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German Pages 267 [271] Year 2011
Alexander Bagattini Das Problem des perzeptiven Wissens
Alexander Bagattini
Das Problem des perzeptiven Wissens
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2011 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-118-4 2011 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work. Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by CPI buch bücher.de
INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG
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1 Systematische Exposition des Problems des perzeptiven Wissens 1.1 Einleitung 1.2 Epistemische Rechtfertigung 1.2.1 Epistemische Rechtfertigung und Wissen 1.2.2 Rechtfertigungsinternalismus und -externalismus 1.2.3 Epistemischer Fundamentalismus und Kohärentismus 1.3 Der Gehalt der Wahrnehmung 1.3.1 Begrifflicher und nicht-begrifflicher Gehalt 1.3.2 Gehaltsinternalismus und -externalismus 1.4 Ziel und Gliederung der Arbeit
7 7 10 10 12 13 15 15 17 19
2 Historische Exposition des Problems des perzeptiven Wissens 2.1 Exkurs: Das Problem des perzeptiven Wissens der philosophia perennis 2.2 Der Empirismus und das Problem des perzeptiven Wissens
23 23 26
I DAS PROBLEM DES PERZEPTIVEN WISSENS UND DIE STRUKTUR EPISTEMISCHER RECHTFERTIGUNG
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1 Internalistischer epistemischer Fundamentalismus 1.1 Empirismus und perzeptives Wissen 1.2 Der Empirismus und das Problem des perzeptiven Wissens 1.2.1 Doxastisch-direkte Rechtfertigung vs. Selbstrechtfertigung 1.2.2 Empirismus und Internalismus 1.3 Doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten 1.3.1 Die Einführung von Sinnesdaten 1.3.2 Was sind Sinnesdaten? 1.3.3 Ayer über perzeptives Wissen 1.3.3.1 Analytischer Phänomenalismus 1.3.3.2 Alternative Sprachen 1.3.3.3 Hypothetischer Realismus 1.3.3.4 Ayers hypothetischer Realismus und das Problem des perzeptiven Wissens 1.4 Chisholm über Selbstrechtfertigung und perzeptives Wissen 1.4.1 Das Problem des Kriteriums 1.4.2 Die adverbiale Analyse der Wahrnehmung 1.4.3 Selbst-Präsentation und Gewissheit 1.4.4 Selbstrechtfertigung und perzeptives Wissen 1.4.5 Selbstrechtfertigung und das Problem des perzeptiven Wissens
30 30 31 31 33 34 34 39 41 41 42 43 48 51 51 52 54 57 61
2 Externalistischer epistemischer Fundamentalismus 2.1 Armstrongs Thermometer-Konzeption des perzeptiven Wissens 2.2 Goldmans statistischer Reliabilismus 2.3 Goldmans Reliabilismus und das Problem des perzeptiven Wissens
63 64 69 75
3 Sellars’ Argumente gegen den epistemischen Fundamentalismus 3.1 Der Mythos des Gegebenen Exkurs: Sellars und der Wandel der Weltbilder 3.2 Sellars’ Argumente gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten 3.2.1 Ein harmloses und ein weniger harmloses Argument
77 77 80 82 82
3.2.2 Der logische Raum der Gründe 3.2.3 Was zeigt A2? 3.3 Sellars contra Chisholm: Komparatives und nicht-komparatives perzeptives Wissen 3.4 Zwischenbilanz: Internalistischer epistemischer Fundamentalismus 3.5 Sellars gegen den Reliabilismus 3.6 Fazit: Was zeigen Sellars’ Argumente gegen den epistemischen Fundamentalismus?
83 87 89 92 93 96
4 Sellars über perzeptives Wissen 4.1 Intentionalität und Wahrnehmung 4.1.1 Antipoden in der Philosophie des Geistes 4.1.2 Methodologischer Behaviorismus bei Sellars 4.2 Sellars über perzeptives Wissen 4.2.1 Externalistischer Internalismus? 4.2.2 Sellars und die Struktur des perzeptiven Wissens 4.3 Kritik an Sellars’ Konzeption des perzeptiven Wissens 4.3.1 Alston über den Unterschied zwischen ‚sich rechtfertigen’ und ‚gerechtfertigt sein’ 4.3.2 Probleme mit dem Mythos des Gegebenen 4.3.3 Sellars und das Problem des perzeptiven Wissens 4.4 Fazit: Erkenntnistheorie nach Sellars
96 96 96 99 105 105 107 111 111 114 115 116
5 Die Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung 5.1 Bonjour über epistemische Rechtfertigung 5.2 Bonjours epistemische Kohärenztheorie in Grundzügen 5.3 Bonjour über perzeptives Wissen 5.4 Epistemische Kohärenz und das Problem des perzeptiven Wissens
117 118 120 124 127
II DAS PROBLEM DES PERZEPTIVEN WISSENS UND DER GEHALT DER WAHRNEHMUNG
129
1 Argumente für die These des nicht-begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung 1.1 Das Kontinuitätsargument 1.2 Das Argument aus der Passivität der Wahrnehmung 1.3 Das Diskriminierungsargument 1.4 Das Reichhaltigkeitsargument
130 130 133 134 138
2 Die epistemologische Signifikanz der non-konzeptualistischen These
140
3 Peacocke über doxastisch-direkte Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte 3.1 Szenario-Gehalte und protopropositionale Gehalte 3.2 Doxastisch-direkte Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte 3.3 McDowells epistemisches Argument gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch nichtbegriffliche Gehalte
143 143 147
4 Dretskes informationstheoretische Konzeption des perzeptiven Wissens 4.1 Dretskes Informationsbegriff 4.2 Analoge und digitale Repräsentation (Kodierung) 4.3 Dretske über perzeptives Wissen 4.4 Kritik an Dretskes Konzeption des perzeptiven Wissens
154 154 157 162 165
5 Der Non-Konzeptualismus und das Problem des perzeptiven Wissens
168
6 Konzeptualismus und perzeptives Wissen bei John McDowell 6.1 McDowells Dilemma
169 169
149
6.2 Das erste Horn des Dilemmas: Die Kohärenztheorie 171 6.3 Das zweite Horn des Dilemmas: McDowells epistemisches Argument gegen den Non-Konzeptualismus 174 6.4 Fazit zu McDowells Dilemma 175 6.5 McDowell über perzeptives Wissen 176 6.5.1 Minimaler Empirismus 176 6.5.2 Begriffliche Unbegrenztheit 177 6.5.2.1 McDowells Rekategorisierung von Sellars’ logischem Raum der Gründe 178 6.5.2.2 Begriffliche Unbegrenztheit 181 Exkurs: Erste und zweite Natur 186 6.5.3 Die disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung 187 6.6 McDowell und das Problem des perzeptiven Wissens 194
III DEFAULT AND CHALLENGE
197
1. Williams’ Kritik am Primat der Begründung 1.1 Personale und evidentielle Rechtfertigung 1.2 Das Primat der Begründung
197 197 200
2. Michael Williams über epistemische Rechtfertigung und perzeptives Wissen 2.1 Präliminarische Bemerkungen zu James und Wittgenstein 2.2 Williams’ DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung 2.2.1 Ein neues Modell epistemischer Rechtfertigung 2.2.2 Epistemischer Kontextualismus und berechtigte Einwände 2.2.3 Zwischenbetrachtung: Ist die Einführung von DC gerechtfertigt? 2.3 Perzeptives Wissen in DC 2.3.1 Die Anwendung von DC auf das Problem des perzeptiven Wissens 2.3.2 In DC kann das Problem des perzeptiven Wissens therapiert werden 2.4 Rechtfertigungsinternalismus und -externalismus in DC 2.5 DC und die Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung
206 206 212 212 219 226 228 228 233 235 236
IV SYSTEMATISCHE AUSWERTUNG
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1 Rückblick
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2 Gibt es eine Lösung für das Problem des perzeptiven Wissens?
245
APPENDIX: NATURALISIERTE ERKENNTNISTHEORIE
248
1 Quine und Goldman
248
2 Dretske über epistemische Rechte und Pflichten
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LITERATURVERZEICHNIS
256
REGISTER
266
What we see of the things are the things. Why should we see one thing if there were another there? Why should to see and hear be to delude ourselves If seeing and hearing are seeing and hearing? The essential is to be good at seeing, Good at seeing without always thinking, Able to see when one is seeing, And not to think when one is seeing Nor see when one is thinking. (Fernando Pessoa)
Danksagung In einem afrikanischen Sprichwort heißt es, dass man ein ganzes Dorf benötigt, um ein Kind zu erziehen. Ein ganzes Dorf war bei der Entstehung dieser Arbeit zwar nicht beteiligt, dennoch möchte ich einigen Personen ganz besonders für ihre Hilfe und Unterstützung danken: Zuerst möchte ich den Gutachtern meiner an der Universität Leipzig eingereichten Dissertation danken, aus der dieses Buch entstanden ist – Georg Meggle und Nikos Psarros. Ihre Hilfe war für die Entstehung dieses Buches unverzichtbar. Mein besonderer Dank gilt Marcus Willaschek für hilfreiche Hinweise und zahlreiche Diskussionen und Christoph Jäger für anregende Kommentare. Ganz besonders danken möchte ich auch Felicitas Krämer für ihre hartnäckige Kritik und ihre aufbauenden Worte. Ein Dank gebührt auch dem DAAD, mit dessen finanzieller Unterstützung ich 2006 ein halbes Jahr ein Forschungsstipendium an der School of Advanced Studies des University College London wahrnehmen konnte. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich auch bei Tim Crane für seine Einladung nach London und seine Hilfe vor Ort. Ich danke allen meinen Freunden und insbesondere Wolfgang Ley für seine Gastfreundschaft in schwierigen Zeiten und Jochen Resch für seine Freundschaft. Last but not least möchte ich mich bei Julia Schüren für ihr kritisches Auge für die Korrekturen bedanken.
EINLEITUNG 1 Systematische Exposition des Problems des perzeptiven Wissens 1.1 Einleitung Wir gehen normalerweise davon aus, dass unsere Wahrnehmung einen unvermittelten und direkten Zugang zur Realität liefert. Gleichwohl wissen wir, dass es Fehlwahrnehmungen wie Illusionen oder Halluzinationen gibt. Wie kann es aber sein, dass die Wahrnehmung ist, was sie zu sein scheint – ein direkter und unvermittelter Zugang zur Realität – wenn solche Täuschungen möglich sind? Dies bezeichnen manche Philosophen als das Problem der Wahrnehmung.1 Das Problem der Wahrnehmung ist, so formuliert, ein bewusstseinsphilosophisches Problem. Denn es geht um das Verhältnis der mentalen Episoden, die wir als Wahrnehmungen bezeichnen, zu der uns umgebenden Welt. Andere Philosophen behaupten dagegen, das Problem der Wahrnehmung sei ein erkenntnistheoretisches Problem. John Pollock schreibt etwa: The problem of perception is that of explaining how perceptual knowledge is possible. We all agree that sense perception can lead to justified beliefs about the world around us. But the details remain obscure. […] It seems that our perceptual experience could be precisely what it is without the world being at all what it appears to be (we might be brains in vats!). How then is it possible to acquire knowledge of the material world by relying upon sense perception?2
So verstanden lautet das Problem der Wahrnehmung: Wie ist perzeptives Wissen möglich? Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem erkenntnistheoreti-
1 2
Vgl. Crane 2005a&b, Robinson 2001, Smith 2002 u.a. Pollock 1999, S. 15.
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schen Problem der Wahrnehmung.3 Um Missverständnisse zu vermeiden, wird im Folgenden nur noch vom Problem des perzeptiven Wissens die Rede sein. In diesem Einführungskapitel sollen zunächst die systematischen und begrifflichen Voraussetzungen dieses Problems explizit gemacht werden. Wenn wir hier davon ausgehen, dass Wissen eine wahre und gerechtfertigte Überzeugung ist,4 dann nimmt das Problem des perzeptiven Wissens die Form der Frage danach an, wie die Wahrnehmung unser Wissen über die Welt rechtfertigen kann. Unter einer Wahrnehmung möchte ich hier immer eine sinnliche Wahrnehmung verstehen, d. h. eine Wahrnehmung, die ich mittels eines oder mehrerer meiner fünf Sinne erwerbe.5 Pollock behauptet in der eben zitierten Textstelle, dass wir alle darin übereinstimmen, dass die Wahrnehmung unser Wissen über die Welt rechtfertigen kann. Gemeint ist, dass wir in unserer Alltagspraxis normalerweise davon ausgehen, dass sich die Dinge so verhalten, wie wir sie wahrnehmen. Ist die sinnliche Wahrnehmung jedoch wirklich eine Quelle für Wissen über die Welt? Manche Philosophen glauben, dass es gute Gründe gibt, daran zu zweifeln. Ich nehme zum Beispiel wahr, dass Dinge farbig sind. Gibt es aber wirklich die Farben in der Welt, respektive an den Objekten, die ich sinnlich wahrnehme? In einer streng physikalischen Beschreibung sind Farben elektromagnetische Wellen, die mit unserem Nervensystem (unseren Rezeptoren) kausal interagieren. Kann es nicht sein, dass unsere sinnliche Wahrnehmung generell viel zu grob dafür ist, die physikalischen Eigenschaften der Welt um uns herum zu erkennen? Wenn Pollock schreibt, dass die Details der Frage nach der rechtfertigenden Funktion der Wahrnehmung im Dunkeln bleiben, dann meint er damit eben dies: Die Wahrnehmung ist ein komplexer kausaler Prozess. Woher wollen wir wis3
Philosophie des Geistes und Erkenntnistheorie hängen eng zusammen. Es handelt sich hier insofern nicht um eine klinische Trennung der beiden Fragen, sondern um eine rein systematische Fokussierung. 4 Später in dieser Arbeit wird noch auf Wissensanalysen ohne Rechtfertigung eingegangen. Diese spielen aber für den Kontext dieser Arbeit nur eine untergeordnete Rolle. 5 Die sinnliche Wahrnehmung wird klassischerweise folgendermaßen unterteilt: erstens der visuelle, zweitens der akustische, drittens der olfaktorische, viertens der haptische und fünftens der gustatorische Sinn. Ich beschränke mich in dieser Arbeit auf den visuellen Sinn.
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sen, dass er uns nicht mindestens genau so oft täuscht, wie er zu wahren Überzeugungen führt? Es sind Szenarios vorstellbar, in denen wir systematisch getäuscht werden. Descartes’ Täuscher-Szenario ist hier gleichermaßen ein Beispiel wie die in der zeitgenössischen Debatte bevorzugte Philosophen-Fantasie des Gehirns im Tank. Viele Philosophen sind angesichts der Möglichkeit solcher Szenarien skeptisch gegenüber der Annahme, dass die Wahrnehmung Wissen über die Welt rechtfertigen kann. Der Zweifel der Philosophen an der Annahme, dass die Wahrnehmung unser Wissen über die Welt rechtfertigen kann, wird wesentlich dadurch motiviert, wie sie die beiden Begriffe ‚Wahrnehmung’ und ‚Rechtfertigung’ verstehen. Wahrnehmungen scheinen subjektive repräsentationale Zustände mit einer komplexen kausalen Geschichte zu sein. Unsere Wahrnehmungen könnten die gleichen sein, wie Pollock an eben zitierter Stelle bemerkt, wenn an einer Stelle des kausalen Prozesses eine Täuschung stattfindet, etwa weil ein böser Dämon oder ein skrupelloser Neurochirurg unser Gehirn mit falschen Informationen über unsere Umgebung versorgt. Des Weiteren scheinen Rechtfertigungen die Angabe von Gründen zu erfordern. Wahrnehmungen sind aber, wie eben gesagt wurde, kausale innere Episoden, und wir erfahren sie als passiv und nicht als etwas, was wir, wie bei der Angabe von Gründen, aktiv tun. Man kann natürlich die These aufgeben, dass die Wahrnehmung unser Wissen über die Welt rechtfertigt. Die Tragweite einer skeptischen Position hinsichtlich eines rechtfertigenden Einflusses der Wahrnehmung auf unser Wissen über die Welt kann aber kaum überschätzt werden. Der Wahrnehmung wird schließlich nicht nur im Common Sense, sondern auch in vielen ausgearbeiteten philosophischen Positionen eine grundlegende objektivierende Funktion für unser Wissen über die Welt zugeschrieben. Insbesondere, wenn man Wissen von der Angabe von Gründen abhängig macht, stellt sich die Frage danach, wann wir bei unseren Begründungen auf Sachverhalte der Welt Bezug nehmen. Es ist naheliegend der Wahrnehmung eine solche Fundierung des Tatsachenwissens zuzusprechen. Wahrnehmungszeugnisse sind daher auch in vielen Bereichen – vor Gericht, in wissenschaftlichen Experimenten aber auch im Alltag – besonders schlagkräftige Gründe. „Schau doch hin!“ ist ein Satz, der genau aus diesem Grund eine so hohe suggestive Kraft hat. Ich möchte zeigen, wie bestimmte theoretische Annahmen über die Begriffe ‚Wahrnehmung’ und ‚Rechtfertigung’ in verschiedener Hinsicht zur 9
Entstehung des Problems des perzeptiven Wissens führen. Dies wird exemplarisch am Beispiel diverser Theorien dargestellt. Es wird sich zeigen, dass keine der hier untersuchten Positionen das Problem des perzeptiven Wissens lösen kann. Ich werde daher zum Ende dieser Arbeit hin zwei therapeutische Ansätze untersuchen, die wesentliche der Annahmen aufgeben, die zum Problem des perzeptiven Wissens führen und in denen dieses Problem daher keinen theoretischen Raum hat. Die zum Problem des perzeptiven Wissens führenden angesprochenen Annahmen hängen m. E. mit vier grundlegenden Unterscheidungen zusammen, die ich im Folgenden kurz einführen möchte. Es handelt sich um zwei Unterscheidungen, die den Begriff der epistemischen Rechtfertigung betreffen, nämlich erstens die Unterscheidung zwischen epistemischem Fundamentalismus und Kohärentismus und zweitens die Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsinternalismus und -externalismus. Die anderen beiden Unterscheidungen betreffen den Begriff der Wahrnehmung. Es handelt sich erstens um die Unterscheidung zwischen Gehaltsinternalismus und -externalismus der Wahrnehmung und zweitens um die Unterscheidung zwischen begrifflichem und nicht-begrifflichem Gehalt der Wahrnehmung. 1.2 Epistemische Rechtfertigung 1.2.1 Epistemische Rechtfertigung und Wissen Der Begriff des Wissens ist ein evaluativer Begriff, weil wir die Art und Weise bewerten, wie eine epistemische Person zu ihren Überzeugungen kommt.6 Besser gesagt, wir bewerten nicht alle Fälle von wahren Überzeugungen als Wissen, sondern nur diejenigen, in denen eine epistemische Person in der richtigen Art und Weise zu ihren Überzeugungen kommt. Für kognitive Wesen, die sich weniger durch Instinkte als durch Überzeugungen in der Welt orientieren, ist es eine wichtige Frage, ob ihre Überzeugungen wahr oder falsch sind. Warum bewerten wir Wissen höher als wahre Überzeugungen? Beginnen wir mit einigen Beispielen. Zunächst ein terminologischer Punkt: Die Art und Weise, wie eine Person zu ihren Überzeugungen kommt, möchte ich im Folgenden als ‚Prozess der Über6
Vgl. hierzu Alston 2005.
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zeugungsbildung’ bezeichnen. Wahrsagen, Raten oder voreilige Schlussfolgerungen sind epistemisch schlechte Prozesse der Überzeugungsbildung; wir bewerten ihre Resultate daher nicht als Wissen, selbst wenn es sich um wahre Überzeugungen handelt. Epistemisch gute Prozesse der Überzeugungsbildung sind dagegen zumindest prima facie Wahrnehmung, Erinnerung oder adäquate Schlussfolgerungen wie Deduktion, Induktion oder ein Schluss auf die beste mögliche Erklärung. Der Begriff der epistemischen Rechtfertigung soll die Bedingungen dafür angeben, wann eine wahre Überzeugung als Wissen gilt, d. h. dafür, dass eine epistemische Person einen epistemisch guten Prozess der Überzeugungsbildung ausführt. Hierfür wird im Folgenden auch der Terminus ‚wahrheitsleitend’ verwendet. Ein Prozess der Überzeugungsbildung ist dann in einem epistemischen Sinn gut, wenn er wahrheitsleitend ist. Damit ein Prozess der Überzeugungsbildung wahrheitsleitend ist, muss er zumindest in sehr vielen (manche Philosophen glauben sogar allen) Fällen zu wahren Überzeugungen führen. Unser intuitiver Wissensbegriff verlangt eine solche Bedingung, die die Art und Weise bewertet, wie eine Person zu ihren Überzeugungen kommt. Eine Person darf z.B. nicht zufällig zu ihren Überzeugungen kommen. Wenn ich etwa rate, dass p, dann weiß ich nicht, dass p, selbst wenn p der Fall ist.7 Selbst wenn ein erratenes Ergebnis wahr ist, würden wir nicht von Wissen sprechen, weil nicht sichergestellt ist, dass man in anderen Fällen das gleiche Ergebnis produzieren könnte. Raten ist in diesem Sinn kein wahrheitsleitender Prozess. Wir können nun die Funktion des Begriffs der epistemischen Rechtfertigung dadurch bestimmen, dass er Bedingungen für die Wahrheitsleitung unserer Überzeugungen – die richtige Art und Weise, wie wir zu unseren Überzeugungen kommen – angibt. Prima facie rechtfertigen in diesem Sinn beispielsweise Wahrnehmungen, Erinnerungen und Inferenzen Überzeugungen; Wahrsagerei oder Raten dagegen nicht. 7
Vgl. hierzu Pritchard 2005, S. 123 ff. Die weiterführende Frage, ob der Begriff der epistemischen Rechtfertigung epistemischen Zufall überhaupt ausschließen kann, kann hier nicht diskutiert werden. Die Fragestellung dieser Arbeit erlaubt es uns aber, den Begriff der epistemischen Rechtfertigung anzunehmen, obwohl diese Frage noch nicht abschließend geklärt ist. Könnte man zeigen, dass epistemische Rechtfertigung epistemischen Zufall nicht ausschließen kann, wäre die Fragestellung dieser Arbeit sinnlos.
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Dass der Begriff der epistemischen Rechtfertigung die Bedingungen dafür angeben soll, wie eine epistemische Person in einer richtigen Art und Weise zu ihren Überzeugungen kommt, ist unstrittig und wird auch von denjenigen Philosophen zugestanden, die eine Wissensanalyse ohne diesen Begriff vorschlagen.8 Die Probleme und Uneinigkeiten beginnen bei der Frage, welche Bedingungen notwendig für epistemische Rechtfertigung sind.9 1.2.2 Rechtfertigungsinternalismus und -externalismus Unter ‚Rechtfertigungsinternalismus’ verstehe ich die These, dass es für epistemische Rechtfertigung notwendig ist, dass eine epistemische Person einen internen Zugang zum Prozess ihrer Überzeugungsbildung hat, während ich unter ‚Rechfertigungsexternalismus’ die Negation dieser These verstehen möchte. Rechtfertigungsinternalismus: Für epistemische Rechtfertigung ist es notwendig, dass eine epistemische Person einen internen Zugang zum Prozess ihrer Überzeugungsbildung hat. Rechfertigungsexternalismus: Für epistemische Rechtfertigung ist es nicht notwendig, dass eine epistemische Person einen internen Zugang zum Prozess ihrer Überzeugungsbildung hat. Es soll sich hier nicht um explizite Definitionen, sondern lediglich um Begriffseinführungen für den Kontext dieser Arbeit handeln. Die These des Rechtfertigungsinternalismus wird auch als ‚Zugangsinternalismus’ bezeichnet. Unter internem Zugang ist hier zu verstehen, dass einer Person bewusst (evident) ist, wie sie zu ihren Überzeugungen kommt. Ein klarer Fall von Zugangsinternalismus liegt vor, wenn eine epistemische Person Gründe für ihre Überzeugungen angeben kann. Denn eine Person kann Gründe natürlich nur angeben, wenn ihr diese auch bewusst sind. Rechtfertigungsexternalisten streiten ab, dass eine Person Gründe angeben muss, 8
Beispielsweise Dretske 1999. Ich unterscheide in dieser Arbeit nicht zwischen Rechtfertigung im Allgemeinen und epistemischer Rechtfertigung im Besonderen. D. h. unter einer Rechtfertigung verstehe ich im Folgenden immer eine epistemische Rechtfertigung. Abweichungen werden kenntlich gemacht.
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um in ihren Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt zu sein; man soll auch Gründe haben können, ohne dass einem dies bewusst ist. Für Rechtfertigungsexternalisten reicht es daher aus, den Prozess der Überzeugungsbildung zu beschreiben, der zu gerechtfertigten Überzeugungen führt; ein interner Zugang zu diesem Prozess soll hierbei für epistemische Rechtfertigung nicht notwendig sein. In letzter Instanz verweisen Rechtfertigungsinternalisten und -externalisten auf bestimmte Intuitionen, die durch Fälle verdeutlicht werden, in denen eine Person mit einem bestimmten Verfahren, aber ohne Gründe anzugeben, zu einer Überzeugung kommt. Ein bekanntes Beispiel ist der Fall einer, in der erkenntnistheoretischen Debatte als ‚Chicken-Sexer’ bezeichneten, Person, die das Geschlecht von Küken verlässlich bestimmen kann, ohne dass sie hierfür Gründe angeben könnte. Rechtfertigungsinternalisten streiten in solchen Fällen ab, dass die Person über Wissen verfügt, während für Rechtfertigungsexternalisten die de facto-Wahrheitsleitung des Prozesses ausreicht, mit dem die Person zu ihren Überzeugungen über das Geschlecht von Küken kommt. Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsinternalismus und Rechtfertigungsexternalismus ist bedeutsam für das Problem des perzeptiven Wissens. Wenn epistemische Rechtfertigung darin besteht, dass eine epistemische Person über intern zugängliche Gründe verfügt, dann führt diese Konzeption in eine Regressproblematik und damit zu der Frage, ob man die rechtfertigende Funktion der Wahrnehmung in einer fundamentalistischen oder kohärentistischen Konzeption erklären kann. Der Rechtfertigungsexternalismus führt zwar nicht in die Regressproblematik, hat dafür aber, wie wir noch sehen werden, ernste Probleme, unseren Alltagsintuitionen gerecht zu werden. 1.2.3 Epistemischer Fundamentalismus und Kohärentismus Klassischerweise wurde der Begriff der epistemischen Rechtfertigung rechtfertigungsinternalistisch verstanden. Dass eine epistemische Person Gründe für Ihre Überzeugung angeben kann, werde ich im Folgenden auch als ‚Begründung’ bezeichnen. Begründung hat in diesem Sinn verstanden eine iterative Struktur. Wenn ich meine Überzeugung, dass p durch einen Grund, dass q begründe, taucht wiederum die Frage auf, was ein Grund für 13
q sein kann. Doch für jeden Grund qn kann man nach einem weiteren Grund qn+1 fragen. Die iterative Struktur von Begründung führt somit in einen Begründungsregress mit drei möglichen Enden: (i) Der Regress ist infinit. (ii) Der Regress wird dogmatisch beendet. (iii) Es wird zirkulär begründet. Weil (i) für endliche Wesen nicht erfüllbar ist, und weil (ii) und (iii) nicht mit unserem intuitiven Begriff von Rationalität vereinbar sind, handelt es sich um ein Trilemma. Die beiden Auswege aus dem Trilemma liegen bekanntermaßen darin, (ii) oder (iii) als unproblematisch anzunehmen. Epistemische Fundamentalisten behaupten, dass nicht jeder Abbruch des Regresses dogmatisch ist, indem sie eine Klasse epistemisch bevorzugter, weil nicht durch andere Überzeugungen begründungsbedürftiger, Überzeugungen angeben. Diese als „Basisüberzeugungen“ bezeichneten Überzeugungen sollen die Rechtfertigungs-grundlage des gesamten Wissens sein. Beispiele für solche Basisüberzeugungen sind etwa ‚2+2=4’ oder ‚Dieses Buch sieht blau aus’. Die Rechtfertigung durch Begründung möchte ich hier auch als doxastische Rechtfertigung bezeichnen, nach der nur Überzeugungen oder sonstige doxastische Einstellungen Gründe liefern können. Epistemische Fundamentalisten müssen daher eine Form von nicht-doxastischer Rechtfertigung für die Basisüberzeugungen annehmen. Es gibt m. E. zwei wichtige Konzepte nicht-doxastischer Rechtfertigung, die in diesem Zusammenhang vorgeschlagen wurden: Erstens das Konzept der doxastisch-direkten Rechtfertigung, welches wesentlich davon ausgeht, dass es etwas anderes als doxastische Einstellungen (etwa Sinnesdaten oder reliable Kausalrelationen) gibt, was unsere Überzeugungen rechtfertigen kann. Zweitens wird von einigen Autoren das Konzept der Selbstrechtfertigung angenommen. Beide Konzepte werden in Kapitel I eingeführt. Epistemische Kohärentisten dagegen behaupten, dass nicht jede Form von zirkulärer Begründung schlecht ist und verweisen hierbei auf einen epistemischen Begriff von Kohärenz. Ein kohärentes doxastisches System soll schließlich zur Rechtfertigung der einzelnen Überzeugungen beitragen. Kohärentisten müssen in diesem Sinn den begrifflichen Rahmen der Rechtfertigung durch Gründe nicht verlassen. Denn Rechtfertigung ist für sie ei14
ne Eigenschaft eines Systems von Überzeugungen. Weder streiten Kohärentisten ab, dass es bestimmte, bevorzugte Überzeugungen gibt, noch streiten Fundamentalisten ab, dass Kohärenz ein hoher epistemischer Wert ist. Der Streit dreht sich vielmehr darum, welches die epistemischen Grundbegriffe sind, mit denen der Begriff der epistemischen Rechtfertigung definiert wird. Diese skizzenhaften Bemerkungen sollten hier zunächst ausreichen. Wir werden im weiteren Verlauf noch fundamentalistische und kohärentistische Konzeptionen kennen lernen. Wie verhalten sich Fundamentalismus und Kohärentismus zum Problem des perzeptiven Wissens? Fundamentalisten können gegen den Kohärentismus die Intuition geltend machen, dass doxastische Systeme keinen Kontakt mit der Realität haben, wenn sie ihre rechtfertigende Kraft nur aus sich selbst erhalten. Ohne einen direkten Einfluss der Welt auf unser Denken scheint dieses sich nur um sich selbst zu drehen. Einen solchen Einfluss schreiben Empiristen klassischerweise der Wahrnehmung zu – die Wahrnehmung soll unsere Überzeugungen in einer nicht-doxastischen Weise rechtfertigen. Empiristen sind in dem Sinn mit dem Problem des perzeptiven Wissens konfrontiert, dass sie eine nicht-doxastische Art der Rechtfertigung plausibel machen müssen. Kohärentisten bleiben im Gegensatz zum Fundamentalismus im begrifflichen Rahmen der doxastischen Rechtfertigung durch Gründe. Kohärentisten können entweder versuchen, das Problem des perzeptiven Wissens insofern zu umgehen, dass sie der Wahrnehmung keine rechtfertigende Funktion zuschreiben. Die Alternative für den Kohärentisten besteht darin, Wahrnehmungen einen begrifflichen Gehalt und somit die Form von Protoüberzeugungen zuzuschreiben; freilich wirft dies dann die Frage auf, wie die Wahrnehmung das doxastische System mit objektiven Informationen versorgen soll. 1.3 Der Gehalt der Wahrnehmung 1.3.1 Begrifflicher und nicht-begrifflicher Gehalt Wenn Philosophen den Begriff des Gehaltes verwenden, dann meinen sie damit den repräsentationalen Gehalt mentaler Einstellungen, d. h. den Gehalt etwa von Überzeugungen, Wünschen oder Zweifeln. Überzeugungen repräsentieren uns beispielsweise die Welt, indem das, was ich glaube (ei15
ne Proposition, dass p) wahr oder falsch sein kann. Überzeugungen haben daher einen begrifflichen Gehalt. Unter einem Begriff möchte ich hier drei miteinander zusammenhängende Aspekte verstehen: Begriffe sind erstens kognitiv aktiv, d. h. Begriffe wendet man an. Begriffe vermitteln zweitens Inferentialität, weil Begriffe weitere Begriffe implizieren oder wahrscheinlich machen. Der Begriff der Röte impliziert z.B., dass etwas nicht grün und dass es farbig ist. Begriffe sind in diesem Sinn notwendig dafür, dass man Gründe als Gründe angeben kann. Begriffe sind drittens erworben und setzen die Einführung in eine Sprache voraus.10 Dass eine mentale Einstellung einen begrifflichen Gehalt hat, ist daher so zu verstehen, dass das Haben einer solchen Einstellung wesentlich von der Einführung in eine Sprache abhängt. Wie repräsentiert uns die Wahrnehmung die Welt? Kant scheint mit seinem berühmten Slogan, dass Wahrnehmungen (Anschauungen) ohne Begriffe blind sind,11 sagen zu wollen, dass die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat. Hinter dieser konzeptualistischen These steht die Auffassung, dass wir in der Wahrnehmung nicht mit einem diffusen Haufen sinnlicher Eindrücke (Kants Mannigfaltigkeit des Sinnlichen) konfrontiert sind, sondern mit Tischen, Stühlen, Katzen, Bäumen, Häusern etc. – d. h. mit geordneten, phänomenalen Gehalten. Denn: wie soll ich etwas als etwas wahrnehmen, wenn keine begrifflichen Kapazitäten angewendet werden? Man kann jedoch auch gegen diese konzeptualistische These argumentieren. Ein bekanntes Argument ist etwa, dass die Wahrnehmung kognitiv passiv ist und daher einen nicht-begrifflichen Gehalt haben muss. Ein weiteres, oft herangezogenes Argument geht davon aus, dass der Gehalt der Wahrnehmung zu fein differenziert für begriffliche Unterscheidungen ist, so dass er nicht-begrifflicher Natur sein muss. Diese Argumente sollen hier freilich noch nicht bewertet werden. Sie werden in Kapitel II genauer dargestellt, analysiert und kritisch diskutiert. Die erkenntnistheoretisch relevante Konsequenz aus der non-konzeptualistischen These ist, dass uns die Wahrnehmung Gründe nicht wie bei einer Begründung, d. h. bei der Angabe von Gründen, vermittelt, sondern in einer anderen Weise. Die Frage lau10
Dies ist freilich ein kontroverser Punkt, weil Neo-Rationalisten wie Chomsky und Peacocke in ihren jüngsten Arbeiten angeborene begriffliche Fähigkeiten annehmen. 11 Kritik der reinen Vernunft B75, A51.
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tet dann: In welcher Weise rechtfertigt die Wahrnehmung unser Wissen über die Welt? Der Non-Konzeptualist muss bei der Beantwortung dieser Frage, so scheint es zumindest, ein anderes Konzept von Rechtfertigung vorschlagen als das internalistische Konzept der Angabe von Gründen. In dieser Weise führt der Non-Konzeptualismus zum Problem des perzeptiven Wissens. Allerdings ist auch der Konzeptualist, d. h. der Vertreter der These, dass die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat, mit dem Problem des perzeptiven Wissens konfrontiert. Denn wenn die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat, scheint die Gefahr zu bestehen, dass sie uns keine objektiven Daten mehr über eine Welt liefern kann, die unabhängig von unseren begrifflichen Systemen ist, mit denen wir uns auf die Welt beziehen. Für den Konzeptualisten nimmt das Problem des perzeptiven Wissens daher die Form der Frage an, wie die Wahrnehmung begriffliches Wissen rechtfertigen kann, wenn die Rechtfertigung aus dem begrifflichen System kommt. 1.3.2 Gehaltsinternalismus und -externalismus Gehaltsinternalismus und -externalismus sind allgemein Thesen darüber, wie eine bestimmte Eigenschaft E – das Haben eines mentalen Gehaltes – individuiert wird. Der Gehaltsexternalismus behauptet, dass E zumindest teilweise von der physikalischen oder sozialen Beschaffenheit der Umgebung eines Subjektes abhängt. Wissen ist ein Fall, in dem diese These trivialerweise wahr ist, denn Wissen impliziert die Wahrheit eines geglaubten propositionalen Gehaltes. Klassischerweise wird bei Überzeugungen und Wahrnehmungen angenommen, dass E alleine über intrinsische Eigenschaften eines Subjektes bestimmt werden kann; sei dies in der Form einer cartesischen Psychologie oder einer naturalistischen Supervenienztheorie. Gehaltsinternalisten streiten wohlgemerkt in der Regel nicht ab, dass es externe Ursachen für mentale Gehalte gibt. Man kann dies durch ein einfaches Beispiel illustrieren: Ein Motor läuft nur mit Treibstoff. Das Laufen des Motors ist aber eine intrinsische Eigenschaft des Motors.12 Analog dazu stellen sich Gehaltsinternalisten auch das Haben mentaler Gehalte vor. 12
Beispiel aus: Stanford Encyclopedia of Philosophy: “Externalism About Mental Content”.
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Vor diesem Hintergrund können wir die beiden Begriffe folgendermaßen einführen: Gehaltsinternalismus: Mentale Gehalte hängen ausschließlich von den intrinsischen Eigenschaften eines Subjektes ab. Gehaltsexternalismus: Mentale Gehalte hängen von externen Faktoren der Umgebung eines Subjektes ab. Man kann behaupten, dass in den vergangenen 20-30 Jahren der Gehaltsexternalismus seinem internalistischen Pendant den Rang abgelaufen hat.13 Dies hat viel mit der Plausibilität bestimmter Gedankenexperimente zu tun, die typischerweise von der Betrachtung physisch identischer Individuen – A und B – in verschiedenen physikalischen oder sozialen Umgebungen ausgehen. Dann argumentiert man, dass A Gedanken und Überzeugungen hat, die bei B nicht vorkommen.14 Die mentalen Einstellungen scheinen daher von den externen Faktoren abhängen zu müssen. Was für die Debatte um den Gehalt mentaler Einstellungen im Allgemeinen zutrifft, trifft auch für die Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung zu. Sowohl die klassischen als auch die modernen (logischen) Empiristen gehen von einer gehaltsinternalistischen Konzeption der Wahrnehmung aus. D. h. sie nehmen an, dass in der Wahrnehmung ein repräsentationaler Gehalt gegeben ist, der zwar physikalische Ursachen hat, der aber durch intrinsische Eigenschaften (etwa darüber, wie es sich für ein Subjekt anfühlt oder wie ihm etwas erscheint) bestimmt ist. Neuere philosophische Konzeptionen gehen dagegen zunehmend von einem gehaltsexternalistischen Verständnis der Wahrnehmung aus, welcher der Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt zuspricht, der wesentlich von der physikalischen Umgebung eines Sprechers abhängt. Die gehaltsexternalistischen Konzeptionen der Wahrnehmung werden uns vor allem in Kapitel II begegnen. Beide philosophischen Thesen führen in ganz unterschiedlicher Weise zum Problem des 13
Ansgar Beckermann behauptet sogar, der Gehaltsinternalismus sei widerlegt; bzw. der Gehaltsexternalismus bewiesen. Vgl. Beckermann 2000, S. 363. 14 Am bekanntesten ist in diesem Kontext sicher Putnams semantischer Externalismus (als eine Konzeption der Bedeutung von Begriffen), die aber etwa von McGinn und Burge auch auf mentale Gehalte wie Überzeugungen übertragen wurde. Vgl. Putnam 1975, McGinn 1989 und Burge 1979.
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perzeptiven Wissens. Während man in einer gehaltsinternalistischen Konzeption der Wahrnehmung mit der Frage konfrontiert ist, wie eine Proposition darüber, wie einer Person etwas erscheint eine Proposition darüber, wie die Dinge in der Welt sind, rechtfertigen kann, führt der Gehaltsexternalismus der Wahrnehmung zu der Frage, wie ein kausaler Prozess begriffliches Wissen epistemisch rechtfertigen kann. 1.4 Ziel und Gliederung der Arbeit Eine Analyse des Problems des perzeptiven Wissens spielt sich somit in einer komplexen Matrix mit vier Dimensionen ab: Rechtfertigungsinternalismus Epistemischer Kohärentismus Konzeptualismus Gehaltsinternalismus
Rechtfertigungsexternalismus Epistemischer Fundamentalismus Non-Konzeptualismus Gehaltsexternalismus
Je nachdem, von welchem Begriff der Wahrnehmung bzw. von welchem Begriff der Rechtfertigung ausgegangen wird, stellt sich das Problem des perzeptiven Wissens – d. h. die Frage, wie die Wahrnehmung Wissen epistemisch rechtfertigen kann – anders dar: Die vier Thesen über die Struktur epistemischer Rechtfertigung führen in unterschiedlicher Weise zu der Frage, wie die Wahrnehmung einen rechtfertigenden Einfluss haben kann. Rechtfertigungsinternalisten müssen zeigen, dass Wahrnehmungen als intern zugängliche Gründe Tatsachenwissen über die Welt rechtfertigen können. Rechtfertigungsexternalisten haben dieses Problem nicht, müssen aber dafür eine plausible Erklärung dafür liefern, wie eine epistemische Person ihre Wahrnehmungen als Gründe anführen kann. Epistemische Fundamentalisten müssen erklären, wie die Wahrnehmung zur Rechtfertigung der Basisüberzeugungen beitragen kann, während epistemische Kohärentisten erklären müssen, wie Wahrnehmungen in einem kohärenten System aus Überzeugungen eine rechtfertigende Funktion übernehmen können. Auch die vier Thesen über den Gehalt der Wahrnehmung führen in einer unterschiedlichen Weise zum Problem des perzeptiven Wissens. Konzeptualisten können Wahrnehmungen zwar als Gründe ausweisen, sind aber 19
mit dem Idealismuseinwand konfrontiert, der mit der epistemologischen Frage korreliert, wie diese Gründe ein Wissen über eine vom Bewusstsein unabhängige Welt rechtfertigen können. Non-Konzeptualisten stehen dagegen vor dem Problem, Wahrnehmungen eine rechtfertigende Funktion zuzuschreiben; d. h. sie müssen eine Form nicht-begrifflicher Rechtfertigung begründen. Für Gehaltsinternalisten ist der Bezug der Wahrnehmung zu den Tatsachen einer bewusstseinsunabhängigen Welt, und damit eine rechtfertigende Funktion der Wahrnehmung für das Tatsachenwissen, problematisch. Für Gehaltsexternalisten sind die Tatsachen selbst der Gehalt der Wahrnehmung, was wiederum die Frage aufwirft, wie Tatsachen Gründe für das propositionale Wissen sein können. Hier sollte zunächst die Komplexität des Problems des perzeptiven Wissens deutlich gemacht werden. Weil es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, alle acht Aspekte dieses Problems gleichermaßen zu beachten, wird einerseits das Verhältnis von epistemischem Fundamentalismus und epistemischem Kohärentismus und andererseits auf das zwischen Konzeptualismus und Non-Konzeptualismus im Zentrum der Betrachtung liegen. Im ersten Kapitel werde ich mich mit der Frage beschäftigen, wie sich das Problem des perzeptiven Wissens zur Debatte um die Struktur epistemischer Rechtfertigung verhält. Hierbei werde ich mich stark an Sellars‘ Kritik am epistemischen Fundamentalismus orientieren und mich seiner skeptischen Einschätzung anschließen, dass das Problem des perzeptiven Wissens nicht im Rahmen einer fundamentalistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung gelöst werden kann. Anschließend werde ich die Frage diskutieren, welche Konzeption epistemischer Rechtfertigung Sellars bevorzugt. Es ist naheliegend anzunehmen, dass Sellars angesichts seiner Fundamentalismus-Kritik auf eine epistemische Kohärenztheorie hinausmöchte. Eine genaue Lektüre von Sellars‘ erkenntnistheoretischen Schriften führt jedoch zu einem disparaten Eindruck. Welche Konzeption epistemischer Rechtfertigung Sellars selbst annimmt, bleibt unklar. Ein klarer Vertreter der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung ist dahingegen Bonjour, dessen Ansatz erörternd ich dieses erste Kapitel abschließen werde. Mein Fazit hierzu wird sein, dass sich das Problem des perzeptiven Wissens weder in einer fundamentalistischen noch in einer kohärentistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung lösen lässt. Die Frage nach 20
einer möglichen Alternativkonzeption epistemischer Rechtfertigung werde ich bis zum dritten Kapitel der Arbeit aufschieben. Im zweiten Kapitel werde ich erörtern, wie sich die Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung zum Problem des perzeptiven Wissens verhält und mich hierbei auf die Debatte zwischen Konzeptualisten und NonKonzeptualisten beschränken. Nach einer Darstellung der Hauptargumente für die These des nicht-begrifflichen Gehalts der Wahrnehmung werde ich die Ansätze von Dretske und Peacocke erörtern. Peacocke versucht, das Problem des perzeptiven Wissens zu lösen, indem er der Wahrnehmung einen nicht begrifflichen Gehalt zuschreibt, der dann das Wissen über die Welt epistemisch rechtfertigen soll. Ich werde mich McDowells Kritik an diesem Lösungsvorschlag anschließen: Die Wahrnehmung kann unser Wissen über die Welt nicht epistemisch rechtfertigen, wenn sie einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. Im Anschluss daran werde ich Dretskes wissensexternalistischen Ansatz untersuchen, der die These aufgibt, dass Wissen notwendig epistemische Rechtfertigung impliziert. Dretske geht wie Peacocke davon aus, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, nimmt aber einen wesentlich schwächeren Wissensbegriff an. Dretskes Ansatz werde ich zurückweisen, weil er zu einem inflationären Gebrauch des Wissensbegriffs führt, bei dem man nicht mehr zwischen dem Wissen kognitiv höherer und kognitiv niedrigerer entwickelter Wesen unterscheiden kann. Nach der Diskussion der Ansätze von Peacocke und Dretske werde ich McDowells Vorschlag für eine Therapierung des Problems des perzeptiven Wissens erörtern. McDowell schlägt vor, die konzeptualistische These mit der These, dass Tatsachen die Gehalte von Wahrnehmungen sind zu verbinden. McDowell benötigt für seine Konzeption zwei sehr starke Thesen: zum einen eine Tatsachenontologie und zum anderen eine disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung. Beide Thesen werden von McDowell weniger begründet als vorausgesetzt. Weil ich diese beiden Thesen für sehr problematisch halte, werde ich McDowells Ansatz ebenfalls zurückweisen. Im dritten Kapitel schließe ich mich McDowells These an, dass das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösbar, sondern nur therapierbar ist. Im Zentrum des von mir vertretenen Ansatzes steht eine Überlegung, die Wittgenstein in Über Gewissheit skizziert und die von Michael Williams systematisch genauer ausgearbeitet wird. Hierbei wird angenommen, dass 21
viele unserer Überzeugungen standardmäßig gerechtfertigt sind, ohne dass man Gründe angeben müsste. Zu diesen Überzeugungen zählen neben Überzeugungen über Erinnerungen und über die mentalen Zustände anderer Personen vor allem auch die Wahrnehmungsüberzeugungen über die uns umgebende Welt. Mit diesem Default and Challenge-Modell epistemischer Rechtfertigung kann man nicht nur die problematische Fundamentalismus-Kohärentismus-Debatte auflösen, sondern darüber hinaus auch Wahrnehmungsüberzeugungen einen positiven epistemischen Status zuschreiben, ohne dass man zunächst erklären müsste, wie der kausale Prozess der Wahrnehmung Wahrnehmungsüberzeugungen rechtfertigen kann.
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2 Historische Exposition des Problems des perzeptiven Wissens “Philosophy without the history of philosophy, if not empty or blind, is at least dumb” (Wilfrid Sellars) Diese Arbeit vertritt eine systematische These, nämlich, dass man das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen, sondern nur therapieren kann. Diese These erfährt ihre Kraft nur vor dem Hintergrund der vielen Lösungsversuche, die im Verlauf der vergangenen fünfzig Jahre von Philosophen entwickelt wurden. Aus diesem Grund wird in den ersten beiden Kapiteln auf einige der besonders einflussreichen Positionen eingegangen. Das Scheitern dieser Ansätze motiviert die Suche nach einer therapeutischen Auflösung des Problems des perzeptiven Wissens, die dann im dritten Kapitel vorgestellt wird. Ich möchte im Folgenden zunächst in einem kurzen Exkurs auf den allgemeinen philosophiehistorischen Hintergrund des Problems des perzeptiven Wissens eingehen. Dieser Exkurs dient der allgemeinen Orientierung, trägt aber nichts zur Argumentation dieser Arbeit bei. Anschließend werde ich noch einmal auf die eigentlich systematisch relevanten Aspekte eingehen, die sich aus der neueren philosophiehistorischen Betrachtung ergeben. 2.1 Exkurs: Das Problem des perzeptiven Wissens der philosophia perennis Nicht alle großen Philosophen kannten ein Problem des perzeptiven Wissens. Aristoteles etwa beginnt sein Buch Λ der Metaphysik mit den bekannten Sätzen: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen.“15 Menschen sind rationale Tiere und können sich nicht unbedingt auf ihre Instinkte verlassen. Dies ist es, was Aristoteles wahrscheinlich meint, wenn er schreibt, dass Menschen von Natur aus nach Wissen streben. Es ist eine 15
Aristoteles 1984, S. 17.
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natürliche, d. h. wesentliche, Eigenschaft von Menschen, nach propositionalem Wissen zu streben. Die Sinneswahrnehmung gilt Aristoteles hierbei als bevorzugte epistemische Quelle, die Menschen mit anderen biologischen Organismen teilen. Menschen, bzw. rationale Tiere, können für Aristoteles aber lernen, Merkmale ihrer Wahrnehmungen zu klassifizieren und in diesem Sinn Erfahrungen und schließlich abstrakte theoretische Systeme auszubilden. Mit dieser dreistufigen Konzeption des perzeptiven Wissens weicht Aristoteles grundsätzlich von den Vorstellungen Platons ab. Wissen und Wahrnehmung fallen für Platon unter distinkte epistemische Kategorien: Während die Wahrnehmung bestenfalls zu einer für alltägliche Kontexte relevanten Meinung (doxa) führe, hänge das echte Wissen (episteme) von einer tieferen, begrifflichen Einsicht ab; mithin davon, dass wir eine theoretische Einsicht in begriffliche Zusammenhänge erwerben. Für Platon führt kein Weg von der Wahrnehmung zum Wissen. Die Gleichnisse der Politeia zeigen deutlich Platons feindliche Haltung gegenüber der Wahrnehmung als Quelle von Wissen. Die Wahrnehmung ist es letztlich, welche die Bewohner der Höhle im Höhlengleichnis täuscht, und wenn im Sonnengleichnis von ‚sehen’ die Rede ist, dann ist hiermit das begriffliche Denken (das Licht der Vernunft) und nicht das sinnliche Sehen angesprochen. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass Platon in erster Linie an einem mathematischen Wissensbegriff, bzw. an einem Wissen über abstrakte Entitäten, interessiert war, weshalb es in gewisser Hinsicht nicht verwunderlich ist, dass die Wahrnehmung als Quelle von Wissen für ihn nicht infrage kommt. Weder für Platon noch für Aristoteles gibt es somit ein Problem des perzeptiven Wissens. Für Aristoteles führt die Wahrnehmung in einer natürlichen Weise zu Wissen über die Welt, und Platon lehnt die Wahrnehmung als Quelle des Wissens vollständig ab. Von einem Problem des perzeptiven Wissens kann man in einem engeren Sinn erst seit der neuzeitlichen Philosophie sprechen, deren repräsentationalistisches Verständnis des Mentalen neuartige Fragen aufwirft.16 Der Grundbegriff des Mentalen ist für die neuzeitlichen Philosophen der Begriff der Vorstellung bzw. der Idee. Ideen sollen mentale Repräsentationen der Strukturen der Realität sein. Dies evoziert zumindest zwei Fragen: erstens, unter welchen Bedingungen Ideen ein verlässliches Bild der Realität 16
Vgl. Rorty 1981.
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liefern und zweitens, wie diese Ideen im Kausalnexus der Natur einzuordnen sind. Beide Fragen korrelieren mit dem Problem des perzeptiven Wissens. Die erste Frage thematisiert die Möglichkeit eines epistemischen Zugangs zur Welt unter den Bedingungen des Gehaltsinternalismus. Die zweite Frage fokussiert zunächst ein bewusstseinsphilosophisches Problem (nämlich, wie begriffliches Denken von nicht-begrifflichen Prozessen abhängen kann), führt aber ebenso zu der epistemologischen Frage, wie ein kausaler nicht-begrifflicher Prozess begriffliches Wissen epistemisch rechtfertigen kann. Wahrnehmungen zählen für die neuzeitlichen Philosophen ebenfalls zu den Ideen, werden aber von den Rationalisten epistemisch gering geschätzt. Am bekanntesten ist sicher Descartes’ Einwand aus den Meditationen, nach dem die Wahrnehmung kein Fundament – kein fundamentum inconcussum – des Wissens sein kann, weil es Täuschungsfälle, d. h. Fälle, in denen wir die Welt anders wahrnehmen als sie ist, gibt.17 Hier gibt es eine Kontinuität der Rationalisten mit Platons Philosophie, weil beide nach einem stabilen, deduktiv geschlossenen Wissen suchen. Daher gibt es für Rationalisten ebenfalls kein Problem des perzeptiven Wissens im engeren Sinn. Das Problem des perzeptiven Wissens ist ein Problem, welches unter den Bedingungen der Grundannahmen des Empirismus entsteht. Empiristen wie Locke und Hume teilen zwar die rationalistische Annahme, dass uns die Wahrnehmung die Tatsachen der Welt nicht direkt präsentiert. Sie ziehen allerdings unterschiedliche epistemologische Konsequenzen aus dieser These. Empiristen behaupten generell, dass in der Wahrnehmung etwas anderes gegeben ist als physikalische Gegenstände, nämlich sinnliche Gehalte (‚simple ideas’ (Locke), ‚sense-data’ (Berkeley, später Russell, Ayer u.a.), ‚impressions’ (Hume)). Dieses repräsentationalistische Verständnis der Wahrnehmung führt dann zu der Frage unter welchen Bedingungen wir die Welt wahrnehmen, wie sie ist; d. h. wie ein Schluss von sinnlichen Gehalten auf die Existenz physikalischer Gegenstände zu rechtfertigen ist. Eine mögliche Antwort lautet hier, dass es einen induktiven Schluss von sinnlichen Gehalten auf die Existenz physikalischer Gegenstände gibt. Gegen diesen etwa von Locke angenommenen Schluss hat bereits Hume pro-
17
Vgl. Descartes 1992.
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minent argumentiert, dass er über den Gehalt der Prämissen hinausgeht.18 Wir können, so Hume, nicht von sinnlichen Gehalten auf etwas Anderes (physikalische Gegenstände) schließen.19 Hume gesteht zwar zu, dass der Glaube an eine Welt außerhalb des Bewusstseins eine unhintergehbare Denkgewohnheit – eine ‚natürliche Überzeugung’, wie Hume dies bezeichnet – ist. Gleichwohl seien nur die Sinneseindrücke real. Eine Alternative zu diesem skeptischen Ergebnis ist Berkeleys ontologischer Phänomenalismus, der die idealistische These annimmt, dass physikalische Gegenstände Konstruktionen aus Sinnesdaten sind.20 Allerdings steht die philosophische Tradition seit der Neuzeit solchen idealistischen Ansätzen skeptisch gegenüber. Kant versucht schließlich mit seinem transzendentalen Idealismus zu zeigen, dass es ein Tatsachenwissen (Gegenstandserkenntnis) nur unter den Bedingungen eines phänomenalen Zugangs und begrifflicher Urteilsformen geben kann.21 Kant verstand seine Position in der Kritik der reinen Vernunft selbst als einen Versuch zur Überwindung der Probleme einer idealistischen Position. Es ist allerdings zumindest ein Desideratum der Kant-Forschung zu zeigen, wie ein Schluss von den eigenen phänomenalen Zuständen auf real existierende, physikalische Gegenstände gerechtfertigt werden kann. 2.2 Der Empirismus und das Problem des perzeptiven Wissens Das Problem des perzeptiven Wissens entsteht unter den Bedingungen des Empirismus, weil der Empirist Wahrnehmungen als repräsentationale Zustände ohne begrifflichen Gehalt annimmt. Unter diesen Bedingungen scheint man mit einem Dilemma konfrontiert zu sein: entweder man gibt die These auf, dass die Wahrnehmung kausal zu Überzeugungen über die Welt führt, oder man gibt die andere These auf, dass die Wahrnehmung unsere Überzeugungen über die Welt rechtfertigen kann. Sellars hat als ei18
Vgl. Locke 1979 und Hume 2000. Weder bei einem induktiven noch bei einem deduktiven Schluss können wir auf etwas schließen, was nicht bereits in den Prämissen enthalten ist. Ein solcher Schluss scheint daher in einer gehaltsinternalistische Konzeption der Wahrnehmung nicht möglich zu sein. 20 Vgl. Berkeley 1999. 21 Vgl. Kant 1998. 19
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ner der ersten in einer systematisch stringenten Weise auf dieses Dilemma hingewiesen, das den Kern des Problems des perzeptiven Wissens ausmacht.22 Selbst wenn man den komplexen, kausalen Prozess der Wahrnehmung wissenschaftlich adäquat beschreibt, steht immer noch die Frage im Raum, wie die Wahrnehmung Gründe für Überzeugungen liefern kann. Denn wenn Gründe begrifflich verfasst sind, dann scheinen sie nicht in der Weise kausal zu ‚funktionieren‘, wie wir uns dies bei der Wahrnehmung vorstellen. Wahrnehmungen führen spontan und unfreiwillig zu Überzeugungen. Diese Unfreiwilligkeit wird hierbei sogar epistemisch besonders geschätzt. Denn sie ist auch ein Ausdruck dafür, dass unsere Überzeugungen einen korrigierenden Einfluss von außerhalb der begrifflichen Sphäre des propositionalen Wissens erhalten. Man kann diesen Punkt, wie McDowell, sogar noch weiter zuspitzen, indem man die Möglichkeit von begrifflichem Wissen über die Welt davon abhängig macht, dass ein objektivierender Einfluss auf dieses Wissen vorliegt. Dieser Einfluss scheint dann nur von außerhalb der Sphäre des Begrifflichen kommen zu können, und traditioneller Weise wird ein solcher Einfluss der Wahrnehmung zugeschrieben. Wo ist aber das Relais, das die Rationalität begrifflicher Begründungen mit der Kausalität der Wahrnehmung verbindet? Diese Grundfrage des Empirismus wird in den ersten beiden Kapiteln ausführlich diskutiert. Hierbei orientiere ich mich vor allem an Sellars und McDowell, die m. E. eine überzeugende Kritik an einer zu naiven Vorstellung darüber geliefert haben, wie das Problem des perzeptiven Wissens zu lösen ist. An dieser Stelle wird auch die historische Dimension dieses Problems deutlich: Ohne eine Genealogie des Scheiterns hinsichtlich der Lösung dieses Problems wird nicht klar, warum man einen radikal neuen Weg gehen sollte, wie dies etwa McDowell vorschlägt. Diese Arbeit zeichnet den Weg einer Debatte nach, die mit den Arbeiten der logischen Empiristen beginnt, über Sellars‘ Kritik dieser Ansätze, bis hin zu McDowells Auseinandersetzung mit den Non-Konzeptualisten verläuft. Hierbei geht es nicht um eine lückenlose, philosophiehistorische Darstellung, sondern um eine Motivation einer der Hauptthesen dieser Arbeit: dass das Problem des perzeptiven Wissens nicht gelöst werden kann. Die teilweise philosophiehistorische Vorgehensweise dient also einem sys22
Vgl. Sellars 1997.
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tematischen Interesse. Die zweite Hauptthese ist, dass das Problem des perzeptiven Wissens therapiert werden kann, wenn bestimmte Grundannahmen über den Begriff der Rechtfertigung aufgegeben werden. Diese zweite These wird im dritten Kapitel begründet.
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I DAS PROBLEM DES PERZEPTIVEN WISSENS UND DIE STRUKTUR EPISTEMISCHER RECHTFERTIGUNG Wir verdanken Sellars eine gründliche Destruktion einer allzu naiven Vorstellung darüber, wie die Wahrnehmung unser Wissen über die Welt rechtfertigen kann. Zur Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Neo-Empiristen wie Ayer und Chisholm die prägenden Gestalten in der erkenntnistheoretischen Debatte um das Problem des perzeptiven Wissens. Diese Autoren gehen von einer rechtfertigungsinternalistischen, fundamentalistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung aus. Beide nehmen hierbei weiterhin eine gehaltsinternalistische These über den Gehalt der Wahrnehmung an, nämlich, dass uns in der Wahrnehmung ein phänomenaler Gehalt mit einer bestimmten Eigenschaft erscheint. Aus diesem perzeptiven Basiswissen soll dann unser gesamtes Wissen über die Welt abgeleitet werden. Der Unterschied beider Positionen besteht in divergenten Annahmen über die Struktur des vermeintlichen phänomenalen Gehalts der Wahrnehmung: Während Ayer Sinnesdaten als Gehalt der Wahrnehmung annimmt (der einem so und so erscheint), analysiert Chisholm den Gehalt der Wahrnehmung adverbial, d. h. ohne direkte Referenz auf ein Objekt. Ich werde im Folgenden zunächst diese beiden Ansätze genauer darstellen und mit Sellars‘ kritischen Argumenten konfrontieren (wobei ich diese Argumente teilweise modifizieren werde, wenn es nötig ist). Nachdem ich diese beiden Ansätze zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissens zurückgewiesen habe, werde ich auf die Möglichkeit einer Lösung dieses Problems in einer rechtfertigungsexternalistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung erörtern. Hierbei werde ich schwerpunktmäßig auf Goldmans reliabilistischen Ansatz eingehen, den Sellars interessanter Weise bereits in Empiricism and the Philosophy of Mind antizipiert und m. E. erfolgreich zurückweist. Nachdem ich mich Sellars‘ Argumenten gegen den externalistischen epistemischen Fundamentalismus angeschlossen habe, werde ich die Frage danach aufwerfen, welche erkenntnistheoretische Position Sellars selbst vertritt. Hinsichtlich dieser Frage komme ich zu keinem abschließenden Ergebnis und werde im Anschluss an meine agnostische Sellars-Interpretation Bonjours an Sellars angelehnten kohärentistischen Vorschlag für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens erörtern und zurückweisen.
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1 Internalistischer epistemischer Fundamentalismus 1.1 Empirismus und perzeptives Wissen Dinge sehen manchmal anders aus als sie sind. Berge im Sonnenuntergang sehen rot aus. Eine weiße aber blau beleuchtete Wand sieht blau aus. Die eine der beiden Linien der Müller-Lyer-Illusion sieht länger aus, obwohl beide Linien gleich lang sind. Wissenschaftlich, z. B. durch ein Mikroskop, betrachtet, sieht die gesamte physikalische Welt anders aus als wir sie sinnlich wahrnehmen. Auf unser alltägliches Weltbild haben solche Fälle kaum eine Auswirkung. Wir nehmen weiter an, dass wir die Dinge (in etwa) so wahrnehmen, wie sie sind. Philosophen verstehen sich seit jeher als Kritiker der alltäglichen Perspektive auf die Dinge, und es gibt eine große Gruppe unter ihnen, die aus Fällen wie den eben genannten die Konsequenz zieht, dass sich unsere sinnliche Wahrnehmung nicht auf physikalische, d. h. bewusstseins-unabhängige, Objekte bezieht. Die empiristische Tradition bietet eine Reihe von Vorschlägen dafür an, was in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist. Einige Beispiele sind: simple ideas (Locke), impressions (Hume), Sinnesdaten (Russell, Ayer) und seemings (Chisholm). Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie von der gehaltsinternalistischen Annahme ausgehen, dass wir die Dinge nicht wahrnehmen wie sie, von unserem Bewusstsein unabhängig, sind, sondern wie sie uns erscheinen. Russell macht dies in seinen Problems of Philosophy durch das Beispiel einer glatten Oberfläche deutlich, die durch ein Mikroskop betrachtet uneben erscheint.23 Auch wenn dies noch nicht die letzte Stufe einer wissenschaftlichen Betrachtung physikalischer Objekte ist, so zeigen solche Beispiele für Russell, dass die tatsächlichen physikalischen Eigenschaften von Objekten nicht direkt wahrgenommen werden. Diese Annahme führt uns zumindest prima facie zu der epistemologischen Konsequenz, dass wir kein direktes perzeptives Wissen über physikalische Objekte haben. Wissen über physikalische Objekte wäre dann nur möglich, 23
Russell 1997, S. 10.
