte Recht als erste Gestalt des objektiven Geistes zeichnet sich in Hegels Diktion dadurch aus, dass der Wille als unmittelbar Einzelner auftritt. Der Wille ist zwar absolut frei, gibt sich diese absolute Freiheit aber im Modus der Unmittelbarkeit. Das bedeutet, dass er in diesem Stadium zunächst nicht mehr ist als der Anspruch, der absolut freie Wille zu sein, der reine Begriff. Dieser steht aber nicht in einer Differenz zur Wirklichkeit, wie sie der antiEnz. 1830 § 487 Punkt A (TWA10, 306; GW20, 481). Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478). 271 Ebd. Dies ist eine Bestimmung des objektiven Geistes, die ihn am Ende seines Durchgangs wieder »einholt«. Entsprechend verweist Hegel in § 552 der Enzyklopädie, der den Übergang von der letzten Gestalt des objektiven Geistes, der Weltgeschichte, zum absoluten Geist umfasst, ausdrücklich auf § 483. 272 Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478). 273 Enz. 1830 § 484 (TWA10, 303; GW20, 478). 274 Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478). 269 270
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ken Sittlichkeit der Phänomenologie vergleichbar wäre. Denn der Wille des abstrakten Rechts weiß um »seine Einzelheit als absolut freien Willen« 275. Genau in diesem Wissen ist der Geist im abstrakten Recht nach Hegels Diktion Person 276. Dadurch kommt die das abstrakte Recht prägende Bewegung in Gange, in der sich der in diesem Ausgangspunkt leere und abstrakte Wille ein äußerliches Dasein gibt. Diese Bewegung beschreibt Hegel in den Grundlinien noch etwas detaillierter: Ausgangspunkt des Rechts, mithin des objektiven Geistes ist der »an und für sich freie Wille« 277, also der Wille, der bereits eine dialektische Vermittlungsbewegung absolviert hat und jetzt in eine weitere, die des Rechts und des objektiven Geistes, eintritt 278. Dieser ist in seinem »abstrakten Begriffe« und in der »Bestimmtheit der Unmittelbarkeit«. Beide Bestimmungen hängen insofern zusammen, als sich die Abstraktheit des Begriffsbezugs des freien Willens gerade aus der Unmittelbarkeit ergibt. Aus dieser Konstellation ergibt sich ein Konflikt, den Hegel als den Motor der Bewegung des abstrakten Rechts präsentiert. Der Wille ist nämlich sowohl »in sich einzelner Wille eines Subjekts« mit dem Anspruch, alles andere aus dieser als Ganzheit verstandenen Individualität auszuschließen, als auch eine für das Subjekt vorfindbare Welt, die es gemäß seines Ausschließlichkeitsanspruchs nur als geschieden von sich begreifen kann, die aber als Moment der Besonderheit ebenfalls Moment der Einheit des Willens ist. Die einzige Möglichkeit einer Einheit besteht angesichts dieses Konflikts in einem Rückzug der Subjektivität auf einen Rechtsbegriff der Person. Hegel führt diesen Begriff im folgenden Paragraphen ein und gibt ihm die vorläufige Definition: »die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit« 279
Entscheidend ist, dass die Person diese Beziehung als allgemeine umfasst, sie ist eine abstrakte Einheit. Diese abstrakte Einheit bringen die Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482). Hierzu eingehend unten 3.1.4. 277 Grundlinien § 34 (TWA7, 92; GW14/1, 51) wie auch die folgenden direkten HegelZitate. 278 Quante 2005, 80–82 entfaltet seine gesamte Interpretation der einleitenden Paragraphen des abstrakten Rechts am Leitfaden dieser Bestimmung des Willens. 279 Grundlinien § 35 (TWA7, 93; GW14/1, 51). 275 276
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im Vergleich zum umfassenden Anspruch ausschließender Individualität engen und inhaltsarmen Konkretisierungsmodi des abstrakten Rechts mit sich. Das abstrakte Recht sieht von individueller Besonderheit ab, sein Inhalt richtet sich ausschließlich nach den Vorgaben des Rechtsbegriffs der Person. Diese Inhaltsgebung ist verknüpft mit dem Konzept der Anerkennung. Inhalt ist nicht vorgegeben, sondern er entsteht in einem Anerkennungsprozess, der allerdings nicht wiederum offen gegenüber allen denkbaren Formen der Anerkennung und mit ihnen verknüpften möglichen Inhalten ist, sondern der sich an den engen Vorgaben des abstrakten Rechts orientiert, also an den Modi des Eigentums, Vertrags und Unrechts. Das Eigentum ist die erste Stufe der Bewegung der Person. Im Eigentum setzt sich der Wille in einer einzelnen Person zu sich selbst ins Verhältnis. Die Person konkretisiert sich im Eigentum insofern, als der Wille sich ein erstes äußeres Dasein gibt und hierdurch sich das Individuum als von Sachen verschieden begreifen kann. Betrachtet man nur das isolierte Individuum, so scheidet sich dieses zunächst von den Sachen und hat das Recht, diese in Besitz zu nehmen. Der Besitz umfasst auf den ersten Blick das tatsächliche Verhältnis des Individuums zur Sache und bezeichnet die bloße Tatsache, dass eine Sache in einer äußerlichen Beziehung zu einem individuellen Willen steht 280. Hinzu kommt eine zweite Seite dieses ersten Schritts, das Eigentum. Denn dieser, sofern man ihn als Besitz auffasst: rein äußerliche Vorgang, hat auch eine substanzielle Kehrseite, nämlich »die Bedeutung, daß ich meinen persönlichen Willen in sie hineinlege. 281« Wie im folgenden Kapitel noch zu zeigen sein wird, sind Besitz und Eigentum dabei nicht zwei zeitlich oder logisch getrennt aufeinanderfolgende Vorkommnisse, sondern zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. In den Grundlinien spezifiziert Hegel die Charakteristika des Eigentums, insbesondere das Verhältnis zum Begriff der Person: Eigentum bezeichnet zwei Vorgänge, die für den Fortlauf der Person und des abstrakten Rechts zentral sind. Erstens wird sich der Wille in der Sache, von der er Besitz ergriffen hat, selbst gegenständlich:
280 281
Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482). Enz. 1830 § 489 (TWA10, 307; GW20, 482).
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»Die Seite aber, daß Ich als freier Wille mir im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille bin, macht das Wahrhafte und Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigentums aus.« 282
So tritt der Wille in ein Verhältnis zu sich und beginnt, die Momente seiner abstrakten Einheit auszudifferenzieren. Zweitens ist das Eigentum eine anerkennungsfähige und -bedürftige Kategorie. Es bringt mit sich die Darstellbarkeit des spezifischen Konkretisierungsmodus der Personalität für andere. Diese Dimension ist zum einen im abstrakten Recht immer vorausgesetzt, ausgedrückt in Hegels »Rechtsgebot« aus § 36 (»sei eine Person und respektiere die anderen als Personen« 283). Zudem spricht Hegel diese Dimension auch im Abschnitt über das Eigentum an. Eine erste Erwähnung findet sie in § 48, in dem es darum geht, wie das Individuum mit seinem Körper für andere ist. Deutlicher wird die Anerkennungsfundierung des Eigentums in § 51. Hier spricht Hegel nochmals die zwei Seiten des Eigentums an. Einmal weist er die »innerliche« Seite, also »Vorstellung und Wille, daß etwas mein sein solle« als nicht hinreichend aus, um Eigentum begründen zu können. Es bedarf zusätzlich des tatsächlichen, in einer Öffentlichkeit sich abspielenden Besitzaktes. Die Konsequenz dieser zweiten Seite besteht darin, dass das Eigentum in einer Gemeinschaft anerkannt werden kann. »Das Dasein, welches jenes Wollen hierdurch erhält, schließt die Erkennbarkeit für andere in sich.« 284
Nach allem zuvor Gesagten wäre dies auch gar nicht anders denkbar. Im abstrakten Recht hat nur die Person Wirklichkeit. Ihr Gehalt kann sich nicht alleine nach dem »innerlichen«, subjektiven Moment eines ihrer Konkretisierungsmodi bestimmen. Dieses subjektive Moment ist zwar vorhanden, wie es Hegel gerade beim Eigentum zeigt und betont, es kann aber nur durch Verbindung mit einem objektivitätsfähigen Element, in diesem Fall der Besitzergreifung, zur Wirklichkeit gelangen. Die Subjektivität gelangt sodann auch nicht als volle oder als einheitlich verstandene zur Wirklichkeit, sondern als aus der abstrakten Allgemeinheit bestimmbares Moment der abstrakten Einheit des Rechts. Dies ist Kern und Folge des Rechtsbegriffs der Person. 282 283 284
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Grundlinien § 45 (TWA7, 107; GW14/1, 57). Grundlinien § 36 (TWA7, 95; GW14/1, 52). Alle drei Zitate Grundlinien § 51 (TWA7, 114 f.; GW14/1, 61).
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Nun soll ein besonderes Augenmerk auf das Zusammenspiel von Recht und Natur in Hegels Besitz- und Eigentumsbegriff gelegt werden. 3.1.1.2 Das Zusammenspiel von Recht und Natur Es stellt sich die Frage, wie sich Recht und Natur auf den Stufen von Eigentum und Besitz zueinander verhalten. Wie eben erläutert, lassen sich die Passagen zu Eigentum und Besitz sowohl in der Enzyklopädie als auch in den Grundlinien als Konkretisierungen des Spannungsverhältnisses zwischen einer »inneren«, dem Begriff zugeordneten, und einer »äußeren«, der Wirklichkeit zugeordneten, Seite des Geistes deuten. Zu dieser äußeren Seite 285 gehören laut Hegel solche Bestimmungen, die von der rechtsphilosophischen Tradition unter den Naturbegriff subsumiert werden. Das sind namentlich: individuelle Bedürfnisse, äußere Naturdinge sowie das Verhältnis von einzelnen Individuen zueinander, sofern diese sich auf individuelle Bedürfnisse und äußere Naturdinge beziehen 286. Der Rahmen dieses Spannungsverhältnisses und damit die Wirklichkeit, in der sich die Konkretisierung dieser Spannung vollzieht, ist das (abstrakte) Recht. Auf einen ersten Blick erscheint es also so, als träfe »im« Recht etwas Rechtliches (die »innere« Seite, der Begriff) auf etwas von ihm gänzlich Verschiedenes (das »Äußere«). Diese Sichtweise soll im Folgenden als dualistisch bezeichnet werden. Dieser erste Eindruck wird sogar noch verstärkt, wenn man die konkreten Ausformungen des umschriebenen Spannungsverhältnisses in den Blick nimmt: Die Beziehung vom Individuum zur Sache (3.1.1.2.1) sowie das Verhältnis von Besitz zu Eigentum (3.1.1.2.2). 3.1.1.2.1 Individuum – Sache Die Differenz zwischen Individuum und Sache könnte auf zweierlei Weise dualistisch vorgestellt werden. (1) Erstens besteht, eher der Vollständigkeit halber erwähnt, die Möglichkeit, sowohl das Individuum auf der einen als auch die Sache auf der anderen Seite isoliert als natürliche Entitäten aufzufassen. 285 Hegel nennt diese äußeren Faktoren in der Enzyklopädie »das äußerliche Material für das Dasein des Willens«, Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478). 286 Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478).
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Nach dieser Auffassung wäre das Recht eine irgendwie übergeordnete oder inhärente Struktur, von der sich aber die Entitäten, die im oder durch das Recht interagieren, völlig geschieden begreifen ließen. Eine solche extrem dualistische Sichtweise wäre ausgehend von Hegel nur dann denkbar, wenn man »das Anthropologische der partikulären Bedürfnisse« 287 der »inneren« Begriffs-Seite zuordnet. Dann wäre es denkbar, dass sich als Ausformung des Konflikts zwischen Individuum und Sache ein nicht-rechtliches individuelles Bedürfnis und ein äußerliches Ding der Natur »im« Recht gegenüberstehen. Das ist aber verfehlt, weil Hegel auch die individuellen Bedürfnisse in § 483 der Enzyklopädie der »äußerlich vorgefundene[n] Objektivität« zuordnet. Auf Seiten des Individuums stehen, sofern es um die Konfrontation des Individuums mit der Sache geht, wie sie Hegel im abstrakten Recht beschreibt, nicht die besonderen Bedürfnisse eines einzelnen Individuums, sondern das ausschließlich um die Nichterfüllbarkeit seines Absolutheitsanspruchs wissende Individuum – also nach Hegel’scher Diktion die Person in ihrer abstraktesten Form. (2) Zweitens ist es aus dualistischer Sicht möglich, die Seite der Individualität zwar rechtlich aufzufassen, dem aber auf Seiten der Sache eine natürliche Entität gegenüberzustellen. Für diese Lesart finden sich Anhaltspunkte in Hegels Text. Zunächst ließe sich Hegels in der Enzyklopädie mehrfach vorkommende Rede von der Äußerlichkeit der Ebene 288, der auch die Sache im abstrakten Recht zugeordnet werden kann, so interpretieren, dass hiermit eine dem Recht äußerliche Ebene gemeint sei. Diese Lesart ließe sich auch mit einem Blick auf die Grundlinien stützen. Hegel bestimmt die Sache in § 42 als »ein Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses« 289. In § 43 spricht Hegel von einer »natürliche[n] Existenz« der Person und zwar insofern sie sich auf eine Art von Sachen bezieht, die Hegel »unmittelbar« nennt. Ein Blick auf die Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478). Zum Beispiel in TWA10, § 483: »eine äußerliche vorgefundene Objektivität«, »die äußeren Naturdinge«, das »äußerliche Material« (zitiert nach TWA10, 303); in § 484: »in der äußerlich objektiven Seite« (zitiert nach TWA10, 303); in § 488: »an einer äußerlichen Sache«, »äußerlichen Sphäre ihrer Freiheit« (zitiert nach TWA10, 306), in § 490: »die Sache ist eine abstrakt äußerliche und Ich darin abstrakt äußerlich« (zitiert nach TWA10, 307). 289 Grundlinien § 42 (TWA7, 103; GW14/1, 55). 287 288
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Recht und Natur im abstrakten Recht
Anmerkung zu diesem Paragraphen zeigt, dass Hegel unter den Begriff der unmittelbaren Sache das subsumiert, was wir auch heute im BGB grundsätzlich als Sachen verstehen: körperliche Gegenstände 290. Hier ließe sich schließen, dass Hegel genau deswegen allein auf körperliche Gegenstände abstellt und in diesem Zusammenhang von einer natürlichen Existenz der Person spricht, weil körperliche Gegenstände isoliert von Individualität und Recht existieren. (3) Gegen diese zweite, gemäßigt dualistische Lesart sprechen aber folgende sowohl an den konkreten Textpassagen als auch aus systematischen Gründen heraus entwickelte Argumente: Das aus § 43 der Grundlinien hergeleitete Argument in Bezug auf körperliche Gegenstände lässt sich widerlegen, weil es Hegel in diesem Abschnitt darum geht zu bestimmen, welche Sachen Gegenstand des Abschnitts zum Eigentum im Unterschied zum darauf folgenden Abschnitt des Vertrags sind. Hegel schreibt: »Nur von diesen Sachen [also von körperlichen Gegenständen, Anm. Verf.] […] ist hier bei der Person, die selbst noch in ihrer ersten Unmittelbarkeit ist, die Rede.« 291
Wie sich aus der Anmerkung ergibt, bezieht sich die erste Unmittelbarkeit auf die erste Gestalt des abstrakten Rechts, also das Eigentum. In der Anmerkung ordnet Hegel »geistige«, nicht-körperliche Gegenstände dem Vertrag zu. Dies ist der Überlegung geschuldet, dass nach Hegels Auffassung Recht an derlei Gegenständen erst im Kontext vermittelnder Willen Einzelner entstehen kann. Ein Argument, die Beschränkung des § 42 auf körperliche Gegenstände spräche für einen Dualismus von Natur und Recht, lässt sich also aus dieser Aufteilung nicht ziehen. Im Gegenteil: Hegels auf den ersten Blick womöglich krude Auffassung, dass ein Recht an einem »geistigen« Gegenstand erst durch Vertrag begründet werden kann, ist im Kontext seiner anti-dualistischen Rechtsauffassung nur konsequent. Denn solange eine geistige- oder eine Kunstfertigkeit noch nicht in die Wirklichkeit des Rechts (nach heutiger Diktion: in den Rechtsverkehr) eingeführt ist, ist sie keine Sache und somit kein möglicher Gegenstand eines Rechts:
290 So die Definition des § 90 BGB: »Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände.« 291 Grundlinien § 43 (TWA7, 104; GW14/1, 55).
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»Sie sind also nicht zuerst ein Unmittelbares, sondern werden es erst durch die Vermittlung des Geistes, der sein Inneres zur Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit herabsetzt.« 292
Aus dieser Passage lässt sich also im Vorblick auf die Gestalt des Vertrags ein Argument für den Anti-Dualismus Hegels gewinnen. (4) Hegels Rede von der Äußerlichkeit der Sache mag zwar irreführend sein, im Kontext seiner systematischen Einbettung dieser Rede ist ein Schluss auf einen Dualismus indes nicht zulässig, dies aus drei Gründen: Erstens beschreibt Hegel nicht die vereinzelte Äußerlichkeit (die konkrete Sache als ein Ding, isoliert von allem anderen, das in Besitz genommen wird), sondern »das Äußerliche überhaupt« 293. Die Natur ist daher nicht das bestimmte Äußerliche im Unterschied zum Recht, sondern »das Äußerliche an ihr selbst« 294. Die der Sphäre äußerlicher Naturbestimmung zugeordnete Sache ist daher nicht eine bestimmte Sache wie ein Tisch oder ein Stuhl, sondern das dem Individuum äußerliche Moment seines Daseins, das sich darin zeigt, dass es Besitzer und Eigentümer eines Tisches oder eines Stuhles ist. Die Sache ist somit nicht das Äußerliche relativ zum sie besitzenden Individuum, sondern das Äußerliche überhaupt und zwar auch in Bezug auf sich selbst. Sofern Hegel die Sache in § 42 der Grundlinien als rechtlos bezeichnet, ist dies in diesem Kontext aufzufassen. In der Enzyklopädie drückt Hegel das Moment der Rechtlosigkeit der Sache noch klarer aus. Dort bezeichnet er die Sache als »gegen die Subjektivität der Intelligenz und der Willkür als ein Willenloses ohne Recht« 295. An dieser Stelle wird klar, dass die Sache nicht absolut aus dem Bereich des Rechts herausfällt, sondern innerhalb des Rechts gegenüber dem sie in Besitz nehmenden Individuum rechtlos ist. So erklärt sich, dass das Individuum die Sache und nicht die Sache das Individuum in Besitz nimmt. Zweitens ist das Individuum sich auch im Eigentum äußerlich, insofern es in der abstrakten Einheit der Person sein Dasein mit einer abstrakten äußerlichen Sache verknüpft: »Aber die Sache ist eine abs292 293 294 295
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Grundlinien § 43 A (TWA7, 104 f.; GW14/1, 56). Grundlinien § 42 (TWA7, 103; GW14/1, 55). Grundlinien § 42 A (TWA7, 103; GW14/1, 55). Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482).
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trakt äußerliche und Ich darin abstrakt äußerlich« 296. Das hat, worum es an dieser Stelle im Detail nicht gehen soll, zum einen zur Folge, dass die abstrakte Einheit des Eigentums auch für das Individuum keinen befriedigenden Gehalt bereitstellen kann, weshalb dieses notwendigerweise mit anderen Individuen im Anerkennungsmodus des Vertrags in Verbindung tritt. Außerdem zeigt diese Passage, dass der Hegel’sche Begriff der Äußerlichkeit nicht ausschließlich mit der Sache verknüpft ist, sondern auch mit dem Individuum, insofern es sein Dasein als Eigentümer einer Sache hat. Theoretisch ließe sich hier argumentieren, dass das Individuum sich durch die Beziehung zur natürlichen Sache selbst naturalisiert. Ein solch extremer Dualismus wäre aber schon aus den oben genannten systematischen Gründen nicht mit Hegels Grundannahmen vereinbar. Er würde letztlich das dem Hegel’schen System inhärente Primat des freien Willens, Selbstzweck zu sein gegenüber einer äußeren Natur, die dies gerade nicht ist, untergraben. Vielmehr zeichnet sich Hegels Begriff der Person gerade dadurch aus, dass sie eine zwar abstrakte, aber eben bestehende Einheit zwischen Individuum und Sache ist. Insofern haben nach Hegel »die sogenannten Außendinge den Schein von Selbständigkeit« 297. Drittens besteht ein elementarer Bestandteil der Hegel’schen Dialektik des Rechts – in der Enzyklopädie wie auch den Grundlinien – darin, dass die äußerliche Objektivität erst durch den Willen hervorgebracht wird: »Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt sei […]« 298. Wenn sich also die Sache dadurch auszeichnet, ein äußerlich Objektives zu sein, dann lässt sich diese Objektivität im Zusammenspiel von innerer und äußerer Seite des hier in Rede stehenden Konflikts nicht isoliert von Subjektivität denken. Das bedeutet unter anderem, dass ein dieser äußerlichen, objektiven Seite zuzuordnendes Naturding nicht isoliert vom Willen des Individuums gedacht werden kann, der auf die Inbesitznahme dieses Dings gerichtet ist. Das Naturding ist dabei Sache – und zwar von vornherein, oder es ist gar nichts –, gerade weil es in dieser Beziehung zum Willen steht. Selbst wenn man also die innere, begriffliche Seite des Konflikts des abstrakten Rechts dem Recht und 296 297 298
Enz. 1830 § 490 (TWA10, 307; GW20, 482). Grundlinien § 44 A (TWA7, 106; GW14/1, 57). Enz. 1830 § 484 (TWA10, 303; GW20, 478).
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die äußere, die Wirklichkeitsseite der Natur zuordnen wollte, muss man auf der Grundlage der Hegel’schen Philosophie zugestehen, dass das, was man als die Seite der Natur bezeichnet, von der Seite des Rechts erst hervorgebracht wird. (5) Zuletzt mag ein besonders plakatives, von Hegel in den Grundlinien gewähltes Beispiel, die hier vertretene These verdeutlichen, dass in Hegels Philosophie selbst auf basaler Ebene des Zusammenspiels von Individuum und objektiver Sachwelt kein Dualismus Recht-Natur denkbar ist. In § 48 der Grundlinien vertritt Hegel die auf den ersten Blick womöglich irritierende These, dass selbst der eigene Körper in Besitz genommen werden muss. Diese These verwundert allerdings nicht, hält man sich die Aufteilung des § 483 der Enzyklopädie vor Augen, nach der selbst »das Anthropologische der partikulären Bedürfnisse« der Außenwelt zugeordnet wird. Das bedeutet: Auch der eigene Körper steht dem Individuum als Sache »gegenüber« (§ 48 Grundlinien). Auch den Vorgang dieser Inbesitznahme beschreibt Hegel in § 57 der Grundlinien als Ausbuchstabierung des das abstrakte Recht prägenden Konflikts zwischen Begriff und Wirklichkeit. Denn auch der Mensch ist ein Naturwesen in dem Sinne, dass seine Partikularität, zu der auch der Körper zählt, ihm äußerlich ist. Erst durch die Inbesitznahme gibt er dem Körper »die Form der Sache« 299. An dieser Stelle lässt sich freilich auch die Frage stellen, was denn der Körper war, bevor er diese Form erhalten hat. Es ließe sich argumentieren, dass der Körper zunächst ein bloßes Naturding ist, das durch den von Hegel beschriebenen Vorgang in die Wirklichkeit des Rechts transformiert wird. Dies hätte zur Konsequenz, dass eben doch, dem von Hegel beschriebenen Vorgang vorgelagert, ein Dualismus zwischen Recht und Natur bestanden haben könnte. Die Frage nach diesem Davor geht aber in Anbetracht der bereits erarbeiteten Argumente ins Leere. Es gibt kein Davor. Denn auch der Körper als Naturding, wie er Gegenstand des ihn in Besitz nehmenden Willens ist, existiert nur gerade deshalb, weil er Gegenstand des ihn in Besitz nehmenden Willens ist. Auch die Wirklichkeit des Körpers »vor« Inbesitznahme wird erst im Zuge des Prozesses der Inbesitznahme gesetzt.
299
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Grundlinien § 57 (TWA7, 123; GW14/1, 64).
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In der Anmerkung zu § 57 der Grundlinien wendet Hegel diesen Gedanken auf das Problem der Sklaverei an. Die tradierten Positionen zur Sklaverei (pro Sklaverei: Der »Mensch(en) als Naturwesen«, zu dem wie auch immer begründete natürliche Unterwerfungsstrukturen gehören; contra Sklaverei: Der »Mensch(en) als von Natur frei« 300) beruhen beide gleichermaßen auf einem Dualismus von Natur und Recht, der in Hegels abstraktem Recht gar nicht möglich ist: »Der Standpunkt des freien Willens, womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt, ist über den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen und nur als an sich seiender Begriff, der Sklaverei daher fähig ist, schon hinaus. 301« So lässt sich aus Hegels Beispiel der Inbesitznahme des Körpers ein doppeltes Argument gegen den Dualismus gewinnen. Denn die Beziehung von Individuum zu Körper ist die denkbar »unmittelbarste« Verbindung eines Individuums zur Außenwelt. Selbst auf dieser basalen Ebene ist kein Dualismus zwischen Recht und Natur möglich. Zudem zeigen die Ausführungen zur Sklaverei exemplarisch, dass dualistische Konzepte im abstrakten Recht keinen Platz haben – mit der besonderen Pointe, dass dies nicht nur für traditionelle Konzepte zur Rechtfertigung der Sklaverei gilt, sondern ebenso für moderne Konzepte natürlicher Freiheit, die sich gegen die Sklaverei richten. Im Verhältnis vom Individuum zur Sache findet sich kein Dualismus zwischen Natur und Recht. Es stellt sich die Frage, ob ein solcher Dualismus im weiteren Fortgang des abstrakten Rechts, namentlich im Verhältnis von Besitz und Eigentum zu finden ist. 3.1.1.2.2 Besitz – Eigentum Die rechtliche Beziehung, die durch die Inbesitznahme entsteht, lässt sich wiederum in zwei Elemente aufspalten: den Besitz und das Eigentum. Auch auf dieser Ebene lässt sich der dualistische Hebel ansetzen, derart, dass der Besitz das natürliche Verhältnis eines Individuums zu einer Sache, das Eigentum hingegen ein genuin rechtliches Verhältnis bezeichne. Auch hierfür ließen sich grundsätzlich Anhaltspunkte in Hegels Text finden. 300 301
Beide Zitate Grundlinien § 57 A (TWA7, 123 f.; GW14/1, 64 f.). ebd.
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So heißt es in der Anmerkung zu § 486 der Enzyklopädie: »Aber dem Begriffe nach ist mein Recht an eine Sache nicht bloß Besitz, sondern als Besitz einer Person ist es Eigentum, rechtlicher Besitz […].« 302
Diese Passage könnte den Eindruck erwecken, der Unterschied zwischen Besitz und Eigentum bestehe gerade in der Rechtlichkeit: Der bloße, nicht von einer Person ausgeübte Besitz bezeichne das rein natürliche Verhältnis eines Individuums zu einer Sache. Das Eigentum hingegen definiere sich dadurch, ein von einer Person ausgeübter Besitz und damit ein rechtlicher Besitz zu sein. Diese dualistische Gegenüberstellung von Besitz und Eigentum ließe sich auch noch mit einem oberflächlichen Vergleich der §§ 488 und 489 der Enzyklopädie stützen. In § 488 führt Hegel den Begriff des Besitzes in Bezug auf die »äußerliche Sphäre ihrer [der Person, Anm. Verf.] Freiheit«, zu der die Sache »als ein Willenloses ohne Recht« 303 von der Person gemacht wird. In § 489 grenzt Hegel hiervon den Begriff des Eigentums ab, das er als »Dasein der Persönlichkeit« 304 bezeichnet und das dadurch entsteht, dass sich das besitzergreifende Individuum im Besitz selbst gegenständlich wird. Auf die gleiche dualistische Spur könnte auch § 45 der Grundlinien führen, in dem Hegel dieses eben genannte zweite Moment des sich Gegenständlichwerdens als »das Wahrhafte und Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigentums« 305 beschreibt. Aber auch im Zusammenspiel von Besitz und Eigentum trifft an keiner Stelle das Recht auf ein völlig von ihm losgelöstes natürliches Element. In der Enzyklopädie bringt Hegel das in § 489 sehr knapp zum Ausdruck. Es finden sich in diesem Paragraphen zwei Anhaltspunkte, die die hier vertretene anti-dualistische Lesart stärken. Denn erstens schreibt Hegel von dem »Urteil des Besitzes« 306. Hegel müsste an dieser Stelle, so er denn eine dualistische Sichtweise vertreten würde, von dem Besitz, dem Faktum des Besitzes oder in einem untechnischen Sinne von der Tatsache des Besitzes sprechen, seine Wortwahl fällt aber auf das Urteil. An dieser Stelle soll zwar die sehr wohl 302 303 304 305 306
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Enz. 1830 § 486 A (TWA10, 304; GW20, 480). Beide Zitate Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482). Enz. 1830 § 489 (TWA10, 307; GW20, 482). Grundlinien § 45 (TWA7, 107; GW14/1, 57). Enz. 1830 § 489 (TWA10, 307; GW20, 482).
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interessante Frage offen bleiben, warum Hegel gerade hier und gerade im Zusammenhang mit dem Besitz den Begriff Urteil verwendet. Jedenfalls lässt diese Wortwahl darauf schließen, dass der Besitz eben nicht bloß ein natürliches Faktum (im Gegensatz zum Eigentum als verrechtlichtem Verhältnis dieses Faktums) ist, sondern ein bereits normatives, rechtliches Verhältnis. Dem entspricht auch Hegels folgende Wortwahl: »Durch diese Bestimmung ist der Besitz Eigentum […]«. Hier hätte Hegel, wenn er ein dualistisches Zwei-PhasenModell Besitz-Eigentum vor Augen hätte, wird statt ist schreiben können. Er bringt an dieser Stelle zum Ausdruck, dass Besitz und Eigentum zwei Aspekte ein und desselben Vorgangs sind. Das Eigentum ist dem Besitz zwar insofern im Hegel’schen Gedankengang an Komplexität voraus, als sich Subjektivität in der äußerlichen Sache gegenständlich wird, wohingegen der Besitz isoliert betrachtet nur das Moment der Ermächtigung der Sache bezeichnet. Das bedeutet aber nicht, dass der Besitz als natürlicher Vorgang aus dem Recht herausfällt. Vielmehr gehören Besitz und Eigentum untrennbar zusammen. Hegel bezeichnet diese Verknüpfung als Mittel-Zweck-Relation. Der Besitz ist das Mittel, das Eigentum ist der Zweck, das Dasein der Persönlichkeit in einer äußerlichen Sache zu manifestieren. Die Einheit von Besitz und Eigentum bringt Hegel auch in den Grundlinien zum Ausdruck, namentlich in § 45. Dort präsentiert er Besitz und Eigentum als zwei Seiten einer Einheit. Dem Besitz ordnet er »die besondere Seite (zu), daß Ich etwas aus natürlichem Bedürfnisse, Triebe und der Willkür zu dem Meinigen mache […] 307«. An dieser Stelle kommen zwei wesentliche Gedanken zum Ausdruck. Erstens sind Besitz und Eigentum »Seiten« einer Einheit und nicht aufeinanderfolgende Schritte. Zweitens nennt Hegel hier zwar Naturphänomene (natürliche Bedürfnisse, Triebe, Willkür), identifiziert aber nicht das unmittelbare Verhältnis eines von diesen natürlichen Faktoren motivierten Individuums zu einer Sache mit dem Besitz, sondern »die besondere Seite, daß Ich etwas […] zu dem Meinigen mache«. Der Besitz ist also die selbst nicht natürliche (im heutigen Rechtssinn: abstrakte) Tatsache, dass ein Individuum eine wie auch immer geartete Herrschaft über eine Sache ausübt. Auch im Verhältnis von Besitz und Eigentum findet sich bei Hegel kein Dualismus zwischen Recht und Natur. Der Besitz ist nicht das 307
Grundlinien § 45 (TWA7, 107; GW14/1, 57).