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wenn es erstens ein direktes Wissen darüber gibt, wie uns diese Objekte erscheinen, und wenn es zweitens eine Rechtfertigung unserer Überzeugungen über physikalische Objekte durch dieses direkte Wissen gibt. Wenn wir uns weiterhin in Erinnerung rufen, dass der Empirismus inkompatibel mit der Annahme angeborener Begriffe ist, dann muss es sich bei dem direkten Wahrnehmungswissen, sofern es ein Tatsachenwissen ist, um ein unvermittelt, d. h. nicht-begrifflich, gerechtfertigtes Wissen handeln. Die empiristische These der Struktur des empirischen Wissens wird im nächsten Abschnitt genauer dargestellt. In dieser Arbeit wird es weniger um die klassischen empiristischen Ansätze (etwa von Locke oder Hume) gehen, sondern um die neueren, im Kontext der analytischen Philosophie zu verortenden Konzeptionen von Ayer und Chisholm. 1.2 Der Empirismus und das Problem des perzeptiven Wissens 1.2.1 Doxastisch-direkte Rechtfertigung vs. Selbstrechtfertigung Empiristen vertreten klassischerweise die erkenntnistheoretische These des epistemischen Fundamentalismus – d. h. eine spezifische These über die Struktur des Begriffs des Wissens. D. h. es wird versucht, das Problem des perzeptiven Wissens im Kontext einer fundamentalistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung zu lösen. Wie in der Einleitung bereits dargestellt wurde, muss ein epistemischer Fundamentalist zwei Subthesen annehmen: (i) Es gibt ein Basiswissen, welches (ii) die Rechtfertigungsgrundlage allen anderen Wissens ist. Das Basiswissen enthält per definitionem gerechtfertigte Überzeugungen, was die Frage nach dem epistemischen Status dieser Basisüberzeugungen aufwirft. Sie können freilich nicht mehr durch andere Überzeugungen – also doxastisch – gerechtfertigt werden. Denn sonst wären die betreffenden Überzeugungen nicht basal. Es folgt, dass die Basisüberzeugungen nicht-doxastisch gerechtfertigt werden müssen. Die epistemologische Signifikanz eines solchen Basiswissens würde darin liegen, dass es unabhängig von vorgegebenen Begriffsystemen ist. Es wäre in der Welt wie an einem Archimedischen Punkt verankert und wäre somit immun gegen jeglichen Verdacht einer Parteinahme oder Relativität. Ein solches Wissen ist seit der Neuzeit unweigerlich mit der Emanzipation des 31
Subjektes von vorgegebenen Autoritäten verbunden. Wenn es ein solches Wissen gäbe, könnte ein Subjekt unabhängig von vorgegebenen Begriffssystemen zu begründeten Meinungen über die Welt kommen. Dieses Wissen wäre gewissermaßen ein direktes Geschenk der Welt an uns; es könnte als ein objektives Korrektiv allen Wissens fungieren. Es gibt m. E. zwei relevante Vorschläge für eine Konzeption nichtdoxastischer Rechtfertigung. Zum einen nehmen einige Philosophen ein cartesisches Konzept der Selbstrechtfertigung an, das von einer intuitiven, unmittelbaren Einsicht in die Wahrheit bestimmter Propositionen ausgeht. Beispiele wären etwa meine Überzeugung, dass ich Zahnschmerzen habe, dass mir ein Buch blau erscheint, oder dass ‚2+2=4’ eine wahre Aussage ist. Für eine empiristische Konzeption der Selbstrechtfertigung dürfen allerdings keine begrifflichen Kapazitäten vorausgesetzt werden. In diesem Abschnitt wird Chisholms Vorschlag dargestellt, der mit selbst-rechtfertigenden Überzeugungen über die eigenen phänomenalen Zustände operiert. Zum anderen wurde versucht, den Begriff der doxastisch-direkten Rechtfertigung zu etablieren. Hierbei geht es darum, eine logische oder kausale Relation zwischen Überzeugungen und nicht-doxastischen Entitäten wie Sinnesdaten oder anderen nicht-begrifflichen Gehalten der Wahrnehmung anzunehmen.24 Hier wird zunächst lediglich auf das Beispiel der Sinnesdatentheorie eingegangen.
24
Welcher Art diese Relationen sind, wird in dieser Arbeit noch thematisiert werden. Tatsachen scheinen etwa zu unseren Überzeugungen nicht in einer logischen (Induktion, Deduktion, Abduktion) Relation zu stehen, sondern in einer kausalen. Dies kann man wie McDowell bestreiten, was allerdings nichts daran ändert, dass es sich hier um einen Gemeinplatz handelt. Auch Sinnesdaten scheinen nicht in einer logischen Relation zu unseren Überzeugungen zu stehen. Die Rechtfertigung unserer Überzeugungen durch Sinnesdaten oder Tatsachen scheint daher auf einem anderen Weg erfolgen zu müssen als auf dem der doxastischen Rechtfertigung (durch Gründe). In dieser Arbeit wird daher von nicht-doxastischer, respektive doxastischdirekter, Rechtfertigung gesprochen.
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1.2.2 Empirismus und Internalismus Empiristen neigen klassischerweise dazu, beide internalistischen Thesen anzunehmen – den Gehaltsinternalismus und den Rechtfertigungsinternalismus. In folgender Stelle aus Chisholms einflussreichem Buch The Theory of Knowledge wird dies deutlich: The internalist assumes that, merely by reflecting upon his own conscious state, he can formulate a set of epistemic principles that will enable him to find out, with respect to any possible belief he has, whether he is justified in having that belief.25
Chisholm behauptet hier, dass der epistemische Internalist davon ausgeht, dass es für epistemische Rechtfertigung hinreicht, wenn die epistemische Person über ihren Bewusstseinszustand reflektiert. Dies ist keine besonders klare Formulierung. In der Einleitung wurde dargestellt, dass epistemische Rechtfertigung die Bedingung der Wahrheitsleitung erfüllen muss. Daher können wir Chisholm hier in einem ersten Schritt so verstehen, dass einer epistemische Person der Prozess ihres Überzeugungserwerbs kognitiv zugänglich (bewusst) sein soll. Dies ist die These des Zugangsinternalismus, wie wir sie in der Einleitung eingeführt haben. Chisholm behauptet nun aber in der eben genannten Textstelle noch mehr: Er schreibt, dass die Reflexion auf die eigenen Bewusstseinszustände alleine (merely) bereits für epistemische Rechtfertigung hinreicht. Diese These möchte ich hier als starken Internalismus bezeichnen. Der starke Internalismus impliziert nicht nur die These des Zugangsinternalismus, sondern darüber hinaus die des Gehaltsinternalismus. Für die im Folgenden behandelten Autoren sind Wahrnehmungen alleine darüber bestimmt, wie einem perzeptiven Subjekt etwas erscheint. Dieser starke Internalismus hat eine direkte epistemologische Konsequenz, die bereits angesprochen wurde: Unser Wissen über die physikalischen Objekte muss aus einem direkten Wissen über die eigenen phänomenalen Zustände, d. h. aus einem direkten Wissen darüber, wie einer epistemischen Person etwas erscheint, abgeleitet werden. Gibt es kein solches direktes Wissen oder keine Inferenz von Propositionen darüber, wie einer Person etwas erscheint auf Propositionen über die Existenz physikalischer Objekte, würde dieser Versuch der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens scheitern. In den nächsten beiden Abschnitten wird 25
Chisholm 1989, S. 76.
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nur der starke Internalismus thematisiert. Später werden andere Positionen, etwa die von Sellars, Peacocke und McDowell, betrachtet, bei denen sich zeigen wird, dass man auch Zugangsinternalist sein kann, ohne Gehaltsinternalist zu sein. Im Folgenden werden zwei empiristische Position (die Ayers und Chisholms) dargestellt. 1.3 Doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten Es gibt eine Fülle von Sinnesdatentheorien, weshalb die Darstellung hier im Wesentlichen auf Ayers Version der Sinnesdatentheorie eingeschränkt wird. Ayer ist aus mehreren Gründen gut als Repräsentant der Sinnesdatentheorie geeignet. Erstens vertritt er in seinem philosophischen Werk fast alle relevanten Positionen der Sinnesdatentheorie, indem er auf die fundamentalen Kritiken an der Sinnesdatentheorie reagiert. Zweitens stehen bei Ayer die erkenntnistheoretischen und nicht, wie etwa bei Russell, die metaphysischen Aspekte der Sinnesdatentheorie im Vordergrund. Drittens findet man bei Ayer, zumindest in seinem Spätwerk, die m. E. anspruchsvollste Version eines auf Sinnesdaten basierenden, epistemischen Fundamentalismus. 1.3.1 Die Einführung von Sinnesdaten Der Common Sense geht davon aus, dass wir physikalische Gegenstände direkt wahrnehmen; dass uns in der Wahrnehmung also physikalische Gegenstände gegeben sind. Diese Position wird oftmals auch als naiver Realismus bezeichnet. Um hier eine plausible Position anzunehmen, sollten wir davon ausgehen, dass der naive Realismus nicht fordert, dass wir die Dinge unter allen Umständen wahrnehmen, wie sie sind, sondern dies nur tun, wenn normale Bedingungen (in Bezug auf die Lichtverhältnisse, den Zustand der beobachtenden Person etc.) herrschen. Der naive Realismus kann durch eine Reihe von Argumenten infrage gestellt werden. Ein durch Russell bekannt gewordenes Argument lautet, dass unsere Wahrnehmung durch kausale Faktoren bestimmt wird. Die Beschreibung dieser Faktoren ist, so Russell, Sache der Physik. Ein Beispiel wären, wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, Farben. Der Common Sense geht davon aus, dass die physikalischen Gegenstände farbig sind. In 34
einer strikt physikalischen Beschreibung werden Farben in der Interaktion zwischen Nervensystem, elektromagnetischen Wellen und sie reflektierenden physikalischen Objekten verortet. Russell glaubt daher, dass die Physik den naiven Realismus des Common Sense widerlegt.26 Gegen dieses Argument wendet Ayer m. E. richtig ein, dass es nur zeigt, dass unsere Wahrnehmung abhängig von kausalen Faktoren ist.27 Russells Schluss ist nicht gerechtfertigt, weil man mit seinen Prämissen ebenso folgern kann, dass wir die Dinge wahrnehmen wie sie sind. Ayer setzt auf ein anderes Argument zur Widerlegung des naiven Realismus – das Argument von der Sinnestäuschung (AS). Ein Beispiel für AS finden wir in Ayers Buch The Problem of Knowledge. If I can be undergoing an illusion when, on the basis of my present experience, I judge, for example, that my cigarette case is lying on the table in front of me, I may, in saying that I see the cigarette case, be claiming more than the experience strictly warrants: it is logically consistent with my having just this experience that there should not really be a cigarette case there, or indeed any physical object at all. It may be suggested therefore, that if I wish to give a strict account of my present visual experience, I must make a more cautious statement. I must say not that I see the cigarette case, if this is to carry the implication that there is a cigarette case there, but only that it seems to me that I am seeing it.28
Etwas vereinfacht kann man dieses Argument folgendermaßen darstellen: Bei einer veridischen Wahrnehmung nehme ich mein Zigaretten-Etui wahr, wie es ist. Bei einer Illusion scheint mir nur, dass das Etui bestimmte Eigenschaften hat. Nun ist für mich die Art und Weise, wie mir das Etui erscheint, respektive mein phänomenaler Zustand, im Fall der Täuschung und im veridischen Fall ununterscheidbar. Mit anderen Worten, die Täuschung und die veridische Wahrnehmung sind phänomenal identisch. Also nehme ich in beiden Fällen nicht das Etui wahr, sondern ich nehme nur wahr, wie es mir erscheint. Wenn ich daher in einem strikten Sinn nur darüber spreche, was in meiner Wahrnehmung gegeben ist, muss ich mich darauf beschränken, wie mir das Zigaretten-Etui erscheint. AS kann in verschiedenen Formen vertreten werden, von denen solche, die auf Illusionen und Halluzinationen abheben am prominentesten sind. Bei 26
Vgl. Russell 1997, S. 10. Ayer 1956, S. 84. 28 Ayer 1956, S. 96. 27
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einer Illusion erscheint einem ein Gegenstand anders als er tatsächlich ist. Bei einer Halluzination scheint einem ein Gegenstand vorhanden zu sein, der tatsächlich nicht da ist. Um AS gibt es eine stark aufgefächerte Debatte, die hier nicht en detail thematisiert werden soll.29 In diesem Abschnitt soll AS nur insofern dargestellt werden, als es für eine Erörterung von Ayers Sinnesdatentheorie notwendig ist. In allgemeiner Form kann man AS auch als eine Reductio ad Absurdum gegen den naiven Realismus darstellen, wobei ich mich hier auf das Argument von der Halluzination beschränken möchte. (1) Wir nehmen direkt die Eigenschaften physikalischer Gegenstände wahr. (2) Bei einer veridischen Wahrnehmung scheint es mir so, dass x F ist und x existiert außerhalb meines Bewusstseins. (3) Bei einer Halluzination scheint es mir, dass x F ist aber x existiert nicht außerhalb meines Bewusstseins. (4) Halluzinationen und veridische Wahrnehmungen sind subjektiv ununterscheidbar (phänomenal identisch). (5) Also nehme ich sowohl im veridischen Fall als auch im Fall der Halluzination nicht wahr, wie der physikalische Gegenstand ist, sondern, wie er mir erscheint. Prämisse (1) enthält die Annahme des naiven Realismus, dass wir direkt die physikalischen Gegenstände wahrnehmen. Prämisse (2) zeigt den Fall einer Wahrnehmung an, bei der sich der physikalische Gegenstand so verhält, wie er einer epistemischen Person erscheint. Prämisse (3) zeigt den Fall einer Wahrnehmung an, bei dem einer Person etwas erscheint, was tatsächlich nicht da ist. Für eine Halluzination ist es hierbei wesentlich, dass der Gegenstand nicht da ist. Prämisse (4) ist notwendig für die Konklusion, weil implizit behauptet wird, dass Halluzinationen und veridische Wahrnehmungen die gleichen mentalen Zustände sind; nur dass im einen Fall ein Gegenstand da ist und im anderen nicht. Wie mir der Gegenstand erscheint, soll, wie McDowell es bezeichnet, der ‚Highest Common Factor’ von veridischer Wahrnehmung und Täuschung sein. (McDowell führt 29
Vgl. etwa Austin 1962, Smith 2002, Dancy 1995.
36
selbst eine disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung ein, die Prämisse (4) angreift, indem sie bestreitet, dass es diesen ‚Highest Common Factor gibt; d. h. indem sie bestreitet, dass Wahrnehmungen und Täuschungen der gleiche mentale Zustand sind. Hierauf gehe ich in Kapitel II bei der Besprechung von McDowells Ansatz genauer ein.) Die Konklusion des Argumentes (5) enthält schließlich die These, dass der Gehalt der Wahrnehmung ein phänomenaler Gehalt ist, der durch die Proposition ‚Person A erscheint etwas mit der Eigenschaft F’ ausgedrückt werden kann. Der Ausdruck ‚Person A erscheint etwas mit der Eigenschaft F’ wird hierbei von den hier behandelten Autoren gehaltsinternalistisch verstanden; d. h. der Gehalt des perzeptiven Zustandes, dass einer Person etwas so und so erscheint, soll rein subjektiv, d. h. unabhängig von externen Faktoren, sein. Die Sinnesdatentheorie stellt eine mögliche Analyse des Ausdrucks ‚Person A erscheint etwas mit der Eigenschaft F’ dar. Das, was A mit einer Eigenschaft F erscheint, kann – so die Konklusion von AS – nicht der physikalische Gegenstand sein. Sinnesdatentheoretiker schlagen daher die Einführung einer Klasse von Entitäten vor, die die Eigenschaften haben sollen, welche die physikalischen Gegenstände zu haben scheinen. Die Sinnesdateninferenz – d. h. der Schluss von Zeile (5) auf die Existenz von Sinnesdaten – hängt von einigen weiteren Voraussetzungen ab, auf die ich kurz eingehen möchte. In der Fortführung der eben zitierten Stelle behauptet Ayer: The next step, continuing with our example, is to convert the sentence ‚it now seems to me that I see a cigarette case’ into ‚I am now seeing a seeming-cigarette case’. And this seeming-cigarette case, which lives only in my present experience, is an example of a sense datum. Applying this procedure to all cases of perception, whether veridical or delusive, one obtains the result that whenever anyone perceives, or thinks that he perceives, a physical object, he must at least be, in the appropriate sense, perceiving a seeming-object. These seeming-objects are sense-data; and the conclusion may be more simply expressed by saying that it is always sensedata that are directly perceived.30
Ayer führt hier die eben erwähnte Sinnesdateninferenz durch; d. h. den Schluss auf die Existenz von Sinnesdaten. Wesentlich für diesen Schluss ist die Annahme eines Prinzips, welches von Howard Robinson als Phä30
Ayer 1956, S. 96f., meine Hervorhebung.
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nomenalprinzip (PP)31 bezeichnet wird; PP ist in der eben zitierten Textstelle kursiv hervorgehoben und kann technisch folgendermaßen ausgedrückt werden: (PP) Wenn einer Person A etwas mit der Eigenschaft F erscheint, gibt es einen Gegenstand a (ein logisches Einzelding), das die Eigenschaft F hat. Das Prinzip PP drückt die These aus, dass die Wahrnehmung intentional ist, d. h. dass sie als mentaler Zustand auf Objekte ausgerichtet ist. Wir werden noch sehen, dass manche Philosophen dies bestreiten. Es wurden verschiedene Motive für PP angeführt. Beispiele wären etwa die altehrwürdige, substanzontologische Überlegung, dass jeder Veränderung etwas Bleibendes zugrunde liegen muss. Bei Russell wird syntaktisch argumentiert; Russell weist auf logische Eigennamen als notwendige Bedingung für Prädikationen hin.32 Dies gilt für Russell auch bei phänomenalen Prädikaten. Und schließlich ist der Objektbezug der Wahrnehmung selbst ein intuitiver Punkt auf das Konto von PP. Ayer will mit PP darauf schließen, dass einer epistemischen Person ein Sinnesdatum mit bestimmten phänomenalen Eigenschaften erscheint. Robinson weist darauf hin, dass man an dieser Stelle noch ein weiteres Prinzip – Leibniz’ Prinzip der Ununterscheidbarkeit von Identischem – annehmen muss.33 Ayer benötigt dieses Prinzip, um zu sagen, dass der Gegenstand, welcher mir mit bestimmten phänomenalen Eigenschaften erscheint nicht mit dem physikalischen Gegenstand identisch sein kann, weil beide unterschiedliche modale Eigenschaften haben. Denn es kann sein, dass dem Sinnesdatum nichts in der Realität entspricht. Mit PP und Leibniz’ Prinzip im Gepäck kann Ayer die berüchtigte Sinnesdateninferenz durchführen: (6) Person A nimmt ein Sinnesdatum mit der Eigenschaft F wahr. 31
Vgl. Robinson 2001, S. 31ff. Vgl. etwa Russell 1998, S. 49ff und Russell 2002, S. 69. 33 Vgl. Robinson 2001, S. 32. Das Prinzip der Ununterscheidbarkeit von Identischem besagt, dass zwei identische Dinge identische Eigenschaften haben. Formal ausgedrückt: a=b=[def.](F)(Fa↔Fb). 32
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Mit der Konklusion (6) wird eine ontologische These behauptet, die unserer Alltagsontologie krass entgegensteht. Sinnesdaten sollen die Dinge sein, die die Eigenschaften wirklich haben, welche die physikalischen Gegenstände zu haben scheinen; d. h. Eigenschaften wie Farbigkeit oder Gerüche. Ich möchte im Folgenden kurz auf einige grundlegende Aspekte der Sinnesdatentheorie eingehen, die wichtig für die Entwicklung der These der doxastisch-direkt rechtfertigenden Funktion durch Sinnesdaten sind. 1.3.2 Was sind Sinnesdaten? Ich möchte hier zwei Eigenschaften von Sinnesdaten hervorheben, von denen zumindest Ayer ausgeht: Sinnesdaten sollen erstens Objekte, und sie sollen zweitens private Entitäten sein. Die Bestimmung von Sinnesdaten als Objekten der Wahrnehmung folgt aus PP. Der Sinnesdatentheoretiker appelliert mit PP an eine starke Intuition, nämlich die des intentionalen Charakters der Wahrnehmung: Wenn wir etwas wahrnehmen, können wir etwa darauf zeigen, es anfassen, daran riechen etc.; kurz, wir können etwas über ein Objekt erfahren. Die Probleme der Sinnesdatentheorie beginnen spätestens, wenn wir nach dem ontologischen Charakter dieser Objekte fragen. Denn ex hypothesi darf es sich nicht um physikalische Objekte handeln, schließlich sollen Sinnesdaten die metaphysischen Doubles der physikalischen Objekte sein, die die Eigenschaften haben, die letztere nur zu haben scheinen. Müssen Sinnesdatentheoretiker also Dualisten sein und sich damit in Frontstellung zu wesentlichen Annahmen des naturalistischen Weltbildes begeben? Russells Vorschlag, dass Sinnesdaten physikalische Objekte im Sinn von Hirnprozessen sind, erscheint jedenfalls unplausibel, weil Hirnprozesse nicht die phänomenalen Eigenschaften haben, die physikalische Objekte zu haben scheinen.34 Aber auch der strenge Dualismus der klassischen Empiristen erscheint aus heutiger Sicht problematisch. Ayer entscheidet sich daher für die Einführung eines dritten, von ihm als ‚egocentric space’ bezeichneten
34
Vgl. hierzu Russell 1914.
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Raumes, in dem die Sinnesdaten als weder physikalische noch mentale Entitäten existieren sollen.35 Weiterhin sollen Sinnesdaten private Entitäten sein. ‚Privatheit’ bedeutet hierbei privaten Zugang. Meine Sinnesdaten sind meine und Deine Sinnesdaten Deine. Diese These ist die eigentliche Crux der Sinnesdatentheorie, weil sie unter empiristischen Bedingungen von einer vorsprachlichen Referenz auf Sinnesdaten ausgeht. Weil es für Empiristen wie Ayer keine angeborenen Begriffe gibt, und weil Sinnesdaten in der Wahrnehmung gegeben sind, stellen Sinnesdaten für Ayer also nicht-begriffliche Gehalte der Wahrnehmung dar.36 Die Wahrnehmung rechtfertigt für den Sinnesdatentheoretiker Überzeugungen doxastisch-direkt, weil in ihr Sinnesdaten in einem direkten, nicht-inferentiellen Sinn gegeben sein sollen. Wie sollen Sinnesdaten aber die ihnen zugedachte logische Funktion erfüllen und zur Wahrheitsleitung des Prozesses des Überzeugungserwerbs einer epistemischen Person beitragen? Ayer versucht diese Funktion dadurch zu erklären, dass er annimmt, Sinnesdaten seien täuschungsresistent. Inwiefern sollen Sinnesdaten täuschungsresistent sein? Hier ist es nötig, Ayers positivistischen Hintergrund heranzuziehen. Ayer geht bis zum Ende seines philosophischen Schaffens vom Verifikationsprinzip aus, nach dem alle sinnvollen Sätze aus direkt verifizierten Propositionen oder aus Tautologien ableitbar sein sollen.37 Propositionen über physikalische Gegenstände sind Ayer zufolge nicht direkt verifizierbar, weil man sich in ihnen täuschen kann. Im Gegensatz dazu kann eine epistemische Person sich Ayer zufolge nicht darin täuschen ein Sinnesdatum wahrzunehmen. Die Wahrheit von Sinnesdatenpropositionen soll man hierbei einfach dadurch einsehen können, dass 35
Vgl. Ayer 1997, S. 157ff. Ayer selbst verwendet den Terminus des nicht-begrifflichen Gehaltes noch nicht. Auf die eigenen epistemologischen Probleme, in die die These des nichtbegrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung führt, gehe ich erst in Kapitel II genauer ein. Bei Ayer steht vor allem die These des Gehaltsinternalismus der Wahrnehmung im Fokus. Die Probleme eines nicht-begrifflichen Zugangs zur Welt diskutiert Ayer noch nicht explizit. Sie wird m. E. zuerst bei Sellars kritisch diskutiert. Dennoch ist es systematisch richtig, Sinnesdaten als nicht-begriffliche Gehalte der Wahrnehmung zu beschreiben, denn sie sollen in einer nicht-begrifflichen Weise in der Wahrnehmung gegeben sein. 37 Vgl. etwa Ayer 1946 und 1973. 36
40
einem ein Sinnesdatum gegeben ist. Würde man alle Aussagen über die physikalische Welt aus diesen Sinnesdatenpropositionen ableiten, wäre das Verifikationsprinzip erfüllt. Doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten bedeutet demnach für Ayer direkte Verifikation von Sinnesdatenpropositionen durch Sinnesdaten. Bei allen Veränderungen in Ayers Sinnesdatentheorie blieb diese epistemologische Grundannahme immer bestehen. 1.3.3 Ayer über perzeptives Wissen Ayer hat während seines philosophischen Schaffens diverse Versionen der Sinnesdatentheorie vertreten. Ich möchte im Folgenden zunächst zwei Positionen skizzieren, die er in seinem Frühwerk vertrat, und anschließend auf den von ihm später vertretenen hypothetischen Realismus genauer eingehen. 1.3.3.1 Analytischer Phänomenalismus Der Phänomenalismus geht als Position auf George Berkeley zurück und besagt, dass physikalische Gegenstände Ansammlungen von Sinnesdaten sind. In der philosophischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts wird diese These von Russell aufgegriffen, der sie im Rahmen seines logischen Atomismus entwickelt. Ähnlich wie Zahlen logische Konstruktionen aus Einzeldingen sein sollen, sollen physikalische Gegenstände logische Konstruktionen aus Sinnesdaten sein.38 ‚Logischer Atomismus’ bedeutet in erster Linie, dass man die logische Struktur der Welt mittels einer logischen Analyse freilegen können soll. Für Russell kann man mittels einer philosophischen Analyse daher wirklich entdecken, was es in der Welt gibt. Diesen Anspruch gibt Ayer bereits in seinem positivistischen Frühwerk Language Truth & Logic auf, wo er zunächst als einer der Ersten auf die Idee des Linguistic Turn hinweist. „[…] the propositions of philosophy are not factual, but linguistic in character – that is, they do not describe the behaviour of physical, or even mental, objects; they express definitions, or the formal consequences of definitions.”39 Vor diesem Hintergrund wird die 38 39
Vgl. etwa Russell 1998 und 2002. Ayer 1946, S.57.
41
These des Phänomenalismus als linguistische These umgedeutet, die man heute als ‚analytischen Phänomenalismus’ bezeichnet. Gemeint ist die Angabe einer Regel “[…] for translating sentences about a material thing into sentences about sense-contents […]“40 Der analytische Phänomenalismus ist daher im Gegensatz zu den ontologischen Konzeptionen Berkeleys und Russells eine semantische Theorie – eine Theorie über die Bedeutung von Aussagen. Die semantische Grundthese ist folgende: Die Bedeutung von Aussagen über physikalische Gegenstände lässt sich analytisch auf die Bedeutung von Aussagen über Sinnesdaten zurückführen. Mit anderen Worten: es gibt keine wahren Aussagen über physikalische Gegenstände, die nicht vollständig in wahre Aussagen über Sinnesdaten übersetzbar wären. Die epistemologische Signifikanz des analytischen Phänomenalismus liegt darin, dass bei dessen Wahrheit alles Wissens über die physikalische Welt logisch aus einem unvermittelt gegebenen Wissen über Sinnesdaten folgen würde. Nun gehört der analytische Phänomenalismus zu den am gründlichsten diskutierten und man kann sagen profundesten widerlegten Positionen der Erkenntnistheorie. Keinem Philosophen ist eine überzeugende Antwort auf die Frage gelungen, wie man allein auf der Basis subjektiver phänomenaler Eindrücke eine Verwendung der Begriffe rechtfertigen kann, die wir auf öffentliche physikalische Objekte anwenden.41 1.3.3.2 Alternative Sprachen Ayers erste Konsequenz aus der fundamentalen Kritik am analytischen Phänomenalismus war nicht die Aufgabe dieser Position, sondern eine Rücknahme im theoretischen Anspruch.42 Ayer zeigte sich bereits in seinen frühen Schriften vom Pragmatismus beeinflusst und entwickelte vor diesem Hintergrund die These, dass die Erkenntnistheorie ein Bereich mit eigenen Regeln sei, deren Validität unabhängig vom Common Sense sei.43 Die Sinnesdatenterminologie sollte sich nicht zur Sprache des Common Sense verhalten wie die wissenschaftlicher Theorien, sondern lediglich unter epistemologisch-pragmatischen Gesichtspunkten besser geeignet sein. 40
Ayer 1946, S. 64. Vgl. Sellars 1967. 42 Vgl. Ayer 1979. 43 U.a. in Ayer 1979 und 1945. 41
42
Sellars hat diese Alternativsprachkonzeption überzeugend ad absurdum geführt, indem er darauf hinweist, dass die Sinnesdatentheorie unmotiviert ist, wenn sie den Anspruch aufgibt, unser Wissen über physikalische Objekte aus einem Wissen Sinnesdaten abzuleiten.44 Im weiteren Verlauf wird Ayers späte Version der Sinnesdatentheorie genauer dargestellt, die hier als ‚hypothetischer Realismus’ bezeichnet werden soll. 1.3.3.3 Hypothetischer Realismus Ab den späten 50er Jahren entwickelt Ayer eine Position, die er später45 selbst als ‚sophisticated Realism’ bezeichnet und die ich hier als ‚hypothetischen Realismus’ bezeichnen möchte. Der hypothetische Realismus ist ein indirekter Realismus, insofern er einen Schluss von Aussagen über Sinnesdaten auf Aussagen über physikalische Gegenstände annimmt. Natürlich ist der hypothetische Realismus zunächst eine metaphysische Position darüber, was real ist. Ich möchte hier aber die epistemologische Implikation dieser Position fokussieren, die darin liegt, dass unser Glauben über die physikalische Welt die Form einer Hypothese hat, die durch unsere Überzeugungen über unsere Wahrnehmung bestätigt werden kann. Der hypothetische Realismus nimmt also als epistemologische Position einen hypothetischen und nicht – wie der analytische Phänomenalismus – einen deduktiven Schluss von Sinnesdaten auf physikalische Gegenstände an. In folgender Stelle aus The Problem of Knowledge bringt Ayer seine Bedenken gegen den analytischen Phänomenalismus zum Ausdruck und macht eine erste Andeutung auf die von ihm neu zu entwickelnde Position des hypothetischen Realismus. To revert to the language of sense-data, it will be found that different sense-data are obtainable from those that one would expect to be obtainable if he were right. Of course it is possible that the perceptions which seem to show up his error are themselves delusive; but they in their turn are subject to the test of further appearances. It is because this process is fluid that phenomenalism comes to grief. It is not that physical objects lurk behind a veil which we can never penetrate. It is rather that every apparent situation which we take as verifying or falsifying the statements which we make about them leaves other possibilities open. The phenomenalists are 44 45
Vgl. Sellars 1997, S. 25ff. Ayer 1973, S. 89ff.
43
right in the sense that the information which we convey by speaking about the physical objects that we perceive is information about the way that things would seem, but they are wrong in supposing that it is possible to say of the description of any particular set of appearances that this and only this is what some statement about a physical object comes to. Speaking of physical objects is a way of interpreting our sense-experiences; but one cannot delimit in advance the range of experiences to which such interpretations may have to be adjusted.46
Ayer bewahrt sich die phänomenalistische These, dass wir Gegenstände nur insofern wahrnehmen, wie sie uns erscheinen. Er lehnt allerdings den phänomenalistischen Reduktionismus ab, indem er den Phänomenalismus mit seiner eigenen These konfrontiert, nach der unsere Rede über physikalische Objekte eine Interpretation unserer sinnlichen Erfahrung ist. Was Ayer hierbei mit ‚Interpretation’ meint, wird in der folgenden Stelle etwas deutlicher. […] in referring […] to physical objects we are elaborating a theory with respect to the evidence of our senses. The statements which belong to the theory transcend their evidence in the sense that they are not merely re-descriptions of it. The theory is richer than anything that could be yielded by an attempt to reformulate it at the sensory level. But this does not mean that it has any other supply of wealth that the phenomena over which it ranges. It is because of this, indeed, that they can constitute its justification.47
Ayer formuliert hier die These, dass unsere Aussagen über physikalische Objekte den Status von Hypothesen einer Theorie haben, die durch Sinnesdaten verifiziert werden können. In dem bisher herangezogenen The Problem of Knowledge führt Ayer diese Idee nicht genauer aus. In seinem Spätwerk The Central Questions of Philosophy wird er den hypothetischen Realismus schließlich als explizite Konzeption entwickeln. Dort führt Ayer die Unterscheidung zwischen einem prä-begrifflichen primären System und einem begrifflichen sekundären System ein. Dies ist zunächst auf wissenschaftliche Theorien bezogen. The factual content of the theory will be identified with the account which is derivable from it of what is actually observable. The sum total of such purely factual propositions, whether true or false, constitutes what the Cambridge philosopher F. P. Ramsey called a primary system. This is contrasted with a secondary system, or 46 47
Ayer 1956, S. 131f. Ayer 1956, S. 132.
44
set of systems, which is concerned with what Peirce called the arrangement of facts. The secondary system goes beyond the primary, in that it legislates for possible as well as actual cases and can also contain terms which are not directly related to anything observable.48
Ayer formuliert hier seine positivistische These, dass wissenschaftliche Theorien letztlich durch Beobachtungsdaten verifiziert werden müssen. Wissenschaftliche Theorien enthalten Hypothesen, wie das folgende Beispiel aus der Kosmologie: (H) Die Planeten sind durch Akkumulation von kleinsten Partikeln (Staub) entstanden. Durch die Verwendung immer besserer Instrumente wie Teleskope oder Weltraumsonden haben wir Beobachtungsdaten über Krater auf diversen Planeten. Diese Daten stützen, was Ayer faktische (factual) Propositionen nennt. Diese faktischen Propositionen gehören für ihn zum primären System, weil man ihren Gehalt direkt beobachten kann; d. h. ob sie wahr oder falsch sind, kann man durch Beobachtung herausfinden.49 Die Hypothese H (auch als Akkumulationstheorie bekannt) ist dagegen abstrakt; ihren Gehalt kann man nicht direkt beobachten. In diesem Sinn geht sie über die Aussagen des primären Systems hinaus und muss daher zu einem anderen System gehören, welches Ayer sekundäres System nennt. In der heutigen Kosmologie gilt H als sehr gut bestätigt. Es wird angenommen, dass sich kleinste Partikel nach dem Urknall zunehmend verdichteten, bis die größeren Partikel begannen, die kleineren aufgrund ihrer größeren Masse anzuziehen. In jüngster Zeit wurden weiterhin Einschläge von Asteroiden auf Planeten beobachtet. Ayer würde daher sagen, dass diese Beobachtungsdaten H verifizieren. Er versucht, das Verhältnis zwischen unseren Aussagen über physikalische Gegenstände und den Sinnesdaten analog zu diesem wissenschaftstheoretischen Modell zu bestimmen. Aussagen über physikalische Gegenstände 48
Ayer 1973, S. 33. Die faktischen Propositionen dürfen in Ayers Ansatz per definitionem keine Implikationen enthalten, die über das hinausgehen, was in der Beobachtung gegeben ist. D. h. sie müssen in einer expliziten Formulierung auf phänomenale Zustände der Person eingeschränkt werden, etwa, wenn sie durch ein Teleskop blickt. 49
45
haben Ayer zufolge den Status von Hypothesen, weil sie metaphysischen Aussagen gleichkommen, die nicht durch das gedeckt werden, was wir direkt sinnlich wahrnehmen. Diese Annahme ist die Konsequenz von Ayers positivistischer Grundausrichtung, die er bis zu seinen letzten Schriften, genauso wie das Verifikationsprinzip, nicht aufgegeben hat. Das Argument aus der Sinnestäuschung (AS) zeigt für Ayer deutlich, dass unsere Common Sense-Überzeugungen über physikalische Gegenstände (bzw. über unsere Wahrnehmung solcher Gegenstände) nicht gerechtfertigt sind. Wenn wir in einem strikten Sinn darüber sprechen, was wir wahrnehmen, müssen wir, so Ayer, vorsichtiger formulieren. „[…] if I wish to give a strict account of my present visual experience, I must make a more cautious statement.”50 Was meint Ayer hier mit einer strikten Wiedergabe der Wahrnehmung? Auch hier ist ein Blick in sein Spätwerk The Central Questions of Philosophy hilfreich. What I mean here by a strict account is one that is tailored to the experience, in that it describes the quality of what is sensibly presented, without carrying any further implication of any sort. In the normal way, we do not formulate such propositions because we are interested not in the data as such, but in the interpretations which we have learned to put upon them.51
Auf der Ebene des primären Systems soll eine Terminologie verwendet werden, die auf Sinnesdaten referiert. Die hier verwendeten Propositionen zählen zu dem von Ayer so genannten primitiven Sprachspiel.52 Wenn wir Ayer ernst nehmen, dann dürfen in diesen Propositionen keine implikationen über physikalische Gegenstände vorkommen. Die drohende artifizielle Redeweise rechtfertigt Ayer damit, dass es sich um eine rein technische Redeweise für philosophische Kontexte handelt. Ich denke, Ayer meint hier solche Propositionen, die sich auf raum-zeitlich geordnete Sinnesdaten beziehen, die zumindest über ‚primitive’, d. h. keine begrifflichen Kapazitäten voraussetzenden, visuelle und haptische Eigenschaften wie Farbigkeit und Härte verfügen. Gemeint sind also Propositionen wie ‚Mir erscheint rechts von mir etwas Goldenes, Hartes und Rundes’ oder ‚Zu den Zeitpunkten t1, t2, t3, …, tn erschien mir links etwas Braunes mit harter runder 50
Ayer 1956, S. 96. Ayer 1973, S. 81. 52 Ayer 1973, S. 92. 51
46
Oberfläche’. Die Referenten dieser Propositionen sollen, wie gesagt, keine physikalischen Gegenstände sein, sondern Sinnesdaten. Dass mir etwa rechts von mir etwas Braunes mit harter, runder Oberfläche erscheint, soll hierbei doxastisch-direkt durch ein Sinnesdatum verifiziert werden. Dann soll mittels eines Schlusses auf die beste mögliche Erklärung darauf geschlossen werden, dass sich rechts von mir tatsächlich ein brauner Tisch befindet. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass ich rechts von mir kontinuierlich ein Sinnesdatum mit der Eigenschaft ‚braun, mit harter runder Oberfläche’ befindet, rechtfertigt für Ayer abduktiv meine Überzeugung, dass sich rechts von mir ein brauner Tisch befindet.53 Dies ist der Kern von Ayers hypothetischem Realismus. Das kontinuierliche Vorkommen bestimmter Sinnesdaten an bestimmten Raum-Zeit-Stellen soll qua eines Schlusses auf die beste mögliche Erklärung damit erklärt werden, dass sich an dieser Stelle ein physikalischer Gegenstand befindet, der diese Sinnesdaten verursacht. Es ist hierbei wichtig im Blick zu behalten, dass es sich für Ayer um keine Form der kausalen Theorie der Wahrnehmung handelt, weil das Kriterium für die Wahrheit der Propositionen über physikalische Gegenstände alleine in einem internalistischen Sinn auf der Basis der Propositionen der strikten Beschreibung der Wahrnehmung formuliert wird. Oder wie Ayer es für den Fall einer Täuschung formuliert: „I mean that the proof that he [the perceiving person, A. B.] is fooled is itself be to found among the appearances.”54 Sinnesdaten mögen durch physikalische Gegenstände verursacht werden. Dies ändert für Ayer nichts daran, dass die Sinnesdaten epistemologisch primär gegenüber der Kausalbeziehung sind. Das Wissen über die physikalischen Gegenstände soll daher für Ayer alleine auf der Basis der Sinnesdaten doxastisch-direkt gerechtfertigt werden.
53
Hier muss zumindest auf eine weitere ontologische Annahme Ayers hingewiesen werden: die so genannte Bündeltheorie, nach der ein physikalischer Gegenstand wie der braune Tisch nichts anderes ist, als die Menge seiner Eigenschaften wie Härte oder Bräune. 54 Ayer 1956, S. 131.
47
1.3.3.4 Ayers hypothetischer Realismus und das Problem des perzeptiven Wissens Fassen wir zusammen, wie sich Ayers hypothetischer Realismus zum Problem des perzeptiven Wissens verhält. In der Einleitung wurde die These eingeführt, dass das Problem des perzeptiven Wissens sich immer relativ zu bestimmten theoretischen Annahmen einer philosophischen Theorie als Problem darstellt. Bei Ayer sind dies der starke Internalismus, der den Gehalts- und Rechtfertigungsinternalismus impliziert, und der epistemische Fundamentalismus.55 Beide Annahmen gemeinsam führen dazu, dass Ayer das perzeptive Wissen auf der Basis eines direkten Wissens über die eigenen phänomenalen Zustände, d. h. darüber, wie einer epistemischen Person ein Sinnesdatum erscheint, rechtfertigen muss. In seinen frühen Schriften versuchte er noch zu zeigen, dass Propositionen über Sinnesdaten Propositionen über physikalische Gegenstände implizieren. Von dieser phänomenalistischen Position distanziert er sich allerdings in seinen späteren Schriften, wo er von einem Schluss auf die beste mögliche Erklärung ausgeht. Hier soll die Wahrheit der Propositionen über physikalische Gegenstände die beste mögliche Erklärung dafür sein, dass die direkt verifizierten Sinnesdatenpropositionen wahr sind. In diesem Sinn sollen die Basisüberzeugungen darüber wie einem bestimmte Sinnesdaten erscheinen Überzeugungen über die physikalische Welt und damit das perzeptive Wissen rechtfertigen. Wie überzeugend ist Ayers Lösungsverschlag für das Problem des perzeptiven Wissens? Die Liste mit Einwänden gegen die Sinnesdatentheorie im Allgemeinen ist lang. Ich möchte hier nur auf zwei Einwände näher eingehen, die zeigen, warum Ayers Vorschlag für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens scheitert. (i) Ayers Konzept der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch Sinnesdaten hängt wesentlich von dem weiteren Konzept der strikten Beschreibung des Gehalts der Wahrnehmung ab. Nur wenn es eine solche Beschreibung gibt, wie sie im letzten Abschnitt dargestellt wurde, gibt es in Ayers Ansatz 55
Wie gesagt vertritt Ayer implizit auch die These des nicht-begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung. Auf den Bezug dieser These zum Problem des perzeptiven Wissens gehe ich allerdings erst in Kapitel II näher ein.
48
die Möglichkeit für ein doxastisch-direkt gerechtfertigtes Wahrnehmungswissen. Gegen eine solche Beschreibung spricht jedoch, wie Menschen eine Sprache lernen. Ein solches Argument führt etwa Peter Strawson in „Perception and it’s Objects“ an. Strawson argumentiert, dass die Sinnesdatensprache keine Theorie für unsere alltägliche Redeweise über physikalische Objekte sein kann, weil wir auch für einen hypothetischen Schluss bereits die Begriffe voraussetzen müssen, die wir auf die physikalischen Objekte anwenden.56 Denn das zu rechtfertigende Wissen ist schließlich das Wissen über diese physikalischen Objekte. Für Strawson ist unsere Fähigkeit auf unsere sinnliche Erfahrung Bezug zu nehmen davon abgeleitet, dass wir zunächst – gemeinsam mit anderen Personen – auf Gegenstände in der physikalischen Welt referieren lernen.57 Überzeugungen über das direkt sinnlich Wahrgenommene können für ihn daher auch keine Überzeugungen über physikalische Gegenstände rechtfertigen. Selbst wenn wir Ayer also seine künstliche Sinnesdatenterminologie – seine strikte Beschreibung des phänomenalen Gehalts der Wahrnehmung – zugestehen, ist damit epistemisch noch nichts gewonnen. Ohne dass gezeigt wird, wie solche Gehalte, die ex hypothesi nicht die Begriffe enthalten dürfen, die wir auf physikalische Objekte anwenden, zu objektiven Urteilen über die Welt führen, kann das Problem des perzeptiven Wissens nicht als gelöst gelten. (ii) Ein weiterer Einwand hängt mit der Möglichkeit skeptischer Szenarien zusammen. Warum sollte eine physikalische Welt, bzw. die Wahrheit von Propositionen über physikalische Gegenstände, die beste mögliche Erklärung dafür sein, dass wir kontinuierlich Sinnesdaten an bestimmten RaumZeit-Stellen wahrnehmen? Wenn man sich soweit auf das skeptische Sprachspiel einlässt wie Ayer, dann muss man alle möglichen skeptischen Szenarien ausschließen. Man kann aber unter den Bedingungen von Ayers hypothetischem Realismus skeptische Szenarien, wie das Gehirn im Tank, anführen, in denen eine epistemische Person Ayers Bedingungen für
56
Vgl. hierzu Strawson 2004. Vgl. auch Grices Argument in Grice 2004, der gegen die Idee argumentiert, dass man von Sinnesdaten auf physikalische Objekte schließt, wie man von Rauch auf Feuer schließt, weil man letztere Korrelation (im Gegensatz zu ersterer) auch ohne eine Kausalbeziehung herstellen kann. 57 Vgl. hierzu auch Sellars‘ Argumente aus Abschnitt 3 dieser Arbeit.
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perzeptives Wissen erfüllt und dennoch getäuscht wird – und somit über kein Wissen verfügen kann. Beide Einwände sind letztlich Konsequenzen aus Ayers starkem Internalismus. Es gibt noch weitere Einwände, die eher mit dem Konzept des Sinnesdatums zusammenhängen. Pitcher und Austin greifen beispielsweise direkt die Sinnesdateninferenz an.58 Weitere grundlegende Einwände betreffen die vermeintlichen metaphysischen Eigenschaften der Sinnesdaten.59 In Abschnitt 3 werde ich noch auf Sellars’ Argumente gegen die Sinnesdatentheorie eingehen, sofern diese notwendig für die Entwicklung seines eigenen Vorschlags zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissens sind.
58
George Pitcher argumentiert in A Theory of Perception, dass wir selbst bei der Annahme aller Prämissen des Argumentes von der Sinnestäuschung nicht notwendig darauf schließen müssen, dass wir normalerweise nicht die physikalische Welt wahrnehmen. (Vgl. Pitcher 1971, S. 19. Vgl. hierzu auch Austin 1962.) 59 Eine wichtige Frage ist etwa, unter welche Kategorie Sinnesdaten fallen (physikalisch oder mental). Eine dualistische Position erscheint inkompatibel mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild. Autoren wie Russell gehen zwar davon aus, dass Sinnesdaten physikalische Ereignisse (respektive Hirnprozesse) sind (vgl. Russell 2007, S. 143). Dies wirft aber wiederum die Frage auf, wie sie dann noch die Gegenstände sein sollen, die die Eigenschaften haben, welche die physikalischen Gegenstände nur zu haben scheinen. Wie bereits erwähnt wurde, zieht Ayer hieraus die Konsequenz, dass Sinnesdaten weder physikalischer noch mentaler Natur sind.
50
1.4 Chisholm über Selbstrechtfertigung und perzeptives Wissen 1.4.1 Das Problem des Kriteriums Ayer zählt zur positivistischen Tradition und gehört zu den Philosophen, die das Verifikationsprinzip bis zuletzt verteidigt haben.60 Nach dem Verifikationsprinzip sind nur sinnlich-direkt gerechtfertigte und tautologische Propositionen und Propositionen, die aus solchen abgeleitet sind sinnvoll. Die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten greift auf das Verifikationsprinzip zurück, denn Sinnesdaten sollen die Basisüberzeugungen in dem Sinn doxastisch-direkt rechtfertigen, dass sie diese, unabhängig von anderen Propositionen, wahr machen. Chisholm distanziert sich von dieser positivistischen Tradition. Im Zentrum von Chisholms Überlegungen steht das Problem des Kriteriums, welches er folgendermaßen formuliert: We may distinguish two very general questions. These are “What do we know?” and “How are we to decide, in any particular case, whether we know?” The first of these may also be put by asking, “What is the extent of our knowledge?” and the second by asking, “What are the criteria of knowing?”61
Das Problem liegt darin, dass eine Antwort auf eine der beiden Fragen jeweils die Antwort auf die andere Frage voraussetzt. Zwei Auswege sind hier möglich: Entweder man zeigt, dass man etwas wissen kann, ohne dass man in der Lage wäre ein Kriterium hierfür anzugeben; oder man versucht ein Kriterium für Wissen ohne Verweis auf einzelne Fälle von Wissen anzugeben. Chisholm wählt den ersten Weg, den er selbst als Partikularismus bezeichnet und nach dem wir bestimmte Dinge wissen, ohne dass wir hierfür Gründe angeben könnten. Etwas technischer formuliert geht Chisholm davon aus, dass es wahre Überzeugungen gibt, die gerechtfertigt sind, ohne dass diese Rechtfertigung von anderen Überzeugungen oder nichtdoxastischen Entitäten wie Sinnesdaten abhängen würde. Diese Konzepti-
60
Zuerst formuliert Ayer das Verifikationsprinzip in Ayer 1946, S. 35ff. Er verteidigt es aber trotz der fundamentalen Kritik bis zu seinem Spätwerk. Vgl. Ayer 1973, S. 22ff. 61 Chisholm 1989, S. 6.
51
on der Rechtfertigung möchte ich hier als Selbstrechtfertigung bezeichnen.62 Chisholms generelles epistemologisches Programm besteht wesentlich in dem Versuch eine Klasse von Überzeugungen auszuzeichnen, denen diese Eigenschaft der Selbstrechtfertigung zukommt. Diese Überzeugungen glaubt er in den Überzeugungen über die eigenen Bewusstseinszustände zu finden. Diese sollen in einer internalistischen Weise zugänglich sein – aber in einer Weise, die von einer Rechtfertigung durch die Angabe von Gründen oder durch Sinnesdaten abweicht. Ich möchte mich in dieser Arbeit auf Chisholms Konzept der Selbstrechtfertigung bei perzeptiven Überzeugungen beschränken. Im Folgenden werde ich zuerst kurz auf Chisholms adverbiale Analyse der Wahrnehmung eingehen, die zu einer anderen Konzeption perzeptiver Gehalte kommt als Ayers Sinnesdatenanalyse. Anschließend werde ich auf Chisholms Konzept der selbst-präsentierenden Eigenschaft eingehen, von dem das Konzept der Selbstrechtfertigung wesentlich abhängt. Schließlich wird dieses Konzept der Selbstrechtfertigung dargestellt und in Zusammenhang mit der epistemischen Rechtfertigung des perzeptiven Wissens gebracht. 1.4.2 Die adverbiale Analyse der Wahrnehmung Chisholm greift die Sinnesdateninferenz mit einer Reihe von Überlegungen an, die gegen PP (das Phänomenalprinzip) gerichtet sind, und die zeigen sollen, dass PP in bestimmten Fällen unplausibel ist. Nach PP folgt aus „Etwas scheint für Person A F zu sein“ die Aussage „Es gibt etwas mit der Eigenschaft F“. Dieser Schluss wird von Chisholm auch als ‚sense-datumfallacy’63 bezeichnet, weil mit ihm gezeigt werden kann, dass etwa aus „Dies fühlt sich schleimig an“ folgen würde, dass es ein schleimiges Sinnesdatum gibt. George Pitcher bringt das Problem folgendermaßen auf den Punkt: Snakes are sometimes said to feel slimy, although usually they are not actually so; must we conclude that something else really is slimy? And what would that be – the 62
Chisholm verwendet diesen Begriff selbst nicht. Ich denke aber, dass er die systematische Grundidee gut erfasst: dass bestimmte Überzeugungen ihre rechtfertigende Funktion aus sich selbst heraus erhalten. 63 Chisholm 1957, S. 151. Vgl. hierzu auch Chisholm 1950.
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person’s sense-datum? But what can be made of the notion of a slimy sensedatum?64
Es gibt noch andere Beispiele, welche für Chisholm klar machen, dass PP ein metaphysisch nicht zu haltendes Prinzip ist. Etwa würde aus „Dies scheint ein Einhorn zu sein“ folgen, dass man ein einhornartiges Sinnesdatum wahrnimmt. Ich möchte hier nicht diskutieren, ob diese Einwände Chisholms zwingend sind. Für Chisholm reichen sie jedenfalls aus, um PP und damit den Übergang von (5) zu (6) – d. h. den Übergang von ‚Mir erscheint etwas mit der Eigenschaft F’ zu ‚Ich nehme ein Sinnesdatum mit der Eigenschaft F wahr’ – bei AS (wie es in Abschnitt 3.1 dieses Kapitels dargestellt wurde) infrage zu stellen. Chisholm lehnt zwar PP als Prinzip ab, allerdings geht er wie die Sinnesdatentheoretiker von einer gehaltsinternalistischen Konzeption phänomenaler Zustände aus. Weiterhin gesteht Chisholm zu, dass ‚wahrnehmen’ einen propositionalen Gehalt hat. Es muss daher für ihn etwas geben, von dem behauptet wird, dass es die phänomenale Eigenschaft hat. Dieses Etwas ist für Chisholm die epistemische Person, über die dann die Eigenschaft ausgesagt wird, dass sie in einem bestimmten phänomenalen Zustand ist. Mit anderen Worten: Das Verb ‚erscheinen’ zeigt für Chisholm eine Modifikation der epistemischen Person an, die er durch eine adverbiale Analyse erfassen möchte. Oder etwas technischer formuliert: Für Chisholm folgt aus „Mir erscheint etwas mit der Eigenschaft F“, dass ich einen F-lichen phänomenalen Zustand habe. Diese Adverbialanalyse der Wahrnehmung führt Chisholm zu der Konklusion: (6’) Ich habe einen F-lichen phänomenalen Zustand.65 Wesentlich für die Adverbialanalyse ist, dass die Bezugnahme auf ein Objekt entfällt, welches einer epistemischen Person mit der Eigenschaft F erscheint. Die Adverbialanalyse gilt daher als metaphysisch weniger anspruchsvoll wie die Sinnesdatentheorie. Wie gesagt wird die epistemische Person in Chisholms Analyse zum Referenten des Subjektausdrucks, die 64
Pitcher 1971, S. 32f. Chisholms Originalphrase lautet „I am appeared to F-ly“. Vgl. Chisholm 1950 und 1957.
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sich dann in einem F-lichen phänomenalen Zustand befindet. Diese Analyse des Begriffs der Wahrnehmung ist eine wichtige Voraussetzung für Chisholms Konzeption der selbst-rechtfertigenden Überzeugungen, auf die im Folgenden eingegangen wird. 1.4.3 Selbst-Präsentation und Gewissheit Chisholms Konzeption der selbst-rechtfertigenden Überzeugungen hängt eng mit Descartes’ Idee der Gewissheit zusammen. Cartesische Gewissheiten, d. h. klare und deutliche Einsichten, sind das Paradigma selbstrechtfertigender Überzeugungen. Bernard Williams weist in seinem Descartes-Buch darauf hin, dass für Gewissheiten gelten muss, dass p der Fall ist, wenn man glaubt, dass p; bzw. dass p glauben p impliziert.66 D. h. im Akt des Glaubens selbst soll das Kriterium für die Wahrheit der Überzeugung liegen, was von Descartes und auch von Chisholm über den Begriff der Intuition expliziert wird. Was intuitiv erfasst werden kann, sind Chisholm zufolge selbst-präsentierende Eigenschaften. Den Begriff der selbst-präsentierenden Eigenschaft führt er folgendermaßen ein: Some self-presenting properties pertain to our thoughts – thinking, judging, hoping, fearing, wishing, wondering, desiring, loving, hating, and intending. And some of them have to do with the ways in which we sense, or are appeared to.67
Selbst-präsentierende Eigenschaften sollen Eigenschaften der eigenen Gedanken und der eigenen Wahrnehmung sein. Sie sind für Chisholm daher Eigenschaften des eigenen Bewusstseins. Es soll sich um Qualitäten handeln, die sich für eine Person so und so anfühlen und die nicht auf physikalische Tatsachen reduzierbar sind. Einige von Chisholms Beispielen für selbst-präsentierende Eigenschaften sind ‚Traurigkeit’, ‚Denken’ und ‚Glauben’.68 Ich kann mich ihm zufolge nicht darin täuschen, mir selbst diese Eigenschaften zuzuschreiben. Wichtiger für den Kontext dieser Arbeit sind die phänomenalen Eigenschaften, etwa dass mir etwas rot erscheint. Auch hier glaubt Chisholm, dass ich mich zwar darin täuschen kann, dass etwas rot ist, aber nicht darin, dass es mir rot erscheint. Die 66
Vgl. Williams 2005, S. 22 ff. Chisholm 1989, S. 19. 68 Chisholm 1989, S. 20. 67
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Aussage ‚Dies ist ein roter Gegenstand’ ist kompatibel mit der Aussage ‚Dies ist ein weißer Gegenstand unter roter Beleuchtung’. Anders verhält es sich mit der Aussage ‚Mir scheint es, als ob dies ein roter Gegenstand ist’. Adverbial analysiert wird daraus die Aussage ‚Ich bin in einem rotscheinenden (rot-phänomenalen) Zustand’. Dass ich in einem solchen Zustand bin, kann ich Chisholm zufolge intuitiv einsehen. Chisholm behauptet erstens, dass, wenn ich in einem phänomenalen Zustand bin, ich dann auch glaube, dass ich in einem solchen Zustand bin; und zweitens geht er davon aus, dass, wenn ich glaube, dass ich einem phänomenalen Zustand bin meine Überzeugung notwendigerweise wahr ist. Überzeugungen über selbst-präsentierende Eigenschaften scheinen daher alle Kriterien für cartesische Gewissheiten zu erfüllen. Chisholm folgert daher: If the property of being F is self-presenting, if S is F, and if S believes himself to be F, then it is certain for S that he is F.69
Chisholms Gewissheiten sollen wie gesagt für die epistemische Person alleine aufgrund ihrer direkten, intuitiven Einsicht in ihre eigenen Bewusstseinszustände – hier phänomenalen Zustände – wahr und in diesem Sinn selbst-rechtfertigend sein. Gegen diese stark internalistische Konzeption der Rechtfertigung der Basisüberzeugungen gibt es einen Standardeinwand, der ihr vorwirft, dass sie das Verb ‚erscheinen’ relativ zur Alltagssprache in einer pervertierten Weise gebraucht, weil wir im Alltag mit diesem Verb sagen wollen, dass Dinge anders aussehen als sie sind. D. h. wir verwenden das Verb ‚erscheinen’ in der Alltagssprache komparativ und nicht, um einen bestimmten mentalen Zustand anzuzeigen. Wenn Überzeugungen darüber, wie uns die Dinge erscheinen von einem Wissen darüber abhängen, wie sie normalerweise aussehen, kann es sich nicht um selbst-rechtfertigende Überzeugungen handeln. In seinem frühen Werk Perceiving hat Chisholm seiner Verwendung des Verbs ‚erscheinen’ ein ganzes Kapitel gewidmet. Über den komparativen Gebrauch dieses Verbs schreibt er dort: Let us speak, then, of the comparative use of appear words. […] That a thing appears red may mean that the thing appears in the way in which red things would appear under optimum conditions.70
69
Chisholm 1989, S. 19.
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Wenn ‚erscheinen’ in diesem komparativen Sinn gebraucht wird, kann ‚rot-scheinen’ natürlich keine selbst-präsentierende Eigenschaft sein; zumindest nicht, wenn man ohne angeborene Begriffe auskommen möchte. Denn um zu sagen, dass etwas nur rot scheint aber nicht rot ist, muss ich meinen phänomenalen Eindruck damit vergleichen, wie rote Dinge normalerweise für mich aussehen. Dies ist dann keine selbst-präsentierende Eigenschaft mehr. Die komparative Verwendung des Verbs ‚erscheinen’ ist daher […] inconsistent with what philosophers in the empirical tradition have said about appearing. […] This „empirical“ doctrine can be understood only by referring to a third use – the noncomparative use – of appear words.71
Der Empirismus ist auf die These angewiesen, dass wir unser perzeptives Wissen aus einem nicht-begrifflichen Wissen über die eigenen phänomenalen Zustände ableiten können. Um dieses Basiswissen zu artikulieren, benötigen wir, was Chisholm den non-komparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ nennt. Dieser Gebrauch soll eine nicht-begriffliche Fähigkeit bezeichnen, auf die eigenen phänomenalen Zustände Bezug zu nehmen. Der perzeptive Gehalt – mein F-licher phänomenaler Zustand – soll also wie bei Ayer ein nicht-begrifflicher Gehalt sein. Die Begriffe sind für Chisholm synthetische Verallgemeinerungen aus solchen Gehalten. Der Begriff ‚rot’ soll etwa eine Verallgemeinerung daraus sein, wie etwas Rotes zu verschiedenen Zeitpunkten jetzt für mich aussieht.72 Chisholm schlägt eine regressive Prozedur zum Erfassen dieses nicht-begrifflichen perzeptiven Gehaltes vor,73 bei der alle begrifflichen Elemente aus einem perzeptiven Urteil entfernt werden. Am Ende steht ein technischer Ausdruck wie ‚Ich bin in einem F-lichen phänomenalen Zustand’. Chisholm führt diese Ausdrucksweise als eine technische Ausdrucksweise für philosophische Kontexte ein, mit der ein epistemischer Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ ange-
70
Chisholm 1957, S. 45f. Chisholm 1957, S. 49f. Chisholm unterscheidet neben dem komparativen und non-komparativen Gebrauch des Verbs ‘erscheinen’ noch einen epistemischen Gebrauch, auf den ich hier aber nicht näher eingehen möchte. 72 Chisholm 1957, S. 59. 73 Chisholm 1957, S. 61ff. 71
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zeigt wird. D. h. es sollen Überzeugungen darüber ausgedrückt werden, die sich auf die perzeptiven Gehalte beziehen. Der gerade erwähnte Standardeinwand gegen Chisholms Analyse, dass diese dem Alltagssprachgebrauch widerspricht, scheint somit eine Petitio Principii gegen Chisholm darzustellen, weil dieser einen non-komparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ im Sinn einer technischen Terminologie einführt. Chisholm glaubt wie Ayer, dass es ausreicht, wenn Erkenntnistheoretiker diese Sprache beherrschen. Dass wir normalerweise nicht so sprechen, ist jedenfalls kein Einwand, den Chisholm fürchten müsste. In Abschnitt 3 werde ich Chisholms Idee des non-komparativen Gebrauchs des Verbs ‚erscheinen’ mit einem Einwand von Sellars konfrontieren. Hier möchte ich diese technische Redeweise aus Darstellungsgründen zunächst als unproblematisch annehmen. Sich in einem F-lichen phänomenalen Zustand zu befinden, ist also Chisholm zufolge eine selbst-präsentierende Eigenschaft, weil eine epistemische Person sie über sich selbst aussagen kann, wenn sie in einem nonkomparativen Sinn über ihren Zustand spricht. Die Annahme einer solchen intuitiven Einsicht in die eigenen phänomenalen Zustände hat für Chisholm direkte epistemologische Konsequenzen. 1.4.4 Selbstrechtfertigung und perzeptives Wissen Überzeugungen darüber, wie einem die Dinge erscheinen, wären unter dem non-komparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ somit Kandidaten für selbst-rechtfertigende Überzeugungen. Diese Überzeugungen sind erreicht, wenn man einen propositionalen Gehalt intuitiv einsehen kann. Chisholm versucht dies durch einen fiktiven Dialog zu verdeutlichen, den ich hier verkürzt wiedergeben möchte:74 Person A: Dies ist Mt. Monadnock. Person B: Woher weißt Du das? A: Ich sehe, dass es Mt. Monadnock ist. B: Bist Du sicher? A: Ja, ich erkenne die rote Hütte auf dem Gipfel. 74
Chisholm 1957, S. 55ff.
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B: Warum glaubst Du, dass die Hütte rot ist? A: So sehen eben rote Dinge aus. B: Ja, aber vielleicht ist es eine Täuschung. A: Für mich sieht dies rot aus. B: Und wenn es ein rot angeleuchteter weißer Gegenstand ist? A: Zumindest weiß ich sicher, dass es mir so scheint, als ob da etwas Rotes ist. (Ich bin in einem rötlich-phänomenalen Zustand.) Chisholm stellt sich die letzte Antwort von A so vor, dass A nur noch auf ihren unmittelbaren phänomenalen Zustand Bezug nimmt. Er weist explizit darauf hin, dass das Ende des Gesprächs außerhalb philosophischer Zirkel wahrscheinlich nicht vorkäme. Mit diesem Dialog will er zeigen, wie der non-komparative Gebrauch im Sinn einer technischen Redeweise eingeführt werden kann: als eine Sprache, mit der die epistemische Person in einer nicht-begrifflichen Weise auf ihre phänomenalen Zustände Bezug nehmen kann. Chisholms Psychologie der Wahrnehmung ist teilweise heftig kritisiert worden. Ich möchte hier allerdings auf diese Kritik an Chisholm noch nicht eingehen. Gestehen wir hier zunächst Chisholm seine Konzeption der Basisüberzeugungen zu und fragen danach, wohin uns der epistemische Aufstieg von diesen Basisüberzeugungen führt. Chisholm betrachtet selbst drei Möglichkeiten des epistemischen Aufstiegs: die dogmatische Theorie (dogmatic theory), die induktive Theorie (inductive theory) und die kritische Theorie (critical theory). Die dogmatische Theorie besagt, “[…] that the nature of the external thing can be read off from the nature of the appearances.75 Die dogmatische Theorie stimmt also mit dem naiven Realismus überein, der von Chisholm mit ähnlichen Argumenten wie bei Ayer abgelehnt wird. „For what the facts of perceptual relativity tell us is that there is no logical connection between the nature of any appearance, or way of being appeared to, and the nature of the object that serves to call up that appearance.”76 Nach der induktiven Theorie ist der Schluss auf physikalische Gegenstände ein induktiver Schluss, bei dem der perzeptive Gehalt als ein Zeichen oder Symbol für die Existenz eines solchen Gegenstandes gedacht wird. “[…] 75 76
Chisholm 1989, S. 44. Chisholm 1989, S. 44.