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natürliche Pendant zum Eigentum, er ist vielmehr ein rechtlicher Aspekt einer rechtlichen Einheit zwischen Besitz und Eigentum.
3.1.2 Vertrag Im Folgenden soll die zweite Gestalt des abstrakten Rechts, der Vertrag, Gegenstand der Untersuchung sein. Dabei wird nach dem gleichen Muster vorgegangen wie oben beim Eigentum. Es gilt in diesem Kapitel also zunächst zu skizzieren, welche Rolle der Vertrag im Gang des abstrakten Rechts spielt (3.1.2.1). Sodann soll untersucht werden, wie sich Recht und Natur auf der Stufe des Vertrags zueinander verhalten (3.1.2.2). Hierbei wird Hegels Position in Abgrenzung zu einer auch in der heutigen Rechtswissenschaft geläufigen Auffassung von dem Zustandekommen eines Rechtsgeschäfts entwickelt: der Willenstheorie. Wenngleich auch die Willenstheorie ausdifferenzierte Spielarten kennt 308, so ist ihre reinste Form eine naturalistische, die das Rechtsgeschäft unter Rückgriff auf den tatsächlichen Willen einer Privatperson definiert 309. Es wird zum einen zu prüfen sein, ob sich eine solche Theorie mit Hegels Gedanken zum Vertrag vereinen lässt. Außerdem wird der Vorzug der Hegel’schen Vertragstheorie gegenüber einer solchen naturalistischen Willenstheorie herauszustellen sein. 3.1.2.1 Vertrag im abstrakten Recht In der Enzyklopädie schildert Hegel den Übergang vom Eigentum zum Vertrag als Dialektik von Willkür und Bestimmtheit. Betrachtet man in einer isolierten Sichtweise das eine Individuum, das Eigentümer dieser einen Sache ist, erscheint der Wille als Willkür. Denn dass gerade diese Sache Eigentum ist und nicht eine andere, ist aus dieser Sichtweise nicht anders als als Willkür zu erklären. Hegel nennt diesen Aspekt die »zufällige Seite am Eigentum« 310. Aber aus der Sichtweise eines anderen Individuums und des Rechtsverkehrs ist der Wille des Individuums, das bereits Eigentum an einer bestimmten
308 309 310
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Hierzu näher unten Punkt 3.2.1 (Die Willenserklärung im BGB). Siehe Staudinger/Singer, vor §§ 116 ff., Rn. 15 f. mit weiteren Nachweisen. Enz. 1830 § 492 (TWA10, 307; GW20, 483).
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Sache begründet hat, gerade nicht willkürlich. Denn diese Sache steht im Eigentum des Individuums. Nur dieses und kein anderes Individuum kann das Eigentum an dieser Sache aufgeben oder veräußern. Aus der Sicht des zweiten Individuums, das die Sache womöglich erwerben will, kann die Sache nur von diesem ersten Individuum erworben werden. Infolge des Übergangs auf den Vertrag wird das willkürliche Moment am Eigentum somit aufgehoben. Zudem treffen nun mehrere individuelle Willen aufeinander. Der Wille eines Individuums, der im Eigentum über eine Sache sein Dasein hat, trifft auf den Willen eines anderen Individuums. Vertrag im Sinne Hegels bezeichnet den Vermittlungsprozess, der sich dieser Konfrontation anschließt. Aus der Perspektive des Rechtsverkehrs wohnt aber auch diesem Vorgang ein Moment der Willkür inne. Die zwei am Vertrag beteiligten Individuen nehmen sich zwar gegenseitig das Moment der Willkür ihres jeweiligen Eigentums. Dass beide aber gerade über diese und nicht eine andere Sache kontrahieren, ist dennoch aus der Perspektive aller anderen Teilnehmer des Rechtsverkehrs willkürlich. Entsprechend nennt Hegel in der Enzyklopädie den Vertrag »eine aus der Willkür entstandene Übereinkunft über eine zufällige Sache« 311. Die Individuen begegnen sich im Vertrag als Personen, die Eigentum und nur insofern »füreinander Dasein« 312 haben. Der Vertrag bringt gegenüber dem Eigentum zwei wesentliche Entwicklungen mit sich. Erstens ist der individuelle Wille im Vertrag, im Unterschied zum Eigentum, das sich nur durch seine äußerliche Seite auf einen unbestimmten Kreis anderer bezieht, auf einen bestimmten anderen Willen bezogen. Es findet eine Vermittlung zweier individueller Willen statt. Als Vermittlungsbewegung zweier individueller Willen ist der Vertrag als Fortschritt gegenüber dem Eigentum anzusehen. Dennoch bleibt auch der Vertrag im Hinblick auf seine einheitsstiftende Funktion defizitär. Er ist abstrakt und formell und ihm haftet insbesondere das Defizit an, dass die sich im Vertrag gegenübertretenden Personen ihre selbstbewusste Personalität auf abstrakt-unmittelbare Weise erlangt haben. Damit gehen drei konkrete Mängel einher: Der
311 Enz. 1830 § 495 (TWA10, 308; GW20, 484); dieses Moment spielt eine entscheidende Rolle beim Übergang zum Unrecht, siehe 3.1.3. 312 Grundlinien § 40 b) (TWA7, 98; GW14/1, 53).
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Vertrag kommt kontingent zu Stande, der in ihm vermittelte Wille ist ebenfalls kontingent und er kann sich nur auf einzelne, äußerliche Sachen beziehen 313. Zweitens wird aber, auch wenn die Vermittlungsbewegung im Vertrag abstrakt bleibt, ein Moment der Einheit des Willens explizit, das im Eigentum noch implizit war. Im Entäußerungsprozess des Eigentums wird nämlich nicht nur eine äußere Sache hergegeben, sondern auch das Moment der Gegenständlichkeit des eigenen Willens in ihr. Dieses Moment fällt sodann mit dem Moment der Gegenständlichkeit des eigenen Willens des anderen, der das Eigentum erwirbt, zusammen: »Ich kann mich eines Eigentums nicht nur […] als einer äußerlichen Sache entäußern, sondern muß durch den Begriff mich desselben als Eigentums entäußern, damit mir mein Wille, als daseiend, gegenständlich sei. Aber nach diesem Momente ist mein Wille als entäußerter zugleich ein anderer. Dies somit, worin diese Notwendigkeit des Begriffes reell ist, ist die Einheit unterschiedener Willen, in der also ihre Unterschiedenheit und Eigentümlichkeit sich aufgibt.« 314
Aber diese Einheit ist nur abstrakt und nur ein Moment der Vermittlungsbewegung des Vertrags. Das andere Moment ist die das ganze abstrakte Recht durchziehende Ausschließlichkeitsbewegung gegenüber anderen. Zweck des Vertrags ist ja nicht das Durchsichtigmachen des Einheitsmoments des Willens, sondern der Wechsel des Eigentums, mit der Folge, den vorigen Eigentümer wie auch alle anderen vom Eigentumsrecht auf die gegenständliche Sache auszuschließen. Der im Moment des Eigentumsübergangs aufkommende Konflikt zwischen der einheitlichen Seite der Allgemeinheit des Willens und der auf Differenz drängenden Seite der sich gegenseitig ausschließenden Individualität wird im Unrecht sodann gegenständlich. 3.1.2.2 Das Zusammenspiel von Recht und Natur Auch in Bezug auf den Vertrag gilt es nun, das Zusammenspiel von Recht und Natur in Hegels abstraktem Recht nachzuvollziehen. Im Text der Enzyklopädie liefert Hegel einen Anhaltspunkt für eine dualistische Vertragskonzeption, indem er den Vertrag als »eine aus der Willkür entstandene Übereinkunft« 315 bezeichnet. 313 314 315
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Siehe Hegels Aufzählung in Grundlinien § 75 (TWA7, 157; GW14/1, 78). Grundlinien § 73 (TWA7, 156; GW14/1, 77). Enz. 1830 § 495 (TWA10, 308; GW20, 484).
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In § 75 der Grundlinien spezifiziert er dieses Moment der Willkür, indem er es in drei Aspekte aufteilt. Der Vertrag geht demnach »von der Willkür aus«, »der identische Wille, der durch den Vertrag in das Dasein tritt, ist nur ein durch sie gesetzter, somit nur gemeinsamer, nicht an und für sich allgemeiner« und drittens: »der Gegenstand des Vertrags ist eine einzelne äußerliche Sache« 316. Hegel zeigt hier also drei Defizite des Vertrags auf: Der Vertrag kommt erstens kontingent zu Stande: Vertragspartner, Vertragsgegenstand und das Ob des Vertrags (also ob er überhaupt geschlossen wird oder nicht) sind aus Sicht des Rechts kontingent. Zweitens ist der geschlossene Vertrag kontingent, weil sein Inhalt sich aus zwei kontingenten Einzelwillen zusammensetzt. Drittens ist der Vertragsgegenstand nach Hegels Konzeption infolge der Bezogenheit auf Hegels Eigentumsbegriff beschränkt auf veräußerbare Sachen. Dieses dritte Defizit bezieht sich nicht direkt auf Kontingenz, hängt aber insofern mit Kontingenz zusammen, als nach Hegels Konzeption nur veräußerbare Sachen der Willkür des Individuums unterliegen 317. Diese Passagen ließen sich so verstehen, als bestehe das wesentliche Merkmal des Vertrags in der Willkür. Daran anknüpfend ließe sich womöglich Hegels Vertragskonzept mit dem naturalistischen Vertragskonzept einer Willenstheorie in Einklang bringen. Somit würde sein abstraktes Recht an dieser Stelle von einem Dualismus von Recht und Natur ausgehen. Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, soll zunächst kurz skizziert werden, was unter einer Willenstheorie zu verstehen ist. Sodann soll untersucht werden, ob eine solche Theorie mit dem Hegel’schen Konzept vom Vertrag vereinbar ist. 3.1.2.2.1 Willenstheorie Die Willenstheorie ist neben der Erklärungstheorie die klassische rechtswissenschaftliche Theorie des Zustandekommens eines RechtsAlle drei Zitate Grundlinien § 75 (TWA7, 157; GW14/1, 78). Siehe Grundlinien § 75: »denn nur eine solche [einzelne äußerliche Sache, Anm. Verf.] ist ihrer bloßen Willkür, sie zu entäußern (§ 65 ff.) unterworfen.« 316 317
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geschäfts 318. Beide Theorien finden ihren Anklang im BGB, das bei der Frage der Auslegung von Verträgen sowohl auf den »wirklichen Willen« und seine Äußerung (§ 133 BGB) als auch auf von der Willensäußerung losgelöste Kriterien wie »Treu und Glauben« und die »Verkehrssitte« (§ 157 BGB) abstellt 319. Willens- und Erklärungstheorie versuchen eine jeweilige Priorität der Auslegung zu setzen im Spannungsfeld zwischen dem, was ein Individuum, das eine Erklärung abgibt, will und dem, wie diese Erklärung von einem anderen verstanden wird bzw. verstanden werden kann. Juristische Debatten um dieses Problem des BGB finden in der Regel im Kontext der praktisch relevanten Fragen nach Rechtsgeltung und Verbindlichkeit einer in einer Irrtumssituation abgegebenen Erklärung statt 320. Ein Vorrang des Willens lässt sich in diesem Spannungsfeld sodann insofern vertreten, als eine Willensklärung nichtig ist, wenn Wille und Erklärung auseinanderfallen 321. Herrschend in der heutigen Rechtswissenschaft ist ein Lösungsansatz, nach dem zumindest bestimmte Konstellationen des Irrtums zu wirksamen, aber womöglich anfechtbaren Verträgen führen. Betrachtet man eine reine Willenstheorie losgelöst vom Problem irrtumsbehafteter Willensäußerungen, lässt sich ihr naturalistischer Charakter benennen. Eine Willenserklärung (und damit ein Rechtsgeschäft, zum Beispiel ein Vertrag) ist unwirksam, wenn der empirische Wille dem erklärten und damit in den Rechtsverkehr eingeführten Willen widerspricht. Somit ist ein nicht-rechtliches, natürliches Element notwendige Voraussetzung für die Entstehung eines Vertrages und auch elementares Definitionsmerkmal des Begriffs des Vertrags. 318 Zur Terminologie: Die juristische Terminologie folgt heutigen zivilrechtlichen Standards. Nach diesen ist das Rechtsgeschäft der gegenüber dem Vertrag allgemeinere Begriff, der beispielsweise auch einseitige Vorgänge wie die Kündigung oder das Testament umfasst. Der Vertrag ist ein spezielles und regelmäßig auch ein zweiseitiges Rechtsgeschäft, in dem regelmäßig ein Teil eine Leistung verspricht, gerade weil der andere Teil auch eine Leistung verspricht (sog. Synallagma beim gegenseitigen Vertrag). Sofern in der heutigen Rechtswissenschaft von einer Theorie zum Zustandekommen von Rechtsgeschäften die Rede ist, bezieht sich diese also auch auf das Zustandekommen von Verträgen. 319 Hierzu ausführlicher unten 3.2.1. 320 Siehe Einführung bei Staudinger/Singer, BGB, Neubearbeitung 2012, vor §§ 116 ff. Rn. 15 f. mwN. 321 Eine solche Extremform einer Willenstheorie wird, soweit ersichtlich, hinsichtlich des BGB heute von niemandem vertreten.
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Es stellt sich die Frage, ob in Anbetracht von Hegels Ausführungen zur Willkür des Vertrags eine solche naturalistische und damit in Bezug auf das Verhältnis von Recht und Natur dualistische Willenstheorie mit Hegels Begriff des Vertrags vereinbar ist. 3.1.2.2.2 Hegels Vertragsbegriff und die Willenstheorie Anknüpfungspunkt der Beantwortung dieser Frage bilden die beiden bereits zitierten Passagen der Enzyklopädie und der Grundlinien, in denen Hegel das Element der Willkür als Defizit des Vertrags herausstellt. Die knappen Passagen der Enzyklopädie geben isoliert betrachtet keinen unzweifelhaften Aufschluss zur hier behandelten Frage. Denn es wird in ihnen nicht abschließend klar, was Hegel an dieser Stelle unter Willkür versteht und welche Rolle diese für seinen Begriff des Vertrags spielt. Sie könnte Wesen des Vertrages in dem Sinne sein, dass der Vertrag sich durch die Willkür einzelner Individuen definiert, die Willkür also notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen des Vertrages ist; dann wäre ein Anknüpfungspunkt für eine reine Willenstheorie gegeben. Sie könnte auch nur ein Element des Vertrages bezeichnen, das wiederum für sich gesehen keine notwendige definitorische Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Vertrags ist; dann würde sich das Recht in Form des Vertrages nicht notwendig aus einem vorrechtlichen bzw. außerrechtlichen Element der Natur ergeben. Aus systematischer Sicht lässt sich zunächst anmerken, dass Hegel in der Enzyklopädie das Defizit der Willkür des Vertrages im Übergang zum Unrecht behandelt. In § 495 folgt der Willkür-Diagnose sogleich der Übergang: Der in diesem Sinne willkürliche Vertrag »enthält zugleich das Gesetztsein des akzidentellen Willens; dieser ist dem Rechte ebensowohl auch nicht angemessen und bringt so Unrecht hervor« 322. Mit dieser systematischen Stellung ließe sich der These begegnen, Hegel vertrete ein dualistisches Vertragskonzept. Denn im Übergang zu einer höheren Gestalt betont Hegel an vielen Stellen nicht zwingend das Wesen der vorangegangenen Gestalt, sondern einen im Durchgang dieser Gestalt zu Tage tretenden Konflikt, aus dem sich wiederum die Notwendigkeit der folgenden Gestalt ergibt. Das Willkür-Element lässt sich vor diesem Hintergrund als ein nicht 322
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isoliert denkbares Moment dieses Konflikts auffassen, das ein nicht selbständiger Teil im Prozess des Übergangs ist. Dieses natürliche Moment ist sodann in zweierlei Hinsicht mit dem Recht verbunden. Erstens ist es Teil dieses konkreten Konflikts des Vertrags. Zweitens ist es auch angesichts der systematischen Stellung des § 495 der Enzyklopädie am Übergang vom Vertrag zum Unrecht Teil der Bewegung des abstrakten Rechts vom Vertrag zum Unrecht. In Bezug auf den konkreten Konflikt des Vertrags findet sich ein Anhaltspunkt für eine anti-dualistische Vertragskonzeption (also gegen die hier kritisierte Vermutung, Hegels Vertragskonzept sei mit einer reinen Willenstheorie in Einklang zu bringen) in § 495 in der Passage »enthält zugleich das Gesetztsein des akzidentellen Willens«. Das Zustandekommen des Vertrags »aus der Willkür« ist »zugleich« dieses »Gesetztsein«. Auch hier wäre eine vermeintlich natürliche Seite des Vertrags (der kontingente individuelle Wille) untrennbar verknüpft mit ihrem rechtlichen Pendant (der geäußerte, in den Rechtsverkehr eingeführte Wille). Diese Passage nimmt in erstaunlicher Vorausschau den das BGB und seine Entstehungsgeschichte prägenden Konflikt zwischen Wille und Erklärung voraus. Dennoch soll ergänzend auf den von Hegel in § 75 der Grundlinien beschriebenen Dreiklang der Willkür im Vertrag eingegangen werden. Dies schon aus dem Grund, weil sich diese Passage im Unterschied zu § 495 der Enzyklopädie der äußeren Systematik nach nicht am Übergang zum Unrecht befindet. Das bedeutet zwar nicht, dass nicht auch an dieser Stelle ein wesentliches Moment des Übergangs behandelt werden kann (Hegel greift im »Übergangsparagraphen« 81 auf das Moment der Willkür zurück), die unmittelbare Kontextualisierung mit dem Übergang schon dem äußeren Erscheinungsbild des Textes nach ist hier aber nicht gegeben. Außerdem liefert § 75 der Grundlinien das stärkste, nach der hier vertretenen anti-dualistischen Lesart sodann zu entkräftende, Indiz für eine Vereinbarkeit mit einer reinen Willenstheorie. Nachdem nämlich im Haupttext die Willkürmomente des Vertrags herausgestellt werden, nimmt die Anmerkung ausdrücklich Bezug auf den Kontraktualismus: »Ebensowenig liegt die Natur des Staats im Vertragsverhältnisse« 323. Hegel kritisiert in der Anmerkung kontraktua323
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listische Lehren, die »Rechte des Fürsten und des Staats als Vertragsgegenstände und auf ihn gegründet, als ein bloß Gemeinsames des Willens und aus der Willkür der in einen Staat Vereinigten Hervorgegangenes« 324 betrachten. Der Staat ist konsequenterweise für Hegel nicht veräußerbar. In Bezug auf die hier behandelte Frage ließe sich nun folgende These zu Gunsten der Vereinbarkeit mit einer reinen Willenstheorie aufstellen: Hegel lehnt den Kontraktualismus ab, weil seine naturalistische Vertragskonzeption nicht mit seinem starken Staatsbegriff vereinbar ist. Das betont in pointierter Weise, dass Hegel den Kontraktualismus nicht nur infolge seines Dualismus Natur – Recht, sondern auch deswegen ablehnt, weil der Kontraktualismus den Staat durch Vertragsschluss legitimiert. Das wäre unter der Prämisse eines naturalistischen Vertragsbegriffs schon auf den ersten Blick konsequent. Doch auch in den Grundlinien verbieten systematische Gründe diese Lesart. Denn erstens ist mit Blick auf den Staatsvertrag, wie bereits in Bezug auf § 495 der Enzyklopädie ausgeführt, das Moment der Willkür sowohl in den Konflikt des Vertrags als auch in die übergeordnete Bewegung des abstrakten Rechts vom Vertrag zum Unrecht eingewoben. In den Grundlinien differenziert Hegel zwei Stufen des Konflikts des Vertrags. Auf einer ersten Stufe treffen zwei individuelle Willen aufeinander, die im Vertrag einen gemeinsamen Willen setzen. Hegel bezeichnet den so gesetzten Willen als besonderen 325. Kontingent ist nun nicht dieser Wille isoliert betrachtet, sondern die Frage, ob dieser besondere Wille mit dem allgemeinen Willen übereinstimmt. Diese Kontingenz im Verhältnis von besonderem und allgemeinem Willen führt sodann in das Unrecht über. Zweitens ist in Hegels abstraktem Recht die individuelle Willkür in Form und Inhalt begrenzt. Vertragsfähig sind schon nur veräußerbare Sachen im engen Hegel’schen Sinne 326. Der Vertrag ist an die Sache und das Eigentum in Hegels Sinne geknüpft. Außerdem sind die Kontrahierenden im Vertragsschluss auf die eine Sache beschränkt, über die sie kontrahieren 327. Dies schließt zwar nicht die Ebd. Grundlinien § 81 (TWA7, 169; GW14/1, 84). 326 Siehe § 43 der Grundlinien, der den Begriff der Sache sowie § 66, der den Begriff der veräußerbaren Sache einschränkt. 327 Siehe das dritte von Hegel in § 75 der Grundlinien aufgezählte Defizit. 324 325
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grundsätzliche Möglichkeit einer reinen Willenstheorie aus, löst aber doch zumindest eine Irritation aus, sofern man eine an prinzipiell grenzenloser Privatautonomie angelehnte Willenstheorie zum Vergleich heranzieht. Drittens ist in Hegels Vertragsbegriff die individuelle Willkür gerade nicht das Wesentliche, von dem aus die restlichen Bestandteile des Vertrags definiert werden. Das Verhältnis von individueller Willkür und objektiver, rechtlicher Seite des Vertrags verhält sich in Hegels System gerade andersherum. Hegels Gestalten des abstrakten Rechts sind Daseinsformen des freien Willens. Das abstrakte Recht ist zwar die Daseinsform des Einzelwillens als Person 328 und damit dem individuellen Willen »näher« als zumindest das Dasein des freien Willens in der Sittlichkeit. Einzelheit bedeutet aber gerade nicht individuelle Willkür 329, Person bedeutet nicht einzelnes Individuum. Im Gegenteil: Der Begriff der Person im abstrakten Recht ist ein genuiner Rechtsbegriff. Individuen treten im abstrakten Recht gerade nicht als Menschen mit der ganzen Fülle ihrer individuellen Merkmale auf, sondern als Eigentümer und Vertragspartner. Davon zu unterscheiden sind die Momente der Willkür, die, wie bereits mehrfach angesprochen, sehr wohl eine Rolle im abstrakten Recht spielen. Diese bedingen sich dadurch, dass die Person ihren Gehalt im abstrakten Recht unmittelbar erhält. Aber auch diese Unmittelbarkeit bedeutet nicht eine natürliche Gegebenheit von Gehalt (eine Sache »ist einfach da«, Individuen »nehmen diese einfach in Besitz«), sondern die Person, die überhaupt nur des Gehalts fähig ist, ist bereits ein rechtlicher Begriff rechtlicher Selbstbezüglichkeit 330. Wenn also Hegel von der individuellen Willkür als Element des Vertrages spricht, kann dies gar nicht naturalistisch verstanden werden. Der Vertrag wäre sonst ein Zurückfallen hinter seine Voraussetzungen und würde nicht von Personen, sondern von natürlichen Individuen geschlossen. Dies ist mit Hegels abstraktem Recht nicht vereinbar. Vor diesem Hintergrund sind sodann die drei in § 75 der Grundlinien aufgezählten Defizite zu verstehen. Das erste (der Vertrag geht von der Willkür aus) bezeichnet das Enz. 1830 § 487 Punkt A (TWA10, 306; GW20, 481). Das zeigt nicht zuletzt B. der Aufzählung, der der Moralität den »partikulären« Willen zuordnet, ebd. 330 Siehe die bereits zitierte Einführung der Person in § 488 der Enz. 1830. 328 329
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eben beschriebene Moment der Willkür, das nicht isoliert betrachtet naturalistisch verstanden werden kann. Das zweite (der nur gemeinsame, nicht allgemeine Wille) bezeichnet den Konflikt zwischen besonderem und allgemeinem Willen, der in das Unrecht überleitet. Das dritte Defizit (die einzelne äußerliche Sache) ist in Bezug auf die Frage nach einem Dualismus Natur – Recht und der Vereinbarkeit mit der reinen Willenstheorie gar nicht als Defizit zu verstehen. Denn es beschränkt den möglichen Vertragsgegenstand auf eine mit der reinen Willenstheorie schwer zu vereinbarende Weise und kann daher, wie gerade diskutiert, als Argument gegen die Vereinbarkeit mit der reinen Willenstheorie gelesen werden.
3.1.3 Unrecht Auch die dritte Gestalt des abstrakten Rechts, das Unrecht, soll nach dem gleichen Muster wie die beiden vorigen Gestalten analysiert werden. Es gilt in diesem Kapitel also zunächst zu skizzieren, welche Rolle das Unrecht (in der Diktion der Enzyklopädie: Das Recht gegen das Unrecht) im Gang des abstrakten Rechts spielt (3.1.3.1). Sodann soll untersucht werden, wie sich Recht und Natur auf der Stufe des Unrechts zueinander verhalten (3.1.3.2). Hierbei wird Hegels Position in Abgrenzung zu einer gängigen Theorie des Rechts entwickelt, nämlich der Zwangstheorie. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Begriff des Rechts unter Rückgriff auf seinen Zwangscharakter definiert. Diese Abgrenzung erfolgt gegenüber zwei Spielarten der Zwangstheorie, die sich innerhalb der rechtsphilosophischen Debatte um den Rechtsbegriff gegenüberstehen: Einer rechtspositivistischen Zwangstheorie und einer rechtssoziologischen Zwangstheorie. Dabei wird sich zeigen, dass Hegel eine diesen entgegengesetzten Theorien gemeinsame Prämisse ablehnt. Diese allgemeine Frage nach der Fundierung des Rechtsbegriffs wirft die im Fokus der vorliegenden Arbeit stehende Frage nach dem Verhältnis von Natur und Recht auf 331. Nicht diskutiert werden sollen hingegen die gängigerweise mit dem Abschnitt über das Unrecht ver331
Dies schon dem äußeren Erscheinungsbild nach, wenn Hegel in § 93 der Grund-
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knüpften Fragen nach einer Strafzwecktheorie. Denn Hegels Konzept einer Vergeltungstheorie 332 lässt sich auch schon auf den ersten Blick schwerlich mit einer naturalistischen Strafzwecktheorie vereinbaren. Es wird also zum einen zu fragen sein, ob sich eine Zwangstheorie des Rechts mit Hegels Gedanken zum Unrecht vereinen lässt. Außerdem wird der Vorzug der Hegel’schen Ausführungen zum Unrecht, insbesondere seine Lehre vom »zweiten Zwang« 333, gegenüber gängigen Zwangstheorien herauszustellen sein. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf Hegels Gedanken gelegt, dass der Rechtsbruch nicht als ein die Stabilität des Rechts bedrohender Grenzfall dem Recht gegenübersteht, sondern als elementarer Bestandteil des Rechts in das Recht eingeschrieben ist. 3.1.3.1 Das Recht gegen das Unrecht im abstrakten Recht Im Abschnitt zu Besitz und Eigentum steht das Individuum zu einer Sache in Beziehung. Im Vertrag treten sich zwei Individuen als Eigentümer einer Sache gegenüber, wobei eine Vermittlung ihres Willens in Bezug auf die Sache stattfindet. Diese Vermittlung ist im zuvor analysierten Sinne kontingent. Dieses Moment der Kontingenz bildet sogleich das Einfallstor für den Übergang vom Vertrag zum Unrecht. In § 495 der Enzyklopädie stellt Hegel klar, dass das Unrecht gerade nicht als Reaktion auf natürliche Willkür zu verstehen ist, die in das Recht von außen eindringt – was nach der hier vertretenen anti-dualistischen Lesart auch gar nicht möglich ist. Vielmehr besteht der den Übergang in das Unrecht auslösende Konflikt darin, dass der im oben beschriebenen Sinne kontingente Individualwille im Vertragsschluss als Recht gesetzt ist 334. Hierdurch entsteht ein Moment des Rechts, das dem »an und für sich« seienden Recht »nicht angemessen« 335 ist. Das Unrecht unterscheidet sich vom Vertrag gerade in diesem Zurückgehen auf die Momente des Willens ohne das Rekurrieren linien über den Zwang schreibt und in der Anmerkung ausdrücklich auf den Naturzustand eingeht: Grundlinien § 93 A (TWA7, 179 f.; GW14/1, 88), siehe oben 2.1.5. 332 In diesem strafrechtsphilosophischen Kontext wird Hegels Strafzwecktheorie gängigerweise behandelt, siehe Mohr 2005. 333 Ausdrücklich so in Grundlinien § 93 A (TWA7, 179; GW14/1, 88). 334 Enz. 1830 § 495: »Der Vertrag, als eine aus der Willkür entstandene Übereinkunft und über eine zufällige Sache, enthält zugleich das Gesetztsein des akzidentellen Willens« (zitiert nach TWA10, 308). 335 Ebd.
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auf unterschiedene Personen. Der Konflikt des Willens ist in diesem Sinne ein interner. Vom Eigentum unterscheidet das Unrecht sich insofern, als nun der Konflikt zwischen den beiden Seiten des Willens, der im Eigentum noch implizit war, vom Vertrag expliziert wurde und zum Gegenstand gemacht werden kann. Hegel präsentiert das Unrecht also als Vergegenständlichung des Konflikts der Willensmomente der Allgemeinheit und der Besonderheit. Die Allgemeinheit, das was an sich Recht ist, ist das abstrakte Einheitsmoment des Willens, das sich im Vertrag im Moment des Eigentumsübergangs konstituiert. Dieses Einheitsmoment ist aber abhängig vom vorigen Entschluss zum Kontrahieren zweier in einer Differenz sowohl zu sich als auch zur Einheit des Willens stehender Individuen. Im Unrecht wird dieser Konflikt zwischen allgemeinem und besonderem Willen gegenständlich. Der Konflikt zwischen der allgemeinen und der besonderen Seite wird dabei als Reflexion über »die Willkür und Zufälligkeit des Willens selbst« 336 ausgearbeitet. Dadurch entstehen zwei Ebenen des Konflikts: Das Unrecht wendet sich durch die konkrete Tat gegen die Rechtsordnung. Es enthält aber zugleich auch ein Urteil über die Geltung der Rechtsordnung. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Momente ergeben sich sodann die drei Formen des Unrechts: Ein Individuum subsumiert einen besonderen Sachverhalt unter das Recht und irrt dabei, will aber grundsätzlich mit der Rechtsordnung im Einklang stehen. Es akzeptiert also die Geltung der Rechtsordnung und will sich auch dieser konform verhalten. Hegel nennt diesen Typus das unbefangene Unrecht 337. Beim Betrug im Hegel’schen Sinne hingegen akzeptiert das Unrecht begehende Individuum grundsätzlich die Geltung der Rechtsordnung, macht sich diese aber als »Schein« zunutze, um in rechtswidriger Weise einen individuellen Vorteil zu erhalten 338. Im Verbrechen schließlich wendet sich das Individuum gegen die Geltung der Rechtsordnung überhaupt. Das Verbrechen ist laut Hegel »als Verletzung des Rechts an und für sich nichtig.« 339 Der äußeren Abfolge nach handelt das Individuum hier genauso wie im Falle des 336 337 338 339
Grundlinien § 81 A (TWA7, 170; GW14/1, 84). Enz. 1830 § 497 (TWA10, 309; GW20, 485). Enz. 1830 § 498 (TWA10, 309 f.; GW20, 486). Enz. 1830 § 500 (TWA10, 310; GW20, 486).
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rechtskonformen Kontrahierens. Es hält sich an ein allgemeines Gesetz, unter das es einen Sachverhalt subsumiert. Der Unterschied besteht darin, dass sich das handelnde Individuum im Falle des Verbrechens das allgemeine Gesetz selbst schafft. Hier findet sich ein konkretes Beispiel des negativ-unendlichen Urteils, das unter den endlichen Bedingungen des Rechts nicht nur zum Verbrechen führt, sondern das Verbrechen ist 340. Hegels berühmte These besteht nun darin, dass in jeder verbrecherischen Handlung das selbst geschaffene, gegen die Rechtsordnung gerichtete formelle Gesetz und die rechtmäßige Rechtsordnung uno actu zur Anwendung kommen 341. Dadurch bestätigt jede gegen die Geltung der Rechtsordnung gerichtete Tat sogleich deren Geltung. Das Recht als das an und für sich seiende Allgemeine setzt sich gegen diesen es implizit bejahenden Willen durch. Dies geschieht durch die Ausübung von Zwang. Dabei unterscheidet Hegel zwischen dem Zwang gegen ein Individuum und dem Zwang gegen das Recht. Der Unterschied liegt darin, dass infolge der Äußerlichkeit der Beziehung eines Individuums zu einer Sache (worunter auch der eigene Körper fällt) diese Sache dem Zwang überhaupt nur zugänglich ist 342. Das Recht und der freie Wille entziehen sich aber dem Zwang, da es nicht in diesem Sinne Äußeres ist. Hegel formuliert das in der Enzyklopädie folgendermaßen: »Mehr nicht als möglich aber ist der Zwang, insofern ich mich als frei aus jeder Existenz, ja aus dem Umfange derselben, dem Leben, herausziehen kann.« 343 In den Grundlinien spitzt er diesen Gedanken so zu: »Als Lebendiges kann der Mensch wohl bezwungen […], aber der freie Wille kann an und für sich nicht gezwungen werden […]. Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will. 344« Der gegen eine Sache bzw. einen Körper ausgeübte Zwang richtet sich aber nicht nur gegen diese Sache isoliert, sondern auch gegen die Sache, insofern sie Teil des Rechts ist. Anders formuliert: Der
Hutter 2014, 11 unter Verweis auf Hegels Begriffslogik (TWA6, 324 f.) § 500 der Enz. 1830 und näher unter Zuhilfenahme der Kategorien des an sich und für sich: Grundlinien § 99 (TWA7, 187; GW14/1, 91). 342 Enz. 1830 § 501 (TWA10, 310 f.; GW20, 487). 343 Ebd. 344 Grundlinien § 91 (TWA7, 178 f.; GW14/1, 88). 340 341
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Zwang kann sich nicht isoliert gegen die natürliche Seite einer Sache richten. Indem der Zwang selbst aber rechtlich konstituiert ist, richtet er sich nach Hegel stets auch gegen sich selbst: »Gewalt oder Zwang ist daher, abstrakt genommen, unrechtlich.« 345 Hegel gelangt so zu einem rechtlichen Begriff des »zweiten Zwangs«, der sich definiert als das, was der sich gegen sich selbst richtende Zwang tut. Er ist eine Aufhebung seiner selbst 346. Diese Selbstbezüglichkeit des Zwangsbegriffs weist eine erstaunliche Parallele auf zu Hegels Begriff des Verbrechens und zu seinem Begriff des abstrakten Rechts. Zum Begriff des Verbrechens besteht die Parallele darin, dass auch das Verbrechen sich selbst negiert und so zu einer Aufhebung gelangt. Zum abstrakten Recht insgesamt besteht die Parallele darin, dass in der Ergreifung einer Rechtsposition wie des Eigentums an einer Sache und der Bewahrung dieser Position gegen eine unrechtmäßige Handlung ebendieser Sache als äußerlicher Daseinsform des Willens stets Zwang angetan wird. Auch wenn Hegel es an dieser Stelle 347 nicht ausdrücklich erwähnt, findet sich in diesem Zwangscharakter des Rechts die Mittel-Zweck-Relation wieder, die er im Verhältnis von Besitz und Eigentum ausdrücklich aufstellt. Der Sache bzw. dem Körper widerfährt Zwang nämlich insofern, als sie bzw. er nur Mittel zu dem Zweck sind, dass der freie Wille sich ein Dasein im Recht sucht. Im Kontext dieser Parallelisierung des abstrakten Rechts mit der Dialektik des Zwangs kommt Hegel in § 94 der Grundlinien zu folgendem, auf den ersten Blick naheliegenden Schluss: »Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht.« 348 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob insbesondere angesichts dieses Zusammenhangs mit dem Zwang Hegels Begriff des Unrechts so gelesen werden kann, dass er einen Dualismus von Recht und Natur beinhaltet. Das wäre dann der Fall, wenn Hegels Begriff des Rechts mit einer Zwangstheorie des Rechts vereinbar wäre.
Grundlinien § 92 (TWA 7, 179; GW14/1, 88). Grundlinien § 93 (TWA 7, 179; GW14/1, 88) sowie Enz. 1830 § 501 letzter Satz: »Rechtlich ist er nur als das Aufheben eines ersten, unmittelbaren Zwangs.« (zitiert nach TWA10, 311). 347 § 501 der Enzyklopädie 1830 und §§ 93 f. der Grundlinien. 348 Grundlinien § 94 (TWA7, 180; GW14/1, 89). 345 346
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3.1.3.2 Das Zusammenspiel von Recht und Natur Es stellt sich die Frage, ob Hegels Rechtsbegriff ausgehend von § 94 der Grundlinien, in dem Hegel das abstrakte Recht als Zwangsrecht bezeichnet, mit einer Zwangstheorie des Rechts vereinbar ist. Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst zu klären, was unter einer Zwangstheorie des Rechts zu verstehen ist. Danach kann untersucht werden, ob Hegel mit seinen Ausführungen über den Zwang eine solche Zwangstheorie des Rechts vertritt. Dabei wird insbesondere Hegels Aussage »Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht« untersucht. 3.1.3.2.1 Zwei Zwangstheorien des Rechts Wenn die Rechtstheorie nach dem Wesen des Rechts fragt, geht es in der Regel nicht primär um eine isolierte Bestimmung eines Begriffs des Rechts, sondern um die Abgrenzung von verschiedenen Normenordnungen zueinander. Prominentestes Beispiel hierfür ist die Abgrenzung von Recht und Moral. Diese Demarkation findet ihre philosophisch elaborierteste Form bereits in der klassischen deutschen Philosophie und hat in deren Anschluss die sich ausdifferenzierenden Disziplinen der wissenschaftlichen Behandlung des Rechts beschäftigt. Dabei haben sich zwei maßgebliche Strategien herausgebildet: eine genuin rechtstheoretische und eine soziologische. Gemeinsam haben beide Strategien, dass sie das Recht als Zwangsordnung auffassen. Im Folgenden sollen anhand der Sanktionentheorie Hans Kelsens (1) und der Zwangstheorie Max Webers (2) diese beiden grundsätzlichen Möglichkeiten einer Zwangstheorie des Rechts skizziert werden 349. (1) Die rechtspositivistisch ausgerichtete Seite dieser Debatte versucht, das Recht als rein normatives Gebilde zu erfassen und dabei ein Abgrenzungskriterium zu finden, das eben diese Normativität ausdrückt. Als Gewährsmann für diese Vorgehensweise gilt Hans Kelsen, der in seiner Reinen Rechtslehre den Versuch unternimmt, einen »gereinigten« Blick auf das Recht zu erhalten. So erhofft er sich wissenschaftliche Klarheit und begriffliche Schärfe. Im Zuge der 349 Es soll im Folgenden nicht darum gehen, Kelsens und Webers Sanktionstheorien im Detail nachzuzeichnen. Vielmehr sollen im Abgleich zu Hegel zwei unterschiedliche Strategien skizziert werden, einen Rechtsbegriff unter Verweis auf das Zwangselement des Rechts zu formulieren.
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Trennung von Recht und Moral entwickelt Kelsen eine Zwangstheorie des Rechts. Er sieht den Vorteil einer Zwangstheorie unter anderem darin, dass sie bei der Bestimmung, welche Norm als Rechtsnorm und welche als Norm der Moral zu bestimmen ist, an die Folge der Normüberschreitung anknüpft. Möglich wäre es auch, am Ursprung der Norm anzusetzen, also etwa ein verfassungsrechtliches Verfahren oder gar ein bestimmtes Organ des Staates als Kriterium für den Rechtscharakter einer Norm zu bestimmen. Den Ursprung einer Moralnorm könnte man hingegen beispielsweise in der Gesellschaft verorten. Dann wäre es aber beispielsweise nicht möglich, durch Gewohnheit entstandene Normen (die es zweifelsohne auch im Recht gibt) dem Recht oder der Moral zuzuordnen 350. Auch dem materiellen Regelungsgehalt nach lassen sich Moral- von Rechtsnormen nicht abgrenzen. Vielmehr sind die inhaltlichen Grenzen fließend: Ein- und dasselbe Verhalten kann sowohl unter eine moralische Norm wie auch unter eine Rechtsnorm subsumiert werden. Besonders plastisch wird das beispielsweise bei öffentlichkeitswirksamen Strafprozessen, deren rechtliche Kernfrage (Beispielsweise: Hat sich der Angeklagte durch sein Verhalten des Totschlags nach § 212 Strafgesetzbuch schuldig gemacht?) oftmals begleitet oder gar überlagert wird von moralischen Fragen (Beispielsweise Fragen zum Lebenswandel des Angeklagten, Diskrepanzen dieses Lebenswandels zu seinem öffentlichen Image usf.). Nach Kelsen lässt sich eine begrifflich klare Trennung von Recht und Moral nur unter Rückgriff auf die Folgen der Normverletzung herstellen: »Ein Unterschied zwischen Recht und Moral kann nicht darin erkannt werden, was die beiden sozialen Ordnungen gebieten oder verbieten, sondern nur darin, wie sie ein bestimmtes menschliches Verhalten gebieten oder verbieten. Das Recht kann von der Moral nur dann wesentlich unterschieden werden, wenn man […] das Recht als Zwangsordnung, das heißt als eine normative Ordnung begreift, die ein bestimmtes menschliches Verhalten dadurch herbeizuführen sucht, daß sie an das gegenteilige Verhalten einen gesellschaftlich organisierten Zwangsakt knüpft […]« 351
Kelsen begreift das Recht insgesamt als Zwangsordnung. Objektiver Inhalt der Rechtsordnung sind nur im Zusammenhang mit diesem Zwang stehende Gebote. Kelsen präzisiert den Begriff des Zwangs so-
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Kelsen 1960, 54 f. Kelsen 1960, 64 f.
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dann durch den der Sanktion, der die Beziehung des Normverstoßes zum Zwangsakt bezeichnet: »Wenn das Recht als Zwangsordnung begriffen wird, kann ein Verhalten nur dann als objektiv rechtlich geboten und sohin als Inhalt einer Rechtspflicht angesehen werden, wenn eine Rechtsnorm an das gegenteilige Verhalten einen Zwangsakt als Sanktion knüpft.« 352
Nun stellt sich die Frage, wer Adressat dieser Rechtspflicht ist. Die intuitive Antwort hierauf würde lauten: Der einzelne Mensch oder, diesen bereits juristisch aufgefasst, die Person im Rechtssinn. Für Kelsen fällt aber die Beziehung zwischen der Rechtsnorm und der einzelnen Person bereits aus dem Recht. Denn die Rechtsnorm verbietet nicht dem Einzelnen ein bestimmtes Verhalten unter Androhung einer Sanktion, sondern sie richtet sich an den staatlichen Zwangsapparat. »Gesollt« und damit Gegenstand des (reinen) Rechts ist somit nicht das Verhalten der Person, sondern »nur der als Sanktion fungierende Zwangsakt.« 353 Eine so verstandene Sanktionentheorie irritiert auf den ersten Blick. Denn sie lenkt den Fokus der Rechtstheorie auf eine besondere Art von Normen (deren Sollen sich nicht an das Individuum, sondern an die sanktionierende Autorität richtet) 354. Diese Einengung des Blickwinkels der Rechtstheorie wird, mitunter unberechtigterweise, als realitätsfern beurteilt und in diesem Zuge sieht sich Kelsens Sanktionstheorie, wie auch unter einem allgemeineren Blickwinkel sanktionsbezogene Definitionsansätze der Rechtstheorie, einer soziologischen Kritik ausgesetzt 355. (2) Diese grundsätzliche soziologische Kritik war, schon bevor Kelsen die elaborierteste Form der rechtstheoretischen Zwangstheorie des Rechts erarbeitet hat, von Max Weber vorgetragen worden. Er unterKelsen 1960, 120. Kelsen 1960, 124. Zum komplexen Zusammenspiel von Verbotscharakter einer Norm, der Autorität als Adressat des Sollens und der insofern nur indirekten Verhaltenssteuerung des Rechts siehe Dreier 1990, 199–203. 354 Damit ist weder gesagt, dass anders strukturierte Normen bei Kelsen keine Beachtung finden (siehe hierzu Dreier 1990, 196 ff.) noch, dass Rechtsanwendung »im Wege wertungsfreier Subsumtion« erfolge (so die (unzutreffende) Subsumtionsthese, siehe Hoerster 2006, 70), hierzu Dreier 1990, 145 ff. 355 Freilich sieht sich Kelsens Sanktionsmodell nicht nur einer soziologischen, sondern auch einer rechtstheoretischen Kritik ausgesetzt, besonders wirkmächtig derjenigen H. L. A. Harts in Hart 1994; siehe zu Harts Kritik an Kelsens Sanktionsmodell Pawlik 1992, 75–79. 352 353
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scheidet in Wirtschaft und Gesellschaft zwischen der juristischen und der soziologischen Betrachtungsweise des Rechts. Die erstgenannte fragt nach Weber: »welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtiger Weise zukommen sollte.«; die zweite hingegen stelle die Frage: »was innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen, darunter insbesondere solche, in deren Händen ein sozial relevantes Maß von faktischem Einfluss auf dieses Gemeinschaftshandeln liegt, bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren.« 356 Weber trennt strikt zwischen diesen beiden Fragen und entscheidet sich, gemäß seinem Projekt, den tatsächlichen Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft zu begreifen, für die soziologische Frage. Die Rechtstheorie habe in direkter Weise nichts zu der Frage beizutragen, wie es um den »Kosmos des faktischen wirtschaftlichen Handelns« 357 bestellt ist. Entsprechend gelangt Weber zu einer soziologischen Zwangstheorie des Rechts, die noch heute als die klassische soziologische Zwangstheorie des Rechts schlechthin gelten darf: »Eine Ordnung soll heißen: b) Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance eines (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.« 358
In einem Vergleich von Weber und Kelsen fallen schon an der Oberfläche zwei Dinge auf, die es sogleich im Rahmen der Frage, inwiefern auch Hegels Begriff des abstrakten Rechts als Zwangstheorie des Rechts aufzufassen ist, zu thematisieren gilt. Erstens fällt die Gemeinsamkeit beider Theorien auf: Sie definieren beide das Recht anhand der Reaktion auf den Normverstoß: den Zwang. Dabei ordnen beide Theorien die Zuständigkeit für und die Ausübung des Zwangs einer übergeordneten Instanz zu: Kelsen
356 357 358
Weber MWGI/22–3, 191. Weber MWGI/22–3, 193. Weber MWGI/23, 186.
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schreibt von einem »gesellschaftlich organisierten Zwangsakt« 359, Weber vom »eigens darauf eingestellten Stab(es) von Menschen.« 360 Zweitens überrascht diese Gemeinsamkeit vor dem Hintergrund, wie stark beide Positionen sich voneinander abgrenzen. Kelsen wirft der soziologischen Tradition begriffliche Unklarheit 361 vor, Weber der rechtstheoretischen Tradition Realitätsferne 362. 3.1.3.2.2 Vereinbarkeit einer Zwangstheorie des Rechts mit Hegels Rechtsbegriff? Nun stellt sich die Frage, ob Hegels Begriff des abstrakten Rechts als Zwangsrecht (Grundlinien § 94) mit diesen beiden oder zumindest mit einer dieser beiden Zwangstheorien des Rechts vereinbar ist. Um diese Fragen beantworten zu können, muss in Abgrenzung zu den eben skizzierten Begriffen des Zwangs Hegels Begriff des Zwangs geklärt werden. Dabei sollen zwei Momente des Hegel’schen Begriffs des Unrechts eine besondere Betonung finden. Das ist erstens die Tatsache, dass der Zwang ausdrücklich erst im Abschnitt über das Unrecht thematisiert wird. Außerdem wird Hegels Dialektik von Recht und Unrecht als Stabilisator des Rechtsbegriffs ausgewiesen. In Bezug auf die beiden Zwangstheorien des Rechts lässt sich mit Hegel die am Ende des vorigen Kapitels angesprochene Ambivalenz erklären, dass sie entgegengesetzten wissenschaftlichen Lagern entstammen (Rechtstheorie und Soziologie) und dennoch das gleiche Kriterium, den Zwang, zu Grunde legen. In diesem Zusammenhang trägt auch die Abgrenzung des Hegel’schen Rechtsbegriffs zum rechtspositivistischen Rechtsbegriff Kelsens bei zu der hier erörterten Frage nach dem Zusammenspiel von Recht und Natur.
Kelsen 1960, 64. Weber MWGI/23, 186. 361 In Bezug auf Weber siehe Kelsens »Rezension« zu Webers »Wirtschaft und Gesellschaft«, abgedruckt in Paulson 1992, Text 10. Siehe zu diesem Vorwurf an die Rechtssoziologie sowie zur Schärfe der geführten Diskussion außerdem exemplarisch den Disput zwischen Kelsen und Eugen Ehrlich anlässlich einer Rezension Kelsens zu Ehrlichs Grundlegung der Soziologie des Rechts, abgedruckt in Paulson 1992, Texte 4 bis 8. Eine Übersicht des Disputs findet sich bei Seelmann/Demko 2014, 42–46. 362 »Es liegt auf der Hand, […] daß die ideelle »Rechtsordnung« der Rechtstheorie direkt mit dem Kosmos des faktischen wirtschaftlichen Handelns nicht zu schaffen hat«, Weber MWGI/22–3, 193. 359 360
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Hegels Begriff des Zwangs bezeichnet ein Moment seiner dem abstrakten Recht zugrundeliegenden Willensdialektik. In der Verletzung des Rechts, sei es dem absichtlichen Verbrechen oder auch nur der Nichterfüllung einer vertraglichen Pflicht, liegt immer auch eine Verletzung des Willens der anderen Person, der nach Hegel sein äußeres Dasein in den Gegenständen des abstrakten Rechts findet. Der Person widerfährt dadurch (erster) Zwang 363. Die Reaktion auf diesen ersten Zwang ist nach Hegel der zweite Zwang. Der erste Zwang ist dabei ein zwischen grundsätzlich gleichgeordneten Personen stattfindender Zwang. Er ist schon deswegen nicht mit den Theorien übergeordneten, organisierten Zwangs in Einklang zu bringen. Fraglich ist aber, ob zumindest der zweite Zwang mit den Zwangstheorien vereinbar wäre. Denn ihm ist ein Moment der »übergeordneten« Vermittlung eingeschrieben, das als Grundlage für den organisierten Zwang fungieren könnte. In § 94 der Grundlinien, in dem Hegel das abstrakte Recht als Zwangsrecht bezeichnet, begründet er diese Definition des Rechts entsprechend mit beiden Momenten des Zwangs. In der Anmerkung relativiert er seine Definition aber sogleich: »Das abstrakte oder strenge Recht sogleich von vornherein als ein Recht definieren, zu dem man zwingen dürfe, heißt es an einer Folge auffassen, welche erst auf dem Umwege des Unrechts eintritt.« 364
Diese Anmerkung könnte dann im Widerspruch zu dem Haupttext des § 94 stehen, wenn man die Aussage »Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht« absolut auffasst und »an den Anfang« des abstrakten Rechts setzt. Hierfür spräche zwar die kausale Verknüpfung (»weil«) mit den beiden Momenten des Zwangs. Das abstrakte Recht wäre dann in seinem Durchgang von vornherein definiert durch die Dialektik des Zwangs. Dagegen spricht allerdings die systematische Stellung der Ausführungen zum Zwang im Abschnitt über das Unrecht. Ein isoliert betrachteter erster Zwang lässt sich zwar schon in der Besitzergreifung, in Eigentumsbeziehungen und im vertraglichen Austausch festmachen. Der zweite Zwang hingegen kann erst im Unrecht thematisch werden, weil die »interne« Ausdifferenzierung der Willensmomente der Allgemeinheit und der Besonderheit erst im Unrecht 363 364
Siehe Grundlinien § 93 A (TWA7, 179 f.; GW14/1, 88). Grundlinien § 94 A (TWA7, 180; GW14/1, 89).
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stattfindet. Im Eigentum standen sich noch individuelle Personen unvermittelt gegenüber, im Vertrag fand eine (abstrakte) Vermittlung mehrerer individueller Willen statt. Besonders pointiert verortet Hegel den zweiten Zwang, den er dort »rechtlich« im Unterschied zum ersten Zwang als »unmittelbaren« nennt, in der Enzyklopädie. Er behandelt ihn in § 501 im letzten Satz zum Unrecht, bevor er in § 502 den Übergang zur Moralität schildert. Der zweite Zwang steht also nicht am Anfang, sondern ganz am Ende des abstrakten Rechts. Er leitet nicht in das abstrakte Recht ein, sondern weist aus ihm heraus. Das bedeutet, dass als Kandidat für eine Zwangstheorie des abstrakten Rechts nur der erste Zwang in Betracht kommt. Dieser kann aber im Hegel’schen System nicht isoliert vom zweiten Zwang gedacht werden. Denn nach Hegel »zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst« 365. Erster und zweiter Zwang sind somit untrennbar miteinander verknüpft. Auch eine in Bezug auf Hegel systemfremde Isolierung des ersten Zwangs und die Kombination mit einer Zwangstheorie würde zu kuriosen Ergebnissen führen. Sie wäre zunächst gerade nicht mit der rechtstheoretischen und der soziologischen Zwangstheorie vereinbar, weil diese gerade auf den übergeordneten, organisierten Zwang abstellen. Außerdem wäre eine Theorie des abstrakten Rechts als Recht des ersten Zwangs keine Rechts-, sondern eine Unrechtstheorie. Denn der erste Zwang bezeichnet ja gerade den Rechtsbruch, gegen den der zweite Zwang als Wiederherstellung des Rechts gerichtet ist. Entsprechend bezeichnet Hegel in der Anmerkung zu § 93 der Grundlinien ein Recht des ersten Zwangs »Naturzustand« 366. Ein Recht des ersten Zwangs wäre damit gar kein Recht im Hegel’schen Sinne.
Grundlinien § 92 (TWA7, 179; GW14/1, 88). Grundlinien § 93 A (TWA7, 179 f.; GW14/1, 88). Diese Assoziation von Zwangsrecht und Naturzustand verwundert womöglich auf den ersten Blick. In der neueren Vertragstheorie gibt es allerdings Versuche, ein kontraktualistisches Argument unter Rückgriff auf die Legitimationsbedürftigkeit des Rechtszwangs zu entwerfen, so bei Höffe 1987 (eine kritische Nachzeichnung des Arguments findet sich bei Engländer 2000a, 11–13). Neben methodischen und logischen Einwänden, die einem solchen Programm auch ohne Berücksichtigung der Fokussierung auf den Zwangscharakter des Rechts bereits begegnen (siehe Engländer 2000a, 13–15), ließe sich mit Hegel überdies einwenden, dass bereits die Annahme, das legitimatorische Desiderat einer Rechtsbegründung liege allein in der Rechtfertigung des Rechtszwangs, verfehlt ist. 365 366
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Beide Spielarten der Zwangstheorie des Rechts sind somit nicht mit Hegels Rechtsbegriff vereinbar. Sie können keine Theorien des ersten Zwangs sein, da diesem das übergeordnete, organisierte Zwangsmoment fehlt. Sie können aber auch keine Theorien des zweiten Zwangs sein, weil dieser nicht Grundlage, sondern Ergebnis des abstrakten Rechts ist. Dieser Unvereinbarkeit liegt eine weitere Parallele beider Zwangstheorien zugrunde, die wiederum von einer vom Hegel’schen Rechtsbegriff ausgehenden Gegenkritik offengelegt wird: Die soziologische wie auch die rechtspositiviste Zwangstheorie gehen von einer dualistischen Trennung von Recht und Natur aus. Die soziologische Variante tut dies, indem sie den Rechtsbegriff naturalisiert und, wie Max Weber dies auch ausdrücklich benennt, dem soziologischen Rechtsbegriff einen juristischen, »ideellen« 367 gegenüberstellt. Die rechtstheoretische Zwangstheorie geht insofern von einer Trennung von Natur und Recht aus, als sie für ihren Rechtsbegriff die reine Rechtlichkeit proklamiert und diesen so von der Natur strikt abzugrenzen versucht 368. Dem entspricht auch der in der Einleitung dieser Arbeit bereits erwähnte kleinste gemeinsame Nenner des Rechtspositivismus: die Trennungsthese. Aus Hegel’scher Perspektive verwundert es schließlich nicht, dass die Rechtssoziologie der Rechtstheorie Realitätsferne und die Rechtstheorie der Rechtssoziologie begriffliche Unschärfe vorwirft. Eine relevante Parallele besteht aber zwischen Hegel auf der einen (anti-dualistischen) und den Zwangstheorien auf der anderen (dualistischen) Seite: In beiden Spielarten kommt dem Rechtsbruch eine entscheidende Rolle für den Rechtsbegriff zu. Die Zwangstheorien definieren das Recht unter Rückgriff auf die Reaktion auf einen Rechtsverstoß. Hegel beschreibt das Recht als Reaktion auf das Unrecht. Dabei fällt das Unrecht nicht aus dem Recht heraus, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechts. Der Rechtsbruch ist bei Hegel zwar wesentlicher Bestandteil, aber nicht alleiniges Definitionsmerkmal des Rechts. Vielmehr setzt sich das »Recht gegen das
Weber MWGI/22–3, 193. Was nicht bedeutet, dass eine rechtstheoretische Zwangstheorie Kriterien beispielsweise der Wirksamkeit völlig ausklammern müsse, siehe zu Kelsen Dreier 1990, 121 ff. 367 368
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Unrecht« 369 durch, wie sich der zweite Zwang gegen den ersten Zwang durchsetzt. Das Unrecht ist somit entscheidender Faktor der Stabilität der Rechtsordnung 370. Somit ist in keiner der drei Gestalten des abstrakten Rechts ein Dualismus von Natur und Recht auszuweisen. Bevor im nächsten Kapitel ein vergleichender Blick auf das BGB geworfen wird, soll zunächst noch die maßgebliche Rolle des Begriffs der Person in Hegels Rechtsbegriff herausgestellt werden.
3.1.4 Der Begriff der Person In der Enzyklopädie verortet Hegel den Begriff der Person in § 487, der die Einteilung des objektiven Geistes zum Gegenstand hat, als Moment der den objektiven Geist prägenden Willensdialektik. Der freie Wille ist demnach »zunächst unmittelbar und daher als einzelner, – die Person« 371. Nach dieser Einteilung markiert der Begriff der Person die erste von drei Entwicklungsstufen des freien Willens im objektiven Geist. Sowohl die systematische Stellung als erste Stufe als auch die Umschreibung als »unmittelbar und daher als einzelner« weisen darauf hin, dass der Wille sich an dieser Stelle noch auf einer defizitären Stufe befindet. In § 488 präzisiert Hegel diese Defizität. Der Wille ist aus sich heraus in dieser unmittelbaren Gegebenheit nicht in der Lage, seine Freiheit zu entfalten. Er ist »abstrakt und leer« und erhält seine Bestimmung »an einer äußerlichen Sache« 372. Sofern er Wirklichkeit hat, ist der Wille im abstrakten Recht somit nur frei in Beziehung zu Äußerem. In der Person spiegelt sich dieses Defizit wider. Die rechtliche Person ist in dieser Hinsicht die Daseinsform der (defizitären, weil abstrakten und auf wenige vom abstrakten Recht vorgegebene Formen beschränkten) Freiheitsverwirklichung des Willens. Der Begriff der Person grenzt sich so ab von einem emphatischen Begriff des Subjekts als Daseinsform einer aus sich heraus voll zur Entfaltung kommenden Freiheit. Im Gegensatz zu einem sol-
So der Titel der dritten Form des abstrakten Rechts in der Enzyklopädie. Näheres zu diesem Stabilitätsmoment im dritten Teil der vorliegenden Arbeit unter 4.1. 371 Enz. 1830 § 487 Gliederungspunkt A (TWA10, 306; GW20, 481). 372 Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482). 369 370
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chen, aus Hegels Sicht freilich naiven und realitätsfernen Begriff des Subjekts erscheint die Person als defizitär »und ein Individuum als eine Person bezeichnen ist Ausdruck der Verachtung.« 373 Der freie Wille im abstrakten Recht weiß aber auch »seine Einzelheit als absolut freien Willen« 374. Damit spricht Hegel in der Enzyklopädie in sehr knapper Weise eine zweite Seite des Personbegriffs an: Die Selbstbezüglichkeit der um ihre Defizität wissenden Subjektivität. Die Betonung liegt hierbei im Wissen. Klarer wird diese zweite Seite in den Grundlinien. Hier differenziert Hegel schon in systematischer Hinsicht zwischen den beiden Seiten des Personbegriffs. In § 34 erörtert er, was es bedeutet, dass der freie Wille im abstrakten Recht in der »Bestimmtheit der Unmittelbarkeit« ist. Er ist »gegen die Realität negative, nur sich abstrakt auf sich beziehende Wirklichkeit«. Das bedeutet, dass der freie Wille an dieser Stelle versucht, Gehalt aus seiner reinen Selbstbezüglichkeit, aus reiner Formalität zu gewinnen, ohne hierbei auf die äußere Wirklichkeit zurückzugreifen. Er ist als solcher »in sich einzelner Wille eines Subjekts« 375 – nicht: einer Person. Die Bestimmtheit der Unmittelbarkeit eines Subjekts ist somit Unbestimmtheit. Den Begriff der Person führt Hegel erst in § 35 der Grundlinien ein, in dem er eine weitere Seite der Bewegung des Willens aufzeigt. Die unbestimmte Selbstbezüglichkeit des Subjekts, wie er sie in § 34 schildert, hat nämlich auch eine bestimmte Seite. Diese besteht im Moment des Selbstbewusstseins des Subjekts als seine abstrakte Einheit als Unbestimmtes 376. Erst dieses Selbstbewusstsein macht das Subjekt zur Person. Hegels Begriff der Person nimmt beide Seiten in sich auf. Die Person hat eine defizitäre und eine positive Seite. Beide Seiten haben wiederum je zwei Aspekte.