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our perceptual experience provides us with a sign of the independently existing external thing.”77 Chisholm verdeutlicht dies am Beispiel von Rauch und Feuer: “Smoke signifies fire for us because we have made an induction that correlates smoke with fire.”78 Aber auch die induktive Theorie wird von Chisholm mit dem bekannten Argument abgelehnt, dass wir bei einem induktiven Schluss keine Informationen erhalten, die nicht bereits in den Prämissen stecken. Mit anderen Worten: sinnliche Erfahrungen machen andere sinnliche Erfahrungen wahrscheinlich; aber keine physikalischen Gegenstände. Die kritische Theorie operiert mit dem Begriff der präsumptiven Evidenz. Hierunter versteht Chisholm: […] when one takes there to be a tree then the judgment that there is a tree that one is perceiving may have presumptive evidence. […] The assumption is that, occasionally at least, the senses provide us with evidence pertaining to the existence of such things as trees, ships, and houses. The best answer to the question, “What is the nature of this evidence?” seems to be this: the fact that we are appeared to in certain ways tends to make it evident that there is an external thing that is appearing to us in those ways.79
Unter präsumptiver Evidenz versteht Chisholm “that the judgment may have such evidence without thereby being true.”80 D. h. dass Chisholm die Wahrnehmung unter den Bedingungen des Fallibilismus für eine Erkenntnisquelle hält, die in der Regel, aber nicht notwendig, zu wahren Überzeugungen über die Welt führt. Dies klingt zunächst nach einem reliabilistischen Ansatz, den Chisholm allerdings explizit ablehnt.81 Chisholm gibt stattdessen eine Reihe epistemischer materialer Prinzipien an, die den Charakter rechtfertigungsinternalistischer Regeln haben. Ich gehe hier nur auf die Prinzipien ein, die zur Rechtfertigung des perzeptiven Wissens nötig sind und blende alle Prinzipien aus, die damit nichts zu tun haben; etwa
77
Chisholm 1989, S. 45. Chisholm 1989, S. 45. 79 Chisholm 1989, S. 47f. 80 Chisholm 1989, S. 47. 81 Vgl. Chisholm 1989, S. 77ff. Der Reliabilismus wird in Abschnitt 2 eingeführt und bezeichnet die These, dass ein verlässlicher, kausaler Prozess des Überzeugungserwerbs für die epistemische Rechtfertigung einer Überzeugung hinreicht. 78
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über die eigene Erinnerung oder andere Personen. Das erste Prinzip ist die bereits zitierte Basisklausel für die selbst-rechtfertigenden Überzeugungen: (MP1) If the property of being F is self-presenting, if S is F, and if S believes himself to be F, then it is certain for S that he is F. (62)
Mit einer Reihe weiterer Prinzipien versucht Chisholm plausibel zu machen, wie man auf der Basis von MP1 auf Überzeugungen über physikalische Gegenstände schließen kann: (MP3) If S accepts h and if h is not disconfirmed by S’s total evidence, then h is probable for S. (63) (MP4) If S accepts h and if not-h is not probable in relation to the set of propositions that are probable for S, then h is epistemically in the clear for S. (64) (MP5) If S takes there to be an F, and if it is epistemically in the clear for him that there is an F which he takes to be F, then it is beyond reasonable doubt for S that he is perceiving something to be F. (65) (MP8) If being appeared_to is evident for S, and if it is epistemically in the clear for S that there is something that appeard_to him, then it is evident for S that there is something that is appearing_to him. (71)
In MP3 wird zunächst der Begriff der subjektiven Wahrscheinlichkeit eingeführt. Unter subjektiver Wahrscheinlichkeit ist hierbei zu verstehen, dass die Person nicht anders kann, als etwas Bestimmtes zu glauben, weil ihre gesamte Evidenz dafür spricht. MP4 besagt vor diesem Hintergrund, dass eine epistemische Person eine epistemisch klare Überzeugung hat, wenn sie sich auf solche subjektiven Wahrscheinlichkeiten stützt. MP5 beinhaltet Chisholms Grundregel zum Schluss auf die Existenz physikalischer Gegenstände. Chisholm möchte zum Ausdruck bringen, dass es für eine epistemische Person rational ist, bzw. rationalerweise nicht bezweifelt werden kann, etwas zu glauben, wenn alle Evidenzen der Person für diese Überzeugung sprechen. In MP8 wird dies auf Überzeugungen über die eigenen phänomenalen Zustände angewendet. Wenn einer epistemischen Person etwas mit der Eigenschaft F erscheint, und wenn diese Person keinen Grund hat, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln, dann soll es für diese Person auch evident, d. h. nach Chisholm direkt einsehbar, sein, dass ein physikalischer Gegenstand existiert, der die Eigenschaft F hat. Die epistemische Person wäre dann auch in ihrer Überzeugung epistemisch gerechtfertigt, dass ein solcher Gegenstand existiert. 60
Chisholm geht also von Gewissheiten, d. h. von selbst-rechtfertigenden Überzeugungen, über die eigenen phänomenalen Zustände aus. Von diesen Zuständen ausgehend, soll mittels rein internalistischer Prinzipien auf die Existenz physikalischer Gegenstände geschlossen werden. Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Chisholm nur epistemische Begriffe wie ‚evident’, ‚subjektiv wahrscheinlich’ oder ‚gewiss’ verwendet. 1.4.5 Selbstrechtfertigung und das Problem des perzeptiven Wissens Chisholm geht wie Ayer von einem starken Internalismus aus. Der Gehalt der Wahrnehmung ist für ihn alleine darüber bestimmt, wie einer epistemischen Person etwas erscheint und auf diese Weise soll die Wahrnehmung intern zugänglich Gründe für Überzeugungen über die physikalische Welt liefern. Überzeugungen darüber, wie einer epistemischen Person etwas erscheint, stellen für Chisholm cartesische Gewissheiten und damit Basisüberzeugungen dar. Den hierzu nötigen non-komparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ möchte ich Chisholm an dieser Stelle zunächst zugestehen.82 Auch die heftig umstrittene Adverbialanalyse der Wahrnehmung soll hier nicht infrage gestellt werden.83 Als epistemischer Fundamentalist und Empirist versucht Chisholm schließlich mittels seiner epistemischen 82
Wenn ‘erscheinen’ nicht non-komparativ gebraucht wird, hängt der Gehalt des direkten perzeptiven Wissens über die eigenen phänomenalen Zustände von einem weiteren Wissen (etwa über die Beobachtungsbedingungen) ab, woraus folgt, dass es sich nicht um ein Basiswissen sui generis handeln kann. In Abschnitt 3 werde ich auf ein Argument von Sellars gegen den non-komparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ eingehen. 83 Vgl. etwa Jackson 1977: Angenommen eine Person, A, nimmt gleichzeitig ein braunes Quadrat und ein grünes Dreieck wahr. Die adverbiale Analyse würde hier „A hat einen bräun-lichen, quadrat-lichen, grün-lichen und dreieck-lichen phänomenalen Zustand“ lauten. Der Einwand Jacksons lautet nun, dass man mit der adverbialen Analyse den ersten Zustand nicht davon unterscheiden kann, dass man ein braunes Dreieck und ein grünes Quadrat wahrnimmt. In beiden Fällen scheint die gleiche adverbiale Analyse zuzutreffen. Wie will man aber die Eigenschaften bestimmten Objekten zuordnen, wenn der Bezug auf Objekte wegfallen soll? Unsere Wahrnehmung scheint zumindest eine räumlich Struktur zu haben, und wenn dem der Fall ist, dann ist zumindest prima facie nicht klar, wie der Adverbialtheoretiker dieser gerecht werden kann. Für eine Verteidigung der Adverbialanalyse vgl. Tye 1984.
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Prinzipien zu zeigen, dass das perzeptive Wissen alleine auf der Basis von Überzeugungen über die eigenen phänomenalen Zustände gerechtfertigt werden kann. Ich möchte hier, wie bei Ayer, argumentieren, dass Chisholm wie Ayer aufgrund des von ihm angenommenen starken Internalismus das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen kann. Selbst wenn wir Chisholm seine Adverbialanalyse und sein Konzept selbst-rechtfertigender Basisüberzeugungen zugestehen, muss er immer noch zeigen, wie man auf dieser epistemischen Basis das perzeptive Wissen rechtfertigen kann. Überzeugungen über die eigenen phänomenalen Zustände sollen für Chisholm Überzeugungen über physikalische Gegenstände im Sinn einer ‚präsumptiven Evidenz’ rechtfertigen, wobei dies im Sinn einer normativen Beziehung zu verstehen ist; d. h. dass Überzeugungen über die eigenen phänomenalen Zustände in der Regel zu wahren Überzeugungen über physikalische Gegenstände führen. Ein Reliabilist würde an dieser Stelle den externalistischen Begriff der Reliabilität einführen. Chisholm verwendet dagegen in seinen materialen Prinzipien lediglich internalistische Begriffe wie ‚subjektiv wahrscheinlich’, ‚evident’ oder ‚nicht rational bezweifelbar’. Wie weit kommt Chisholm mit diesen Begriffen? Betrachten wir nochmals MP8. Vereinfacht besagt dieses Prinzip, dass es für eine epistemische Person evident ist, dass sie einen physikalischen Gegenstand wahrnimmt, wenn es ihr so erscheint, als ob sich ein solcher Gegenstand vor ihr befindet, und wenn sie keine Gründe hat, daran zu zweifeln. MP8 zeigt also nur, dass es für eine epistemische Person evident ist (was für Chisholm bedeutet, dass die Person rationaler Weise an etwas glaubt), dass ihr ein physikalischer Gegenstand erscheint. Es zeigt nicht, dass ihr tatsächlich ein solcher Gegenstand erscheint. Hier reicht ein simples Szenario mit Gehirn im Tank, um zu zeigen, dass MP8 verträglich damit ist, keinen physikalischen Gegenstand wahrzunehmen. Einem Gehirn im Tank, dem bestimmte Überzeugungen induziert werden, werden diese Überzeugungen evident, nicht bezweifelbar, subjektiv wahrscheinlich etc. erscheinen. Im von Chisholm vorgeschlagenen Ansatz würde es sich epistemisch verantwortlich verhalten und dennoch würde es kein Wissen über physikalische Gegenstände erlangen.
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2 Externalistischer epistemischer Fundamentalismus Bisher wurde auf zwei rechtfertigungsinternalistische fundamentalistische Positionen eingegangen: Chisholms Konzeption selbst-präsentierender Eigenschaften, die von sebst-rechtfertigenden Überzeugungen über die eigenen phänomenalen Zustände ausgeht und Ayers hypothetischer Realismus, der von einer doxastisch-direkten Rechtfertigung durch Sinnesdaten ausgeht. In diesem Abschnitt möchte ich mit Goldmans Reliabilismus eine rechtfertigungsexternalistische Konzeption des perzeptiven Wissens darstellen. Goldman vertritt die These, dass die de facto Reliabilität eines Prozesses des Überzeugungserwerbes für die epistemische Rechtfertigung der so gewonnenen Überzeugungen hinreicht. Der nicht über seine Fähigkeit aufgeklärte ‘Chicken-Sexer’ ist daher für einen Reliabilitsten wie Goldman in seinen Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt, ohne dass er Gründe hierfür angeben könnte. Goldmans Reliabilismus wird von manchen Philosophen auch als eine externalistische Form des epistemischen Fundamentalismus verstanden.84 Dies ist insofern richtig, als dass Goldman von einer epistemischen Hierarchie ausgeht, bei der die reliabel erzeugten perzeptiven Überzeugungen eine epistemische Basierungsfunktion übernehmen sollen, die ihnen dadurch zukomme, dass sie direkt durch Tatsachen der Welt verursacht werden. Die Wahrnehmung rechtfertigt für Goldman unsere perzeptiven Überzeugungen also in einem externalistischen Sinn doxastisch-direkt. Das inferenzielle Wissen versucht Goldman ebenfalls reliabilistisch und damit externalistisch zu bestimmen, es soll sich aber parasitär gegenüber dem perzeptiven Wissen verhalten. Man kann somit insofern bei Goldman von einem epistemischen Fundamentalismus sprechen, als dass er von einem doxastischdirekt gerechtfertigten Basiswissen ausgeht, welches die Rechtfertigungsgrundlage des inferentiellen Wissens sein soll. Es bleibt allerdings zu beachten, dass Goldman genau die These ablehnt, die den epistemischen Fundamentalismus motiviert, nämlich den Rechtfertigungsinternalismus. 84
Vgl. etwa Bonjour 1985.
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Goldmans ‚Fundamentalismus’ ist natürlich insofern kein epistemischer Fundamentalismus, dass er nicht von der These ausgeht, dass epistemische Rechtfertigung notwendig in der Angabe von Gründen besteht und daher nicht-begründungsbedürftiger Basisüberzeugungen bedarf. Es handelt sich hier lediglich um einen terminologischen Punkt. Weil sich Goldman allerdings, wie wir gleich sehen werden, selbst als Fundamentalist bezeichnet, möchte ich hier ebenfalls von einem externalistischen epistemischen Fundamentalismus sprechen. Ich möchte mich hier zwar auf Goldmans Ansatz konzentrieren. Allerdings werde ich zunächst kurz auf Armstrongs so genannte ‚ThermometerKonzeption’ des perzeptiven Wissens eingehen; und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil es sich m. E. um die erste explizite reliabilistische Konzeption des perzeptiven Wissens handelt und zweitens, weil sich Sellars auf Armstrong und nicht auf Goldman bezieht. Dieser zweite Punkt ist für den nächsten Abschnitt von Bedeutung, wo es um Sellars’ Argumente gegen den Reliabilismus gehen wird. 2.1 Armstrongs Thermometer-Konzeption des perzeptiven Wissens In seinem Buch Belief, Truth and Knowledge will Armstrong zeigen, dass eine Überzeugung, dass p ein Fall von nicht-inferentiellem Wissen ist, wenn eine gesetzesmäßige (law-like) Beziehung zwischen dieser Überzeugung und dem Sachverhalt, dass p vorliegt. Er behauptet in diesem Zusammenhang: What makes such a [non-inferential, A. B.] belief a case of knowledge? My suggestion is that there must be a law-like connection between the state of affairs Bap and the state of affairs that makes ‘p’ true such that, given Bap, it must be the case that p.85
Armstrong erläutert seine These zunächst anhand des Modells eines Thermometers. Analog dazu, wie ein Thermometer die Temperatur repräsentiert, sollen Überzeugungen, respektive nicht-inferentielle Überzeugungen, Sachverhalte der Welt repräsentieren. Betrachten wir zunächst Armstrongs Thermometer-Modell etwas näher und fragen dann danach, wie es auf den Begriff des nicht-inferentiellen, respektive perzeptiven, Wissens anwend85
Armstrong 1973, S. 166.
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bar ist. Ein Thermometer kann die Temperatur zum einen falsch wiedergeben, was einer falschen Überzeugung entsprechen soll. Zum anderen kann ein Thermometer die Temperatur richtig wiedergeben. Hierbei unterscheidet Armstrong zwei Fälle: Erstens kann ein schlechtes, d. h. nicht gut funktionierendes, Thermometer die Temperatur richtig wiedergeben. Dies vergleicht Armstrong mit einer nicht-inferentiellen Überzeugung, die kein Wissen darstellt, weil sie zufälligerweise wahr ist. Im zweiten Fall betrachtet Armstrong ein gut funktionierendes Thermometer, bei dem die Anzeige von ‚T°’ sicher bedeutet, dass die Temperatur T° beträgt. Diesen Fall vergleicht er mit nicht-inferentiellem Wissen, weil somit eine Tatsache in reliabler Weise repräsentiert wird. Natürlich erwarten wir von einem Thermometer nicht, dass es unter allen Umständen gut funktioniert. D. h. es gibt Umweltbedingungen, unter denen auch ein gut funktionierendes Thermometer nicht-reliabel ist. Welche Kriterien müssen aber für ein gut funktionierendes Thermometer gelten? Armstrong behauptet, dass es bestimmte Eigenschaften des Thermometers und seiner Umgebung geben muss, nach denen es die Temperatur in einer naturgesetzlichen Art und Weise angibt. There must be some property of the instrument and/or its circumstances such that, if anything has this property, and registers ‚T°’, it must be the case, as a matter of natural law, that the temperature is T°.86
Armstrong führt nicht näher aus, was für Eigenschaften er meint. Betrachten wir daher einen konkreten Fall eines Thermometers, ein Quecksilberthermometer. Die wesentliche Eigenschaft eines solchen Thermometers ist, dass das Quecksilber im Glaszylinder proportional zur Temperaturveränderung der Umgebung des Thermometers steigt. Armstrongs Rede über Eigenschaften ist an dieser Stelle etwas unglücklich, weil sich Naturgesetze – zumindest gemäß der gängigen Auffassung – nicht auf Eigenschaften, sondern auf konkrete Ereignisse beziehen. Wir sollten Armstrong daher so verstehen, dass sich die naturgesetzlichen Korrelationen nicht auf die Eigenschaften des Thermometers und seiner Umgebung, sondern auf die konkrete Wirkung der Umgebung auf das Thermometer beziehen. Armstrong erläutert anhand dreier Punkte, was er unter einer naturgesetzlichen Beziehung versteht.87 Solche Beziehungen müssen für ihn erstens 86
Armstrong 1973, S. 167.
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prinzipiell durch wissenschaftliche Methoden aufspürbar sein; sie sollen hierbei zweitens in kontrafaktischen Konditionalen ausdrückbar sein; und es soll sich um eine ontologische aber nicht um eine kausale Beziehung handeln. Die ersten beiden Punkte werden standardmäßig angeführt, wenn man über naturgesetzliche Beziehungen spricht. Armstrongs dritter Punkt ist allerdings problematisch, zumal er nicht genauer erläutert, was für eine Art von ontologischer Beziehung er hier im Blick hat. Er spezifiziert sie selbst über eine Häufigkeitskorrelation, was er aber nicht genauer ausführt. Er kann hier keine statistische Korrelation meinen. Der Begriff der Häufigkeit ist hier, wie wir gerade gesehen haben, in einem ontologischen Sinn zu verstehen. Am Sinnvollsten erscheint es mir hier, Armstrong so zu verstehen, dass unter Häufigkeit zu verstehen ist, dass Ereignisse hinreichend oft zusammen vorkommen. Dass Armstrong an dieser Stelle nicht expliziter ist, halte ich für einen wesentlichen Schwachpunkt seiner Theorie. Ich komme später darauf zurück. Armstrong wendet sein Thermometer-Modell auf den Begriff des nichtinferentiellen Wissens an, indem er nicht-inferentielle Überzeugungen analog zu diesem Modell versteht. Vor diesem Hintergrund bestimmt er den Begriff des nicht-inferentiellen Wissens über den Begriff naturgesetzlicher und in diesem Sinn reliabler Korrelationen. Eine Überzeugung, dass p ist, so Armstrong, dann und nur dann ein Fall von nicht-inferentiellem Wissen, wenn p gilt (wobei p hier als Tatsache zu verstehen ist), und wenn die Überzeugung, dass p über wesentliche Eigenschaften verfügt, die sie in einer naturgesetzlichen Art und Weise mit der Tatsache, dass p verbinden.88 Beschränken wir uns hier auf die Betrachtung des perzeptiven Wissens. Über welche wesentlichen Eigenschaften können perzeptive Überzeugungen verfügen, so dass sie in einer naturgesetzlichen Art und Weise mit ihrer Umgebung verbunden sind? Wenn wir hier bei Armstrongs Analogie bleiben, dann muss es sich um analoge Eigenschaften handeln, wie die des Quecksilberthermometers. In diesem naturalistischen Bild kommen im Grunde genommen nur neuronale Korrelate infrage. Armstrong möchte sich nicht auf eine Kausalerklärung festlegen. Dies haben wir gerade gesehen. Eine solche neurowissenschaftliche Perspektive auf Überzeugungen 87 88
Vgl. Armstrong 1973, S. 168f. Vgl. Armstrong 1973, S. 168.
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würde allerdings gut in sein Bild passen, weil es den drei von ihm angeführten Punkten entspricht, die erfüllt sein müssen, damit man sinnvollerweise von einem naturwissenschaftlichen Rahmen sprechen kann. Man könnte Armstrongs Überlegung noch durch teleologische Momente anreichern, indem man darauf verweist, dass der Zweck unserer Wahrnehmungsorgane nur darin liegen kann, die Welt in der Regel, d. h. hinreichend häufig, richtig zu repräsentieren. Armstrong verwendet zwar selbst nicht den Begriff der epistemischen Rechtfertigung. Ich denke wir können seine Konzeption aber so verstehen, dass er Folgendes behauptet: Eine epistemische Person A ist in ihrer Überzeugung, dass p epistemisch gerechtfertigt, gdw. diese Überzeugung in einer naturgesetzlichen Art und Weise mit der Tatsache, dass p korreliert ist, oder wenn diese Überzeugung inferentiell aus einer Überzeugung folgt, die in einer naturgesetzlichen Art und Weise mit einer Tatsache der Welt korreliert ist. So verstanden haben wir es mit einer reliabilistischen, externalistischen und fundamentalistischen These über die Struktur epistemischer Rechtfertigung zu tun. Für die Rechtfertigung des nicht-inferentiellen Basiswissens soll es bereits hinreichen, dass eine Überzeugung, dass p in einer naturgesetzlichen Art und Weise mit der Tatsache, dass p verbunden ist. Gegen Armstrongs Thermometer-Konzeption des perzeptiven Wissens hat vor allem Laurence Bonjour intensiv argumentiert. In The Structure of Empirical Knowledge schreibt er, dass: According to the externalist view, a person may be highly irrational and irresponsible in accepting a belief, when judged in light of his own subjective conception of the situation, and may still turn out to be epistemically justified according to Armstrong’s criterion. His belief may in fact be reliable, even though he has no reason for thinking it is reliable – or even has good reason to think that it is not reliable. But such a person seems nonetheless to be thoroughly irresponsible from an epistemic standpoint in accepting such a belief and hence not in fact justified.89
Bonjour scheint hier folgendermaßen zu argumentieren: Wissen setzt erstens epistemische Verantwortung voraus. Dass eine Person in einer verantwortlichen Weise zu ihren Überzeugungen kommt, bedeutet für ihn
89
Bonjour 1985, S. 38.
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hierbei, dass sie Gründe für diese Überzeugungen angeben kann.90 Zweitens ist Armstrongs Reliabilismus kompatibel mit der Möglichkeit, dass eine epistemische Person in einer unverantwortlichen Weise zu ihren Überzeugungen kommt und dennoch Wissen beanspruchen kann. Daher kann Armstrongs Reliabilismus drittens keine adäquate Explikation des Wissensbegriffs darstellen. Externalisten wie Armstrong würden freilich bereits Bonjours erste Prämisse abstreiten, nach der Wissen notwendig epistemische Verantwortung impliziert. Wenn wir Bonjour hier etwas genauer folgen, können wir feststellen, dass sein internalistischer Einwand gegen den Reliabilismus und die externalistische Standardantwort auf diesen Einwand beide auf Intuitionen und nicht durch weitere starke Prämissen begründet sind. Dies sieht man daran, wie Bonjour seine erste Prämisse begründet, nämlich durch bestimmte Gedankenexperimente, die sich auf einer intuitiven Ebene gegen den Externalismus richten. Bekannt sind etwa Bonjours Hellseher-Fälle, in denen zunächst eine epistemische Person angenommen wird, die sich für einen Wahrsager hält und darüber hinaus in einer reliablen Weise zu wahren Überzeugungen über die Welt kommt. Dann wird argumentiert, dass diese Personen zwar reliabel aber eben in einer dubiosen – nicht epistemisch verantwortlichen – Weise zu ihren Überzeugungen kommen, was unsere epistemischen Intuitionen verletze.91 Noch eindrücklicher ist das Beispiel des ‚Chicken-Sexers‘, der ohne Gründe angeben zu können aber reliabel zu seinen Überzeugungen über das Geschlecht von Küken kommt. Diese Gedankenexperimente zielen aber wie gesagt auf Intuitionen, die dann selbst nicht mehr infrage gestellt werden. Externalisten leugnen in der Regel, dass diesen Intuitionen eine Geltung für die Frage nach der Rechtfertigung des Wissens zukommt. Ich möchte auf diesen Punkt bei der Besprechung von Sellars’ Argumenten gegen den Reliabilismus zurückkommen. Der Haupteinwand gegen Armstrongs Theorie besteht darin, dass die Art der gesetzesmäßigen Beziehung zwischen Überzeugungen und Tatsachen der Welt letztlich im Dunkeln bleibt. Armstrong hat offensichtlich eine ontologische Konzeption für diese gesetzesmäßige Beziehung im Blick. Zeit90
Diese These wird in Kapitel III als das Primat der Begründung bezeichnet und zurückgewiesen. 91 Vgl. Bonjour 1985, S. 38ff.
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genössische Vertreter des Reliabilismus gehen – wesentlich plausibler – von einer statistischen reliabilistischen Konzeption aus. Ich möchte mich hier auf die Darstellung von Goldmans Ansatz beschränken, den ich für die stärkste, heute noch angenommene reliabilistische Position halte. 2.2 Goldmans statistischer Reliabilismus In seinen späteren, erkenntnistheoretischen Schriften weicht Goldman von der von ihm früher vertretenen kausalen Theorie des Wissens ab, indem er diese zu einer reliabilistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung weiterentwickelt.92 Dies ist einerseits eine Reaktion auf die Schwächen der kausalen Theorie des Wissens; aber auch auf die Kritik an einer Erkenntnistheorie, die die normativen Begriffe wie Rechtfertigung einfach aufgibt. Goldman schlägt in seinen späten Schriften selbst eine reduktive Analyse solcher Begriffe wie ‚Rechtfertigung’ vor. Er beginnt seine Überlegungen zunächst mit der Unterscheidung epistemischer und nicht-epistemischer Begriffe. Epistemische Begriffe (Wissen, Rechtfertigung, Grund etc.) sind evaluativ, d. h. sie enthalten ein präskriptives Moment. Goldman geht von naturalistischen Grundannahmen über die Analyse solcher Begriffe aus und schlägt daher eine Definition des Begriffs der Rechtfertigung in nichtepistemischem, d. h. nicht-evaluativem, Vokabular vor.93 Er geht hierbei von einer rekursiven Definition aus. A theory of justified belief will be a set of principles that specify truth-conditions for the schema [S’s belief in p at time t is justified], i.e., conditions for the satisfaction of this schema in all possible cases. It will be convenient to formulate candidate theories in a recursive or inductive format, which would include (A) one or more base clauses, (B) a set of recursive clauses (possibly null), and (C) a closure clause.94
Rekursive Definitionen zählen wie die impliziten Definitionen zu den intensionalen Definitionen, d. h. zu den Definitionen, bei denen ein Begriff im Definiendum durch die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen bestimmt wird. Rekursive Definitionen eignen sich insbesondere 92
Vgl. Goldman 1967. Eine detaillierte Besprechung der kausalen Theorie des Wissens und ihrer Schwächen findet sich in Feldman 2002. 93 Vgl. Goldman 2000, S. 340. 94 Goldman 2000, S. 341.
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für Begriffe mit einer rekursiven Struktur wie etwa der Begriff der Zahl. Indem Goldman eine rekursive Definition für den Begriff der Rechtfertigung vorschlägt, gibt er bereits ein Statement über die angenommene Struktur dieses Begriffs ab; nämlich, dass der Begriff der Rechtfertigung eine rekursive Struktur hat. Dies entspricht einer Festlegung auf eine fundamentalistische Konzeption von Rechtfertigung. Denn rekursive Definitionen bestimmen zunächst für eine eingeschränkte Klasse von Fällen, dass sie unter eine bestimmte Eigenschaft, etwa eine natürliche Zahl, oder Ahne von X zu sein, fallen. Dann wird diese Eigenschaft auf alle übrigen Fälle übertragen. Goldman spricht in dem hier zitierten Text „What is Justified Belief?“ allgemein vom Begriff der Rechtfertigung, sagt aber selbst, dass seine Bemerkungen auch für den Begriff der epistemischen Rechtfertigung gelten.95 In der Basisklausel (A) soll zunächst eine Klasse nicht-doxastisch gerechtfertigter Überzeugungen ausgezeichnet werden. In der Rekursivklausel (B) sollen dann Bedingungen für die Ableitung aller übrigen gerechtfertigten Überzeugung auf dieser Basis angegeben werden. Goldman diskutiert zunächst einige der klassischen internalistischen Kandidaten für (A), wie ‚Nichtbezweifelbarkeit’, ‚Selbstevidenz’, ‚Unkorrigierbarkeit’ und Chisholms Begriff der selbst-präsentierenden Eigenschaften. Seine generelle Kritik an diesen Begriffen ist, dass sie „[…] at best confer justificational status on relatively few beliefs […]“96 Goldman konfrontiert sie mit einer Reihe von Gegenbeispielen und skeptischen Szenarien.97 Das bekannteste Beispiel ist das bereits erwähnte Gehirn-im-TankSzenario, bei dem eine Person etwa unbezweifelbare Überzeugungen hat, die allerdings nicht für eine Rechtfertigung des perzeptiven Wissens hinreichen. Ich möchte Goldmans Kritik am epistemischen Internalismus hier allerdings nicht vertiefen und direkt zu seinem eigenen Vorschlag für eine Basisklausel übergehen. Goldman vermisst bei den internalistischen Konzeptionen in erster Linie die Angabe einer Kausalbedingung. „I suggest that the absence of causal requirements accounts for the failure of the foregoing principles.”98 95
Vgl. Goldman 2000, S. 340. Goldman 2000, S. 342. 97 Vgl. Goldman 2000, S. 341-43. 98 Goldman 2000, S. 344. 96
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Dadurch seien diese Konzeptionen anfällig für Gegenbeispiele wie das Gehirn im Tank. Goldman folgert daher, dass „[…] correct principles of justified belief must be principles that make causal requirements […]“99 Allerdings sieht Goldman vor dem Hintergrund der Kritik an der kausalen Theorie des Wissens, dass reine Kausalität nicht für Rechtfertigung hinreicht. Er fragt daher „[…] what kind of causes confer justifiedness?“.100 Goldman spricht auch vom Prozess der Überzeugungsbildung (process of belief-formation). Bestimmte Prozesse schieden von vorneherein als Kandidaten aus: sich etwas wünschen, raten, hellsehen, schlechte oder voreilige Inferenzen etc. Diese hätten eines gemeinsam, nämlich, dass sie nicht reliabel sind. Beispiele für reliable Prozesse der Überzeugungsbildung sind Goldman zufolge die Wahrnehmung (unter Standardbedingungen), die Erinnerung und gute Inferenzen. Mit diesem zunächst eher intuitiven Verständnis hinsichtlich des Begriffs der Reliabilität kommt Goldman zu seiner ersten These über den Begriff der Rechtfertigung: The justificational status of a belief is a function of the reliability of the process or processes that cause it, where (as a first approximation) reliability consists in the tendency of a process to produce beliefs that are true rather than false.101
Epistemische Rechtfertigung wird also von Goldman als gradueller Begriff definiert. Der Begriff der epistemischen Rechtfertigung soll hierbei in Abhängigkeit von der Reliabilität des Prozesses verstanden werden, der eine Überzeugung verursacht. Der Begriff der Reliabilität wird zunächst annäherungsweise (as a first approximation) darüber definiert, dass der entsprechende kausale Prozess tendenziell eher wahre als falsche Überzeugungen produziert. Goldman geht davon aus, dass der Begriff der Reliabilität, und damit auch der der Rechtfertigung, vage bleiben muss, weil sein Grad nicht exakt bestimmt werden könne. Allerdings, so Goldman: Our conception of justification is vague in this respect. It does seem clear, however, that perfect reliability isn’t required. Belief-forming processes that sometimes produce error still confer justification. It follows that there can be justified beliefs that are false.102 99
Goldman 2000, S. 344. Goldman 2000, S. 345. 101 Goldman 2000, S. 345. 102 Goldman 2000, S. 345f. 100
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Mit infallibler (perfect) Reliabilität zielt Goldman auf ein infallibilistisches Modell der Basisüberzeugungen. Die meisten Philosophen, wie auch Goldman, gehen davon aus, dass die Wahrnehmung in einer falliblen Weise rechtfertigt. Im Hintergrund stehen Fälle wie eine blau angeleuchtete Wand. Hier wird oft behauptet, dass eine Person gerechtfertigter Weise zu der falschen Überzeugung kommt, dass die Wand blau ist. Goldman definiert den Begriff des Prozesses einer Überzeugungsbildung als eine Funktion die Inputs und Outputs eines Systems einander zuordnet. We need to say more about the notion of a belief-forming process. Let us mean by a process a functional operation or procedure, i.e., something that generates a mapping from certain states – inputs – into other states – outputs.103
Der Output ist eine Überzeugung. Der Input kann selbst eine Überzeugung sein; dann spricht Goldman von einem überzeugungsabhängigen Prozess (belief-dependent process).104 Oder es kann sich um eine nicht-doxastische Entität wie etwa eine Wahrnehmung handeln; hier benutzt er den Begriff eines überzeugungsunabhängigen Prozesses (belief-independent process).105 Goldmans externalistischer epistemischer Fundamentalismus besteht darin, die überzeugungsabhängige inferentielle Rechtfertigung auf überzeugungsunabhängige Prozesse zurückzuführen. Hierauf komme ich gleich zurück. Nun kann man den Bezug zum Fallibilismus herstellen. Denn Goldman geht von einem statistischen Begriff der Reliabilität aus und die Wahrscheinlichkeit soll sich hierbei auf den Prozess der Überzeugungsbildung beziehen. Dass ein Prozess der Überzeugungsbildung reliabel ist, bedeutet für Goldman wesentlich, dass er mit einer bestimmten statistischen Regelmäßigkeit zu wahren Überzeugungen führt. Hier drängen sich sofort zwei Probleme auf. Erstens wird auf diese Weise der Begriff des Prozesses der Überzeugungsbildung als Typ definiert. Goldman will natürlich sagen, dass gerechtfertigte Überzeugungen in einer reliablen Weise verursacht sein müssen. Kausale Verursachung bezieht sich aber auf die einzelnen verursachten Token. Man sollte Goldman an dieser Stelle also so verstehen, dass sich die Verursachung auf einzelne Token des Prozesses bezieht. Wahrnehmungen führen etwa, so Goldman, 103
Goldman 2000, S. 346. Goldman 2000, S. 347. 105 Goldman 2000, S. 347. 104
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in einer reliablen Weise zu wahren Überzeugungen über die Welt. Das zweite Problem hängt mit dem statistischen Begriff der Reliabilität zusammen. Goldman ist nicht explizit hinsichtlich der Frage, was für ein statistischer Wert groß genug für Reliabilität ist. Klar ist, dass dieser Wert sehr hoch, d. h. sehr nah bei 1, sein muss. Jetzt kann man etwa argumentieren, dass diese Bedingung für Prozesse der Überzeugungsbildung wie Raten oder Hellsehen nicht erfüllt ist, während man wissenschaftliche Theorien, die durch experimentelle Daten gestützt werden durchaus als reliabel bezeichnen kann.106 Wie könnte man dafür argumentieren, dass es sich bei der Wahrnehmung ebenfalls um einen reliablen Prozess im Sinne Goldmans handelt? Man könnte sicher zum einen ein bekanntes evolutionsbiologisches Argument bemühen, nach dem die Wahrnehmung eine viel zu zentrale Kapazität biologischer Organismen ist, als dass sie in der Regel falsche Informationen über die Welt liefern könnte. Zum anderen könnte man eine kausale Erklärung der Wahrnehmung, etwa im Rahmen einer neurowissenschaftlichen Theorie, heranziehen und in diesem Rahmen zeigen, dass die Wahrnehmung in der Regel eine reliable Erkenntnisquelle ist. Goldman analysiert den Begriff der Rechtfertigung wie gesagt mittels einer rekursiven Definition. Rekursive Definitionen eignen sich besonders gut zur Darstellung einer fundamentalistischen Position epistemischer Rechtfertigung, weil bei ihnen in einer nicht-zirkulären Weise der Begriff ‚Rechtfertigung’ im Definiens verwendet werden darf. Auf diese Weise kann in der Basisklausel zunächst eine Klasse von Überzeugungen definiert werden, die als gerechtfertigt gilt. Dann kann in der Rekursionsklausel eine Erweiterung auf alle übrigen Fälle gerechtfertigter Überzeugungen vorgenommen werden.107 Goldman schlägt folgende Analyse für den Begriff der Rechtfertigung vor:
Manche Philosophen entwickeln Goldmans Idee an dieser Stelle zu einer mereologischen, reliabilistischen Konzeptionen weiter. Die Grundidee hierbei ist, dass wir alle unsere epistemischen Standards so verbessern sollten, dass sie möglichst mit denen der Wissenschaft zusammenfallen; vgl. etwa Werning 2009. 107 Für eine vollständige rekursive Analyse muss noch eine Schlussklausel angegeben werden, worauf ich hier aber nicht näher eingehen möchte. 106
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(a) Wenn A’s Überzeugung, dass p aus einem reliablen Prozess der Überzeugungsbildung resultiert, dann ist A’s Überzeugung, dass p gerechtfertigt. (b1) Wenn A’s Überzeugung, dass p aus einem überzeugungsunabhängigen, reliablen Prozess resultiert, dann ist A’s Überzeugung, dass p gerechtfertigt. (b2) Wenn A’s Überzeugung, dass p aus einem überzeugungsabhängigen, reliablen Prozess resultiert, und wenn die Überzeugungen des Prozesses selbst gerechtfertigt sind, dann ist A’s Überzeugung, dass p gerechtfertigt.108 Weil ‚reliabler Prozess der Überzeugungsbildung’ in Begriffe wie ‚Überzeugung’, ‚Wahrheit’ und ‚statistische Häufigkeit’ analysiert wurde, handelt es sich für Goldman um keinen epistemischen Begriff. Die Basisklausel enthält zwar den Begriff der Rechtfertigung; allerdings in einer nichtdoxastischen Weise. Die Basisüberzeugungen sind nicht durch andere Überzeugungen, d. h. doxastisch, gerechtfertigt, sondern durch ihre Reliabilität. Die Wahrnehmung ist für Goldman ein paradigmatischer Fall eines reliablen, überzeugungsunabhängigen Prozesses der Überzeugungsbildung. Wenn Goldman hiermit Recht hat, dann würde es ein perzeptives Basiswissen über die physikalische Welt geben, weil Wahrnehmungen in reliabler Weise zu wahren Überzeugungen über die Welt führen. Das Basiswissen über die eigene Wahrnehmung wäre in diesem Fall nicht gerechtfertigt, weil man, wie bei Chisholm, intuitiv einsieht, dass eine Proposition wahr ist, sondern sie wäre gerechtfertigt, weil sie kausal durch den perzeptiven Prozess der Überzeugungsgenese verursacht wäre. Die reliabilistische Rechtfertigung des perzeptiven Wissens ist damit eine Form der doxastisch-direkten Rechtfertigung – allerdings in einem externalistischen Sinn, im Gegensatz zu Ayers internalistischer Variante einer doxastisch-direkten Rechtfertigung durch Sinnesdaten.
108
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Vgl. Goldman 2000, S. 347.
2.3 Goldmans Reliabilismus und das Problem des perzeptiven Wissens Goldman vertritt die These des Gehaltsexternalismus zwar nicht explizit, allerdings benötigt er für seine Basisklausel eine Konzeption der Wahrnehmung, bei der ihr Gehalt zumindest kausal von den Tatsachen der Welt abhängt. Im Gegensatz zu Ayer und Chisholm ist Goldman daher auch nicht mit dem Problem des perzeptiven Wissens in der Form konfrontiert, die typischerweise von gehaltsinternalistischen Konzeptionen aufgeworfen wird: mit der Frage unter welchen Bedingungen Überzeugungen über phänomenale Zustände Überzeugungen über physikalische Gegenstände rechtfertigen. Gleichwohl führt eine andere substantielle epistemologische Annahme Goldmans zum Problem des perzeptiven Wissens – die Annahme des Rechtfertigungsexternalismus. Rechtfertigungsexternalistische Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung sind grundsätzlich mit dem Problem konfrontiert, viele Fälle als Wissen zu akzeptieren, die intuitiverweise nicht unter den Wissensbegriff fallen. Am Ende der ArmstrongDarstellung wurde bereits auf Bonjours Hellseher-Fälle und auf das Beispiel des nicht über seine Fähigkeit aufgeklärten ‚Chicken-Sexers‘ hingewiesen. Der nicht-aufgeklärte ‘Chicken-Sexer’ kann nicht begründen, warum er glaubt, dass ein bestimmtes Küken ein bestimmtes Geschlecht hat; dennoch kann er dieses völlig reliabel bestimmen. Nach Goldmans Definition des Begriffs der epistemischen Rechtfertigung wäre er damit auch epistemisch in seiner Überzeugung über das entsprechende Geschlecht des Kükens gerechtfertigt und würde das Geschlecht des Kükens im Fall der Wahrheit der Überzeugung wissen. Ist dies jedoch ein befriedigendes Ergebnis? Wären wir nicht viel eher dazu bereit, einer Person Wissen über das Geschlecht von Küken zuzuschreiben, wenn sie in der Lage dazu ist, Gründe anzugeben, etwa dass weibliche Küken so und so riechen, oder dass männliche Küken größer sind? Eine Antwort auf diese Frage hängt wesentlich davon ab, von welchen Intuitionen wir hier ausgehen. Die Debatte zwischen Rechtfertigungsexternalisten und -internalisten zeigt deutlich, dass es hier starke Abweichungen gibt. Im nächsten Abschnitt werde ich mich einem Argument von Sellars anschließen, mit dem man diese Debatte zumindest in einem wesentlichen Aspekt zugunsten des Internalisten entscheiden kann. Wir erwarten von epistemischen Personen zumindest in manchen Fällen, dass sie Gründe angeben können. Wie soll aber eine Per75
son bei ihren Begründungen auf ihre Wahrnehmung Bezug nehmen können, wenn ihr auf diese Weise keine intern zugänglichen Gründe gegeben sind? Goldman ist also insofern mit dem Problem des perzeptiven Wissens konfrontiert, dass er erklären muss, wie eine epistemische Person ihre Überzeugungen durch ihre Wahrnehmung begründen kann. Ich werde im nächsten Abschnitt mit Sellars argumentieren, dass man das Problem des perzeptiven Wissens im Rahmen einer reliabilistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung nicht lösen kann.
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3 Sellars’ Argumente gegen den epistemischen Fundamentalismus Bisher wurden drei verschiedene fundamentalistische Vorschläge für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens dargestellt. Es wurde bereits argumentiert, dass keiner der bisher diskutierten Ansätze eine Lösung dieses Problems liefert. In diesem Abschnitt soll Sellars’ Kritik an diesen Positionen erörtert werden. Sellars’ eigene Position – die im nächsten Abschnitt besprochen wird – wird nur vor dem Hintergrund dieser Kritik verständlich. Ich möchte hier noch zwei Punkte vorab anbringen: Erstens ist die Rede von Sellars’ Kritik an Goldman natürlich ein Anachronismus, weil Goldmans Text jünger ist als die hier von Sellars besprochenen Texte. Dieser Anachronismus ist allerdings insofern gerechtfertigt, dass Goldman eine Position genauer ausführt, die Sellars antizipiert. Zweitens kann eine Darstellung der Sinnesdatentheorie überholt und überflüssig wirken. Von kaum einer anderen philosophischen Theorie kann man sagen, dass sie gleichermaßen gründlich widerlegt wurde. Hier soll jedoch keine Widerauflage der Sinnesdatentheorie versucht werden, sondern diese nur insofern dargestellt werden, wie dies der Erläuterung von Sellars’ Position dient. 3.1 Der Mythos des Gegebenen Dieser Abschnitt ist sowie der nächste Abschnitt in erster Linie eine Interpretation von Sellars’ Hauptwerk Empiricism and the Philosophy of Mind (EPM), wird aber zu Klärungszwecken auch auf andere seiner Schriften zurückgreifen. Sellars entwickelt seine Kritik am epistemischen Fundamentalismus im Lichte des Begriffs des Mythos des Gegebenen (MG). MG ist eine allgemeinere These als die des epistemischen Fundamentalismus und bezieht sich darauf, was in der von Sellars als ‚philosophia perennis’ bezeichneten abendländischen Philosophietradition als mentale Gehalte angenommen wurden (Propositionen, Objekte, Sinnesdaten, Ideen, Strukturen etc.). 77
Wenn Sellars von MG in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen spricht, dann meint er damit immer die These des epistemischen Fundamentalismus. In folgender Stelle aus EPM wird dies besonders deutlich: One of the forms taken by the myth of the Given is the idea that there is, indeed must be, a structure of particular matter of fact such that (a) each fact can not only be noninferentially known to be the case, but presupposes no other knowledge either of particular matter of fact, or of general truth; and (b) such that the noninferential knowledge of facts belonging to this structure constitutes the ultimate court of appeals for all factual claims […] about the world.109
Eine Form von MG geht Sellars zufolge davon aus, dass es bestimmte Tatsachen (particular matter[s] of fact) gibt, für die erstens gilt, dass sie nichtinferentiell gewusst werden können und zweitens, dass sie die Rechtfertigungsgrundlage allen Tatsachenwissens über die Welt sind. Mit inferentiellem Wissen meint Sellars zunächst ein Wissen, welches auf Begründung, also der Angabe von Gründen, beruht. Dass es nicht-inferentielles Wissen geben soll, entspricht somit der These der nicht-doxastischen Rechtfertigung, die bereits erläutert wurde. Wir haben bisher drei Varianten dieser These kennen gelernt: Chisholms internalistische Konzeption selbstrechtfertigender Überzeugungen, Ayers internalistische Konzeption der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch Sinnesdaten und Goldmans externalistische Konzeption der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch reliable Prozesse der Überzeugungsbildung. In allen drei Fällen wird etwas als gegeben, d. h. keiner weiteren Rechtfertigung durch Gründe bedürftig, angenommen: Sinnesdaten (Ayer), selbst-präsentierende Eigenschaften (Chisholm) und ein reliabler Prozess der Überzeugungsbildung (Goldman). Wenn Sellars von einem Mythos des Gegebenen spricht, dann möchte er damit sagen, dass es sich um ein zu einfaches Bild handelt, welches einer weiteren Aufklärung bedarf. Es ist eine von Sellars’ Stärken, dass er seine Kritik an MG, in der Form des epistemischen Fundamentalismus, nicht nur auf einer abstrakten Ebene formuliert, sondern – wie wir im weiteren Verlauf dieses Abschnitts sehen werden – in erster Linie hinsichtlich konkreter erkenntnistheoretischer Positionen. Sellars wendet sich nicht gegen die Idee, dass das perzeptive Wissen in gewisser Hinsicht nicht-inferentiell ist. Zu Beginn von EPM schreibt er, 109
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Sellars 1997, S. 68f.
dass er nicht abstreiten möchte, „[…] that there is a difference between inferring that something is the case and […] seeing it to be the case“.110 (‘seeing’ ist hierbei als ‘epistemic seeing’ – ‚seeing that …’ – zu verstehen.) Sellars findet es natürlich und intuitiv einsichtig, zwischen dem direkten perzeptiven Wissen und dem indirekten inferentiellen Wissen zu unterscheiden. Perzeptives Wissen ist für ihn zumindest in der Hinsicht nicht-inferentiell, dass man nicht von perzeptiven Gehalten auf die Existenz physikalischer Objekte schließt, wie man etwa von Fußspuren im Schnee darauf schließen kann, dass eine Person durch den Schnee gelaufen ist. Was Sellars allerdings abstreiten möchte, ist die empiristische These, dass dieses nicht-inferentielle Wissen keine begrifflichen Voraussetzungen hat. Es ist für Sellars nicht einfach ein ‚kausales Geschenk’ der Welt an uns, sondern erfährt seine Geltung als Wissen nur im Kontext erlernter, epistemischer Fähigkeiten. Die Aussage ‚Ich weiß, dass p.’ macht für Sellars nur unter den Bedingungen eines sozialen Apriori – der Einführung in die Sprache – Sinn. Wenn man gelernt hat ‚Ich weiß, dass p.’ zu sagen, weiß man Sellars zufolge implizit, dass man (zumindest bei Nachfrage) auch ‚weil, q, r, s, …’ sagen muss. Desweiteren gehen für Sellars begriffliche Fähigkeiten in die Artikulation des Gehaltes der Wahrnehmung ein. Auf diese Weise hängt das perzeptive Wissen für ihn logisch mit begrifflichen Fähigkeiten zusammen. In der erkenntnistheoretischen Form besteht MG somit für Sellars darin, dass ein unvermitteltes – keine begrifflichen Kapazitäten voraussetzendes – Wissen angenommen wird. Mit anderen Worten besagt MG für Sellars, dass es ein nicht-doxastisch, d. h. nicht durch Gründe-geben, gerechtfertigtes Basiswissen gibt, welches als Rechtfertigungsgrundlage allen Wissens dienen kann. In EPM vergleicht Sellars dieses Bild mit dem alten HinduMythos eines auf einer durch den Weltraum schwebenden Schildkröte stehenden Elefanten, der die Erdenscheibe trägt.111 Genau so wenig, wie dieses Bild der modernen Kosmologie standhält, soll der epistemische Fundamentalismus Sellars’ weiteren Argumenten gewachsen sein.
110 111
Sellars 1997, S. 13. Vgl. Sellars 1997, S. 79.
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Exkurs: Sellars und der Wandel der Weltbilder Ein philosophiehistorisch wacher Mensch wie Sellars verwendet einen Begriff wie ‚Mythos’ natürlich nicht ohne einen Hintergedanken an den Topos der Wende vom Mythos zum Logos. Es gibt drei miteinander zusammenhängende Aspekte die hier m. E. wesentlich sind. Erstens teilt Sellars das Hegelianische Bild einer teleologischen Evolution der Vernunft, das man wie folgt darstellen kann:112 In der Frühphase seiner Entwicklung orientiert sich der Mensch durch spekulative Deutungen (Mythen) in der Welt. Dann abstrahiert er von singulären Naturereignissen und entwickelt metaphysische Thesen darüber, was diesen Ereignissen zugrunde liegt. In diesem manifesten Weltbild führt der Mensch Naturereignisse auf abstrakte Prinzipien, wie platonische Ideen oder den Satz vom zureichenden Grund, zurück und postuliert Personen, Gedanken, Entscheidungen etc., um die differentia specifica des Menschen zu erklären. Schließlich beginnt der Mensch die Naturereignisse anhand wissenschaftlicher Modelle zu prüfen, bei denen theoretische Entitäten und physikalische Gesetze postuliert werden. In diesem wissenschaftlichen Weltbild wird eine streng deterministische Ordnung aller Ereignisse angenommen.
Zweitens sieht Sellars es als das Hauptthema der modernen Philosophie an, die Spannungen am Übergang vom manifesten zum wissenschaftlichen Weltbild aufzulösen. Aus dem manifesten Weltbild stammen für Sellars die Grundkategorien unseres modernen Selbstbildes: also dass wir freie Entscheidungen treffen und somit verantwortlich handeln, oder dass wir selbständig über Dinge nachdenken können. Wenn die Gedanken aber frei sind, scheinen sie nicht im naturwissenschaftlichen Sinn determiniert sein zu können. Die wissenschaftliche Aufklärung stellt den modernen Menschen daher vor die Aufgabe, sich als kognitives Wesen in einer physikalischen Welt zu verorten. Anders als viele seiner Zeitgenossen wendet sich Sellars gegen ein reduktionistisches Herangehen an diese Aufgabe; vielmehr versucht er die Krise des modernen Menschen durch die Idee der Rekategorisierung zu überwinden, indem er das normative Selbstverständnis des Menschen so neu formuliert, dass es mit den Grundannahmen des wissenschaftlichen Weltbildes des Naturalismus vereinbar ist. Sellars formu-
112
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Vgl. Sellars 1962.
liert hierfür den einschlägigen Slogan „Putting Man into the Scientific Image“.113 Hierzu ist es für Sellars drittens nötig, unseren zeitgenössischen, engen Begriff der Wissenschaft um bestimmte spekulative Aspekte zu erweitern. Der Bereich des Mentalen passt etwa – mit all seinen Facetten – weder in das moderne Bild der Evolution noch scheint man ihn in einer streng neurowissenschaftlichen Sprache adäquat erfassen zu können. Ist das Mentale etwa das Produkt eines Übergangs wie beim Übergang von lebloser zu belebter Natur? Ist das Mentale eine notwendige Begleiterscheinung der Evolution? Emergiert das Mentale aus der belebten Natur? Welche biologischen Eigenschaften setzt das Mentale voraus? Über diese Fragen gibt es keine abschließende, wissenschaftliche Antwort. Gleichwohl ist es für unser Selbstbild zentral, dass wir uns als Wesen mit mentalen Eigenschaften identifizieren. Sellars glaubt, dass wir die hier vorkommende Unschärfe nur durch eine spekulative Geschichte – einen Mythos – überwinden können. Das cartesische, dualistische Modell des Geistes ist für Sellars ein Mythos, mit dem Descartes auf die Entwicklung der kausalen Kategorien des wissenschaftlichen Weltbildes seiner Zeit reagiert hat. Nun ist der Dualismus von Körper und Geist unverträglich mit dem Monismus des modernen wissenschaftlichen Weltbildes. Wie wir in Abschnitt 4 sehen werden, schlägt Sellars einen eigenen Mythos vor, der unser alltägliches mentalistisches Vokabular mit den Grundannahmen des wissenschaftlichen Weltbildes in Vereinbarung bringen soll.
113
Vgl. Sellars 1962, wo die Überschrift des letzten Abschnitts „Putting Man into the Scientific Image“ lautet.
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3.2 Sellars’ Argumente gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten 3.2.1 Ein harmloses und ein weniger harmloses Argument Im ersten Kapitel von EPM behauptet Sellars, dass Sinnesdaten kein Wissen darstellen können, weil es sich um Einzeldinge handelt.114 Das Argument kann man folgendermaßen rekonstruieren: [A1] (1) Wissen hat eine propositionale Form. (2) Sinnesdaten sind Einzeldinge (particulars). (3) Also stellen Sinnesdaten kein Wissen dar. Die meisten Sinnesdatentheoretiker würden, ausgenommen die Vertreter eines Russellschen Bekanntschaftswissens, A1 wohl zustimmen. Ayer nimmt, wie bereits dargestellt wurde, ein Tatsachenwissen über Sinnesdaten an, und dieses Wissen über Sinnesdaten hat eine propositionale Form. A1 würde einen Sinnesdatentheoretiker wie Ayer nicht erschrecken.115 Die logische Funktion der Sinnesdaten besteht für Ayer darin, dass sie einen Einfluss auf das doxastische System einer epistemischen Person haben können, indem sie dessen Basisüberzeugungen doxastisch-direkt rechtfertigen. Sinnesdaten sind für Ayer die ‚Wahrmacher’ der Propositionen, die die sinnliche Erfahrung einer epistemischen Person strikt beschreiben sollen.116 Sellars greift die Idee der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch Sinnesdaten mit folgender Überlegung an: It certainly begins to look as though the classical concept of a sense datum were a mongrel resulting from a crossbreeding of two ideas: (1) The idea that there are certain inner episodes – e. g. sensations of red or of C# which can occur to human beings (and brutes) without any prior process of learning 114
Sellars 1997, S. 16. Die folgende Darstellung bezieht sich nicht auf Ayers Alternativsprachtheorie, wie sie Sellars in Kapitel 2 in EPM darstellt, sondern auf die Konzeption der Sinnesdatentheorie die Ayer ab den 50er Jahren vertreten hat. 116 Vgl. den Abschnitt über Ayer dieser Arbeit. 115
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or concept formation; and without which it would in some sense be impossible to see, for example, that the facing surface of a physical object is red and triangular, or hear that a certain physical sound is C#. (2) The idea that there are certain inner episodes which are the non-inferential knowings that certain items are, for example, red or C#; and that these episodes are the necessary conditions of empirical knowledge as providing the evidence for all other empirical propositions.117
Die erste der beiden Ideen bezeichnet den wissenschaftlichen Anspruch, die Wahrnehmung als physikalisches oder doch zumindest wissenschaftlich beschreibbares Ereignis im Kausalnexus der Natur einzuordnen. Die zweite Idee steht dagegen dafür, dass die Wahrnehmung Gründe für das empirische Wissens liefern soll. Im Anschluss an diese Überlegung vertritt Sellars Folgendes Argument: [A2] (1) Nur Gründe rechtfertigen Überzeugungen. (2) Sinnesdaten sind Einzeldinge und keine Gründe. (3) Also können Sinnesdaten keine Überzeugungen rechtfertigen. Die entscheidende Frage ist hier, wie Sellars Prämisse (1) in A2 rechtfertigt. Denn rechtfertigen muss er sie, weil der Sinnesdatentheoretiker ansonsten das Argument mit dem Hinweis beantworten könnte, dass er eine andere – nicht-doxastische (doxastisch-direkte) – Form der Rechtfertigung annimmt. Sellars’ Argument wäre dann eine Petitio Principii gegen die Sinnesdatentheorie. Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir zunächst Sellars’ Konzeption der epistemischen Rechtfertigung näher betrachten. Vor diesem Hintergrund kann dann beurteilt werden, wie A2 zu bewerten ist. 3.2.2 Der logische Raum der Gründe Sellars betont an diversen Stellen in seinen erkenntnistheoretischen Schriften, dass Rechtfertigungen darin bestehen, dass eine Person Gründe dafür hat, etwas zu glauben. In The Structure of Knowledge schreibt er etwa: „Presumably, to be justified in believing something is to have good reasons 117
Sellars 1997, S. 22.
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for believing it, as contrasted with its contradictory.”118 Wenn wir Sellars’ Prämisse (1) aus A2 besser verstehen wollen, sollten wir uns zunächst fragen, was er unter Gründen versteht. Sellars versteht unter Gründen Bestandteile von Inferenzen, also Propositionen, die wahr oder falsch sein können.119 Dies ist allerdings eine These, die auch Rechtfertigungsexternalisten wie Goldman zugestehen können; freilich innerhalb einer externalistischen Konzeption inferenziellen Wissens. Aus zwei Gründen glaube ich jedoch, dass Sellars eine strikt rechtfertigungsinternalistische Konzeption epistemischer Rechtfertigung vertritt, nach der nur Begründungen, also die Angabe von Gründen, epistemisch rechtfertigen. Erstens versteht Sellars Gründe als mögliche Elemente von Handlungen einer epistemischen Person. In „Language, Rules and Behavior“ schreibt er: Shall we say, then, that one does not justify a proposition, but the assertion of a proposition? […] Shall we say that all justification is, in a sense which takes into account the dispositional as well as the occurrent, a justificatio actionis? I am strongly inclined to think that this is the case.120
Die angesprochenen Handlungen sind Begründungen. Begründungen sind für Sellars Handlungen im Sinn von Sprechakten. Diese Akte bestehen darin, dass man etwas – eine Proposition – als wahr oder falsch behauptet. Was meint Sellars damit, dass eine Rechtfertigung darin besteht, ein solches Handeln zu bewerten? Gemeint ist, dass die epistemische Person hierbei etwas richtig oder falsch machen kann, indem sie die logischen Regeln der Begründung beachtet oder verletzt. Gründe erhalten daher für Sellars ihre Geltung als Gründe nur relativ zu einem normativen System der Begründung, in welches man qua Sozialisation sukzessive eingeführt wird. Hieraus folgt, dass Gründe intersubjektiv zugänglich sein müssen. Einen Grund zu haben, bedeutet für Sellars notwendig, dass man diesen anderen 118
Sellars 1975, S. 332. Vgl. auch Sellars 1997, S. 19. Dass Gründe für Sellars diskursive ‚Gegenstände’ sind, möchte ich hier ontologisch neutral verstehen. Zumindest kann es sich bei Gründen für Sellars, der ja ein ausgewiesener Nominalist ist, nicht um abstrakte Gegenstände handeln. Vgl. DeVries 2005, S. 20ff. 120 Sellars 1949, S. 295. 119
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Personen gegenüber geltend machen kann. Hierbei geht es nicht nur darum, ob ein Grund wahr oder falsch ist, sondern auch darum, dass man die entsprechende praktische Kompetenz des Begründens beherrscht. Diese Kompetenz stellt für ihn ein praktisches Wissen – ein ‚know how’ im Sinn eines Metawissens – dar. Sellars ist zwar Anti-Realist hinsichtlich Normen, er gesteht ihnen aber zumindest eine praktische Realität zu.121 Gründe sind für Sellars daher weder abstrakte Entitäten noch rein subjektive Zustände. Ihnen kommt als ‚Gegenständen’ von Sprechhandlungen zumindest ein logischer Ort in intersubjektiven, sozial (normativ) regulierten Kontexten zu. Damit unterliegen sie für Sellars den gleichen ethischen Bewertungen wie alle Handlungen. Dies führt mich zum zweiten Grund dafür, Sellars als Rechtfertigungsinternalisten zu lesen. Denn Sellars versteht diese ‚Ethik’ der Überzeugungen analog zur Deontologie in der Ethik. Now accepting a proposition is, in a broad sense, a doing. It is no physical doing, but rather a mental doing, but it is a doing, nonetheless, and, like all doings, is something that can be correctly or incorrectly done. It is, so to speak, subject to a kind of ethics or morality, as are all doings.122
D. h. das ethische Vokabular von ‚richtig’ und ‚falsch’ soll im Rahmen einer epistemischen Deontologie angewendet werden. Dies bedeutet für Sellars, dass eine epistemische Person bestimmte Pflichten eingeht, wenn sie eine Behauptung macht: Sie muss vernünftig auf warum-Fragen antworten, indem sie Gründe angibt. Sie hat sich außerdem logisch auf die behauptete Proposition festgelegt, muss sie also in weiteren Inferenzen gebrauchen. 121
Sellars glaubt nach einer von W. deVries vorgeschlagenen Lesart, dass das wissenschaftliche Weltbild empirisch realer ist als das Alltagsweltbild, dagegen sei letzteres praktisch realer. (Vgl. hierzu deVries 2005, S. 271f.) Der Terminus ‚praktisch real’ verweist auf das Potential, Handlungen hervorzubringen, während ‚empirische Realität’ für das steht, was es wirklich in der Welt gibt. In diesem Sinn ist etwa der Begriff der Person praktisch real, weil die Annahme, dass es Personen gibt zu Handlungen führt. Diese Handlungsfähigkeit ist gewährleistet, auch wenn es noch keine adäquate wissenschaftliche Beschreibung, etwa eine Beschreibung neurowissenschaftlicher Art, des Begriffs der Person gibt; und streng genommen selbst dann, wenn eine solche Beschreibung aus Gründen der Komplexität niemals möglich sein sollte. 122 Sellars 1988, S. 302.
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Es gibt noch einen weiteren Grund, der für eine Interpretation von Sellars als Rechtfertigungsinternalist spricht. Gründe rechtfertigen für Sellars unsere Überzeugungen in einem begrifflichen Sinn. Es gibt für Sellars keinen nicht-begrifflichen kognitiven Zugang. Hierauf wird später in diesem Abschnitt genauer eingegangen. Propositionale Einstellungen wie Überzeugungen repräsentieren uns die Welt begrifflich, d. h. sie können wahr oder falsch sein. Sellars vertritt eine Gebrauchssemantik von Begriffen.123 Die Gebrauchssemantik besagt, dass Begriffe praktischen Fähigkeiten – einem ‚know how’ – entsprechen. Dieses ‚know how’ liegt für Sellars, wie bereits dargestellt, in einem Wissen darüber, in welchen Inferenzen ein Begriff verwendet werden kann. Hiermit korreliert auch Sellars’ holistisches Verständnis der Semantik: Einen Begriff zu verstehen, respektive zu beherrschen, bedeutet für Sellars, dass man seine logischen Relationen zu anderen Begriffen kennt. Eine Sprache muss man für Sellars letztlich als Ganze meistern. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum Sellars etwa Tieren oder kleinen Kindern kein Wissen zusprechen will. Tiere oder kleine Kinder haben für Sellars überhaupt keine Überzeugungen, oder allgemeiner: Gedanken, über die Welt, weil ihnen ein begrifflicher Zugang fehlt. Weil Sellars sub-doxastische Zustände nicht als Wissen zulässt, können Tiere und kleine Kinder also für ihn auch kein Wissen beanspruchen.124 Sellars’ logischer Raum der Gründe kennzeichnet demnach eine rechtfertigungsinternalistische Konzeption epistemischer Rechtfertigung, nach der eine epistemische Person nur dann in ihren Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt ist, wenn sie adäquate Gründe für ihre Überzeugungen angeben kann. Rechtfertigungen im Sinn von Begründungen sollen hierbei einen deskriptiven und einen normativen Gehalt haben: Sie können einerseits wahr oder falsch sein; andererseits erhalten sie ihre Geltung relativ zu einer
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Vgl. etwa Sellars 1997, S. 44f. Diese These erscheint angesichts der neuere Forschung zum Thema ‚Tierkognition’ natürlich als unplausibel. Für Sellars würde an dieser Stelle allerdings die wesentlich schwächere These ausreichen, dass Tiere und kleine Kinder nicht über die gleiche Art von Gedanken, d. h. über begriffliche Kapazitäten mit einer vergleichbaren inferentiellen Tiefe, verfügen. Diese These werde ich in Kapitel II dieser Arbeit weiter diskutieren und mich ihr zumindest teilweise anschließen. 124
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sozialen (linguistischen) Praxis des Begründens, in die man als Ganze eingeführt werden muss. 3.2.3 Was zeigt A2? Wenn Sellars in A2 behauptet, dass nur Gründe Überzeugungen rechtfertigen können, dann meint er damit erstens, dass nur Propositionen die nötige logische Form eines Grundes haben und zweitens, dass Gründe die Überzeugungen einer Person nur rechtfertigen, wenn sie diese als Gründe angeben kann. Beides setzt er in Prämisse (1) in A2 voraus. Die wenigsten Sinnesdatentheoretiker streiten die These ab, dass nur intern zugängliche Gründe die Überzeugungen einer epistemischen Person rechtfertigen können. Insbesondere Ayer streitet dies nicht ab. Stattdessen nimmt Ayer an, dass Sinnesdaten immer schon in raum-zeitlichen Relationen zueinander stehen und somit Gegenstände von Propositionen sind. Für Ayer werden immer Tatsachen über Sinnesdaten direkt gewusst. Ayers Konzeption des perzeptiven Wissens ist damit auch nicht anfällig für Sellars’ A2. Mit anderen Worten: Ayer könnte argumentieren, dass Sinnesdaten eine Rolle im logischen Raum der Gründe spielen können, weil eine epistemische Person Tatsachen über Sinnesdaten weiß, etwa dass sie in einer bestimmten zeitlichen Abfolge vorkommen, oder dass sie in bestimmten räumlichen Relationen zueinander stehen. Ayer kann sich somit zumindest in einem ersten Schritt gegen Sellars’ A2 verteidigen. Allerdings haben wir im letzten Abschnitt über Sellars’ Konzeption des logischen Raums der Gründe gesehen, dass er noch mehr dafür voraussetzt, dass etwas ein Grund sein kann. Gründe müssen für ihn diskursiv, d. h. intersubjektiv, einholbar sein. Ein Grund soll seine Geltung als Grund nur relativ zu einer sprachlichen Praxis des Begründens erfahren. Sinnesdaten sollen aber mittels einer vorsprachlichen Referenz zugänglich sein. Hieraus folgt, dass Sinnesdaten keine Gründe konstituieren können. Denn Gründe müssen intersubjektiv und damit sprachlich zugänglich sein. Sellars argumentiert ähnlich wie Wittgenstein mit seiner Privatsprachkritik, allerdings benötigt er nicht die starke These der Unmöglichkeit einer Privatsprache. Sellars reicht die schwächere These, dass ein privater, d. h. nicht-begrifflicher, vorsprachlicher, Zugang zu meiner Erfahrung keine Gründe konstituieren kann. 87
An dieser Stelle wird eine Schwäche in Sellars’ Argumentation deutlich, die uns bis zum Ende dieser Arbeit beschäftigen wird. Denn Sellars setzt einfach voraus, dass Gründe wesentlich diskursive Gründe sind. Aus dieser Annahme folgt natürlich, dass Sinnesdaten keine Gründe konstituieren können, weil sie ja gerade nicht diskursiver Natur, weil vorsprachlich, sind. Diese hier von Sellars vorausgesetzte These werde ich in Kapitel III als das Primat der Begründung bezeichnen. Allerdings könnte ein Sinnesdatentheoretiker wie Ayer diese These abstreiten, indem er eine Konzeption der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch Sinnesdaten vorlegt. Mit anderen Worten, der Sinnesdatentheoretiker könnte an Sellars’ A2 aussetzen, dass dort ein diskursives Modell von Begründung vorausgesetzt wird, dass es aber auch nicht-diskursive Gründe, wie Sinnesdatenpropositionen, gibt. Sellars begründet sein Argument gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten also letztlich mit einer dogmatischen Annahme, nach der nur diskursive Gründe epistemisch rechtfertigen können. Man ist leicht versucht, Sellars diese Annahme zuzugestehen, weil man seine Bedenken gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten teilt. Daraus, dass Sinnesdaten das perzeptive Wissen nicht rechtfertigen können, folgt jedoch nicht, dass nur diskursive Gründe unser Wissen über die Welt rechtfertigen können. Es könnte auch andere Formen der doxastisch-direkten Rechtfertigung geben, die nicht in der gleichen Weise angreifbar sind, wie die Sinnesdatentheorie. Wir haben bereits gesehen, dass Ayers Lösungsvorschlag für das Problem des perzeptiven Wissens an seinem starken Internalismus scheitert, der ja auch eine Konsequenz aus dem internalistischen Konzept des Sinnesdatums ist. Es gibt allerdings noch allgemeinere gute Gründe, die gegen die Annahme der Existenz von Sinnesdaten sprechen. Diese Gründe hängen aber eher mit dem Begriff des Sinnesdatums und weniger mit dem der doxastisch-direkten Rechtfertigung, d. h. mit der Idee eines unvermittelten Wissens, zusammen. Denn Sinnesdaten zählen in der zeitgenössischen Philosophie zu den aussortierten Entitäten. Sinnesdaten sind weder mit dem naturalistischen Weltbild noch mit dem Stand der philosophischen, erkenntnistheoretischen und metaphysischen, Diskussion in der Philosophie vereinbar. Die Gründe hierfür wurden bereits am Ende der Ayer-Diskussion angeführt. Fazit: Wir können Sellars Recht darin geben, dass Sinnesdaten nicht zur Rechtfertigung des perzeptiven Wissens taugen. Allerdings hat Sellars kein 88
Argument für Prämisse (1) in A2 vorgelegt, bzw. Sellars hat nicht prinzipiell gegen die Möglichkeit einer doxastisch-direkten Rechtfertigung argumentiert.125 Weil Sinnesdaten aber dubiose metaphysische Entitäten sind, können wir Sellars in seiner These Recht geben, dass Sinnesdaten keine rechtfertigende Funktion übernehmen können. Die allgemeinere These, dass es keine doxastisch-direkte Rechtfertigung gibt, hat Sellars, wie gesagt, nicht begründet. In Kapitel III werden wir auf andere Vorschläge zu sprechen kommen, die eine vermeintlich metaphysisch weniger fragwürdige Begründung des Konzepts der doxastisch-direkten Rechtfertigung anpeilen als die durch Sinnesdaten. 3.3 Sellars contra Chisholm: Komparatives und nicht-komparatives perzeptives Wissen Chisholm verwendet in seiner Konzeption der Selbstrechtfertigung einen cartesisch inspirierten ‚looks-talk’, bei dem Propositionen über physikalische Gegenstände aus Propositionen über den Bereich des Phänomenalen abgeleitet werden sollen. Das cartesische erkenntnistheoretische Programm besteht darin, den Bereich des Mentalen (bei Descartes die Ideen) zu reifizieren, um ihn dann zum Gegenstandsbereich täuschungsresistenter Überzeugungen zu machen. Analog dazu nimmt Chisholm Erscheinungen als selbst-präsentierende Eigenschaften an, die sich eine epistemische Person selbst zuschreiben kann. Dann soll schließlich unser Wissen über die physikalische Welt aus diesem Basiswissen darüber, wie uns die Dinge erscheinen, abgeleitet werden. Sellars argumentiert gegen die Möglichkeit, das Verb ‚erscheinen’ als epistemischen Operator zu gebrauchen, mit dem, wie Chisholm es zeigen möchte, bestimmte Basisüberzeugungen ausgezeichnet werden können. Er bedient sich eines Gedankenexperimentes, mit dem gezeigt werden soll, dass der Gebrauch, bzw. die Logik, des Verbs ‚erscheinen’ komparativ ist. Bei dem Gedankenexperiment wird davon ausgegangen, dass das elektrische Licht gerade erfunden wurde. Nachdem es in einem Krawattenladen 125
Ich möchte hier nicht behaupten, dass Sellars kein solches Argument hat. Mir ist allerdings bei der Lektüre der in dieser Arbeit zitierten Schriften Sellars’ kein solches Argument aufgefallen.