TWA3, 357; GW9, 262. Siehe als Beleg für diese defizitäre Seite des Personbegriffs den Zusatz von Eduard Gans zu § 35 der Grundlinien, in dem dieser einen Seite des Personbegriffs »schon im Ausdruck etwas Verächtliches« zugeschrieben wird (TWA7, § 35 Z). 374 Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482). 375 Alle drei Zitate Grundlinien § 34 (TWA7, 92; GW14/1, 51). 376 Siehe TWA7, § 34 Z am Ende (93): »die abstrakte Identität ist es, welche hier die Bestimmtheit ausmacht.« 373
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Die Defizität besteht zum einen darin, dass die Person als Daseinsmodus der Individualität das tatsächliche Individuum mit all seinen kontingenten Bestimmtheiten umfasst 377. Ein so verstandener Begriff des Individuums in seiner Partikularität taugt schwerlich als zentrales Konzept einer elaborierten Philosophie des Rechts. Ein zweiter Aspekt der Defizität des Personbegriffs besteht darin, dass die Person im abstrakten Recht nur wenige bestimmte Gehalte als Daseinsformen des Individuums zulässt. Das Individuum kann Besitz ergreifen, Eigentümer und Vertragspartner sein: Mehr zunächst einmal nicht. Hegels Begriff der Person ist insofern ein echter Rechtsbegriff der Person: Daseinsformen von Individualität konstituieren sich anhand der formellen Vorgaben des Rechts. Dieser Aspekt des Personbegriffs versteht die Abstraktheit des abstrakten Rechts als Defizit. Diese negative Bewertung der Abstraktheit des Rechts lässt sich auch heute bei Gerichtsverfahren beobachten. Rechtssuchende, die von einem Gerichtsverfahren moralische Aufarbeitung, Vergeltung individuellen Opferschmerzes oder eine staatliche Würdigung der eigenen Lebensleistung erwarten, werden in der Regel enttäuscht. Die erste Seite der Positivität des Personbegriffs besteht hingegen darin, dass die Person die selbstbewusste Selbstbezüglichkeit des Subjekts in sich aufnimmt. Diese ist ja gerade die erste Bestimmtheit des Personbegriffs. Die Freiheit der Person besteht also auch darin, dass sie von all ihren Partikularitäten abstrahieren kann und sich als selbstbezüglich Freies wissen kann 378. Die zweite positive Seite des Personbegriffs besteht in einem positiven Verständnis seiner Abstraktheit. Ein abstraktes Recht zwingt nämlich, indem es Daseinsformen der Individualität radikal beschränkt, zu einem Absehen von Partikularitäten. Indem es Individuen als rechtliche Personen auffasst, wird es dem Recht überhaupt nur möglich, eine (vielleicht abstrakte und einseitige, aber immerhin
377 § 35 Z (TWA7, 95): »und doch bin ich als Dieser ein ganz Bestimmtes: so alt, so groß, in diesem Raume, und was alles für Partikularitäten noch sein mögen.« 378 Grundlinien § 35 A (TWA7, 93; GW14/1, 51): »Die Persönlichkeit fängt erst da an, insofern das Subjekt nicht bloß ein Selbstbewußtsein überhaupt von sich hat als konkretem, auf irgendeine Weise bestimmtem, sondern vielmehr ein Selbstbewußtsein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist.«
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eine) Ordnung in das potentiell grenzenlose Chaos tatsächlicher sozialer Vorgänge zu bringen 379. Der entscheidende Zug in Hegels Begriff der Person liegt nun darin, dass der Begriff der Person diesen beiden Seiten eine abstrakte Einheit bietet. Denn nur die Person, nicht das Subjekt und nicht eine entsprechende natürliche Entität (zum Beispiel das tatsächliche, einzelne Individuum oder eine tatsächliche Gemeinschaft von Individuen), ist in der Lage, das Spannungsverhältnis dieser beiden Pole ihres Begriffs auszuhalten. Dabei vermittelt der Begriff der Person die eben skizzierten Momente der Defizität und der Positivität. Die Abstraktheit der Person ist in Bezug auf Subjektivität und ihren Anspruch der Autonomie 380 ein Defizit, in Bezug auf das Recht als Ordnungssystem ein Vorteil. Die Person ist zugleich kontingentes Individuum wie auch grenzenloses Subjekt. Die Einheit schaffende Vermittlung kann der Begriff der Person allerdings wiederum nur auf eine abstrakte Weise leisten. Der eben angesprochenen Leistungsfähigkeit der Person (das Aushaltenkönnen der Spannung) steht wiederum eine defizitäre Seite gegenüber, die in die Moralität überleitet 381. Im Zentrum des abstrakten Rechts steht hingegen die Leistung der Person. Im Zusatz zu § 35 der Grundlinien wird diese folgendermaßen zusammengefasst: »Die Person ist also in einem das Hohe und das ganz Niedrige; es liegt in ihr diese Einheit des Unendlichen und schlechthin Endlichen, der bestimmten Grenze und des durchaus Grenzenlosen. Die Hoheit der Person ist es, welche diesen Widerspruch aushalten kann, den nichts Natürliches in sich hat oder ertragen könnte.« 382 379 Auf den Rechtsbegriff gewendet bedeutet dies einen inhaltlich fundierten Begriff der Einheit des Rechts, siehe unten Kapitel 4.1.3. 380 Hierzu näher unten 4.2.2. 381 Siehe unten 3.3 und 4.2.2. 382 So der in TWA7, 95 abgedruckte Wortlaut, den Eduard Gans in seiner Erstausgabe leicht modifizierte: Statt »Widerspruch, den nichts Natürliches […]« schrieb er »Widerspruch, der nichts Natürliches […]« (siehe Fußnote in TWA7, 95). Das würde bedeuten, dass nicht das Natürliche den Widerspruch nicht ertragen, sondern der Widerspruch das Natürliche in sich nicht ertragen könnte. In der Hotho-Nachschrift von 1822/23 heißt es hierzu: »In der Person existirt dieser ungeheure Widerspruch, und dieß ist ihre Hoheit diesen Widerspruch aushalten zu können. Denn das Natürliche kann den Widerspruch nicht in sich haben.« (GW26/2, 809). Hier kommt eindeutig zum Ausdruck, dass im zitierten Satz das Natürliche der (untaugliche) Träger des Widerspruchs ist. In der Nachschrift Griesheim kommt dieses Verhältnis auch, wenn-
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Hinzu tritt somit ein übergeordneter Begriff der Positivität, oder in den Worten des Zusatzes: der »Hoheit«. Der Begriff der Person ist ein insgesamt positiver, weil er in der Lage ist, die Spannung von Defizität und Positivität auszuhalten. In Bezug auf die hier diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Recht und Natur bedeutet das Folgendes: Der Begriff der Person als Moment der Persönlichkeit des Willens, der »den Begriff und die selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechtes aus(macht)« 383 ist ein Begriff des Rechts, nicht der Natur. Im Rechtsbegriff der Person findet jedoch eine Vermittlung zwischen dem Individuum samt seiner Partikularitäten und seinem Auftreten in den Formen des abstrakten Rechts statt. Partikularitäten sind »vorhanden, aber […] noch verschieden« 384 Im Begriff der Person sind stets Partikularitäten vorhanden, ohne dass diese aber in direkter Weise auf das Recht einwirken können. Die Person vereint Elemente der Natur und des Rechts in sich, ist aber selbst ein Begriff des Rechts. Funktionell betrachtet ist der Rechtsbegriff der Person im abstrakten Recht somit dafür verantwortlich, dass dem Recht keine vollständig von ihm getrennte Natur gegenübersteht. Vielmehr schafft sich das Recht im Wege der Übersetzungsleistung des Rechtsbegriffs der Person seine eigene, die »zweite Natur« 385. So besteht kein Dualismus zwischen Recht und Natur. Indem die Vermittlungsinstanz, der Begriff der Person, aber selbst ein Begriff des Rechts und nicht der Natur ist, ist das Recht der Natur überlegen. Außerdem garantiert der Begriff der Person, wie unter 4.2.2 zu zeigen sein wird, ein Minimum an Autonomie, da er sowohl ein Moment (abstrakter, inhaltsarmer) Individualität beinhaltet als auch selbst rechtlichen Gehalt schafft.
gleich nicht ganz so deutlich, zum Tragen: »Dieß ist die Verkettung der absoluten Extreme, die nur im Geist ist.« (GW26/3, 1113). So wird klar, dass es an dieser Stelle darum geht, die Person als Form des Geistigen und nicht des Natürlichen auszuweisen – wäre die Person eine natürliche Entität, könnte sie den Widerspruch, der sie bestimmt, nicht ertragen. 383 Grundlinien § 36 (TWA7, 95; GW14/1, 52). 384 Grundlinien § 37 (TWA7, 96; GW14/1, 52). 385 Grundlinien § 4 (TWA7, 46; GW14/1, 31).
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3.1.5 Zusammenfassung zum Verhältnis von Natur und Recht; Vorausblick auf den dritten Teil der Arbeit Somit ergibt sich ein genuin anti-dualistischer Rechtsbegriff. Wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, leitet sich Hegels Rechtszustand nicht aus einem Naturzustand ab. Ausgehend hiervon zeichnet Hegel einen anti-dualistischen Rechtsbegriff, der sich durch die gesamte Bewegung des abstrakten Rechts fortentwickelt. Zentraler Fixpunkt dieses Rechtsbegriffs ist Hegels Begriff der Person, den Hegel als Normativitätsgaranten des Rechts ausgestaltet. Indem dieser Begriff des Rechts nicht von einer Trennung von Natur und Recht ausgeht, sondert er sich sowohl von naturrechtlichen als auch von rechtspositivistischen Rechtsbegriffen ab: vom Naturrecht insofern, als das Recht an keiner Stelle (also weder als Gesamtes, noch auch einzelne Begriffe des Rechts wie der Besitz und der Vertrag) auf Begriffe der Natur zu reduzieren ist; vom Rechtspositivismus insofern, als dem Recht keine Wirklichkeit von Moral und Natur strikt getrennt gegenübersteht. Der im 20. Jahrhundert vielbeschworene »dritte Weg« findet sich mithin schon bei Hegel 386. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass sich Hegel’sche Gedanken und explizite Hegelzüge, wie in der Einleitung skizziert, gerade bei denjenigen Staatsrechtlern finden, die sich mit der Suche nach dem dritten Weg befassen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Hegels Rechtsbegriff das Problem des Verhältnisses des Rechts zu seinen Voraussetzungen in einer gefällig harmonischen Weise löst. Vielmehr lässt sich anhand Hegels Rechtsbegriff lediglich bestimmen, wofür das Recht zuständig ist und was es als starker Rechtsbegriff in einer dem klassischen dualistischen Rechtsverständnis überlegenen Art und Weise zu leisten im Stande ist. Das bedeutet aber im Gegenzug, dass bestimmbar wird, wofür das Recht nicht zuständig und was zu leisten es nicht im Stande ist. So kann mit Hegel ein starker, aber umgrenzter Rechtsbegriff formuliert werden, der der seltsam schizophrenen Erwartung der Moderne an das Recht, möglichst uneigenständig, aber dennoch allzuständig zu sein, entgegengehalten werden kann. Die Stärke des Hegel’schen Rechtsbegriffs liegt dabei in einer Umgehung des Stabi-
386
Siehe hierzu das abschließende Kapitel der vorliegenden Arbeit 4.3.
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litäts- wie auch des Melancholieproblems klassisch kontraktualistischer Rechtsbegriffe. Gegenüber dem rechtspositivistischen Rechtsbegriff hat der Hegel’sche den Vorteil, nicht inhaltsneutral zu sein 387. Offensichtlich endet Hegels Philosophie des Geistes aber nicht mit dem Recht. Vielmehr folgen weitere Gestalten des objektiven Geistes, namentlich Moralität und Sittlichkeit, und dem objektiven Geist folgt der absolute Geist. Allein diese Systematik deutet schon auf eine Defizität des Rechts hin. Diese besteht darin, dass das Recht keine Sinngebung bieten kann. Das zeigt sich in Abgrenzung zum Kontraktualismus insbesondere daran, dass das Recht nicht nur unabhängig von einer Ursprungserzählung ist, sondern eine solche auch gerade nicht leisten kann. Derartige Erwartungen an Sinngebung destabilisieren das Recht, anstatt es zu stärken. Außerdem kann das Recht nicht den Anspruch voller Autonomie erfüllen. Von diesen Stärken und Schwächen wird der dritte Teil der vorliegenden Arbeit handeln. Auch bedeutet Hegels Anti-Dualismus im abstrakten Recht nicht, dass die Natur im Durchgang des Rechts getilgt wäre. Im Gegenteil: Die Moralität kann als Wiederaufleben der Natur gegen die Abstraktheit des Rechts gelesen werden. Entsprechend handelt die Anmerkung zum Übergangsparagraph 502 der Enzyklopädie von Naturrecht und Naturzustand. Diesem Paragraphen ist der letzte Abschnitt dieses zweiten Teils gewidmet (3.3). Zuvor soll allerdings noch ein Blick auf unser heutiges BGB geworfen werden. Auch im BGB findet sich bei genauerem Hinsehen eine antidualistische Konzeption von Natur und Recht. Dieser Befund kann einem möglichen Vorwurf der Realitätsferne und mangelnder Praktikabilität gegenüber Hegels Rechtsbegriff entgegengehalten werden.
3.2 Beispiele aus dem heutigen BGB Gegen Hegels Rechtsbegriff, wie er zuvor skizziert wurde, könnte der Einwand erhoben werden, er sei ein überkommenes Produkt seiner Geistphilosophie, fernab dem uns bekannten, praktizierten Recht. Hegels Recht sei ein Produkt seiner Zeit und auf das absolutistische 387 Also erfüllt er die rechtspositivistische Neutralitätsthese nicht. Daher wird Hegel von Rechtspositivisten, wie oben in der Einleitung erwähnt, als Naturrechtler gesehen.
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Beispiele aus dem heutigen BGB
Preußen Friedrichs des Großen zugeschnitten 388. Um diese Irritation zu beseitigen und diesem Einwand zu entgegnen, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele aus dem heutigen deutschen Zivilrecht 389 gezeigt werden, dass sich konkrete Rechtsbegriffe aus dem BGB, die der alltäglichen Anwendung durch Juristen unterliegen und die auch dem allgemeinen Sprachgebrauch vertraut sind, mit dem Hegel’schen Verständnis des abstrakten Rechts begreifen lassen 390. Nicht untersucht werden soll hierbei, ob das gesamte deutsche Recht oder das gesamte BGB frei von einem Dualismus im hier diskutierten Sinn ist. Die Untersuchung einer derartigen (starken) These würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Vielmehr sollen drei prominente Beispiele aus dem BGB untersucht werden, bei denen prima facie ein solcher Dualismus zu vermuten wäre. Als erstes Beispiel dient dabei der Begriff der Willenserklärung aus dem Allgemeinen Teil des BGB. Dieser Begriff ist einer der zentralen 388 Auf diese historisierende Debatte soll in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden. Ein Überblick zu Lesarten des »politischen« Hegel findet sich bei Taylor 1983, Kapitel XVI 3 (589 ff.); auch soll nicht auf die wohl bis heute nicht vollständig geklärte Frage eingegangen werden, welchen Beitrag der juristische Neuhegelianismus eines Julius Binder oder eines Karl Larenz zum Aufkommen nationalsozialistischen Gedankenguts in der Weimarer Republik geleistet hat, siehe zu dieser Debatte Lepsius 1994, 271–286; die der vorliegenden Arbeit immanente Kritik an historisierenden Lesarten Hegels wendet sich natürlich nicht dagegen, »Hegel im Kontext« zu lesen (Henrich 1971), was vor allem im Fall der Grundlinien angesichts des in ihrer Vorrede aufzufindenden Ausspruchs, Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« (Vorrede der Grundlinien, TWA7, 26; GW14/1, 15) hilfreich und notwendig ist – sie wendet sich lediglich gegen Ansätze, die Hegels Philosophie vorschnell auf seine Zeitumstände reduzieren und allein schon deswegen der heutigen (Rechts-)Debatte entziehen. 389 Traditionell wird Hegel eher mit dem Öffentlichen Recht bzw. dem Staatsrecht in Verbindung gebracht, siehe Bäuerle 2001, 61; Schnädelbach 1987; Wieacker 1967b, 413 f.; in den letzten Jahrzehnten wird Hegel aber auch vermehrt mit dem Privatrecht in Verbindung gebracht, zum Beispiel bei Schapp 1992, was als Ausformung einer Tendenz der deutschen Rechtswissenschaften gesehen werden kann, die klassische Philosophie nicht nur mit dem Straf- und dem Öffentlichen Recht, sondern auch mit dem Privatrecht in Verbindung zu bringen, siehe zum Beispiel aus jüngerer Vergangenheit Arnold 2014. 390 Ausdrücklich nicht soll eine historische These derart vertreten werden, die Macher des BGB hätten sich historisch an Hegel orientiert. Mit Blick auf Hegels historische Wirkungsgeschichte ist hier eher eine Distanz zu Hegel zu verzeichnen, siehe zum Beispiel Schnädelbach 1987.
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Begriffe des BGB und unseres Rechtsdenkens überhaupt. Er steht dem Hegel’schen Begriff des Vertrags nahe. Als zweites Beispiel dient der Begriff des Besitzes aus dem Sachenrecht des BGB 391. Nach herkömmlicher (laienhafter) Auffassung bezeichnet der Besitz eine tatsächliche Beziehung, das Eigentum hingegen die rechtliche Beziehung einer Person zu einer Sache 392. Der Begriff des Besitzes, obgleich wohl ein jeder eine Vorstellung von ihm hat, ist allerdings einer der subtilsten und diffizilsten Begriffe des BGB. Er vereint viele, heterogene Modi des Bezugs einer Person zu einer Sache in sich und ist nicht mit dem Schlagwort tatsächlich in einem naturalistischen Sinne abbildbar. Als drittes Beispiel soll der Begriff der Vaterschaft aus dem Familienrecht des BGB 393 dienen. Wohl noch eindringlicher als dies beim Besitz der Fall ist, hat ein jeder eine Vorstellung von diesem Begriff. Die meisten Laien sind dabei der Überzeugung, dass Vater eines Kindes derjenige ist, der das Kind gezeugt hat. Dass dies im BGB gerade nicht so eindeutig der Fall ist, ist ebenfalls ein Beispiel für die anti-dualistische Begrifflichkeit des BGB.
3.2.1 Willenserklärung Als erstes Beispiel dient der Begriff der Willenserklärung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Willenserklärungen sind die Grundlage von Rechtsgeschäften wie Kündigungen, Testamenten oder Verträgen. Demgemäß ist die Willenserklärung auch das herausragende Merk391 Die klassische juristische Einteilung zwischen persönlichen und Sachenrechten ist vor dem Hintergrund des Hegelschen Eigentumsbegriffs, der untrennbar an den Begriff der Person geknüpft ist, hinfällig, siehe Ritter 1969/2005, 72. 392 So wiedergegeben auch teilweise in der Rechtswissenschaft, zum Beispiel bei BeckOK BGB/Fritzsche, Stand 1. 8. 2015, § 854 Rn. 4: »Tatsächliche Sachherrschaft bedeutet etwas anderes als rechtliche Sachherrschaft (Eigentum, § 903), auch wenn beides zusammenfallen kann.« 393 Man könnte auf den ersten Blick freilich der Auffassung sein, ein familienrechtlicher Begriff des BGB ließe sich nicht mit dem abstrakten Recht Hegels, sondern mit den Passagen zur Familie in der Sittlichkeit vergleichen. Über Details ließe sich zwar streiten, klar ist aber, dass Hegel unter dem Begriff der Familie weit mehr abhandelt als in unserem heutigen Zivilrecht geregelt ist, das sich von einem übergeordneten Moment der Hegelschen Sittlichkeit vergleichbar abgrenzt. Das heißt, dass das, was wir heute unter dem Begriff Familienrecht abhandeln, eher dem Hegelschen abstrakten Recht als seinem Konzept der Sittlichkeit vergleichbar ist.
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Beispiele aus dem heutigen BGB
mal des Zustandekommens eines Vertrages, der durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen zustande kommt. (1) Die Willenserklärung hat schon ihrem Wortlaut nach zwei Seiten: Den Willen und die Erklärung. Wie bereits im Rahmen von Hegels Vertragsbegriff diskutiert, ließe sich das Verhältnis von Wille und Erklärung als strikt getrenntes auffassen: Dann gäbe es einen tatsächlichen, individuellen Willen auf der einen und einen erklärten, verobjektivierten Willen auf der anderen Seite. Dem schließen sich auch grundsätzlich die klassischen Vertragstheorien der Privatrechtswissenschaft an. Sie befassen sich mit der Frage, welchem Element der Willenserklärung im Falle eines Auseinanderfallens von Wille und Erklärung der Vorrang zu gewähren ist. Diese Frage hat besondere praktische Relevanz im Privatrecht, weil sie unter anderem die rechtliche Beurteilung eines Irrtums bei Vertragsschluss betrifft. Nach der Extremform einer reinen Willenstheorie wäre eine Willenserklärung, die eine Person in einer Irrtumskonstellation abgibt, unwirksam und damit kein Vertrag zustande gekommen, auch wenn der Irrtum für den anderen überhaupt nicht erkennbar ist. Nach der Erklärungstheorie wäre die Willenserklärung und damit der Vertrag grundsätzlich wirksam. Eine strenge Erklärungstheorie müsste es dabei sogar bewenden lassen. Die Anfechtbarkeit des Vertrags schafft einen Kompromiss zwischen Willens- und Erklärungstheorie. Der Vertrag ist zwar zunächst wirksam zustande gekommen. Der Irrende kann den Vertrag jedoch unter bestimmten Voraussetzungen anfechten und damit seine Wirksamkeit beseitigen 394. Wie der Ausgleich von Willens- und Erklärungstheorie im BGB konkret erfolgt, ist hier keineswegs in allen Details von Interesse. Der grundlegende Konflikt dieser beiden Theorien ist jedoch Voraussetzung dafür, sich der Frage anzunähern, ob das BGB in seinem Begriff der Willenserklärung von einem Dualismus von natürlichem Element (tatsächlicher, individueller Wille) und einem rechtlichen Element (verobjektivierter, erklärter Wille) ausgeht. (2) Der Begriff der Willenserklärung ist im BGB nicht ausdrücklich definiert, sondern wird, ähnlich dem in der Einleitung der vorliegen394 Diese Anfechtbarkeit ist aber im deutschen Vertragsrecht mit einer Schadensersatzpflicht des Irrenden verknüpft: Nach § 122 BGB ist der Irrende/Anfechtende dem Vertragspartner gegenüber schadensersatzpflichtig.
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den Arbeit aufgegriffenen Beispiel der Rechtsfähigkeit, vom Gesetz vorausgesetzt. Beide Elemente der Willenserklärung finden aber Anklang im Gesetzestext. § 133 BGB, der sich im Titel 2 (»Willenserklärung«) des Abschnittes 3 (»Rechtsgeschäfte«) des Allgemeinen Teils des BGB findet und das Willenselement umfasst, lautet: Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.
Das Erklärungselement findet sich in § 157 BGB des Titels 3 (»Vertrag«) im Abschnitt 3, der lautet: Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
Entgegen der systematischen Stellung im BGB wird § 157 BGB dabei nicht nur auf Verträge, sondern auf alle empfangsbedürftigen Rechtsgeschäfte angewandt – das sind Rechtsgeschäfte, die gegenüber einem anderen vorzunehmen sind und die ihre Wirksamkeit erst durch Zugang bei diesem anderen erhalten, zum Beispiel Kündigungen, nicht aber Testamente, die ohne Zugang wirksam sind. (3) Entscheidend für die hier interessierende Frage ist nun, wie § 133 BGB zu verstehen ist. Man könnte ihn in zweierlei Hinsicht naturalistisch lesen. Bei Verträgen, anderen mehrseitigen oder einseitig empfangsbedürftigen Rechtsgeschäften (also in den Fällen, in denen § 157 BGB (analog) Anwendung findet), könnte § 133 BGB so zu verstehen sein, dass er auf das natürliche Element des tatsächlichen individuellen Willens abstellt und dieses trennt von dem nach § 157 BGB auszulegenden verobjektivierten Aspekt der Willensäußerung. Bei einseitigen, nicht-empfangsbedürftigen Rechtsgeschäften wie dem Testament könnte § 133 BGB so zu verstehen sein, dass der tatsächliche individuelle Wille das Rechtsgeschäft konstituiert. Dieser Wille wäre dann zum einen von den sonstigen Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts getrennt, also etwa von den gesetzlichen Vorschriften zur Testamentserrichtung. Zum anderen wäre dieser individuelle Wille auch von den unstreitig rechtlichen und nicht natürlichen Folgen dieses Rechtsgeschäfts getrennt. Solche Folgen sind beispielsweise Einzelheiten der im Testament bestimmten Erbfolge sowie die Wirkung sonstiger Verfügungen (wie etwa Vermächtnisse). All diese Aspekte sind durch das Gesetz verfasst, haben also kei168
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nen natürlichen, sondern einen rechtlichen Charakter; sie werden beispielsweise durch Auslegungsregeln, gesetzliche Fristen oder Detailbestimmungen zur Erbauseinandersetzung bestimmt. Es stellt sich aber die Frage, ob § 133, unabhängig davon, auf welches Rechtsgeschäft er Anwendung findet, überhaupt naturalistisch gelesen werden kann. Zunächst einmal fällt auf, dass § 133 BGB offenbar nicht im Hinblick auf das hier behandelte Thema der Trennung von Recht und Natur, sondern im Hinblick auf ein deutlich praxisnäheres Thema formuliert ist: nämlich die Frage, ob eine Willenserklärung buchstabengetreu ausgelegt werden muss. Dem erteilt der Gesetzgeber des BGB eine Absage, indem er auf den »wirklichen Willen« abstellt. Was genau darunter zu verstehen ist, ist in der Rechtswissenschaft seit Inkrafttreten des BGB strittig. Nach einer Ansicht wird dieser wirkliche Wille als »normativer Wille« aufgefasst 395, mithin bereits als rechtliches Konstrukt. Das wird unter anderem damit begründet, dass die Auslegung eines Rechtsgeschäfts ein und derselbe Vorgang ist und die in § 133 und § 157 BGB (sowieso nur bruchstückhaft) normierten Grundsätze zwei Seiten des einen Vorgangs sind 396. Nach einer anderen Ansicht ist gemäß § 133 BGB auf den empirischen Parteiwillen abzustellen 397. Dieser entziehe sich in seinem Kerngehalt schon wegen des Prinzips der Privatautonomie eines normativierenden Zugriffs 398. Im Folgenden muss der Streit zwischen den Lagern objektiv-normativer Lesart und empirischer Lesart des § 133 BGB weder vollständig abgebildet noch gar entschieden werden. Denn eine genauere Analyse der sogenannten empirischen Lesart offenbart, dass selbst diese vermeintlich naturalistische Lesart keinen strikten Dualismus von Recht und Natur annimmt. Denn auch die empirische Lesart geht davon aus, dass der empirische Parteiwille als isolierter (also der vorrechtliche oder natürliche Wille) Siehe Nachweise bei Staudinger/Singer, § 133 Rn. 5. Besonders pointiert Wieacker 1967a, 385: »In Wahrheit bezeichnen also §§ 133 und 157 jeweils nur verschiedene Aspekte der einen hermeneutischen Aufgabe gegenüber WE und Vertrag.« (Hervorhebung im Original). 397 Staudinger/Singer, § 133 Rn. 5; Wieser 1985, 407 f., der empirische und normative Auslegung trennt und diese bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen sogar in eine chronologische Reihenfolge bringt (erst empirische, dann normative Auslegung). 398 Staudinger/Singer, § 133 Rn. 6 mit weiteren Nachweisen. 395 396
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im Recht gar nicht vorkommen kann. § 133 BGB setzt nämlich voraus, dass der Wille zumindest bereits geäußert wurde. Das ergibt sich aus der Ordnungsaufgabe des § 133 BGB, der einen Vorrang der willensorientierten Auslegung vor der buchstabengetreuen Auslegung normiert. Die Abgrenzung der buchstabengetreuen Auslegung von einer, die auf den wirklichen Willen abstellt, ist nur dann durchführbar, wenn dieser Wille bereits geäußert ist. Auch nach der empirischen Lesart stellt § 133 BGB keineswegs auf bestimmte »innere« Vorgänge bei der Bildung des Willens ab. Entsprechend kommt es bei der Bestimmung des wirklichen Willens selbst bei empirischer Lesart nicht auf die Ermittlung eines inneren Willens an, sondern auf die Auslegung eines verlautbarten Willens. Der Unterschied zu normativen Lesarten besteht vielmehr lediglich darin, dass der verlautbarte Wille nicht mit Blick auf den Verkehrskreis oder den Empfänger, sondern mit Blick auf den Äußernden ausgelegt wird. Die empirische Lesart würde also fragen, wie der Äußernde selbst seine Äußerung verstanden hat 399. Diese notwendige Anknüpfung der Auslegung an den verlautbarten Willen zeigt sich in besonderem Maße in Fällen des § 151 BGB. Nach § 151 BGB kommt ein Vertrag in besonderen Fallkonstellationen zustande, ohne dass die Annahme (also die Willenserklärung eines Vertragspartners) dem Antragenden gegenüber erklärt zu werden braucht 400. Dies ist der Fall, wenn beispielsweise bei kurzfristigen Reservierungen das Eingehen einer Antwort nicht mehr erwartet werden kann. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft sind sich weitgehend darüber einig, dass § 151 BGB lediglich den Zugang der Annahmeerklärung, nicht aber die Erklärung selbst entbehrlich macht 401. Das bedeutet, dass der Annahmewille geäußert werden muss, obwohl neben dem Annehmenden selbst niemand diese Äußerung wahrnehmen und empfangen kann. Selbst eine Person, die sich allein in ihren Privaträumen aufhält, muss mindestens durch konkludentes Verhalten das Vertragsangebot annehmen. Bei der Auslegung dieser Erklärung wird lediglich nicht, wie Staudinger/Singer, § 133 Rn. 11. § 151 BGB: »Der Vertrag kommt durch die Annahme des Antrags zustande, ohne dass die Annahme dem Antragenden gegenüber erklärt zu werden braucht, wenn eine solche Erklärung nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten ist oder der Antragende auf sie verzichtet hat. Der Zeitpunkt, in welchem der Antrag erlischt, bestimmt sich nach dem aus dem Antrag oder den Umständen zu entnehmenden Willen des Antragenden.« 401 Staudinger/Bork, § 151 Rn. 14. 399 400
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sonst bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen, auf den objektiven Empfänger (also beispielsweise auf den Vertragspartner) abgestellt, sondern auf einen unbeteiligten, aber objektiven Dritten 402. Selbst in dieser Privatsituation wird also nicht auf den empirischen Willen abgestellt, sondern auf einen geäußerten Willen, der mittels der abstrakten Werkzeuge des Rechts (in diesem Fall: die Perspektive des unbeteiligten, objektiven Empfängers) ausgelegt wird. (4) Hinzu kommt, dass eine Willensäußerung nicht unabhängig von gesetzlichen Formvorschriften betrachtet werden kann. Das zeigt sich in besonderem Maße beim Testament. Die Auslegung eines Testaments nach § 133 BGB und damit die Ergründung des wirklichen (nach empirischer Lesart: empirischen) Willens ist durch die gesetzlichen Formvorschriften zur Errichtung eines wirksamen Testaments determiniert. Eine im BGB vorgesehene Form der Testamentserrichtung ist das eigenhändig geschriebene und unterschriebene Testament. Wenn ein solches Testament vorliegt, stellt sich oft die Frage, ob ein – vielleicht in vertraulichen Gesprächen geäußerter – »wirklicher Wille« des Testierenden für die Auslegung seines Testaments berücksichtigt werden darf oder muss. Die Rechtsprechung hat zu dieser Problematik die sogenannte »Andeutungsformel« entwickelt 403. Der wirkliche Wille ist demnach nur dann zu berücksichtigen, wenn er seine Andeutung im handschriftlichen Testament, also im formwirksamen Rechtsgeschäft, findet. Zum Beispiel: Der Erblasser enterbt einen seiner Söhne durch handschriftliches Testament. Nach seinem Tod berichten Zeugen übereinstimmend, er wollte seinen Sohn doch nicht enterben. Rechtlich wirksam ist in diesem Fall das Testament. Sein wirklicher Wille, den Sohn doch als Erben einzusetzen, findet keine Berücksichtigung. Dem lässt sich wiederum entgegnen, das sei keine Frage der Auslegung (die sich dessen ungeachtet nach dem empirischen Willen richte), sondern der Form 404. Das überzeugt aber mit Blick auf die rechtliche Wirksamkeit nicht. Systematisch betrachtet bedeutet diese Vorgehensweise der Rechtsprechung, dass selbst im prototypischen Fall der nicht-empfangsbedürftigen Willenserklärung, dem Testament, der wirkliche Wille nur dann Beachtung findet, wenn er formgemäß kundgetan wird. Fal402 403 404
Staudinger/Bork, § 151 Rn. 15; BGHZ 111, 101. Ständige Rechtsprechung, u. a. RGZ 160, 109; BGHZ 80, 246. Staudinger/Singer, § 133 Rn. 15.
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len Form und empirischer Wille auseinander, hat die Form den Vorrang. Der der Form nicht entsprechende empirische Wille ist somit gar keine rechtlich fassbare Größe. (5) Drittens kann der wirkliche Wille auch nicht ohne Rekurs auf die rechtlichen Folgen der Willensäußerung ermittelt werden. § 133 BGB stellt klar, dass es nicht auf Buchstabentreue, sondern auf den wirklichen Willen ankommt. Das bedeutet in vielen Fällen der Anwendung aber gerade eine von den Rechtsfolgen ausgehende Auslegung. Wenn beispielsweise ein Erblasser schreibt »Mein Sohn soll alles haben« lautet das Ergebnis der Auslegung: Der Sohn wird Erbe nach den Vorschriften des Erbrechts. Ein anderes Beispiel: Der Erblasser möchte seinen Erben nur das familiäre Wohnhaus, nicht aber die überschuldete Firma vererben. Dem steht das Prinzip der Gesamtrechtsnachfolge des § 1922 BGB entgegen – ein widersprechender individueller Wille kommt rechtlich nicht zur Geltung. Ein denkbarer Einwand gegen das Argument, der Wille könne nicht ohne Rekurs auf das Recht ermittelt werden, bestünde darin, dass der Wille nicht auf die gesetzlichen Konsequenzen, sondern nur auf die Erbenstellung selbst abziele. Dass der Erbe Erbe ist, folge allein aus dem Willen des Erblassers. Aber diese Sichtweise zeichnet ein verkürztes Bild. Denn was es bedeutet, Erbe zu sein, ergibt sich erst aus den rechtlichen Konsequenzen (z. B. Gesamtrechtsnachfolge, Haftung, Ausschlagungsfristen etc.). Davon losgelöst mag man annehmen, dass es einen natürlichen Willen geben kann, der darauf gerichtet ist, dass der Erbe »etwas/das meiste/alles bekommen soll«. Aber selbst wenn es einen solchen natürlichen Willen gäbe, würde er sich im Recht nie in isolierter Form auswirken können, sondern immer erst in seiner rechtlichen Verfasstheit. Was Erbe sein heißt, ergibt sich erst aus dem gesetzlich und durch Judikatur verfassten Erbrecht. Daher kann auch der Satz »Mein Sohn soll Erbe sein« kaum natürlich verstanden werden, sondern immer nur mit Blick auf das rechtlich konstituierte Erbrecht. Selbst wenn man diesen Satz natürlich verstehen könnte (etwa als Wille, der Sohn solle etwas bekommen), wäre dieses natürliche Verständnis für das Recht irrelevant, denn dieses etwas bestimmt sich nach den Regeln des Erbrechts.