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installiert wurde. Nachdem es installiert wurde, ereignet sich folgendes Gespräch zwischen einem Verkäufer (John) und einem Kunden (Jim): “Here is a handsome green one”, says John. “But it isn’t green,” says Jim, and takes John outside. “Well,” says John, “it was green in there, but now it is blue.” “No,” says Jim, “you know that neckties don’t change their color merely as a result of being taken from place to place.” “But perhaps electricity changes their color and they change back again in daylight?” “That would be a queer kind of change, wouldn’t it?” says Jim. “I suppose so,” says bewildered John. “But we saw that it was green in there.” “No, we didn’t see that it was green in thee, because it wasn’t green, and you can’t see what isn’t so!” “Well, this is a pretty pickle,” says John. “I just don’t know what to say.”126
Sellars’ Geschichte geht so weiter, dass John schließlich lernt, Aussagen der Art „Dies ist grün“ zurückzuhalten, wenn er sich unter elektrischem Licht befindet. Wenn John etwas Grünes unter elektrischem Licht sieht, sagt er stattdessen „Dies ist blau“. Allerdings, so Sellars, beschreibt er jetzt nicht, was er unmittelbar wahrnimmt, sondern macht eine Inferenz, die man wie folgt darstellen kann: (1) Blaue Dinge (Dinge, die unter Standardbedingungen blau aussehen) sehen unter elektrischem Licht grün aus. (2) Ich sehe einen grünen Gegenstand. (3) Ich befinde mich unter elektrischem Licht. (4) Also ist dies ein blauer Gegenstand. Und aus den Aussagen (2) und (4) kann John schließlich ableiten: (5) Der Gegenstand sieht nur grün aus. Bzw. (5’) Der Gegenstand scheint grün zu sein. 126
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Sellars 1997, S. 38.
Sellars möchte mit dem Gedankenexperiment zeigen, dass John mit der Verwendung des Verbs ‚erscheinen’ eine neue kognitive Fähigkeit erworben hat. Im Gegensatz zur Verwendung des Verbs ‚sehen’, mit dem man einen propositionalen Gehalt bekräftigt, kann John mit der Verwendung des Verbs ‚erscheinen’ seine Bekräftigung zu einem propositionalen Gehalt zurückhalten. „Thus, when I say „X looks green to me now“ I am reporting the fact that my experience is, so to speak intrinsically, as an experience, indistinguishable from a veridical one of seeing that x is green.”127
Die Verwendung des Verbs ‚erscheinen’ liegt damit darin, dass eine epistemische Person Dinge damit vergleicht, wie sie normalerweise aussehen. Dieser Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ ist also komparativ – er setzt begriffliche Fähigkeiten voraus, woraus folgt, dass ‚erscheinen’ nicht als epistemischer Operator für Basisüberzeugungen dienen kann. Denn wenn der Begriff ‚grün sein’ logisch primär gegenüber dem Begriff ‚grün scheinen’ ist, kann ersterer nicht aus letzterem abgeleitet sein. Die Stoßrichtung von Sellars’ Argument ist klarerweise zu zeigen, dass das Verb ‚erscheinen’ nur komparativ gebraucht werden kann. Alltagssprachlich müssen wir Sellars sicher zustimmen, weil wir dieses Verb normalerweise gerade nicht epistemisch, sondern, wie Sellars sagt, komparativ verwenden; hiermit drücken wir unsere epistemische Zurückhaltung aus. Allerdings ist hierzu zu bemerken, dass Chisholm dies überhaupt nicht abstreiten würde. Chisholm behauptet darüber hinaus, dass man einen nonkomparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ als Terminus Technicus für epistemologische Kontexte einführen kann. Dann bezeichnen wir damit einen direkten, intuitiven Zugang dazu, wie uns die Dinge erscheinen. Gibt es jedoch einen solchen Zugang? Sellars argumentiert ähnlich wie Strawson, dass unsere Fähigkeit, auf unsere phänomenalen Zustände Bezug zu nehmen davon abgeleitet ist, wie physikalische Dinge normalerweise aussehen.128 Auf diese Weise glaubt Sellars zeigen zu können, dass 127
Sellars 1997, S. 41. Wie in Abschnitt 1.3.3.4 dargestellt wurde argumentiert Strawson gegen Ayer, dass wir zuerst lernen, Begriffe auf physikalische, d. h. öffentliche, Objekte anzuwenden. Die Referenz auf Wahrgenommenes ist daher für Strawson von dieser öf128
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unsere Urteile über unsere phänomenalen Zustände immer schon die Begriffe enthalten, die wir für eine Referenz auf physikalische Objekte benötigen. ‚Rot scheinen’ setzt, wie Sellars es formuliert, ‚rot sein voraus’ und nicht umgekehrt.129 Der Streit um die Frage, ob es einen non-komparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ gibt, korreliert mit der Frage, ob die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. Sellars streitet dies ab, weil die Wahrnehmung für ihn im logischen Raum der Gründe nur eine Rolle spielen kann, wenn sie einen begrifflichen Gehalt hat. Ich möchte allerdings betonen, dass Sellars kein separates Argument für die These des begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung vorlegt. Wir können Chisholms Konzeption der Selbst-Rechtfertigung, bzw. seinen Lösungsvorschlag für das Problem des perzeptiven Wissens, jedoch auch unabhängig von Sellars’ Argumenten aus EPM zurückweisen, weil diese bereits an dem von Chisholm zugrunde gelegten starken Internalismus scheitert. 3.4 Zwischenbilanz: Internalistischer epistemischer Fundamentalismus Die Diskussion der beiden internalistischen Ansätze hat gezeigt, dass wir Sellars in einem ersten Schritt folgen können. Es gibt gute Gründe den internalistischen, epistemischen Fundamentalismus, sowohl in der Form mit selbst-rechtfertigenden als auch in der mit doxastisch-direkt gerechtfertigten Basisüberzeugungen, als Vorschlag zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissens abzulehnen. Auch wenn Sellars’ Argumente zur Stützung dieser Kritik Schwächen aufweisen, gibt es genügend gute Argumente, mit denen seine Position unterstützt werden kann. Eines der Hauptprobleme in Sellars’ Argumentation ist die von ihm implizit angenommene Prämisse, dass nur Begründungen unsere Überzeugungen epistemisch rechtfertigen können. Man könnte versucht sein, diese Prämisse, die ich in Kapitel III mit Michael Williams als Primat der Begründung bezeichnen werde zu akzeptieren, weil man Sellars’ Konklusion gegen die Sinnesdatentheorie, dass Sinnesdaten nicht über das Potential zur doxastischdirekten Rechtfertigung verfügen, teilt. Dies wäre allerdings etwas voreilig, weil es immer noch die Möglichkeit einer anderen Form der doxasfentlichen Rede abgeleitet. Sellars argumentiert ähnlich gegen Chisholm, nur dass hier natürlich die Referenz auf Objekte der Wahrnehmung keine Rolle spielt. 129 Vgl. Kapitel III aus Sellars 1997 (The Logic of Looks).
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tisch-direkten Rechtfertigung gibt. Eine solche Form stellt beispielsweise Goldmans Reliabilismus dar. Sellars’ Argument gegen diese externalistische Position wird im Folgenden dargestellt. 3.5 Sellars gegen den Reliabilismus In Abschnitt 2 haben wir mit Goldmans Reliabilismus eine externalistische Variante des epistemischen Fundamentalismus kennen gelernt. In EPM antizipiert Sellars diese Position folgendermaßen: An overt or covert token of ‚This is green’ in the presence of a green item […] expresses observational knowledge if and only if it is a manifestation of a tendency to produce overt or covert tokens of ‘This is green’ – given a certain set – if and only if a green object is being looked at in standard conditions. Clearly on this interpretation the occurrence of such tokens of ‘This is green’ would be following a rule only in the sense that they are instances of a uniformity, a uniformity differing from the lightning-thunder case in that it is an acquired causal characteristic of the language user.130
Es geht Sellars an dieser Stelle um eine Position, die reliable sprachliche Reaktionen der Art ‚x ist F’ in der Gegenwart von Objekten mit der Eigenschaft F als hinreichend für perzeptives Wissen annimmt. Nach dieser Position verfügt eine Person also über ein Wissen, dass x F ist, wenn x F ist, sie dies glaubt und sie über die Disposition verfügt, in der Gegenwart von Objekten mit der Eigenschaft F ‚Dies ist F’ zu sagen. Diese Position möchte ich hier als behavioristischen Reliabilismus bezeichnen. Der behavioristische Reliabilismus ist als erkenntnistheoretische Position eine externalistische Form der doxastisch-direkten Rechtfertigung. Nach dieser Position soll es eine Klasse von Überzeugungen geben, die in einer externalistischen Weise – nämlich durch eine reliable Kausalbeziehung zu physikalischen Tatsachen – gerechtfertigt werden. Für den Reliabilisten sind Überzeugungen Dispositionen, in einer reliablen Weise auf Umweltreize zu reagieren. Sehr viele Dinge in der Welt reagieren in einer differenzierten Weise auf Umweltreize. Ein Thermometer zeigt die Temperatur an. Ein Stück Eisen rostet in feuchter Umgebung. Ein Papagei kann genau wie ein kleines Kind lernen ‚Dies ist grün’ in der Gegenwart grüner Gegenstände zu sagen. Ein Autofahrer kann lernen, an ro130
Sellars 1997, S. 74.
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ten Ampeln zu halten und bei grün weiterzufahren. Diese Fälle verdeutlichen einerseits die naturalistische Stoßrichtung des Konzepts der Disposition. Sie machen andererseits aber auch deutlich, dass wir für eine bestimmte Klasse von Fällen den Spracherwerb als differentia specifica benötigen, um sie von anderen Fällen zu unterscheiden. Der von Sellars antizipierte Reliabilismus nimmt an, dass es für perzeptives Wissen hinreicht, in reliabler Weise mit einem adäquaten sprachlichen Ausdruck zu reagieren. Sellars argumentiert auf dem Fuße gegen eine solche Konzeption: To be the expression of knowledge, a report must not only have authority, this authority must in some sense be recognized by the person whose report it is. […] In other words, for […] ‘This is green’ to express observational knowledge, not only must it be a symptom or sign of the presence of a green object in standard conditions, but the perceiver must know that tokens of ‘This is green’ are symptoms of the presence of green objects in conditions which are standard for visual perception.131
Sellars artikuliert hier den internalistisch motivierten Einwand, dass die reine sprachliche Äußerung von ‘Dies ist F’ noch nicht für ein Wissen, dass etwas F ist, hinreicht. Die Person muss, so Sellars, auch wissen, wann etwas unter Standardbedingungen F ist; d. h. die Person soll einen begrifflichen Zugang dazu haben, wann etwas F ist. Man wird in Sellars’ Schriften leider vergeblich nach einer expliziten Begründung dieser These suchen, die man mit Willem deVries als „epistemic reflexivity requirement“132 bezeichnen kann und die von vielen Externalisten infrage gestellt wird. Alston etwa schreibt über sie „The author just lays it down.“133 Stützen wir uns hier zunächst auf Brandoms Sellars-Interpretation aus „Sellars’ Zwei-Komponenten-Konzeption der Wahrnehmung“.134 Brandom behauptet, dass der Begriff der Wahrnehmung für Sellars zwei Komponenten enthält: erstens eine reliable Disposition auf Umweltreize (VDDR) und zweitens die Fähigkeit, VDDRs in Inferenzen zu gebrauchen. Brandom stützt sich auf Stellen wie die folgende aus EPM: Thus, all that the view I am defending requires is that no tokening by S now of ‚This is green’ is to count as ‚expressing observational knowledge’ unless it is also 131
Sellars 1997, S. 74f. DeVries 2005, S. 123. 133 Alston 1989, S. 66. 134 Die folgende Darstellung bezieht sich auf Brandom 2000, S. 599-604. 132
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correct to say of S that he now knows the appropriate fact of the form X is a reliable symptom of Y, namely that […] utterances of ‚This is green’ are reliable indicators of the presence of green objects in standard conditions of perception.135
Sellars schreibt hier klar, dass er eine Position verteidigen will, bei der die sprachliche Äußerung ‚Dies ist grün’ dann als Wissen gilt, wenn die epistemische Person über ein Hintergrundwissen darüber verfügt, unter welchen Bedingungen solche Äußerungen reliable Indikatoren für das Vorhandensein grüner Gegenstände sind. Brandom behauptet, dass dieses Hintergrundwissen ein ‚know how’ darüber ist, in welchen Inferenzen die sprachliche Äußerung (die VDDR) vorkommen kann. Dies legt folgendes Bild nahe: VDDRs werden gewissermaßen als Enden von Kausalketten produziert; VDDRs werden aber erst dann zu einem Wissen veredelt, wenn die epistemische Person sie kompetent in ihrem holistischen, inferentiellen Netz einbetten kann. Ich möchte mich Brandoms Interpretation hier anschließen. Vor diesem Hintergrund wirkt Sellars’ internalistisch motivierter Einwand gegen den Reliabilismus nicht mehr dogmatisch. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts wird Sellars’ Position genauer dargestellt. Sellars’ Kritik am behavioristischen Reliabilismus lässt sich auch auf Goldmans Ansatz übertragen. Die Schlagkraft von Sellars’ Kritik hängt wesentlich von seiner These ab, dass Gründe für eine epistemische Person intern zugänglich sein müssen. Ein harter Externalismus wie der von Goldman enthält dies weder als notwendige noch als hinreichende Bedingung. Sellars lehnt, wie wir im nächsten Abschnitt noch sehen werden, den Externalismus nicht grundsätzlich ab, sondern nur in der von Goldman vertretenen starken Form. Der Grund hierfür liegt darin, dass wir von epistemischen Personen zumindest manchmal einfordern, dass sie Gründe geben können. Wenn ein Schüler in einer Klausur eine Aufgabe löst, dann wollen wir etwa nicht lediglich das Ergebnis, respektive eine verlässlich wahre Überzeugung, von ihm, sondern wir erwarten darüber hinaus, dass dieser Schüler einen kognitiven Zugang dazu hat, wie er zu dem Ergebnis kommt, beispielsweise in der Form eines Rechenweges. Wir können diese internalistische Intuition, die wesentlich für unsere epistemische Praxis, d. h. für unsere epistemischen Bewertungen, ist, nicht einfach ausblenden. Goldmans Ansatz kann dieser Intuition nicht Rechnung tragen, weshalb er zu135
Sellars 1997, S. 76.
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mindest in dieser harten Form unplausibel erscheint. Der Reliabilismus kann demnach, in Goldmans Variante, keine adäquate Explikation der begrifflichen Voraussetzungen unserer epistemischen Alltagspraxis sein. 3.6 Fazit: Was zeigen Sellars’ Argumente gegen den epistemischen Fundamentalismus? Was haben uns diese Überlegungen von Sellars über den epistemischen Fundamentalismus gezeigt und was nicht? Gezeigt haben sie uns, dass die These des epistemischen Fundamentalismus nicht konsistent entwickelt werden kann. Keiner der bisher diskutierten Ansätze bietet eine überzeugende Lösung für das Problem des perzeptiven Wissens. Dies ist die erste wichtige systematische Einsicht aus Sellars’ Kritik an MG. Allerdings – und dieser Punkt wird im Folgenden noch von Bedeutung sein – hat uns Sellars nicht gezeigt, dass keine Form von doxastisch-direkter Rechtfertigung des perzeptiven Wissens konsistent entwickelt werden kann. Sellars These mag für den klassischen, epistemischen Fundamentalismus und für Goldmans Reliabilismus gelten. Ob sie für alle möglichen Formen der doxastisch-direkten Rechtfertigung gilt, bleibt abzuwarten. In Kapitel II werden wir sie im Kontext einer Erörterung der non-konzeptualistischen Konzeptionen Peacockes und Dretskes weiter prüfen.
4 Sellars über perzeptives Wissen In diesem Abschnitt sollen vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus dem letzten Abschnitt Sellars’ Überlegungen zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissens dargestellt werden. Ich beginne hier mit einigen für Sellars’ Überlegungen zum Problem des perzeptiven Wissens relevanten Voraussetzungen aus der Philosophie des Geistes. 4.1 Intentionalität und Wahrnehmung 4.1.1 Antipoden in der Philosophie des Geistes Sellars’ Erkenntnistheorie hängt eng mit seinen allgemeinen Überlegungen zur Intentionalität mentaler Zustände zusammen. Diese Überlegungen 96
können hier nur sehr rudimentär wiedergegeben werden, weil eine vertiefte Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. (i) Sellars grenzt sich erstens gegen die cartesische Philosophie des Mentalen ab. Unter einer cartesischen Konzeption des Mentalen versteht man zum einen eine relationale Konzeption mentaler Zustände, die Personen und Gehalte, d. h. mentale Repräsentationen, als Relata enthalten. Descartes’ eigene Beispiele für mentale Einstellungen sind u.a. hoffen, wünschen, glauben, denken oder zweifeln. Descartes nahm freilich Ideen als mentale Gehalte an, während es heute üblich ist, Propositionen in dieser Funktion zu sehen. Cartesische Konzeptionen des Mentalen sind zum anderen gehaltsinternalistisch, d. h. sie gehen davon aus, dass mentale Gehalte unabhängig von externen Faktoren wie Kultur oder physikalischen Tatsachen sind.136 Hierbei gibt es einen ontologischen und einen epistemologischen Aspekt. Der ontologische Aspekt besagt, dass mentale Gehalte und physikalische Gegenstände in unterschiedliche Kategorien fallen: während zweitere ausgedehnt in Raum und Zeit existieren sollen, wird bei ersteren angenommen, dass sie in einem immateriellen, d. h. nicht-physikalischen, Bewusstsein existieren, für welches der private Zugang aus der ersten-PersonPerspektive wesentlich ist. Die Frage, woher wir die psychologischen Begriffe zur Referenz auf die mentalen Zustände erwerben, erledigt der Cartesianer gewissermaßen en passant: sie werden entweder als angeboren oder als aus einer nicht-begrifflichen Erfahrung abgeleitet beschrieben. Der epistemologische Aspekt besagt, dass unser Wissen über die mentalen Gegenstände, aufgrund deren ontologischer Besonderheit, sicher und unkorrigierbar ist, so dass es als Basiswissen dienen kann, aus dem schließlich alles Wissen über die physikalische Welt abgeleitet werden soll. Die cartesische Philosophie ist für Sellars, mit ihren beiden Aspekten, ein klarer Fall von MG. Insbesondere ihre anti-naturalistische dualistische Stoßrichtung ist mit Sellars’ philosophischen Grundannahmen unvereinbar. Sellars streitet vor allem die cartesianische Konzeption des Erwerbs psychologischer
136
Ein Beispiel hierfür haben wir bei Chisholm bereits kennen gelernt: Chisholm nimmt ein nicht-komparatives (nicht-begriffliches) Wissen über selbstpräsentierende Eigenschaften an, aus dem dann u.a. das perzeptive Wissen abgeleitet werden soll.
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Begriffe, in ihrer empiristischen und rationalistischen Form, ab. Der Erwerb solcher Begriffe läuft für Sellars über Handeln und Spracherwerb. (ii) Auch, wenn dies nach einer typisch behavioristischen Position klingt, muss man hier bei Sellars vorsichtig sein. Sellars ist kein handelsüblicher Behaviorist. Er vertritt gegenüber dem klassischen analytischen Behaviorismus einen methodologischen Behaviorismus. Der analytische Behaviorismus behauptet eine analytische Reduktion von psychologischen Ausdrücken in Ausdrücke über Handlungsdispositionen.137 Sellars’ Hauptkritik an dieser Position ist, dass sie die Intentionalität des Mentalen nicht überzeugend abbilden kann. Sie ist entweder inadäquat für den selbst gesetzten Zweck oder zirkulär, weil intentionales Vokabular importiert werden muss.138 Als methodologische These besagt der Behaviorismus lediglich, dass die Evidenzen für psychologische Zustände intersubjektiv zugänglich sein müssen. (iii) Sellars lehnt sowohl andere reduktionistische (physikalistische, neuroreduktionistische etc.) Ansätze als auch den eliminativen Naturalismus, der mentale Ereignisse zu Epiphänomenen erklärt, ab.139 Das Grundproblem aller reduktionistischen Ansätze ist, dass sie auf dem Weg der Analyse ihre Fähigkeit verlieren, über die Termini im Analysans zu sprechen, es sei denn, sie reichern die Termini im Analysandum genau um die Begriffe an, die sie analysieren wollten. Im gleichen Sinn wie der Phänomenalist nur über die physikalische Welt sprechen kann, wenn er seine SinnesdatenPropositionen um Begriffe für physikalische Gegenstände anreichert, kann der Behaviorist oder der Neuroreduktionist nur über mentale Ereignisse sprechen, wenn er intentionales Vokabular verwendet. Sellars hält die Intentionalität von Gedanken für eine genuin normative Tatsache, die einer spezifischen Betrachtung bedarf. Vor allem folgt für Sellars aus dieser Eigenschaft von Gedanken, dass sie nicht auf deskriptive Aussagen reduziert werden können. Ich möchte im Folgenden kurz Sellars’ Vorschlag für die Entwicklung einer Konzeption des Mentalen darstellen.
137
Am Prominentesten sicher in Ryle 2000. Sellars 1997, S. 89. 139 Vgl. hierzu vor allem Kapitel IX (Science and Ordinary Usage) aus Sellars 1997. 138
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4.1.2 Methodologischer Behaviorismus bei Sellars Unsere alltagssprachliche Verwendung mentaler Termini ist relational im oben genannten Sinn. Wir reden über Personen, die etwas denken, wollen, hoffen etc. Dies wurde im letzten Abschnitt als die Intentionalität von Gedanken bezeichnet. Während der Cartesianer sich in diesem Sprachspiel bewegt, führt der Reduktionist eine gänzlich neue Redeweise ein. Sellars möchte eine Alternative zur cartesischen Verwendung mentaler Termini entwickeln, die mit den Grundannahmen des Naturalismus vereinbar ist. („Putting man into the scientific image.“) In EPM trägt Sellars diese Alternative in Form einer fiktiven Geschichte vor; er spricht sogar von einem Mythos. Dies hat ihm viel Kritik eingehandelt. Wir sollten jedoch möglichst wohlwollend mit Sellars’ Idee umgehen, um ihren Kern zu erfassen. Sellars wählt m. E. die Fiktion, um Raum für eine Geschichte zu schaffen, die noch niemand vor ihm erzählt hat. Die Geschichte (respektive der Mythos) selbst kann schließlich wie Wittgensteins Leiter zur Seite gelegt werden, wenn sie ihr Ziel erfüllt, welches darin besteht, eine plausible Alternative zur cartesischen Philosophie des Geistes anzubieten. Ich beschränke mich hier auf Sellars’ Darstellung aus EPM und werde hierbei nah am Text arbeiten. Sellars beginnt seine Geschichte […] in medias res with humans who have already mastered a Rylean language, because the philosophical situation it is designed to clarify is one in which we are not puzzled by how people acquire a language for referring to public properties of public objects, but are very puzzled indeed about how we learn to speak of inner episodes and immediate experience.140
Unter einer Ryleschen Sprache versteht Sellars, dass Personen zwar die Fähigkeit haben, auf öffentliche Objekte nicht aber auf mentale Zustände Bezug zu nehmen. Ihnen fehlt gewissermaßen die Semantik für den Blick nach Innen. Sellars fragt vor diesem Hintergrund: What resources would have to be added to the Rylean language of these talking animals in order that they might come to recognize each other and themselves as animals that think, observe, and have feelings and sensations, as we use these terms?141
140 141
Sellars 1997, S. 91. Sellars 1997, S. 92.
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Sellars gibt in seiner affirmativen Antwort auf diese Frage zwei Bedingungen an: Erstens müssen die Ryleaner semantische Begriffe erwerben, die sie auf ihre Sprache anwenden. Die Ryleanische Sprache ist als eine reine Objektsprache eingeführt worden, die nun um eine Metasprache erweitert werden soll. Der Erwerb psychologischer Begriffe ist für Sellars wesentlich mit der Anwendung metasprachlicher Strukturen verbunden. Zweitens ist die Fähigkeit zur Entwicklung theoretischer Begriffe nötig, mit denen modellhaft beobachtbare Phänomene durch nicht-beobachtbare postulierte Entitäten erklärt werden sollen.142 Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, steht der geistigen Evolution der Ryleaner Sellars zufolge nichts mehr im Weg. With the resources of semantical discourse, the language of our fictional ancestors has acquired a dimension which gives considerably more plausibility to the claim that they are in a position to talk about thoughts just as we are. For characteristic of thoughts is their intentionality, reference, or aboutness, and it is clear that semantical talk about the meaning or reference of verbal expressions has the same structure as mentalistic discourse concerning what thoughts are about.143
An dieser Stelle der Geschichte führt Sellars ein wissenschaftliches Genie (Jones) ein, welches den Behaviorismus auf das gewünschte Niveau führt. Jones kritisiert den analytischen Behaviorismus und schlägt ein neues, methodologisches Verständnis des Behaviorismus vor. As a methodological thesis, it (behaviorism, A. B.) involves no commitment whatever concerning the logical analysis of common-sense mentalistic discourse, nor does it involve a denial that each of us has a privileged access to our state of mind, nor that these states of mind can properly be described in terms of such commonsense concepts as believing, wondering, doubting, intending, wishing, inferring, etc. […] The essential point about ‘introspection’ from the standpoint of Behaviorism is that we introspect in terms of common sense mentalistic concepts.144
Jones’ methodologischer Behaviorismus wird darin bestehen, den Übergang von einer Ryleschen zu einer post-Ryleschen mentalistischen Sprache durch die Einführung von zwei Arten von theoretischen Entitäten für innere Zustände einer Person zu erklären: zum einen Gedanken, die nach dem Modell von Sätzen, bzw. Sprechhandlungen, beschrieben werden und zum 142
Sellars 1997, S. 92. Sellars 1997, S. 93. 144 Sellars 1997, S. 101. 143
100
anderen Sinneseindrücke (sense-impressions), die nach dem Modell der Eigenschaften wahrnehmbarer physikalischer Gegenstände beschrieben werden. Es wird hier sinnvoll sein, zunächst auf Jones’ Einführung von Gedanken und anschließend auf die Einführung von Sinneseindrücken im Kontext seiner Theorie einzugehen. (i) Gedanken: Hier sollen Sprechakte ein Modell dafür sein, dass Personen sich auch dann intelligent oder rational verhalten, wenn sie nicht laut nachdenken (think out loud).145 Gedanken werden hierbei von Jones als theoretische Entitäten für die Erklärungen dafür angenommen, dass sich Personen rational verhalten, auch wenn sie nicht laut nachdenken, d. h. sprechen. Eine Überzeugung zu haben, bedeutet etwa, dass man einen propositionalen Gehalt bekräftigt. Hier würde Sellars behaupten, dass das mentale Ereignis ‚Überzeugung’ erklären kann, warum eine Person etwa von der Straße geht, wenn ein Auto kommt, oder warum eine Person bestimmte weitere Behauptungen macht.146 Jones ist im Gegensatz zum Cartesianer nicht auf ein dualistisches Bild von Gedanken festgelegt, auch wenn ein solches Bild in seiner Theorie logisch nicht ausgeschlossen ist. Jones kann etwa annehmen, dass Personen rational sein können, wenn sie nicht laut sprechen, weil ihre internen Zustände, d. h. ihre Gedanken, die gleiche logische Form haben, wie die äußeren Sprechhandlungen; bzw., weil die internen Zustände analoge Elemente enthalten, wie äußere Sprechhandlungen: Begriffe, Eigennamen, Sätze, Inferenzen. Mit anderen Worten: Gedanken werden von Jones als theoretische Entitäten eingeführt, die erklären sollen, warum sich Personen vernünftig verhalten, auch wenn sie nicht laut sprechen. In diesem Sinn würde Sellars davon sprechen wollen, dass Gedanken äußeres Handeln verursachen, auch, wenn wir noch nicht wissen, wie dies geschieht. (ii) Sinneseindrücke: Gedanken stehen wie Sätze in einer inferentiellen Ordnung. Man kann etwa wahre und falsche Überzeugungen über die Welt haben, indem man richtig oder falsch über die Welt nachdenkt; d. h. richtige oder falsche Schlussfolgerungen zieht. Es wurde schon mehrfach ange-
145
Sellars 1997, S. 102. Man könnte hier etwas spitzfindig sagen: wenn es einer Person nur so scheint, als ob ein Auto kommt, wird sie eventuell nicht von der Straße gehen.
146
101
sprochen, dass zumindest perzeptive Überzeugungen nicht, oder zumindest nicht ohne Weiteres, in dieses Bild passen. The first step is to remind ourselves that among the inner episodes which belong to the framework of thoughts will be perceptions […] Until Jones introduced this framework, the only concept our fictitious ancestors had of perceptual episodes were those of overt verbal reports, made, for example, in the context of looking at an object in standard conditions.147
Wahrnehmungen (perceptions) fallen für Sellars demnach in die Klasse der Gedanken. Er nimmt an, dass sie nach dem Modell von Beobachtungsberichten (observation reports) gebildet sind, d. h. dass sie wahr oder falsch sein können und einen begrifflichen Gehalt haben. Wahrnehmungen sind in diesem Sinn eine Art von Überzeugungen; man kann vielleicht etwas vorsichtiger von ‚Protoüberzeugungen’ sprechen. Allerdings sind Wahrnehmungen in der Hinsicht keine Gedanken oder doch zumindest eine sehr spezifische Form von Gedanken, dass sie in einer nicht-inferentieller Weise gebildet werden. Wie kann Sellars dieses Spezifikum erklären? An dieser Stelle der Geschichte lässt Sellars Jones eine weitere Klasse von theoretischen Entitäten einführen – die Sinneseindrücke. It is sufficient to suppose that the hero of my myth postulates a class of inner – theoretical – episodes which he calls, say, impressions, and which are the end results of the impingement of physical objects and processes on various parts of the body […]148
Sellars legt Wert darauf, dass es sich bei den Sinneseindrücken (impressions) nicht um Dinge, wie etwa Sinnesdaten, handelt, sondern um innere Zustände der wahrnehmenden Person. „The entities introduces by the theory are states of the perceiving subject, not a class of particulars.”149 Diese Zustände sollen hierbei im Gegensatz zu Wahrnehmungen nichtbegrifflicher Natur sein. Sie sollen in der Hinsicht physikalische Ereignisse sein, dass sie das Produkt der physikalischen Einwirkung physikalischer Objekte auf biologische empfindungsfähige Organismen sind. Weiterhin sollen sie als theoretische Entitäten erklären, wie wir auf nichtinferentiellem Weg zu perzeptiven Überzeugungen über die Welt kommen. 147
Sellars 1997, S. 107f. Sellars 1997, S. 109. 149 Sellars 1997, S. 110. 148
102
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Sellars die Sinneseindrücke einführt. In den ersten Kapiteln von EPM diskutiert Sellars die Frage, wie man veridische und nicht-veridische Wahrnehmungen unterscheiden kann. An diesen Gedanken knüpft er am Ende von EPM wieder an. It will be remembered that we had reached a point at which, as far as we could see, the phrase „impression of a red triangle“ could only mean something like „that state of a perceiver – over and above the idea that there is a red and triangular physical object over there – which is common to those situations in which (a) he sees that the object over there is red and triangular; (b) the object over there looks to him to be red and triangular; (c) there looks to him to be a red and triangular physical object over there.”150
Sinneseindrücke sollen für Sellars als theoretische Entitäten weiterhin, neben dem nicht-inferentiellen Modus der perzeptiven Überzeugungen, erklären, was diesen Fällen gemeinsam ist. Diesen Fällen ist für Sellars gemeinsam, was er auch als qualitatives Erscheinen (qualitative seeming) bezeichnet;151 sie sollen offensichtlich keine rein physikalischen Ereignisse (Reizungen der Nervenenden oder Ähnliches) sein, sondern einen qualitativen Gehalt haben, so dass es sich für eine Person so und so anfühlt, einen bestimmten Sinneseindruck zu haben. Damit sind sie für Sellars gehaltsinternalistisch bestimmt; d. h. wesentlich für die Sinneseindrücke ist nicht, dass sie kausal von der Umgebung eines wahrnehmenden Subjektes abhängen, sondern dass sie, auch für den Fall, dass sie nicht durch physikalische Objekte verursacht werden, einen qualitativen Gehalt haben. Außerdem sollen die Sinneseindrücke nicht zu Klasse der Gedanken gehören und damit einen nicht-begrifflichen Gehalt haben. Dieser ist für Sellars in der Hinsicht gegeben, dass er Jones diese Entitäten nach dem Modell wahrnehmbarer Eigenschaften physikalischer Gegenstände entwickelt. Es soll sich gewissermaßen um innere Spiegelbilder (replicas)152 der physikalischen Gegenstände handeln. Sellars glaubt allerdings nicht, dass das Postulat dieser nicht-begrifflichen Repräsentationen physikalischer Gegenstände
150
Sellars 1997, S. 108f. Vgl. Sellars 1997, S. 42. 152 Sellars 1997, S. 110. 151
103
unter MG fällt, weil sie, wie wir gleich sehen werden, für ihn keine rechtfertigende Rolle für das perzeptive Wissen spielen sollen. Ich möchte, diesen Abschnitt abschließend, noch die Frage diskutieren, ob Sellars’ Mythos eine überzeugende Alternative zur cartesischen Bewusstseinsphilosophie bietet – dies zu zeigen, ist schließlich sein Ziel. Die entscheidende Frage scheint mir hier zu sein, ab wann, bzw. unter welchen Bedingungen, sprachliches Handeln von inneren Episoden, bzw. Gedanken, begleitet wird. Natürlich gibt es für Sellars in gewisser Hinsicht ‚echte’ Ryleaner: z.B. sprachbegabte Tiere oder kleine Kinder können etwa Dispositionen erwerben, sprachlich auf Umweltreize zu reagieren. Bei erwachsenen Menschen soll dagegen ex hyopthesi etwas hinzukommen. Bei letzteren würde Sellars Gedanken postulieren, um ihr Handeln auf rationale Gründe zurückzuführen. Wie erwirbt eine Person die Fähigkeit, Gedanken zu haben? Wir haben gesehen, dass Gedanken für Sellars einen begrifflichen Gehalt haben. Begriffe sind für ihn ein ‚know how’ über inferentielle Beziehungen. Man kann einen Begriff wie ‚Grün’ für Sellars nicht separat lernen, ohne etwa zu wissen, was Farben sind, welche Farben es sonst noch gibt und dass Farben in der Regeln auf Oberflächen physikalischer Gegenstände zu finden sind. Begriffe lernt man für Sellars immer ‚ensemble’, indem man sukzessive in eine Sprache eingeführt wird. Es gibt daher für ihn keinen eindeutigen Punkt, ab dem man von begrifflichem Denken sprechen kann. Mit Wittgensteins Worten aus Über Gewissheit: Wenn wir anfangen etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen. (Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.) (§141)
Es gibt daher für Sellars keine Überzeugungen, die unabhängig von anderen Überzeugungen gerechtfertigt wären; dies ist ein Punkt, der uns im nächsten Abschnitt weiter beschäftigen wird. Vielleicht können wir uns Sellars’ post-Ryleaner als eine Person vorstellen, bei der ein mentales Innenleben als Derivat der Einführung in eine sprachliche Praxis abfällt.
104
4.2 Sellars über perzeptives Wissen 4.2.1 Externalistischer Internalismus? Ich möchte hier mit der Frage beginnen, welche Rolle der Externalismus für Sellars spielt. Sellars vertritt einerseits einen Rechtfertigungsinternalismus, indem er von der These ausgeht, dass nur Begründungen Überzeugungen rechtfertigen. Rechtfertigungen sind für ihn, wie er es formuliert, Züge im logischen Raum der Gründe. Allerdings haben wir bereits gesehen, dass Sellars den externalistischen Begriff der Reliabilität verwendet, auch wenn er den Reliabilismus als erkenntnistheoretische Position explizit ablehnt. Sellars möchte offensichtlich seine rechtfertigungsinternalistische Position für zumindest ein externalistisches Moment öffnen. In folgender Stelle aus EPM wird dies besonders deutlich. Thus, all that the view I am defending requires is that no tokening by S now of ‚This is green’ is to count as ‚expressing observational knowledge’ unless it is also correct to say of S that he now knows the appropriate fact of the form X is a reliable symptom of Y, namely that […] utterances of ‚This is green’ are reliable indicators of the presence of green objects in standard conditions of perception.153
Ein reiner sprachlicher Ausdruck ist für Sellars kein Wissen, weil er keine Intentionalität hat. In diesem Sinn ist die reliable Äußerung von ‚Dies ist grün’ angesichts grüner Gegenstände für ihn kein Wissen. Um den Automaten oder den Papageien von einer epistemischen Person zu unterscheiden, muss für ihn ein interner intentionaler Zugang zum Gehalt der Aussage postuliert werden. Papagei und Automat verstehen nicht, was sie sagen; sie machen bloß Geräusche. Für die epistemische Person ist die Aussage dagegen Teil ihres doxastischen kognitiven Systems. In diesem Sinn müssen für Sellars doxastische Einstellungen wie Überzeugungen postuliert werden, um zu erklären, wie eine epistemische Person einen epistemischen Zugang zur Welt haben kann. Allerdings macht die letzte Textstelle auch deutlich, dass für Sellars rein logische Relationen zwischen doxastischen Einstellungen, bzw. deren propositionalen Gehalten, nicht für Wissen hinreichen. Die Überzeugungen sollen auch in einem reliablen Prozess der Überzeugungsbildung entstehen. Wie kann Sellars aber einerseits Rechtfer153
Sellars 1997, S. 76. Vgl. zur folgenden Darstellung DeVries 2005.
105
tigungsinternalist sein und dennoch ein reliabilistisches Moment in seiner Konzeption behaupten? Wir müssen hier noch einmal auf Sellars’ Argument gegen Chisholms nonkomparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’ zurückkommen. Chisholm möchte mit seiner Analyse des Verbs ‚erscheinen’ zeigen, dass man in einer Weise über die eigenen phänomenalen Zustände sprechen kann, die unabhängig von den Begriffen ist, die wir auf die öffentlichen physikalischen Gegenstände anwenden. Sellars argumentiert gegen einen solchen non-komparativen Gebrauch des Verbs ‚erscheinen’, indem er darauf hinweist, dass einer Person ein Gegenstand a nur dann mit der Eigenschaft F erscheinen kann, wenn diese Person weiß, dass Gegenstände mit der Eigenschaft F unter Standardbedingungen tatsächlich diese Eigenschaft haben. Mit anderen Worten: Mein Wissen über meine phänomenalen Zustände ist von einem Wissen darüber abgeleitet, wie die Dinge in der physikalischen Welt normalerweise sind und nicht umgekehrt. Und noch einmal mit anderen Worten: Ich weiß nur dann, dass x grün ist, wenn ich weiß, dass grüne Dinge normalerweise grün aussehen. Auf diese Weise kann eine epistemische Person Sellars zufolge zwar auf ihre eigenen phänomenalen Zustände, respektive darauf, wie ihr die Dinge erscheinen, als Gründe Bezug nehmen, denn sie sind ihr ja über ihren begrifflichen Gehalt intern zugänglich. Gleichermaßen soll dieser begriffliche Gehalt aber davon abhängen, wie sich die physikalischen Dinge normalerweise verhalten. Sellars kombiniert demnach die These des Zugangsinternalismus mit einer gehaltsexternalistischen These über den Gehalt der Wahrnehmung. Wahrnehmungen können somit Gründe sein, und sie sind gute Gründe, weil sie von den physikalischen Tatsachen abhängen. Leider ist das Problem des perzeptiven Wissens auf diese Weise noch nicht gelöst. Denn Sellars übergeht in seiner Konzeption des perzeptiven Wissens die Frage, wie die Begriffe auf etwas angewendet werden können, was nicht-begrifflich ist. Ohne eine solche Anwendung gäbe es keinen externen Einfluss auf den logischen Raum der Gründe, sofern wir hier jedenfalls die exzentrische These ausschließen wollen, dass die physikalischen Gegenstände begrifflich strukturiert sind. Genau diesen Einfluss soll für Sellars – hier bewegt er sich weiter in der empiristischen Tradition – die Wahrnehmung erklären. Wie soll aber die Wahrnehmung den logischen Raum der Gründe in einer nicht-begrifflichen Weise beeinflussen, wenn sie 106
einen begrifflichen Gehalt hat? Sellars gibt auf diese Frage m. E. keine Antwort, außer den von ihm als theoretischen Entitäten postulierten Sinneseindrücken. Sie könnten als Schnittstelle zwischen Gedanken und physikalischer Welt fungieren und auf diese Weise erklären, wie die Wahrnehmung das perzeptive Wissen rechtfertigen kann. Es gibt allerdings mindestens zwei ernste Probleme, mit denen diese These konfrontiert ist: Erstens vertritt Sellars eine gehaltsinternalistische Konzeption der Sinneseindrücke, was die Frage danach aufwirft, wie sie die Beziehung zwischen Wahrnehmung und physikalischer Welt erklären sollen. Zweitens darf Sellars, sofern er nicht selbst unter MG fallen möchte, den Sinneseindrücken keine rechtfertigende Funktion zuschreiben. Was für eine Funktion übernehmen sie aber dann? Und wie übernehmen sie diese Funktion? Dass es sich um eine nicht-logische, d. h. nicht-begriffliche, Funktion handelt, ist zu unspezifisch. Durch den reliabilistischen externalistischen Anteil versucht Sellars zu zeigen, dass das perzeptive Wissen epistemisch direkt, d. h. nicht-inferentiell, und kausal indirekt ist. Es soll zwar von kausalen Faktoren abhängen, allerdings sollen diese keine rechtfertigende Rolle spielen. Das perzeptive Wissen ist für Sellars weiterhin epistemisch direkt in dem Sinn, dass es nicht inferentiell begründet wurde – es ist sozusagen kognitiv spontan. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, setzt es für Sellars dennoch komplexe begriffliche Fähigkeiten voraus, über die eine epistemische Person erst nach der Einführung in eine Sprache verfügt. Es handelt sich in diesem Sinn auch nicht um das, was der epistemische Fundamentalist klassischerweise als Basiswissen bezeichnet. 4.2.2 Sellars und die Struktur des perzeptiven Wissens Sellars gibt dem Fundamentalisten gegenüber zu, dass es kein perzeptives Wissen geben kann, wenn es kein nicht-inferentielles Wissen gibt. „There is clearly some point to the picture of human knowledge as resting on a level of propositions […] which do not rest on other propositions.“154 Wie der Empirist so geht auch Sellars davon aus, dass man diese Überzeugungen in den perzeptiven Überzeugungen (von Sellars ‚observation reports’ 154
Sellars 1997, S. 78.
107
genannt) ausmachen kann. Er gesteht dem Empiristen hierbei zu, dass perzeptive Überzeugungen in dem Sinn direkt sind, dass man sie passiver Weise hat. Gleichwohl wendet sich Sellars im Anschluss an die gerade zitierte Stelle gegen die Idee des epistemischen Fundamentalismus. On the other hand, I do wish to insist that the metaphor of ‚foundation’ is misleading in that it keeps us from seeing that if there is a logical dimension in which other empirical propositions rest on observation reports, there is another logical dimension, in which the latter rest on the former.155
Es gibt also, so Sellars, nicht-inferentielles Wissen. Dieses Wissen sei allerdings kein Basiswissen, weil es von anderem Wissen logisch abhänge. Sellars spricht von einer anderen logischen Dimension, in der die Beobachtungsberichte von dem durch sie gerechtfertigten perzeptiven Wissen (den empirischen Propositionen) abhängen. Die logische Dimension, von der Sellars hier spricht, ist in erster Linie ein ‚know how’ – ein praktisches Wissen um die Regeln des Begründens. Es soll sich um ein Hintergrundoder Metawissen handeln, welches die Orientierung im logischen Raum der Gründe ermöglicht; d. h. ein Wissen über inferentielle Regeln. Der Punkt, auf den Sellars hier hinweist, ist folgender: Dass eine epistemische Person nur dann in der Lage ist, Beobachtungsberichte – d. h. propositionale Einstellungen, die sich auf die eigenen phänomenalen Zustände beziehen – als Gründe anzuführen, wenn sie in die Praxis des Begründens als Ganze eingeführt wurde. Nur ein kompetenter Sprecher – d. h. eine voll in die Sprache einsozialisierte Person – weiß, in welchen Situationen Beobachtungsberichte als Gründe herangezogen werden. Damit kann es sich aber nicht mehr um die voraussetzungslosen ‚ersten Gründe’ handeln, die der epistemische Fundamentalist, respektive Empirist, für sein Modell des empirischen Wissens benötigt. Sellars möchte darauf hinweisen, dass die Rechtfertigung des perzeptiven Wissens durch die Wahrnehmung zumindest unter einem sozialen Apriori steht, weshalb es sich hierbei um kein fundamentalistisches Modell des Wissens handeln kann. Allerdings kann es sich bei dem Metawissen nicht um ein reines ‚know how’ handeln. Eine epistemische Person muss gute von schlechten Gründen unterscheiden können, muss also wissen, welche Gründe wahrheitsleitend sind und damit einen faktischen Gehalt haben. Aus diesem Grund führt Sellars das im letz155
Sellars 1997, S. 78.
108
ten Abschnitt dargestellte externalistische Moment in sein internalistisches Konzept epistemischer Rechtfertigung ein. Was für eine These vertritt Sellars hinsichtlich der Struktur des perzeptiven Wissens? Für viele Interpreten nimmt Sellars eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung an. Dafür spricht zum einen seine explizite Ablehnung des epistemischen Fundamentalismus. Zum anderen kann man als Grund für eine Interpretation von Sellars als Kohärentist sein holistisches Semantik-Verständnis anführen, welches letztlich die Grundlage für sein holistisches Konzept des logischen Raums der Gründe ist. Rechtfertigungen sind für Sellars ‚Züge’ im logischen Raum der Gründe, der wesentlich durch normative Strukturen gebildet wird, d. h. durch Regeln der Begriffsverwendung. In diese Regeln muss man Sellars zufolge in einem holistischen Sinn eingeführt werden. Sellars lehnt explizit ab, dass man den Erwerb begrifflicher Fähigkeiten atomistisch auf einige Grundbegriffe (wie etwa bei Russell die induktiv durch Sinnesdaten erworbenen perzeptiven Begriffe) zurückführen kann.156 Begriffliche Fähigkeiten erwirbt man Sellars zufolge nur, wenn man in eine Sprache als Ganze eingeführt wird. Es gibt auch Gründe, die diese Interpretation von Sellars als epistemischem Kohärentisten infrage stellen. Sellars schreibt explizit an einer oft zitierten Stelle, dass weder das Bild des Fundamentes noch das eines geschlossenen Begründungszirkels überzeugen kann.157 Außerdem nimmt Sellars, wie im letzten Abschnitt dargestellt wurde, ein externalistisches Moment in seinem Modell des perzeptiven Wissens an. Ich werde hier die These vertreten, dass man Sellars nicht eindeutig als epistemischen Kohärentisten lesen kann. Dafür spricht auch folgende Textstelle aus EPM: And while the correctness of this statement about Jones requires that Jones could now cite prior particular facts as evidence for the idea that these utterances are reliable indicators, it requires only that it is correct to say that Jones now knows, thus remembers, that these particular facts did obtain. It does not require that it be cor156
Vgl. etwa Sellars 1997, S. 45f. und S. 64ff. Sellars schreibt „Neither will do“. In Sellars 1997, S. 79. Sellars bezieht sich hier zwar nicht explizit auf die epistemische Kohärenztheorie. Wir können ihn aber m. E. so verstehen, dass mit der Hegelianischen Schlange, die ihren Schwanz verschluckt (dem geschlossenen Begründungszirkel) die epistemische Kohärenztheorie gemeint ist.
157
109
rect to say that at the time these facts did obtain he then knew them to obtain. And the regress disappears. Thus, while Jones’ ability to give inductive reasons today is built on a long history of acquiring and manifesting verbal habits in perceptual situations, and, in particular, the occurrence of verbal episodes, e.g. “This is green,” which is superficially like those which are later properly said to express observational knowledge, it does not require that any episode in this prior time be characterizeable as expressing knowledge.158
Der Begründungsregress verschwindet, so Sellars, wenn man sich klar macht, dass eine epistemische Person sukzessive in die epistemische Praxis eingeführt wird. Die Fähigkeit einer epistemischen Person, Beobachtungsberichte als Gründe anzuführen, setzt zwar für Sellars ein Metawissen über die logische Struktur von Begründung und darüber, welche Gründe als Gründe heranzuziehen sind voraus. Dies bedeutet aber offensichtlich für Sellars nicht, dass eine epistemische Person zu jeder Zeit all dies präsent haben muss. Sie muss für ihn nur prinzipiell in der Lage sein, ihr Metawissen explizit zu machen, wenn dies erforderlich wird. Die hier von Sellars skizzierte Position hat eine starke Ähnlichkeit mit der von Wittgenstein in Über Gewissheit ebenfalls nur skizzenhaft ausgearbeiteten kontextualistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung. Rechtfertigungen kommen für Wittgenstein an ein Ende, weil man bestimmte Überzeugungen, etwa darüber, was man direkt wahrnimmt, normalerweise nicht in Zweifel zieht. Dies ist zwar ein fundamentalistisches Moment, dennoch können prinzipiell alle Überzeugungen in Zweifel gezogen werden, wenn es gute Gründe für solch einen Zweifel gibt. Was hier ‚normalerweise’ bedeutet, wird weder bei Wittgenstein und noch weniger bei Sellars deutlich herausgearbeitet. In Kapitel III werde ich mit Michael Williams’ Default and Challenge-Konzeption epistemischer Rechtfertigung eine theoretisch anspruchsvolle Ausarbeitung dieser Idee erörtern. Williams entwickelt seine Position nah an Sellars und Wittgenstein, die er beide als Kontextualisten liest – d. h. als Vertreter der These, dass Rechtfertigungen relativ zu varianten epistemischen Kontexten an ein Ende kommen. Dies ist eine angesichts der letzten zitierten Textstelle zumindest nicht unplausible Lesart von Sellars. Ob dieser aber tatsächlich eine kontextualistische These über die Struktur des perzeptiven Wissens macht, kann hier nicht 158
Sellars 1997, S. 77.
110
nicht abschließend geklärt werden und muss zunächst ein Desideratum der Sellars-Forschung bleiben. 4.3 Kritik an Sellars’ Konzeption des perzeptiven Wissens Es gibt eine ganze Industrie von Philosophen, die sich an Sellars’ philosophischem System abarbeiten. Ich möchte hier nur einige Kritikpunkte behandeln, die für diese Arbeit relevant sind. 4.3.1 Alston über den Unterschied zwischen ‚sich rechtfertigen’ und ‚gerechtfertigt sein’ Alston kritisiert, dass Sellars ‚sich rechtfertigen’ und ‚gerechtfertigt sein’ nicht trennt. In „What’s Wrong with Immediate Knowledge?“ fokussiert er Sellars’ Argument, dass es kein unvermitteltes Wissen geben kann, weil es kein unbegründetes Wissen gibt. Wir haben gesehen, dass die These, dass Rechtfertigungen Züge im logischen Raum der Gründe, d. h. Begründungen, sind eine zentrale Stellung in Sellars Argumenten gegen den epistemischen Fundamentalismus einnimmt, obwohl sie nicht begründet wird. Sellars nimmt sie vielmehr dogmatisch an. Alston streitet dagegen ab, dass Wissen immer von Begründungen abhängt; dass ‚gerechtfertigt sein’ immer in ‚sich rechtfertigen’ besteht. Zunächst ist wichtig, was Alston als ‚Level Ascent Argument’ (LAA) bezeichnet. LAA besage, dass […] when we consider any putative bit of immediate knowledge, we find that the belief involved really depends for its epistemization on some higher level reasons that have to do with its epistemic status […]”159
Alston folgt zunächst Sellars’ Kritik am Reliabilismus und zeigt, dass er LAA benutzt, indem er fordert, dass die Reliabilität einer Überzeugung von der epistemischen Person eingesehen (recognized) werden muss. Wir erinnern uns: Die epistemische Person muss für Sellars ein Meta-Wissen (Alston würde von Überzeugungen von einem höheren Level (higher level beliefs) sprechen) über ihr doxastisches System haben, damit sie den epistemischen Status einzelner Überzeugungen einsehen kann; unvermitteltes Wissen ist dann ausgeschlossen, weil der epistemische Status jeder Über159
Alston 1989, S. 64.
111
zeugung von diesem Meta-Wissen abhinge. Alstons Kritik an dieser Position lässt nicht lange auf sich warten: „The author just lays it down that to be the expression of knowledge, a report must not only have authority, this authority must in some sense be recognized by the person whose report it is.”160 Dann stößt Alston zum Kern seiner Kritik vor: Well, if it is essential to the epistemic justification of a belief that the believer have adequate reason for her belief, then there can be no immediate justification, and, if justification is necessary for knowledge, no immediate knowledge. But unless that claim is itself defended in some way, it is too close to the question at issue to advance the discussion. It is very close indeed; the principle of justification through reasons alone is precisely what the partisan of immediate knowledge is denying.161
Alston fragt sich als nächstes, warum wir Sellars diese Prämisse – dass Rechtfertigung notwendig Begründungen (sich rechtfertigen) erfordert – zugestehen sollten. Denn wenn wir die Idee des unvermittelten Wissens (immediate knowledge) verteidigen wollten, würden wir genau dies bestreiten. Alston führt daher eine Reihe von Beispielen an, die die Intuition nähren sollen, dass wir zumindest manchmal in bestimmten Annahmen gerechtfertigt sind, ohne Gründe angeben zu können. I often suppose myself to know that my wife is upset about something, where I would be hard pressed to specify how I can tell, that is, hard pressed to specify what makes it reasonable for me to believe this. The same goes for much of our supposed knowledge about history, geography, and physical regularities. In the face of all this, why should we accept the thesis that justification essentially involves the capacity to demonstrate reasonablness?162
Und daher: It is tempting to suppose that Sellars has fallen victim to the pervasive confusion between the activity of justifying a belief – showing the belief to be reasonable, credible, or justified – and a belief’s being justified, where this is some kind of epistemic state or condition of the believer vis-à-vis that belief, rather than something he is or might be doing.163
Alstons Argument gegen Sellars geht demnach davon aus, dass wir in sehr vielen Fällen gerechtfertigt darin sind etwas zu glauben, auch wenn wir 160
Alston 1989, S. 67. Alston 1989, S. 69f. 162 Alston 1989, S. 70. 163 Alston 1989, S. 70. 161
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keine Gründe hierfür angeben können. Er meint hiermit, dass wir etwa gerechtfertigte Überzeugungen wie ‚Bismarck war der erste deutsche Reichskanzler’ oder ‚Masse erzeugt Gravitation’ haben, ohne dass wir dies begründen könnten; und auch ohne, dass jemand Gründe von uns einfordern könnte. Wenn dies stimmt, dann wären wir in solchen Fällen gerechtfertigt, ohne dass wir uns dafür rechtfertigen (Gründe angeben) müssten. Rechtfertigungen sind für Sellars Züge im logischen Raum der Gründe, d. h. Begründungen. Alston spielt darauf an, dass wir viele, wahrscheinlich sogar die meisten, unserer Überzeugungen haben, ohne dass wir Gründe für diese angeben könnten. Angenommen ich glaube, dass ich die Grippe habe, weil mein Arzt mir dies gesagt hat. Wenn ich nur wissen kann, dass ich die Grippe habe, wenn ich dies begründen kann, dann könnte ich (als medizinisch unbedarfter Mensch) niemals wissen, dass ich die Grippe habe. Dies wäre in der Tat, wie Alston es formuliert, eine sehr intellektualistische Konzeption des Wissens, bei der so gut wie niemand jemals irgendetwas weiß. Wenn Sellars mit seiner Konzeption epistemischer Rechtfertigung also wirklich die These vertritt, dass eine epistemische Person nur dann in ihren Überzeugungen gerechtfertigt ist, wenn sie diese Überzeugungen adäquat begründen kann, dann würde es sich zumindest um eine unplausible Konzeption handeln. Sellars könnte sich jedoch verteidigen, indem er darauf hinweist, dass eine epistemische Person zumindest prinzipiell dazu in der Lage sein muss, Gründe für ihre Überzeugungen anzugeben. Sellars könnte sogar zulassen, dass die epistemische Person hierbei an Expertenwissen partizipieren darf. Wie im letzten Abschnitt dargestellt wurde, gibt es in Sellars’ Konzeption epistemischer Rechtfertigung durchaus Raum für die These, dass Rechtfertigungen nicht immer davon abhängen, dass eine epistemische Person Gründe angibt, sondern nur davon, dass sie, wenn es nötig wird, Gründe angeben kann. Auf diesen Punkt komme ich in Kapitel III zurück. Dort werde ich Michael Williams’ Ansatz besprechen, der u.a. gegen Alstons These argumentiert, dass Sellars die Unterscheidung zwischen ‚sich rechtfertigen’ und ‚gerechtfertigt sein’ übersieht.
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4.3.2 Probleme mit dem Mythos des Gegebenen Es gibt verschiedene Probleme, die sich im Zusammenhang mit Sellars’ Begriff des Mythos des Gegebenen ergeben. Ich möchte mich hier auf zwei Probleme konzentrieren. (i) Mit den Sinneseindrücken scheint Sellars ein nicht-begriffliches, perzeptives Bewusstsein anzunehmen. Denn Sinneseindrücke sind von Sellars als innere Episoden mit einem qualitativen Gehalt eingeführt worden. Es soll sich für die epistemische Person so und so anfühlen, diese Eindrücke zu haben. Die Frage, ob Sellars ein solches nicht-begriffliches Bewusstsein annimmt, oder ob ein solches Bewusstsein – wie er etwa in den Carus Lectures behauptet – eine weitere Spielart des Mythos des Gegebenen ist, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Nach der SellarsInterpretation, die ich hier vorschlagen möchte, geht Sellars von einem nicht-begrifflichen Bewusstsein aus, ohne diesem Bewusstsein allerdings einen epistemischen Status per se zuzuschreiben. In dieser Weise liest auch McDowell Sellars in seinen Woodbridge Lectures. Dort macht er zunächst Sellars’ Hauptgedanken (master thought) folgendermaßen aus: […] the master thought as it were draws a line: above the line are placings in the logical space of reasons, and below it are characterizations that do not do that.164
Die hier angesprochene Linie dient dazu, zwei Räume zu unterscheiden: den Raum der Natur und den logischen Raum der Gründe. Der Kern von Sellars’ Hauptgedanken ist dann, dass Dinge aus dem Raum der Natur keine Gründe sein können. Der Mythos des Gegebenen besteht in diesem begrifflichen Rahmen darin, dass Dinge aus dem Raum der Natur als Gründe verwendet werden, wie dies etwa bei der Sinnesdatentheorie der Fall ist. Sellars verwendet selbst – so die hier angenommene Interpretation – ein Element von unterhalb der Linie; die Sinneseindrücke. Allerdings schreibt Sellars ihnen keine rechtfertigende Funktion zu und fällt damit nicht unter MG. Doch wenn den Sinneseindrücken keine epistemische Funktion zukommt, warum glaubt Sellars, sie postulieren zu müssen? Das Hauptmotiv liegt darin, dass er weiterhin glaubt, die naturwissenschaftlich beschreibbare Kausalität der Wahrnehmung mit der Normativität der perzeptiven Rechtfertigung in Vereinbarung bringen zu müssen. Daher muss die Wahr164
McDowell 1998, S. 433.
114
nehmung für Sellars ein nicht-normatives, d. h. nicht-begriffliches, Moment enthalten. McDowell kritisiert an dieser These Sellars’, dass sie ein Problem lediglich verschleiere, was bei der Sinnesdatentheorie offen zutage liege: nämlich das Problem, wie etwas Nicht-Begriffliches rechtfertigen können soll. Wenn es sich bei den von Sellars postulierten Sinneseindrücken um nicht-begriffliche innere Episoden handelt, dann ist nicht klar, in welcher Relation sie zu den begrifflichen, perzeptiven Überzeugungen stehen. McDowell schreibt daher: „The sensations look like idle weels.“165 Sellars klärt nicht, wie die Sinneseindrücke zum perzeptiven Wissen beitragen, weshalb deren Einführung fraglich bleibt. (ii) Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Sellars’ Argumente gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch Sinnesdaten oder reliable, kausale Prozesse. Dieser Punkt wurde bereits im letzten Abschnitt diskutiert. Er wird aber vor allem auch noch bei der Erörterung von McDowells Position eine Rolle spielen, weshalb er hier noch nicht vertieft werden soll. Sinnesdatentheorien fallen unter MG, weil sie ein unvermitteltes Basiswissen über Sinnesdaten annehmen. Gleichermaßen gilt für den Reliabilismus, dass er ein direkt gerechtfertigtes Basiswissen annimmt. Sellars geht davon aus, dass er die Idee der doxastisch-direkten Rechtfertigung damit widerlegt hat. Zur Rechtfertigung dieser allgemeinen These benötigt er jedoch seine starke Prämisse, dass nur Begründungen eine Überzeugung rechtfertigen, die er dogmatisch annimmt. Wir sollten Sellars hier daher nur darin folgen, die beiden genannten Formen doxastisch-direkter Rechtfertigung zurückzuweisen. Wir werden bei der Diskussion des Non-Konzeptualismus eine weitere Konzeption der doxastisch-direkten Rechtfertigung kennen lernen, die nicht durch Sellars’ Argumente anfechtbar ist. Dort wird dann weiter zu diskutieren sein, ob man die Idee einer doxastisch-direkten Rechtfertigung, bzw. einer nicht-begrifflichen Art der Rechtfertigung, plausibel machen kann. 4.3.3 Sellars und das Problem des perzeptiven Wissens Sellars möchte zeigen, wie das perzeptive Wissen kausal indirekt und epistemisch direkt, d. h. nicht-inferentiell, sein kann und auf diese Weise das 165
McDowell 1998, S. 444.
115
Problem des perzeptiven Wissens lösen. Obwohl er durch seine Arbeit das Bewusstsein für dieses Problem geschärft hat, ist sein eigener Lösungsvorschlag in seinem komplexen und systematischen Netz aus Überlegungen nur schwer herauszudestillieren. Wahrnehmungen können für Sellars das perzeptive Wissen rechtfertigen, weil sie für ihn die Form von Protoüberzeugungen, d. h. einen begrifflichen Gehalt, haben. Wenn die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat, dann kann sie aber zumindest prima facie nicht im Kausalnexus der Natur verortet werden. An dieser Stelle führt Sellars die Sinneseindrücke ein, die gewissermaßen als Relais zwischen dem logischen Raum der Gründe und den physikalischen Tatsachen der Welt fungieren sollen. Auf diese Weise möchte er beides leisten: die Normativität des Begriffs der Rechtfertigung erfassen, die gleichzeitig Raum für eine Kausalerklärung lässt. Allerdings bleibt bei Sellars im Unklaren, wie die Spontaneität der begrifflichen Kapazitäten mit der unfreiwilligen Kausalität der Wahrnehmung zusammen wirkt. Sellars’ Mythos von Jones bleibt genau an dieser Stelle auffallend undeutlich. Es bleibt daher festzuhalten, dass Sellars zwar einen theoretisch anspruchsvollen Rahmen für eine Bearbeitung des Problems des perzeptiven Wissens bereitstellt. Eine Lösung dieses Problems finden wir bei Sellars jedoch nicht. 4.4 Fazit: Erkenntnistheorie nach Sellars Wir müssen also feststellen, dass es nicht klar ist, welche Lösung des Problems des perzeptiven Wissens Sellars uns vorschlägt. Ich denke tatsächlich, dass es nicht möglich ist, Sellars auf eine eindeutige Position festzulegen. Was wir eindeutig sagen können, ist, dass Sellars den epistemischen Fundamentalismus ablehnt. Selbst wenn wir nicht klar bestimmen können, welche Position Sellars bezieht, so hinterlässt er uns jedoch einen Steinbruch philosophischer Möglichkeiten. Diesen Steinbruch abzutragen, beschäftigt die Erkenntnistheoretiker bis heute. In den folgenden Kapiteln sollen einige dieser Möglichkeiten kritisch diskutiert werden. Eine nahe liegende Möglichkeit für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens auf der Basis von Sellars’ Überlegungen ist die epistemische Kohärenztheorie. Einen solchen Vorschlag macht Laurence Bonjour in The Structure of Empirical Knowledge. Er wird im nächsten Abschnitt untersucht. Ein weiterer Vorschlag besteht darin, den non-konzeptualistischen 116
Aspekt in Sellars’ Überlegungen zu betonen. Sellars würde selbst niemals behaupten, dass die Wahrnehmung unser Wissen über die Welt in einer nicht-begrifflichen Weise rechtfertigt. Gleichwohl kann man Sellars’ Argumente gegen den epistemischen Fundamentalismus auch als eine Aufforderung verstehen, eine bessere Konzeption der doxastisch-direkten Rechtfertigung vorzulegen. Dies wird weiterhin durch die erheblichen Schwächen der epistemischen Kohärenztheorie motiviert. Ich werde diese beiden Vorschläge zurückweisen, wobei die Argumente von John McDowell eine entscheidende Rolle spielen. McDowell geht ebenfalls von Sellars’ Überlegungen zum perzeptiven Wissen aus, lehnt aber sowohl die epistemische Kohärenztheorie als auch die neo-fundamentalistischen nonkonzeptualistischen Ansätze ab. Ich werde mich McDowells Argumenten gegen diese Ansätze anschließen, allerdings McDowells eigene Lösung des Problems des perzeptiven Wissens ablehnen. I Kapitel III der Arbeit wird schließlich eine an Michael Williams anlehnende, therapeutische Lösung des Problems des perzeptiven Wissens untersucht und verteidigt, die ebenfalls auf Sellars’ Überlegungen aufbaut.
5 Die Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung Nach einer Standardinterpretation vertritt Sellars eine Kohärenztheorie der epistemischen Rechtfertigung. Zu den Anhängern dieser Sichtweise gehört Laurence Bonjour. Ich habe mich aus zwei Gründen für eine Darstellung von Bonjour als Nachfolger von Sellars entschieden. Erstens versteht sich Bonjour selbst in dieser Weise, denn er entwickelt seinen kohärentistischen Lösungsvorschlag für das Problem des perzeptiven Wissens in dem von Sellars vorgegebenen, systematischen und begrifflichen Rahmen. Zweitens halte ich Bonjours Ansatz für den systematisch anspruchsvollsten kohärentistischen Vorschlag für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens. Sellars geht, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, von einer spezifischen These über epistemische Rechtfertigung aus, nach der epistemische Rechtfertigung die Angabe von Gründen erfordert. Dieser internalistische 117
Begriff epistemischer Rechtfertigung führt in eine Problematik, die bereits in der Einleitung dargestellt wurde; Die Regressproblematik, aus der der epistemische Fundamentalismus und die epistemische Kohärenztheorie einen Ausweg darstellen. Der epistemische Fundamentalismus wurde für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens zurückgewiesen. Wir brauchen uns daher nicht mehr damit auseinanderzusetzen, wie sich der Fundamentalismus zur Lösung des Regressproblems verhält. Um Bonjours kohärentistischen Vorschlag zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissen zu verstehen, müssen wir zunächst aber noch kurz darauf eingehen, wie er seine Position allgemein als eine geeignete Antwort auf das Regressproblem motiviert. 5.1 Bonjour über epistemische Rechtfertigung Bonjour geht bei seinen allgemeinen Überlegungen zum Begriff der epistemischen Rechtfertigung zunächst von der in der Einleitung eingeführten Überlegung aus, dass sich epistemische Rechtfertigung von anderen Arten der Rechtfertigung unterscheidet, weil es bei ihr auf die Wahrheitsleitung ankommt. Epistemische Rechtfertigung soll die Bedingungen dafür angeben, wann ein Prozess des Überzeugungserwerbs wahrheitsleitend ist. Unser Interesse an der Wahrheitsleitung unserer Überzeugungen hängt damit zusammen, dass diese Überzeugungen nicht natürlicherweise wahr sind. Für irrtumsanfällige Wesen ist es eine entscheidende Frage, wann ihre Überzeugungen wahr sind und wann nicht. Weil wir keinen unvermittelten Zugang zur Wahrheit unserer Überzeugungen haben, weil Wahrheit aber, wie Bonjour dies bezeichnet, unser höchstes kognitives Ziel ist, wollen wir möglichst klar bestimmen können, mit welchen kognitiven Prozessen wir zu wahren Überzeugungen kommen und welche für dieses Ziel eher ungeeignet sind. Hier kommt, so Bonjour, der Begriff der epistemischen Rechtfertigung ins Spiel. We have no such immediate and unproblematic access to truth, and it is for this reason that justification comes into the picture. The basic role of justification is that of means to truth, a more directly attainable mediating link between our subjective starting point and our objective goal.166
166
Bonjour 1985, S. 7.
118
Und wenig später: The distinguishing characteristic of epistemic justification is […] its essential or internal relation to the cognitive goal of truth. It follows that one’s cognitive endeavors are epistemically justified only if and to the extent that they are aimed at this goal, which means very roughly that one accepts all and only those beliefs which one has good reason to think are true. To accept a belief in the absence of such a reason, however appealing or even mandatory such acceptance might be from some other standpoint, is to neglect the pursuit of truth; such acceptance is, one might say, epistemically irresponsible. My contention here is that the idea of avoiding such irresponsibility, of being epistemically responsible in one’s believings, is the core of the notion of epistemic justification.167
Bonjour bestimmt also die Bedingungen für die Wahrheitsleitung von Überzeugungen internalistisch, wobei er wie Chisholm und Sellars deontologisches Vokabular verwendet. Epistemische Rechtfertigung besteht für Bonjour wesentlich darin, dass sich eine epistemische Person in einem epistemischen Sinn verantwortlich verhält, was wiederum nur gegeben ist, wenn sie ihre Überzeugungen im Lichte adäquater Gründe annimmt. In der Einleitung haben wir gesehen, dass diese Konzeption epistemischer Rechtfertigung in eine Regressproblematik führt, aus der zum einen der epistemische Fundamentalismus einen Ausweg weist. Nun haben wir den epistemischen Fundamentalismus bereits für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens zurückgewiesen.168 Bonjour bietet alternativ dazu einen kohärentistischen Lösungsversuch für das Problem des perzeptiven Wissens an. Ich möchte im Folgenden damit beginnen, Bonjours Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung allgemein als eine Lösung für das genannte Regressproblem zu skizzieren. Anschließend werde ich die Frage diskutieren, ob man mit dieser Konzeption epistemischer Rechtfertigung das Problem des perzeptiven Wissens in den Griff bekommt.
167
Bonjour 1985, S. 8. Auf Bonjours ebenfalls sehr einflussreiche Argumente gegen den internalistischen und externalistischen epistemischen Fundamentalismus möchte ich hier nicht näher eingehen. Vgl. hierzu aber Bonjour 1985, Kapitel 2-4, Bonjour 1976, S. 282 ff. und Bonjour 1978. 168
119
5.2 Bonjours epistemische Kohärenztheorie in Grundzügen In seinem Buch The Structure of Empirical Knowledge führt Bonjour die Genese der Regressproblematik auf die Iteration von Gründen zurück, der wiederum, so Bonjour, ein lineares Verständnis von Rechtfertigung zugrunde liegt. Dieses Verständnis kontrastiert er mit einem anderen, nichtlinearen Verständnis von Rechtfertigung. […] the main idea is that inferential justification, despite its linear appearance, is essentially systematic or holistic in character: beliefs are justified by being inferentially related to other beliefs in the overall context of a coherent system.169
Im nicht-linearen Verständnis ist Rechtfertigung keine Eigenschaft einzelner Überzeugungen, sondern eines Systems S von Überzeugungen. Einzelne Überzeugungen erhalten ihren Status gerechtfertigt zu sein relativ dazu, wie sie zur Kohärenz von S beitragen. Dem möglichen Einwand, dass einzelne Überzeugungen in einem linearen Sinn inferentiell gerechtfertigt werden, versucht Bonjour durch die weitere Unterscheidung zwischen dem lokalen und globalen Level epistemischer Rechtfertigung vorzubeugen. The epistemic issue on a particular occasion will usually be merely the justification of a single empirical belief, or small set of such beliefs, within the context of a cognitive system whose overall justification is (more or less) taken for granted; we may call this the local level of justification. But it is also possible, at least in principle, to raise the issue of the overall justification of the entire system of empirical beliefs; we may call this the global level of justification. For the sort of coherence theory which will be developed here, and indeed, I would argue, for any comprehensive, nonskeptical epistemology it is the issue of justification as it arises at the latter, global, level which is in the final analysis decisive for the determination of empirical justification in general.170
Folgt man Bonjour, dann gibt es zumindest zwei wesentliche Aspekte inferentieller Rechtfertigung. Wenn man hier Sellars’ Allegorie vom logischen Raum der Gründe aufgreift, dann kann man sagen, dass Bonjour behauptet, dass der logische Raum der Gründe in zweierlei Hinsicht strukturiert ist. Zum einen folgen die einzelnen Inferenzen einem linearen Muster und zum anderen ist der logische Raum der Gründe auf der – wesentliche169 170
Bonjour 1985, S. 90. Bonjour 1985, S. 91.
120
ren – Ebene des ganzen Systems von Inferenzen (Bonjours globalem Level) durch das Kriterium der Kohärenz strukturiert. Dies führt Bonjour zu folgender Bestimmung des Begriffs der epistemischen Rechtfertigung: According to this conception, the fully explicit justification of a particular empirical belief would involve four distinct main steps or stages of argument, as follows: (1) The inferability of that particular belief from other particular beliefs and further relations among particular empirical beliefs. (2) The coherence of the overall system of empirical beliefs. (3) The justification of the overall system of empirical beliefs. (4) The justification of the particular belief in question, by virtue of its membership in the system. The claim of a coherence theory of empirical justification is that each of these steps depends on the ones which precede it.171
Weil offensichtlich viel vom Begriff der Kohärenz abhängt, ist es sinnvoll genauer dazustellen, was Bonjour unter Kohärenz versteht. Er gibt selbst folgende notwendige Bedingungen für die Kohärenz eines Systems von Überzeugungen an. (1) A system of beliefs is coherent only if it is logically consistent. (2) A system of beliefs is coherent in proportion to its degree of probabilistic consistency. (3) The coherence of a system of beliefs is increased by the presence of inferential connections between its component beliefs and increased in proportion to the number and strength of those connections. (4) The coherence of a system of beliefs is diminished to the extent to which it is divided into subsystems of beliefs which are relatively unconnected to each other by inferential connections. (5) The coherence of a system of beliefs is decreased in proportion to the presence of unexplained anomalies in the believed content of the system.172
Zum Begriff der Kohärenz im Allgemeinen und zu Bonjours Begriff von Kohärenz im Speziellen ist viel geschrieben worden. Hier sollte vor allem darauf hingewiesen werden, dass Bonjour unter Kohärenz mehr als bloße Konsistenz versteht. Für den weiteren Verlauf dieses Abschnitts (und ins171 172
Bonjour 1985, S. 92. Bonjour 1985, S. 95-99.
121
besondere für die später folgende Kritik an Bonjours Ansatz) reicht diese skizzenhafte Darstellung seines Begriffs der Kohärenz, den ich folgendermaßen zusammenfassen möchte: Ein System K von Überzeugungen ist nach Bonjour genau dann kohärent, wenn es konsistent ist, wenn es über starke (deduktive, induktive etc.) inferentielle Relationen zwischen den Überzeugungen und Subsystemen verfügt und wenn möglichst wenige logische Anomalien, d. h. logisch abweichende Überzeugungen, auftreten. Eine Überzeugung, dass p gilt hierbei für Bonjour genau dann als gerechtfertigt, wenn sie Teil eines kohärenten Systems von Überzeugungen ist. Ich möchte hier zum Abschluss der Darstellung noch auf den starken Internalismus Bonjours hinweisen, der mit einer weiteren Bedingung zusammenhängt, die von ihm eingeführt wird. What we must now ask is whether and how the fact that a belief coheres in this way is cognitively accessible to the believer himself, so that it can give him a reason for accepting the belief.173
Im dritten Kapitel in The Structure of Empirical Knowledge gibt Bonjour eine ganze Reihe von Gedankenexperimenten gegen den epistemischen Externalismus an.174 Am Bekanntesten ist der bereits in Abschnitt 2 erwähnte Fall des Hellsehers Norman, der reliabel zu wahren Überzeugungen über die Zukunft kommt, ohne hierfür jedoch Gründe angeben zu können.175 Internalisten stützen sich auf Gedankenexperimente wie dieses, um die Intuition zum Ausdruck zu bringen, dass der interne Zugang der Person dazu, wie sie zu ihren wahren Überzeugungen kommt, eine notwendige Bedingung für Wissen ist. Das Problem ist, dass viele Philosophen – Externalisten – diese Intuition nicht teilen. Wir haben allerdings bereits bei der Besprechung von Sellars‘ Ansatz gesehen, dass man gute Gründe dafür angeben kann, dass ein interner Zugang zu den eigenen Gründen für Wissen erforderlich ist. Weiterhin reicht es an dieser Stelle aus darauf hinzuweisen, dass es Philosophen gibt, die diese Intuition ernst nehmen, und die Rechtfertigung wesentlich von Begründung abhängig machen. Der Begriff der epistemischen Rechtfertigung impliziert für Bonjour demnach ein internalistisches Moment und daher ist für ihn die bloße Kohärenz 173
Bonjour 1985, S. 101. Bonjour 1985, S. 35-57. 175 Bonjour 1985, S. 41. 174
122
eines Systems nicht hinreichend für epistemische Rechtfertigung; die epistemische Person muss auch einen Zugang dazu haben, dass sie über ein kohärentes System von Überzeugungen verfügt. Dies nennt Bonjour doxastische Voraussetzung (doxastic presumption). Es handelt sich hierbei, so Bonjour, nicht um etwas, was eine rechtfertigende Funktion einnimmt, sondern eher um eine Bedingung für die epistemische Kohärenztheorie. […] the suggested solution to the problem raised in this section is that the grasp of my system of beliefs which is required if I am to have cognitive access to the fact of coherence is dependent, in a sense yet to be adequately clarified, on this Doxastic Presumption, as I will call it, rather than requiring further justification.176
Bonjour gibt keine Definition des Begriffs der doxastischen Voraussetzung (DV), sondern bestimmt ihn eher vage durch die Angabe von drei Kriterien, nämlich erstens, dass DV eine notwendige Bedingung zur Lösung skeptischer Probleme ist; zweitens, dass DV ein wesentlicher Aspekt unserer epistemischen Praxis ist; drittens, dass DV erfordert, dass man einen approximativen Begriff der Kohärenz seines Systems von Überzeugungen hat.177 In allen drei Punkten würde wohl niemand Bonjour widersprechen. Epistemische Externalisten könnten an dieser Stelle aber etwa einwenden, dass nur ein internalistisches Modell von Rechtfertigung das erste Problem motiviert; oder dass ein Blick in die Praxis zu wenig ist, um den Begriff der Rechtfertigung zu erfassen. Gehen wir aber der Einfachheit halber mit Bonjour davon aus, dass der Begriff der epistemischen Rechtfertigung eine internalistische Voraussetzung wie DV macht. Epistemische Rechtfertigung muss ein Kriterium für die Wahrheitsleitung einzelner Überzeugungen angeben. Wie kann dies in einer epistemischen Kohärenztheorie geleistet werden? Es gibt drei Standardeinwände, auf die Bonjour selbst hinweist: (1) Alternative kohärente Systeme: Es ist möglich, dass es verschiedene, eventuell sogar inkompatible Systeme von Überzeugungen gibt, die gleichermaßen kohärent sind. Auf welcher Basis soll entschieden werden, welches System angenommen werden soll?178 176
Bonjour 1985, S. 103. Bonjour 1985, S. 127. 178 Bonjour 1985, S. 107. 177
123
(2) Kausale Inputs: Wenn Kohärenz die einzige Basis für epistemische Rechtfertigung ist, dann folgt, dass ein System von Überzeugungen eventuell gerechtfertigt ist, obwohl es in keinem adäquaten Kontakt zu den Tatsachen der physikalischen Welt steht.179 (3) Wahrheit: Es muss gezeigt werden, dass epistemische Rechtfertigung via Kohärenz in irgendeiner Weise wahrheitsleitend ist. Dies scheint die Kohärenztheorie der epistemischen Rechtfertigung allerdings nur leisten zu können, wenn sie auch eine Kohärenztheorie der Wahrheit annimmt – mit all ihren metaphysischen Konsequenzen.180 Alle Einwände sind ernst zu nehmen und Bonjour stellt sich jedem von ihnen.181 Dem Thema dieser Arbeit folgend möchte ich hier allerdings nur auf Einwand (2) genauer eingehen. Denn dieser Einwand korreliert direkt mit dem Problem des perzeptiven Wissens. Zuvor ist aber noch näher auf Bonjours Konzeption der perzeptiven Rechtfertigung einzugehen, die sich eng an der von Sellars orientiert. Man kann Bonjours Ansatz m. E. sogar als eine konsequente Weiterentwicklung der kohärentistischen Elemente in Sellars’ Ansatz verstehen. In dieser Hinsicht soll nun Bonjours Konzeption des perzeptiven Wissens dargestellt werden. 5.3 Bonjour über perzeptives Wissen In folgender Textstelle wird deutlich, dass Bonjour das Problem des perzeptiven Wissens im Geiste Sellars’ als das Problem versteht, wie das inferentielle Wissen in einer von mentalen Handlungen unabhängigen Weise gerechtfertigt sein kann. What is needed to answer those objections, speaking very intuitively for the moment, is beliefs whose assertive content is not simply an inferred product of the rest 179
Bonjour 1985, S. 108. Bonjour 1985, S. 108f. Bonjour argumentiert dafür, dass sein Ansatz mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit kompatibel ist, die er selbst vertritt. 181 In Plantinga 1993 bringt Alvin Plantinga einen weiteren Einwand vor. Nach Plantinga wird eine Basisrelation (basing relation) benötigt, um zu unterscheiden, wenn eine epistemische Person einerseits gute Gründe hat aber ihre Überzeugung wegen anderer Gründe annimmt oder wenn sie andererseits ihre Überzeugung wegen dieser Gründe annimmt. Alleine auf der Ebene eines kohärenten Systems von Überzeugungen kann diese Unterscheidung, so Plantinga, nicht getroffen werden. 180
124
of the system and which can thus constitute an independent check on that system; such beliefs would have to be arrived at in some noninferential way.182
Diese These, dass nur nicht-inferentiell, d. h. nicht-doxastisch, gerechtfertigte Überzeugungen ein System von Überzeugungen mit der Realität in Verbindung setzten können, motiviert viele Philosophen zu einem epistemischen Fundamentalismus. Es handelt sich hier um mehr als eine Intuition, weil die Möglichkeit besteht, dass ein kohärentes System von Überzeugungen keinen Kontakt mit der Realität hat. Es ist zumindest denkbar, dass eine Person über ein kohärentes System von Überzeugungen verfügt, welches aber in wesentlichen Teilen falsche Überzeugungen enthält. Manche schizophrene Personen haben eine erstaunlich kohärente Perspektive auf die Welt; freilich ohne, dass diese Perspektive eine Entsprechung in der Wirklichkeit hätte. Auch politische Systeme können in sich kohärent sein und hierbei allerdings auf einer Ideologie beruhen. Solche Beispiele nähren Zweifel daran, dass Kohärenz alleine zur Wahrheitsleitung eines doxastischen Systems hinreicht. Bonjour lehnt sich an dieser Stelle an Sellars an, indem er dessen Idee verwendet, dass es direkt durch Tatsachen der Welt verursachte, perzeptuelle Überzeugungen gibt. Sellars schreibt in EPM: Now the credibility of some sentence types appears to be intrinsic – at least in the limited sense that it is not derived from other sentences, type or token. This is, or seems to be, the case with certain sentences used to make analytic statements. The credibility of some sentence types accrues to them by virtue of their logical relations to other sentence types, thus by virtue of the fact that they are logical consequences of more basic sentences. It would seem obvious, however, that the credibility of empirical sentence types cannot be traced without remainder to the credibility of other sentence types. And since no empirical sentence type appears to have intrinsic credibility, this means that credibility must accrue to some empirical sentence types by virtue of their logical relations to certain sentence tokens, and, indeed, to sentence tokens the authority of which is not derived, in its turn, from the authority of sentence types.183
Sellars’ Idee lautet, wie bereits im letzten Abschnitt dargestellt wurde, dass perzeptuelle Überzeugungen direkte sprachlich-kausale Reaktionen auf Umweltbedingungen (Tatsachen der Welt) darstellen, die aber nicht unabhängig von erlernten, begrifflichen Kapazitäten sind. Mit anderen Worten: 182 183
Bonjour 1985, S. 113. Sellars 1997, S. 71.
125
Sellars unterscheidet die Tatsache, dass eine bestimmte perzeptuelle Überzeugung das Produkt eines kausalen Prozesses ist von der Geltung einer solchen Überzeugung als Grund. Bonjour interpretiert Sellars als Vorgänger seiner eigenen Kohärenztheorie. Mit Blick auf das eben genannte Sellars-Zitat schreibt Bonjour: […] I think that it is correct to say, as a matter of ordinary language, that for a belief to be genuinely observational requires that it be objectively reliable […] But of course the would-be-observer has no epistemologically unproblematic access to such objective reliability, and I have already rejected the externalist appeal to facts beyond the ken of the believer. Thus the immediate concern of a coherence theory of justification must be reliability as judged from within the person’s system of beliefs […]184
Bonjour artikuliert hier einen Punkt, den wir bei Sellars allenfalls implizit vorhanden finden, nämlich, dass es einen internen Zugang zur Reliabilität meiner Rechtfertigung geben soll. Sellars behauptet nicht explizit, dass die Reliabilität meiner Überzeugungen aus der Perspektive meines Systems von Überzeugungen zugänglich sein muss. Kohärenz soll also auch ein Kriterium für die Wahrheitsleitung meiner Überzeugungen enthalten. Bonjour hat hierbei eine induktive Stützung im Blick. Er argumentiert folgendermaßen: (1) I have a cognitively spontaneous belief that P which is of kind K. (2) Conditions C obtain. (3) Cognitively spontaneous beliefs of Kind K in conditions C are very likely to be true. Therefore, my belief that P is very likely to be true. Therefore, [probably] P.185
Prämisse (1) ist nach DV internalistisch bestimmt. Die Prämissen (2) und (3) sind im Lichte von Sellars’ Überlegungen zur rechtfertigenden Kraft von Wahrnehmungsüberzeugungen (observation reports) zu verstehen. Damit das Argument gültig ist, muss es eine Klasse von Überzeugungen geben, die erstens kognitiv direkt sind und die zweitens über einen statis-
184 185
Bonjour 1985, S. 122f. Bonjour 1985, S. 123.
126
tisch hohen Grad an Reliabilität verfügen. Diese Bedingung bezeichnet Bonjour als Beobachtungsbedingung. In order for the beliefs of a cognitive system to be even candidates for empirical justification, that system must contain laws attributing a high degree of reliability to a reasonable variety of cognitively spontaneous beliefs. This requirement […] I will refer to as the Observation Requirement.186
Die Beobachtungsbedingung soll demnach darin bestehen, dass einer bestimmten Klasse kognitiv spontaner Überzeugungen ein hoher Grad an Reliabilität zugesprochen wird. Weil es sich bei diesen Überzeugungen nicht um Basisüberzeugungen handeln darf, muss dieser Grad alleine vor dem Hintergrund von Überlegungen darüber bewertet werden, wie diese Überzeugungen zur Kohärenz eines doxastischen Systems beitragen. Dieser starke Internalismus in Bonjours Ansatz steht einer Lösung des Problems des perzeptiven Wissens, wie ich nun darstellen möchte, im Weg. 5.4 Epistemische Kohärenz und das Problem des perzeptiven Wissens Das Problem des perzeptiven Wissens korreliert im Kontext von Bonjours epistemischer Kohärenztheorie mit dem Problem der kausalen Inputs, das bereits dargestellt wurde. Bonjour formuliert das Problem der kausalen Inputs für seine epistemische Kohärenztheorie folgendermaßen: Coherence is purely a matter of the internal relations between the components of the belief system; it depends in no way on any sort of relation between the system of beliefs and anything external to that system. Hence if, as a coherence theory claims, coherence is the sole basis for empirical justification, it follows that a system of empirical beliefs might be adequately justified, indeed might constitute empirical knowledge, in spite of being utterly out of contact with the world that it purports to describe. Nothing about any requirement of coherence dictates that a coherent system of beliefs need receive any sort of input from the world or be in any way causally influenced by the world.187
Bonjour betont hier noch einmal den Rechtfertigungsinternalismus seiner epistemischen Kohärenztheorie. Die epistemische Rechtfertigung einzelner Überzeugungen soll alleine davon abhängen, wie diese zur Kohärenz eines Systems von Überzeugungen beitragen. Wenn Kohärenz aber die einzige 186 187
Bonjour 1985, S. 141. Bonjour 1985, S. 108.
127
Bedingung für epistemische Rechtfertigung ist, dann stellt sich die Frage, wann ein kohärentes System von Überzeugungen von der physikalischen Welt kausal beeinflusst wird. Denn eine solche Beeinflussung erscheint notwendig, damit man epistemisch gute von epistemisch schlechten kohärenten Systemen von Überzeugungen unterscheiden kann. Für den epistemischen Kohärentisten nimmt das Problem der Wahrnehmung damit die Form der Frage an, wie ein kohärentes System von Überzeugungen in einer epistemisch relevanten Weise kausal von den physikalischen Tatsachen abhängen kann. Bonjour definiert den Begriff der epistemischen Rechtfertigung über einen holistischen Begriff der Kohärenz. Daher bleibt ihm nur der Weg offen, Wahrnehmungen als Protoüberzeugungen einzustufen, die dann aufgrund ihrer Form zur Kohärenz eines Systems von Überzeugungen beitragen könnten. Dies ist der Grund, warum er im Kontext seiner Beobachtungsbedingung, wie im letzten Abschnitt dargestellt wurde, die Klasse der kognitiv-direkten Überzeugungen einführt. Diese Überzeugungen dürfen aber einerseits per definitionem keine Basisüberzeugungen sein. Auf der anderen Seite sollen sie das doxastische System mit den Tatsachen der Welt in Beziehung setzen. Letzteres ist aber klarerweise eine Funktion von Basisüberzeugungen. Die Einführung der Klasse der kognitiv-direkt gerechtfertigten Überzeugungen führt daher auch nicht zu einer Lösung des Problems des perzeptiven Wissens, ohne dass die Kohärenztheorie in einen Fundamentalismus kollabiert. Der epistemische Fundamentalismus scheint aber vor dem Hintergrund der in den letzten Abschnitten angeführten Argumente keine geeignete Position für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens zu sein. Im nächsten Kapitel soll ein weiterer Vorschlag für eine Lösung dieses Problems erörtert werden, der zwar mit dem Begriff der doxastisch-direkten Rechtfertigung operiert, ohne aber zu den Problemen der betrachteten fundamentalistischen Positionen zu führen.
128
II DAS PROBLEM DES PERZEPTIVEN WISSENS UND DER GEHALT DER WAHRNEHMUNG Dieses Kapitel orientiert sich an McDowells Feststellung, dass die Probleme der epistemischen Kohärenztheorie den Gedanken wieder attraktiv machen, dass es einen externen nicht-begrifflichen rechtfertigenden Einfluss auf das doxastische System einer epistemischen Person geben muss, wenn perzeptives Wissen möglich sein soll. Die in diesem Kapitel behandelten Autoren versuchen, den Begriff der doxastisch-direkten Rechtfertigung im Rahmen einer Konzeption einzuführen, die nicht anfechtbar durch Sellars’ Argumente aus Kapitel I ist. Die Wahrnehmung, so ihre epistemologische These, kann unsere Überzeugungen in der Hinsicht doxastisch-direkt rechtfertigen, dass sie einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. Im Gegensatz zu den Sinnesdatentheoretikern, nehmen die Non-Konzeptualisten, die in diesem Kapitel besprochen werden, metaphysisch vermeintlich weniger dubiose Formen des nicht-begrifflichen Gehaltes – wie Protopropositionen oder analog kodierte Informationen – an. Dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, soll hier in erster Linie zweierlei bedeuten: Non-Konzeptualisten ziehen aus der kognitiven Passivität der Wahrnehmung erstens die Konsequenz, dass die Wahrnehmung in einer epistemisch-direkten, d. h. nicht von inferentiellen Begründungen abhängenden, Weise zu Überzeugungen über die Welt führt. Non-Konzeptualisten behaupten zweitens, dass der Gehalt der Wahrnehmung keine nach begrifflichen Kriterien wahren oder falschen Propositionen sind. Beide Thesen benötigen Non-Konzeptualisten, um diesen Gehalten die gewünschte epistemische Funktion – der doxastischdirekten Rechtfertigung des perzeptiven Wissens – zuschreiben zu können. Ich beginne im Folgenden zunächst mit der kritischen Erörterung einiger der Standardargumente für die non-konzeptualistische These. Anschließend gehe ich kurz auf die epistemologische Signifikanz dieser These ein und bespreche dann zwei non-konzeptualistische Versuche der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens. Nachdem ich McDowells These des epistemologischen Scheiterns der Non-Konzeptualisten hinsichtlich einer Lösung des Problems des perzepti129
ven Wissens zugestimmt habe, werde ich seinen eigenen therapeutischen Ansatz für eine Auflösung dieses Problems besprechen. Hierbei werde ich seine erkenntnistheoretisch relevanten theoretischen Grundannahmen darstellen und seine Therapie aufgrund der zu starken Voraussetzungen dieser Annahmen zurückweisen.
1 Argumente für die These des nichtbegrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung In diesem Abschnitt sollen vier der Hauptargumente für die These, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, dargestellt werden. Es handelt sich erstens um das Kontinuitätsargument (1.1), zweitens um das Argument aus der Passivität der Wahrnehmung (1.2), drittens um das Diskriminierungsargument (1.3) und viertens um das Überbestimmtheitsargument (1.4).188 1.1 Das Kontinuitätsargument Das Kontinuitätsargument geht von einer Kontinuität in den perzeptiven Fähigkeiten sprachbegabter und nicht-sprachbegabter Tiere aus. Dann wird behauptet, dass diese Kontinuität dafür hinreicht, der Wahrnehmung generell einen nicht-begrifflichen Gehalt zuzuschreiben. Bei Peacocke finden wir folgende Version des Arguments: Nonconceptual content has been recruited for many purposes. In my view the most fundamental reason – the one on which other reasons must rely if the conceptualist presses hard – lies in the need to describe correctly the overlap between human perception and that of some of the non-linguistic animals. […] If the lower animals do not have states with conceptual content, but some of their states have content in common with human perception, it follows that some perceptual representational content is nonconceptual.189
188
Diese Liste ist nicht vollständig. Für weitere Argumente vgl. Seitz 2008. Peacocke 2001. Weitere Formulierungen des Kontinuitätsargumentes finden wir etwa bei Dretske 2000, S. 596 und Evans 1982, S. 124. 189
130
Das Kontinuitätsargument wird in der Debatte um den nicht-begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung üblicherweise so verwendet, dass von Tieren und kleinen Kindern im vorsprachlichen Alter ausgegangen wird. Fügen wird den Kleinkind-Aspekt hinzu, so scheint Peacocke von folgendem Argument auszugehen: Das Kontinuitätsargument (i) Tiere und kleine Kinder verfügen über keine Begriffe. (ii) In der Wahrnehmung von Tieren und kleinen Kindern einerseits und von erwachsenen Menschen andererseits gibt es Überschneidungen. (iii) Also hat die Wahrnehmung erwachsener Menschen einen nichtbegrifflichen Gehalt. Wenn wir unter begrifflichen Fähigkeiten an den Spracherwerb gebundene Fähigkeiten verstehen, ist Prämisse (i) trivial. Was ist jedoch mit Prämisse (ii)? Wir müssen hier danach fragen, was Peacocke mit einer ‚Überschneidung’ (overlap) meint. Mit ‚Überschneidung’ kann freilich gemeint sein, dass es ähnliche biologische Grundlagen gibt. Dies ist jedoch eine Trivialität, die des Weiteren den Schluss auf die Konklusion (iii) nicht rechtfertigt. Wenn mit ‚Überschneidung’ lediglich die allgemeine These gemeint sein sollte, dass sowohl Tiere und kleine Kinder als auch erwachsene Menschen wahrnehmungsfähige Organismen sind, so ist diese These zu allgemein für den Schluss auf die Konklusion (iii). Damit die Konklusion (iii) aus den Prämissen folgt, muss er mit ‚Überschneidung’ meinen, dass die repräsentationalen Gehalte der Wahrnehmung bei kleinen Kindern und Tieren einerseits und bei erwachsenen Menschen andererseits gleich sind. Peacocke muss demnach folgende implizite Prämisse annehmen: (ii’) Die Wahrnehmung bei Tieren und kleinen Kindern einerseits und bei erwachsenen Menschen hat den gleichen Gehalt. Peacocke bekommt seine Konklusion (iii) nur, wenn er diese implizite Prämisse annimmt. Darf er jedoch voraussetzen, dass der Gehalt der Wahrnehmung bei Tieren und kleinen Kindern einerseits und bei erwachsenen Menschen andererseits gleich ist? Selbstevident ist diese Vorausset131
zung wohl kaum. Man kann zwar gerechtfertigter Weise in beiden Fällen von Wahrnehmungen sprechen. Ich kann gleichermaßen sagen, dass ein Kind seine Mutter wahrnimmt, dass ein Hund sein Herrchen kommen hört, oder dass ein Mann sein Kind im Garten spielen hört. Aus der Tatsache, dass in all diesen Fällen etwas wahrgenommen wird, folgt aber natürlich nicht, dass immer der gleiche Gehalt der Wahrnehmung gegeben ist. McDowell äußert sich daher skeptisch zu der von Peacocke implizit angenommenen Prämisse: […] it is not compulsory to attempt to accommodate the combination of something in common and a striking difference in this factorizing way: to suppose our perceptual lives include a core that we can also recognize in the perceptual life of a mere animal, and an extra ingredient in addition. And if we do take this line, there is no satisfactory way to understand the role of the supposed core in our perceptual lives.190
McDowell behauptet, dass es nicht zwingend (compulsory) ist anzunehmen, dass es etwas im Kern Gleiches – einen gleichen Gehalt – in der Wahrnehmung von Menschen einerseits und von Tieren andererseits gibt. Hiermit meint McDowell m. E., dass die Annahme (ii’) von Peacocke nicht begründet wurde. Dies würde bereits hinreichen, um dem NonKonzeptualisten bei seinem Kontinuitätsargument ein non-sequitur vorzuwerfen. McDowell geht noch weiter. Sein größtes Bedenken ist, dass die Gleichsetzung der Wahrnehmung bei Tieren und Menschen dazu führt, dass wir die spezifische Rolle der Wahrnehmung bei erwachsenen Menschen nicht mehr erfassen können. Er möchte hiermit Folgendes sagen: Wenn wir Tieren und Menschen die gleiche Art der Wahrnehmung zusprechen, können wir nicht mehr erklären, wie die Wahrnehmung bei Menschen, d. h. bei rationalen Tieren, ihr Handeln und Denken beeinflusst. Denn Denken und Handeln folgt bei erwachsenen Menschen begrifflichen Regeln. Der Übergang von nicht-begrifflichen zu begrifflichen Gehalten müsste hier zunächst geklärt werden, bevor er in einem Argument vorausgesetzt werden darf. Ich halte diese Überlegung McDowells für plausibel, möchte ihr erst später in diesem Kapitel mehr Raum geben. Wie gesagt, ist
190
McDowell 1996, S. 64, meine Hervorhebung.
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sie für eine Widerlegung des Kontinuitätsargumentes nicht nötig, denn die implizite Annahme (ii’) ist begründungsbedürftig.191 1.2 Das Argument aus der Passivität der Wahrnehmung Ein anderes Argument, welches von verschiedenen Autoren in verschiedener Form vertreten wird, geht zunächst davon aus, dass die Wahrnehmung uns die Welt in einer überzeugungsunabhängigen Weise repräsentiert. Wahrnehmungen sind, wie Evans es formuliert ‚belief-independent’.192 Bei bestimmten optischen Täuschungen wie der Müller-Lyer-Illusion ist ein repräsentationaler Zustand gegeben, bei dem wir jedoch nicht glauben, was wir wahrnehmen. Dann wird weiter angenommen, dass dieser überzeugungsunabhängige Wahrnehmungsgehalt auch bei ‚normalen’ Wahrnehmungen, also wenn wir glauben, was wir wahrnehmen, gegeben ist. Überzeugungen haben einen propositionalen Gehalt und repräsentieren die Welt begrifflich; d. h. Überzeugungen können wahr oder falsch sein. Evans argumentiert hierbei, dass die Wahrnehmung aufgrund ihrer Passivität die Welt nicht wie eine Überzeugung und daher nicht-begrifflich repräsentiert; d. h., dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. McDowell setzt diesem Argument seine ‚same-content-view’ – d. h. seine These, dass in der Wahrnehmung die gleichen begrifflichen Kapazitäten passiv am Werk sind, die in Urteilen aktiv angewendet werden – entgegen. According to the position I am recommending, conceptual capacities are already operative in experience itself. It is not that actual operations of conceptual capacities first figure only in actualizations of dispositions to judge, with which experiences are identified – so that experience is connected with concepts only by way of a potentiality. Having things appear to one a certain way is already itself a mode of actual operation of conceptual capacities.193
191
Ich möchte hier noch hinzufügen: selbst wenn unsere Wahrnehmung einen nichtbegrifflichen Gehalt hat, ist damit noch nicht gesagt, dass wir diesen mit Tieren teilen. Aus dieser Perspektive ist es grundsätzlich fraglich, ob uns das Argument aus der Tierwahrnehmung wirklich bei der Begründung für die These weiterhelfen kann, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. 192 Evans 1982. 193 McDowell 1996, S. 62.
133
Man muss nicht annehmen, so McDowells Punkt, dass die Wahrnehmung uns die Welt im intentionalen Modus einer Überzeugung repräsentiert, um zu sagen, dass sie einen begrifflichen Gehalt hat. Es reiche aus anzunehmen, dass die gleichen begrifflichen Kapazitäten passiv arbeiten. Wenn man diese These begründen kann, dann ist das Argument aus der Passivität der Wahrnehmung entkräftet. Der Einwand McDowells gegen das Argument aus der Passivität der Wahrnehmung hängt letztlich davon ab, wie plausibel er die These machen kann, dass in der Wahrnehmung begriffliche Kapazitäten passiv angewendet werden. Hierauf komme ich später in diesem Kapitel bei der Besprechung von McDowells Ansatz zurück und möchte die Bewertung dieses Argumentes hier zunächst offen lassen. Im Folgenden möchte ich zwei Argumente darstellen, die ich für die stärksten Argumente für die These halte, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat: Das Diskriminierungsargument und das Reichhaltigkeitsargument. 1.3 Das Diskriminierungsargument Das Diskriminierungsargument gehört zu den am intensivsten diskutierten Argumenten für den nicht-begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung. Nach diesem auch als ‚Fine-Grain-Argument’ bekannten Argument ist der Gehalt der Wahrnehmung zu feinkörnig (fine-grained), um begrifflich zu sein, bzw. um wesentlich von begrifflichen Differenzierungen abzuhängen. Es ist üblich, das Diskriminierungsargument auf Evans zurückzuführen. In den Varieties of Reference schreibt Evans: […] no account of what it is to be in a non-conceptual informational state can be given in terms of dispositions to exercise concepts unless those concepts are assumed to be endlessly fine-grained; and does this make sense? Do we really understand the proposal that we have as many colour concepts as there are shades of colour that we can sensibly discriminate?194
Es ist allerdings nicht ganz richtig, Evans die ‚Erfindung’ dieses Argumentes zuzuschreiben, weil wir es bereits zehn Jahre vor den Varieties bei Ayer finden können. In seinem Spätwerk The Central Questions of Philosophy ist Ayer von der Sinnesdatentheorie abgewichen und vertritt dort 194
Evans 1982, S. 229, meine Hervorhebung.
134
ebenfalls die non-konzeptualistische These hinsichtlich der Wahrnehmung. Ayer schreibt dort: Are we then to say that I am actually presented with the shades of colour which I do not consciously distinguish? The argument in favour of saying this is that it is logically necessary that any colour should be of some specific shade. The fact that I do not notice the difference in shade between two separate occurrences of the colour yellow in my present visual field does not entail that the difference does not exist. It may even be maintained that there have to be differences which I am incapable of detecting. For instance, it may happen that I cannot distinguish the colour of A from that of B, or the colour of B from that of C, but that I can distinguish the colour of A from that of C. It is then held to follow that the colour of B must really be different from that of A and C, although the difference it too fine in either case for me to be able to observe it.195
Ayer spricht hier zwar nicht explizit von Begriffen, sondern von ‚bewusst unterscheiden’ (consciously distinguish). Wir können ihn aber so verstehen, dass hiermit begriffliches Unterscheiden von Farbtönen gemeint ist. Allerdings betont Ayer noch einen weiteren Aspekt, indem er auf die Transitivität möglicher, nicht-begrifflicher Unterscheidungen abhebt. Beide Argumente – das von Evans und das von Ayer – zielen auf die Möglichkeit, Dinge in einer nicht-begrifflichen Weise zu unterscheiden. Schematisch können wir das Argument folgendermaßen darstellen. Das Diskriminierungsargument (i) Wir können mehr Farbtöne sinnlich unterscheiden, als wir Begriffe zur Verfügung haben. (ii) Also hat die sinnliche Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt. Nehmen wir etwa an, ich schaue mir nacheinander zwei Bücher mit einem leicht unterschiedlichen Blauton an. Weiterhin angenommen, es handelt sich in beiden Fällen um einen nicht ganz üblichen Blauton, den ich nicht ohne weiteres zuordnen kann. Hier scheint ein klarer Fall vorzuliegen, in dem ich zwei Farbtöne unterscheiden kann, ohne dass dies in einer begrifflichen Weise geschähe. Weil ich hier aber auf einer perzeptiven Basis unterscheide, scheint die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt zu haben. 195
Evans 1982, S. 89f., meine Hervorhebung.
135
Um das Diskriminierungsargument findet eine eigene Debatte statt, an der u.a. McDowell, Heck, Brewer und Peacocke beteiligt sind. McDowell bestreitet die Wahrheit der Prämisse des Diskriminierungsargumentes. Die Hauptlast seines Argumentes trägt hierbei die Einführung einer speziellen Klasse von Begriffen, von denen McDowell glaubt, dass Evans sie übersehen hat – demonstrative Begriffe. Er beginnt sein Argument mit der Bemerkung, dass in der visuellen Erfahrung etwas in diesem Farbton repräsentiert wird, auch wenn es sich hierbei um etwas handelt, für das wir keinen allgemeinen Begriff haben.196 McDowell fährt fort, dass wir auf dieses Etwas erinnernd über die Zeit hinweg in der Erinnerung Bezug nehmen können; bzw. dieses Etwas über die Zeit hinweg wieder erkennen können. McDowell fragt sich nun, wie diese Anamnese über die Zeit hinweg möglich sein soll, wenn keine begrifflichen Fähigkeiten involviert sind. We can ensure that what we have in view is genuinely recognizable as a conceptual capacity if we insist that the every same capacity to embrace a colour in mind can in principle persist beyond the duration of the experience itself. In the presence of the original sample, “that shade” can give expressions to a concept of a shade, what ensures that it is a concept […] is that the associated capacity can persist into the future […]197
McDowell fährt mit der Bemerkung fort, dass die Wiedererkennung des Farbtons begriffliche Fähigkeiten voraussetzt, die explizit gemacht werden können. Und wenn er hiermit Recht hat, dann scheint man tatsächlich begriffliche Fähigkeiten voraussetzen zu müssen, selbst wenn eine Person etwas wahrnimmt, das sie nicht unter einen allgemeinen Begriff bringen kann. Um McDowells Argument noch einmal zusammenzufassen: Wir sind in der Lage, Farbtöne über die Zeit hinweg wieder zu erkennen, d. h. uns an sie zu erinnern. Hierzu müssen wir implizite demonstrative Begriffe in der Wahrnehmung annehmen. Ich möchte hier erstens auf einen Punkt hinweisen, der in der Debatte um die demonstrativen Begriffe hitzig diskutiert wird.198 Anschließend möchte ich zweitens auf einen Punkt hinweisen, der m. E. bisher keine Erwähnung fand. 196
McDowell 1996, S. 57. McDowell 1996, S. 57. 198 Für eine ausführliche Diskussion um die demonstrativen Begriffe vgl. etwa Heck 2000, Kelly 2001, Brewer 1999, 2005. 197
136
(i) Der in der Debatte um die demonstrativen Begriffe stark diskutierte Punkt betrifft die Frage, ob unsere Fähigkeiten zur perzeptiven Unterscheidung nicht zu feinkörnig sind, um sie mittels Erinnerung zu erfassen. Dieser etwa von Kelly und Peacocke vorgebrachte Einwand lautet etwas verkürzt dargestellt, dass es plausibel ist anzunehmen, dass ein Organismus für den Fall von Farben viele Farbabstufungen wahrnehmen kann, an die er sich später nicht mehr erinnert.199 Es scheint keine Abhängigkeit zwischen der Feinkörnigkeit der Wahrnehmung und unseren Erinnerungsfähigkeiten zu geben. Aber weil die demonstrativen Begriffe solch eine Abhängigkeit voraussetzen, kann es nicht sein, dass diese Begriffe notwendig dafür sind, feinkörnige Farbwahrnehmungen zu unterscheiden. Es gibt zwar Versuche auf diesen Einwand zu reagieren. Brewer versucht etwa, die These aufzugeben, dass demonstrative Begriffe von den besagten Erinnerungsfähigkeiten abhängen.200 Unter diesen Bedingungen ist es allerdings m. E. äußerst fraglich, ob wir überhaupt noch von Begriffen sprechen sollten. Dies führt mich zu meinem zweiten Punkt. (ii) Denn bereits McDowells Einführung der demonstrativen Begriffe wirkt eher wie ein Ad-hoc-Vorschlag. Die Einführung der demonstrativen Begriffe ist kein trivialer Zug in McDowells Argument. Denn diese Begriffe verfügen über ein derart niedriges kognitives Niveau, dass es fraglich ist, wie sie überhaupt zu Schlussfolgerungen beitragen können, was schließlich die Hauptfunktion von Begriffen ist. Nehmen wir nun auch noch, wie von Brewer vorgeschlagen, die Kapazität der Erinnerungsfähigkeit heraus, so steht natürlich die Frage im Raum, welche kognitive Funktion diesen Begriffen noch zukommen soll. Die Debatte um das ‚Fine-Grain-Argument’ ist m. E. nicht abschließend entschieden. Das Argument scheint zumindest die Annahme der These zu rechtfertigen, dass uns die Wahrnehmung mit nicht-begrifflichen Inputs versorgt. Ich werde im weiteren Verlauf argumentieren, dass solchen Gehalten keine rechtfertigende Funktion zukommen kann.201
199
Kelly (2001), Peacocke (2001). In Brewer 2005. 201 Hierbei werde ich mich dem so genannten epistemischen Argument von McDowell anschließen, auf das ich bei der Besprechung von Peacockes Ansatz eingehe. 200
137
1.4 Das Reichhaltigkeitsargument Das Reichhaltigkeitsargument ist eng mit dem Diskriminierungsargument verwandt und wird etwa von Dretske verwendet. Der repräsentationale Charakter der Wahrnehmung ist für Dretske analog und in diesem Sinn viel zu reichhaltig, um begrifflich strukturiert zu sein. Dretske vergleicht hierbei den repräsentationalen Charakter der Wahrnehmung des Gesichtsfeldes mit dem eines Bildes. Most pictures have a wealth of detail, and a degree of specificity, that makes it all but impossible to provide even an approximate linguistic rendition of the information the picture carries […]202
Ein anderes Beispiel wäre ein sommerlicher Blick auf einen Mischwald. Hier scheint der repräsentationale Gehalt zu komplex für eine begriffliche Erfassung zu sein. Dretske vertritt vor dem Hintergrund dieser Aussage Folgendes Argument: Das Reichhaltigkeitsargument: (i) Der Gehalt der Wahrnehmung ist zu reichhaltig für eine begriffliche Erfassung. (ii) Also hat die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt. Das Reichhaltigkeitsargument schließt wie das Diskriminierungsargument von dem Facettenreichtum der Wahrnehmung auf deren nicht-begrifflichen Gehalt. Es zielt aber auf einen anderen Aspekt. Hier geht es weniger um die Möglichkeit, zwei oder mehrere Dinge nicht-begrifflich zu unterscheiden, sondern darum, dass die Menge der durch die Wahrnehmung aufgenommenen Informationen zu groß ist, um in einer endlichen Menge an Propositionen, d. h. wahren oder falschen Aussagen, ausgedrückt zu werden. Vertreter des Reichhaltigkeitsargumentes wie Dretske argumentieren üblicherweise nicht für Prämisse (i), was darauf hindeutet, dass sie sie als trivial annehmen. McDowell bestreitet dies zumindest in der Hinsicht, wie die Wahrnehmung zum perzeptiven Wissen beiträgt. In einer Fußnote in Mind and World schreibt er:
202
Dretske 1999, S. 138.
138
The judgement that things are thus and so can be grounded on a perceptual appearance that things are thus and so. This does not obliterate the characteristic richness of experience […] A typical judgement of experience selects from the content of the experience on which it is based; the experience that grounds the judgement that things are thus and so need not be exhausted by its affording the appearance that things are thus and so. Selection from among a rich supply of already conceptual content is not […] a transition from one kind of content to another.203
McDowell argumentiert hier, dass er den Aspekt der Reichhaltigkeit der Wahrnehmung mit seiner Konzeption der Wahrnehmung vereinbaren kann, bei der er der Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt zuschreibt. Er meint, dass die Reichhaltigkeit (richness) der Erfahrung lediglich ausschließt, dass man seinen begrifflichen Fokus gleichzeitig auf alles richtet, was wahrgenommen wird. In Urteilen wird, so McDowell, ein Teil der Wahrnehmung selektiv fokussiert. Dies bedeute aber nicht, dass das NichtFokussierte nicht-begrifflich repräsentiert ist. In diesem Sinn benötigte man keinen Übergang von der Reichhaltigkeit des nicht-begrifflichen zu den begrifflichen Urteilen. D. h. McDowell will nicht abstreiten, dass wir mehr wahrnehmen, als uns bewusst ist. Er will allerdings bestreiten, dass daraus folgt, dass die Wahrnehmung uns die Welt nicht-begrifflich repräsentiert. Wenn wir auf einen bestimmten Gegenstand schauen, nehmen wir ihn, so würde McDowell wohl argumentieren, begrifflich wahr. Allerdings argumentiert auch er nicht für diese These – genau so wenig, wie Dretske für Prämisse (i) des Überbestimmtheitsargumentes argumentiert. Es ist freilich fraglich, ob er dafür argumentieren muss. Denn letztlich reicht es ihm zu zeigen, dass sein Ansatz mit der Reichhaltigkeitsthese vereinbar ist. Dennoch muss festgehalten werden, dass McDowell Dretskes Argument nicht direkt widerlegt. Wie plausibel wir McDowells Argument hier finden, wird davon abhängen, wie weit wir ihm bei seinem Ansatz folgen. Bei Evans findet man eine weitere Version des Reichhaltigkeitsargumentes, welches davon ausgeht, dass die Gegenstände der Welt unser Handeln auch dann beeinflussen können, wenn wir sie nicht bewusst wahrnehmen.204 Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa, wenn ich im Herbst über einen Waldboden jogge. Eigentlich ist der Boden viel zu unübersichtlich und die Tatsache, dass man nicht ständig stolpert, zeigt, dass die Wahrnehmung 203 204
McDowell 1996, S. 49, FN 6. Evans 1982, S. 177.
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das Handeln in einer nicht-begrifflichen Weise beeinflusst. Ein anderes Beispiel: Wenn man an einem gedeckten Tisch sitzt, muss man nicht ständig darauf achten, dass man etwa das Glas neben sich nicht umschmeißt. Auch hier scheint ein nicht-begrifflicher Einfluss auf mein Handeln vorzuliegen. Fazit: Die ersten beiden Argumente, das Kontinuitätsargument und das Argument aus der Passivität der Wahrnehmung, rechtfertigen die These des Non-Konzeptualisten, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, nicht. Anders verhält es sich mit den beiden anschließend diskutierten Argumenten, dem Diskriminierungsargument und dem Reichhaltigkeitsargument. Diese Argumente lassen zwar keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. Sie rechtfertigen die non-konzeptualistische These aber zumindest in der Hinsicht, dass es vor dem Hintergrund dieser Argumente unplausibel erscheint anzunehmen, dass die Wahrnehmung uns die Welt ausschließlich begrifflich repräsentiert. Ich denke, wir sollten dem Non-Konzeptualisten seine These vorsichtig zugestehen; ‚vorsichtig’, weil aus den non-konzeptualistischen Argumenten nicht folgt, dass die Wahrnehmung beides hat – einen begrifflichen und einen nicht-begrifflichen Gehalt. Nichts zwingt uns dazu anzunehmen, dass der Gehalt der Wahrnehmung ausschließlich begrifflich oder nichtbegrifflich ist. Auf diesen Punkt komme ich im später in diesem Kapitel zurück.
2 Die epistemologische Signifikanz der nonkonzeptualistischen These Die epistemologische Signifikanz der These, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, liegt darin, dass mit ihr ein rechtfertigender Einfluss der physikalischen Welt auf das perzeptive Wissen erklärbar zu sein scheint. Dies habe ich in Kapitel I als doxastisch-direkte Rechtfertigung bezeichnet. Sowohl Goldmans Reliabilismus als auch Ayers Sinnesdatentheorie stellen Versuche dar, eine solche Konzeption der doxastisch140
direkten Rechtfertigung vorzulegen. Beide Versuche konnten in Kapitel I – vor allem durch Sellars’ Argumente unterstützt – zurückgewiesen werden. Dort wurde aber bereits behauptet, dass die Idee der doxastisch-direkten Rechtfertigung damit noch nicht widerlegt ist. Im nächsten Abschnitt werde ich mit Peacockes Ansatz einen weiteren Versuch erörtern, das Problem des perzeptiven Wissens mittels des Konzepts der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte zu lösen. Im Anschluss an Peacocke möchte ich Dretskes wissensexternalistische Konzeption des perzeptiven Wissens darstellen. Dretske nimmt zwar wie Peacocke an, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, gibt aber die These auf, dass Wissen epistemische Rechtfertigung impliziert. Gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung des perzeptiven Wissens durch Sinnesdaten spricht, dass Sinnesdaten metaphysisch dubiose Entitäten sind. Sinnesdaten sind theoretische Entitäten, die im Rahmen metaphysischer Überlegungen postuliert werden. Sinnesdaten sollen die Objekte sein, welche die Eigenschaften tatsächlich haben, welche die physikalischen Objekte nur zu haben scheinen. Im Gegensatz zum inferentiellen indirekten Wissen über die physikalischen Objekte, soll es sich bei dem Wissen über Sinnesdaten um ein nicht-inferentielles doxastisch-direkt gerechtfertigtes Wissen handeln. Sinnesdaten sollen dieses nicht-inferentielle Wissen doxastisch-direkt rechtfertigen, indem die begrifflichen Operationen des doxastischen Systems auf diese Entitäten angewendet werden. Sellars hat diese Form der Rechtfertigung als Mythos des Gegebenen stigmatisiert. Er behauptet, Sinnesdaten können unsere Überzeugungen nicht epistemisch rechtfertigen, weil sie nicht die logische Form von Gründen haben. Hierbei hypostasiert er ein bestimmtes Bild des logischen Raums der Gründe, indem er epistemische Rechtfertigung als notwendig von Begründung abhängig versteht. Wir haben jedoch gesehen, dass der eigentlich gegen Sinnesdaten sprechende Grund metaphysischer und nicht, wie Sellars behauptet, epistemischer Natur ist. Die in diesem Kapitel zu besprechenden Vertreter der These des nicht-begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung glauben, dass die von ihnen angenommenen nicht-begrifflichen Gehalte nicht den gleichen metaphysischen Bedenken wie Sinnesdaten ausgesetzt sind. Sie orientieren sich am Status Quo der neurowissenschaftlichen Forschung. Bei Dretske ist dies die Informationswissenschaft der 80er Jahre und bei Peacocke stehen neurowissenschaftliche Modelle der mentalen 141
Repräsentation im Hintergrund. Dretske nimmt analog kodierte Informationen als nicht-begriffliche Gehalte an, die dann durch digitale, d. h. kognitiv-begriffliche, Operationen zu begrifflichem Wissen über die Welt führen sollen. Für Peacocke ist der Gehalt der Wahrnehmung protopropositional strukturiert, kann somit Gründe liefern und auf diese Weise das perzeptive Wissen rechtfertigen. Der hier relevante Unterschied zwischen Sinnesdaten und den von Dretske und Peacocke angenommenen nicht-begrifflichen Gehalten liegt darin, dass sie keine metaphysischen Doubles der physikalischen Objekte sein sollen. Vielmehr soll es sich um nicht-begriffliche repräsentationale Zustände handeln, deren Existenz zumindest prinzipiell empirisch überprüfbar ist. Wenn diese Zustände nicht in der Weise metaphysisch problematisch sind wie die Sinnesdaten (eine These, von der ich hier der Einfachheit halber ausgehen möchte), dann können wir die Frage aufwerfen, ob eine doxastisch-direkte Rechtfertigung mit nicht-begrifflichen Gehalten möglich ist. Dies wird etwa von Evans und Peacocke behauptet. Dretske argumentiert ebenfalls dafür, dass das perzeptive Wissen von nichtbegrifflichen Gehalten abhängt, schlägt aber einen nicht auf Rechtfertigung basierenden Wissensbegriff205 vor, so dass er ohne die These der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte auskommt. Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie ein fundamentalistisches Element einführen. Der wesentliche Unterschied zum klassischen Fundamentalismus der Sinnesdatentheorie besteht erstens darin, dass diese neofundamentalistischen Ansätze gehaltsexternalistisch sind, und dass sie zweitens von einer metaphysisch vermeintlich weniger anspruchsvollen Konzeption des nicht-begrifflichen Gehaltes ausgehen. Die These der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte wird u.a. von Evans und Peacocke vertreten. Ich werde hier nur auf Peacocke näher eingehen, weil er diese These m. E. am klarsten formuliert. Dies wird uns die Möglichkeit geben, McDowells eigentlich gegen Evans gerichtetes, epistemisches Argument gegen die rechtfertigende Funktion nicht-begrifflicher Gehalte auch auf Peacocke anzuwenden. Es wird sich zeigen, dass dieses Argument, wenn es entsprechend modifiziert 205
Ich werde Dretskes Konzeption des Wissens im Folgenden auch als Wissensexternalismus bezeichnen.
142
wird, einige Schlagkraft besitzt und Zweifel an der eben genannten These nährt. Anschließend wird Dretskes informationstheoretischer Ansatz diskutiert, der nicht anfechtbar durch McDowells Argument ist und der m. E. die stärkste Variante einer non-konzeptualistischen Konzeption des perzeptiven Wissens darstellt. Allerdings werden sich auch hier schwerwiegende Probleme zeigen.
3 Peacocke über doxastisch-direkte Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte 3.1 Szenario-Gehalte und protopropositionale Gehalte In A Study of Concepts entwickelt Peacocke eine generelle Konzeption begrifflicher Kapazitäten. „It aims to derive consequences about thought from positive and negative theses about the nature of concepts.“206 Ein Aspekt dieser Konzeption ist, dass sie das Problem des perzeptiven Wissens über die Frage adressiert, wie die sinnliche Wahrnehmung zu unseren Beobachtungsbegriffen beiträgt. Die von Peacocke aufgeworfene Frage lautet daher: „How is our mastery of observational concepts related to […] perceptual contents?“207 Diese Frage ist für Peacocke wiederum durch ein bereits mehrfach erwähntes Problem relevant. Gemeint ist das Problem, wie unser begriffliches Denken in einer nicht-begrifflichen Weise beeinflusst werden kann. Eine Standardantwort lautet, dass es eine Klasse von Begriffen – die Beobachtungsbegriffe – gibt, die über die Wahrnehmung direkt auf die Welt bezogen sind. Hierzu muss die Wahrnehmung einen nichtbegrifflichen Gehalt haben. Dass Peacocke für den nicht-begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung argumentiert, haben wir bereits gesehen. Schauen wir uns etwas genauer an, wie er diesen bestimmt.
206 207
Peacocke 1995, Introduction, xi. Peacocke 1995, S. 61.
143
Peacocke zufolge ist der Gehalt der Wahrnehmung nicht-begrifflich und durch die beiden „most fundamental representational properties“208 bestimmt. In der Wahrnehmung sollen zwei Arten von nicht-begrifflichem Gehalt gegeben sein, die beide über ihre, wie Peacocke dies bezeichnet, Korrektheitsbedingungen (correctness conditions) bestimmt sind. Den ersten Typ des Gehaltes bezeichnet er als Szenario-Gehalt (kurz: Szenario). Szenarios sind gehaltsexternalistischer Natur und über das Verhältnis zur physikalischen Umgebung eines wahrnehmenden Subjektes bestimmt. Die Korrektheitsbedingungen der Szenarios hängen Peacocke zufolge damit zusammen, ob sich der Raum um eine beobachtende Person so verhält, wie er wahrgenommen wird. Diese zunächst intuitive Bestimmung erläutert Peacocke durch zwei Bemerkungen: (i) Ein Szenario ist durch den Ort, an dem sich die Person befindet (origin) und die räumlichen Axen (axes) bestimmt. (ii) Ein Szenario ist weiterhin durch die räumliche Anordnung von Gegenständen, Strukturen und durch phänomenale Eigenschaften bestimmt. Für ein solches Szenario gelte, dass „[…] itself is not built up from concepts at all: it is well suited to be a constituent of a form of nonconceptual content.”209 Für die Angabe der Korrektheitsbedingungen benötigt Peacocke noch, was er als Szene (scene) bezeichnet. Eine Szene sei ein Teil der den Beobachter umgebenden physikalischen Welt.210 Die Korrektheitsbedingungen für ein Szenario liegen Peacocke zufolge darin, dass sich die Szene wie das Szenario verhält. The content of the experience is correct if this scene falls under the way of locating surfaces and the rest that constitutes the scenario.211
Diese These sollten wir als eine repräsentationalistische These über das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und physikalischer Welt verstehen. Dann können wir Peacocke an dieser Stelle als Gehaltsexternalisten interpretieren. Peacocke behauptet somit zusammengefasst erstens, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, der in einem Szenario besteht. Szenarios sollen zweitens repräsentationale Gehalte sein, die 208
Peacocke unterscheidet zwei fundamentale, repräsentationale Gehalte: Szenarios und protopropositionale Gehalte, auf die gleich eingegangen wird. 209 Peacocke 1995, S. 63. 210 Peacocke 1995, S. 64. 211 Peacocke 1995, S. 64.
144
räumlich strukturiert sind und in denen Objekte, bzw. deren Oberflächen, relational angeordnet sind. Drittens sollen diese Szenarios über gehaltsexternalistische Korrektheitsbedingungen verfügen; d. h. sie sollen korrekt sein, wenn sie sich verhalten, wie dies der physikalischen Umgebung entspricht. Viertens folgt daraus, dass es sich um nicht-begriffliche Korrektheitsbedingungen handeln muss. Nun stellt sich die Frage, wie diese nichtbegrifflichen Gehalte einen Einfluss auf die Anwendung von Beobachtungsbegriffen haben können. Eine Antwort auf diese Frage ist die Bedingung dafür, dass man klären kann, wie nicht-begriffliche Gehalte das perzeptive Wissen doxastisch-direkt rechtfertigen können. Peacocke führt zunächst einen weiteren Typ nicht-begrifflichen Gehaltes ein, über den die Wahrnehmung verfügen soll und den er als protopropositionalen Gehalt bezeichnet. I suggest that perceptual experience has a second layer of nonconceptual representational content. The contents at this second layer cannot be identified with positioned scenarios, but they are also distinct from conceptual contents. These additional contents I call protopropositions.212
Die protopropositionalen Gehalte sollen die Funktion erfüllen, die Beziehung zwischen der nicht-begrifflichen Wahrnehmung und den begrifflichkognitiven Zuständen, d. h. dem perzeptiven Wissen, herzustellen. Eine charakteristische Eigenschaft von Propositionen ist, dass sie Wahrheitsbedingungen haben. Dies soll eben auch für Protopropositionen zutreffen. „These additional contents […] are assessable as true or false.“213 Die Protopropositionen sollen allerdings nicht aus Begriffen, sondern aus Eigenschaften und Objekten zusammengesetzt sein, daher ‚proto’. An dieser Stelle sieht man sofort, dass Peacocke einen heterodoxen Begriff der Wahrheit verwendet. Denn unter ‚Wahrheit’ verstehen Philosophen u.a., dass etwas unter einen Begriff fällt. Peacocke sollte an dieser Stelle nicht von der Wahrheit, sondern, wie er dies auch ursprünglich eingeführt hatte, von der Korrektheit der Protopropositionen sprechen. Wenn es eine nichtbegriffliche Wahrheitskonzeption gibt, müsste er sie uns vorlegen, was er zumindest in A Study of Concepts nicht leistet. Für die Protopropositionen
212 213
Peacocke 1995, S. 77. Peacocke 1995, S. 77.