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Selbst die empirische Lesart des § 133 BGB geht also nicht von einer Trennung eines tatsächlichen individuellen Willens und dem Recht als normativiertem Umgang hiermit aus. Vielmehr bestimmt sich auch der empirische Wille unter Rückgriff auf Bestimmungen des Rechts. Das Recht setzt nicht bei den »inneren« Vorgängen eines Individuums bei der Willensbildung, sondern bei der Willensäußerung an 405. Die Willensäußerung ist dabei bereits eine in den Raum des Rechts übersetzte Spielart der Individualität.
3.2.2 Besitz Als zweites Beispiel soll der Begriff des Besitzes im BGB untersucht werden. Er findet sich im Sachenrecht des BGB (3. Teil des BGB), also dem Abschnitt, in dem sich Modi des Bezugs einer Person zu einer Sache finden. Die Rechtsverhältnisse des Sachenrechts sind absolut, d. h. sie gelten gegen alle anderen Teilnehmer des Rechtsverkehrs. Darin unterscheiden sich sachenrechtliche von schuldrechtlichen Rechtsverhältnissen (2. Teil des BGB), in dem relative Rechtsverhältnisse normiert sind, die nur zwischen bestimmten Personen gelten (zum Beispiel Vertragspartnern). Die absolute Wirkung der Sachenrechte lässt sich am Eigentumsrecht besonders gut veranschaulichen. Wer das Eigentum an einer Sache erwirbt, kann die Rechtsposition als Eigentümer mit Wirkung gegenüber jedermann ausüben, nicht nur gegenüber dem Voreigentümer, von dem er das Eigentum erworben hat. Wer hingegen einen Kaufvertrag schließt, kann Rechte aus diesem Vertrag nur gegenüber seinem Vertragspartner geltend machen. Das Sachenrecht unterscheidet sodann unterschiedliche Rechtsverhältnisse einer Person zu einer Sache. Die wichtigsten und bekannten Rechte sind das Eigentums- und das Besitzrecht. Die grundlegende Norm zum Besitz ist § 854 Abs. 1 BGB: »Der Besitz einer Sache wird durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache erworben.«
405 Freilich fragt das Recht beispielsweise bei Irrtumsthemen auch nach Momenten der Willensbildung, dies jedoch stets ausgehend vom geäußerten Willen, der wiederum auf einem Irrtum beruht.
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Diese Norm regelt die Erlangung des Besitzes und knüpft diese an die tatsächliche Gewalt über eine Sache. In entsprechender Weise regelt § 856 Abs. 1 BGB die Beendigung des Besitzes: »Der Besitz wird dadurch beendigt, dass der Besitzer die tatsächliche Gewalt über die Sache aufgibt oder in anderer Weise verliert.«
Die Rechte eines Besitzers gegenüber anderen ergeben sich vor allem aus den §§ 858 ff. BGB, nach denen sich ein Besitzer gegen Entziehung und Störung seines Besitzes zur Wehr setzen kann. Die grundlegende Norm zum Eigentum ist § 903 S. 1 BGB: »Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.«
Hier sind die beiden grundlegenden Befugnisse des Eigentümers normiert: Er hat ein umfassendes Einwirkungs- und Verwertungsrecht über die Sache und er hat ein Ausschließungsrecht gegenüber dem Rechtsverkehr. Der Erwerb des Eigentums ist in § 929 BGB (für bewegliche Sachen) und in §§ 873, 925 BGB (für Grundstücke) geregelt. Schon in dieser oberflächlichen Gegenüberstellung werden mehrere Punkte deutlich. Zum einen werden weder der Begriff des Besitzes noch der Begriff des Eigentums vom Gesetz umfassend und eindeutig definiert. Im Falle des Besitzes regelt das BGB lediglich die Voraussetzungen seines Erwerbs und Verlustes 406. Im Falle des Eigentums regelt § 903 BGB zwar seine wesentlichen Merkmale. Diese Norm kann aber insofern nicht als Definition angesehen werden, als sie lediglich zwei Befugnisse des Eigentümers nennt. Vor allem aber schweigt das Gesetz zu der Frage, wie sich Besitz und Eigentum zueinander verhalten und wie beide Begriffe voneinander abzugrenzen sind. Es liefert allerdings in § 854 Abs. 1 BGB einen Anhaltspunkt: Die Besitzerlangung ist an die tatsächliche Gewalt über eine Sache geknüpft. Ausgehend von diesem gesetzlichen Anhaltspunkt ließe sich die These aufstellen, dass gerade darin (in der tatsächlichen Gewalt) das wesentliche Abgrenzungskriterium des Besitzes zum Eigentum liegt. Der Besitz wäre demnach die tatsächliche Herrschaft über eine Sache, das Eigentum die rechtliche 407. So verstanden, fände sich im BGB eine 406 407
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MüKo/Joost, vor § 854 Rn. 2. Vgl. MüKo/Baldus, vor §§ 985 ff. BGB Rn. 12; BeckOK BGB/Fritzsche, Stand
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Gegenüberstellung eines natürlichen (»tatsächlichen«) Verhältnisses einer Person zu einer Sache zu einem genuin rechtlichen. Im Folgenden soll diese These anhand eines näheren Blickes auf die Vorschriften des BGB zum Besitz untersucht werden. Die Begrifflichkeit des BGB lässt dabei drei Möglichkeiten zu, diesen Vergleich vorzunehmen. Zunächst einmal kann der Begriff des Besitzes insgesamt mit dem Eigentumsbegriff verglichen werden. Hierbei müssten sämtliche Erscheinungsformen des natürlich zu verstehenden Besitzes das Kriterium des tatsächlichen Verhältnisses aufweisen. Zweitens ließe sich der unmittelbare Besitz mit dem Eigentum (und den übrigen Formen des Besitzes, die dann eher mit dem Eigentum als dem unmittelbaren Besitz verwandt wären) vergleichen. Schließlich ließe sich noch der vom BGB in der Definition des Besitzerwerbs und der Besitzbeendigung verwandte Begriff der »tatsächlichen Gewalt über die Sache«, also der Sachherrschaft mit den rechtlichen Formen der Beziehung einer Person zur Sache vergleichen. Im Folgenden gilt es zu untersuchen, ob das BGB einen Dualismus in diese Gegenüberstellungen einschreibt. 3.2.2.1 Besitz und Eigentum Es fällt auf, dass §§ 854 Abs. 1 und 856 Abs. 1 BGB nur eine Form des Besitzes behandeln: den unmittelbaren Besitz. Das begriffliche Gegenstück zum unmittelbaren Besitz ist der mittelbare Besitz. Dieser ist in § 868 BGB geregelt und zeichnet sich dadurch aus, dass zwei Personen in einem gestuften Verhältnis Besitz an der gleichen Sache haben und ausüben. Das Gesetz nennt als Beispiele unter anderem Miete und Pacht. Mieter und Pächter üben in aller Regel die tatsächliche Gewalt über die Mietsache aus und sind damit unmittelbare Besitzer. Das bedeutet unter anderem, dass sie gegenüber Vermieter/Verpächter Besitzrechte haben. Das Gesetz stellt aber klar, dass dennoch auch Vermieter und Verpächter (mittelbare) Besitzer sind und damit Besitzrechte gegenüber Dritten haben und ausüben können (siehe § 869 BGB). Die genaue rechtliche Definition des mittelbaren Besitzes ist dabei umstritten. Vorherrschend ist eine Ansicht, die auch den mittelbaren Besitz durch das Element tatsächlicher Sachherrschaft definiert, mit der Besonderheit, dass der mittelbare Besitzer nicht selbst 1. 8. 2015, § 854 Rn. 4: »Tatsächliche Sachherrschaft bedeutet etwas anderes als rechtliche Sachherrschaft (Eigentum, § 903), auch wenn beides zusammenfallen kann.« Das Recht und seine Voraussetzungen
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die Gewalt über die Sache ausübt, sondern durch den unmittelbaren Besitzer 408. Daneben kennt das Gesetz eine Vielzahl weiterer Besitzarten 409. Dabei gibt es auf der einen Seite Besitzarten, die den Begriff des Besitzes eindeutig über die tatsächliche Sachherrschaft hinaus erweitern. Auf der anderen Seite gibt es Besitzkonstellationen, nach denen eine Person, die die tatsächliche Sachherrschaft ausübt, nicht Besitzer im Rechtssinn ist. Das eindeutigste Beispiel für die erstgenannte Art des Besitzes ist der Erbenbesitz. Nach § 857 BGB geht der Besitz auf den Erben über. Das bedeutet, dass im Zeitpunkt des Todes des Erblassers der oder die Erben Besitzer aller Sachen werden, an denen der Erblasser Besitz hatte. Dies ist unabhängig davon, ob sich die Erben in einer räumlichen Beziehung zu den Sachen befinden. Dieses Kuriosum hat zwar in der vornehmlich älteren Rechtswissenschaft zu Versuchen geführt, den Begriff der Sachherrschaft so auszuweiten, dass auch der Erbenbesitz als Sachherrschaft bezeichnet werden könnte 410 oder den Erbenbesitz von vornherein als bloße Fiktion aufzufassen 411. Letztlich hat sich aber in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung die Auffassung durchgesetzt, dass das BGB mit dem Erbenbesitz eine von tatsächlicher Sachherrschaft losgelöste Besitzform kennt 412. Es gibt also in der Systematik des BGB Besitz ohne tatsächliche Sachherrschaft. Daraus folgt, dass die tatsächliche Sachherrschaft keine notwendige Voraussetzung für den Besitz ist. Die zweitgenannte Art des Besitzes (also kein Besitz trotz Sachherrschaft) findet sich in der Besitzdienerschaft nach § 855 BGB. Die Be408 Staudinger/Gutzeit, § 868 Rn. 5; siehe zu diesem Punkt unten die Abgrenzung unmittelbarer Besitz zu den sonstigen Sachenrechten. 409 Siehe die Auflistung bei Staudinger/Gutzeit, vor §§ 854–873 Rn. 51. 410 Zum Beispiel durch den Begriff der vergeistigten Sachherrschaft, Baur/Stürner 2009, § 8 Rn. 2. 411 Siehe Nachweise bei Staudinger/Gutzeit § 857 Rn. 3; Die Auffassung des Erbenbesitzes als Fiktion spräche nur dann für einen Dualismus Besitz-Eigentum, wenn der Erbenbesitz als Fiktion gänzlich aus dem Schema Besitz-Eigentum herausfallen würde und somit nicht mehr als Beispiel für eine nicht an tatsächliche Sachherrschaft geknüpfte Form des Besitzes dienen könnte. Eine solche Auffassung ist aber nicht mit dem Wortlaut des § 857 BGB vereinbar, der eindeutig von Besitz spricht. Der Wortlaut »geht auf den Erben über« spricht außerdem insgesamt gegen die Fiktionstheorie, siehe Staudinger/Gutzeit, § 857 Rn. 4. 412 Staudinger/Gutzeit, § 857, Rn. 3; BGHZ 2, 104.
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sitzdienerschaft zeichnet sich dadurch aus, dass eine Person in einem Weisungsverhältnis steht und die Sachherrschaft für die andere Person ausübt. Gängige Beispiele sind Haushaltsangestellte oder Arbeitnehmer. Diese üben zwar die tatsächliche Gewalt über bestimmte Sachen aus, sind aber in der Ausübung dieser Sachherrschaft so eingeschränkt und fremdbestimmt, dass das Gesetz ihnen den Status als Besitzer aberkennt. Der Weisungsgeber hingegen ist kraft seiner überlegenen Stellung Besitzer, auch wenn er selbst in keinem engen räumlichen Verhältnis zu der Sache steht. Indem also der Weisungsgeber Besitzer von Gesetzes wegen ist, sieht das BGB an dieser Stelle Besitz ohne eine an räumliche Nähe zum Gegenstand geknüpfte Sachherrschaft vor 413. Die Aberkennung des Besitz-Status des Besitzdieners bedeutet außerdem, dass die tatsächliche Sachherrschaft auch keine hinreichende Bedingung für den Besitz ist. Den Begriff des Besitzes insgesamt an tatsächlicher Sachherrschaft festzumachen, schlägt also fehl. Das BGB kennt sowohl Besitzer ohne tatsächliche Sachherrschaft als auch Personen mit tatsächlicher Sachherrschaft, die keine Besitzer sind. 3.2.2.2 Unmittelbarer Besitz und Eigentum 414 Man könnte allerdings nicht den Besitz als gesamten dem Eigentum gegenüberstellen, sondern nur den unmittelbaren Besitz. Gegenbegriffe zum unmittelbaren Besitz wären dann nicht nur das Eigentum, sondern auch Arten des Besitzes, die nicht dem unmittelbaren Besitz zuzuordnen sind (also insbesondere der mittelbare Besitz und der Erbenbesitz). Auch hier stellt sich die Frage, ob der unmittelbare Besitz mit seinem Rückgriff auf das Kriterium der tatsächlichen Sachherrschaft naturalistisch gedeutet werden kann. Dass die tatsächliche Sachherrschaft keine hinreichende Bedingung für den unmittelbaren Besitz ist, lässt sich aus der soeben getroffenen Analyse der Besitzdienerschaft heraus begründen. Nach herrschender Auffassung muss zum Innehaben der tatsächlichen Sachherrschaft (als objektiver Seite des Besitzes) noch eine 413 Durch die Weisungsbefugnis kann freilich eine Sachherrschaft des Weisungsgebers ohne räumliche Nähe bejaht werden, mehr hierzu sogleich unter 3.2.2.3. 414 Der Einfachheit halber wird hier der Begriff des Eigentums als Gegenbegriff beibehalten. Streng genommen müsste der Gegenbegriff zum unmittelbaren Besitz auch den mittelbaren Besitz und den Erbenbesitz umfassen; Analoges gilt für die Überschrift 3.2.2.3.
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subjektive Seite hinzukommen, nämlich der Besitzwille 415. Dieser ist, anders als beim oben diskutierten Willen im Rahmen des Vertragsschlusses 416, nicht als rechtsgeschäftlicher Wille, sondern als natürlicher Wille anzusehen 417. Das bedeutet in rechtsdogmatischer Hinsicht zwar vor allem, dass auch Geschäftsunfähige einen Besitzwillen haben können. Dieser Befund ließe sich aber gleichwohl auch für die hier untersuchte Frage nach einem Dualismus von Natur und Recht fruchtbar machen. Der unmittelbare Besitz könnte sich dann auszeichnen durch eine natürlich aufgefasste objektive Seite (die tatsächliche Sachherrschaft) und einen natürlichen Besitzwillen auf subjektiver Seite. Jedoch lässt sich auch die vermeintliche Natürlichkeit des Besitzwillens sogleich relativieren. Denn im Rechtsverkehr kommt es nicht auf einen isoliert vorgestellten natürlichen Willen an, sondern auf vom Rechtsverkehr wahrnehmbare äußere Vorgänge, die den Rückschluss auf einen derartigen Willen zulassen. Der Besitzwille ist stets geknüpft an eine Handlung und deren Erkennbarkeit durch Dritte 418. Relevanz im Recht erlangt somit nur ein äußeres Verhalten, aus dem Rückschlüsse auf ein subjektives Moment (den sogenannten natürlichen Besitzwillen) gezogen werden. Außerdem ist der Besitzwille ebenfalls keine hinreichende Bedingung für den Besitz. Er tritt stets im Zusammenhang mit der tatsächlichen Sachherrschaft auf. Entscheidend bleibt also trotz Einbeziehung des Besitzwillens als Tatbestandsmerkmal des Besitzes die Frage der Verknüpfung von tatsächlicher Sachherrschaft und unmittelbarem Besitz. Hier lassen sich drei Punkte festmachen: Erstens ist die tatsächliche Sachherrschaft keine notwendige Bedingung für den unmittelbaren Besitz. Denn auch der Erbe wird unmittelbarer Besitzer, sofern der Erblasser unmittelbarer Besitzer war. Er tritt nach dem Prinzip der Gesamtrechtsnachfolge (§ 1922 BGB) in die
Staudinger/Gutzeit, § 854, Rn. 14 ff. Die Regeln über die Willenserklärung und den Vertragsschluss sind nach der Systematik des BGB (sie finden sich im allgemeinen Teil des BGB) nicht nur für schuldrechtliche Verträge wie den Kaufvertrag, sondern auch für sachenrechtliche Verträge wie den Vertrag über den Eigentumsübergang anwendbar. 417 Staudinger/Gutzeit, § 854 Rn. 17. 418 Staudinger/Gutzeit, § 854 Rn. 20. 415 416
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(vererbbaren) Rechte des Erblassers ein, so wie sie zum Zeitpunkt des Erbfalls qualifiziert sind. Zweitens ist nicht jeder, der tatsächliche Sachherrschaft hat, (unmittelbarer) Besitzer. Dies ist eindeutig der Fall beim zuvor bereits behandelten Besitzdiener. Aber auch nicht jeder Besitzer, der tatsächliche Sachherrschaft hat, ist unmittelbarer Besitzer. Denn nach herrschender rechtswissenschaftlicher Auffassung kommt die tatsächliche Sachherrschaft auch dem mittelbaren Besitzer zu. Er übt diese Sachherrschaft lediglich durch den unmittelbaren Besitzer aus 419. Über diese beiden Verhältnisse der Besitzarten hinaus ist der unmittelbare Besitz im Besitzmittlungsverhältnis nach herrschender Auffassung selbst ein abgeleiteter. Der unmittelbare Besitzer (also zum Beispiel der Mieter) hat seine Besitzrechte nicht aufgrund der tatsächlichen Sachherrschaft, die er über die Mietsache ausübt 420. Vielmehr leiten sich die Besitzrechte des unmittelbaren Besitzers von denen des mittelbaren Besitzers (also zum Beispiel des Vermieters) ab 421. Wenn der Vermieter eine andere Person als der Eigentümer ist, kann der Mieter dem Eigentümer den Zutritt zur Mietwohnung zwar grundsätzlich verweigern. Diese Befugnis hat er aber nicht wegen seiner tatsächlichen Sachherrschaft über die Mietsache, er hat sie also nicht deswegen, weil er sich in den Räumen befindet und sich seine Möbel in der Wohnung befinden. Er hat sie vielmehr deshalb, weil er mit dem Vermieter einen Mietvertrag geschlossen hat und dieser ihm auf dieser Grundlage die Schlüssel zur Wohnung überlassen hat. Somit ist auch in einer Gegenüberstellung von unmittelbarem Besitz zu Eigentum kein Dualismus im hier diskutierten Sinne festzumachen. Es bleibt als letzte Möglichkeit, den Begriff der tatsächlichen Sachherrschaft den Begriffen Besitz und Eigentum gegenüberzustellen.
Staudinger/Gutzeit, § 868 Rn. 16. Diese weist ihm lediglich die Rolle als unmittelbarer Besitzer im Besitzmittlungsverhältnis zu. 421 Staudinger/Gutzeit, § 868 Rn. 21. 419 420
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3.2.2.3 Tatsächliche Sachherrschaft und Eigentum/Besitz Es stellt sich also die Frage, ob im Begriff der tatsächlichen Sachherrschaft ein natürliches Element im Sachenrecht vorhanden ist, dem man die rechtlichen Begriffe Besitz und Eigentum gegenüberstellen könnte. Ein Dualismus wäre dann möglich, wenn unter der tatsächlichen Gewalt über eine Sache das tatsächliche In-den-Händen-Halten eines Gegenstands durch ein Individuum zu verstehen wäre. Dies lässt sich aber nicht mit den gängigen Erscheinungsformen des unmittelbaren Besitzes vereinbaren. Beispielsweise übt ein Individuum unbestreitbar Besitz über alle in seiner Wohnung befindlichen Gegenstände aus, ohne diese aber tatsächlich allesamt gleichzeitig in den Händen zu halten, ja ohne überhaupt in der Wohnung anwesend sein zu müssen. Entsprechend wird in der Rechtswissenschaft darauf abgestellt, dass der Besitzer einer Sache zu dieser Sache in eine räumliche Beziehung tritt 422. Diese kann je nach Art der Sache weit zu verstehen sein. Bei Grundstücken zum Beispiel reicht grundsätzlich eine Zugangsmöglichkeit aus. Hinzu kommen weitere Kriterien, die sich in Rechtswissenschaft und Kasuistik herausgebildet haben: Die tatsächliche Sachherrschaft muss von einer gewissen Dauer sein. Restaurantbesucher haben keinen Besitz an den Stühlen, auf denen sie sitzen, obwohl sie für die Dauer ihres Restaurantbesuchs die tatsächliche Sachherrschaft über diese ausüben 423. Außerdem muss auch die tatsächliche Sachherrschaft für den Rechtsverkehr erkennbar sein. Ähnlich der Feststellung des Besitzwillens sind äußere Vorgänge maßgeblich, anhand derer ein Rückschluss auf die tatsächliche Sachherrschaft gezogen werden kann. Außerdem muss in Grenzfällen eine umfassende Wertung der für die Frage nach der tatsächlichen Sachherrschaft maßgeblichen Kriterien (tatsächliche Beziehung zur Sache, Erkennbarkeit, räumliche Nähe, Dauer) vorgenommen werden. Hierbei spielen normative Gesichtspunkte, vornehmlich rechtliche, aber auch moralische, soziale und wirtschaftliche eine Rolle. Dies ist für die Rechtswissenschaft beinahe eine Binsenwahrheit 424. Schließlich ließe sich
Staudinger/Gutzeit, § 854 Rn. 9. Siehe Staudinger/Gutzeit, vor §§ 854 ff. Rn. 10. 424 Staudinger/Gutzeit, vor §§ 854 Rn. 11 spricht unter Zitierung einer Stelle aus dem Corpus Iuris Civilis von einer »alte[n] Erkenntnis«. 422 423
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noch analog zur Diskussion um den natürlichen Willen argumentieren: Das natürliche Element des In den Händen Haltens ist für das Sachenrecht als reines Faktum uninteressant. Dieses Element zeigt sich immer nur in der wiederum rechtlich verfassten Bedeutung von Besitz. Diese Bedeutung zeigt sich aber nur in der konkreten Ausformung des Besitzrechts im BGB und der diese konkretisierende Rechtsprechung. Sobald sich das natürliche Element im Recht zeigt, ist es bereits rechtlich konstituiert – beispielsweise in Form eines Besitzschutzanspruchs oder in Form eines Abwehrrechts. Wiederum gilt: Eine »natürliche Sachherrschaft« mag es geben, einzelne Individuen mögen damit auch bestimmte Gefühle der Zugehörigkeit zur Sache verbinden (»Dieses Bild/Diese Jacke gehören mir«). Diese Gefühle der Zugehörigkeit sind isoliert betrachtet aber nicht rechtlich relevant. Wenn sie durch das Recht bestätigt werden (als Besitzschutzanspruch oder Abwehrrecht etc.), sind sie schon rechtlich durch Gesetz und Rechtsprechung verfasst. Also ist auch der Begriff der tatsächlichen Sachherrschaft, mithin der Begriff des Sachenrechts, der am ehesten naturalistisch gedeutet werden könnte, ein Rechtsbegriff. Sein Gehalt kann nicht ohne den Rückgriff auf rechtliche Kategorien bestimmt werden. Insgesamt findet sich somit auch im Umfeld der BGB-Begriffe Besitz und Eigentum kein Dualismus im hier untersuchten Sinn.
3.2.3 Vaterschaft Als letztes Beispiel aus dem BGB soll nun der Begriff der Vaterschaft untersucht werden. Der Begriff der Vaterschaft weist auf den ersten Blick eine große Nähe zu natürlichen Begebenheiten auf. Die meisten juristischen Laien würden auf die Frage, wer der rechtliche Vater eines Kindes sei, wahrscheinlich antworten: Derjenige, der es gezeugt hat, also der leibliche Vater. Die meisten würden es zudem für selbstverständlich halten, dass es neben der leiblichen Vaterschaft noch weitere rechtliche Ausformungen der Vaterschaft gebe, zum Beispiel die Stiefvaterschaft und die Pflegevaterschaft. Weithin bekannt sind darüber hinaus auch Möglichkeiten, eine Vaterschaft gerichtlich anerkennen oder aberkennen zu lassen. Der öffentliche Diskurs wird aber wohl die leibliche Vaterschaft als Regel ansehen. Wäre die leibliche Vaterschaft tatsächlich auch rechtlich festgelegt, ließe sich arguDas Recht und seine Voraussetzungen
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mentieren, dass doch zumindest an dieser Stelle 425, wie es auch zu erwarten wäre, ein Faktum der Natur (die Tatsache, ein Kind erzeugt zu haben) einen wichtigen Rechtsbegriff konstituiert, dieser Rechtsbegriff also auf ein Faktum der Natur reduzierbar wäre. Ein Blick auf § 1592 BGB, in dem die Vaterschaft normiert ist, zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Diese Vorschrift sieht drei Alternativen der rechtlichen Vaterschaft vor. Nach der ersten Alternative (§ 1592 Nr. 1 BGB) ist Vater derjenige, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Dabei kommt es ausschließlich darauf an, zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes verheiratet zu sein. Ob das Kind auch während der Ehe gezeugt wurde oder ob das Kind vom Ehemann der Mutter gezeugt wurde, spielt dabei keine Rolle 426. Nach der zweiten Alternative (§ 1592 Nr. 2 BGB) ist derjenige Vater, der die Vaterschaft anerkannt hat. Die Anerkennung ist ein mehrstufiger rechtlicher Prozess und erfordert neben der Anerkennungserklärung des Vaters auch die Zustimmung der Mutter (§ 1595 BGB). Hinter der Normierung dieses Anerkennungstatbestandes verbirgt sich zwar eine Vermutung des Gesetzgebers, dass derjenige, der mit Zustimmung der Mutter die Vaterschaft anerkennt, auch derjenige ist, von dem das Kind biologisch abstammt. Sollte allerdings ein Mann, von dem das Kind nicht biologisch abstammt, die Vaterschaft mit Zustimmung der Mutter anerkennen, ist diese Anerkennung rechtlich wirksam und der anerkennende Mann ist der rechtliche Vater des Kindes 427. Nach der dritten Alternative (§ 1592 Nr. 3 BGB) ist derjenige Vater, dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt ist. Im Rahmen dieses gerichtlichen Verfahrens spielt sodann die Zeugung des Kindes eine Rolle. Der entsprechende § 1600 d Abs. 2 BGB lautet: »Im Verfahren auf gerichtliche Feststellung der Vaterschaft wird als Vater vermutet, wer der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat. Die Vermutung gilt nicht, wenn schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft bestehen.«
425 Die Systematik des BGB verortet die Vaterschaft im Familienrecht (4. Buch). Zu der Frage, ob das Familienrecht des BGB überhaupt mit Hegels abstraktem Recht vergleichbar ist, siehe oben Fn. 393. 426 MüKo/Wellenhofer, § 1592 Rn. 8. 427 MüKo/Wellenhofer, § 1592 Rn. 14.
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Beispiele aus dem heutigen BGB
Dieser Rückgriff auf das Faktum der Zeugung ist aber in mehrfacher Hinsicht zu relativeren. Erstens findet er nur im Rahmen des gerichtlichen Vaterschaftsfeststellungsverfahrens nach § 1592 Nr. 3 BGB statt. Das bedeutet, dass es auf dieses Kriterium nur dann überhaupt ankommen kann, wenn die Alternativen nach § 1592 Nr. 1 BGB (Ehe mit Mutter) und § 1592 Nr. 2 BGB (Anerkennung der Vaterschaft) nicht in Betracht kommen – also in einer relativ geringen Anzahl von Fällen. Zweitens besteht ein Vorrangverhältnis der gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft nach § 1600d Abs. 1 BGB 428, nach der in einem gerichtsförmigen Verfahren die Abstammung geprüft wird und nach der der Richter nach eigener Überzeugung entscheidet, ohne dabei auf die Vermutung des Abs. 2 zurückzugreifen. Drittens handelt es sich um eine gesetzliche Vermutungsregel. Das bedeutet, dass vom Faktum des Geschlechtsverkehrs zur Empfängniszeit nicht ohne Weiteres auf die Vaterschaft geschlossen werden kann. Eine Vermutung dient dem Gericht, sofern die vermutungsvoraussetzenden Fakten voll bewiesen sind (in diesem Fall: das »Beiwohnen« während der Empfängniszeit), als Beweiserleichterungsregel, um auf das aus der Vermutung folgende Faktum (Vaterschaft) zu schließen. Das bedeutet allerdings keinen Automatismus. Denn zum einen gilt diese Vermutung gemäß Satz 2 bei schwerwiegenden Zweifeln nicht. Außerdem kann das Gericht, selbst wenn die Vermutung eingreift, trotzdem zu einer anderen Überzeugung gelangen. In den weit überwiegenden Fällen spielt die biologische Vaterschaft mithin überhaupt keine Rolle. Im Fall der gerichtlichen Feststellung ist sie ein untergeordneter Aspekt in einem übergeordneten gerichtlichen Verfahren. Die biologische Vaterschaft ist somit weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die rechtliche Vaterschaft. Davon abgesehen, kennt das BGB indes durchaus auch die Rechtsfigur des leiblichen Vaters im Unterschied zum rechtlichen Vater. So sind in § 1686a BGB bestimmte Umgangs- und Informationsrechte des leiblichen Vaters normiert, die aber wiederum unter strengen Voraussetzungen stehen: Er muss ein ernsthaftes Interesse an dem Kind gezeigt haben, die Durchsetzung seiner Rechte muss dem Kindeswohl dienen, ein Informationsanspruch muss einem berechtigten Interesse des leiblichen Vaters dienen. 428
Staudinger/Rauscher, § 1600d Rn. 16.
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Einige sehen in dieser Vorschrift eine auf die Rechtsprechung des EGMR aus dem Jahr 2011 zurückgehende Stärkung der natürlichen Abstammung 429. Die deutsche Gesetzgebungs- und Rechtsprechungstradition sieht jedoch die Wurzel auch eines Umgangsrechts des leiblichen Vaters nicht im Prinzip natürlicher Abstammung, sondern in dem der sozial-familiären Beziehung (siehe § 1685 Abs. 2 BGB). § 1685 Abs. 2 BGB, der diesen Terminus benutzt, weitet das Umgangsrecht auf Bezugspersonen mit sozial-familiärer Beziehung aus. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann dieser aktuelle Streit offen bleiben. Denn selbst wenn man die natürliche Abstammung als Prinzip des neu eingeführten § 1686a BGB akzeptiert, so kommt man nicht umhin, zu konstatieren, dass auch diese Vorschrift, wie eben aufgezählt, die Rechte des leiblichen Vaters an mehrere Voraussetzungen knüpft – Voraussetzungen, die der rechtliche Vater nicht erfüllen muss. Auch in der Vaterschaft ist kein Dualismus zwischen Natur und Recht zu finden. Zwar spielen die biologische Vaterschaft und die tatsächliche Zeugung im Vaterschaftsrecht eine (untergeordnete) Rolle. Sie sind aber weder notwendige noch hinreichende Voraussetzungen für die entsprechenden Rechte. Insbesondere steht die biologische Vaterschaft in keinem direkten Bezug zur rechtlichen Vaterschaft. Vielmehr handelt es sich, wie unter anderem § 1686a BGB zeigt, um gegensätzliche Begriffe.
3.3 § 502 Enzyklopädie als Konzentrat der Stärken und Defizite des Rechts Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, dass Hegel zwar keinen Dualismus von Recht und Natur zulässt, außerrechtliche Faktoren aber gleichwohl eine wichtige Rolle für Hegels Rechtsbegriff spielen. Gleichwohl lässt sich eine Höhergewichtung des Rechts vor der Natur ausmachen. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der systematischen Stellung des Rechts als Gestalt des Geistes. Der Geist wiederum lässt sich von seiner letzten Ausgestaltung her, dem absoluten Geist, als der Natur überlegen verstehen. Denn Hegel 429
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Siehe Nachweise bei Staudinger/Rauscher, § 1686a Rn. 3.
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§ 502 Enzyklopädie als Konzentrat der Stärken und Defizite des Rechts
denkt den absoluten Geist als den »an und für sich seiende[n] Geist der Natur und des Geistes 430«. Das bedeutet, dass die Einheit von Geist und Natur selbst Geist ist. Aus dieser Dialektik ergibt sich sodann nicht nur, dass der Geist der Natur übergeordnet oder ontologisch vor- oder höherrangig ist, sondern vor allem, dass diese Dialektik im Ausgang von Hegel nicht als Kombination starrer Faktoren (zum Beispiel Substanz und Kontingenz) denkbar ist 431. Auch lässt die vorstehende Analyse keinen Schluss darauf zu, dass Hegels Rechtsbegriff in sich geschlossen und perfekt ist. Er hat zwar im folgenden dritten Teil dieser Arbeit noch näher zu konkretisierende Vorteile gegenüber den Rechtsbegriffen der naturrechtlichen und rechtspositivistischen Tradition. Dennoch ist er auch defizitär. Einen ganz offensichtlichen Hinweis auf diese Defizität gibt schon Hegels Systematik der Philosophie des Geistes: Auf das abstrakte Recht folgen zwei weitere Gestalten des objektiven Geistes (Moralität und Sittlichkeit), auf den objektiven Geist folgt der absolute Geist. Hegel thematisiert zudem diese Unvollkommenheit des Rechts in der Enzyklopädie im Übergangsparagraphen 502 zur Moralität. Im Haupttext des § 502 schildert Hegel den begriffslogischen Übergang vom durch das Unrecht in sich entzweiten Recht zur Moralität. Die im abstrakten Recht erst im Unrecht begrifflich fassbare Subjektivität in ihrer Verschiedenheit von der Person schwingt sich nun auf zur Herrin des Verfahrens. In der Anmerkung zu § 502 geht Hegel ausdrücklich auf die Begriffe Naturzustand und Naturrecht ein. Zunächst unterscheidet er zwei noch heute in der rechtsphilosophischen Tradition gebräuchliche Redeweisen von der Natur, nämlich die Redeweise von der Natur der Sache von derjenigen, die ein Vorhandensein »in unmittelbarer Naturweise« 432 bedeutet. Die letztgenannte Rede von der Geltung des Rechts in unmittelbarer Naturweise macht er sodann verantwortlich für die kontraktualistische Lehre. Der Kontraktualismus beurteile das Verhältnis von Natur und Recht genau falsch herum: Ein Naturzustand sei aus dem falschen der beiden Begriffe der Natur »erdichtet
430 431 432
Enz. 1830 § 565 (TWA10, 374; GW20, 551). Hutter 2015, 203. Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488); siehe auch oben 2.2.1.3.
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worden« 433. Das Recht gründe sich nicht auf Naturbestimmungen, sondern, im Gegenteil, »auf die freie Persönlichkeit, eine Selbstbestimmung« 434. Dem liegt ein gänzlich anderes Freiheitsverständnis zugrunde als dem kontraktualistischen Denken: Gesellschaft und Staat sind nach Hegels Rechtsdenken Ausfluss freier Selbstbestimmung und nicht künstliche Institutionen, die die natürliche individuelle Freiheit einschränken. In diesem Freiheitsverständnis entstandene Institutionen sind keine Institutionen der »Gewalttätigkeit und des Unrechts«, wie sie der Naturzustand hervorbringen würde, sondern »der Zustand, in welchem allein das Recht seine Wirklichkeit hat« 435. Eine besondere Beachtung verdient an dieser Stelle die systematische Stellung dieser Ausführungen. Warum unternimmt Hegel einen Exkurs 436 zu den Begriffen des Naturrechts und des Naturzustands gerade im Übergangsparagraphen zur Moralität, also am Ende des abstrakten Rechts? Zu erwarten wären diese Einlassungen eher zu Beginn des abstrakten Rechts. Für diese auf den ersten Blick überraschende systematische Stellung gibt es mehrere Erklärungen. Zum einen lässt, wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit analysiert, Hegels Systematik einer Philosophie des Geistes von Beginn an die Möglichkeit eines kontraktualistischen Übergangs von einem Naturzustand in einen Rechtszustand nicht zu. Es gibt mithin für Hegel keinen Grund, zu Beginn des abstrakten Rechts die Möglichkeit einer kontraktualistischen Rechtsbegründung zu diskutieren. Diese Möglichkeit besteht nach seinem Rechtsdenken schlichtweg nicht. Warum aber diskutiert Hegel die Begriffe Naturrecht und Naturzustand gerade im Übergangskapitel zur Moralität? Dies erklärt sich aus einem Zusammenspiel eines Charakteristikums der Moralität 437 mit einem Defizit des Rechts. Hegel führt die Moralität ein als aus der Willensentzweiung des Unrechts hervorgehender Anspruch der Subjektivität, »die Macht über das
Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488). Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 311; GW20, 488). 435 Beide Enz. 1830 § 502 A (TWA10, 312; GW20, 488). 436 Zudem handelt es sich um eine der wenigen Stellen, an denen Naturrecht und Naturzustand ausdrücklich erwähnt werden. 437 Eine umfassende Analyse der Moralität ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. An dieser Stelle geht es nur um das Übergangsmoment und seinen Zusammenhang zu Naturrecht und Naturzustand. 433 434
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§ 502 Enzyklopädie als Konzentrat der Stärken und Defizite des Rechts
Recht zu sein« 438. Denn das Individuum als Person aufzufassen und ihm die begrenzten Verwirklichungsmodi des abstrakten Rechts zuzuschreiben, ist, wie der oben 3.1.4 diskutierte Zusatz zu § 35 der Grundlinien es besonders anschaulich ausdrückt, nicht nur das »Höchste«, sondern auch etwas »Verächtliches«. Gegen diese Zumutung, Person sein müssen, begehrt das Subjekt der Moralität auf und macht sich frei von den Bestimmungen des abstrakten Rechts. Dieser überzogene Anspruch des Subjekts, das »nur dasjenige als das seinige anerkennt und sich zurechnen läßt, was e(s) davon in sich selbst gewußt und gewollt hat 439«, sagt auf der einen Seite etwas aus über die Moralität – ihm kann man eine Kritik der Moralität 440 anschließen. Er sagt aber auch etwas aus über das Recht. Wäre das Recht in sich geschlossen und perfekt, würde es das Subjekt befriedigende Verwirklichungsmodi der Freiheit bereitstellen, gäbe es keinen Anknüpfungspunkt für diesen Anspruch der Moralität. Im folgenden dritten Teil der vorliegenden Arbeit sollen nun Stärken, aber auch Defizite des Hegel’schen Rechtsbegriffs gegenübergestellt werden. Hierbei spielt das Übergangsmoment des § 502 der Enzyklopädie eine tragende Rolle.
438 439 440
Enz. 1830 § 502 (TWA10, 311; GW20, 488). Enz. 1830 § 503 (TWA10, 312; GW20, 489). Wood 2005; mit Bezug auf Kant: Ritter 1969.
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Dritter Teil: Stärken und Defizite des Rechtsbegriffs
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4 Stärken und Defizite des Rechtsbegriffs
Zum Abschluss der vorliegenden Arbeit soll nun ausgehend von den in den ersten beiden Teilen vorgenommenen Analysen ein zusammenfassender Blick auf den sich hieraus ergebenden Rechtsbegriff geworfen werden. Hegels Begriff des Rechts als Gestalt des Geistes hat Stärken gegenüber traditionellen Rechtsbegriffen (4.1). Gegenüber dem traditionellen Rechtsbegriff des Kontraktualismus zeichnet sich Hegels Rechtsbegriff durch zwei maßgebliche Stärken aus. Für ihn stellt sich das Stabilitätsproblem nicht in der Weise, wie es sich vor allem für einen kontraktualistischen Rechtsbegriff im Gefolge Hobbes’ stellt (4.1.1). Außerdem stellt sich für Hegels Rechtsbegriff das Melancholieproblem nicht in gleicher Weise, wie es sich vor allem für einen Rechtsbegriff im Gefolge Rousseaus stellt (4.1.2). Eine dritte Stärke des Hegel’schen Rechtsbegriffs besteht darin, dass er die vereinheitlichende Funktion des Rechts begreifbar macht (4.1.3). Dies geschieht bei Hegel nicht wie etwa bei Hobbes durch die Einsetzung einer autoritären Herrschaftsinstanz, sondern durch die Entfaltung eines an die Daseinsmodi der rechtlichen Person geknüpften, in diesem Sinne begrenzten Rechtsbegriffs. Gegenüber einem rechtspositivistischen Rechtsbegriff zeichnet sich Hegels Rechtsbegriff dadurch aus, dass er ein Minimum an inhaltlicher Verfasstheit aufweist. Offenbar ist Hegels Rechtsbegriff aber auch defizitär in dem Sinne, dass das Recht nicht Endpunkt der Entwicklung des Geistes ist (4.2). Das Recht kann nämlich in seiner personalen Abstraktheit dem Individuum kein Sinnangebot machen und bildet so ein Einfallstor für den Selbstverwirklichungsanspruch der Subjektivität. Dass Hegels Das Recht und seine Voraussetzungen
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Rechtsbegriff ein solches Sinnangebot nicht leisten kann (und auch nicht will, hierzu Punkt 4.3), lässt sich an zwei Punkten festmachen. Einmal bietet Hegels Rechtsbegriff im Unterschied zur kontraktualistischen Tradition keine Ursprungserzählung an (4.2.1). Außerdem ist Hegels Rechtsbegriff im weiteren Sinne heteronom (4.2.2). Zuletzt (4.3) soll sodann das genuin rechtsphilosophische Thema der Suche nach einem dritten Weg jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus, wie es in der Einleitung angesprochen wurde, wieder aufgegriffen und mit den hier entwickelten Gedanken zum Hegel’schen Rechtsbegriff in Einklang gebracht werden. Dabei wird sich erweisen, dass Hegel, indem sein Rechtsbegriff eindeutige Stärken hat, aber gerade auch, indem er klar herausarbeitet, wofür das Recht nicht zuständig ist, einen im Vergleich zur rechtsphilosophischen Tradition (also sowohl Naturrecht als auch Rechtspositivismus) insgesamt starken Rechtsbegriff vertritt.
4.1 Stärken des Hegel’schen Rechtsbegriffs Im Folgenden werden drei Stärken des Hegel’schen Rechtsbegriffs herausgearbeitet. Erstens vermeidet Hegel, indem sein Rechtszustand nicht aus einem Naturzustand hervorgeht, das Stabilitätsproblem des klassischen Kontraktualismus, das besonders deutlich bei Hobbes zu Tage tritt (4.1.1). Dieses Problem besteht darin, dass die Rechtfertigung des Staates unter den Prämissen des Kontraktualismus am seidenen Faden natürlicher Bedürfnisse des Menschen hängt, im Falle von Hobbes am Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit. Damit ist nicht gesagt, dass diese Bedürfnisse für einen Rechtsbegriff keine Rolle spielen oder keine Rolle spielen sollten. Ein Rechtsbegriff, der seine Legitimität nicht auf dieses Bedürfnis zurückführt, ist jedoch der überlegene, weil stabilere Rechtsbegriff. Zweitens vermeidet Hegel das Melancholieproblem des klassischen Kontraktualismus, das besonders deutlich bei Rousseau zu Tage tritt (4.1.2). Dieses besteht darin, dass vor dem Hintergrund eines Dualismus zwischen Natur- und Rechtszustand das Recht als lediglich zweitbeste Lösung erscheint. Sofern dem Rechtszustand ein wünschenswerter natürlicher Zustand vorgestellt wird, in den – aus welchen Gründen auch immer – nicht zurückgekehrt werden kann, 192
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obwohl dies eigentlich erstrebenswert wäre, schwächt dies den Rechtsbegriff. In Hegels Philosophie des Geistes gibt es auf der Stufe des Rechts 441 keine natürliche Alternative zum Rechtszustand, sodass eine der Rousseau’schen Analyse des menschlichen Zusammenlebens vergleichbare Melancholie gar nicht erst aufkommen kann. Drittens macht Hegel die vereinheitlichende Funktion des Rechts durchsichtig (4.1.3). Das Recht kann zwar nur eine abstrakte Einheit bieten, die nur begrenzte Verwirklichungsweisen für Individualität umfasst (hierzu sogleich unter 4.2). Es kann aber eine Einheit anbieten, die durch den Rechtsbegriff der Person materiell verfasst ist und nicht auf Kontingenz beruht. Die erstgenannte Eigenschaft (materieller Gehalt) grenzt Hegels Rechtsbegriff vom klassischen Rechtspositivismus eines Kelsen ab, die zweitgenannte (kein Beruhen auf Kontingenz) grenzt ihn vom klassischen Naturrecht ab. Diese vereinheitlichende Funktion hängt mit dem Stabilitätsproblem insofern zusammen, als eine materiell verfasste Einheit ebenfalls ein Garant für Stabilität ist. Diese Stabilität durch Vereinheitlichung ist im Hegel’schen Rechtsbegriff besonders stark ausgeprägt, weil sie nicht auf ein kontingentes natürliches Bedürfnis rekurriert (siehe 4.1.1) und weil sie auch im Unterschied zu Hobbes, der – ist der Staat einmal errichtet – einen Rechtspositivismus vertritt 442, materiell konstituiert, aber auch begrenzt ist.
4.1.1 Stabilität Es gilt nun zunächst das Stabilitätsproblem des klassischen Kontraktualismus zu benennen (4.1.1.1). Hierbei soll keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Kontraktualismus in all seinen (philosophie-)geschichtlichen Ausformungen erfolgen. Vielmehr soll ein Problem benannt werden, das unter den kontraktualistischen Prämissen einer Trennung von Natur und Recht entsteht. Als Gewährsmann für dieses Stabilitäts-Problem soll Thomas Hobbes fungieren, weil sich dieses Problem in seiner
441 Damit ist nicht gesagt, dass sich beispielsweise eine Ursprungserzählung nicht an anderer Stelle finden kann, siehe unten 4.2.1.1.3. 442 Siehe das 18. Kapitel des Leviathan (Hobbes 1651/1966, 159 ff., insb. 165) sowie das berühmte Zitat »auctoritas non veritas facit legem« aus dem 26. Kapitel (Kapitelüberschrift im Original: »Of civil laws«) des Leviathan.
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Staatsphilosophie am deutlichsten zeigt. Damit ist weder gesagt, dass dieses Problem nur bei Hobbes auftritt, noch soll Hobbes mit »dem Kontraktualismus« gleichgesetzt werden. Es soll dementsprechend auch keine umfassende Auseinandersetzung mit Hobbes erfolgen. Vielmehr soll spezifisch auf einen neuralgischen Punkt seines Rechtsbegriffs aufmerksam gemacht werden, der aus der Prämisse der kontraktualistischen Denkfigur 443 – der strikten Trennung von Natur und Recht – folgt und bei Hobbes besonders plastisch zu Tage tritt. Sodann soll dargestellt werden, warum sich dieses Problem für Hegels Rechtsbegriff nicht in der gleichen Weise stellt (4.1.1.2). 4.1.1.1 Das Stabilitätsproblem am Beispiel von Hobbes Wie bereits im ersten Teil der vorliegenden Arbeit geschildert, stellt sich für einen klassischen kontraktualistischen Rechtsbegriff im Hobbes’schen Gefolge das Stabilitätsproblem. Dieses Problem bezeichnet eine Schwäche eines aus einem Dualismus von Natur- und Rechtszustand hergeleiteten Rechtsbegriffs. Sie besteht darin, dass auch nach erfolgtem Übergang von Natur- in den Rechtszustand die Natur das Recht legitimiert 444. Am Beispiel Hobbes wird das besonders deutlich: Zweck des Vertragsschlusses und Begründung dafür, dass es für jeden einzelnen in egoistischer Perspektive vernünftig ist, dem Gesellschaftsvertrag zuzustimmen und die natürliche Freiheit aufzugeben, ist die Funktion des Staates, für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Diese Aufgabe des Rechts begründet sich in einem natürlichen Bedürfnis des Menschen nach Frieden und Sicherheit, das wiederum von Hobbes im Kontext eines kriegerischen Naturzustandes benannt wird. Mit Abschluss des Gesellschaftsvertrags verschwindet dieses Bedürfnis sodann nicht, sondern bliebt Geschäftsgrundlage des Vertrags und damit auch des sich aus diesem Vertrag legitimierenden Rechts und Staates. Entsprechend ist am Beispiel von Hobbes der Leviathan selbst nach absolutistischer Lesart zu einem nicht berechSiehe die Skizze dieser Denkfigur oben 2.2.1. In Hobbes’ Konstruktion bleiben sowohl die natürlichen Bedürfnisse des Menschen als auch die laws of nature im Rechtszustand bestehen (letztere aber ohne echte Bindungswirkung, siehe Hobbes 1651/1966, 159 – Beginn des 18. Kapitels des Leviathan); Das Bedürfnis nach Selbsterhaltung bindet auch den Leviathan, weshalb Hobbes das »Widerstandsrecht« des Einzelnen unter Rückgriff auf den Naturzustand begründet. So heißt es im 21. Kapitel einleitend zum »Widerstandsrecht«: »I have shewn before in the 14th chapter, that covenants, not to defend a man’s own body, are void.« (Hobbes 1651/1966, 204). 443 444
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tigt: von dem Einzelnen zu verlangen, dass er sich töten lässt 445. Der Staat darf zwar töten, nicht aber verlangen, dass diese Tötung auch geduldet wird. Das liegt daran, dass der Staat, der als Friedens- und Sicherheitsgeber legitimiert ist, in dem Moment, in dem er seinen Untertan töten will, diese Funktion nicht mehr erfüllt und somit diesem gegenüber nicht mehr legitimiert ist. Davon zu trennen ist die Frage, ob eine Tötung aus gesellschaftlicher Perspektive legitimiert ist – hier kann ohne Weiteres das Kriterium der Friedenssicherung erfüllt sein. Entscheidend für die hier diskutierte Frage ist: Dieses Beispiel macht die Fragilität des kontraktualistischen Rechtsbegriffs durchsichtig 446. Das Recht kann seine Legitimität Einzelnen gegenüber verlieren. Auch kann es seine Legitimität insgesamt verlieren – nämlich dann, wenn es die friedenssichernde Funktion insgesamt nicht mehr erfüllen kann 447. Außerdem hält der kontraktualistische Rechtsbegriff, auch zur Absicherung des eigenen Legitimitätsanspruchs, eine Ursprungserzählung bereit. Es geht bei einer Ursprungserzählung maßgeblich auch um die Rechtfertigung einer Instanz, die die menschliche Natur in rational nachvollziehbarer Weise zügelt 448. Die Erzählung vom Naturzustand kann in dieser Hinsicht als ständig verfügbare Rückversicherungsmöglichkeit gesehen werden, warum das Individuum diesem vielleicht in Einzelfällen irrational, brutal und rücksichtslos erscheinenden Staat und seinen Gesetzen unterworfen ist. Die kontraktualistische Antwort auf derlei Rückfragen lautet: Es liegt im Interesse eines jeden einzelnen Individuums, dieser Macht unterworfen zu sein und der jetzige, staatliche Zustand ist, auch wenn er im Einzelfall irrational, brutal und rücksichtslos erscheinen mag, eine kleinere Bedrohung für die Selbsterhaltung des Einzelnen und den FrieHobbes 1651/1966, 204. Was nicht bedeuten soll, dass ein Widerstandsrecht per se für einen schwachen Rechtsbegriff spricht: Es kommt maßgeblich die Begründung des Widerstandsrechts an. 447 Damit zusammenhängend kann die Frage gestellt werden, ob einem in diesem Sinne schwachen Rechtsbegriff ein umso stärkerer Staat im tatsächlichen Sinne einer Staatsräson oder gar ein absolutistischer Staat gegenüberstehen müsse. Diese Frage sprengt den Rahmen der vorliegenden Arbeit. Die Heterogenität der Rechts- und Staatsbegriffe, die verschiedene Denker wie Hobbes, Locke oder neuere Vertreter wie Rawls oder Buchanan mit der Idee des Gesellschaftsvertrags verbinden, lässt eine solche Verknüpfung jedoch auf den ersten Blick fraglich erscheinen. 448 Zu den Funktionen einer Ursprungserzählung siehe oben 2.2.1.2. 445 446
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den der Gemeinschaft als sein Gegenentwurf, der Naturzustand. Diese der Staatsräson zuzuordnende Funktion der Ursprungserzählung 449 ist die Kehrseite zu der Schwäche des naturalistischen Rechtsbegriffs des Kontraktualismus. 4.1.1.2 Hegels Vermeidung des Stabilitätsproblems Für Hegels Rechtsbegriff stellt sich dieses Stabilitätsproblem nicht. Denn das Stabilitätsproblem beruht maßgeblich auf Prämissen des Kontraktualismus, die Hegels Rechtsbegriff nicht teilt. Da diese Gegenstand des ersten Teils der vorliegenden Arbeit sind (siehe vor allem Punkt 2.4), sollen sie im Folgenden nur kurz in Erinnerung gerufen und in ihrem Zusammenhang mit dem Stabilitätsproblem benannt werden (hierzu auch schon Punkt 2.5). Das Stabilitätsproblem ist in seinem Kern Folge zweier Prämissen des Kontraktualismus: Des Dualismus natürlicher und rechtlicher Freiheit sowie des vom Individuum ausgehenden rechtfertigungstheoretischen Prozeduralismus. Vor dem Hintergrund eines dualistischen Freiheitskonzepts sind das Recht und mit ihm Gemeinschaft und Staat immer auch Gegenspieler einer natürlichen individuellen Freiheit. Auch wenn diese aus guten Gründen aufgegeben wird, bleibt sie dem in den Rechtszustand eingetretenen Individuum als Faustpfand erhalten. Das Recht ist nur dann legitimiert, wenn die Voraussetzungen, aufgrund derer es für das einzelne Individuum vernünftig ist, seine natürliche Freiheit aufzugeben, erfüllt sind. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist es vernünftig für das einzelne Individuum, zu seiner natürlichen Freiheit zurückzukehren 450. Ein Begriff rechtlicher Freiheit, dem ständig ein Begriff natürlicher Freiheit gegenübersteht, ist ein schwacher Freiheitsbegriff. Das Recht kann somit bestenfalls einen schwachen Freiheitsbegriff für sich in Anspruch nehmen, schlimmstenfalls erscheint es gar als freiheitseinschränkender Gegenspieler der (natürlichen) Freiheit. Hegel lehnt dieses dualistische Freiheitskonzept ab. Sowohl im objektiven Geist der Enzyklopädie als auch in den Grundlinien geht es von 449 Daneben kommt einer Ursprungserzählung auch ein positiver Aspekt zu, nämlich der der Sinngebung für das Individuum; deren Fehlen kann auf einen ersten Blick als Defizit des Hegelschen Rechtsbegriffs angesehen werden, hierzu gleich 4.2.1. 450 Dieses Problem ist zentral bei Rousseau, hierzu sogleich unter 4.1.2.
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Anfang an um (die eine) Freiheit. Der Eingangsparagraph der Enzyklopädie zum objektiven Geist hat den »freie[n] Wille[n]« und »die Freiheit« als »seine innere Bestimmung und Zweck« 451 zum Gegenstand. Das Recht ist von Beginn an das »Dasein des freien Willens« 452, die Einteilung des objektiven Geistes stellt sich als Ausdifferenzierung von Verwirklichungsmodi des freien Willens dar 453. Die vergleichbare Weichenstellung der Grundlinien findet sich in § 4, in dem Hegel den freien Willen als »Ausgangspunkt« des Rechts und die Freiheit als »seine Substanz und Bestimmung« einführt 454. Dem Recht ist also kein nachgeordneter, zweiter Freiheitsbegriff zugeordnet, sondern das Recht ist von Anfang an eine Ausdrucksform der Freiheit. Diese Freiheit ist sodann weder eine natürliche Freiheit im kontraktualistischen Sinn noch eine zweite, rechtliche, dieser natürlichen Freiheit entgegengesetzte Freiheit. Bei Hegel gibt es nur den einen Freiheitbegriff, der Voraussetzung sowohl von Phänomenen rechtlicher und gesellschaftlicher als auch vermeintlich natürlicher und individueller Freiheit ist. Den eng gefassten Verwirklichungsmodi des abstrakten Rechts (Eigentümer, Vertragspartner) steht bei Hegel keine natürliche Freiheit gegenüber – das wäre auch insofern unsinnig, als eine grenzenlose natürliche Freiheit gegenüber dem durchaus mageren Verwirklichungs-Programm des abstrakten Rechts aus individueller Perspektive stets vorzuziehen wäre. Es würde also gar nicht zu einem Zustand der Gemeinschaft kommen. Zweitens ist in Hegels Philosophie des Geistes die rechtfertigungsprozeduralistische Entscheidungssituation isolierter Individuen gar nicht vorstellbar. Derlei Gegenüberstellungen von unvermittelt Einzelnem sind bei Hegel systemfremd. Hegel zeigt an mehreren Stellen seines Werkes, dass selbst in den vermeintlich einfachsten und primitivsten Zuständen bereits normative Vermittlungen bestehen. Das zeigt zum Beispiel ein Blick auf das Kapitel über sinnliche Gewissheit der Phänomenologie, in dem Hegel zeigt, dass selbst vermeintlich unmittelbarer Bezug zu natürlichen Gegenständen bereits normativ vermittelt ist. 451 452 453 454
Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 483). Enz. 1830 § 486 (TWA10, 304; GW20, 479). Enz. 1830 § 487 (TWA10, 306; GW20, 481). Beide Zitate Grundlinien § 4 (TWA7, 46; GW14/1, 31).
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Auch die primitiven Formen von Intersubjektivität des abstrakten Rechts, in denen sich Individuen auf denkbar einfacher Stufe gegenübertreten, sind bereits normativ vermittelt. Eine Situation, aus der heraus ein isoliertes Individuum eine egoistisch rationale Entscheidung trifft, ist in Hegels System nicht möglich. Sein Rechtszustand ist von Anfang an ein Zustand der Gemeinschaft, der seine Stabilität nicht gegenüber dem isoliert vorgestellten einzelnen Individuum rechtfertigen muss.
4.1.2 Keine Melancholie Neben dem Stabilitätsproblem des klassischen Kontraktualismus vermeidet Hegel ebenfalls das Melancholieproblem, wie es vor allem bei Rousseau zu finden ist. Der Aufbau der Untersuchung des Melancholieproblems erfolgt in gleicher Weise wie zuvor die Untersuchung des Stabilitätsproblems. Es gilt also zunächst das Melancholieproblem des klassischen Kontraktualismus zu benennen (4.1.2.1). Auch hierbei soll keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Kontraktualismus in all seinen Ausformungen erfolgen. Vielmehr soll ein Problem benannt werden, das unter den kontraktualistischen Prämissen einer dualistischen Trennung von Natur und Recht entsteht. Als Gewährsmann für dieses Melancholieproblem soll JeanJacques Rousseau fungieren, weil sich dieses Problem in seiner Philosophie am deutlichsten zeigt. Auch hier soll keine umfassende Auseinandersetzung mit Rousseau erfolgen, vielmehr soll spezifisch auf einen Schwachpunkt seines Rechtsbegriffs aufmerksam gemacht werden, der wiederum stellvertretend für kontraktualistische Rechtsbegriffe allgemein fungiert. Sodann soll dargestellt werden, warum sich dieses Problem für Hegels Rechtsbegriff nicht in der gleichen Weise stellt (4.1.2.2). Hegels Rechtsbegriff ist somit der in dieser Hinsicht überlegene Rechtsbegriff. 4.1.2.1 Das Melancholie-Problem am Beispiel von Rousseau Das zuvor erläuterte Stabilitätsproblem des Kontraktualismus steht in Zusammenhang mit einem verwandten Problem, das in der vorliegenden Arbeit als Melancholieproblem bezeichnet wird. Das Stabili198
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Stärken des Hegel’schen Rechtsbegriffs
tätsproblem entfaltet sich, wenn der Dualismus Natur und Recht von Seiten der Legitimität des Rechts her durchdacht wird. Diese Seite entspricht dem Voraussetzungs-Teil des in der Einleitung der vorliegenden Arbeit skizzierten Böckenförde-Diktums. Er lässt sich aber ebenso von Seiten des Individuums her denken, indem die Frage gestellt wird, welche individuelle Einstellung zum Recht ein aus diesem Dualismus heraus begründetes Recht hervorruft. Diese Seite entspricht dem Wagnis-Teil des Böckenförde-Diktums. Der moderne Mensch findet sich in einer vielfach vorstrukturierten Welt vor, hinter deren Voraussetzungen er zeitlebens nicht zurücktreten kann. Auf diese Strukturiertheit, die mitunter als Zivilisation verstanden wird, reagieren einige Denker der Moderne mit einer melancholischen Einstellung. Der Mensch findet sich nach einer derartigen Darstellung in ihn entfremdenden Zuständen vor, aus denen er, sei es wegen seiner Natur, seiner Sprachgebundenheit, seiner personellen Verfassung oder aus pragmatischen Gründen, nicht entkommen kann. Gewährsmann für die eben skizzierte Melancholie ist Rousseau 455. Er zeichnet in seinem Diskurs über die Ungleichheit das Bild des Wilden, der nicht den Zwängen der Zivilisation unterworfen ist 456. Die Erinnerung an diesen Zustand ist dem Menschen eingeschrieben, er kann aber nicht zu ihm zurück 457. Dies ist die Melancholie des zivilisierten Menschen. Da kein Zurück möglich ist und kein Eremitendasein innerhalb des Gegebenen, tritt Rousseau mit seinem Gesellschaftsvertrag die Flucht nach vorn an. Der Mensch soll zum Bürger werden, alle Reste seiner Natürlichkeit abstreifen und dafür volle politische Freiheit erlangen. Aber auch diese Transformation kommt nicht ohne die dualistische Struktur des Kontraktualismus aus. Die Normativität der politischen Existenz wird als zweitbester, aber einzig möglicher Gang der Dinge beschrieben. Und sie scheint die Melancholie nicht vollends überwinden zu können. Die politische Freiheit des bürgerlichen Zustands lässt sich in ihrer Abscheidung 455 Vorliegend soll es nur um diesen einen Aspekt der Rousseau’schen Theorie vom Gesellschaftsvertrag, nicht um eine umfassende Kritik Rousseaus gehen, zu Hegels Kritik an Rousseau generell siehe Pawlik 1999. 456 Rousseau 1755/2008. 457 Exemplarisch hierfür sein berühmter Ausspruch im Ersten Buch, Erstes Kapitel des Gesellschaftsvertrages: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.«, Rousseau 1762/1977, 5.