145
soll demnach gelten, dass sie einer Person Eigenschaften und Relationen in einer nicht-begrifflichen Weise repräsentieren. The protopropositions that enter the representational content of ordinary human visual experience contain such properties and relations as SQUARE, CURVED, PARALLLEL TO, EQUIDISTANT FROM, SAME SHAPE AS; and SYMMETRICAL ABOUT.214
Die Großbuchstaben sollen, so Peacocke, ausdrücken, dass wir es mit Eigenschaften und nicht mit Begriffen zu tun haben. Weil wir auf dieser Ebene noch keine begrifflichen Kapazitäten voraussetzen, können wir, so glaubt Peacocke, die Anwendung der begrifflichen Kapazitäten auf diese Eigenschaften in einer nicht-zirkulären Weise erklären. Because protopropositions contain properties and relations, rather than concepts thereof, there is no immediate circularity in mentioning this level of representational content in individuating certain conceptual contents.215
Zusammenfassend können wir festhalten, dass Peacocke der Wahrnehmung eine nicht-begriffliche Art und Weise der Repräsentation zuspricht. Diese soll erstens darin bestehen, dass die Wahrnehmung uns bestimmte Eigenschaften der Welt in einer direkten und nicht-begrifflichen Weise repräsentiert. Diesen Teil sollen die Protopropositionen erfüllen. An dieser Stelle sollte Peacocke allerdings, wie erwähnt, nicht über Wahrheitsbedingungen, sondern über Korrektheitsbedingungen sprechen. Dies bringt hinreichend zum Ausdruck, was er theoretisch an dieser Stelle aussagen möchte: nämlich, dass die Wahrnehmung uns die Tatsachen der Welt richtig (korrekt) oder nicht-richtig (falsch) repräsentieren kann. Zweitens soll sie darin bestehen, dass die Wahrnehmung uns räumlich geordnete Muster einer physikalischen Umgebung repräsentiert. Dies soll der SzenarioGehalt der Wahrnehmung leisten. Weil es sich hier um ein gehaltsexternalistisches Konzept der Wahrnehmung handelt, würde eine Person auf diese Weise zu direkten Informationen über ihre Umgebung kommen. Die nächste zu klärende Frage ist, wie die begrifflichen Kapazitäten auf diese direkten Informationen angewendet werden. Die Beantwortung dieser Frage ist wiederum die Voraussetzung für die Beantwortung der hier
214 215
Peacocke 1995, S. 77. Peacocke 1995, S. 77.
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relevanten Frage nach der Möglichkeit einer doxastisch-direkten Rechtfertigung des perzeptiven Wissens durch nicht-begriffliche Gehalte. 3.2 Doxastisch-direkte Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte Das Programm, mit dem Peacocke sich hier beschäftigt, hat Evans in seinen Varieties of Reference vorgegeben. Evans unterscheidet als einer der Ersten zwischen einem Informationssystem, in dem nicht-begriffliche, repräsentationale Zustände gegeben sein sollen und dem begrifflichen kognitiven System.216 Im Gegensatz zum klassischen Fundamentalismus wird hierbei eine kategoriale Unterscheidung zwischen nicht-begrifflichen Gehalten und begrifflichen Operationen vorgenommen. Nicht-begriffliche Gehalte sollen nicht, wie Sinnesdaten, die Gegenstände sein, auf die die phänomenalen Begriffe angewendet werden. Vielmehr sollen begriffliche Operationen die Informationen verarbeiten, die in den nicht-begrifflichen Zuständen vermittelt werden. Zum Verhältnis zwischen nicht-begrifflichen Gehalten und begrifflichen Operationen wie Urteilen und Überzeugungen äußert sich Evans in einer viel zitierten Stelle wie folgt: The informational states which a subject acquires through perception are nonconceptual, or non-conceptualized. Judgements based upon such states necessarily involve conceptualization: in moving from a perceptual experience to a judgement about the world (usually expressible in some verbal form), one will be exercising basic conceptual skills. […] The process of conceptualization or judgement takes the subject from his being in one kind of informational state (with a content of a certain kind, namely, non-conceptual content) to his being in another kind of cognitive state (with a content of a different kind, namely, conceptual content).217
Die von Evans in den Varieties allenfalls implizit beantwortete Frage lautet hier: Wie kommt der Prozess der Konzeptualisierung in Gang?218 Peacockes Ansatz kann man als einen Versuch verstehen, diese Frage zu beantworten. Er hat seine zwei Typen des nicht-begrifflichen Gehaltes so mo216
Evans 1982, Kapitel 6. Evans 1982, S. 227. 218 Eine genauere Antwort auf diese Frage bei Evans möchte ich hier den EvansInterpreten überlassen. Es ist eher auszuschließen, dass Evans hier an eine reine Kausalbeziehung denkt, weil er in Kapitel 7 der Varieties deutlich auf die Selbstzuschreibung der Erfahrungen als notwendige Bedingung für Rechtfertigung abhebt. 217
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delliert, dass sie in einem entsprechenden Verhältnis zu den Überzeugungen stehen können. Denn, indem er bereits auf der Ebene der nichtbegrifflichen Gehalte Protopropositionen annimmt, und indem er mit den Szenarios einen Gehaltsexternalismus annimmt, soll die epistemische Person in einer nicht-begrifflichen Weise zu Informationen kommen, die bereits die richtige Form haben, um begrifflich verarbeitet zu werden. Peacocke behauptet daher, dass die nicht-begrifflichen Gehalte gute Gründe für unsere Überzeugungen sein können. Er geht zunächst von einer einfachen zu rechtfertigenden Überzeugung aus, nämlich der Überzeugung einer Person, dass sich vor ihr etwas Rundes (square) befindet. Diese Überzeugung soll in einem doxastisch-direkten Sinn durch die Protoproposition, dass dort etwas Rundes ist, gerechtfertigt werden. Peacocke schreibt: The nonconceptual protopropositional content of experiences of the kind mentioned in the possession condition for square will concern the straightness of certain lines, the symmetry of a figure about the bisectors of those lines, the identity of certain lengths, and the rightness of certain angles. Such experiences give a thinker who possesses the relatively observational concept square not merely reasons but good reasons for forming the belief that the demonstrative presented object is square. That they are good reasons is intimately related to the condition required for the belief “That’s square” to be true. If the thinker’s perceptual systems are functioning properly, so that the nonconceptual representational content of his experience is correct, then when such experiences occur, the object thought about will really be square. In this description of why the linkages are rational linkages, I make essential use of the fact that the nonconceptual content employed in the possession condition has a correctness condition that concerns the world. The account of the rationality of this particular linkage turns on the point that when the correctness condition of the relevant nonconceptual contents is fulfilled, the object will really be square.219
Der nicht-begriffliche, protopropositionale Gehalt soll, so Peacocke, darin bestehen, dass man bestimmte Eigenschaften wie die Symmetrie der Linien oder der Winkel wahrnimmt, die wiederum konstitutiv für die Eigenschaft ‚quadratisch’ sein sollen. Hierbei darf es sich ex hypothesi nicht um Begriffe handeln. Es soll sich um direkt wahrgenommene Eigenschaften handeln. Peacocke behauptet nun, dass eine sinnliche Wahrnehmung eines Quadrates ein guter Grund dafür ist, Überzeugungen, d. h. begriffliche Repräsentationen, über Quadrate auszubilden. Dies ist nichts anderes als die 219
Peacocke 1995, S. 80.
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These, dass die Wahrnehmung die Überzeugung, dass da ein Quadrat ist, in einer doxastisch-direkten Weise rechtfertigt. Allerdings sagt uns Peacocke mehr als Evans darüber, was für eine Rechtfertigungsbeziehung dies sein soll. Dies hängt mit seinem Konzept der Protopropositionen zusammen, die ja wesentlich über ihre Korrektheitsbedingungen definiert sind und damit ein normatives Element enthalten sollen. Worin könnte dieses normative Element bestehen? Peacocke gibt hierauf keine klare Antwort. Allerdings ist anzunehmen, dass er hier auf ein zugangsinternalistisches Moment abhebt, das darin besteht, dass die Person sich ihre Wahrnehmung selbst zuschreibt. Hierbei kann sie freilich – wie im Fall einer Illusion – Fehler machen. Allerdings würde dann im Normalfall gelten, dass Wahrnehmungen uns die Welt so repräsentieren, wie sie ist. Damit ergibt sich Folgendes Bild für die Rechtfertigung des perzeptiven Wissens bei Peacocke: Wahrnehmungen enthalten durch den Szenario-Gehalt ein repräsentationalistisches und über den protopropositionalen Gehalt ein normatives Element. Auf diese Weise sollen Wahrnehmungen Gründe für unsere Überzeugungen liefern und damit unser perzeptives Wissen doxastischdirekt rechtfertigen. Nun ist zu prüfen, was von diesem Lösungsvorschlag für das Problem des perzeptiven Wissens zu halten ist. 3.3 McDowells epistemisches Argument gegen die doxastisch-direkte Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte In Mind and World argumentiert McDowell gegen die These, dass nichtbegriffliche Gehalte unsere Überzeugungen, respektive unser perzeptives Wissen, rechtfertigen können. McDowell setzt sich im Kapitel über nichtbegriffliche Gehalte (Kapitel III) allerdings mit Evans’ Position auseinander. Ich möchte McDowells gegen Evans gerichtetes Argument zunächst einführen und erläutern und anschließend auf Peacockes Konzeption übertragen. Wie wir später in diesem Kapitel sehen werden, geht McDowell davon aus, dass weder die Kohärenztheorie noch der NonKonzeptualismus eine vertretbare Route aus dem Problem des perzeptiven Wissens weisen. Gegen den Non-Konzeptualismus – in der Form wie er von Evans vertreten wird – behauptet McDowell mit einer überaus hartnäckigen Redundanz, dass dieser in den Mythos des Gegebenen zurückfalle. Dies klingt verdächtig nach einem Argument, wie wir es bereits in Kapitel 149
I kennen gelernt haben. Sellars behauptet gegen den Sinnesdatentheoretiker, dass Sinnesdaten nicht epistemisch rechtfertigen können, da ihnen die logische Form eines Grundes fehlt. Bei McDowell finden wir ähnliche Aussagen. The idea of the Given is the idea that the space of reasons, the space of justifications or warrant, extends more widely than the conceptual sphere. The extra extent of the space of reasons is supposed to allow it to incorporate non-conceptual impacts from outside the realm of thought. But we cannot really understand the relations in virtue of which a judgement is warranted except as relations within the space of concepts […]220
McDowell argumentiert hier wie Sellars gegen die Sinnesdatentheorien, dass nicht-begriffliche Gehalte nicht epistemisch rechtfertigen können, weil sie keine Geltung im logischen Raum der Gründe haben können. Sellars konnten wir seine Konklusion, dass Sinnesdaten nicht epistemisch rechtfertigen können, zugestehen, weil es keine Sinnesdaten, im Sinn von logischen Einzeldingen, gibt. Die in diesem Kapitel besprochenen NonKonzeptualisten würden aber behaupten, dass es metaphysisch neutrale Konzeptionen des nicht-begrifflichen Gehaltes gibt, die eine empirische Unterstützung seitens der Kognitionswissenschaft erfahren. Gestehen wir ihnen diese These hier zu.221 Dann greift das von Sellars übernommene Argument McDowells zu kurz. Einfach nur den Mythos des Gegebenen zu zitieren, wäre eine zu schwache Begründung für McDowells These, dass nicht-begriffliche Gehalte keine rechtfertigende Funktion übernehmen können. Bei genauerer Betrachtung spezifiziert McDowell sein Argument allerdings noch weiter. Er argumentiert in einer bekannten Stelle aus Mind and World zunächst gegen Evans: Evans’ position has a deceptively innocent look. It can seem obvious that a possessor of one piece of representational content, whether conceptual or not, can stand in rational relations, such as implication or probabilification, to a possessor of another. But with spontaneity confined, we lose the right to draw the conclusion, as a matter 220
McDowell 1996, S. 7. Man kann durchaus die Frage aufwerfen, ob es sich bei dem Konzept des nichtbegrifflichen Gehaltes, wie bei dem des Sinnesdatums, um ein metaphysisch problematisches Konzept handelt. Der Einfachheit und Klarheit halber gehe ich hier aber davon aus, dass die Annahme von nicht-begrifflichen Gehalten nicht in diesem Sinn problematisch ist. 221
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of routine, that one term in such a relation can be someone’s reason for another. If experience is pictured as input to spontaneity from outside, then it is another case of fraudulent labelling to use the word “content” for something we can even so take experience to have, in such a way that reason-constituting relations can intelligibly hold between experiences and judgements. The label serves to mask the fact that the relations between experiences and judgements are being conceived to meet inconsistent demands: to be such as to fit experiences to be reasons for judgements, while being outside the reach of rational inquiry.222
McDowell wirft Evans die Vermischung normativer und nicht-normativer Begriffe vor, die wir im letzten Abschnitt auch bei Peacocke kritisiert haben. McDowells Argument gegen Evans kann man folgendermaßen schematisch darstellen. McDowells epistemisches Argument (1) Gründe stehen in einer rationalen Relation (Deduktion, Induktion) zu unseren Überzeugungen über die Welt. (2) Nicht-begriffliche Gehalte stehen in keiner rationalen Relation zu unseren Überzeugungen über die Welt. (3) Also können nicht-begriffliche Gehalte keine Gründe für unsere Überzeugungen über die Welt sein. Prämisse (1) ist, zumindest in McDowells Verwendung der Begriffe, eine analytisch wahre Aussage. Bei Prämisse (2) kommt es entscheidend darauf an, was unter einer rationalen Relation zu verstehen ist. McDowell führt deduktive und induktive Relationen an, die nur zwischen Propositionen gelten können. Ein weiteres Beispiel wäre ein Schluss auf die beste mögliche Erklärung, den man allerdings auch als Spezialfall der induktiven Relationen verstehen kann. Propositionen können in diesem Sinn notwendig oder zu einem bestimmten Grad wahrscheinlich wahr sein – je nachdem, welche Stützung sie durch eine oder mehrere andere Proposition(en) erfährt. McDowells epistemisches Argument behauptet nun, dass nichtbegriffliche Gehalte Propositionen weder wahrscheinlich noch notwendig wahr machen können, weshalb sie auch nicht als Gründe taugen sollen. Wie verhält sich McDowells epistemisches Argument zu Peacockes Konzeption der doxastisch-direkten Rechtfertigung? Peacocke würde McDo222
McDowell 1996, S. 53, meine Hervorhebung.
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wells Prämisse (2) bestreiten, denn er nimmt mit den Protopropositionen zumindest Korrektheitsbedingungen der nicht-begrifflichen Gehalte an, weshalb diese wiederum als Gründe fungieren können sollen. Die Frage ist nun, ob man diese These plausibel machen kann. Können Peacockes nichtbegriffliche Gehalte als Gründe fungieren? Im zweiten Nachwort zu Mind and World äußert sich McDowell leider nicht eindeutig zu dieser Frage, weil er Peacockes Ansatz dort sehr verkürzt wiedergibt. Er referiert zunächst einige Stellen aus A Study of Concepts und kommt zu der Einschätzung, dass Peacockes Ansatz nicht leisten kann, was er verspricht, weil: „Reasons that the subject can give, in so far as they are articulable, must be within the space of concepts.“223 Wenn diese Aussage stimmt, dann können Peacockes Protopropositionen freilich keine Gründe sein, weil sie keine Begriffe enthalten. McDowells Begründung der eben genannten Aussage ist leider wenig hilfreich. Er verweist lediglich darauf, dass das Wort ‚Grund’ bei Platon ‚logos’ bedeutet, was für ‚diskursiver Grund’ stehe. Dies ist freilich kein systematisch ernst zu nehmendes Argument, sondern ein Autoritätsargument. Kehren wir noch einmal zu Peacockes Beispiel des Begriffs ‚quadratisch’ zurück. Wie kann meine Wahrnehmung mich in meiner Überzeugung rechtfertigen, dass vor mir etwas Quadratisches ist? Eine Antwort könnte darin bestehen, dass ich etwas Quadratisches sehe. Diese Antwort kann Peacocke natürlich nicht geben, weil er so den Begriff ‚Quadratisch’ voraussetzen müsste. An dieser Stelle wird deutlich, warum Peacocke bei den Protopropositionen von Korrektheitsbedingungen spricht. Protopropositionen können nur dann andere Propositionen implizieren oder wahrscheinlich machen, wenn sie selbst über die Bedingungen dafür verfügen, die die Wahrheit dieser Propositionen implizieren oder wahrscheinlich machen. Peacockes Korrektheitsbedingungen müssten also streng genommen selbst Wahrheitsbedingungen sein. Wahrheitsbedingungen sind aber eine wesentliche Eigenschaft von Begriffen. Begriffe haben Wahrheitsbedingungen, die enthalten, wann etwas unter die von ihnen bezeichnete Eigenschaft fällt. In A Study of Concepts verzichtet Peacocke auf die rationalistische Annahme angeborener Begriffe, weshalb er in Erklärungsschwierigkeiten
223
McDowell 1996, S. 165.
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kommt.224 Es ist m. E. bezeichnend für die Schwäche von Peacockes Ansatz, dass er in seinen späteren Schriften zur Annahme angeborener Begriffe übergeht. Peacockes Protopropositionen können das begriffliche perzeptive Wissen nur rechtfertigen, wenn sie selbst über einen begrifflichen Gehalt verfügen. Peacocke löst das Problem des perzeptiven Wissens also nicht, weil er nicht erklären kann, wie die nicht-begrifflichen Gehalte begriffliches Wissen rechtfertigen können. Ich möchte mich daher McDowells epistemischem Argument gegen die non-konzeptualistische These anschließen, dass nicht-begriffliche Gehalte das perzeptive Wissen doxastisch-direkt rechtfertigen können. Dieses Ergebnis muss Wissensexternalisten wie Dretske freilich nicht erschrecken. Unter ‚Wissensexternalismus’ verstehe ich hierbei eine Konzeption, die den Wissensbegriff ohne den Rechtfertigungsbegriff, bzw. ohne die These, dass Wissen von Gründen abhängt, bestimmt. Dretske trennt, wie wir gleich noch sehen werden, die Begriffe Rechtfertigung und Wissen und hält ersteren nicht für notwendig für zweiteren.225 Im nächsten Abschnitt soll Dretskes Konzeption des perzeptiven Wissens dargestellt und kritisch erörtert werden.
224
In seinen jüngsten Schriften geht Peacocke zur Annahme solcher rationalistischer Elemente wie angeborene Begriffe über. Vgl. etwa Peacocke 2003. 225 Für eine genauere Darstellung von Dretskes Unterscheidung zwischen Wissen und Rechtfertigung vgl. auch den Appendix zu dieser Arbeit.
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4 Dretskes informationstheoretische Konzeption des perzeptiven Wissens In Knowledge and the Flow of Information präsentiert Dretske einen vieldiskutierten Vorschlag zur Naturalisierung mentaler Gehalte. Klassischerweise wurden mentale Gehalte und ihre Intentionalität so verstanden, dass sie zumindest ein normatives Moment enthalten. (Denken sollte eine Art inneres, psychisches Handeln sein.) Die Grundidee bei Dretske lautet dagegen, dass mentale Gehalte, respektive Wissen, auf den Informationsgehalt von Repräsentationen reduziert werden können. Und weil unter dem Begriff der Information hierbei etwas Messbares und in naturwissenschaftlichem Vokabular Explizierbares verstanden wird, kommt diese Grundidee der Naturalisierung mentaler Gehalte gleich. Im Folgenden wird zunächst kurz Dretskes Begriff der Information dargestellt. Anschließend wird seine Konzeption des nicht-begrifflichen Gehaltes im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Kodierung eingeführt. Vor diesem Hintergrund kann schließlich Dretskes Konzeption des perzeptiven Wissens dargestellt werden. 4.1 Dretskes Informationsbegriff Das Wort ‚Information’ ist wie das Wort ‚Wahrnehmung’ vieldeutig. Erstens können wir über falsche Informationen sprechen. Ich kann etwa sagen, dass sich die Information, dass es Massenvernichtungswaffen im Irak gab, als falsch herausstellte. Diesen Gebrauch des Begriffs der Information lehnt Dretske ab. „[…] false information and mis-information are not kinds of information […]“226 Informationen sind für Dretske veridische und messbare Einheiten, die von Zeichen ‚transportiert’ werden, wobei der Begriff des Zeichens hierbei möglichst weit zu verstehen ist.227 Zweitens kön226
Dretske 1999, S. 45. Zeichen können zwar im Sinn von sprachlichen Zeichen verstanden werden. Für Dretske kann aber etwa Rauch ein Zeichen dafür sein, dass es ein Feuer gibt; oder ein Riss in einer Glasscheibe kann ein Zeichen dafür sein, dass ein schweres Objekt auf die Scheibe traf.
227
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nen wir über Informationen im Sinn subjektiver, mentaler Zustände sprechen: A hat die Information, dass p. Diesen Gebrauch des Begriffs der Information lehnt Dretske ebenfalls ab. Denn, so Dretske, „It rests on a confusion, the confusion of information with meaning.”228 Es ist eine von Dretskes Hauptthesen in Knowledge and the Flow of Information, dass der Begriff der Information radikal externalistisch zu verstehen ist, und dass er strikt vom Begriff der Bedeutung zu trennen ist. Ist diese Unterscheidung einmal gemacht, kann, so Dretske, in einer naturalistischen Weise erklärt werden, wie die höheren kognitiven Funktionen wie Überzeugungen und Wissen aus primitiveren, physikalischen Mechanismen entstehen. Once this distinction is clearly understood, one is free to think about information […] as an objective commodity, something whose generation, transmission, and reception do not require or in any way presuppose interpretive processes. One is therefore given a framework for understanding how meaning can evolve, how genuine cognitive systems – those with the resources for interpreting signals, holding beliefs, and acquiring knowledge – can develop out of lower-order, purely physical, information-processing mechanisms.229
Dretske beginnt diese Überlegungen zum Informationsbegriff mit der Frage, welche Information ein Signal trägt. Seine erste Annäherung an eine Antwort lautet: What information a signal carries is what it is capable of telling us, telling us truly, about another state of affairs. Roughly speaking, information is that commodity capable of yielding knowledge, and what information a signal carries is what we can learn from it.230
Ein Signal r trägt für Dretske genau dann die Information p, wenn ein Empfänger durch r p lernen kann. Wenn ich aus einem auditiven Signal – etwa dem Bellen eines Hundes – lernen kann, dass sich um die Ecke ein Hund befindet, trägt dieses Signal die Information, dass sich um die Ecke ein Hund befindet. Dretske verrät uns leider nicht näher, was er hier unter lernen versteht. Wir sollten ihn aber mit Blick auf die weitere Darstellung so verstehen, dass ‚lernen’, abweichend vom alltäglichen Sprachgebrauch, bedeutet, dass die Informationen tatsächlich bei einem Subjekt ankommen 228
Dretske 1999, Preface, vii. Dretske 1999, Preface, vii. 230 Dretske 1999, S. 44. 229
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und dessen Verhalten beeinflussen können. Dretske macht sich daran, Bedingungen dafür anzugeben, wann es der Fall ist, dass ein Signal eine Information trägt. Hierbei geht er vom statistischen Vokabular der mathematischen Informationstheorie aus und gibt zunächst drei Bedingungen an.231 (A) Ein Signal r trägt so viel Information über s, wie durch die Tatsache, dass s F ist, erzeugt wird. (B) s ist F. (C) Die Menge (quantity) einer Information, die ein Signal r über s trägt, enthält die Menge, die dadurch erzeugt wird, dass s F ist. Die Bedingungen (A) und (B) sind bereits implizit besprochen worden. (A) betont die externalistische, d. h. tatsachenabhängige, Komponente am Informationsbegriff. (B) schließt nicht-veridische Informationen aus. Dretske glaubt, dass (C) nötig ist, um sicherzustellen, dass die richtige Menge an Informationen übermittelt wird. Bedingung (C) impliziert ein reliabilistisches Moment, welches durch bedingte Wahrscheinlichkeiten expliziert werden kann. Für einen reliablen Prozess muss eine relativ hohe bedingte Wahrscheinlichkeit gegeben sein. Dretskes Begriff der Information impliziert noch mehr – nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit nicht nur gegen 1 geht, sondern dass sie 1 beträgt. Vor diesem Hintergrund kommt er zu folgender Definition eines Informationsgehaltes (informational content).232 Informationsgehalt: Ein Signal r trägt die Information, dass s F ist gdw. die bedingte (conditional) Wahrscheinlichkeit dessen, dass s F ist 1 beträgt. Man kann hier direkt die Frage aufwerfen, für welche Zeichen oder Signale dies zumindest in der Natur gilt. Gerade Beispiele wie das ‚Rauch-FeuerSzenario’ können leicht dazu verwendet werden, um zu zeigen, dass natürliche Zeichen in einer falliblen Weise ihre Information tragen. Ein Imker könnte z.B. ein rauchähnliches Gasgemisch verwenden. Dretske würde dann wahrscheinlich behaupten, dass das Zeichen in diesem Fall (d. h. das rauchähnliche Gas) nicht die Information trägt, dass sich Rauch in der Nä231 232
Dretske 1999, S. 63f. Dretske 1999, S. 65.
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he befindet. Ich komme auf diesen Punkt noch einmal zurück, wenn es um das Verhältnis zwischen der Wahrnehmung und der Repräsentation von Informationen geht. Wichtig an Dretskes Begriff der Repräsentation von Informationen ist der zugrunde liegende Gehaltsexternalismus. Für Dretske besteht die Welt aus Ereignissen und Objekten, die Informationen ‚aussenden’, die wiederum von Subjekten in verschiedener Weise repräsentiert werden können. Informationen sind aber für ihn keine Repräsentationen, sondern sie sind physikalische, d. h. objektive, Ereignisse in der Welt. Wenn eine Information repräsentiert wird, handelt es sich für Dretske daher um einen veridischen mentalen Zustand. Es gibt für Dretske keine fallible Repräsentation von Informationen. Er nimmt zwei Formen an, wie Informationen repräsentiert werden können: analog oder digital. Ich möchte im nächsten Abschnitt auf diese zwei Arten von Repräsentation eingehen, die wesentlich für Dretskes Konzeption des perzeptiven Wissens sind. 4.2 Analoge und digitale Repräsentation (Kodierung) Traditionelle Konzeptionen des perzeptiven Wissens gehen Dretske zufolge von der falschen Vorstellung aus, dass perzeptive Zustände (Sehen, Hören, Riechen …) einer basalen Form des Wissens entsprechen. Dretske wendet sich gegen solche Konzeptionen, die wir bereits in Kapitel I kennen gelernt haben. I think this is a confusion. It obscures the distinctive role of sensory experience in the entire cognitive process. In order to clarify this point, it will be necessary to examine the way information can be delivered and made available to the cognitive centres without itself qualifying for cognitive attributes – without itself having the kind of structure associated with knowledge and belief.233
Für Dretske spielen sich die perzeptiven Prozesse auf einer non-kognitiven Ebene ab, die kategorial von kognitiven, d. h. mentalen, Episoden wie Überzeugungen oder Wissen zu unterscheiden ist. Für die Beschreibung dieser Prozesse möchte Dretske seinen Informationsbegriff anwenden. „For this purpose we must say something about the different ways infor-
233
Dretske 1999, S. 135.
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mation can be coded.”234 Dretske unterscheidet zwei Arten der Kodierung: analoge und digitale Kodierung. Dretskes Begriff der Kodierung (code) ist notorisch schwierig. Ich möchte unter ‘kodieren’ hier der Einfachheit halber ‘repräsentieren’ verstehen. Für diese Lesart spricht etwa eine Stelle auf S. 135 in Knowledge and the Flow of Information, wo Dretske schreibt, dass man den Unterschied zwischen analoger und digitaler Kodierung von Informationen als „the difference between a continuous and a discrete representation of some variable property at the source“ verstehen kann. Ich möchte im Folgenden zunächst Dretskes Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Kodierung, respektive Repräsentation, darstellen und anschließend darauf eingehen, wie er diese Unterscheidung auf das Verhältnis von Wahrnehmung und nicht-begrifflichem Wissen anwendet. Dretske führt die Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Kodierung folgendermaßen ein: I will say that a signal (structure, event, state) carries the information that s is F in digital form if and only if the signal carries no additional information about s, no information that is not already nested in s’s being F. If the signal does carry additional information about s, information that is not nested in s’s being F, then I shall say that the signal carries this information in analog form.235
Wenn wir hier die von mir vorgeschlagene, repräsentationalistische Dretske-Interpretation zugrunde legen, dann können wir diese Textstelle folgendermaßen verstehen: Eine digitale Repräsentation besteht darin, dass ein Objekt als etwas Bestimmtes von einer Art F repräsentiert wird, während eine analoge Repräsentation darin besteht, dass mehr repräsentiert wird, als dass ein Objekt von der Art F ist. Dies ist natürlich eine sehr minimalistische Bestimmung dieser beiden Begriffe. Schauen wir uns etwas näher an, was Dretske noch zu der Unterscheidung zwischen einer analogen oder digitalen Repräsentation zu sagen hat. Dretske erläutert die Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Repräsentation zunächst durch das Beispiel der Unterscheidung zwischen einem Bild und einer Aussage. Die Information, dass sich Kaffee in einer Tasse befindet, kann durch eine Aussage oder durch ein Bild repräsentiert werden, wobei in dem Bild immer noch mehr Informationen über diese 234 235
Dretske 1999, S. 137. Dretske 1999, S. 137.
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Tatsache enthalten sind als in der Aussage, dass sich Kaffee in der Tasse befindet; etwa dass die Tasse auf einem Tisch mit einer Seidentischdecke steht. Diese Beschreibung ist im Sinn einer Analogie zu verstehen. Denn: From a neurological point of view the transformation from sensory to cognitive coding takes place in the complete absence of either pictures or statements.236
Die analogen Repräsentationen spielen sich für Dretske bei kognitiv begabten Organismen im neuronalen System ab. Dies kann zwar durch das semantische Bild-Satz-Modell ausgedrückt werden. Im engeren Sinn zielt Dretske aber auf ein naturalistisches Modell. Dretske zufolge gilt für die meisten Bilder, dass sie mehr Details, respektive Informationen, enthalten als begrifflich überhaupt verarbeitet werden können. In einer bereits zitierten Stelle schreibt er: Most pictures have a wealth of detail, and a degree of specificity, that makes it all but impossible to provide even an approximate linguistic rendition of the information the picture carries in digital form.237
Das Argument lautet, dass die meisten Bilder zu fein differenziert sind, um in einer endlichen Klasse von Propositionen auszudrücken, was sie darstellen. Dies soll auch für die analoge Repräsentation gelten. Im Gegensatz dazu soll eine digitale Repräsentation einen propositionalen Gehalt haben. Digitale Repräsentationen sind für Dretske hierbei Komplexitätsreduktionen des Gehaltes einer analogen Repräsentation, wobei allerdings nichts Neues hinzukommen soll. Die Digitalisierung soll lediglich in einer Sortierung und damit Fokussierung der bereits vorhandenen Informationen bestehen. Dretske verdeutlicht den Prozess der Komplexitätsreduktion via digitaler Kodierung anhand eines einfachen Modells; dem Modell eines Analog-Digital-Konverters. Dretskes Beispiel eines solchen Modells ist ein Tacho, der die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs von 0 bis 100 in 10erSchritten durch ein Geräusch angibt. Bei jeder Anwendung dieser Funktion geht Information verloren, etwa dass das Fahrzeug 43 km/h schnell ist. Denn das System ignoriert den Unterschied zwischen 40 und 43 km/h. Mit anderen Worten: Durch eine Komplexitätsreduktion werden die analogen Informationen auf zehn Einheiten digital reduziert. Nach diesem Modell 236 237
Dretske 1999, S. 143. Dretske 1999, S. 138.
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versucht Dretske das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Kognition, respektive perzeptivem Wissen, zu beschreiben. Perception is a process by means of which information is delivered within a richer matrix of information (hence in analog form) to the cognitive centres for their selective use. Seeing, hearing, and smelling are different ways we have of getting information about s to a digital-conversion unit whose function it is to extract pertinent information from the sensory representation for purposes of modifying output. It is the successful conversion of information into [...] digital form that constitutes the essence of cognitive activity. If the information that s is F is never converted from a sensory (analog) to a cognitive (digital) form, the system in question has, perhaps, seen, heard, or smelled an s which is F, but it has not seen that it is F – does not know that it is F.238
Die Wahrnehmung entspricht für Dretske demnach einer analogen, und daher nicht-begrifflichen, Form der Repräsentation, während das perzeptive Wissen einer digitalen Repräsentation der so erhaltenen Informationen entspricht. Dass die Wahrnehmung ein solches analoges Muster hat, wird von Dretske nicht eigens begründet. Er verlässt sich auf die These, dass die Wahrnehmung, analog zu einem Bild, einen zu reichhaltigen Gehalt hat, um in einer endlichen Menge von Propositionen ausgedrückt zu werden.239 Diese These möchte ich hier als die These der Überbestimmtheit der Wahrnehmung bezeichnen. Überbestimmtheit der Wahrnehmung: Der Gehalt der Wahrnehmung ist in den meisten Fällen zu reichhaltig und fein differenziert, um in einer endlichen Menge von Propositionen ausgedrückt zu werden. Dretske scheint die These der Überbestimmtheit der Wahrnehmung entweder als intuitiv-einsichtig vorauszusetzen, oder er macht, was ich für wahrscheinlicher halte, kognitionswissenschaftliche Hintergrundannahmen. Wahrscheinlich würde Dretske an dieser Stelle auf kritische Fragen mit dem Hinweis reagieren, dass man mittels bildgebender Verfahren zeigen 238
Dretske 1999, S. 142. Wie bei Bildern so gilt diese These der Reichhaltigkeit auch bei der Wahrnehmung nicht universell, sondern nur in sehr vielen Fällen. Ich spreche hier aber der Einfachheit halber davon, dass der Gehalt der Wahrnehmung allgemein zu reichhaltig ist, um begrifflich zu sein.
239
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kann, dass zu viele neurologische Prozesse gleichzeitig ablaufen, um von einer bewussten Aufnahme zu sprechen. Wir können Dretske die These m. E. zumindest in der Hinsicht zugestehen, dass wir tatsächlich immer mehr wahrnehmen, als uns unmittelbar bewusst ist. Ob daraus wirklich folgt, dass der Gehalt der Wahrnehmung nicht-begrifflich ist, ist ein kritischer Punkt, den ich hier aber zunächst nicht vertiefen möchte. Gestehen wir hier Dretske zunächst seine These zu, dass die Wahrnehmung einen analogen und daher nicht-begrifflichen Gehalt hat. Wie stellt sich Dretske den Übergang von der nicht-begrifflichen Wahrnehmung zum begrifflichen perzeptiven Wissen vor? Die Antwort lautet, dass begriffliche Operationen auf den analogen Gehalt angewendet werden, wodurch eine digitale Repräsentation entstehen soll. Gemeint ist eine Klassifikations- bzw. Ordnungsleistung der analog erworbenen Informationen. Einen Begriff zu beherrschen, bedeutet hierbei für Dretske nicht, wie etwa für Sellars, dass man in eine Sprache eingeführt worden ist. Dretske will auch zumindest manchen Tieren und Kindern im vorsprachlichen Alter Wissen zusprechen. Dretske ist hierbei leider nicht sehr explizit hinsichtlich seines Begriffs des Begriffs. In folgender Stelle wird aber deutlich, dass er nicht nur sprachbegabten Wesen Begriffe zusprechen möchte. Cognitive activity is the conceptual mobilization of incoming information, and this conceptual treatment is fundamentally a matter of ignoring differences […] of going from the concrete to the abstract, of passing from the particular to the general. It is, in short, a matter of making the analog-digital transformation.240
Die begriffliche Leistung würde demnach darin bestehen, aus der unüberschaubar großen Menge an Informationen bestimmte Informationen zu selektieren und damit zu unterscheiden. Dies ist eine nicht ganz unproblematische Bestimmung des Begriffs des Begriffs, weil auf diese Weise nicht nur erwachsenen Menschen und komplexeren Säugetieren begriffliche Kapazitäten zugesprochen werden müssen, sondern etwa auch Thermometern und Amöben. Schließlich kann auch ein Thermometer verschiedene Grade an Temperatur unterscheiden und eine Amöbe kann etwa ein Pantoffeltierchen von einem Rußpartikel unterscheiden. Dretske schränkt, wie wir im nächsten Abschnitt noch genauer sehen werden, die Klasse der kognitiv begabten Wesen willkürlich dadurch ein, indem er nur Organismen als 240
Dretske 1999, S. 142.
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kognitiv begabt bezeichnet, die sich einer neuen Umgebung anpassen können. Rückblickend kann man festhalten, dass Informationen für Dretske Ereignisse der physikalischen Welt sind, die in verschiedener Weise repräsentiert werden können. Organismen können diese Informationen in verschiedener Weise repräsentieren, nämlich analog oder digital. Analoge Repräsentationen sind prä-kognitive Momentaufnahmen; d. h. Produkte von Kausalketten, die daher im Kausalnexus der Natur stehen. Digitale Repräsentationen sind wiederum klassifikatorische Leistungen, mit denen die unüberschaubare Vielfalt des sinnlich Gegebenen sortiert wird. Allerdings kann für Dretske nur digitalisiert werden, was bereits analog vorhanden ist. Es sind die gleichen Informationen, die analog oder digital kodiert werden können. Man kann farbliche Feinabstufungen analog wahrnehmen, oder man kann sie digital, d. h. begrifflich-kognitiv, erfassen. Dretskes Begriff der Wahrnehmung hat eine entscheidende epistemologische Konsequenz. Wahrnehmungen sind nämlich in Abhängigkeit von Informationen definiert, was Dretske auf die These festlegt, dass Wahrnehmungen die Welt nicht nur reliabel, sondern veridisch, respektive infallibel, repräsentieren. Wahrnehmen, dass p impliziert für Dretske also, dass p der Fall ist. Fehlrepräsentationen werden von ihm dagegen nicht als Wahrnehmungen bezeichnet. 4.3 Dretske über perzeptives Wissen Dretske schließt zwar nicht aus, dass es im traditionellen Verständnis gerechtfertigte Überzeugungen gibt. Allerdings hält er den Begriff der Rechtfertigung für keinen epistemischen Grundbegriff, d. h. für einen Begriff, der notwendig zur Analyse des Wissensbegriffs wäre.241 Dretske schlägt dagegen eine informationstheoretische Wissensanalyse vor. Diese sieht folgendermaßen aus: A weiß, dass s F ist gdw. A’s Überzeugung, dass s F ist durch die Information, dass s F ist, verursacht wird. 241
Dretske vertritt selbst einen Rechtfertigungsinternalismus (Vgl. den Appendix zu dieser Arbeit).
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Zu dieser Definition ist zunächst zu bemerken, dass Dretske eine kausale Analyse sowohl des Wissens als auch der Wahrnehmung ablehnt.242 Es gibt aber auch einen wesentlichen Unterschied zu einer reliabilistischen Konzeption des perzeptiven Wissens: Dretskes Informationsbegriff ist infallibilistischer Natur. Wenn ich eine Information habe, dass p, dann gilt für Dretske auch p. Allerdings gilt noch nicht, dass ich auch weiß, dass p. Wir müssen hier zunächst noch klären, wie sich Dretske etwa ein Wissen, dass ein Hund bellt vor dem Hintergrund einer Information, dass ein Hund bellt, vorstellt. Im Zentrum von Dretskes Überlegungen steht der bereits angesprochene Unterschied zwischen den Arten, wie Informationen kodiert werden. Er schreibt hierzu wenig überraschend: I […] wish to develop the idea that the difference between our perceptual experience, the experience that constitutes our seeing and hearing things, and the knowledge (or belief) that is normally consequent upon that experience, is fundamentally, a coding difference.243
Das begriffliche Wissen ist für Dretske, wie gesagt, das Produkt einer Komplexitätsreduktion nach dem Modell des Analog-Digital-Konverters, was im Wesentlichen ein Modell zur Beschreibung der Umwandlung analoger in digitale Kodierung ist, wobei allerdings die gleichen Informationen in verschiedener Weise kodiert werden. Die analoge Repräsentation enthält für Dretske bereits alle Möglichkeiten zur digitalen Repräsentation. Es wurde bereits erwähnt, dass er dies durch das Verhältnis von Bild und Aussage über einen Sachverhalt illustriert. Allerdings möchte Dretske keinen plumpen Naturalismus in der Hinsicht vertreten, die manchmal auch als Thermometer-Konzeption des Geistes beschrieben wird.244 Denn, so Dretske, „[…] living systems (most of them anyhow) are capable of modifying their digital-conversion units.”245 Und für manche lebende Organis-
242
Etwa auf S. 156ff., wo Dretske die üblichen Argumente aus der kausalen Überdetermination bemüht und seinen informationstheoretischen Ansatz gegen eine kausale Analyse der Wahrnehmung abgrenzt. 243 Dretske 1999, S. 143. 244 Vgl. die Armstrong-Darstellung in Kapitel I dieser Arbeit. 245 Dretske 1999, S. 143.
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men gilt Dretske zufolge eben, dass sie ihre begrifflichen Systeme an die Umwelt anpassen. Similarly, learning a concept is a process in which there is a more or less permanent modification of a system’s ability to extract analogically coded information from the sensory store. What the simple mechanical system already described lacks is the capacity to change its response characteristics so as to exploit more, or different, pieces of information embodied in the speedometer’s registration. It cannot learn.246
Eine Maschine kann im Gegensatz zu einem Kind, so Dretskes Beispiel, nicht lernen, seine kognitiven Funktionen durch den Erwerb neuer Begriffe zu modifizieren. Er schlägt zunächst vor, sich ein Kind vorzustellen, welches bereits über ein funktionierendes perzeptives System und primitive sprachliche Fähigkeiten verfügt.247 Es kann bereits die Information wahrnehmen, dass sich bestimmte Gegenstände um es herum befinden, auch wenn es diese Gegenstände noch nicht begrifflich erfassen kann. D. h. es kann analog kodierte Informationen aufnehmen. Dretske wirft nun die Frage auf, was geschieht, wenn das Kind lernt, diese Informationen digital zu kodieren. Seine Antwort lautet, dass das Kind auf diese Weise ein Bewusstsein darüber bekommt, was für Gegenstände es umgeben. Dretskes Beispiel ist das Wahrnehmen einer Narzisse. Bevor das Kind über den Begriff ‚Narzisse’ verfügt, nimmt es zwar eine Narzisse wahr, es ist sich aber nicht bewusst darüber. Für ein begriffliches Wissen, respektive ein Bewusstsein, über eine Narzisse benötigt das Kind Dretske zufolge nicht mehr Informationen, sondern einen qualitativ anderen Zugang zu dieser Information, dass sich vor ihm eine Narzisse befindet; nämlich eine digitale Kodierung. What the child needs is not more information about the daffodil but a change in the way she codes the information she has been getting all along. Until this information (vis., that they are daffodils) is recorded in digital form, the child sees daffodils but neither knows nor believes that they are daffodils.248
Was das Kind durch den Begriff ‚Narzisse’ lernt, ist ein kognitiver Bezug auf eine Information, die auch ohne es bereits da ist. Der Begriff soll lediglich die Aufgabe erfüllen, Narzissen von allen anderen Dingen zu unter246
Dretske 1999, S. 144. Dretske 1999, S. 144. 248 Dretske 1999, S. 144. 247
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scheiden. D. h. wenn das Kind die digital kodierte Information hat, dass es eine Narzisse sieht, dann weiß es auch, dass es eine Narzisse sieht, und nicht etwa ein zu groß geratenes Gänseblümchen. Der Grund hierfür ist einfach, dass Informationen veridisch sind. Wenn eine Information analog und schließlich digital kodiert wird, führt sie somit automatisch zu Wissen über die Welt. Dretske legt demnach eine radikal externalistische Konzeption des perzeptiven Wissens vor. Es gibt für Dretske keine logische Beziehung zwischen Wahrnehmungen und Überzeugungen über die Welt. Vielmehr handelt es sich für ihn um einen kognitiven Prozess, der naturalistisch beschrieben werden kann. Die Wahrnehmung trägt für Dretske nicht zur Rechtfertigung des perzeptiven Wissens bei, weil Wissen für ihn überhaupt nicht von einer Rechtfertigung abhängt. Es ist daher falsch, Dretskes Position als fundamentalistisch, zumindest im üblichen Sinn, zu verstehen. Für Dretske kann jedes ‚Wesen’ perzeptives Wissen über die Welt erlangen, welches in der Lage ist, Informationen digital zu repräsentieren und sein kognitives System an die Umwelt anzupassen. 4.4 Kritik an Dretskes Konzeption des perzeptiven Wissens Dretskes naturalistische Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes ist von vielen Seiten intensiv kritisiert worden. Manche Autoren setzen bei Dretskes Informationsbegriff an, indem sie darauf hinweisen, dass Informationen im Dretskeschen Sinn, d. h. infallible Informationen, in der Natur so gut wie nie vorkommen. Andere Autoren spielen auf das Problem der Fehlrepräsentation an, indem sie die Frage aufwerfen, wie solche Fehlrepräsentationen in Dretskes Rahmen erklärt werden können. Ich möchte hier zwei Kritikpunkte vorbringen, die stärker mit dem Fokus dieser Arbeit korrelieren. Zuerst werde ich auf ein grundsätzliches Problem in Dretskes Modell hinweisen. Anschließend werde ich vor dem Hintergrund von Dretskes Überlegungen einen generellen Zweifel an der Möglichkeit einer non-konzeptualistischen Konzeption des perzeptiven Wissens formulieren. (a) Eine digitale Repräsentation findet für Dretske in dem Sinn auf der Basis der analogen Repräsentation statt, dass nichts digital repräsentiert werden kann, was nicht bereits analog verfügbar ist. Eine digitale Repräsentation soll eine Komplexitätsreduktion der Menge an Informationen darstel165
len, die bereits analog zur Verfügung stehen. Auf diese Weise soll in dem Sinn perzeptives Wissen möglich werden, dass ein Organismus etwas als etwas erkennt. Hier kann man nun einige Probleme formulieren, auf die Dretske m. E. keine Antwort gibt. Erstens nimmt Dretske in seinem ontologischen Rahmen Ereignisse und Objekte aber keine Sachverhalte an. D. h., dass die Eigenschaften, als abstrakte Entitäten, noch nicht auf der Ebene der analogen Repräsentation vorhanden sein können. Von Eigenschaften dürfte Dretske genau genommen erst auf der Ebene der digitalen Repräsentation sprechen, weil erst digitale Repräsentationen einen propositionalen Gehalt haben. Dies wirft natürlich die Frage auf, wie wir von einer Wahrnehmung von Einzelnem zu einem Wissen über abstrakte Sachverhalte kommen. Auf diesen Einwand könnte Dretske freilich damit reagieren, dass er seinen ontologischen Bezugsrahmen um Tatsachen erweitert. Informationen wären dann bereits Informationen über Sachverhalte in der Welt. Dann würde die Digitalisierung lediglich darin bestehen, aufgrund der Komplexitätsreduktion zu sehen, was ohnehin bereits vorhanden ist. Zweitens würde sich dann aber die Frage stellen, wie Dretske das Verhältnis zwischen Begriffen und Eigenschaften bestimmt. Begriffe sind für Dretske Funktionen, die Objekte und Eigenschaften einander zuordnen. Diese kognitive Funktion schreibt er zumindest allen höher entwickelten Säugetieren zu. Gestehen wir Dretske diesen Punkt zunächst einmal zu. Dann hat er zumindest gezeigt, dass höher entwickelte Säugetiere auf der Basis der Wahrnehmung zu Überzeugungen und damit auch zu perzeptivem Wissen über die Welt kommen können. Worin besteht dieses Wissen für Dretske? Es besteht darin, dass Dinge von anderen Dingen unterschieden werden können. Nun gibt es aber einen wichtigen Unterschied zwischen sprachbegabten und nicht-sprachbegabten Tieren. Erstere können ihr perzeptives Wissen nämlich für weitere Schlussfolgerungen gebrauchen. Dies setzt aber voraus, dass man weiß, wie die Begriffe logisch miteinander zusammenhängen. Dretske hat nur gezeigt, wie man von der Wahrnehmung zu einem perzeptiven Wissen kommt, welches einen sehr rudimentären begrifflichen Gehalt hat; sofern man bloßes Unterscheiden schon als begriffliche Tätigkeit bezeichnen möchte. Aber selbst wenn wir Dretske gegenüber zugeben, dass Menschen und Tiere einen solchen rudimentären Aspekt begrifflichen Denkens teilen, so ist noch nichts darüber gesagt, wie dieser mit der Art begrifflichen Denkens korreliert, die wir normalerweise 166
meinen, nämlich deduktive und induktive Schlussfolgerungen. Etwas plakativer kann man diesen Punkt folgendermaßen fassen: Dretske kann den Übergang von einer Wahrnehmung mit nicht-begrifflichem Gehalt zum begrifflichen perzeptiven Wissen nur erklären, weil er einen unplausibel rudimentären Begriff des Begriffs verwendet. Dretske erklärt daher auch nicht, wie unser in unserer Alltagspraxis relevantes perzeptives Wissen von der Wahrnehmung abhängt. (b) Dieses Ergebnis kann man auf non-konzeptualistische Konzeptionen der Wahrnehmung im Allgemeinen übertragen. Ich möchte den NonKonzeptualisten zunächst in einem Punkt Recht geben: Die in Abschnitt 1 dargestellten Argumente sind m. E. nur schwer zu widerlegen. Allerdings zeigen die überzeugenden dieser Argumente – das Diskriminierungsargument und das Überbestimmtheitsargument – lediglich, dass die Wahrnehmung auch einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. Diese Argumente schließen nicht aus, dass wir Dinge auch begrifflich wahrnehmen. Bleiben wir aber zunächst bei der Wahrnehmung mit einem nicht-begrifflichen Gehalt. Der Non-Konzeptualist will zeigen, dass es einen direkten Weg von den Tatsachen der Welt in unser doxastisches System gibt; und dieser Weg soll über die Wahrnehmung verlaufen. Wenn wir aber einen einigermaßen anspruchsvollen Begriff des perzeptiven Wissens mit einer logischen Dimension annehmen, dann ist unklar, wie dieser Weg zu einem perzeptiven Wissen führen kann. Denn der Gehalt der Wahrnehmung kann, nichtbegrifflich verstanden, keine logische Form haben. Dies ist m. E. ein Grundproblem aller non-konzeptualistischen Ansätze. Wir können dem Non-Konzeptualisten sogar seinen gewünschten Begriff der Wahrnehmung zugestehen; epistemisch fruchtbar machen, kann er ihn nicht. Dies ist die wesentliche Einsicht, die wir aus McDowells epistemischem Argument gegen den Non-Konzeptualismus lernen können.
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5 Der Non-Konzeptualismus und das Problem des perzeptiven Wissens Dem Non-Konzeptualisten wurde bereits die These zugestanden, dass die Wahrnehmung einen nicht begrifflichen Gehalt hat. Dann wurde argumentiert, dass solche nicht-begrifflichen Gehalte nicht für eine Rechtfertigung des propositionalen perzeptiven Wissens hinreichen. Am Beispiel von Peacocke wurde auf die Probleme hingewiesen, mit denen man bei dem Versuch konfrontiert ist, nicht-begriffliche Gehalte als Gründe zu konzipieren. Peacocke möchte mit seiner dualen Konzeption nicht-begrifflicher Gehalte aus Protopropositionen und Szenario-Gehalten zeigen, dass die Wahrnehmung gleichzeitig die Tatsachen der Welt nichtbegrifflich repräsentieren und Überzeugungen epistemisch rechtfertigen kann. Ich habe mich dann McDowell in seinem epistemischen Argument gegen Peacocke angeschlossen, weil dieses Argument m. E. überzeugend begründet, dass diesen nicht-begrifflichen Gehalten die nötige logische Form zur Begründung von propositionalem Wissen fehlt. Dann wurde Dretskes Konzeption des perzeptiven Wissens dargestellt, die nicht in diese Probleme führt, weil sie ohne den Begriff der epistemischen Rechtfertigung auszukommen versucht. Dretskes informationstheoretischer Ansatz ist insofern ein sehr radikaler Versuch der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens, weil er den Begriff der Rechtfertigung aufgibt. Man kann Dretske sicher zugestehen, dass das Problem des perzeptiven Wissens in seiner Konzeption nicht auftaucht. Allerdings ist dies nur der Fall, weil Dretske überhaupt nicht über die Fälle von Wissen spricht, bei denen dieses Problem auftauchen kann. Dretskes Wissensbegriff ist gewissermaßen inflationär und erlaubt Unterscheidungen nicht mehr, die wir für unsere epistemische Praxis benötigen. Das Fazit zu den non-konzeptualistischen Konzeptionen, soweit sie hier dargestellt wurden, lautet daher, dass sie das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen können.
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6 Konzeptualismus und perzeptives Wissen bei John McDowell 6.1 McDowells Dilemma McDowell gilt als der einflussreichste Vertreter des Konzeptualismus – also der These, dass die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat. In diesem Abschnitt soll der Konzeptualismus als epistemische Position daher vor dem Hintergrund seiner Überlegungen entwickelt werden. McDowell zählt wie Sellars zu den Philosophen, die erkenntnistheoretische Probleme vor dem Hintergrund semantischer und bewusstseinsphilosophischer Überlegungen entwickeln. Insbesondere in Mind and World geht es um die allgemeine Frage nach dem Verhältnis unserer Gedanken zur physikalischen Welt. Das Thema dieser Arbeit – das Problem des perzeptiven Wissens – stellt sich aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive auf diese Frage. Zunächst einmal ist eine These zu beachten, die ich hier als McDowells Dilemma bezeichnen möchte und nach der die zeitgenössische Erkenntnistheorie in einem Dilemma steckt. Das eine Horn des Dilemmas bilden die neo-empiristischen, fundamentalistischen und non-konzeptualistischen, Konzeptionen, die für McDowell das perzeptive Wissen auf Kosten einer rationalen Relation zwischen Wahrnehmung und begrifflichem Wissen erklären und somit unter den Mythos des Gegebenen fallen. Das andere Horn machen die Kohärenztheorien aus, welche die Begrifflichkeit des perzeptiven Wissens auf Kosten der Beziehung begrifflicher, doxastischer Systeme zu einer objektiven und wahrnehmbaren Welt betonen. McDowells Dilemma lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen: McDowells Dilemma (1) Wir vertreten eine epistemische Kohärenztheorie und können den Einfluss der Wahrnehmung auf das perzeptive Wissen nicht erklären. (2) Wir vertreten eine fundamentalistische oder non-konzeptualistische Konzeption und verlieren die begrifflichen Ressourcen für eine Erklärung des perzeptiven Wissens. 169
Die Folie für das Dilemma wird durch zwei verschiedene Ansprüche gebildet, die wir an den Begriff des perzeptiven Wissens herantragen. Zum einen soll das perzeptive Wissen zum Bereich des Begrifflichen gehören; zum anderen soll es intentional auf eine Welt bezogen sein, die unabhängig von unseren Gedanken existiert, so dass diese Welt einen objektiven Einfluss auf unser Denken haben kann.249 Die fundamentalistischen epistemischen Konzeptionen verdanken ihre große Attraktivität der von ihnen angenommenen epistemischen Hierarchie, bei der perzeptive Überzeugungen das Fundament bilden und auf diese Weise das doxastische System an die physikalische Welt ‚anbinden’ sollen. Sellars hat mit seiner Kritik am Mythos des Gegebenen zumindest gezeigt, was für große Probleme es dabei gibt, eine fundamentalistische Position konsistent zu entwickeln. Dieses Ergebnis ist zunächst einmal Wasser auf die Mühlen der epistemischen Kohärenztheorie, die zumindest prima facie eine Stärkung durch Sellars’ Kritik am Fundamentalismus erfährt. Allerdings wurde auf die Probleme der Kohärenztheorie bereits in Kapitel I hingewiesen. Ein intern kohärentes System von Überzeugungen muss nicht zur Wahrheitsleitung seiner Überzeugungen beitragen. McDowell schreibt mit Blick auf Kant, dass die Kohärentisten “represent the operations of spontaneity as a frictionless spinning in the void.“250 Diese vermeintliche Reibungslosigkeit der Überzeugungen mit der Realität führt, so McDowell, dazu, dass die Idee einer nicht-begrifflichen Gegebenheit von Gehalten wieder attraktiv wird. Denn so McDowell, „[t]he Given seems to supply that external control.“251 Viele zeitgenössische Erkenntnistheoretiker fallen daher nach McDowell zurück in die Idee, dass es einen externen, nicht-begrifflichen Einfluss auf unsere Gedanken geben muss. „The recoil to the Given […] is a natural response […] to the coherence theory […].”252 Gemeint sind die NonKonzeptualisten, die in den nicht-begrifflichen Gehalten nach dem vermeintlichen externen Einfluss auf unser Denken suchen. Ich kam bereits zu
249
Das perzeptive Wissen betrachte ich hier, wie in der ganzen Arbeit, als eine Subspezies der Gedanken. 250 McDowell 1996, S. 11. 251 McDowell 1996, S. 11. 252 McDowell 1996, S. 15.
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einer skeptischen Prognose für die Möglichkeit einer konsistenten Entwicklung einer solchen Position. McDowell meint, dass dieses Ergebnis die Kohärenztheorien wieder attraktiv machen könnte. Sein Dilemma hat somit eine dynamische Struktur; er spricht daher auch von einem Oszillieren zwischen der Idee der Gegebenheit und den Kohärenztheorien.253 McDowells eigener Vorschlag zur Überwindung des Dilemmas ist therapeutischer Natur. D. h. er gibt einige der Annahmen auf, die sowohl Kohärentisten als auch NonKonzeptualisten teilen und rechtfertigt dies damit, dass seine Konzeption das vitiöse Oszillieren beendet und damit aus dem Dilemma führt. Bevor McDowells Position weiter dargestellt wird, soll zunächst noch etwas genauer auf die beiden Hörner des Dilemmas eingegangen werden. Es wurden bereits einige schwerwiegende Argumente gegen die epistemische Kohärenztheorie und den Non-Konzeptualismus, als epistemische Position, vorgebracht. Um McDowells Position verständlich zu machen, wird hier noch auf einige seiner spezifischen Bedenken gegen diese Konzeptionen eingegangen. Wenn wir McDowell in seinen Überlegungen folgen, müssen wir zugestehen, dass die zeitgenössische Erkenntnistheorie in einer Sackgasse steckt. Dieses Ergebnis wiederum ist notwendig, um McDowells eigenen, therapeutischen Ansatz zu verstehen, der dann später in diesem Kapitel dargestellt wird. McDowells ‚Therapie’ besteht darin, einen alternativen begrifflichen Rahmen vorzuschlagen, in dem sich das Problem des perzeptiven Wissens nicht als Problem darstellt. 6.2 Das erste Horn des Dilemmas: Die Kohärenztheorie In der ersten Vorlesung aus Mind and World setzt sich McDowell mit Davidsons Überlegungen aus dessen Aufsätzen „On the Very Idea of a Conceptual Scheme“ und „A Coherence Theory of Truth and Knowledge“ auseinander.254 Davidson kritisiert den vermeintlichen Dualismus zwischen 253
Etwa in McDowell 1996, S. 9. Davidson, 1974 und 1983. Auf McDowells Davidson-Kritik gehe ich hier nur kurz ein, indem ich die Punkte erörtere, die wichtig für die Entwicklung seiner Position sind. Zur generellen These dieser Arbeit, dass die epistemische Kohärenztheorie das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen kann, fügt diese Erörterung nichts mehr hinzu.
254
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Gehalt und Gedanken als ein drittes Dogma des Empirismus. Um was für einen Dualismus handelt es sich? Nun, Gedanken – so wie Davidson diesen Begriff hier versteht – sollen eine begriffliche Form haben. Diese Annahme provoziert sogleich zwei Probleme. Auf das erste Problem weist McDowell selbst hin: The space of concepts is at least part of what Wilfrid Sellars calls „the space of reasons“. […] Rational necessitation is not just compatible with freedom but constitutive of it. In a slogan, the space of reasons is the realm of freedom. But if our freedom in empirical thinking is total, in particular if it is not constrained from outside the conceptual sphere that can seem to threaten the very possibility that judgements of experience might be grounded in a way that relates them to a reality external to thought.255
McDowell bezieht sich hier auf ein bestimmtes Verständnis von Begriffen, nach dem begriffliche Kapazitäten frei angewendet werden. Wenn wir jedoch in der Anwendung unserer Begriffe völlig frei wären, so McDowells Formulierung des Problems, dann bestünde die Gefahr, dass unsere Begriffe nicht mit einer Realität in Verbindung stehen, die außerhalb unserer Gedanken vorhanden ist. Es gibt noch ein zweites Problem, das McDowell nicht explizit anspricht, das aber eng mit dem eben angesprochenen Problem korreliert. Begriffe beziehen sich auf abstrakte Gegenstände wie Eigenschaften. Wenn wir wollen, dass unsere Gedanken von einer denkunabhängigen Realität handeln, dann scheinen diese Gedanken sich auf Objekte beziehen zu müssen, die selbst nicht die Form von Gedanken haben. Bleiben wir hier jedoch aus Darstellungsgründen bei dem ersten, von McDowell angesprochenen Problem. Die Anwendung von Begriffen soll nicht, so McDowell „[…] degenerate into moves in a self-contained game.“256 Wir wollen insbesondere bei unseren empirischen Begriffen, dass diese eine Entsprechung in der Welt haben und nicht wie Spielregeln reine Kulturprodukte, respektive sprachliche Konstrukte, sind. Ein gutes Beispiel sind Begriffe für natürliche Arten. Betrachten wir etwa den Begriff ‚Walfisch’. Dieser Begriff hat keine Entsprechung in der Wirklichkeit, weil Wale keine Fische sind. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Begriff ‚Wal’ auf eine Klasse der Säugetiere, die im Wasser leben. Dass der Begriff ‚Wal255 256
McDowell 1996, S. 5. McDowell 1996, S. 5.
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fisch’ falsch, der Begriff ‚Wal’ dagegen richtig ist, ist keine Konstruktion, sondern der Tatsache geschuldet, dass Wale keine Fische sind. In diesem Sinn will McDowell sagen, dass der Gebrauch von Begriffen von den Tatsachen abhängt. Wenn man die Semantik von Begriffen unabhängig von deren Entsprechung in der physikalischen Welt versteht, verliert man die Möglichkeit begriffliche Urteile an der Realität zu prüfen – so jedenfalls, das Bedenken, welches McDowell als eines der Hauptmotive der Philosophie des Geistes seit der Neuzeit ansieht. Der Dualismus zwischen Begriffen (Begriffsschemata) und empirischem Gehalt ist McDowell zufolge eine Reaktion auf dieses Bedenken. Sowohl die Sinnesdatentheorien als auch die non-konzeptualistischen Theorien stehen für eine solche Reaktion. McDowell zufolge dehnen sie den Raum der Gründe über den Raum der Begriffe hinaus aus. Wir haben bereits gesehen, dass dieser Einwand nicht auf alle non-konzeptualistischen Ansätze zutrifft. Folgen wir hier aber der Einfachheit halber McDowells Darstellung der Problematik. McDowell vertritt die Position, dass nichtbegriffliche Gehalte keine Gründe sein können. Dem schließt sich auch Davidson, zumindest in McDowells Interpretation, an. Davidson thinks experience can be nothing but an extra-conceptual impact on sensibility. So he concludes that experience must be outside the space of reasons. According to Davidson, experience is causally relevant to a subject’s beliefs and judgements, but it has no bearing on their status as justified or warranted. Davidson says that “nothing can count as a reason for holding a belief except another belief”, and he means in particular that experience cannot count as a reason for holding a belief.257
In Davidsons Kohärenztheorie können nur Überzeugungen eine rechtfertigende Funktion übernehmen, weshalb die Wahrnehmung zu einem rein kausalen Einfluss auf das doxastische System ‘degradiert’ wird. Dies impliziert wiederum, so McDowell, dass wir immer im Rahmen unserer Überzeugungen bleiben. „Davidson’s picture is that we cannot get outside our beliefs.”258 Davidsons Antwort auf die Frage nach der Erdung – der Realitätsanbindung oder Wahrheitsleitung – des doxastischen Systems ist bekanntlich, dass Kohärenz bei genügend Komplexität zu Korrespondenz 257 258
McDowell 1996, S. 14. McDowell 1996, S. 16.