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von der natürlichen Freiheit des Naturzustandes erklären, die Personalität des Bürgers im Unterschied zur Personalität des freien Wilden. Die Ursprungserzählung erfüllt auch bei Rousseau die stabilisierende Rolle, dem Aufbegehren der Natürlichkeit entgegengehalten werden zu können. Dieser Zug findet Entsprechung nicht nur auf Ebene der Freiheitsbegriffe, sondern auch auf Ebene des Personbegriffs. Solange der ursprüngliche Subjektbegriff der Person neben einem normativierenden Rechtsbegriff der Person steht, wird eine Rousseau’sche Melancholie stets aufkommen. Wie dem Streben nach natürlicher Freiheit ist dem Subjektbegriff der Person die Sehnsucht nach einer für sich konstruier- und verstehbaren Ganzheit in einer Welt äußerer Zwänge und Vorgaben eingeschrieben. Auch die totalitäre Tendenz des Rousseau’schen Rechtsbegriffs lässt sich im Zusammenhang mit dem Melancholieproblem erklären. Ihr Hauptgrund liegt zwar in der Radikalität seines bürgerlichen Freiheitsbegriffs, die sich wiederum ebenfalls aus den Prämissen eines Dualismus von Natur- und Rechtszustand speist. Denn Äquivalent zu einer grenzenlosen natürlichen Freiheit kann in der Rousseau’schen Erzählung nur ein vergleichbar radikaler Begriff bürgerlicher Freiheit sein. Aber auch das Melancholieproblem trägt zu der Radikalisierungstendenz des Rousseau’schen Rechtsbegriffs bei. Rousseau verknüpft seinen Rechtsbegriff mit dem Allgemeinwillen. Dieser kann dem abweichenden Individuum entgegengehalten werden. Abweichungstendenzen wiederum können sich in der Melancholie eines vorgestellten besseren (Natur-)Zustands begründen. Sich auf Vorstellungen von Natürlichkeit berufenden Abweichlern muss also ein starkes bürgerliches Gegengewicht entgegengesetzt werden. 4.1.2.2 Hegels Vermeidung des Melancholieproblems Hegels Begriff des Rechts als Gestalt des Geistes umgeht diese Melancholie, weil Hegels Rechtsbegriff keinen dualistischen Freiheitsbegriff und, damit zusammenhängend, keinen rechtswirksam fassbaren Dualismus Mensch-Bürger zulässt. Freiheit wird, wie zuvor im Kontext des Stabilitätsproblems diskutiert, nicht aus natürlicher Freiheit hergeleitet. Der Freiheit des Rechtsbegriffs steht somit keine (vorzugswürdige, aber unerreichbare) natürliche Freiheit gegenüber. Ebenso steht der rechtlichen Person im Recht kein natürliches 200
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Individuum gegenüber 458. Rousseaus Vorgehen lässt sich diesbezüglich in vereinfachender Weise aus Hegels Sicht folgendermaßen deuten: Rousseaus Idealbild ist die Vorstellung der Person als unmittelbar-natürlicher Mensch. Der Rousseau’sche Bürger ist zwar eine durchweg in einer Semantik der Normativität beschreibbare Person, deren Freiheit sich positiv definiert, mithin eine Rechtsperson. Dieser Person ist aber ihr unerreichbares Gegenüber des natürlich freien und glücklichen Menschen eingeschrieben. Allerdings steht Hegels Begriff der Rechtsperson mit Blick auf seine gesamte Philosophie des objektiven Geistes sehr wohl ein Begriff gegenüber: Das Subjekt der Moralität. Dessen Einfall in das Recht, lässt sich, wie sogleich in 4.2 zu zeigen sein wird, mit einem Defizit von Hegels abstraktem Recht erklären. Aber selbst unter diesem weiten Blick auf ein der Rechtsperson gegenüberstehendes Subjekt ist keine Melancholie im Rousseau’schen Sinne gegeben. Denn Person und Subjekt in Hegels Geist-Philosophie sind zwei Momente einer Entwicklung des Geistes, der insgesamt kein vergleichbarer Bruch wie der vom natürlichen zum rechtlichen Individuum eingeschrieben ist. Das bedeutet: Die Rechtsperson Hegels ist kein Garant für Sinn oder Glück (hierzu sogleich) und in diesem Sinne zumindest vermeintlich defizitär. Ihr steht aber auch keine (unerreichbare) Alternative getrennt gegenüber, die man zumindest theoretisch statt ihrer wählen könnte. Sie ist lediglich Teil einer Entwicklung des Geistes, in der an einer bestimmten, vorübergehenden Stelle (in der Gestalt der Moralität) der Gegenbegriff des Subjekts an ihre Stelle tritt. Insbesondere fehlt Hegels Darstellung der Bewegung des Geistes also der resignative Zug Rousseaus, der den Gesellschaftsvertrag als Flucht nach vorn und zweitbeste, aber einzig mögliche Lösung erscheinen lässt. Hegels Rechtsbegriff bietet insofern kein Einfallstor für die Rousseau’sche Melancholie.
4.1.3 Einheit des Rechts Die dritte Stärke des Hegel’schen Rechtbegriffs besteht darin, die vereinheitlichende Funktion des Rechts durchsichtig zu machen. Das 458 Gleichwohl sind der Person bei Hegel als einer ihrer Momente auch natürliche Partikularitäten des Individuums eingeschrieben, siehe oben 3.1.4.
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Recht kann zwar nur eine abstrakte Einheit bieten, die nur begrenzte Verwirklichungsweisen für Individualität umfasst (hierzu sogleich unter 4.2). Es kann aber eine Einheit anbieten, die durch den Begriff der Person materiell verfasst ist und nicht auf Kontingenz beruht. In puncto Stabilitäts- und Melancholieproblem grenzt sich Hegel in erster Linie vom klassischen kontraktualistischen Denken ab. An dieser Stelle nun, an der es um die Einheit des Rechts geht, zeigt Hegels Rechtsbegriff eine Stärke auch gegenüber rechtspositivistischen Rechtsbegriffen, die ebenfalls an einem Begriff der Einheit des Rechts orientiert sind. Zunächst einmal hat Hegels Begriff der Einheit des Rechts einen Vorteil gegenüber naturrechtlichen Rechtsbegriffen, indem er nicht auf Kontingenz beruht. Wie eben im Rahmen des Stabilitätsproblems geschildert, zeichnet sich die Stärke des Hegel’schen Rechtsbegriffs gegenüber der kontraktualistischen Tradition dadurch aus, dass die Legitimität des Rechts nicht auf natürlichen Bedürfnissen des Menschen beruht. Dies hat nicht nur die Vermeidung des Stabilitätsproblems zur Folge, sondern auch Auswirkungen auf einen Begriff der Einheit des Rechts. Denn ein auf natürlichen Bedürfnissen beruhender Rechtsbegriff ist offen für eine Veränderung dieser Bedürfnisse und damit auch für eine Veränderung seiner Legitimation. Dieses Problem ist einer der Hauptanknüpfungspunkte des Rechtspositivismus. Wie sich besonders deutlich in der rechtspositivistischen Tradition zeigt, hat ein Begriff der Einheit des Rechts zwei Seiten. Er legt auf der einen Seite fest, was Recht ist und welche Normen unter einen Rechtsbegriff fallen, er legt aber auf der anderen Seite ebenfalls fest, was nicht Recht ist und welche Normen nicht unter den Rechtsbegriff fallen. Diese zweite Seite ist die in vielen Spielarten des Rechtspositivismus betonte Seite. Mit der Trennungsthese 459 des Rechtspositivismus wird gerade das Moment der Trennung von Recht und Nicht-Recht betont. Diese Trennung kann Hegels Begriff des abstrakten Rechts leisten. Der Begriff der rechtlichen Person als Form der Freiheitsverwirklichung gibt nur eine begrenzte Anzahl von möglichen Inhalten vor. Hierdurch erhält sich ein enger, im Hegel’schen Sinne abstrakter, aber einheitlicher Rechtsbegriff. Hegels 459 Im Unterschied zur Neutralitätsthese betont die Trennungsthese diese zweite Seite.
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Begriff der Person ist, wie im Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit geschildert, der Garant dieser Einheit. In diesem Moment der Trennung ist Hegels Rechtsbegriff dem klassischen Rechtspositivismus im Sinne der Trennungsthese vergleichbar. Er unterscheidet sich aber vom klassischen Rechtspositivismus Kelsen’scher Prägung, indem Hegels Rechtsbegriff Inhalt vorgibt. Dieser Inhalt ist zwar begrenzt, aber der Rechtsbegriff ist hierdurch materiell verfasst. Wo Kelsens Bestreben dahin ging, die Einheit der Rechtsordnung durch präzise wissenschaftliche Klarheit eines isolierten Rechtsbegriffs herzustellen 460, verwirklicht Hegels Rechtsbegriff durch eine Kombination von Trennungsmoment und materieller Verfasstheit die Forderung nach Einheitlichkeit. Obwohl Hegel damit gegen die rechtspositivistische Neutralitätsthese verstößt 461, ist in diesem Sinne Hegels Begriff des abstrakten Rechts (nicht sein Begriff des abstrakten Rechts als Gestalt des objektiven Geistes und nicht sein Begriff des objektiven Geistes insgesamt) einem gemäßigten Rechtspositivismus eines H. L. A. Hart vergleichbar. Dieser implementiert seinem rechtspositivistischen Rechtsbegriff einige »truisms« als »minimum content of natural law« 462. Mit Hegels Rechtsbegriff werden sowohl das Trennungs- als auch das Inhaltsmoment eines Rechtsbegriffs durchsichtig. Indem er diese beiden Ebenen miteinander verknüpft, kombiniert Hegel den Aspekt der Trennung, der klassischerweise von einem rechtspositivistischen Rechtsbegriff geleistet wird, mit dem Aspekt der materiellen Verfasstheit, der klassischerweise von einem naturrechtlichen Rechtsbegriff geleistet wird. So erhält Hegel einen Begriff der Einheit des Rechts. Diese Einheit ist aber, wie bereits mehrfach erwähnt, eine abstrakte Einheit. Diese defizitäre Eigenschaft des Rechts bietet in Hegels Geist-Phi460 Kelsen 1960, 31 ff. Dreier 1990, 129 ff. zu Kelsens Stufenbau der Rechtsordnung und 43 zur Rolle der Grundnorm in Kelsens Programm eines Begriffs der Einheit der Rechtsordnung. 461 Dieser Verstoß ist eindeutig; schwieriger wird die Beurteilung eines »Verstoßes«, wenn man die maßgebliche rechtspositivistische These als Trennungsthese auffasst. Denn einerseits stellt Hegel ja gerade – ganz im rechtspositivistischen Sinne – das begriffliche Instrumentarium zu einer Trennung von Recht und Moral zur Verfügung. Andererseits stellt Hegel freilich Recht und Moral als Gestalten einer Einheit dar, was nicht konform geht mit der Trennungsthese. 462 Das sind namentlich: human vulnerability, approximate equality, limited altruism, limited resources, limited understanding and strength of will, siehe Hart 1994, 193 ff.
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losophie der Moralität ein Einfallstor. Hegel greift dieses Moment entsprechend in § 502 der Enzyklopädie auf. Im Folgenden sollen nun die Defizite des abstrakten Rechts herausgearbeitet und dann in einem letzten Schritt (4.3) mit den Stärken des Rechtsbegriffs verknüpft werden.
4.2 Defizite des Hegel’schen Rechtsbegriffs? Hegels Rechtsbegriff kann, wie bereits erörtert, keine individuelle Sinngebung leisten. Dies lässt sich anhand zweier (im ersten Fall: nur vermeintlicher) Defizite zeigen. Einmal bietet Hegels Rechtsbegriff im Unterschied zur kontraktualistischen Tradition keine Ursprungserzählung (4.2.1). Außerdem ist Hegels Rechtsbegriff in einem weiten Sinne heteronom (4.2.2).
4.2.1 Keine Ursprungserzählung Im Rahmen der Frage nach einem Hegels Denken impliziten Naturzustand wurde die Rolle der kontraktualistischen Rechtslegitimation als Ursprungserzählung bereits angesprochen. Ausgehend hiervon gilt es im Folgenden zwei Punkte zu untersuchen. Erstens stellt sich die Frage, ob Hegels Rechtsbegriff inhaltlich ohne Ursprungserzählung auskommt (4.2.1.1). Hier kann zum einen auf das Ergebnis des ersten Teils der vorliegenden Arbeit zurückgegriffen werden, in dem analysiert wurde, dass Hegels Rechtsbegriff gerade ohne eine kontraktualistische Erzählung vom Übergang eines Natur- in einen Rechtszustand auskommt. Es wird aber außerdem die Frage zu stellen sein, ob Hegels Begriff des Rechts als Gestalt des Geistes nicht selbst eine Ursprungserzählung ist und, falls ja, wie eine derartige Ursprungserzählung mit der des Kontraktualismus zu vergleichen ist. Zweitens stellt sich die in das letzte Kapitel der vorliegenden Arbeit überleitende Frage, inwiefern die Ermangelung einer Ursprungserzählung des Rechtsbegriffs überhaupt als Mangel zu begreifen ist (4.2.1.2). Hier wird die These entwickelt, dass das Fehlen einer Ursprungserzählung hinsichtlich personeller Sinngebung durchaus als Mangel begriffen werden kann, eine solche Ursprungserzählung ihren Platz aber nicht im Recht hat. Das Recht wird durch die Bürde, 204
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eine Ursprungserzählung leisten zu müssen, geschwächt. Ein Rechtsbegriff, der ohne eine Ursprungserzählung auskommt, ist somit der stärkere Rechtsbegriff. 4.2.1.1 Ursprungserzählung in oder durch Hegels Rechtsbegriff? Wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit gezeigt, kommt Hegels Rechtsbegriff, indem er einen nicht aus einem Naturzustand hervorgegangenen Rechtszustand begreift, ohne eine dem Rechtsbegriff inhärente kontraktualistische Ursprungserzählung aus. Dies ist kein Zufall, sondern elementarer Bestandteil seines Rechtsbegriffs. Hegels Philosophie des Rechts als Gestalt des Geistes kommt nämlich nicht nur systemintern ohne einen Naturzustand aus, sondern bedarf auch in rechtfertigungstheoretischer Hinsicht keiner Ursprungserzählung. Dies soll im Folgenden anhand dreier Züge des kontraktualistischen Denkens als Ursprungserzählung herausgestellt werden (4.2.1.1.1). Danach ist die Frage zu beantworten, ob die von Hegel dargestellte Entwicklung des Rechts als Gestalt des Geistes nicht auch eine (nicht kontraktualistische) Ursprungserzählung ist (4.2.1.1.2). Zuletzt lässt die hier vertretene These vom Fehlen einer Ursprungserzählung in Hegels Rechtsbegriff einen Blick auf den objektiven Geist zu (4.2.1.1.3). In der vorliegenden Arbeit soll nämlich nicht die Ansicht vertreten werden, dass Ursprungserzählungen in allen Bereichen von Hegels Geistphilosophie verdrängt werden sollen oder dass sie grundsätzlich überflüssig seien, sondern lediglich, dass es verfehlt ist, sie im Recht zu verorten. 4.2.1.1.1 Entbehrlichkeit einer kontraktualistischen Ursprungserzählung Hegels Rechtsbegriff lässt in rechtfertigungstheoretischer Hinsicht das Desiderat einer Ursprungserzählung gar nicht erst entstehen. Dafür lassen sich im Vergleich zur kontraktualistischen Tradition drei Gründe anführen. Erstens ist das Narrativ vom Ursprung als weiteres Argument für das durchexerzierte rechtfertigungstheoretische Verfahren des Kontraktualismus zu verstehen. Der ihm inhärente Dualismus fordert die Erzählung eines Übergangs. Zumindest im klassischen Kontraktualismus ist dieser Übergang zudem nicht schilderbar, wenn er nicht zumindest auch historisch verstehbar sein sollte. Selbst die Das Recht und seine Voraussetzungen
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Spielart des Kontraktualismus, die Naturzustand und Gesellschaftsvertrag als bloße Fiktionen auffasst, kommt offenbar nicht ohne Metaphern von Natur, natürlichem Zusammensein und dem faktischen Vertragsschluss von Individuen aus. Ohne diese mit der Ursprungserzählung verknüpften Elemente wäre das klassisch kontraktualistische Rechtfertigungsverfahren nicht durchführbar. An diesem Punkt ist die Unterscheidung zu Hegel banal. Seine in die Bewegung des Geistes als Ganzes eingewobene Schilderung der Bewegung des Rechts bedarf schlicht keines weiteren, mit einer kontraktualistischen Ursprungserzählung verknüpften Arguments. Der zweite Punkt betrifft die stabilisierende Funktion des kontraktualistischen Narrativs. Die Legitimation des Rechts, und somit auch von Staat und Zwang, nicht aus übergeordneten Prinzipien, sondern aus einer vermeintlich aus individuellen und vernünftigen Prämissen ableitbaren Notwendigkeit heraus hat unter den Prämissen einer naturalistischen Begründung stabilisierende Wirkung. Dies gilt vor allem in historischer Perspektive. Der Kontraktualismus kam, wie zuvor bereits angesprochen, nicht zufällig in einer Zeit großer politischer Unsicherheit und Erschütterung auf. Gewährsmann für diesen Stabilisierungszug des Kontraktualismus ist insofern Hobbes. Wie zuvor in 4.1.1 gezeigt, ist jedoch Hegels Begriff des Rechts in puncto Stabilität dem kontraktualistischen Rechtsbegriff überlegen. Dieser erhält zwar durch die Ursprungserzählung ein stabilisierendes Moment, das aber seinen Grundmangel, die naturalistische Begründung des Rechts, nicht heilen kann. Der dritte Punkt betrifft das im vorigen Kapitel diskutierte Melancholieproblem. Dem sich nach einem besseren, natürlichen Zustand sehnenden Individuum gibt das kontraktualistische Narrativ eine Erklärung, dass doch wenigstens Recht, Staat, Gemeinschaft und Person aus der Natur hervorgegangen sind. Hier gilt aber das gleiche wie beim Stabilitätsproblem: Hegels Rechtsbegriff, indem er keinen besseren, aber nicht erreichbaren Weg des Rechts kennt und damit die Melancholie in diesem Sinne gar nicht erst aufkommen lässt, bedarf dieser Herkunftsversicherung durch die Ursprungserzählung gar nicht. 4.2.1.1.2 Philosophie des Rechts als Gestalt des Geistes als Ursprungserzählung? Bis zu dieser Stelle wurde nur klar, inwiefern sich Hegels Begriff des Rechts von den kontraktualistischen Ursprungserzählungen ab206
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grenzt. Da aber auch Hegel das Recht in einer Entwicklung – des Geistes – schildert, stellt sich die Frage, ob Hegel nicht auch eine Ursprungsgeschichte erzählt. Er schildert in der Phänomenologie und in der späteren Systemphilosophie eine Entwicklung, die im späteren Werk von der Natur zum subjektiven, objektiven und letztlich absoluten Geist reicht. In der Phänomenologie sind die vermeintlichen Parallelen zu den Ursprungserzählungen noch deutlicher. Hier lassen sich bestimmte Etappen gar historischen Epochen oder Denkrichtungen zuordnen und die Phänomenologie wird mitunter als Grundriss einer Kultur- und Denkgeschichte gelesen 463. Es stellt sich die Frage, wie diese oberflächliche Parallele mit der strikten Opposition des Hegel’schen Rechtsbegriffs zu kontraktualistischen Rechtsbegriffen zu vereinbaren ist. Worin besteht also der markante Unterschied zu den kontraktualistischen Geschichten vom Ursprung, der sich nicht nur als Unterschied innerhalb verschiedener Möglichkeiten einer Ursprungserzählung darstellt, sondern der im Falle Hegels die Semantik von Ursprungsgeschichten überhaupt verlässt? Der Grund liegt in dem, was bereits im Kapitel zum Naturzustand mehrfach zur Sprache kam 464. Weniger komplexe Gestalten des Hegel’schen Geistbegriffs setzen nämlich immer bereits das Ganze voraus. So lässt sich zum Beispiel sagen, dass der absolute Geist zwar am Ende des Systems steht, von der ersten, abstraktesten und inhaltsleersten Form am Anfang der Bewegung aber bereits vorausgesetzt wird. Deutlich wird diese Verschachtelung der Gestalten des Geistes in den einführenden Passagen der Enzyklopädie zum Geistbegriff, in dem Hegel das Verhältnis von Geist zur Natur beschreibt. Der Geist setzt die Natur tatsächlich voraus, er sei denkbar nur »als Zurückkommen aus der Natur.« 465 Dies ist aber nur die Seite eines tatsächlichen Voraussetzungsverhältnisses »für uns« 466. Die Natur hingegen hat den Geist als ihre Wahrheit zur Voraussetzung. Ihre Vernunft-strukturierte Verfasstheit und Entwicklung ist auf den Geist hingerichtet. In der Wahrheit des Geistes ist sodann »die Natur
Z. B. von Siep 2000. Siehe vor allem oben 2.2.4. 465 Enz. 1830 § 381 (TWA10, 17; GW20, 382). 466 Quante 2011, 120 versieht dieses Moment des Vorübergehens mit einem »zunächst« (Anführungszeichen im zitierten Text). 463 464
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verschwunden« 467. Der Geist setzt sich die Natur selbst als mit ihm zusammenhängende Welt: »Das Offenbaren, welches als das Offenbaren der abstrakten Idee unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist.« 468
Das ist die Wirkweise des Geistes: mit der von ihm erschaffenen Welt durch die Erschaffung in einem, zunächst abstrakten, dann immer konkreter werdenden Zusammenhang zu stehen. Eine ursprüngliche, einmal getrennt vom Geist vorhandene Natur kann nicht Teil dieser Wirklichkeit sein. Der Geist lässt sich also nicht von einem natürlichen Ursprung her erzählen. Genauso wenig lässt sich aber die Natur von einem geistigen Ursprung her erzählen. Die eben zitierten Ausführungen stehen nämlich offenbar auch nicht am Beginn von Hegels Philosophie oder seiner Naturphilosophie, sondern zu Beginn seiner Geistphilosophie. Die Natur verhält sich zwar zum Geist 469 und Hegels Geistbegriff ist dem Begriff der Natur überlegen. Dennoch ist der Geist der Natur nicht in einer Weise vorgelagert, dass sich die Natur an einem bestimmten Punkt aus dem Geist entwickelt. Hegels Philosophie des Rechts als Gestalt des Geistes ist somit auch keine verglichen mit der kontraktualistischen Tradition umgekehrte Ursprungserzählung 470. Dieser verschachtelte Zug der Hegel’schen Geistphilosophie fehlt den Ursprungserzählungen. Sie gehen zwar wie Hegel von einer Gegenwart aus, deren Gewordenheit sie wie Hegel rekonstruieren wollen. Der Anfang wird aber als einfacher Anfang vorgestellt, über den sich, wie es typischerweise bei den Kontraktualisten der Fall ist, nicht viel mehr sagen lässt als einige Verweise auf natürliche Bestimmungen. Zwischen diesen und einem Rechtszustand besteht sodann ein
Enz. 1830 § 381 (TWA10, 17; GW20, 381). Enz. 1830 § 384 (TWA10, 29; GW20, 382). 469 Hegel bezeichnet sie als »Idee in der Form des Andersseins«, als die sie sich (nicht nur – was Hegel in § 247 der Enzyklopädie auch klarstellt – aber auch) zum Geist verhält. 470 Diese zweite Variante einer »umgekehrten« Ursprungserzählung sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Es ließe sich streiten, ob eine solche Erzählung überhaupt einen sinnvollen Zweck erfüllen könnte. 467 468
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Schnitt. Diesen vermeintlich radikalen, letztlich vergleichsweise einfachen Schnitt gibt es bei Hegel nicht. In Hegels Bewegung des Geistes spielen sich solche Schnitte innerhalb einer Ganzheit ab. Sie sind dann vielfach der Sache nach radikaler als die vom Denken einfacher Dualismen durchdrungenen Schnitte des traditionellen Denkens, kommen aber ohne einen strikten Dualismus aus. Dies zeigt sich am eindringlichsten wiederum am Begriff der Person. Trotz des vermeintlich radikalen Schnittes des Gesellschaftsvertrags bleibt die Person bei Hobbes die gleiche, ihre natürlichen Freiheiten werden lediglich eingeschränkt. Selbst diese Einschränkungen, könnte man argumentieren, liegen in ihrem eigenen individuellen Interesse. Bei Rousseau ist der Schnitt zwar insofern radikaler, als er zur Erschaffung eines neuen Menschen, zur völligen Selbstentäußerung führt 471. Aber auch diesem Schnitt ist, wie zuvor gezeigt, die Natürlichkeit der ersten Person als Abgleich unvermittelt eingeschrieben – ein Manko nicht nur rechtfertigungstheoretischer Natur, sondern eben auch praktischer, indem es das Bedürfnis nach einer Ursprungserzählung aufkommen lässt. Es lässt sich festhalten, dass Hegels Rechtsbegriff gerade deswegen keiner Ursprungserzählung bedarf, weil er von Anfang an aufs Ganze geht. Seine Philosophie des Geistes hat in ihrer Ganzheit keinen Anfang und kein Ende und, aus Sicht des modernen Individualismus, auch keinen Ausweg. Sie beinhaltet keinen Zustand des Zuvor, an den man sich nostalgisch erinnern und der als Abgleich zum status quo herangezogen werden kann und sie beinhaltet auf der Ebene des Rechts keinen Ausblick auf einen Zustand des Danach. Bei Hegel gibt es hingegen einen Geist, eine Bewegung und somit eine eindeutige Bewegung der Personalität, der Freiheit und sonstiger mit dem Recht zusammenhängender Kernbegriffe. 4.2.1.1.3 Mögliche Verortung einer Ursprungserzählung in Hegels Geistphilosophie Nun soll noch in aller Kürze, wie bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel, darauf hingewiesen werden, dass die Ablehnung einer Ursprungserzählung im Recht und durch den Begriff des Rechts nicht 471 Die Formulierung der »völligen Entäußerung« findet sich im Ersten Buch, Sechstes Kapitel des Gesellschaftsvertrags (Rousseau 1762/1977, 17); Details zur damit einhergehenden Veränderung im Achten Kapitel (Rousseau 1962/1977, 22 f.).
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eine Ablehnung von Ursprungserzählungen im Allgemeinen bedeutet. Mit Hegel soll vielmehr (lediglich) deutlich gemacht werden, dass eine Ursprungserzählung im Recht und damit in einer Gestalt des objektiven Geistes keinen Platz hat. Nach Hegel ist »der objektive Geist […] die absolute Idee, aber nur an sich seiend«. Der objektive Geist und damit auch das Recht sind »damit auf dem Boden der Endlichkeit« 472. Das Recht ist eine endliche Erscheinung. Das bedeutet zwar nicht, dass die Kehrseite der Endlichkeit, die Unendlichkeit, aus der Welt des Rechts vollkommen ausgeblendet ist. Vielmehr ist der objektive Geist ein Prozess der Realisierung des Unendlichen auf dem Boden des Endlichen – in sozialen Zusammenhängen und in den Institutionen des Rechts. So lässt sich der objektive Geist begreifen als »Gestalt der realisierten Unendlichkeit« 473. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich auch Gestalten der Endlichkeit in ihrem vollen Gehalt fassen 474. Der objektive Geist ist aber insofern defizitär, als er an den »Boden der Endlichkeit« geknüpft bleibt. Nicht umsonst verweist Hegel in der Enzyklopädie im letzten Kapitel des objektiven Geistes ausdrücklich auf den ersten Paragraphen, § 483, zurück 475. Es gelingt den Gestalten des objektiven Geistes also nicht, innerhalb des objektiven Geistes die Endlichkeit abzustreifen. Eine derart an die Endlichkeit gebundene Gestalt des Geistes ist in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihrem Zuständigkeitsbereich entsprechend limitiert. Diese Limitiertheit zeigt sich hinsichtlich des Rechts auch daran, dass das Recht nicht imstande ist, eine Ursprungserzählung zu leisten. Denn hierzu müsste es den »Boden der Endlichkeit«, an den es in Hegels Philosophie des objektiven Geistes notwendig gebunden ist, verlassen. Somit ist eine Ursprungserzählung, so sie überhaupt möglich ist, im absoluten Geist zu verorten. Diese Arbeit soll alleine Hegels Rechtsbegriff behandeln und muss die Frage offenlassen, ob sich in Hegels Philosophie des absoluten Geistes eine Ursprungserzählung findet und falls ja, wo genau diese
Beide Zitate Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478). Hutter 2007, 13. 474 Auch der absolute Geist lässt sich nur in Verbindung mit einer so verstandenen »wahren Endlichkeit« bestimmen, siehe Hutter 2015. 475 Enz. 1830 § 552: »Der Volksgeist enthält Naturnotwendigkeit und steht in äußerlichem Dasein (§ 483)«, zitiert nach TWA10, 353. 472 473
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zu verorten wäre (ob beispielsweise eher in der Religion oder in der Philosophie). 4.2.1.2 Mangel der Ursprungserzählung ist kein Defizit des Rechtsbegriffs Zuletzt stellt sich die Frage, ob das Fehlen einer Ursprungserzählung des Rechts als Defizit des Rechtsbegriffs aufzufassen ist. Aus kontraktualistischer Perspektive ließe sich der Einwand formulieren, dass, selbst wenn die in Kapitel 4.1 dieser Arbeit explizierten Vorzüge des Hegel’schen Rechtsbegriffs vor dem kontraktualistischen Rechtsbegriff zugestanden wären, Hegel doch zumindest in puncto Ursprungserzählung hinter die kontraktualistische Tradition zurückfällt. Denn diese leistet durch die Ursprungserzählung eine (viele würden betonen: säkulare) Variante individueller Sinngebung und bedient dadurch nicht nur ein womöglich kontingentes individuelles, sondern auch ein genuin philosophisches Interesse. Ein Anknüpfungspunkt für diese Kritik findet sich auch in Hegels Enzyklopädie. Denn im Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität finden sich, wie zuvor gezeigt – auf zunächst einmal vielleicht überraschende Weise – die Gedanken vom Naturrecht und vom Naturzustand wieder 476. Die Moralität lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Kritik an einem ursprungslosen Recht lesen. Dafür spricht vor allem die Ablösung des zentralen Begriffs des abstrakten Rechts, des Begriffs der Person, durch den Begriff des Subjekts. Der Begriff der Person ist, wie bereits mehrfach angesprochen, der Begriff, in dem sich das Spannungsverhältnis des abstrakten Rechts 477 ausdrückt. Dieses Spannungsverhältnis der Person ist auf seiner aus Sicht des Individuums negativen Seite geprägt von der Abstraktheit des Rechts, die sich inhaltlich in den wenigen Verwirklichungsmodi der Personalität im abstrakten Recht ausdrückt. Daran knüpft sich in erster Linie die im folgenden Abschnitt zu diskutierende Frage der Heteronomie des Rechts an. Aber auch die fehlende Ursprungserzählung muss aus Sicht des Subjekts als Defizit des Rechts gelten, zumal wenn es in Verbindung mit den begrenzten Verwirklichungsmodi der rechtlichen Person gedacht wird. Nicht nur gibt also das Recht einen eng umgrenzten Kanon an materiellem Gehalt vor, ohne dass das Subjekt hierbei mitzubestimmen hätte (daran schließt sich der Vorwurf der Heteronomie 476 477
Enz. 1830, § 502 A (TWA10, 311 f.; GW20, 488). siehe oben 3.1.4.
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an). Darüber hinaus ist das Recht aus Sicht des Subjekts nicht einmal in der Lage, die Herkunft dieses Rechts und damit auch der rechtlichen Personalität als Verwirklichungsform von Individualität im Recht zu erklären. So isoliert betrachtet, erscheint der Mangel an einer Ursprungserzählung als Defizit des Rechts. Dieser Mangel muss aber im Kontext der Hegel’schen Philosophie des Geistes betrachtet werden. Denn, wie eben bereits diskutiert, bedeutet der Mangel einer Ursprungserzählung im Recht nicht zwingend, dass Hegels Philosophie gar keine Ursprungserzählung kennt. Die Frage, ob eine Ursprungserzählung ihren Platz beispielsweise in der Religion hat, sprengt zwar den Rahmen der vorliegenden Arbeit. Es ist aber zu vermuten, dass, wenn es eine Ursprungserzählung in Hegels Philosophie gibt, diese ihren Platz in einer Gestalt des absoluten Geistes findet. Dies bedeutet jedoch keine Defizität des Rechtsbegriffs in dem Sinne, dass ein Rechtsbegriff ohne Ursprungserzählung der schwächere Rechtsbegriff gegenüber einem Rechtsbegriff mit Ursprungserzählung wäre. Denn eine Depotenzierung des Rechtsbegriffs auf das, wofür das Recht zuständig ist 478, ist eine Stärkung des Rechtsbegriffs – nichts anderes versuchen Rechtspositivisten, wenn auch mit anderen Mitteln und unter anderen wissenschaftlichen Prämissen als Hegel. Darin, dass Teile der rechtsphilosophischen Moderne – und zwar auch Hegelianer und Hegel-Interpreten – dem Recht eine Ursprungserzählung aufbürden, lässt sich eine konkrete Ausformung einer größeren Tendenz erblicken: die Tendenz, das Endliche zu verabsolutieren, ohne es mit seinem Gegenbegriff der Unendlichkeit in Einklang zu bringen oder es mit ihm überhaupt nur zu konfrontieren 479. Dem Recht als Gestalt endlicher Ausformungen des Geistes wird eine Aufgabe zugewiesen, die allein vor dem Hintergrund explizierter Unendlichkeit (und damit unter Einbeziehung des absoluten Geistes) überhaupt nur Sinn ergeben kann. Dem Recht die Aufgabe zuzuweisen, eine Ursprungserzählung zu leisten und damit ein individuelles Sinnangebot zu machen, überfordert die Mittel des Rechts. In diesem Punkt findet sich eine Ver478 Dies sind durchaus Hobbes’sche Motive wie Frieden und Sicherheit, ohne deswegen aber seinen Begriff auf ein natürliches Bedürfnis des Menschen nach diesen Funktionen reduzieren zu müssen. 479 Hierzu Hutter 2007.