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im Rahmen eines Tarski-Schemas führt.259 Diese Antwort haben wir freilich bereits in Kapitel I bei der Besprechung von Bonjours Kohärenztheorie verworfen. Es gibt keine guten Gründe anzunehmen, dass Kohärenz zu Korrespondenz führt. Dieses Ergebnis erzeugt für McDowell wiederum die Dynamik, welche die non-konzeptualistischen Ansätze, respektive die Idee der Gegebenheit, attraktiv macht. Davidson recoils from the Myth of the Given all the way to denying experience any justificatory role, and the coherentist upshot is a version of the conception of spontaneity as frictionless, the very thing that makes the idea of the Given attractive.260
McDowell problematisiert Davidsons Ansatz hier folgendermaßen: Davidson vermeidet den Mythos des Gegebenen, indem er eine epistemische Kohärenztheorie annimmt, in der nur Überzeugungen eine rechtfertigende Funktion zukommen kann. Für Davidson folgt daher, im Gegensatz zu Sellars, dass die sinnliche Erfahrung keinen rechtfertigenden Einfluss auf das Denken haben kann. Die sinnliche Erfahrung soll unser Denken vielmehr in einer rein kausalen Weise beeinflussen, womit es zumindest problematisch wird, wie sich die Gedanken auf die objektive und konkrete Welt beziehen können. D. h. es bleibt offen, wie sich die abstrakten Gehalte der Gedanken an den konkreten Dingen der Welt ‚reiben’; so jedenfalls McDowells Ansicht über Davidsons Ansatz. An anderer Stelle schreibt McDowell, dass bei Davidson die Anwendung unserer begrifflichen Fähigkeiten in Urteilen über die Welt mysteriös (a mystery) bleibt.261 Die Kohärenztheorie erweist sich somit für McDowell als keine potente Antwort auf die Schwächen des epistemischen Fundamentalismus, was die Idee der Gegebenheit, in neuer Gestalt, wieder attraktiv macht. 6.3 Das zweite Horn des Dilemmas: McDowells epistemisches Argument gegen den Non-Konzeptualismus McDowells Argument gegen den Non-Konzeptualismus wurde bereits im Abschnitt über Peacocke intensiv diskutiert und braucht hier nicht mehr näher dargestellt werden. Dort konnte gezeigt werden, dass McDowells 259
Davidson 1983. McDowell 1996, S. 14. 261 McDowell 1996, S. 35. 260
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Argumente gegen die These des nicht-begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung weniger überzeugen können als sein epistemisches Argument, welches sich gegen die Annahme einer rechtfertigenden Funktion solcher Gehalte richtet. Selbst wenn wir dem Non-Konzeptualisten sein nichtbegriffliches, perzeptives Bewusstsein zugestehen, ist damit epistemisch noch nichts gewonnen. Am Beispiel Peacockes konnte gezeigt werden, in welche Probleme die These der doxastisch-direkten Rechtfertigung durch nicht-begriffliche Gehalte führt. Nicht-begriffliche Gehalte haben nicht die logische Form für eine Rechtfertigung des perzeptiven Wissens. Auch Peacockes Annahme protopropositionaler Gehalte kann hier nicht weiterhelfen, weil er die begrifflichen Kapazitäten bereits annehmen müsste, damit diese Gehalte in einer rechtfertigenden Relation zum perzeptiven Wissen stehen können. Der Ausweg könnte für den Non-Konzeptualisten in einer externalistischen, d. h. nicht auf den Begriff der epistemischen Rechtfertigung zurückgreifenden, Konzeption des Wissens liegen, wie sie etwa von Dretske vorgeschlagen wird. Allerdings ist der Preis hierfür relativ hoch: Wir verlieren die Kriterien dafür, menschliches Wissen vom Verhalten anderer Organismen abzugrenzen. Dretskes informationstheoretische Wissenskonzeption geht von einem so allgemeinen Begriff des Wissens aus, dass viele für unsere Praxis wichtigen Unterscheidungen nicht mehr möglich sind. 6.4 Fazit zu McDowells Dilemma McDowells Dilemma weist uns darauf hin, dass wir weder Kohärentisten noch Non-Konzeptualisten sein können, weil keine dieser beiden Positionen konsistent entwickelt werden kann. Ich ziehe hieraus, wie McDowell, die positive Konsequenz, dass beide Positionen nicht zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissens geeignet sind. Die Kohärenz eines Systems von Überzeugungen reicht nicht für die Wahrheitsleitung der einzelnen Überzeugungen hin. Dass ein kohärentes System von Überzeugungen bei genügend Komplexität zu seiner Korrespondenz führt, ist eine dogmatische Annahme. Non-konzeptualistische Positionen bieten allerdings ebenfalls keinen Ausweg, weil der Begriff der doxastisch-direkten Rechtfertigung auch mit nicht-begrifflichen Gehalten nicht für eine Rechtfertigung des begrifflichen Wissens hinreicht. McDowells Ausweg aus diesem Dilemma ist 175
therapeutischer Natur. Wahrnehmungen müssen, so McDowell, um Überzeugungen epistemisch rechtfertigen können, einen begrifflichen Gehalt haben. Für McDowell können allerdings Tatsachen die Gehalte mentaler Akte sein, womit er sich gegen die Kohärenztheorie wendet. 6.5 McDowell über perzeptives Wissen 6.5.1 Minimaler Empirismus McDowell bezeichnet seine eigene Position als minimalen Empirismus, womit er meint, dass die sinnliche Erfahrung das Wissen über die Welt rechtfertigen soll, sofern es sich um empirisches Wissen handeln soll. In diesem Sinn gibt er den Non-Konzeptualisten Recht. McDowell behauptet mit den Non-Konzeptualisten und gegen den Kohärentisten „[…] that experience must constitute a tribunal, mediating the way our thinking is answerable to how things are […]“262 McDowells Empirismus geht allerdings gegen die Non-Konzeptualisten von der These aus, dass die Wahrnehmung begrifflich strukturiert ist, wodurch sie unser begriffliches, perzeptives Wissen rechtfertigen können soll. The relevant conceptual capacities are drawn on in receptivity. […] It is not that they are exercised on an extra-conceptual deliverance of receptivity. We should understand what Kant calls “intuition” – experiential intake – not as a bare getting of an extra-conceptual Given, but as a kind of occurrence or state that already has conceptual content.263
McDowell legt wie Sellars eine bestimmten Kant-Lesart zugrunde, nach der die berühmte Stelle aus der Kritik der reinen Vernunft “Anschauungen ohne Begriffe sind blind”264 so verstanden werden muss, dass die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat. Diese konzeptualistische These wird von McDowell nicht weiter begründet. Er sieht sie insofern als gerechtfertigt an, dass die Wahrnehmung auf diese Weise einen Zugang zu Gründen ermöglicht. Offensichtlich ist dies aber noch zu wenig dafür, was McDowell von einem minimalen Empirismus verlangt. Wenn man Wahrnehmungen etwa wie Sellars als Protoüberzeugungen versteht, hat man den 262
McDowell 1996, Introduction xii. McDowell 1996, S. 9. 264 Kant (1998), B75, A51. 263
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Bereich des Kognitiven streng vom Bereich des Naturkausalen unterschieden. Wahrnehmungen repräsentieren die Welt dann zwar begrifflich und können so Gründe liefern. Dennoch steht weiter die Frage im Raum, wie die Gründe auf eine objektive Realität verweisen können. Eine kohärentistische Interpretation des Kant-Zitates wird daher von McDowell abgelehnt. Sein Vorschlag zur Überwindung des Dilemmas des Oszillierens zwischen Kohärentismus und Fundamentalismus ist therapeutischer Natur und besteht darin, die Trennung zwischen Gründen und Tatsachen – zwischen Geist und Welt – aufzugeben. Er übernimmt hierbei Wittgensteins These aus dem Tractatus einer Isomorphie zwischen sinnvollen Sätzen und Tatsachen und adaptiert sie an sein Modell von Gründen. Hierbei vertritt er die sehr kontroverse These der begrifflichen Unbegrenztheit, die im nächsten Abschnitt dargestellt wird. Anschließend wird auf McDowells disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung und deren epistemologische Konsequenzen für das Problem des perzeptiven Wissens eingegangen. 6.5.2 Begriffliche Unbegrenztheit In der zweiten Vorlesung aus Mind and World macht McDowell zunächst folgenden Vorschlag für eine Lösung des von ihm aufgeworfenen Dilemmas: “[…] that in order to escape the oscillation, we need to recognize that experiences themselves are states or occurrences that inextricably combine receptivity and spontaneity.”265
Wir können dem Oszillieren zwischen Fundamentalismus (Mythos des Gegebenen) und Kohärentismus entkommen, so McDowell, wenn wir Wahrnehmung (receptivity) und begriffliches Denken (spontaneity) miteinander kombinieren. Dies klingt prima facie nach Sellars’ Antwort aus EPM. Wie sich McDowell von Sellars abgrenzt, wird in seinem ein Jahr nach Mind and World publizierten Aufsatz „Knowledge and the Internal“ deutlich. Ich werde im Folgenden zuerst McDowells Sellars-Kritik aus diesem Aufsatz darstellen und anschließend auf die These der begrifflichen Unbegrenztheit zurückkommen.
265
McDowell 1996, S. 24.
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6.5.2.1 McDowells Rekategorisierung von Sellars’ logischem Raum der Gründe Sellars’ kategoriale Unterscheidung des logischen Raums der Gründe vom Raum der Natur bezeichnet McDowell in „Knowledge and the Internal“ auch als Deformation, die darin läge, dass Begründungen als diskursive, d. h. linguistische bzw. normative, Gegenstände angenommen werden – als etwas, was die Person unabhängig von den Tatsachen der Welt tut. Begründungen sind für Sellars Handlungen, respektive Sprachhandlungen, während Tatsachen im Kausalnexus der Natur stehen sollen. McDowell wirft Sellars, dem Descartes-Kritiker, also einen Rest-Cartesianismus vor, indem er ihn als internalistischen epistemischen Kohärentisten liest. Er macht daher die bekannte Problematik einer internalistischen Konzeption von Rechtfertigung bei Sellars aus. The deformation is an interiorization of the space of reasons, a withdrawal of it from the external world. This happens when we suppose we ought to be able to achieve flawless standings in the space of reasons by our won unaided resources, without needing the world to do us any favours.266
Für Sellars sind Begründungen diskursive Gegenstände, die ihre Geltung relativ zu den Regeln einer Sprechergemeinschaft erhalten. In diesem Sinn sind Begründungen zwar einerseits ‚öffentliche’ Gegenstände. Sie sind aber andererseits für Sellars erst Begründungen, wenn sie Gegenstände autonomer und in diesem Sinn interner Handlungsweisen eines epistemischen Subjektes sind. In Kapitel I habe ich darauf hingewiesen, dass Sellars nicht klärt, wie das Sprachspiel des Begründens von den physikalischen Tatsachen der Welt abhängt. Sellars eigene Verwendung von reliabilistischem Vokabular kann über diese Schwäche nicht hinwegtäuschen. McDowell wirft Sellars in der eben zitierten Stelle nun vor, dass in dessen Konzeption epistemischer Rechtfertigung die Normativität des logischen Raums der Gründe keine Entsprechung im Raum der Natur – in der deskriptiv erfassbaren Welt – hat. Das Bedenken McDowells lässt sich folgendermaßen formulieren: Wenn wir zugestehen, dass das Sprachspiel des Begründens unabhängig von den kausalen Naturvorgängen abläuft, dann verlieren die 266
McDowell 1998a, S. 396.
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Gründe ihren Bezug zur Welt. Umso mehr wir die Autonomie des Begründens gegenüber den Zwängen der Natur betonen, desto mehr, so McDowell in Mind and World „[…] we risk losing our grip on how exercises of concepts can constitute warranted judgements about the world.“267 Die Folge ist nach McDowell, dass die Regeln des Begriffsgebrauchs nicht notwendig auf die Welt bezogen sind. If we conceive what we want to think of as the space of concepts, the realm of thought, in a way that alienates it so radically from the merely material that we seem to be faced with those familiar modern problems of reconciling the subjective with the objective, we undermine our right to think of it as the realm of thought at all. When we set it off so radically from the objective world, we lose our right to think of moves within the space we are picturing as content-involving. So we stop being able to picture it as the space of concepts. Everything goes dark in the interior as we picture it.268
McDowell behauptet hier: wenn wir die Autonomie des Begründens so stark verstehen, dass sie unabhängig von der physikalischen Welt ist, dann wird die Begründung von Überzeugungen zu sehr im Bereich des Subjektiven verortet, so dass der Bezug zur objektiven Welt problematisch wird. Mit Blick auf Wittgensteins berühmte Bemerkung aus Über Gewissheit, nach der wir nur durch die Gnade der Natur überhaupt etwas wissen, versucht McDowell, sowohl, was die Wahrnehmung als auch die anderen mentalen Zustände betrifft, eine gehaltsexternalistische Konzeption von Gründen plausibel zu machen. McDowell schlägt hierbei eine Rekategorisierung innerhalb von Sellars’ Bild des logischen Raums der Gründe vor. Die auf diese Weise entstehende Konzeption bezeichnet er als HybridKonzeption (hybrid approach) des Wissens.269 Die Hybridkonzeption soll darin bestehen, den logischen Raum der Gründe um ein reliabilistisches Moment anzureichern. Am reinen Reliabilismus kritisiert McDowell, wie Sellars auch, dass das Wissen vom logischen Raum der Gründe in einer Weise getrennt wird, die auch normal funktionierende Thermometer zu epistemischen Subjekten erklären muss. According to a full-blown externalist approach, knowledge has nothing to do with positions in the space of reasons; knowledge is a state of the knower, linked to the 267
McDowell 1996, S. 5. McDowell 1998a, S. 409. 269 Vgl. McDowell 1998a, S. 401. 268
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state of affairs known in such a way that the knower’s being in that state is a reliable indicator that the state of affairs obtains. In the purest form of this approach, it is at most a matter of superficial idiom that we do not attribute knowledge to properly functioning thermometers.270
Als Beispiel für einen solchen vollständigen (full-blown) externalistischen Ansatz können wir hier auf Goldmans Reliabilismus verweisen, wie er in Kapitel I dargestellt wurde. Goldmans zugangsexternalistische Konzeption des perzeptiven Wissens wurde jedoch zurückgewiesen, weil sie die Klasse der epistemischen Subjekte nicht weit genug eingrenzt, so dass wir nicht mehr zwischen Thermometern, Papageien, kleinen Kindern und erwachsenen Teilnehmern der epistemischen Praxis unterscheiden können. Ähnlich wie bei Dretske können wir auch bei Goldman kritisieren, dass er allenfalls auf eine notwendige aber keinesfalls auf eine hinreichende Bedingung für perzeptives Wissen hinweist. Allerdings möchte McDowell dem Reliabilisten in einer Hinsicht Recht geben: Unsere Gründe sollen von den Tatsachen der Welt abhängen. In diesem Sinn möchte er eine Hybridkonzeption vorschlagen, die ein reliabilistisches Moment in Sellars’ logischem Raum der Gründe verortet: So it would be a mistake to suppose that reliability must be external in a hybrid approach, just because it figures in full-blown externalist approaches. Reliability must operate in the internal reaches of a hybrid approach, on pain of the internal element’s becoming unrecognizable as what it was supposed to be. The problem with the resources that are available in an interiorized conception of the space of reasons is that, even including the best that can be had in the way of reliability, they cannot duplicate the factiveness of epistemically satisfactory positions. So it is precisely the truth requirement that these considerations motivate conceiving as an external condition that needs to be added to internal requirements for knowledge.271
Reliabilität soll also ein intrinsisches Element im logischen Raum der Gründe sein. Was für eine Art von Reliabilität hat McDowell hierbei im Blick? Die Antwort findet sich im letzten Satz des Zitates, wo McDowell schreibt, dass eine externe Wahrheitsbedingung zu den internalistischen Rechtfertigungsbedingungen hinzugefügt werden muss. Dies ist die Kernaussage von McDowells Hybridkonzeption: Sie kombiniert einen Gehaltsexternalismus mit einem epistemischen Zugangsinternalismus. Begrün270 271
McDowell 1998a, S. 401. McDowell 1998a, S. 401f.
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dungen sollen einerseits, wie bei Sellars, mentale Akte epistemischer Subjekte und damit intern zugänglich sein. Allerdings sollen die hierbei angewendeten begrifflichen Kapazitäten von den Tatsachen der Welt abhängen. Im nächsten Abschnitt wird deutlich werden, dass McDowell nicht nur behauptet, dass Gründe von den Tatsachen der Welt abhängen, sondern er behauptet, dass die Tatsachen Gründe sind. Dies ist der eigentliche Kern seines therapeutischen Vorschlags der Überwindung des Dilemmas zwischen Kohärentismus und Fundamentalismus. 6.5.2.2 Begriffliche Unbegrenztheit Wahrnehmungen haben für McDowell einen begrifflichen Gehalt und können somit ‚Gegenstände’ im logischen Raum der Gründe sein. Gleichzeitig lehnt McDowell aber eine repräsentationalistische Konzeption des logischen Raums der Gründe ab, wie sie von Sellars befürwortet wird. Gründe repräsentieren für McDowell nicht die physikalischen Tatsachen der Welt – die Gründe sollen selbst ein Teil dieser Welt sein. Dies bezeichnet McDowell als die Offenheit (openness) des Mentalen für die Realität. Der logische Raum der Gründe, d. h. der Bereich des Mentalen, steht der physikalischen Welt demnach nicht wie ein Spiegel gegenüber, vielmehr ist er selbst ein Teil dieser Welt. Mit dieser Identifikation von Gründen und Tatsachen geht die These der Unbegrenztheit des Begrifflichen einher. McDowell formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen: This image of openness to reality is at our disposal because of how we place the reality that makes its impression on a subject in experience. Although reality is independent of our thinking, it is not to be pictured as outside an outer boundary that encloses the conceptual sphere. That things are thus and so is the conceptual content of an experience, but if the subject of the experience is not misled, that very same thing, that things are thus and so, is also a perceptible fact, an aspect of the perceptible world.272
Die Realität, bzw. die Menge aller Tatsachen, soll demnach unabhängig von unserem Denken sein. Dies ist zunächst ein Zugeständnis an unser Common Sense-Verständnis des Begriffs der Realität. Wir gehen normalerweise davon aus, dass die Welt, bzw. der gerade beobachtete Teil der Welt, auch noch da ist, wenn wir die Augen schließen, oder wenn wir uns 272
McDowell 1996, S. 26.
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raum-zeitlich bewegen. Dennoch, so McDowell, existieren die Tatsachen nicht außerhalb der begrifflichen Sphäre, respektive außerhalb des Denkens. Dies kommt der Behauptung gleich, dass Tatsachen prinzipiell begrifflich erfasst, bzw. gewusst, werden können. Und damit können wir, so McDowell, davon ausgehen, dass “[…] reality is not located outside a boundary that encloses the conceptual.”273 Wenig später spitzt er dies noch zu, indem er schreibt, dass nichts außerhalb der Sphäre des Begrifflichen existiert. Hierbei greift McDowell auf Wittgensteins Idee aus dem Tractus einer Isomorphie zwischen Tatsachen und Sätzen zurück. Gemeinsam mit Wittgensteins These, dass die Welt die Menge aller Tatsachen ist, ergibt sich daraus die These, dass es keine Tatsachen gibt, die nicht prinzipiell in einem Satz artikulierbar wären. (Worüber man nicht sprechen kann …) McDowells These der Unbegrenztheit des Begrifflichen besagt demnach, dass Begriffe und Tatsachen ein isomorphes Verhältnis haben, und dass Gedanken daher notwendig wahr sind, d. h. dass sie notwendig Tatsachen als Gehalte haben. Bevor wir diese These der begrifflichen Unbegrenztheit schärfer formulieren, ist es sinnvoll, zunächst einigen Missverständnissen vorzubeugen. Denn unter einer bestimmten Lesart vertritt McDowell hier einen objektiven Idealismus mit der impliziten These, dass die Welt begrifflich strukturiert ist. In dieser Weise versteht ihn offensichtlich Crispin Wright, der McDowells Programm in Mind and World generell (gelinde gesagt) skeptisch gegenüber steht. […] if McDowell is right – not just experience, as a potential justifier of empirical beliefs, but the real world in turn, as that which is to be capable of impinging upon us in a way which induces experiences of determinate content, must be thought of as conceptual. We arrive at a conception of experience not merely as something which is intrinsically content-bearing, a passive exercise of concepts, but as also essentially an “openness to the layout of reality”, where this openness is a matter of conceptual fit between the experience and the situation experiences. The world, as we must conceive of it, is indeed the Tractarian world: a totality of facts, where facts are essentially facts that P. Conceptual content, in McDowell’s metaphysics, belongs to the very fabric of the world.274
In dieser (unfreundlichen) Interpretation vertritt McDowell die metaphysische These, dass die Welt begrifflich strukturiert ist. Unter dieser Lesart 273 274
McDowell 1996, S. 44. Wright (2002), meine Hervorhebungen.
182
würde McDowell tatsächlich einen objektiven Idealismus vertreten. Diese Position erscheint jedoch unplausibel, weil der Einfluss der Welt auf das Denken teuer erkauft wird; nämlich dadurch, dass dem Denken keine Grenzen mehr gesetzt werden. Wenn McDowell dies mit begrifflicher Unbegrenztheit meint, würde er seine Position philosophisch unhaltbar machen. Offensichtlich antizipiert er diesen Einwand in Mind and World. Dort führt er die Unterscheidung zwischen Gedanken als Akten und Gedanken als gedachten Gehalten ein. „Thought“ can mean the act of thinking; but it can also mean the content of a piece of thinking: what someone thinks. Now if we are to give a due acknowledgement to the independence of reality, what we need is a constraint from outside thinking and judging, our exercises of spontaneity. The constraint does not need to be from outside thinkable contents. It would indeed slight the independence of reality if we equated with facts in general with exercises of conceptual capacities – acts of thinking – or represented facts as reflections of such things; or if we equated perceptible facts in particular with states or occurrences in which conceptual capacities are drawn into operation in sensibility – experiences – or represented them as reflections of such things. But it is not idealistic, as that would be, to say that perceptible facts are essentially capable of impressing themselves on perceivers in states or occurrences of the latter sort; and that facts in general are essentially capable of being embraced in thought in exercises of spontaneity, occurrences of the former sort.275
McDowell antizipiert hier Wrights Interpretation und wehrt sich gegen sie. Er nimmt erstens nicht an, dass die Welt begrifflich verfasst ist. Und er geht zweitens nicht davon aus, dass die Welt von einzelnen begrifflichen Denkakten abhängt. Die These der begrifflichen Unbegrenztheit soll vielmehr besagen, dass die Tatsachen der Welt prinzipiell in Gedanken gefasst werden können: Es soll keine Tatsachen geben, die nicht Gehalte von Gedanken sein können. Dies bedeutet weiterhin nicht, dass alle Tatsachen in einem aktualen Sinn Gehalte von Gedanken sein müssen. Gegen die Zuschreibung einer derart exzentrischen Position wehrt McDowell sich ebenfalls. Ensuring that our empirical concepts and conceptions pass muster is ongoing and arduous work for the understanding. It requires patience and something like humility. There is no guarantee that the world is completely within the reach of a system
275
McDowell 1996, S. 28.
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of concepts and conceptions as it stands at some particular moment in its historical development. Exactly not; that is why the obligation to reflect is perpetual.276
McDowell lässt es also durchaus zu – sieht es sogar als unhinterfragbar an – dass wir unsere Begriffsysteme immer wieder der Realität anpassen müssen. Am Ende des Zitates verwendet er sogar deontologisches Vokabular, indem er von einer Pflicht spricht; von einer immerwährenden (perpetual) Pflicht unsere empirischen Begriffe an der Welt zu prüfen. Hier schließt sich der Kreis zur These des minimalen Empirismus. Vor diesem Hintergrund können wir McDowells These der Unbegrenztheit des Begrifflichen schärfer formulieren. Begriffliche Unbegrenztheit: Jede Tatsache kann begrifflich (oder durch ein System von Begriffen) erfasst werden. Wenn man naturalistische Intuitionen hat, wird man an dieser Stelle den Anthropozentrismus-Vorwurf gegen die These der begrifflichen Unbegrenztheit geltend machen. Gegen diesen Vorwurf kann sich McDowell jedoch gut verteidigen, weil er erstens Tiere (und, sagen wir, begrifflich unbegabte Außerirdische) nicht als Teilnehmer am logischen Raum der Gründe zulässt – eine These, die ich für plausibel halte und die ich verteidigen werde. Zweitens hat McDowell eine therapeutische Antwort, die mit seiner Unterscheidung von erster und zweiter Natur zusammenhängt; auf diese gehe ich im Anschluss an diesen Abschnitt in einem kurzen Exkurs ein. Hilft uns die These der begrifflichen Unbegrenztheit beim Problem des perzeptiven Wissens? McDowell würde wahrscheinlich antworten, dass aus seiner Perspektive bereits diese Frage falsch formuliert ist, weil ein solches Problem überhaupt nicht besteht. In McDowells Konzeption sind Wahrnehmungen Aktualisierungen begrifflicher Kapazitäten. Wenn begriffliche Kapazitäten notwendig darin bestehen, dass Tatsachen der physikalischen Welt erfasst werden, dann sind Wahrnehmungen natürlich infallible Gründe. Das Problem des perzeptiven Wissens verschwindet. Die Frage ist nun, ob wir McDowell seine These zugestehen sollten.
276
McDowell 1996, S. 40.
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In seinem kritischen Kommentar „On the Unboundedness of the Conceptual“ kritisiert Marcus Willaschek die Idee der begrifflichen Unbegrenztheit folgendermaßen: […] the possibility of inconceivable aspects of reality, whether we call them facts or not, follows simply from the obvious truth that our mental capacities are finite, together with the admission that reality may be infinite – infinitely large, infinitely small, infinitely intricate.277
Willaschek konfrontiert McDowell mit einer alternativen These, nach der die Unendlichkeit des Universums zumindest denkmöglich ist. Wenn man annimmt, dass ein endlicher Geist ein unendliches Universum nicht vollständig begrifflich erfassen kann, folgt, dass es zumindest Teile des Universums geben kann, die ein solcher Geist nicht begrifflich erfassen kann. Mit dieser Überlegung will Willaschek McDowells These der begrifflichen Unbegrenztheit zurückweisen. Allerdings ist nicht klar, dass McDowell Willascheks Prämisse akzeptieren muss. Selbst wenn das Universum unendlich groß ist, folgt daraus noch nicht, dass es Tatsachen enthält, die begrifflich, zumindest im Prinzip, nicht erfassbar sind. Es ist denkmöglich, dass das Universum zwar raum-zeitlich unendlich groß ist und dennoch nur Tatsachen enthält, die prinzipiell für kognitive Wesen wie uns erkennbar sind. Selbst wenn McDowell Willascheks Prämisse anerkennt, ist damit noch nicht gesagt, dass er den Schluss bereits als eine Widerlegung seiner These der begrifflichen Unbegrenztheit akzeptieren muss. Denn McDowell geht selbst von der metaphysischen Voraussetzung aus, dass das Universum die Summe aller Tatsachen ist. Willaschek geht dagegen von einer Denkmöglichkeit hinsichtlich der Unendlichkeit des Universums aus. Die reine Möglichkeit der Unendlichkeit des Universums widerlegt McDowells These aber noch nicht. Denn die Möglichkeit der Unendlichkeit des Universums ist kompatibel mit seiner aktualen Endlichkeit. Ist dies richtig, dann bräuchte Willaschek für sein Argument die stärkere metaphysische These, dass das Universum tatsächlich unendlich ist. Dies ist aber wie gesagt selbst eine metaphysische Annahme und würde weiterer Begründung bedürfen. McDowell kann sich demnach gegen Willascheks Einwand verteidigen, der dennoch auf ein wesentliches Problem bei McDowell hinweist: McDowell macht trotz seines therapeutischen Gestus substantielle 277
Willaschek 2000, S. 38.
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metaphysische Annahmen. Die Schlagkraft seines Ansatzes hinsichtlich der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens hängt wesentlich davon ab, inwiefern wir dazu bereit sind, diese Annahmen zu teilen. Ich komme auf diesen Punkt am Ende dieses Abschnitts über McDowell zurück. Exkurs: Erste und zweite Natur McDowell versucht, den Tatsachen der physikalischen Welt eine Rolle als Gründe zuzuschreiben. Um hier ein Analogon zum naturalistischen Fehlschluss aus der Ethik zu vermeiden, muss er eine Erklärung dafür abgeben, wie Tatsachen – die in kausalen Zusammenhängen stehen – eine normative Rolle – als Gründe – übernehmen können. McDowell greift an dieser Stelle eine für die neuzeitliche Philosophie wesentliche Voraussetzung an, die er auch noch bei Sellars ausmacht. Es handelt sich um die Identifikation des Raums der Natur, bzw. des Begriffs der Natur, mit dem Begriff der Kausalität. Diese Identifikation kommt gleichsam der von Schiller so bezeichneten Entzauberung der Welt gleich, die nun nicht mehr sakralen teleologischen, sondern eben kausalen naturgesetzlichen Zwängen folgen soll. Nur im Bereich des Mentalen sollte es weiterhin ein deontologisches, respektive normatives, Moment geben, das die Freiheit des Denkens und damit auch der doxastischen Autonomie epistemischer Personen garantiert. Für seine Gedanken und Handlungen sollte der Mensch weiterhin verantwortlich sein. Bei den neuzeitlichen Autoren wurde hierbei freilich ein strenger ontologischer Dualismus angenommen, der bei Autoren wie Sellars nur noch in einer methodologischen Form vorhanden ist. Dennoch schreibt Sellars dem logischen Raum der Gründe Eigenschaften zu, die nicht mit denen des Raums der Natur kompatibel sind. Freiheit und Kausalität bilden zumindest prima facie ein ungleiches Paar. Das Paradoxon, wie die Gedanken frei und dennoch auf die physikalische Welt bezogen sein können, löst McDowell therapeutisch, indem er die neuzeitliche Identifikation des Raums der Natur mit dem Begriff der Kausalität aufgibt. Der Raum der Natur umfasst für McDowell mehr als kausale Vorgänge, er umfasst auch den Bereich des Normativen – das soziale Verhalten sprachbegabter Tiere, zu dem auch das Haben von Gründen gehört. In Mind and World greift er vor diesem Hintergrund auf die aristotelische Unterscheidung zwischen erster und zweiter Natur zurück. Der Begriff der ersten Natur steht für das, 186
was wir gemeinhin mit ‚Natur’ meinen, d. h. die uns umgebende physikalische und biologische Welt. Der Begriff der zweiten Natur bezeichnet dagegen den Bereich des Sozialen und damit die normative Lebenswirklichkeit sprachbegabter Tiere, in die man qua Erziehung und Bildung eingeführt wird. Mit anderen Worten: Die Natur umfasst für McDowell sowohl die physikalische als auch die soziale Welt. Weil Gedanken, und damit auch Gründe, für McDowell sozial-diskursive Gegenstände sind, ist für ihn damit die Spannung zwischen der Freiheit des Denkens und der Kausalität der Welt, auf die sich das Denken beziehen soll, beigelegt. 6.5.3 Die disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung Am ausführlichsten diskutiert McDowell seine disjunktive Konzeption der Wahrnehmung in seinem Aufsatz „Criteria, Defeasibility, and Knowledge“. Dort behandelt er zunächst die Frage, welche Rolle wittgensteineanische Kriterien bei unserem Wissen über die mentalen Zustände anderer Personen (other minds) spielen. Kriterien sind im allgemeinen philosophischen Verständnis hinreichende, begriffliche Merkmale – d. h. hinreichende Merkmale dafür, dass etwas unter einen Begriff fällt. Der Gegenbegriff zum Begriff des Kriteriums ist der des Symptoms; Symptome sind ‚losere’ Hinweise für das Vorliegen eines Sachverhaltes. McDowell weist zunächst die von ihm so bezeichnete Standardinterpretation (standard view) von Wittgensteins Begriff des Kriteriums zurück, nach der Kriterien unser Wissen über die mentalen Zustände anderer Personen in einer falliblen (defeasible) Weise rechtfertigen. Kriterien müssen, so McDowell, von Tatsachen abhängen, weshalb sie nicht fallibel rechtfertigen können. Dies verallgemeinert er schließlich so, dass auch Wahrnehmungen von Tatsachen abhängen sollen. Diesen letzten Punkt möchte ich hier herausarbeiten. Hierzu wird es hilfreich sein, zumindest kurz auf McDowells Konzeption des Wissens über die mentalen Zustände anderer Personen einzugehen. Den Begriff des Kriteriums übernimmt McDowell von Wittgenstein. Wittgenstein behauptet gegen cartesische Skeptiker hinsichtlich der mentalen Zustände anderer Personen, dass man Verhaltensweisen anderer Personen nicht nur als Symptome, sondern als Kriterien dafür verwenden kann, dass diese Personen in einem bestimmten mentalen Zustand sind. In §377 der Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein „Was ist das Krite187
rium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der Andre sie hat: was er sagt und tut.“ Dass eine Person etwa sagt „Dies ist eine schöne rote Rose“ ist demnach kein bloßes Symptom einer Wahrnehmung, sondern ein Kriterium dafür, dass diese Person etwas Rotes, beispielsweise eine rote Rose, wahrnimmt. Das Beispiel des Schmerzes macht diesen Punkt vielleicht noch deutlicher. Bei Schmerzen soll mein Schmerzausdruck kein Symptom, sondern ein Kriterium dafür sein, dass ich Schmerzen habe. Den Hintergrund hierfür bildet die Annahme, dass mein Schmerzverhalten in einer apriorischen begrifflichen Weise mit meinen Schmerzen verbunden ist. Schmerzen haben, bedeutet für Wittgenstein, dass man bestimmte Verhaltensmuster aufweist. Allerdings können Personen Dinge vorspielen oder man kann schmerzähnliches Verhalten mit Schmerzverhalten verwechseln. Solche Fälle motivieren die von McDowell so bezeichnete Standardinterpretation des Begriffs des Kriteriums, nach der Kriterien Überzeugungen über die mentalen Zustände anderer Personen fallibel rechtfertigen – d. h. die Rechtfertigung kann sich im Nachhinein als falsch herausstellen. McDowell argumentiert gegen dieses Verständnis des Begriffs des Kriteriums, dass er systematisch ungeeignet dafür sei, Wissen über die Zustände anderer Personen zu begründen.278 Nevertheless, the „criterial“ view does envisage ascribing knowledge on the strength of something compatible with the falsity of what is supposedly known. And it is a serious question whether we can understand how it can be knowledge that is properly so ascribed. Rejecting the incautious assumption leaves unchallenged the tempting thought that, since “criteria” for the ascription of an “inner” state to another person is thereby in a position in which, for all he knows, the person may not be in that “inner” state. And the question is: if that is the best one can achieve, how is there room for anything recognizable as knowledge that the person is in the “inner” state?279
McDowell behauptet hier, dass ein fallibler Zugang zu den mentalen Zuständen anderer Personen kein Wissen im eigentlichen Sinn (properly so ascribed) begründen kann. Wie kommt er hierauf? Was meint er mit ‚Wissen im eigentlichen Sinn’? Man muss McDowell hier m. E. so verstehen, dass wir in unserem Common Sense-Verständnis unserer Rede über die 278
McDowell argumentiert in „Criteria, Defeasibility, and Knowledge“ weiterhin, dass die Standardinterpretation eine Fehlinterpretation Wittgensteins ist. 279 McDowell 1998b, S. 372.
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mentalen Zustände anderer Personen keinen Zweifel darüber zulassen, dass diese Personen über solche Zustände verfügen. In einem ähnlichen Sinn schreibt Wittgenstein in §4 aus Über Gewissheit über sein Gehirn: „[…] wie ist es mit einem Satz wie „Ich weiß, dass ich ein Gehirn habe“? Kann ich ihn bezweifeln? Zum Zweifeln fehlen mir die Gründe!“ Die Möglichkeit, dass eine Person uns einen mentalen Zustand, etwa Schmerzen zu haben, vortäuscht, führt für McDowell, wie auch für Wittgenstein – zumindest in McDowells Interpretation, nicht dazu, dass ein genereller Zweifel an Sätzen über solche Zustände gerechtfertigt wäre. Erst in philosophischen Kontexten scheint ein solcher Zweifel angebracht. Und genau diesen Zweifel weisen McDowell/Wittgenstein als pathologisch zurück. D. h. McDowell setzt in der eben zitierten Stelle ein infallibilistisches Konzept des Wissens, bzw. unserer alltäglichen Rede über das Wissen, über die mentalen Zustände anderer Personen voraus. Wenn die Kriterien für die mentalen Zustände anderer Personen erfüllt sind, dann impliziert dies die Wahrheit meiner durch diese Kriterien begründeten Überzeugungen. McDowells Argument ist aus einer bestimmten Perspektive leicht angreifbar. Er setzt hier wie die Vertreter der Standardinterpretation die klassische Analyse des Wissens als einer wahren und durch gute Gründe gerechtfertigen Überzeugung voraus. Ein Kritiker McDowells könnte nun folgenden Einwand formulieren: Vielleicht hast Du Recht und ein cartesischer Zweifel an den mentalen Zuständen anderer Personen ist unnatürlich. Wäre es aber nicht möglich, dass ich gute Gründe (sprich Kriterien) habe zu glauben, dass eine Person Schmerzen hat und mich hierin täusche?
Dieser Einwand ist prima facie plausibel, tangiert McDowells Position aber nicht. Denn er setzt ein internalistisches Konzept hinsichtlich des Gehalts von Gründen voraus, welches von McDowell implizit abgelehnt wird. Wenn ich ein Kriterium dafür habe zu glauben, dass eine Personen in einem mentalen Zustand ist, dann bin ich für McDowell direkt mit einer Tatsache konfrontiert. McDowell geht hier implizit davon aus, dass man den Begriff des Kriteriums anders nicht plausibel verwenden kann. Wenn Kriterien hinreichende Merkmale sein sollen, so müsste McDowell hier m. E. argumentieren, dann müssen sie zu den Tatsachen führen. Dies ist für McDowell ein integraler Bestandteil des epistemischen Sprachspiels hinsichtlich der mentalen Zustände anderer Personen. Dieses Sprachspiel lässt 189
für McDowell nicht zu, dass unsere Aussagen „[…] fall short of the facts itself.“280 Man kann McDowells Position hier folgendermaßen zusammenfassen: Entweder ich habe ein Kriterium dafür, dass eine Person A sich in einem mentalen Zustand M befindet, oder ich täusche mich darüber, dass sich A in M befindet. Der springende Punkt dieser disjunktiven Konzeption des kriteriellen Wissens über die mentalen Zustände anderer Personen ist der externalistische Anteil, mit dem McDowell von der Standardinterpretation abweicht. Gerechtfertigte Überzeugungen über die mentalen Zustände anderer Personen zu haben, bedeutet für McDowell, dass man weiß, dass diese Personen solche Zustände haben. Betrachten wir nun, wie McDowell diesen Punkt für das Wahrnehmungswissen verallgemeinert, indem er zunächst auf eine Konzeption der Wahrnehmung zurückgreift, die vom Argument der Illusion ausgeht. In einer etwas längeren Stelle formuliert McDowell dieses Argument und seine Voraussetzungen folgendermaßen: On any question about the world independent of oneself to which one can ascertain the answer by, say, looking, the way things look can be deceptive; it can look to one exactly as if things were a certain way when they are not. […] It follows that any capacity to tell by looking how things are in the world independent of oneself can at best be fallible. According to the tempting argument, something else follows as well; the argument is that since there can be deceptive cases experientially indistinguishable from non-deceptive cases, one’s experiential intake – what one embraces within the scope of one’s consciousness – must be the same in both kinds of case. In a deceptive case, one’s experiential intake must ex hypothesi fall short of the fact itself, in the sense of being consistent with there being not such fact. So that must be true, according to the argument, in a non-deceptive case too. One’s capacity is a capacity to tell by looking that is, on the basis of experiential intake. And even when this capacity does yield knowledge, we have to conceive the basis as a highest common factor of what is available to experience in the deceptive and the nondeceptive cases alike, and hence as something that is at best a defeasible ground for the knowledge […]281
Das Illusionsargument haben wir bereits in Kapitel I kennen gelernt. Es geht zunächst davon aus, dass wir sowohl im Fall einer veridischen Wahrnehmung als auch im Fall einer Täuschung jeweils etwas mit dem gleichen phänomenalen, d. h. subjektiv ununterscheidbaren, Gehalt wahrnehmen. 280 281
McDowell 1998b, S. 373. McDowell 1998b, S. 385f.
190
Dies bezeichnet McDowell als den größten gemeinsamen Teiler (highest common factor) in beiden Fällen. Die Konsequenz dieser ‚HighestCommon-Factor (HCF)’-Konzeption der Wahrnehmung ist ein epistemologischer indirekter Realismus, der uns dazu zwingt, eben auch ein indirektes Wissen über die physikalische Welt, auf der Basis der phänomenalen Zustände, anzunehmen. Wahrnehmungen können somit nur fallible Gründe für unser Wissen über die physikalische Welt sein. The upshot is that even in the non-deceptive cases we have to picture something that falls short of the fact ascertained, at best defeasibly connected with it, as interposing itself between the experiencing subject and the fact itself.282
McDowell möchte analog zu seiner Kritik an der Standardinterpretation hinsichtlich der rechtfertigenden Funktion der Kriterien darauf hinaus, dass auch bei Wahrnehmungen kein repräsentationales, mentales Hindernis zwischen den Tatsachen und der Wahrnehmungsepisode vorhanden ist. D. h. McDowell streitet ab, dass die Konklusion des Illusionsargumentes aus seinen Prämissen folgt. Stattdessen macht er einen alternativen Vorschlag: But suppose we say – not at all unnaturally – that an appearance that such and such is the case can be either a mere appearance or the fact that such and such is the case making itself perceptually manifest to someone. As before, the object of experience in the deceptive cases is a mere appearance. But we are not to accept that in the non-deceptive cases too the object of experience is a mere appearance, and hence something that falls short of the fact itself. On the contrary, the appearance that is presented to one in those cases is a matter of the fact itself being disclosed to the experiencer. So appearances are no longer conceived as in general intervening between the experiencing subject and the world.283
Die von McDowell hier vorgeschlagene Konzeption der Wahrnehmungserfahrung (appearance) bezeichnet man als disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung. Die disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung ist eine theoretisch untermauerte Form des direkten Realismus – bzw. eine Verteidigung des direkten Realismus gegen bestimmte Angriffe des Repräsentationalismus. Gegen die Repräsentationalisten versuchen Disjunktivisten die These plausibel zu machen, dass wir die Tatsa-
282 283
McDowell 1998b, S. 386. McDowell 1998b, 386f.
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chen in der Welt so wahrnehmen wie sie sind.284 Täuschungen sollen dagegen kategorial andere mentale Zustände sein. Schematisch kann man McDowells disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung folgendermaßen darstellen: Disjunktivismus der Wahrnehmungserfahrung: Wenn eine epistemische Person A die Erfahrung, dass p hat, dann gilt: A nimmt entweder eine Tatsache wahr, oder A erscheint etwas so, als ob es sich um eine Tatsache handelte. Diese disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung behauptet, dass es nur zwei Arten von Erfahrung gibt; d. h. zwei Modi, wie einer epistemischen Person etwas erscheinen kann. Im einen Fall hat man eine bloße Erfahrung, d. h. einen subjektiven Zustand ohne Entsprechung in der physikalischen Welt außerhalb des Bewusstseins. Im anderen Fall hat man eine Erfahrung der Art, dass man eine Tatsache der physikalischen Welt wahrnimmt. Weiterhin handelt es sich um ein ausschließendes ‚oder’, so dass man nur jeweils einen der beiden Zustände zu einem bestimmten Zeitpunkt haben kann. Wahrnehmungen sind auf diese Weise verstanden notwendig epistemische Zustände eines epistemischen Subjektes. Denn der Begriff der Wahrnehmung ist so definiert worden, dass Wahrnehmungen notwendig wahrheitsleitend sind. Dass mir die Wahrnehmung die Welt repräsentiert wie sie ist, ist in der disjunktiven Konzeption der Wahrnehmung daher eine begriffliche Wahrheit. Der epistemologische Vorteil des Disjunktivismus liegt hierbei auf der Hand: Das Problem der perzeptiven Rechtfertigung wäre als ein Scheinproblem entlarvt. Wahrnehmen, dass p würde ein Wissen, dass p implizieren. In seinem Aufsatz „(Anti-)Sceptics Simple and Subtle: G. E. Moore and John McDowell” formuliert Crispin Wright einen Standardeinwand gegen McDowells Disjunktivismus. Even if perception is conceived as a mode of direct acquaintance, the fact does not go away that a perceptual state may be subjectively indistinguishable for a dream state or an hallucination. […] So a tentative disjunction is always available for 284
Eine gute Zusammenfassung des Status Quo der Forschung zum Disjunktivismus findet sich in Haddock/MacPerson 2008.
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someone cautious about such radical possibilities. If circumstances seem to merit caution, then I may, rather than venturing a perceptual claim about my immediate environment, offer instead a disjunction: e. g., either here is a hand in front of me or I’m in some kind of delusional state.285
Wright möchte Folgendes sagen: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Wahrnehmung uns mit einem direkten Tatsachenwissen versorgt, ist damit noch nicht klar, dass wir dies bereits epistemisch fruchtbar machen können. Denn, so Wright, Wahrnehmungen und Täuschungen bleiben weiterhin subjektiv ununterscheidbar. Wright zitiert selbst Dretskes ZebraBeispiel, in dem es dem Subjekt aus seiner Perspektive nicht klar sein kann, ob es ein Zebra oder ein täuschend echt bemaltes Maultier sieht.286 Wrights Einwand lautet, dass die epistemische Person in einer solchen Situation – wäre sie vorsichtig genug – keine Antwort darauf geben könnte, ob sie ein Zebra sieht, oder ob sie getäuscht wird. Sie könnte dann, so Wright, kein Wissen beanspruchen. Diese Kritik an der disjunktiven Konzeption der Wahrnehmungserfahrung, respektive des Wahrnehmungswissens, findet man auch bei anderen Autoren.287 Sie läuft im Wesentlichen auf den Vorwurf hinaus, dass McDowell die Spielregeln des epistemischen Sprachspiels verletzt. Gegen diesen Vorwurf kann McDowell sich freilich zunächst leicht verteidigen, indem er darauf hinweist, dass in seinem gehaltsexternalistischen, therapeutischen Bild des perzeptiven Wissens skeptische Einwände gegen bestimmte Wissensbehauptungen ausgeschlossen sind. Wright zielt jedoch auf einen weiteren Punkt, bzw. auf eine weitere Intuition. Muss ich um zu wissen, dass ich ein Zebra sehe, nicht wissen, dass es sich um kein täuschend echt bemaltes Maultier handelt? Wright setzt hier also die internalistische WW-These voraus. Diese muss McDowell abstreiten, um sich gegen Wrights Einwand zu verteidigen. McDowell kann dies mit guten Gründen tun. Er kann etwa seinen therapeutischen Zugang zu philosophischen Problemen anführen. Weiterhin kann er darauf hinweisen, dass die WW-These nach Dekaden der Kritik in einem schlechten Licht steht. Diese argumentativen Möglichkeiten können jedoch nicht 285
McDowell 1998b, S. 344f. McDowell 1998b, S. 342. 287 Vgl. etwa DeGaynesford/Glendinning 1998 und aktuell Pritchard 2005, S. 229ff. Thornton 2004 weist ebenfalls auf diesen Kritikpunkt hin, distanziert sich aber von ihm. 286
193
die Intuitionen ausräumen, die Wrights Einwand motivieren und die von vielen Philosophen geteilt werden. 6.6 McDowell und das Problem des perzeptiven Wissens McDowells therapeutischer Vorschlag löst das Problem des perzeptiven Wissens nicht, sondern bietet einen alternativen begrifflichen Rahmen an, in dem sich dieses Problem nicht stellt. Indem McDowell Tatsachen als Gehalte von Gedanken annimmt, kann er der Wahrnehmung gleichermaßen einen begrifflichen Gehalt und einen Ort im Kausalnexus der Natur zuordnen. Indem er auf diese Weise einen radikalen Externalismus mentaler Gehalte mit einem Rechtfertigungsinternalismus kombiniert, versucht er dem Problem des perzeptiven Wissens seine theoretische Grundlage zu entziehen. Wenn Tatsachen die Gehalte von Wahrnehmungen sind, dann impliziert mein Wahrnehmen, dass p natürlich, dass p der Fall ist. In diesem infallibilistischen Konzept des perzeptiven Wissens scheint sich das Problem des perzeptiven Wissens aber auf einer anderen Ebene zu stellen. Denn zumindest prima facie ist die Wahrnehmung keine infallible, sondern eine fallible Quelle für unser Wissen über die Welt. Wie passt McDowells Konzept des perzeptiven Wissens mit der Möglichkeit von Wahrnehmungsirrtümern und Halluzinationen zusammen? Auf diese Frage Antwortet er mit seiner disjunktiven Konzeption der Wahrnehmungserfahrung, nach der die Wahrnehmung ein anderer Typ von der Wahrnehmungserfahrung ist als etwa eine Halluzination. Nur in einem Fall – der Wahrnehmung – soll der Gehalt eine Tatsache sein, während wir im anderen Fall mit etwas anderem – einem rein mentalen Gehalt – konfrontiert sind. McDowells Ansatz ist attraktiv, weil er eine Perspektive auf das Problem des perzeptiven Wissens eröffnet, die sowohl unsere Common Sense-Intuitionen als auch einen naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt erfasst. Gleichwohl wollen diese Perspektive die wenigsten Philosophen teilen. Viele fassen McDowells Therapie als Denkverbot, bzw. als philosophischen Eskapismus auf, der die eigentlich relevanten Fragen unberührt lässt. Ich nehme aus folgenden Gründen ebenfalls eine skeptische Haltung gegenüber McDowells Ansatz ein: Erstens macht McDowell trotz seines therapeutischen Gestus viele metaphysische Annahmen, die er nicht begründet. Bereits die Annahme einer 194
Tatsachenontologie ist problematisch, weil sie mit Tatsachen schließlich abstrakte Gegenstände als die Grundbausteine der Welt annimmt. Gestehen wir McDowell diese These jedoch der Einfachheit halber zu. Dann steht immer noch McDowells These der Unbegrenztheit des Begrifflichen im Raum. Wir haben in Abschnitt 5.2.2 gesehen, dass McDowell keine, wie ihm manchmal vorgeworfen wird, romantische Wiederverzauberung der Welt anstrebt. D. h. McDowell geht nicht von der exzentrischen These aus, dass die Welt begrifflich strukturiert ist, womit er in einen objektiven Idealismus abgleiten würde. Vielmehr vertritt er die plausiblere These, dass alle Tatsachen prinzipiell gewusst werden können. Diese These haben wir oben nicht weiter problematisiert. McDowell handelt sich mit dieser These allerdings weitere theoretische Verpflichtungen ein, die er nicht einlöst. Denn was er nicht zeigt, ist, wie Tatsachen die Gegenstände gedanklicher Akte sein können. Die von ihm herangezogene Metapher der Offenheit des Mentalen für die Realität steht für eine systematisch anspruchsvolle These, die angesichts der repräsentationalistischen Tendenz in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes zumindest kontrovers ist. Hier einfach nur auf den therapeutischen Nutzen dieser These hinzuweisen, ist zu wenig. Außerdem wurde in Abschnitt 5.2.2 darauf hingewiesen, dass die These der begrifflichen Unbegrenztheit selbst in ihrer schwachen Version eine starke metaphysische These ist, der man die mit dem modernen, physikalischen Verständnis besser verträgliche These entgegenhalten kann, dass das Universum unendlich ist. Zweitens sind auch die epistemologischen Annahmen McDowells sehr voraussetzungsreich. Insbesondere die disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung wirft viele Fragen auf. Dass die Wahrnehmung zu Wissen über die Welt führt, ist für McDowell eine begriffliche Wahrheit. Hiermit ist gemeint, dass unser alltagssprachlicher Begriff der Wahrnehmung keinen Zweifel daran zulässt, dass sich die Dinge so verhalten, wie wir sie wahrnehmen. Für die mentalen Zustände anderer Personen trifft diese Annahme sicher zu. Wir gehen alltagssprachlich davon aus, dass andere Personen vergleichbare mentale Zustände wie wir haben. Für den Begriff der Wahrnehmung müsste hier jedoch zumindest noch gezeigt werden, dass dies ebenso der Fall ist. Man kann dies jedenfalls nicht einfach voraussetzen. Man kann zumindest die Frage aufwerfen, ob wir alltagssprachlich nicht eher einen Wahrnehmungsbegriff annehmen, wie ihn Strawson in 195
„Causation in Perception“ expliziert, wo Strawson Wahrnehmungen dadurch von Wahrnehmungserfahrungen unterscheidet, dass im ersten Fall eine Ursache, d. h. ein physikalischer Gegenstand, für die Wahrnehmung verantwortlich ist.288 Strawson muss daher nicht die These annehmen, dass Wahrnehmungen und bloße Erfahrungen (Täuschungen) die gleichen mentalen Zustände sind. Ein weiterer epistemologischer Kritikpunkt betrifft die von Crispin Wright aufgeworfene Frage, ob McDowell nicht grundsätzliche internalistische Intuitionen verletzt. Denn er behauptet ja mit seiner disjunktiven Konzeption der Wahrnehmung, dass ein Subjekt Täuschungen nicht von veridischen Wahrnehmungen unterscheiden können muss, um in seinen Wahrnehmungsüberzeugungen gerechtfertigt zu sein. Hier kann man die Frage anschließen, wie ein epistemisches Subjekt dann jemals in die Lage kommen soll, Gründe anzugeben, wenn dies erforderlich wird. Bei McDowell bleibt das Verhältnis der epistemischen Person zu ihren Gründen unterbestimmt.
288
Vgl. Strawson 1974, S. 67ff.
196
III DEFAULT AND CHALLENGE Keiner der bisher untersuchten Ansätze kann das Problem des perzeptiven Wissens lösen. Auch McDowells therapeutischer Ansatz wurde aufgrund seiner starken metaphysischen und epistemologischen Voraussetzungen zurückgewiesen. In diesem Kapitel soll ein weiterer therapeutischer Vorschlag zum Umgang mit dem Problem des perzeptiven Wissens kritisch erörtert werden – Michael Williams’ Default and Challenge-Konzeption (im Folgenden DC-Konzeption) epistemischer Rechtfertigung. Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass Williams DC als eine Antwort auf diverse erkenntnistheoretische Probleme motiviert. Ich folge daher zunächst Williams’ allgemeinen erkenntnistheoretischen Überlegungen, wozu es auch gehört, einige seiner Voraussetzungen und Positionen, gegen die er sich abgrenzt, explizit zu machen. Im Zentrum dieser Überlegungen steht das von Williams so bezeichnete Primat der Begründung; eine internalistische Konzeption epistemischer Rechtfertigung, die in besagte Probleme führt. Zu diesen Problemen zählt auch das Problem des perzeptiven Wissens. Zunächst wird dargestellt, wie das Primat der Begründung zur Entstehung dieser Probleme beiträgt. Anschließend wird Williams’ DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung als anti-naturalistische Alternative zum Primat der Begründung dargestellt. Nach dieser allgemeinen Besprechung von Williams’ Ansatz wird diskutiert, ob und inwiefern das Problem des perzeptiven Wissens in DC gelöst werden kann.
1. Williams’ Kritik am Primat der Begründung 1.1 Personale und evidentielle Rechtfertigung Williams weist darauf hin, dass man alltagssprachlich zwei Aspekte der Frage unterscheiden kann, wann eine Überzeugung, dass p einer epistemischen Person A gerechtfertigt ist. Erstens kann man danach fragen, ob A in einer verantwortlichen Weise zu ihrer Überzeugung, dass p kommt. Hat A 197
geraten, wie morgen das Wetter wird oder auf ein dubioses Verfahren wie die Deutung des Vogelfluges vertraut? Dann würden wir sagen, dass A in keiner verantwortlichen Weise zu ihrer Überzeugung über das Wetter kam. Eine verantwortliche Weise zu einer Überzeugung über das Wetter zu kommen, wäre es etwa, sich auf die Wettervorhersage im Fernsehen zu verlassen. Der zweite Aspekt der Frage besteht darin, ob eine Person adäquate Gründe für ihre Überzeugung, dass p hat. Dass die Straße nass ist, ist beispielsweise etwa unter Normalbedingungen ein guter Grund dafür zu glauben, dass es geregnet hat. Den ersten Aspekt der epistemischen Verantwortung bezeichnet Williams als personale Rechtfertigung (personal justification), den zweiten als adäquate Begründung (adequate grounding).289 Personale Rechtfertigung: Eine epistemische Person A kommt in einer (epistemisch) verantwortlichen Weise zu ihrer Überzeugung, dass p. Adäquate Begründung: Eine epistemische Person A hat adäquate Gründe für ihre Überzeugung, dass p. Der Begriff der personalen Rechtfertigung bezieht sich auf den normativen Status einer epistemischen Person, den sie dadurch erwirbt, dass sie sich epistemisch verantwortlich verhält. Personale Rechtfertigung bedeutet dann, dass eine epistemische Person sich in einem epistemischen Sinn richtig verhält. Der Begriff der adäquaten Begründung bezieht sich dagegen darauf, ob eine epistemische Person adäquate Gründe für ihre Überzeugung hat. Nach dem klassischen Verständnis kommen nur diskursive Gründe, bzw. Inferenzen, als Gründe infrage. Hierbei wird ‚Gründe-haben’ mit ‚Gründe-geben’ gleichgesetzt. Dies bezeichnet Williams als evidentielle Rechtfertigung. Evidentielle Rechtfertigung: Eine epistemische Person A kann Gründe für ihre Überzeugung, dass p angeben.
289
Vgl. Williams 2001, S. 22ff., 147ff. Williams übernimmt diese Begriffe von Robert Fogelin. Vgl. Fogelin 1994, S. 19ff.
198
Der Begriff der evidentiellen Rechtfertigung impliziert die These des Rechtfertigungsinternalismus, weil unter ‚Gründe-geben’ zu verstehen ist, dass eine Person über intern zugängliche Gründe verfügt. Ich möchte hier zwischen ‚Gründe-haben’ und ‚Gründe-geben’ bzw. ‚Begründung’ unterscheiden. Gründe-geben ist in dem Sinn internalistisch, dass die Person sich dieser Gründe auch bewusst sein muss. Unter ‚Gründe-haben’ soll dagegen verstanden werden, dass es Gründe gibt, die die Überzeugungen einer Person rational machen. Ich verstehe Williams’ Konzept der adäquaten Begründung so, dass es sowohl dafür hinreicht, Gründe zu geben als auch dafür, Gründe zu haben. Allerdings, und dies ist der systematisch bedeutsame Punkt, kann man adäquat begründete Überzeugungen haben, ohne dass man die Gründe hierfür alle kennen würde; somit wird es etwa möglich, an Expertenwissen teilzuhaben, ohne dass man dieses Wissen selbst begründen könnte. Wichtiger ist, dass man auf diese Weise in seinen perzeptiven Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt sein kann, ohne dass man hierbei alle Gründe anführen kann, die diese Überzeugungen rational machen, etwa, dass die Lichtverhältnisse normal sind, oder dass mein Wahrnehmungsapparat normal funktioniert. Die klassische Analyse des Wissens als einer wahren und gerechtfertigten Überzeugung geht davon aus, dass personale Rechtfertigung erstens von adäquater Begründung abhängt, und dass adäquate Begründung zweitens wesentlich in der Angabe von Gründen, d. h. in evidentieller Rechtfertigung, besteht. Diese Kombination aus zwei Thesen bezeichnet Williams als das Primat der Begründung (Prior Grounding Requirement).290 Williams schließt sich zwar einerseits der klassischen Analyse des Wissensbegriffs an, indem er den Begriff der epistemischen Rechtfertigung als notwendigen epistemischen Grundbegriff zugrunde legt. Er lehnt aber andererseits das Primat der Begründung ab. Personale Rechtfertigung ist für Williams nicht notwendig abhängig von evidentieller Rechtfertigung, d. h. davon, dass die epistemische Person Gründe in einem internalistischen Sinn angeben kann. Personale Rechtfertigung ist für ihn vielmehr ein sozialer Status, den eine Person qua Einführung in die epistemische Praxis erwirbt. Personale Rechtfertigung reicht aber Williams zufolge gemeinsam mit einer wahren Überzeugung nicht für Wissen hin. Für Wissen muss 290
Williams 2001, S. 24, 149ff.
199
noch adäquate Begründung hinzukommen.291 Adäquate Begründung versteht Williams hierbei externalistisch reliabilistisch und nicht evidentialistisch.292 Von Wissen spricht Williams erst dann, wenn eine epistemische Person in einer reliablen Weise zu ihren Überzeugungen kommt. Allerdings – und dieser Punkt ist entscheidend – ist der Begriff des Wissens für Williams wesentlich normativ; und ebenso ist es der Begriff der Reliabilität. D. h. Williams geht nicht wie Goldman von einem naturalistischen Verständnis von Reliabilität aus; vielmehr versteht er diesen Begriff als normativ in dem Sinn, dass die Standards dafür, wann wir von Reliabilität sprechen, soziale Regeln sind. Der jeweilige epistemische Kontext und nicht die Natur bestimmt für Williams, wann diese Standards erfüllt sind. Hierauf wird in Abschnitt 3.2.2 genauer eingegangen. Im Folgenden wird zunächst Williams’ Analyse der Probleme besprochen, in die das Primat der Begründung führt. Anschließend wird erörtert, warum eine naturalistische Analyse des Rechtfertigungsbegriffs keinen geeigneten Ausweg aus diesen Problemen bietet. Vor diesem Hintergrund kann schließlich Williams’ DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung zunächst allgemein eingeführt werden, die im Wesentlichen eine nichtnaturalistische Alternative zum Primat der Begründung darstellt. Nach dieser allgemeinen Darstellung soll schließlich die Frage diskutiert werden, ob das Problem des perzeptiven Wissens in dieser Konzeption gelöst werden kann. 1.2 Das Primat der Begründung Adäquate Begründung bedeutet allgemein, dass es Gründe gibt, die die Überzeugung einer epistemischen Person stützen. Evidentielle Rechtfertigung ist eine internalistische Form adäquater Begründung, die oft auch als ‚Gründe-geben’ bezeichnet wird. Für Williams kann man auch Gründe haben, ohne dass man aktiv begründet, d. h. Gründe gibt. Die These, dass man nur dann in seinen Überzeugungen gerechtfertigt ist, wenn man Gründe gibt, d. h. seine Überzeugungen evidentiell rechtfertigt, bezeichnet Williams als das Primat der Begründung. Wenn wir hier von Williams’ Begrif291 292
Vgl. Williams 2001, S. 23. Vgl. Williams 2001, S. 22.
200
fen ‚personale Rechtfertigung’ und ‚evidentielle Rechtfertigung’ ausgehen, können wir das Primat der Begründung folgendermaßen fassen: Primat der Begründung: Eine epistemische Person A ist nur dann personal in ihrer Überzeugung, dass p gerechtfertigt, wenn A diese Überzeugung evidentiell rechtfertigen kann. Mit anderen Worten: Eine epistemische Person verhält sich nur dann epistemisch verantwortlich, wenn sie gute Gründe für ihre Überzeugungen angibt; d. h. diese begründet. Williams motiviert seine eigene DCKonzeption vor dem Hintergrund der Probleme, in die das Primat der Begründung führt. Er schlägt in einem therapeutischen Gestus vor, das Primat der Begründung durch die DC-Konzeption zu substituieren. Denn er hält die besagten Probleme für unlösbar. In der Folge müssten wir den Begriff der Rechtfertigung, sofern er dem Primat der Begründung folgt, aufgeben. Weil Williams den Begriff der Rechtfertigung allerdings für einen wesentlichen epistemischen Grundbegriff hält, sieht er die Einführung einer alternativen Konzeption epistemischer Rechtfertigung als legitim an, die diese Probleme vermeidet. In welche Probleme führt das Primat der Begründung? Man kann m. E. mindestens vier Problemfelder unterscheiden, mit denen eine vom Primat der Begründung ausgehende Erkenntnistheorie konfrontiert ist: Das Problem des doxastischen Voluntarismus, das Problem des epistemischen Zufalls, das Problem des Rechtfertigungsskeptizismus und das Problem des perzeptiven Wissens. Um jedes dieser Felder gibt es eine eigene Debatte, die wir hier nicht ausführlich behandeln können. Es geht im Folgenden lediglich darum, sie so darzustellen, dass deutlich wird, wie sie mit dem Primat der Begründung korrelieren. (i) Doxastischer Voluntarismus: Die These des doxastische Voluntarismus besagt, dass ich willentlich die Annahme meiner Überzeugungen beeinflussen kann. Wie hängt diese These mit dem Primat der Begründung zusammen? Das Primat der Begründung drückt ein Sollen aus, welches in einer selektiven Haltung den eigenen Überzeugungen gegenüber besteht. Und weil Sollen Können impliziert, gilt, dass das Primat der Begründung notwendig die These enthält, dass ich meine Überzeugungen willentlich annehmen kann. Das Primat der Begründung impliziert demnach die These 201
des doxastischen Voluntarismus. Können wir aber die Kategorie willentlicher Akte auf Überzeugungen – auf mentale Einstellungen – anwenden? Sellars behauptet, dass Überzeugungen Handlungen (doings) sind.293 Ist dies jedoch eine adäquate Beschreibung der Psychologie unserer Überzeugungen? In einer cartesisch, d. h. anti-skeptisch, inspirierten Erkenntnistheorie muss es natürlich eine Fähigkeit zur willentlichen Selektion von Überzeugungen geben; der methodische Zweifel verlangt zumindest unsere doxastische Zurückhaltung, d. h. eine agnostische Haltung propositionalen Gehalten, respektive cartesischen Ideen, gegenüber. Nun ist Sellars’ Gegner natürlich nicht der Skeptiker. Allerdings muss auch Sellars zumindest eine Form des doxastischen Voluntarismus annehmen, die nicht-adäquat begründete Überzeugungen aussortiert. An dieser Stelle handelt sich der Vertreter des Primats der Begründung den Intellektualismus-Vorwurf ein. Die These, dass wir Überzeugungen einfach verwerfen können, und sei es im Lichte guter Gründe, scheint, zumindest in den allermeisten Fällen, mit keiner realistischen Psychologie von Überzeugungen zu korrelieren. Unsere meisten Überzeugungen scheinen eher Humeanischen ‚natürlichen Überzeugungen’ zu entsprechen, d. h. Dispositionen, die wir auch bei besserem Wissen nicht aufgeben können. Weiterhin erscheint die These des doxastischen Voluntarismus angesichts der Komplexität doxastischer Systeme als äußerst fragwürdig. In wissenschaftlichen Zusammenhängen können wir natürlich so vorgehen, dass wir einzelne Überzeugungen, etwa nach einer experimentellen Widerlegung, aufgeben. Aber wissenschaftliche Kontexte sind künstlich reduziert, und es ist zumindest fraglich, ob eine solche Prozedur für alltägliche Kontexte und damit für eine allgemeine Konzeption epistemischer Rechtfertigung taugt. (ii) Epistemischer Zufall: Dutzende von Gedankenexperimenten bevölkern die erkenntnistheoretische Literatur mit dem Ziel zu zeigen, dass eine gut begründete Überzeugung zufälligerweise wahr sein kann.294 Auf die Uhr zu sehen, gilt etwa als guter Grund dafür, zu einer Überzeugung über die Uhrzeit zu kommen. Wenn ich auf meine Uhr schaue, kann man mir zumindest 293
Vgl. Kapitel I dieser Arbeit. Ich möchte hier nochmals auf Duncan Pritchards Buch Epistemic Luck (Pritchard 2005) hinweisen, das eine sehr gute Zusammenfassung des Status Quo der Literatur zu diesem Thema enthält.