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Franz-Alois Fischer
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Defizite des Hegel’schen Rechtsbegriffs?
schränkung positiver und negativer Aspekte der Abstraktheit des Rechts. Hierauf soll im Kapitel 4.3 noch einmal abschließend eingegangen werden.
4.2.2 Heteronomie Es lässt sich ein zweiter Vorwurf gegen den Hegel’schen Rechtsbegriff formulieren: seine Heteronomität. Dieser Vorwurf besagt in einer ersten Annäherung, dass Autor und Adressat des Rechts auseinanderfallen und somit der Adressat des Rechts an Normen gebunden ist, die er selbst nicht mitbestimmt. Hegel geht auf die Forderung der Autonomie ausdrücklich ein: Das abstrakte Recht ist in Hegels Darstellung ein Einfallstor für die Moralität und mit ihr für den Anspruch des Subjekts, an die Stelle der rechtlichen Person zu treten. Der subjektive Wille tritt auf in der »Abstraktion, die Macht über das Recht zu sein« 480. Das bedeutet für das Individuum: »Das freie Individuum, im (unmittelbaren) Rechte nur Person, ist nun als Subjekt bestimmt 481«. Das Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass es »nur dasjenige als das seinige anerkennt und sich zurechnen läßt, was er [der subjektive Wille, Anm. Verf.] davon in sich selbst gewußt und gewollt hat. 482« Hegel formuliert also im ersten Paragraphen zur Moralität den Anspruch der Autonomie. Von diesem Anspruch aus gesehen erscheint die Rechtsperson als defizitär. Das Individuum ist im abstrakten Recht nur Person. Im Folgenden soll nun kurz das Moment des Übergangs mit einem besonderen Fokus auf den Übergang vom Person- zum Subjektbegriff skizziert werden (4.2.2.1). Zweitens soll untersucht werden, ob dieser von der Moralität erhobene Vorwurf der Heteronomität überhaupt zutreffend ist (4.2.2.2) Schließlich soll dieser Vorwurf der Heteronomie in Hegels System bewertet werden (4.2.2.3).
480 481 482
Enz. 1830, § 502 (TWA10, 311; GW20, 487). Enz. 1830, § 503 (TWA10, 312; GW20, 489). Ebd.
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Stärken und Defizite des Rechtsbegriffs
4.2.2.1 Der Übergang vom abstrakten Recht in die Moralität Das Übergangsmoment vom abstrakten Recht zur Moralität und damit von der Person zum Subjekt bildet sich bereits am Ende des abstrakten Rechts im Kapitel über das Unrecht heraus. Dort setzt sich die objektiv-abstrakte Seite des Rechts gegen den abweichenden individuellen Willen in Gestalt der Strafe durch. Diese Aufhebungsbewegung steht aber nicht isoliert für sich, sondern bringt eine Konkretisierungsbewegung des Willens mit sich. Der Wille schlägt sich auf die Seite des für sich und wird wirklich. Die Persönlichkeit, die vorher Prinzip und selbst nicht gegenständlicher Rahmen des Rechts war, wird jetzt zum Gegenstand 483. So geht die Selbstverständlichkeit der Entstehung von bestimmtem Inhalt in und durch Personen verloren. Zunächst selbst nicht gegenständlicher Rahmen ist nun die subjektive Seite des Willens. Bestimmter Inhalt wird fortan von der Subjektivität hervorgebracht. Aus dem Blickwinkel der Moralität tritt das Individuum in diesem Zuge nicht mehr nur als abstrakte Person auf, die ihre Bestimmtheit im kargen Medium der abstrakten Allgemeinheit erlangt. Das Individuum ist nun Subjekt und bezieht seinen Inhalt dem Anspruch nach als Subjekt: »Das freie Individuum, im (unmittelbaren) Rechte nur Person, ist nun als Subjekt bestimmt, – in sich reflektierter Wille, so daß die Willensbestimmtheit überhaupt als Dasein in ihm als die seinige, unterschieden von dem Dasein der Freiheit in einer äußerlichen Sache, sei. 484«
Damit geht eine Bewegung der Anerkennung einher, die derjenigen des Rechtszustandes entgegengesetzt ist. Im Recht spielt sich Anerkennung in der Wirklichkeit der Rechtsperson ab. Bestimmter Inhalt ist in dieser Wirklichkeit fremdbestimmt. Was ein Individuum als Rechtsperson ist, bestimmt sich aus dem Blickwinkel der abstrakten Allgemeinheit, die nur ein begrenztes Maß an bestimmtem Inhalt zulässt. Die Gehalte der rechtlichen Person sind an die Daseinsformen des abstrakten Rechts geknüpft. Über diese Daseinsformen wiederum kann die Person nicht bestimmen. Gegen dieses Defizit richtet sich die Moralität und wendet das bestimmende Moment des Willens ins Subjektive. Dieser Bewegung ist das Bedürfnis nach Autonomie eingeschrieben. Bestimmter Inhalt, allem voran den Gehalt des Individuums selbst betreffend, soll selbst483 484
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Enz. 1830, § 502 (TWA10, 311 f.; GW20, 487 f.). Enz. 1830, § 503 (TWA10, 312; GW20, 488).
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bestimmt sein. Der Wechsel von der Person zum Subjekt bedeutet somit einen Wechsel von einer Welt des fremdbestimmten Inhalts zu einer Welt des selbstbestimmten Inhalts, von Heteronomie zum Anspruch der Autonomie. In den Grundlinien formuliert Hegel das besonders eindringlich: »Der moralische Standpunkt ist daher in seiner Gestalt das Recht des subjektiven Willens. Nach diesem Rechte anerkennt und ist der Wille nur etwas, insofern es das Seinige, er darin sich als Subjektives ist.« 485
Begleitet wird dieser Wechsel von einem Wechsel der Freiheitsbegriffe. Dem positiven Freiheitsbegriff des Rechts wird nun ein moralischer Freiheitsbegriff entgegengesetzt, der sich durch seine subjektive Fundierung und die damit einhergehende Verknüpfung mit Autonomie auszeichnet: »Der subjektive Wille ist insofern moralisch frei, als diese Bestimmungen innerlich als die seinigen gesetzt und von ihm gewollt werden. Seine tätliche Äußerung mit dieser Freiheit ist Handlung, in deren Äußerlichkeit er nur dasjenige als das seinige anerkennt und sich zurechnen läßt, was er davon in sich selbst gewußt und gewollt hat.« 486
Hegel identifiziert diesen subjektiven oder moralischen Begriff der Freiheit als europäischen Freiheitsbegriff schlechthin 487. Er spielt dabei neben Kant, dessen Unterscheidung von Moralität und Legalität er immer wieder aufgreift, auch auf die kontraktualistische Tradition, insbesondere auf Rousseau an. Rousseau sah es als eine Hauptaufgabe seiner Rechtsphilosophie an, in einer aufs Allgemeine abzielenden Philosophie der Gemeinschaft das Element der Autonomie nicht aufgeben zu müssen. Die Protagonisten seines Gesellschaftsvertrags sollen nach dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags so autonom bleiben wie zuvor. Das bedeutet vor allem: Gesetze sind nur verpflichtend, wenn sie autonom zustande gekommen sind. So unter anderem erklären sich sein aus heutiger Sicht radikal anmutendes Konzept direkt-identitäter Demokratie und eine maßgebliche Funktion des Allgemeinwillens. Nur in einem Rahmen radikaler direkter Demokratie ist das Erfordernis der Autonomie in dem Maße erfüllt, dass die politische Freiheit als Bürger der natürlichen Freiheit im Naturzustand gleichkommt. Mit 485 486 487
Grundlinien § 107 (TWA7, 205; GW14/1, 100). Enz. 1830, § 503 (TWA10, 312; GW20, 489). Enz. 1830, § 503 A (TWA10, 312 f.; GW20, 489).
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dem Allgemeinwillen lassen sich tatsächliche Abweichungen erklären. Die Abweichler sind dann nämlich nicht heteronom bestimmt und infolgedessen auf eine durch den Rousseau’schen Gesellschaftsvertrag nicht rechtfertigbare Weise unfrei, sondern sie haben sich in ihrer Abweichung vom Allgemeinwillen geirrt 488. In Wahrheit ist das Erfordernis der Autonomie auch für sie erfüllt. Sie wissen es nur nicht. Wenngleich Hegel die Moralität als zunächst einmal notwendige und konkretisierende Gestalt des objektiven Geistes schildert und es sich verbietet, Hegels Philosophie des Geistes ernst genommen, von vornherein ausschließlich von einer Kritik der Moralität im negativen Sinne zu sprechen 489, klingt an dieser Stelle sehr wohl eine deutliche Ablehnung des mit der Moralität verknüpften Freiheitskonzepts an. Dies verwundert im Lichte seiner Ablehnung der Prämissen des Kontraktualismus nicht. 4.2.2.2 Heteronomie des abstrakten Rechts Nun ist zu klären, ob der Vorwurf der Heteronomität gegenüber Hegels Rechtsbegriff überhaupt gerechtfertigt ist. Hier müssen zwei Aspekte dieses Vorwurfs differenziert werden, die in seiner allgemeinen Formulierung, Autor und Adressat einer Norm fallen auseinander, nur anklingen. Der Vorwurf ließe sich zum einen formell verstehen. Im Hinblick auf eine bestimmte Anzahl von Normen stellt sich die Frage, ob Autor und Adressat hinsichtlich dieser Anzahl von Normen auseinanderfallen. Auf Hegels abstraktes Recht bezogen: Fallen Autor und Adressat bezüglich der Verwirklichungsformen der Freiheit des abstrakten Rechts (Eigentümer, Vertragspartner) auseinander? Das ist nicht der Fall. Denn die Rechtsperson gibt sich diese Formen ihres Daseins selbst. Das kommt schon in der Formulierung von § 487 der Enzyklopädie zum Ausdruck: »[…] die Person; das Dasein, welches diese ihrer Freiheit gibt, ist das Eigentum.« 490
488 Drittes Kapitel des Zweiten Buches des Gesellschaftsvertrages, Rousseau 1762/ 1977, 30–32. 489 Siehe zum Beispiel Wood 2005. 490 Enz. 1830 § 487 Unterpunkt A (TWA10, 306; GW20, 481).
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Person und Sache werden sodann nicht durch eine dritte Größe miteinander verbunden, sondern die Person macht sich die Sache selbst zu eigen (»welches diese ihrer Freiheit gibt«). In diesem engen, formellen Sinne erfüllt Hegels Rechtsbegriff das Erfordernis der Autonomie. In diesem engen, formellen Sinne ist die rechtliche Person autonomer Akteur des Rechts. Der Vorwurf der Heteronomität ließe sich aber auch in einem weiteren Sinne verstehen. Dieser weitere Sinn entsteht mit Hinblick auf die Begrenztheit der möglichen Gehalte des Rechts, die der Person als Verwirklichungsmodi ihrer Freiheit zur Verfügung stehen. Diese zur Verfügung stehenden Modi mag die Person nämlich zwar in autonomer Weise vollziehen. Diese Modi sind aber von vornherein begrenzt. Auf diese Begrenzung wiederum hat die Person keinen Einfluss. Der rechtliche Rahmen ist der Person somit vorgegeben. Dies ist die von Hegel an vielen Stellen auch so benannte Unmittelbarkeit des abstrakten Rechts. In diesem, weiteren Sinne fallen Autor und Adressat des Rechts auseinander. In diesem, weiteren Sinne ist Hegels Rechtsbegriff heteronom. Außerdem lässt sich der Vorwurf der Heteronomie bestärken mit Blick auf ein auch von Hegel so benanntes Defizit des abstrakten Rechts, dem eine der defizitären Seiten des Personbegriffs entspricht: nämlich dem Auseinanderfallen von Person und Individuum. Im abstrakten Recht ist die Person nicht in der Lage, aus sich selbst heraus Inhalt zu generieren. Sie ist darauf angewiesen, ihre Freiheit in ihr äußerlichen Sachen zu verwirklichen. Hegel formuliert in der Enzyklopädie diesen Punkt als Entwicklungsstufe des Geistes: »er [der Geist, Anm. Verf.] ist Person, das Sichwissen dieser Freiheit, welches als in sich abstrakt und leer seine Besonderheit und Erfüllung noch nicht an ihm selbst, sondern an einer äußerlichen Sache hat. 491«
An dieser Stelle kommt aufgrund von Hegels Wortwahl und Formulierung klar die Defizität des abstrakten Rechts und seines Personbegriffs zum Ausdruck. Das mit der Person gleichgesetze »Sichwissen dieser Freiheit« bezeichnet Hegel als »abstrakt und leer« – zwei im Hegel’schen Sprachgebrauch negativ konnotierte Begriffe. Die Verwirklichung der Freiheit geschieht auf dieser Stufe außerdem »noch nicht an ihm selbst«. Das bedeutet, dass spätere Entwicklungsstufen
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Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482).
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vorgesehen sind, die offenbar der jetzigen überlegen sind (»noch nicht«). Der Verwirklichungsmodus des abstrakten Rechts, der auf äußerliche Sachen angewiesen ist, ist dem späteren Entwicklungsmodus des »an ihm selbst« unterlegen. Zudem bezieht sich der Vorwurf von Abstraktheit und Leere auf die Person »in sich«. Beide Formulierungen – die Leere und Abstraktheit der Person »in sich« und der spätere, überlegene Verwirklichungsmodus des »an ihm selbst« weisen auf das Problem der Heteronomität hin. Denn offenbar resultiert die Defizität des abstrakten Rechts und des Personbegriffs (seine Leere und Abstraktheit) aus einer noch nicht vermittelten Differenz zwischen dem Individuum und seinem Gegenüber (der äußeren Welt, der Sache). Die rechtliche Person kann zwar auf Grundlage dieser Differenz Inhalt gewinnen – allerdings nur unter Rückgriff auf aus Blickwinkel der Individualität vorgegebene Sachen. Mit Blick auf die Entwicklung des Geistes kann mithin die enge, formelle Variante der Autonomie nicht als hinreichend angesehen werden. Zuletzt lässt die rechtliche Person am Ende des abstrakten Rechts offenbar Raum für ein Ausscheren des Individuums, wie Hegel es im Übergang zur Moralität schildert. Der Wandel vom Person- zum Subjektbegriff liegt darin begründet, dass der Rechtsbegriff der Person nur den formellen, engen Autonomiebegriff erfüllen kann. Das freie Individuum mit seinem Anspruch nach dem weiten Autonomiebegriff, wie Hegel ihn in § 503 der Enzyklopädie 492 schildert, ist vom engen Autonomiebegriff des Rechts nicht zufrieden gestellt. Davon losgelöst ist freilich die Frage zu stellen, inwiefern dieser Anspruch der Moralität gerechtfertigt ist und ob Hegels Darstellung der Moralität nicht gerade als eine umfassende Kritik dieses Anspruchs zu lesen ist. Selbst wenn dies der Fall ist, so lässt das abstrakte Recht aber doch zumindest Raum für diesen Anspruch und ist wenigstens in diesem Sinne defizitär. Hegels Rechtsbegriff erfüllt also durch seinen Selbstverwirklichungsmodus der Person in den Formen des abstrakten Rechts einen Minimalbegriff von Autonomie. Jedoch erfüllt er aus den eben be-
Enz. 1830 § 503: »Der subjektive Wille ist insofern moralisch frei, als diese Bestimmungen innerlich als die seinigen gesetzt und von ihm gewollt werden. Seine tätliche Äußerung mit dieser Freiheit ist Handlung, in deren Äußerlichkeit er nur dasjenige als das seinige anerkennt und sich zurechnen läßt, was er davon in sich selbst gewußt und gewollt hat.« (zitiert nach TWA10, 312). 492
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schriebenen Gründen keinen starken Begriff der Autonomie, sodass in diesem Sinne der Vorwurf der Heteronomität begründet ist. Nun ist noch in Analogie zur Frage nach der fehlenden Ursprungserzählung die Frage zu stellen, ob Heteronomie mit Hegel als wirkliches Defizit des Rechts zu begreifen ist oder ob, wie es bei der mangelnden Ursprungserzählung der Fall ist, ein heteronomes Recht letztlich das stärkere Recht ist. 4.2.2.3 Heteronomie als Defizit des Rechts Abschließend stellt sich die Frage, ob nach Hegel 493 die Heteronomie, gerade im Unterschied zur fehlenden Ursprungserzählung, als wirkliches Defizit des Rechts zu verstehen ist, ob also ein Begriff heteronomen Rechts ein schwächerer Rechtsbegriff ist als der eines autonomen Rechts. Das ist aus zwei systematischen Gründen nach Hegel der Fall. Erstens bietet die Heteronomie des Rechts, wie eben bereits diskutiert, das Einfallstor für die Moralität. Unabhängig davon, wie die Moralität insgesamt zu bewerten ist, ergibt sich allein schon aus der systematischen Stellung dieses Übergangsmoments in der Verknüpfung des Übergangs mit der Heteronomie, dass sie der Schwachpunkt des Rechts schlechthin ist. Die Heteronomie ist der Grund dafür, dass das Recht in Hegels Diktion mit den negativen Begriffen abstrakt, formell 494 und leer 495 belegt ist. Selbst wenn man Hegel so lesen sollte, dass das Recht grundsätzlich positiv, die Moralität als Gegenentwurf zum Recht grundsätzlich negativ besetzt sei, so speist sich die als negativ bewertete Moralität doch zumindest aus einem Defizit des Rechts. Anders formuliert: Könnte das Recht die Forderung des Individuums nach Autonomie einlösen, gäbe es in dieser Hinsicht gar kein Einfallstor für die Moralität. Dass diese Forderung zwar in ihrer Ausformung der Moralität selbst abstrakt und uneinlösbar, aber der Sache nach gerechtfertigt ist, zeigt zweitens Hegels Personenbegriff der Sittlichkeit. Hegel führt
493 Auch diese Frage folgt dem Ansatz der vorliegenden Arbeit, Hegels Gedankengang zu rekonstruieren. Im Schlusskapitel wird Hegels diesbezügliche Weichenstellung einer kurzen Kritik unterzogen. 494 Enz. 1830 § 487 Unterpunkt A (TWA10, 306; GW20, 481). 495 Enz. 1830 § 488 (TWA10, 306; GW20, 482).
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diesen Begriff in § 514 der Enzyklopädie ein. Hier definiert er den Begriff der Person von oben her als »Diremtion dieses Geistes«, wobei dieser Geist der »Geist eines Volkes« ist, der Wirklichkeit in der Sittlichkeit hat. Diese vom übergeordneten Volksgeist her definierte Person identifiziert sich mit dem Volksgeist, der ihre »Substanz« und ihr »eigenes Wesen« ist und den sie »durch ihre Tätigkeit hervorbringt« 496. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll zwar nicht im Detail rekonstruiert werden, wie Hegel zu dieser Verschränkung von Volksgeist und Personbegriff gelangt. Es wird aber klar, dass an dieser Stelle, also im Personbegriff der Sittlichkeit, nach Hegels Darstellung die Forderung nach einem weiten Autonomiebegriff erfüllt ist. Daraus lässt sich schließen, dass der enge Autonomiebegriff des abstrakten Rechts defizitär und der Anspruch der Moralität nach einem weiten Autonomiebegriff dem Grunde nach gerechtfertigt, bloß mit den Mitteln der Moralität nicht zu erreichen ist. Hegel erachtet also den nur im engen, formellen Sinne autonomen, im weiten Sinne aber heteronomen Begriff des Rechts als defizitär. Somit lässt sich zusammenfassen: Die Stärken des Hegel’schen Rechtsbegriffs liegen in einer Vermeidung des Stabilitäts- sowie des Melancholieproblems des klassischen Kontraktualismus. Außerdem bietet Hegels Rechtsbegriff einen Begriff der Einheit des Rechts, der nicht rein formell, sondern mit einem Minimalbestand von Materialität durchsetzt ist. Hegels Rechtsbegriff kann keine Ursprungserzählung leisten. Dieser möglicherweise auf den ersten Blick als Defizit verstehbare Mangel ist bei näherem Hinsehen eine Stärke seines Rechtsbegriffs. Denn indem einem Rechtsbegriff die Bringschuld auferlegt wird, eine Ursprungserzählung leisten zu müssen, überfordert man ihn und schwächt ihn somit. Hegels Rechtsbegriff ist ein Begriff des heteronomen Rechts, der nur eine Minimalforderung von Autonomie erfüllen kann. Im Hegel’schen System ist diese Heteronomität das Defizit des Rechts schlechthin.
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Enz. 1830 § 514 (TWA10, 318; GW20, 495).
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Ein »Dritter Weg« bereits bei Hegel
4.3 Ein »Dritter Weg 497« bereits bei Hegel Zum Abschluss soll nun ein zusammenfassender Blick auf die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit geworfen werden. Hegels Rechtsbegriff ist ein starker Rechtsbegriff, indem er Probleme des klassischen Kontraktualismus, namentlich das Stabilitätsund das Melancholieproblem vermeidet. Dies gelingt, indem dem Rechtsbegriff kein Dualismus von Recht und Natur eingeschrieben ist. Weder lässt sich Hegels Rechtszustand auf einen Naturzustand zurückführen noch findet sich im Recht ein strikter Dualismus von Recht und Natur. Dies grenzt Hegels Rechtsbegriff von klassischen naturrechtlichen Rechtsbegriffen ab. Zudem ist Hegels Rechtsbegriff ein mit einem Minimalbestand an Materialität durchsetzter Begriff der Einheit des Rechts. Dies grenzt Hegels Rechtsbegriff von einem klassischen rechtspositivistischen Rechtsbegriff Kelsen’scher Prägung ab. Eine besondere Komplexität erhält Hegels Rechtsbegriff dadurch, dass er eine vermeintliche Schwäche (mangelnde Ursprungserzählung) zu einer Stärke verkehrt. Hegels Rechtsbegriff ist, indem er eine Ursprungserzählung ausspart, gerade kein mit unnötiger Metaphysik aufgeladener Begriff des Rechts, sondern einer, der seine Stärke auch aus seiner Reduziertheit und einer zurechtgerückten Zuständigkeitsverteilung bezieht. Dies rückt ihn zwar in die Nähe des Rechtspositivismus, anhand der Neutralitätsthese kann er aber nicht als Rechtspositivist gelten. Die Abgrenzung in beide Richtungen der rechtsphilosophischen Tradition macht durchsichtig, dass beide Stränge (Naturrecht und Rechtspositivismus) auf einer gemeinsamen Prämisse beruhen, die Hegel nicht teilt: ein Dualismus von Recht und Natur. Der Unterschied zwischen den beiden Traditionen besteht, vom Standpunkt der Hegel’schen Philosophie des Geistes aus betrachtet, lediglich darin, dass das Naturrecht die Natur in das Recht einschreibt, wohingegen der Rechtspositivismus Kelsen’scher Prägung versucht, Recht und Natur voneinander strikt getrennt zu halten, indem er alle Elemente der Natur aus dem (insofern reinen) Rechtsbegriff auszulagern ver497 Hier wird die Redeweise vom dritten Weg jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus aufgegriffen; siehe zu Beginn der vorliegenden Arbeit unter Verweis auf Kaufmann 2011b, 89.
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Stärken und Defizite des Rechtsbegriffs
sucht. Die in der Einleitung aufgeworfene Frage, ob Hegel eher Naturrechtler oder Rechtspositivist ist, lässt sich somit nur mit einem weder noch beantworten. Sofern die heutige Rechtsphilosophie Hegel auf Grundlage der Neutralitätsthese als Naturrechtler einordnet, so beruht diese Einordnung bereits auf einer Prämisse (die Trennung von Recht und Natur), auf der Hegels Rechtsbegriff gerade nicht aufbaut. Gegenüber Teilen der rechtsphilosophischen Tradition hat Hegels Philosophie des Geistes außerdem den Vorteil, dass sie ein begriffliches Instrumentarium bereitstellt, um nicht nur Recht und Natur in einem weiten Sinne 498 zu differenzieren. Vielmehr lässt Hegels Philosophie des objektiven Geistes eine begriffliche Unterscheidung zwischen Natur, Recht und Moral zu 499. Diese Dreiteilung stellt den sowohl Naturrecht als auch Rechtspositivismus zugrundeliegenden Dualismus von Recht und Natur nicht nur hinsichtlich seines Trennungselementes zwischen Recht und Natur, sondern gerade auch wegen seines Dualismus in Frage. Ein Beispiel für den »Dritten Weg« ist also bereits Hegels Rechtsbegriff. Damit ist weder gesagt, dass Hegel der einzige Vertreter eines dritten Weges ist, noch, dass Hegels Weg zwingend der bestmögliche ist. Zweierlei kann aber auf Grundlage der vorliegenden Arbeit gesagt werden: Erstens findet sich ein dritter Weg bereits bei Hegel. Hinsichtlich der Frage nach dem dritten Weg ist es also fatal, Hegel vorschnell als Naturrechtler zu kategorisieren und die im guten Sinne modernen und heute noch anschlussfähigen Aspekte seines Rechtsbegriffs somit von vornherein der Debatte zu entziehen. Der Hegel-Bezug in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, wie er zu Beginn der vorliegenden Arbeit hervorgehoben wurde, überrascht vor diesem Hintergrund nicht. Aus rechtsphilosophischer Warte überrascht eher, dass dieser Bezug nur zaghaft und zum Teil nur implizit vorhanden ist. Zweitens wurden im Durchgang dieser Arbeit einige Punkte zusammengetragen, die für die Stärke des Hegel’schen Rechtsbegriffs 498 Wie es weite Teile der neueren rechtsphilosophischen Tradition auf Grundlage der Trennungsthese tun, siehe die Einleitung der vorliegenden Arbeit, 1.5. 499 Die Durchführung dieser begrifflichen Dreiteilung ist nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Arbeit, spielt aber insofern auch eine Rolle für den Rechtsbegriff, als dieser sich nicht nur zur Natur, sondern auch zur Moralität abgrenzt, siehe insbesondere oben 3.3.
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Ein »Dritter Weg« bereits bei Hegel
sprechen. Eine Anschlussfähigkeit zum heute geltenden (Zivil-)Recht wurde aufgezeigt, sodass ein gegen Hegels Rechtsbegriff formulierter Vorwurf, nicht zeitgemäß oder unpraktikabel zu sein, zumindest rechtfertigungsbedürftig wäre. Ein kritischer Punkt bleibt aber auch am Ende der vorliegenden Analyse bestehen. Hegel begreift die Heteronomie des Rechts als Defizit. Damit tut er aus heutiger Sicht dem Rechtsbegriff keinen Gefallen. Auch an dieser Stelle hätte unter Umständen die Möglichkeit bestanden, vergleichbar dem Fehlen der Ursprungserzählung, das Recht von der Forderung nach Autonomie zu befreien und hierdurch ebenfalls einen stärkeren, weil reduzierten Rechtsbegriff zu begreifen. Jenseits dieses Kritikpunktes ist Hegels Rechtsbegriff jedoch imstande, das komplexe Zusammenspiel des Rechts und seiner Voraussetzungen begreifbar zu machen. Damit ist Hegel nicht nur nach wie vor ein ernstzunehmender Akteur der rechtsphilosophischen Debatte. Seine Philosophie des Rechts als Gestalt des Geistes nimmt darüber hinaus ein über die Grenzen des Rechts (des Rechtsbegriffs, aber auch der Rechtskultur) hinausweisendes Spezifikum des Rechts in den Blick: die eigentümliche Dialektik des Rechts, eigenständig, teils gar hermetisch abgeschottet und doch abhängig zu sein; die Gerechtigkeit nicht zu thematisieren, aber dennoch zu ihrer Verwirklichung beitragen zu können; das eigene Entstehen nicht erklären zu können und doch nicht ursprungslos zu sein. Diese Dialektik überhaupt in den Blick nehmen zu können, ist wiederum ein Spezifikum der Hegel’schen Philosophie.
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Literatur- und Siglenverzeichnis
Verwendete Werke Hegels Hegels Werke werden nach Edition, Band und Seitenzahl zitiert. Beispiel: TWA3, 355; GW9, 260 Im Falle der Grundlinien und der Enzyklopädie 1830 wird der jeweilige Paragraph mit eventuellem Zusatz »A« für Anmerkung oder im Falle der Theorie Werkausgabe »Z« für Zusatz zitiert, sodann in Klammern die Seitenzahl der jeweiligen Edition. Es werden, sofern vorhanden, die Fundstellen der Theorie Werkausgabe (TWA) und der Gesammelten Werke (GW) angegeben. Beispiele: Enz. 1830 § 483 (TWA10, 303; GW20, 478); Grundlinien § 93 A (TWA 7, 180; GW14/1, 288). Direktzitate werden, so sie in beiden Ausgaben zu finden sind, der Theorie Werkausgabe entnommen, wobei die Parallelstelle der Gesammelten Werke mit angegeben wird.
Editionen: Gesammelte Werke, hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Hamburg 1968 ff.; zitiert als: GWBandnummer: GW4: Jenaer kritische Schriften, hrsg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, 1968. GW9: Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Hedde, 1980. GW14,1: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse – Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, 2009. GW14,2: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Beilagen, hrsg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, 2010. GW14,3: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Anhang, hrsg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, 2011. GW20: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans Christian Lucas, 1992.
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Literatur- und Siglenverzeichnis GW26,1: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts I. Kollegien der Jahre 1817/18, 1818/19, 1819/20, hrsg. von Dirk Felgenhauer, 2014. GW26,2: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts II. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1821/22 und 1822/23, hrsg. von Klaus Grotsch, 2015. GW26,3: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts III. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1824/25 und 1831, hrsg. von Klaus Grotsch, 2014. Werke in zwanzig Bänden mit Registerband, hrsg. von Eva Moldenhauer und Markus Michel, Frankfurt 1970; zitiert als: TWABandnummer TWA2: Jenaer Schriften 1801–1807. TWA3: Phänomenologie des Geistes. TWA6: Wissenschaft der Logik II. TWA7: Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. TWA9: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II. TWA10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. TWA12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. TWA19: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. TWA20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III.
Sonstige Literatur Zitiert werden diese Autoren mit Nachnamen und Jahreszahl der jeweiligen Publikation, Seitenzahl; sofern Ersterscheinung eines Werkes und zitierte Auflage bzw. Neuedition weit auseinanderfallen, werden beide Jahreszahlen zitiert. Juristische Kommentare werden zitiert nach Bearbeiter in: Herausgeber oder Herausgeber/Bearbeiter, Auflage, ggfs. Gesetz, Paragraph Randnummer Das Handbuch des Staatsrechts wird zitiert nach Autor, Handbuch des Staatsrechts, Band, Auflage, Paragraph Randnummer Arnold, Stefan: Vertrag und Verteilung. Die Bedeutung der iustitia distributiva im Privatrecht, Tübingen 2014. Bäuerle, Michael: Vertragsfreiheit und Grundgesetz. Normativität und Faktizität individueller Vertragsfreiheit aus verfassungsrechtlicher Perspektive, Baden-Baden 2001. Baur, Fritz/Stürner, Rolf: Sachenrecht, 18. Auflage, München 2009. Beckscher Online-Kommentar zum BGB, Stand: 01. 08. 2015. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel, in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 115–142 (Böckenförde 1991b).
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Franz-Alois Fischer
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