294
202
nicht vorwerfen, dass ich rate oder in einer anderen epistemisch nicht verantwortlichen Weise zu meiner Überzeugung – sagen wir, dass es 20:00 Uhr ist – komme. Nehmen wir an, dass es tatsächlich 20:00 Uhr ist, wobei meine Uhr aber gestern genau zu dieser Zeit stehen geblieben ist. Ich käme demnach zufällig mit guten Gründen zu einer wahren Überzeugung. Weil unser intuitiver Wissensbegriff aber epistemischen Zufall ausschließt, können wir in solchen Fällen nicht von Wissen sprechen. Wenn epistemische Rechtfertigung also, so kann man in der Folge argumentieren, in der Angabe von Gründen besteht, dann reicht eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung nicht für Wissen hin. (iii) Rechtfertigungsskeptizismus: Seit den skeptischen Tropen des Sextus Empiricus kennt man folgenden Einwand: Wir sollten alle Wissensansprüche aufgeben. Denn Wissen erfordert Gründe, dies führt aber wiederum in einen infiniten Rechtfertigungsregress.295 Die beiden Auswege aus dem Regress wurden bereits diskutiert: der epistemische Fundamentalismus und der epistemische Kohärentismus. Es konnte dargelegt werden, dass beide Positionen zumindest hinsichtlich einer Rechtfertigung des perzeptiven Wissens nicht attraktiv sind. Wenn das Primat der Begründung in den Rechtfertigungsregress führt, und wenn weiterhin der Kohärentismus und der Fundamentalismus die einzigen Auswege aus diesem Regress darstellen, dann wäre man zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass eine auf dem Primat der Begründung basierende Erkenntnistheorie nicht konsistent entwickelt werden kann. Diesen Einwand halte ich für den problematischsten Einwand gegen das Primat der Begründung. Den potentesten Ausweg bietet m. E. McDowell mit seiner Hybridkonzeption aus fundamentalistischen und kohärentistischen Momenten. Wie ich am Ende von Kapitel II jedoch versucht habe deutlich zu machen, erscheint mir dieser Weg aufgrund seiner schwierigen metaphysischen Voraussetzungen als schwierig gangbar. (iv) Das Problem des perzeptiven Wissens: Der bisherige Verlauf der Arbeit macht weiterhin deutlich, dass das Primat der Begründung in theoretische Verpflichtungen führt, die eine konsistente Konzeption des perzeptiven Wissens unerreichbar erscheinen lassen. Wenn epistemische Rechtfertigung notwendig von Begründung abhängt, muss die rechtfertigende Funktion der Wahrnehmung erklärt werden, bevor wir davon ausgehen 295
Vgl. Abschnitt 1.2.3 der Einleitung dieser Arbeit.
203
können, dass die Wahrnehmung unsere Überzeugungen über die Welt rechtfertigen kann. McDowells Versuch einer therapeutischen Auflösung des Problems des perzeptiven Wissens stellt gewissermaßen die Kulmination der Debatte um dieses Problem dar. Wenn die Wahrnehmung keine Gründe liefert, dann können wir einen rationalen Einfluss der Wahrnehmung auf das doxastische System nicht mehr erklären; in diesem Punkt muss man McDowell Recht geben. Wenn die Wahrnehmung dagegen Gründe liefert, dann sind wir mit den Problemen einer Tatsachenontologie wie bei McDowell konfrontiert, vorausgesetzt, wir wollen keine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung vertreten. Allerdings setzt auch McDowell das Primat der Begründung voraus Williams rückt vor allem das Regressproblem in den Fokus seiner Überlegungen zum Primat der Begründung. Die allgemeine erkenntnistheoretische Debatte der vergangenen Jahre zeigt jedoch, dass alle eben genannten Probleme zumindest gleichberechtigt nebeneinander stehen. Williams vertritt die These, dass die seiner Meinung nach ungelöste Regressproblematik bereits dazu hinreicht, das Primat der Begründung aufzugeben.296 Zu dieser These verhält sich diese Arbeit agnostisch. Im bisherigen Verlauf dieser Arbeit konnte für das Problem des perzeptiven Wissens gezeigt werden, wie es u.a. durch das Primat der Begründung entsteht. Die Debatten um alle vier genannten Problemfelder sind ähnlich problematisch wie die Suche nach einer Lösung für das Problem des perzeptiven Wissens. Aus einer therapeutischen Perspektive auf philosophische Probleme kann man daher zu dem Resultat gelangen, dass das Primat der Begründung, als philosophische Grundannahme, in unlösbare Probleme führt. Somit stellt sich die Frage, ob wir diese Annahme nicht aufgeben sollten. Gibt es eine Alternative? Bevor auf diese Frage eingegangen wird, soll einer weiteren Frage nachgegangen werden, die in der erkenntnistheoretischen Debatte bisher m. E. nicht gestellt wird. Es ist bezeichnend, dass viele Philosophen versucht haben, das Primat der Begründung trotz seiner vielen Probleme zu verteidigen. Dies deutet darauf hin, dass es durch starke Intuitionen motiviert wird. 296
In Williams 2001 (Kap. 7-11) argumentiert Williams explizit gegen die Möglichkeit(en), das Regressproblem der Begründung im Rahmen einer fundamentalistischen oder kohärentistischen Konzeption zu lösen.
204
Um was für Intuitionen handelt es sich hier? Die Antwort kann man folgendermaßen formulieren: Eine epistemische Person soll ihre Überzeugungen nicht einfach so annehmen, sondern sie soll ein gewisses Maß an Kontrolle darüber ausüben, wie sie zu ihren Überzeugungen kommt. Diese Intuition kann man mit dem erfassen, was ich hier als doxastische Autonomie bezeichnen möchte. Doxastische Autonomie: Eine epistemische Person hat einen kritischen, rationalen Einfluss darauf, wie sie zu ihren Überzeugungen kommt. Der Begriff der doxastischen Autonomie ist weniger ein expliziter als vielmehr ein impliziter Bestandteil unserer epistemischen Praxis. Dass doxastische Autonomie ein wesentlicher Aspekt unserer epistemischen Praxis ist, zeigen zum einen die vielen Adjektive, mit denen wir ausdrücken können, dass eine Person doxastisch autonom ist. Wir können etwa sagen, eine Person ist kritisch, reflektiert, nicht leicht beeinflussbar, nicht opportunistisch, hat eine eigene Meinung etc. Zum anderen können wir etwa eine Person, die ihren Überzeugungen kritisch gegenüber steht, von einer Person, bei der dies nicht der Fall ist, unterscheiden. Diese beiden Punkte deuten stark darauf hin, dass wir einen Begriff von doxastischer Autonomie für unsere epistemische Praxis benötigen. Das Primat der Begründung ist eine Art und Weise zu bestimmen, wie eine epistemische Person doxastisch autonom mit ihren Überzeugungen umgehen kann. Das Primat der Begründung geht hierbei allerdings von einem internalistischen Verständnis von doxastischer Autonomie aus. Ich werde im weiteren Verlauf die Frage aufwerfen, ob dies das einzige mögliche Verständnis doxastischer Autonomie ist. Nun haben wir gerade gesehen, zu welcher Phalanx von Problemen das Primat der Begründung führt. Können wir den Begriff der doxastischen Autonomie in einer anderen Weise als durch das Primat der Begründung explizieren? Michael Williams liefert mit seiner DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung eine positive Antwort auf diese Frage, die ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels erörtern möchte. Ich werde zunächst seine DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung darstellen und anschließend auf das Problem des perzeptiven Wissens anwenden. Diese Anwendung auf das Problem des perzeptiven Wissens ist bei Williams selbst nur rudimentär entwickelt und stellt 205
einen neuen Beitrag zur erkenntnistheoretischen Debatte um dieses Problem dar. Hier muss noch erwähnt werden, dass Williams seine DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung nicht nur als eine Alternative zum Primat der Begründung, sondern auch zur naturalisierten Erkenntnistheorie entwickelt. Auf Williams‘ Auseinandersetzung mit der naturalisierten Erkenntnistheorie kann jedoch nicht näher eingegangen werden.297
2. Michael Williams über epistemische Rechtfertigung und perzeptives Wissen Die DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung kann als eine nichtnaturalistische Alternative zum Primat der Begründung verstanden werden. Michael Williams arbeitet die Idee, dass epistemische Rechtfertigung nicht notwendig von Begründung abhängt, als erster im Rahmen einer konsequenten systematischen Konzeption aus. Diese soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels genauer dargestellt werden. Gleichwohl gibt es Vorläufer, auf die ich zunächst kurz eingehen möchte. Hierbei werde ich mich auf William James und Wittgenstein beschränken. 2.1 Präliminarische Bemerkungen zu James und Wittgenstein Einer der frühesten Dissidenten des Primats der Begründung ist William James, der die Idee formuliert, dass Rechtfertigung nicht mit Begründung gleichzusetzen ist.298 In „The Will to Believe“ konzipiert James die Grundzüge einer Psychologie von Überzeugungen, die von der These ausgeht, dass die meisten Überzeugungen nicht willentlich, d. h. im Lichte guter Gründe, angenommen werden, sondern weil es uns nicht gelingt, etwas anderes zu glauben. Zu Beginn des vierten Abschnitts der Vorlesung schreibt James: 297
Im Appendix zu dieser Arbeit werden einige Argumente von Vertretern der naturalisierten Erkenntnistheorie besprochen, die für Williams‘ Ansatz relevant sind. 298 Manche machen bereits bei Thomas Read Grundzüge dieser Idee aus. Vgl. etwa Dretske 2000, S. 597.
206
Our passional nature not only lawfully may, but must, decide an option between propositions, whenever it is a genuine option that cannot by its nature be decided on intellectual grounds […].299
Mit ‘passional nature’ meint James, dass unsere Überzeugungen normalerweise nicht auf der Basis kühler Reflexion gewählt werden, sondern aufgrund lebensweltlicher Zwänge. Was meint James aber damit, dass wir uns zu einer Wahl (option) hinsichtlich Propositionen entscheiden müssen? Mit Wahl meint James, dass wir uns zwischen dem ‚für wahr Halten’ oder dem ‚für falsch Halten’ einer Proposition – d. h. ob wir eine Proposition glauben wollen oder nicht – entscheiden müssen. Mit einer genuinen Wahl meint James, dass die Überzeugung eine Rolle spielt; und zwar eine Rolle in lebenspraktischen Zusammenhängen. Gemeint sind etwa Überzeugungen über die uns umgebende Welt, in der wir handeln, über andere Personen oder über moralische Werte. Dass eine physikalische Welt um mich herum existiert, in der andere Personen leben, die mit mir gemeinsame Werte teilen, sind in dem Sinn praktisch relevante Überzeugungen, dass sie mein Handeln wesentlich beeinflussen. Mein Handeln wäre ein anderes, wenn ich etwa versuchen würde, davon auszugehen, dass keine physikalische Welt existiert, oder dass meine Mitmenschen willenlose Zombies ohne ein mentales Innenleben sind. Descartes’ methodischer Zweifel stellt einen solchen Versuch dar, weil er – unter den Bedingungen des Zweifels – die Existenz einer physikalischen Welt agnostisch betrachtet. An dieser Stelle interveniert James, indem er auf die Unnatürlichkeit eines solchen Zweifels hinweist. Bei Überzeugungen wie den eben genannten haben wir James zufolge keine wirkliche Wahl, vielmehr müssen wir sie annehmen. James meint hier freilich keine logische Notwendigkeit, sondern dass die Welt, in der wir leben so beschaffen ist, dass sie uns solche Überzeugungen aufdrängt. In diesem Sinn müssen wir James verstehen, wenn er behauptet, dass wir uns für Überzeugungen nicht aufgrund von intellektuellen Gründen entscheiden. Überzeugungen sind für James in diesem Sinn nichts, oder jedenfalls in den meisten praktisch relevanten Fällen nichts, wofür wir uns rational entscheiden, sondern sie sind mentale Orientierungsweisen, durch deren intentionalen Gehalt wir uns in der Welt zurechtfinden. 299
James 1979, meine Hervorhebung.
207
James ist hier freilich nicht auf die These festgelegt, dass Überzeugungen niemals willentlich und rational gewählt werden. Dies wäre eine schwer zu haltende These. Betrachten wir etwa wissenschaftliche Kontexte, dann stellen wir fest, dass Personen ihre Überzeugungssysteme ständig durch neue Evidenzen regulieren. Dies würde James zugestehen, würde aber darauf hinweisen, dass wir es hier mit einem künstlichen Kontext zu tun haben; ‚künstlich’ freilich relativ zur Alltagspraxis. In lebenspraktischen Zusammenhängen ist Glauben für James der Normalzustand, weil wir sonst handlungsunfähig wären. Überzeugungen können für James infrage gestellt werden. Aber selbst dann müssen bestimmte Überzeugungen angenommen werden. Dies ist vielleicht der wesentliche Unterschied von James’ Pragmatismus und der abendländischen Philosophietradition: Auch der philosophische Zweifel setzt einen Konsens über die Grundstrukturen der Welt voraus, in der wir leben. Das Primat der Begründung missachtet diese Maxime und wird daher von James als ‚intellektualistisch’ betrachtet. Wittgenstein bemerkt in Über Gewissheit, dass es schwierig ist, „[…] die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.“ (§166)300 Ähnlich wie James zielt auch Wittgenstein darauf ab, dass Menschen natürlicherweise zunächst einmal Dinge glauben und nicht in Zweifel ziehen. Denn alle Menschen beginnen ihr Leben als Kinder. „Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben.“ (§160) Schwieriger ist es zu sehen, dass Überzeugungen auch bei erwachsenen Menschen grundlos sind. Diese Schwierigkeit wird letztlich durch die Annahme des Primats der Begründung motiviert. Wenn wir das Primat der Begründung annehmen, werden auch Überzeugungen mit vermeintlich sicheren Inhalten begründungspflichtig, wie etwa Überzeugungen über mentale Zustände anderer Personen oder über physikalische Gegenstände. Für Wittgenstein können solche Überzeugungen aber aus systematischen Gründen nicht bezweifelt werden. Er schreibt etwa: „Prüft jemand je, ob dieser Tisch hier stehen bleibt, wenn niemand auf ihn achtgibt?“ (§163) und „Kann man aber auch sagen: Nichts spricht dagegen und alles dafür, dass der Tisch dort auch dann vorhanden ist, wenn niemand ihn sieht? Was 300
Ich orientiere mich in diesem Abschnitt über Wittgenstein stark an Malcolm 1992.
208
spricht denn dafür?“ (§119) Weder Zweifel noch mögliche Begründungen sind für Wittgenstein in den Sprachspielen vorgesehen, in denen wir über solche Dinge reden. Erst der Versuch, etwa unsere Überzeugungen über physikalische Gegenstände zu begründen, führt dazu, dass diese Überzeugungen fraglich werden. Nun gehören diese Überzeugungen aber zu der Klasse der Überzeugungen, die wir nicht so einfach aufgeben können. An dieser Stelle kommt Wittgensteins therapeutisches Verständnis philosophischer Probleme zum Tragen, das wir bereit bei McDowell kennen gelernt haben, und welches in Michael Williams’ Ansatz ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt. Wir erinnern uns, für Wittgenstein beruhen die meisten philosophischen Probleme auf einem Missverständnis der Sprache, das es zu therapieren und nicht zu lösen gilt. Die Therapie liegt schließlich darin, bestimmte philosophische Annahmen, etwa über eine Welt hinter der physikalischen Welt, aufzugeben. Das Primat der Begründung zählt für Wittgenstein zu diesen Annahmen. Wittgensteins therapeutische Alternative besteht darin, die Grundlosigkeit unserer Überzeugungen zu akzeptieren. Was meint er aber genau mit ‚Grundlosigkeit’? Wittgenstein meint natürlich nicht, dass Überzeugungen niemals begründet werden können. Gemeint ist vielmehr, dass all unser Denken in systematischen Zusammenhängen stattfindet, deren Rahmen selbst nicht mehr begründet wird; ja, nicht einmal begründet werden kann. Ein Beispiel hierfür ist folgende Bemerkung Wittgensteins in §167: Lavoisier macht Experimente mit Stoffen in seinem Laboratorium und schließt nun, dass bei der Verbrennung dies und jenes geschehe. Er sagt nicht, dass es ja ein andermal anders zugehen könne. Er ergreift ein bestimmtes Weltbild, ja, er hat es natürlich nicht erfunden, sondern als Kind gelernt. Ich sage Weltbild und nicht Hypothese, weil es die selbstverständliche Grundlage seiner Forschung ist und als solche auch nicht ausgesprochen wird.
Dass die Welt kontinuierlich existiert und keine Sprünge macht, wird von Lavoisier vorausgesetzt; es handelt sich um keine Hypothese nach deren Begründung er mit seiner eigenen Forschung beginnt. Ähnlich sind für Wittgenstein auch Überzeugungen über physikalische Gegenstände und andere Personen Selbstverständnisse eines Weltbildes und keine begründungswürdigen Annahmen. Wittgenstein spricht anstelle von Weltbildern auch von Systemen bzw. von Sprachspielen, in denen unser Denken, bzw. 209
unser Fragen, stattfindet. „Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems.“ (§105) Gemeint ist, dass wir Fragen immer unter einer bestimmten Perspektive stellen. Wir setzen dann freilich schon vieles voraus, etwa die Regeln der Logik oder eben jene Hintergrundannahmen über die Kontinuität und Existenz einer physikalischen Welt, die uns umgibt. Hier gibt es ein gewisses fundamentalistisches Moment in Wittgensteins Konzeption. Und tatsächlich macht Wittgenstein Bemerkungen wie „Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende.“ (§192) oder „Hat das Prüfen nicht ein Ende?“ (§164) Wie verhält es sich jedoch mit folgender Stelle? D. h. die Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, dass gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen. (§341)
Wittgenstein gesteht dem Fundamentalisten einen systematischen Punkt zu, indem er darauf abhebt, dass sinnvolles Fragen nur möglich ist, wenn wir zumindest manche Sätze als wahr akzeptieren. Jedoch verwendet er hier nicht die Metapher des Fundamentes, sondern die der Angel. Gemeint ist das Scharnier, durch welches eine Tür beweglich wird. Alles, was Wittgenstein hier behauptet, ist, dass wir so aufwachsen, dass wir bestimmte Dinge als gegeben hinnehmen. Wir stellen eben nicht infrage, dass wir essen müssen, dass wir mit anderen Menschen in einer Gemeinschaft leben, dass uns eine physikalische Welt umgibt, dass es moralische Regeln gibt etc. Und wir entscheiden uns vor allem nicht für solche Überzeugungen. Aber die Metapher der Angel bringt noch einen weiteren systematisch bedeutsamen Punkt zum Ausdruck: Das Verhältnis zwischen Angel und Tür ist kontingent. Es könnte auch ein anderes System geben, in dem die Türe bewegt wird, etwa eine Schiebetür. Dies wird durch Wittgenstein zum einen durch eine weitere Metapher anschaulich gemacht – der FlussbettMetapher. Der Lauf des Wassers ist durch das Flussbett vorgegeben. Das Flussbett kann sich aber verändern. Im gleichen Sinn kann sich, so Wittgenstein, „[…] das Flussbett der Gedanken […] verschieben.“ (§97) Im Gegensatz zum klassischen Fundamentalismus strebt Wittgenstein eine non-kognitivistische ‚Fundierung’ unserer doxastischen Systeme an, wobei er anstelle von doxastischen Systemen von Sprachspielen spricht.
210
Du musst bedenken, dass das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben. (§559)
Mit anderen Worten: dass wir in unserem Leben von bestimmten Voraussetzungen ausgehen, beispielsweise dass wir nicht einfach davonfliegen, dass die Welt wirklich, und nicht nur in unseren Träumen, existiert, dass es andere Personen gibt, … etc., ist in dem Sinn nicht begründbar, dass es etwas für uns Selbstverständliches darstellt; einen geistigen Horizont, in dessen Gegenwart wir aufwachsen und uns auch als erwachsene Menschen weiterhin bewegen. In den Philosophischen Untersuchungen beschreibt Wittgenstein dieses Selbstverständnis als Lebensform. ‚So sagst du also, dass die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?’ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform. (§241)
Der Begriff der Lebensform ist ein notorisch schwieriger Begriff in Wittgensteins Philosophie. Beschränken wir uns hier darauf, dass Lebensformen Arten und Weisen sind, wie Menschen handeln. Daraus wird deutlich, inwiefern Wittgensteins Konzeption vom klassischen Fundamentalismus abweicht. Bei Wittgenstein kommen die Rechtfertigungen in der Praxis – d. h. in gemeinsam geteilten Selbstverständnissen, die Wittgenstein als Lebensform bezeichnet – an ein Ende. Dies ist ein im strengen Sinne nonkognitivistischer Ansatz epistemischer Rechtfertigung, weil die Fundamente gerechtfertigten Glaubens eben nicht in kognitiven Akten epistemischer Personen liegen, sondern in der Praxis. Einer der Hauptvorwürfe gegen Wittgenstein ist der Relativismusvorwurf. Wenn die Standards der Rechtfertigung von den Normen unserer Sprachspiele abhängen, scheint Rechtfertigung völlig beliebig zu werden. Die Schwäche in Wittgensteins Ansatz liegt sicher darin, dass die Verbindung zwischen Sprachspielen und den Tatsachen der Welt im Dunkeln bleibt. Wie können wir in einer solchen Wittgensteineanischen Konzeption etwa gute und schlechte epistemische Praktiken unterscheiden? Und: Ist es nicht möglich, dass die Rechtfertigungsstandards und die Tatsachen der Welt zufällig verbunden sind? D. h. kann man nicht auch auf der Ebene der Praxis Gettier-Fälle konstruieren? Wittgenstein beobachtet m. E. richtig, dass Rechtfertigungen eine soziale Angelegenheit sind. D. h. es gibt keine 211
Rechtfertigung ohne soziale Kontexte. Allerdings fehlt bei ihm, zumindest insoweit seine Position hier dargestellt wurde, ein Kriterium dafür, dass die epistemische Praxis in einer reliablen Weise mit der Welt korreliert. Im nächsten Abschnitt soll Michael Williams’ DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung dargestellt werden, die an dieser Stelle ein externalistisches Kriterium angibt. Gehen wir zunächst auf Williams’ Vorschlag ein; anschließend wird diskutiert, ob dieser Vorschlag überzeugen kann. 2.2 Williams’ DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung 2.2.1 Ein neues Modell epistemischer Rechtfertigung Williams stellt sich in die Reihe der Dissidenten des Primats der Begründung, wobei er Robert Brandom als weitere Quelle heranzieht. We can preserve the link between knowledge and justification without accepting the Prior Grounding requirement. As we have noted, though so far without much elaboration, we can see justification as exhibiting what Robert Brandom calls a ‘default and challenge structure’. The difference between the ‘Prior Grounding’ and ‘Default and Challenge’ conceptions of justification is like that between legal systems that treat the accused as guilty unless proved innocent and those that do the opposite, granting presumptive innocence and throwing the burden of proof onto the accuser. Adopting the second model, epistemic entitlement is the default status of a person’s beliefs and assertions. One is entitled to a belief or assertion […] in the absence of appropriate ‘defeaters’: that is, reasons to think that one is not so entitled.301
Das Primat der Begründung (Williams’ Prior Grounding Requirement) macht die Rechtfertigung von Überzeugungen abhängig davon, ob eine Person ihre Überzeugungen begründen kann. D. h. eine Person erwirbt nur dann das Recht etwas zu behaupten, wenn sie Gründe für ihre Überzeugung angeben kann. Mit dieser These korreliert ein Rechtsprinzip, nach dem epistemische Schuld der Normalzustand, d. h. der default-Zustand, ist, während die Unschuld, bzw. das Gerechtfertigtsein der Überzeugung, bewiesen werden muss. Dies kontrastiert Williams mit einem weiteren Rechtsprinzip, nach dem Unschuld der Normalzustand ist und Schuld bewiesen werden muss: dem Prinzip ‚in dubio pro reo’. Beide Rechtsprinzipien sind möglich, und beide Rechtsprinzipien wurden und werden ange301
Williams 2001, S. 148f.
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wendet. Im Hexenhammer des Dominikanermönchs Heinrich Kramer, einem Lehrwerk zum Erkennen und Verurteilen von Hexen, werden z.B. Verfahren angegeben, wie man die Unschuld einer Hexe beweisen kann – etwa wenn diese trotz eines umgehängten Gewichtes nicht ertrinkt, sobald man sie in einen Fluss oder See geworfen hat.302 In unserer modernen Rechtspraxis hat sich dieses Rechtsprinzip nicht behaupten können; in der heutigen Rechtspraxis gilt die Unschuldsvermutung, und Schuld muss bewiesen werden. Hierfür gibt es einen guten Grund: Wir finden es vertretbarer, Schuldige entkommen zu lassen, als Unschuldige zu verurteilen. Der Schutz der Unschuldigen zählt mehr. Dies ist, rein juristisch betrachtet, ein intuitiv einleuchtender Punkt. Mit dem Kontrast der beiden Rechtsprinzipien will Williams diese Intuition auch für epistemische Kontexte in uns provozieren. Die Grundidee ist folgende: Wenn das Recht, als unschuldig zu gelten in juristischen Kontexten der Normalfall ist, wieso soll dann nicht auch in epistemischen Kontexten mein Recht etwas zu behaupten der Normalfall sein? Epistemische Rechte würden so im Normalfall keine Begründungen erfordern. Dieser Auffassung ist auch Dretske (vgl. Appendix, S. 250ff.). Williams möchte allerdings sagen, dass man auch ohne eine Begründung epistemisch gerechtfertigt sein kann. Im Gegensatz zu Dretske möchte Williams nur sprachlich sozialisierten Wesen epistemische Rechte zuschreiben – Tieren und kleinen Kindern dagegen nicht.303 Hierzu bestimmt er das Verhältnis zwischen personaler Rechtfertigung und adäquater Begründung neu. Das Primat der Begründung besagt, dass personale Rechtfertigung nur durch evidentielle Rechtfertigung erworben wird. Williams erklärt dagegen personale Rechtfertigung zum Normalfall und evidentielle Rechtfertigung zur Ausnahme: „[…] in its primary sense ‚justification’ answers to personal justification.“304 Eine erwachsene, normal sozialisierte, d. h. adäquat in die Sprache eingeführte, Person soll demnach in vielen ihrer Überzeugungen gerechtfertigt sein, ohne dass sie hierfür Gründe angeben müsste. Per302
Das Dilemma der Hexe bestand freilich darin, dass sie auch für den unwahrscheinlichen Fall ihres Überlebens wegen der Anwendung schwarzer Künste hingerichtet wurde. 303 Vgl. Williams 2000, S. 611. 304 Williams 2000, S. 608.
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sonen wären demnach in erster Linie nicht rational, weil sie Gründe für ihre Überzeugungen angeben können, sondern weil sie Überzeugungen haben, die in einer Gemeinschaft von Sprechern als ‚rational’ gelten. Das Primat der Begründung wird dagegen als intellektualistisch zurückgewiesen.305 Williams verdeutlicht dies, indem er behauptet, […] that intellectualism is questionable from an epistemic standpoint. For example, by ‚evidence’ we mean known facts that give grounds for inferring further facts. This is what we have in mind when we speak of the experimental evidence in favour of a scientific hypothesis or of the evidence that led the jury to convict. Here justification takes the form of an explicit argument. But it is not obvious that all justification is like this. Many of our beliefs result from the unreflective use of our perceptual capacities and, in such cases, talk of evidence sounds strained. Mouse droppings are evidence that mice have got into the house: seeing the mice themselves run across the floor isn’t.306
Viele unserer Überzeugungen sind für Williams wie für Wittgenstein und James nicht gerechtfertigt, weil wir Gründe angeben können, sondern weil man sie nicht in Zweifel zieht. Personale Rechtfertigung ist in diesem Sinn nicht von Begründungen abhängig. Wittgenstein schreibt in Über Gewissheit hierzu: „Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht.“ (§220) Die Überzeugungen, die vernünftigerweise nicht bezweifelt werden können, bezeichnet Williams als standardmäßig (default) gerechtfertigt. Eine Schwäche in Williams’ Darstellung seines Ansatzes, zumindest in Problems of Knowledge, ist sicherlich, dass er kaum Beispiele für standardmäßig gerechtfertigte Überzeugungen angibt. Mir erscheint es hier sinnvoll, zunächst einige Beispiele für standardmäßig gerechtfertigte Überzeugungen anzugeben. Folgende Beispiele kommen m. E. in Frage: (i) Wahrnehmungsüberzeugungen. (ii) Erinnerungsüberzeugungen. (iii) Überzeugungen über die eigenen mentalen Zustände. (iv) Überzeugungen über die mentalen Zustände anderer Personen. (v) Überzeugungen durch Mitteilungen anderer Personen. 305
Es gibt hier also sogar eine Übereinstimmung mit naturalistischen Positionen, die ebenfalls den Intellektualismus-Vorwurf gegen das Primat der Begründung geltend machen. Vgl. etwa Kornblith 2002, Dretske 2000, Goldman 2000. 306 Williams 2001, S. 24f.
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Unter (i) verstehe ich hier die Dinge, die wir glauben, wenn wir etwas wahrnehmen; also Überzeugungen über die physikalischen Objekte in der Welt. Mit (ii) sind unsere Überzeugungen über vergangene Ereignisse gemeint, an denen wir beteiligt waren. (iii) bezeichnet Einstellungen unseren Schmerzen, Gefühlen und Gedanken gegenüber. (iv) bezieht sich auf die implizite Annahme, dass andere Personen (in etwa) so denken und fühlen wie wir. (v) ist ein allgemeiner Punkt und bezieht sich auf alle Überzeugungen, die wir durch andere Personen und Medien wie etwa Bücher oder Zeitungen erworben haben. Hier soll es nicht um eine Definition der Überzeugungstypen (i)-(v) gehen, sondern lediglich um die Angabe einiger Beispiele für standardmäßig gerechtfertigte Überzeugungen. Auf den Begriff der standardmäßigen Rechtfertigung wird gleich genauer eingegangen. Bleiben wir kurz bei den Beispielen, um diesen Begriff zunächst intuitiv zu erfassen. Was kann es etwa bedeuten, dass meine Wahrnehmungsüberzeugungen standardmäßig gerechtfertigt sind? In einem ersten Anlauf kann man mit Wittgenstein antworten, dass ein erwachsener Mensch normalerweise nicht an seiner Wahrnehmung zweifelt. Gleichermaßen zweifelt ein normaler erwachsener Mensch nicht an seinem Erinnerungsvermögen. Von normalen Menschen zu sprechen, hat immer einen bitteren Beigeschmack. ‚Normal’ soll hier (ganz harmlos) bedeuten, dass ein Mensch dazu fähig ist, an einer Praxis (hier: der epistemischen Praxis) teilzunehmen. Zweifelt er ständig an seiner Wahrnehmung oder seiner Erinnerung, kann er dies nicht. Jemanden, der ständig an seiner Wahrnehmung oder Erinnerung zweifelt, würden wir schlicht für verrückt halten. Dies ist freilich zunächst ein psychologischer Punkt: Für Wesen, die sich nicht unbedingt auf ihre Instinkte verlassen können, ist es normal (natürlich), sich durch Überzeugungen in der Welt zu orientieren. Damit eröffnen wir aber auch eine epistemologische Dimension. Denn erstens ist es für solche Wesen dann eine wichtige Frage, ob ihre Überzeugungen wahr oder falsch sind. Und wenn wir zweitens sagen, dass es für erwachsene Menschen normal ist, bestimmte Überzeugungen zu haben, dann meinen wir damit natürlich auch, dass es richtig ist, sie zu haben. In einem gewissen Sinn ist eine Person dann auch in solchen Überzeugungen gerechtfertigt. Ob dies für epistemische Rechtfertigung hinreicht, hängt 215
dann freilich von der Wahrheitsleitung dieser Überzeugungen ab. Auf diesen Punkt komme ich gleich zurück. Unter dem Primat der Begründung setzt jeder der Überzeugungstypen (i)(v) weitere Begründungen voraus. Bei der bisherigen Besprechung des Problems des perzeptiven Wissens haben wir gesehen, mit welchen Problemen der Versuch konfrontiert ist, eine Grundlage für unser perzeptives Wissen zu finden. Williams bemerkt hierzu lakonisch: „A theory that represents working practises as unworkable is a bad theory.“307 Unsere epistemische Praxis ist eine funktionierende (working) Praxis, und ohne die Möglichkeit perzeptiven Wissens wäre sie infrage gestellt. Vielleicht könnte man ohne ein konsistentes Konzept von perzeptivem Wissen noch bestimmte Formen von Wissen a priori begründen. Wissen über die Welt, in der wir leben, wäre jedenfalls problematisch. Das Primat der Begründung respektiert dies nicht und kann somit keine adäquate Abbildung unserer epistemischen Alltagspraxis sein; so interpretiere ich Williams an dieser Stelle. Williams nimmt hier wie Wittgenstein eine therapeutische Perspektive ein: Wenn das Primat der Begründung unsere funktionierende epistemische Praxis infrage stellt, dann sollten wir das Primat der Begründung und nicht unsere Praxis aufgeben. Williams’ Alternative wird darin bestehen, Überzeugungen der Typen (i)-(v) als standardmäßig gerechtfertigt anzunehmen, wobei wir hier nur auf Typ (i) näher eingehen werden. Aus der Perspektive des Philosophieverständnisses, wie es sich seit Platons Höhle etabliert hat, ist DC natürlich eine Provokation. Wenn Überzeugungssysteme normalerweise aus gerechtfertigten Überzeugungen bestehen, sind zumindest bestimmte metaphysische Spekulationen und philosophische Gedankenexperimente als sinnlos, bzw. unnatürlich, zurückzuweisen. Verletzt DC außerdem nicht das Prinzip der doxastischen Autonomie? Wird hier nicht der Unterschied zwischen rationalen Meinungen und Vorurteilen einfach beiseite gewischt? Um auf diese Fragen adäquat zu antworten, muss noch auf einige Grundlagen der DC-Konzeption genauer eingegangen werden. Beginnen wir zunächst mit dem Begriff der personalen Rechtfertigung. Personale Rechtfertigung – d. h. der Status einer Person, in ihren Überzeugungen gerechtfertigt zu sein – ist für Williams ein
307
Williams 2001, S. 154.
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Derivat einer angemessenen Einführung in die epistemische Praxis. Er beschreibt dies folgendermaßen: The status of an epistemic subject does not come with mere sentience: it has to be earned through training and education. But the sceptic (and the traditional epistemologist) […] take it to require that entitlement must be earned by taking specific positive steps in each situation in which entitlement is claimed. This is what allowing for default entitlements lets us deny. However, this is not to say that personal justification is completely independent of the ability to give grounds for what one believes […] What we should reject is only the idea that a responsible believer’s commitment to providing grounds is unrestricted. A claim to knowledge involves a commitment to respond to whatever appropriate challenges emerge, or to withdraw the claim should no effective defence be available. In claiming knowledge, I commit myself to my beliefs being adequately grounded – formed by a reliable method – but not to my having already established its well groundedness. This sort of defence is necessary only given an appropriate challenge: a positive reason to think that I reached my belief in some unreliable manner.308
Der Status einer epistemischen Person, in ihren Überzeugungen personal gerechtfertigt zu sein, ist, so Williams, das Ergebnis einer gelungenen Erziehung. D. h. wenn eine Person eine normale Erziehung durchlaufen hat, dann erwirbt sie diesen Status. Die normative Dimension des Begriffs der Rechtfertigung hängt damit zusammen, dass eine Person etwas richtig macht, wenn sie bestimmte Überzeugungen, etwa Wahrnehmungsüberzeugungen, annimmt. Klassische Konzeptionen kennzeichnen diese normative Dimension über inferentielle Regeln der Begründung und bestimmte epistemische Pflichten, wie etwa, gründlich zu argumentieren und epistemisch sorgfältig zu sein. Solche Konzeptionen werden daher auch als ‚deontologisch’ bezeichnet.309 In welchem Sinn ist aber DC normativ?
308
Williams 2001, S. 149. Hierbei handelt es sich freilich um eine Analogie zur deontischen Ethik, die in einer Anwendung bestimmter ethischer Termini in der Erkenntnistheorie besteht. Vertreter einer solchen epistemischen Deontologie sind etwa Chisholm, Sellars und McDowell. Die klassische Referenz der epistemischen Deontologie finden wir in Descartes’ vierter Meditation, wo Descartes das Vermeiden von Irrtümern durch die Annahme von cartesischen Gewissheiten als höchste epistemische Pflicht einführt und hierbei explizit deontologisches Vokabular wie ‚Schuld’, ‚Verantwortung’, ‚richtig’ und ‚falsch’ verwendet.
309
217
DC hat zwar, wie wir gleich noch genauer sehen werden, einen Bezug zur evidentiellen Rechtfertigung, nämlich für den Fall berechtigter Einwände. Im Normalfall soll die epistemische Person aber in ihren Überzeugungen gerechtfertigt sein, ohne dass sie Gründe angeben kann; im Normalfall sind die Überzeugungen einer epistemischen Person standardmäßig gerechtfertigt. Personale Rechtfertigung kann zumindest nicht in dem Sinn deontologisch normativ sein, dass die Rechtfertigung von der Erfüllung inferentieller Pflichten abhinge. Es gibt zwar auch andere epistemische Pflichten als inferentielle, etwa epistemisch sorgfältig zu argumentieren, so dass man personale Rechtfertigung eventuell in einem anderen Sinn deontologisch bestimmen kann. Ich möchte hier stattdessen vorschlagen, personale Rechtfertigung – die standardmäßige Rechtfertigung von Überzeugungen einer epistemischen Person – tugendepistemologisch aufzufassen. Man kann dann sagen, dass ein guter epistemischer ‚Charakter’ bestimmte Überzeugungen über die Welt hat, wobei sich das „gut“ auf die Fähigkeit zur Partizipation an der epistemischen Praxis bezieht. Wahrnehmungsüberzeugungen sind in diesem Sinn nicht deshalb gerechtfertigt, weil Wahrnehmungen Gründe für unsere Überzeugungen wären, sondern weil man ansonsten nicht an der epistemischen Praxis teilnehmen kann. Doxastische Autonomie verlangt nicht von der epistemischen Person, ihre Überzeugungen standardmäßig infrage zu stellen, sondern sie setzt vielmehr voraus, dass man zunächst einmal bestimmte Dinge glaubt. Erst wenn berechtigte Einwände vorliegen, muss die epistemische Person dazu übergehen, ihre Überzeugungen infrage zu stellen. Die Grundstruktur von Michael Williams’ DC-Konzeption epistemischer Rechtfertigung kann man in einem ersten Schritt folgendermaßen bestimmen: Epistemische Personen sind qua Einführung in die epistemische Praxis in sehr vielen ihrer Überzeugungen standardmäßig gerechtfertigt. Diese Überzeugungen gelten als rational, nicht weil sie von weiteren Gründen abhängen, sondern weil sie in einer Gemeinschaft als rational gelten. Eine epistemische Person ist so lange in der Annahme solcher Überzeugungen – wie etwa Wahrnehmungsüberzeugungen oder Erinnerungsüberzeugungen – gerechtfertigt, wie keine berechtigten Einwände gegen diese Überzeugungen vorgebracht werden. Dies ist die Pointe der Anwendung des Prinzips ‚in dubio pro reo’ auf die Frage nach der epistemischen Rechtfertigung unserer Überzeugungen. Für Wissen muss, wie wir gleich sehen wer218
den, noch eine externalistische Bedingung (adäquate Begründung) hinzukommen. Dies ist, wie gesagt, nur die Grundstruktur. Für eine genauere Darstellung von Williams’ Position müssen wir zunächst auf seinen epistemischen Kontextualismus und seinen Fallibilismus, die Frage, wann berechtigte Einwände vorliegen, eingehen. 2.2.2 Epistemischer Kontextualismus und berechtigte Einwände Der epistemische Kontextualismus besagt allgemein, dass die Standards für Wissen kontextsensitiv sind. D. h. wann einer epistemischen Person Wissen zugeschrieben werden soll, ist für den Kontextualisten abhängig von Standards, die von Kontext zu Kontext variieren können.310 Die klassische Alternative ist der stabile Wissensbegriff, wie man ihn bereits bei Platon findet, und nach dem sich die Standards für Wissen nicht verändern.311 Im Folgenden soll Williams’ epistemischer Kontextualismus im Zusammenhang mit seiner DC-Konzeption dargestellt werden. Personale Rechtfertigung beinhaltet für Williams, dass eine epistemische Person in vielen ihrer Überzeugungen standardmäßig gerechtfertigt ist, sofern keine berechtigten Einwände vorliegen. Oben wurde bereits angedeutet, was hier unter ‚standardmäßig’ zu verstehen ist: Wenn eine Person adäquat in die epistemische Praxis eingeführt wurde, dann hat sie bestimmte Überzeugungen über die Welt; d. h. eine normale epistemische Person glaubt bestimmte Dinge, wie etwa, dass es eine physikalische Welt gibt, die sie mit anderen Personen teilt, die eine Vergangenheit und Zukunft hat. Es wurde vorgeschlagen, diesen Status ‚tugendepistemologisch’ zu verstehen. Personale Rechtfertigung bedeutet dann, dass eine epistemische Person rational in der Annahme bestimmter Überzeugungen ist, weil es sich hierbei um Überzeugungen handelt, die ein erwachsener Mensch normalerweise hat. Wie in Abschnitt 1.1 dieses Kapitels bereits dargestellt wurde, weiß eine epistemische Person für Williams noch nicht, dass p, wenn 310
Ich beschränke mich hier auf die Darstellung von Williams’ Kontextualismus. Andere und zum Teil stark abweichende Ansätze vertreten etwa David Lewis (1996), Stewart Cohen (1986) und Keith DeRose (1992). 311 Der Kontextualismus geht nicht von der exzentrischen These aus, dass die Wahrheit einer Überzeugung kontextrelativ ist, sondern er bezieht sich auf die Standards der Rechtfertigung.
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sie personal in einer wahren Überzeugung, dass p gerechtfertigt ist. Eine epistemische Person muss für ihn weiterhin adäquate Gründe haben, wobei ‚Gründe-haben’ reliabilistisch zu verstehen ist. Es wurde in Abschnitt 1.1 bereits angedeutet, dass Williams ein normatives Konzept von Reliabilität annimmt. Diese These, dass Reliabilität ein normativer Begriff ist, entwickelt Williams analog zu Sellars’ Überlegungen aus EPM. Wie wir in Kapitel I gesehen haben, argumentiert Sellars, dass die Reliabilität des Prozesses, der zu einer wahren Überzeugung führt zwar notwendig aber nicht hinreichend für perzeptives Wissen ist. Eine perzeptive Überzeugung (observation report) ist für Sellars erst dann ein Fall von Wissen, wenn die epistemische Person auch weiß, wie diese Überzeugung in weiteren epistemischen Zusammenhängen (Wittgenstein würde ‚Sprachspiele’ sagen) zu verwenden ist.312 Eine epistemische Person muss für Sellars etwa wissen, dass grüne Gegenstände unter Standardbedingungen grün aussehen. Reliabilität ist daher für Sellars als epistemischer Begriff abhängig von einem Hintergrundwissen über die generelle normative Struktur des Wissensbegriffs. Dieses Hintergrundwissen ist kein explizites Wissen; es handelt sich vielmehr um die Regeln, die man beherrschen muss, um überhaupt zu wissen, was eine Wissensbehauptung ist. Bei Sellars bleibt hier einiges im Dunkeln. Insbesondere das Verhältnis zwischen Reliabilität und dem normativen Hintergrundwissen wird nicht genauer bestimmt. An dieser Stelle setzt Williams mit seiner Interpretation an und behauptet, Sellars habe ein kontextualistisches Konzept epistemischer Rechtfertigung im Sinn.313 Bevor ich näher darauf eingehe, was Williams hier unter ‚kontextualistisch’ versteht, möchte ich zumindest darauf hinweisen, dass diese Interpretation einige Fragen aufwirft. Sellars scheint zunächst von einem naturalistischen Begriff der Reliabilität auszugehen; vor diesem Hintergrund fragt er weiter, unter welchen Bedingungen eine Person weiß, wann eine bestimmte Überzeugung, etwa eine Wahrnehmungsüberzeugung, als Grund angeführt werden kann.314 Wenn dies die richtige Darstellung ist, 312
Wir würden, wie in Kapitel I bereits erwähnt wurde, einem Papageien oder einem Automaten kein Wissen zuschreiben, nur weil er reliabel mit bestimmten wahrheitsfähigen Aussagen auf seine Umgebung reagiert. 313 Vgl. Williams 2001, S. 34 und 173ff. 314 Vgl. hierzu die Sellars-Darstellung in Kapitel I dieser Arbeit.
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dann würde Sellars zumindest nicht behaupten, dass Reliabilität ein normativer Begriff ist, sondern nur, dass die Anführung perzeptiver Überzeugungen als Gründe ein normativer Prozess ist. Williams behauptet dagegen expressis verbis ersteres, also dass der Begriff der Reliabilität normativ ist. Er wendet sich explizit gegen die Annahme, dass der Begriff der Reliabilität in einem naturalistischen Sinn externalistisch ist. Denn, so Williams: Reliability is an incurably interest-relative notion. The standards for reliability are set by us, not by Nature. This means that there is no hope of fully ‘naturalizing’ epistemology by explaining knowledge in terms of reliability.315
Der Begriff der Reliabilität ist, so Williams, interessengeleitet. Dies ist eine Behauptung, die wir bei Sellars so nicht finden, auch wenn wir bei Sellars ansonsten viel finden, was mit Williams’ Annahmen übereinstimmt. Ich komme in Abschnitt 2.2.4 auf das Verhältnis von Sellars und Williams zurück. Was meint Williams damit, dass der Begriff der Reliabilität interessenrelativ ist? Er erläutert dies damit, dass die Standards für Reliabilität von uns und nicht von der Natur gemacht (set) werden. Dies klingt nach einer konstruktivistischen These, ist aber in einem pragmatistischen Sinn zu verstehen. Dass die Standards von uns gesetzt werden, bedeutet, dass sich bestimmte Standards in bestimmten Situationen bewährt haben. Das Interesse, von dem Williams hier spricht, ist ein praktisches Interesse. Der Begriff der Reliabilität ist für Williams daher normativ, weil eine Person bestimmte von uns gemachte Standards befolgen soll. Diese Standards sind für Williams weiterhin kontextrelativ: In verschiedenen Kontexten sollen verschiedene Standards dafür gelten, wann eine epistemische Person in ihren Überzeugungen gerechtfertigt ist. Williams spricht daher auch von einer kontextualistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung. In this model, questions of justification always arise in a definite justificational context, constituted by a complex and in general largely tacit background of entitlements, some of which will be default. Thus the Default and Challenge model leads to what I shall call […] a contectualist picture of justification.316
Williams bemüht hier Sellars’ Annahme eines impliziten Hintergrundwissens praktischer Natur, welches selbst keine begründende Funktion ein315 316
Williams 2001, S. 33f. Williams 2001, S. 159.
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nimmt, das allerdings eine notwendige Voraussetzung für die Teilnahme an der epistemischen Praxis ist. Wie gesagt möchte ich mich Williams hier nicht darin anschließen, Sellars eine kontextualistische Konzeption dieses Hintergrundwissens zuzuschreiben. Dennoch scheint mir dies eine sehr sinnvolle Art und Weise zu sein, mit Sellars’ Ansatz zu arbeiten. Denn der Kontextualismus hilft uns an dieser Stelle, nicht, wie etwa Bonjour, in einen epistemischen Kohärentismus abzugleiten. Denn ‚Kontextualismus’ bedeutet auch, dass wir mit unseren Begründungen an ein Ende kommen. Je nach Kontext sind bestimmte Überzeugungen standardmäßig gerechtfertigt. Williams macht hier eine sehr hilfreiche Unterscheidung zwischen strukturellem und substantiellem Fundamentalismus.317 Ersterer behaupte lediglich, dass Begründungen an ein Ende kommen, während zweiterer, den die klassischen Fundamentalisten annehmen, von einer bestimmten Klasse von Basisüberzeugungen ausgehe. Williams’ Kontextualismus geht von einer Form des strukturellen Fundamentalismus aus, lehnt aber den substantiellen Fundamentalismus ab. Denn die Überzeugungen gelten nur so lange als standardmäßig gerechtfertigt, wie keine berechtigten Einwände vorliegen. Williams’ Kontextualismus erweist sich damit als eine fallibilistische Form des strukturellen Fundamentalismus. Williams gibt insgesamt fünf Faktoren an, die konstitutiv für einen epistemischen Kontext sein sollen.318 Während die ersten vier Faktoren die personale Rechtfertigung betreffen, gibt der fünfte Faktor Bedingungen für die adäquate Begründung von Überzeugungen an. Ich möchte hier zunächst Williams’ Darstellung folgen. Anschließend werde ich allerdings versuchen, ein etwas einfacheres Bild vorzuschlagen. Semantische und methodologische Faktoren sollen Bedingungen dafür angeben, welche Überzeugungen als standardmäßig gerechtfertigt angenommen werden. Ohne solche Bedingungen wäre man nicht in der Lage, überhaupt sinnvolle Fragen zu artikulieren. Williams zielt hier auf einen Punkt, den ich bereits im Abschnitt über Wittgenstein erwähnt habe, wo es um die unhinterfragte Annahme von Lavoisier ging, dass die Welt kontinuierlich existiert und keine zufälligen Sprünge macht. Dialektische Faktoren sollen die standardmäßi317 318
Williams 2001, S. 164. Vgl. Williams 2001, S. 159-62.
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ge Rechtfertigung dem Begriffswandel durch neue Erkenntnisse anpassen. Ökonomische Faktoren sollen mit dem Verhältnis von möglichen Ergebnissen (Erkenntnissen) und Standards, die diese Ergebnisse begünstigen oder blockieren können, korrelieren. Diese vier Faktoren betreffen Williams zufolge die Frage, wann eine epistemische Person sich epistemisch verantwortlich verhält, wann sie also personal gerechtfertigt in ihren Überzeugungen ist. Je nach Kontext gibt es demzufolge unterschiedliche Standards dafür, wann Überzeugungen standardmäßig gelten, oder wann berechtigte Einwände vorliegen. Sie sind daher in gewisser Weise internalistischer Natur (bezogen auf einen epistemischen Kontext). Neben diesen internalistischen Faktoren gibt Williams auch einen externalistischen Faktor an, den er als situativen Faktor bezeichnet. Situative Faktoren sollen die adäquate Begründung unserer Überzeugungen sicherstellen, wobei Begründung hier externalistisch zu verstehen ist. Dies soll die Wahrheitsleitung der personalen Rechtfertigung garantieren. „This is because, in claiming knowledge, we commit ourselves to the objective wellgroundedness of our beliefs.”319 Doch was meint Williams mit objektiv guter Begründung (objective well-groundedness)? Er meint definitiv nicht, dass eine Person Gründe geben kann, also evidentielle Rechtfertigung; dies wurde in Abschnitt 1.1 bereits dargestellt. Gründe anzugeben, d. h. gültige Inferenzen durchzuführen, ist für Williams eine Art adäquater Begründung, die aber nicht notwendig für adäquate Begründung ist. Williams meint aber auch kein naturalistisches Verständnis von Gründen, wie wir dies etwa bei Goldman, oder in einer heterodoxen Weise, bei McDowell finden. Williams führt leider nicht näher aus, was er mit adäquaten Gründen meint. Wenn man hier davon ausgeht, dass diese Gründe Gegenstände möglicher Inferenzen sein sollen, dann muss er diskursive Gründe im Blick haben. Sie müssen also die logische Form von Propositionen haben. Hier wird wieder die Unterscheidung zwischen ‚Gründe-geben’, bzw. Inferenzen, und ‚Gründe-haben’ relevant. Adäquate Gründe kann man Williams zufolge haben, ohne dass man in der Lage ist, diese selbst in Inferenzen zu gebrauchen. Es reicht aus, dass sie prinzipiell in Inferenzen gebraucht werden können. Solche Gründe können z.B. sein, dass die Lichtverhältnisse nor319
Williams 2001, S. 162.
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mal sind, dass die eigenen Wahrnehmungsorgane funktionieren, oder dass die Uhr nicht stehen geblieben ist. Der Punkt ist, dass diese Gründe auf Tatsachen zielen, die für unsere Praxis eine Rolle spielen. Es muss sich aber nicht um Inferenzen handeln, die man tatsächlich durchführt. Dies ist das externalistische Moment in Williams’ Konzeption. Ich möchte Williams’ Kontextualismus vereinfachend zusammenfassen: Personale Rechtfertigung funktioniert nach dem DC-Modell. D. h. eine epistemische Person ist zunächst in vielen ihrer Überzeugungen standardmäßig, d. h. ohne Gründe anführen zu können, gerechtfertigt. Standardmäßige Rechtfertigung ist gewissermaßen die eine Seite der personalen Rechtfertigung, nämlich der Normalfall, wobei ‚normal’ bedeutet, dass man die Standards einer Sprechergemeinschaft kennt und befolgt. Die standardmäßige Rechtfertigung kann in Zweifel gezogen werden. Allerdings – und dies ist der entscheidende Unterschied zum Primat der Begründung – müssen die Einwände berechtigt sein. Hier kommt der Kontextualismus ins Spiel. Welche Einwände berechtigt im Sinn adäquater Gründe sind, hängt vom epistemischen Kontext ab. In einem wissenschaftlichen Kontext könnte man etwa berechtigterweise fragen, ob ein bestimmtes meteorologisches Phänomen unsere Farbwahrnehmung beeinflusst. Dies stellt aber nicht die standardmäßige Rechtfertigung perzeptiver Überzeugungen in Alltagskontexten infrage. Liegt ein berechtigter Einwand vor, dann muss die epistemische Person adäquate Gründe angeben, die diesen Einwand widerlegen. Wenn ich etwa behaupte, dass es 12 Uhr ist und eine andere Person dies deshalb infrage stellt, weil ich keine Brille aufhabe und aufgrund dessen nicht die Uhrzeit erkennen kann, kann ich beispielsweise damit antworten, dass meine Augen ‚gelasert‘ wurden, und dass infolge dessen mein Dioptrienwert normalisiert wurde, vorausgesetzt natürlich, diese Person weiß um meine ehemalige Sehschwäche. Personale Rechtfertigung hängt daher nicht davon ab, dass eine epistemische Person Gründe angeben kann. Ich verstehe das DC-Modell weiterhin so, dass die epistemische Person auch adäquate Gründe haben kann, wenn sie diese nicht angeben kann. Wenn wir DC in diesem Sinn verstehen, dann wird auch das Verhältnis zwischen personaler Rechtfertigung und Adäquater Begründung klar. Sowohl im Fall berechtigter Einwände als auch bei der Erwiderung auf solche müssen adäquate Gründe angegeben werden. Was ein adäquater Grund ist, ist wiederum kontextrelativ. 224
Eine wichtige Konsequenz von Williams’ Kontextualismus ist, dass man in Alltagskontexten auch angesichts skeptischer Szenarien viele Dinge wissen kann. Betrachten wir ein einfaches Beispiel: Ich frage mich – im Büro angekommen – ob ich den Herd zuhause ausgemacht habe. Angenommen, ich erinnere mich daran, dass ich mich zuhause vergewissert habe, bevor ich die Wohnung verlassen habe. Normalerweise würden wir hier sagen, dass ich weiß, dass ich den Herd ausgemacht habe, weil ich mich daran erinnere. Was wären mögliche Einwände? Es könnte sein, dass der Schalter defekt ist. Dies ist allerdings kein berechtigter Einwand per se, weil Schalter unter Normalbedingungen funktionieren. Man müsste daher schon einen Grund dafür angeben, warum der Schalter nicht funktioniert, etwa, dass man es selbst ausprobiert hat. Was ist aber mit skeptischen Szenarien? Für den Skeptiker muss ich wissen, dass ich etwa nicht träume, oder dass kein böser Dämon mich täuscht, um zu wissen, dass ich den Herd ausgemacht habe. Mit Williams’ Kontextualismus kann man hier einwenden, dass nicht jede logische Möglichkeit einen berechtigten Einwand darstellt. Die bloße Möglichkeit, dass mich ein böser Dämon täuscht, ist in Alltagskontexten kein berechtigter Einwand, weil es zu den stillschweigenden Voraussetzungen, bzw. semantischen Bedingungen, gehört, dass Wahrnehmung und Erinnerung in einer reliablen Weise zu wahren Überzeugungen führen. Was müsste passieren, damit ein Einwand wie der DämonEinwand relevant würde? Es ist schwierig, hier eine realistische Antwort zu geben; oder sagen wir: eine Antwort, die mich nicht eher dazu berechtigte, einen Arzt oder Psychiater aufzusuchen, als dass sie ein skeptisches Szenario rechtfertigen würde. Zumindest müsste man sehr stark von seinem Alltagsverständnis abweichende Evidenzen erfahren oder erhalten, um in der Annahme eines solchen skeptischen Szenarios gerechtfertigt zu sein. Marcus Willaschek vertritt in diesem Zusammenhang die radikalere These, dass skeptische Szenarien auch in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen nicht automatisch berechtigte Einwände gegen Wissensbehauptungen darstellen.320 Diese These scheint mir insofern plausibel zu sein, dass sich unsere Erkenntnistheorie nicht zu weit von unserer epistemischen Alltagspraxis entfernen sollte. Erkenntnistheorie sollte eine Reflexion auf unsere epistemische Praxis, in Alltag und Wissenschaft, sein und kein sich selbst 320
Willaschek (unveröffentlichtes Manuskript).
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genügendes Spiel, das nach eigenen Regeln funktioniert. Unter den Bedingungen einer cartesischen Erkenntnistheorie, wie sie etwa in den Meditationen vorgeschlagen wird, weiß so gut wie niemand jemals irgendetwas über die Welt. Wir setzen in unserer epistemischen Praxis ständig viel voraus und erwarten nicht, dass eine Person in der Lage ist, alle Gründe von den ersten Gründen her zu kennen. Dies ist keine Schwäche der epistemischen Praxis, solange wir in der Lage sind, Wissensbehauptungen im Lichte neuer Evidenzen zu prüfen und im Zweifelsfall zu revidieren. Williams’ Kontextualismus bietet weiterhin einen guten theoretischen Rahmen für Laienwissen. Denn es wird nicht gefordert, dass eine epistemische Person alle Gründe kennen muss, die ihre Überzeugungen stützen, um in ihren Wissensbehauptungen gerechtfertigt zu sein. Ich kann daher wissen, dass kein Wasser auf dem Mond ist, dass manche Kaffeesorten Acrylamid enthalten, oder dass Andrew Wiles Fermats letzten Satz bewiesen hat, ohne dass ich diese Dinge in letzter Instanz begreifen würde. Denn in Alltagskontexten reicht es aus, wenn ich mich aus einer reliablen Quelle, beispielsweise einem guten Sachbuch, informiert habe. In den letzten Abschnitten dieses Kapitels wird es um die Frage gehen, ob wir mit Williams’ kontextualistischer DC-Konzeption eine Antwort auf das Problem des perzeptiven Wissens geben können. Nach einer kurzen Zwischenbetrachtung möchte ich auf diese Frage zu sprechen kommen. 2.2.3 Zwischenbetrachtung: Ist die Einführung von DC gerechtfertigt? Kann man gegen Williams’ DC nicht einwenden, dass es ad hoc eingeführt und nicht gerechtfertigt wird? Dieser Einwand ist zwar richtig, allerdings ist es wichtig, hier die Motivation von DC im Blick zu behalten. Bei der DC-Konzeption handelt es sich um einen therapeutischen Ansatz, dessen Ziel nicht die Lösung bestimmter philosophischer Probleme, wie dem Problem des perzeptiven Wissens oder dem Problem des Rechtfertigungsregresses, ist, sondern die Angabe eines alternativen begrifflichen Rahmens, in dem dieses Probleme nicht entstehen. Die Einführung von DC kann dann als gerechtfertigt gelten, wenn sie nicht in die Probleme des Primats der Begründung führt. In Abschnitt 1.2 wurde auf vier Probleme hingewiesen, die mit dem Primat der Begründung korrelieren. Erstens ist man durch das Primat der Begründung auf die unplausible These des do226
xastischen Voluntarismus festgelegt. Zweitens korreliert mit dem Primat der Begründung das Problem des epistemischen Zufalls, sofern wir von der Bedingung fallibler Gründe ausgehen. Drittens führt das Primat der Begründung in diverse skeptische Probleme wie die Regressproblematik oder das Problem des perzeptiven Wissens. Diese Probleme gemeinsam gehören zu den Hauptmotiven für naturalistische Ansätze in der Erkenntnistheorie, die hier jedoch als kontraintuitiv zurückgewiesen werden, weil sie den Begriff der doxastischen Autonomie nicht explizieren können.321 Insofern ist DC eine Alternative zur naturalisierten Erkenntnistheorie. Weil DC eine therapeutische Konzeption ist, muss sie daran gemessen werden, ob sie die eben genannten Probleme vermeiden kann. Dies kann hier nur am Beispiel des Problems des perzeptiven Wissens ausführlich gezeigt werden. Ich möchte aber zumindest skizzieren, wie sich DC zu den anderen drei Problemfeldern des Primats der Begründung verhält. Die These des doxastischen Voluntarismus muss in DC offensichtlich in einem sehr viel schwächeren Sinn angenommen werden als dies beim Primat der Begründung der Fall ist. Denn glauben ist in DC der Normalfall, was sicher unserer Alltagspsychologie mehr entspricht als die Art von Psychologie, die wir für das Primat der Begründung benötigen. Überzeugungen im Sinn von Dispositionen (etwas für wahr zu halten) anzunehmen, ist eine psychologisch viel weniger anspruchsvolle These als etwa Sellars’ Idee, dass Überzeugungen mentale Handlungsweisen sind. Das Problem des epistemischen Zufalls ist in DC ebenfalls entschärft. Wenn ich auf meine Uhr sehe, die gestern zur gleichen Zeit stehen geblieben ist, dann bin ich nicht mehr standardmäßig in dieser Überzeugung gerechtfertigt, weil es einen berechtigten Einwand gibt. In solchen Fällen muss die epistemische Person sich für ihre Überzeugungen rechtfertigen; d.h. Gründe angeben, die den Einwand ausräumen. Sie kann etwa sagen, dass sie die Uhr bereits wieder gestellt hat. Allerdings kann man hier auf der Ebene der Reaktion auf die berechtigen Einwände wieder Gegenbei-
321
Vgl. den Appendix zu dieser Arbeit.
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spiele konstruieren.322 Wie sich DC zu diesen Problemen verhält, ist aber eine anspruchsvolle Frage, die hier nicht diskutiert werden kann. Die Regressproblematik wird in DC unterminiert, weil DC nicht vom Primat der Begründung ausgeht. Williams’ Kontextualismus hat gleichermaßen fundamentalistische und holistische Elemente. Der Fundamentalismus kommt, wie im letzten Abschnitt dargestellt, als strukturelle These vor und sichert so ab, dass die Begründungen an ein Ende kommen. Es gibt allerdings auch ein holistisches Element, welches darin liegt, dass unser inferentielles Wissen auf einem begrifflich voraussetzungvollen Metawissen beruht. Hier sollte lediglich skizziert werden, wie sich DC zum Regressproblem, dem Problem des epistemischen Zufalls und dem Problem des doxastischen Voluntarismus verhält. Die für diese Arbeit entscheidende und nun zu diskutierende Frage ist, ob wir mit DC das Problem des perzeptiven Wissens in den Griff bekommen. 2.3 Perzeptives Wissen in DC Williams entwickelt sein DC-Modell epistemischer Rechtfertigung in erster Linie als Reaktion auf die erkenntnistheoretischen Probleme, die sich im Zusammenhang mit dem Regresstrilemma ergeben. DC bietet einen Ausweg aus der nicht enden wollenden Debatte zwischen Fundamentalisten und Kohärentisten. Denn in DC gelten viele Überzeugungen als epistemisch ‚unschuldig‘, weshalb es nicht zu dem Begründungsregress kommt. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass man mit dieser therapeutischen Annahme der epistemischen Unschuld auch das Problem des perzeptiven Wissens als Problem entkräften kann. 2.3.1 Die Anwendung von DC auf das Problem des perzeptiven Wissens Die standardmäßige Rechtfertigung von Überzeugungen ist in Williams’ DC-Konzeption eine Eigenschaft, die diesen Überzeugungen unabhängig von Begründungen zukommt. Dies unterscheidet Williams’ Ansatz von 322
Hier gibt es analoge Probleme, wie in der von Lehrer/Paxson angestoßenen Debatte um die Einführung einer vierten Bedingung zum Ausschluss epistemischen Zufalls, die so genannte Defeater ausschließen soll.
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anderen Positionen wie der Pollocks, die etwa von standardmäßiger, bzw. fallibler, Rechtfertigung durch epistemische Quellen wie der Wahrnehmung oder der Erinnerung sprechen.323 Unsere perzeptiven Überzeugungen sind für Williams nicht standardmäßig gerechtfertigt, weil die Wahrnehmung normalerweise zu wahren Überzeugungen über die Welt führt, sondern weil sie zu den Überzeugungen gehören, die normalerweise nicht in Zweifel gezogen werden; bzw. weil es für erwachsene Menschen rational ist, solche Überzeugungen zu haben. Williams entwickelt seine Konzeption standardmäßig gerechtfertigter, perzeptiver Überzeugungen vor dem Hintergrund von Sellars’ Überlegungen aus EPM. Williams fasst zunächst Sellars’ Position folgendermaßen zusammen: Sellars’s fundamental insight can be summed up like this: observation reports are non-inferential because, as a result of training, they can be made on cue. In an appropriately trained observer, they are elicited – causally – by some aspect of the environment. In this way, they do not depend on inference from evidence. This is the reliabilist aspect of observational knowledge. But […] pure reliabilism cannot capture conceptual content, which demands inferential embedding. Accordingly, observation reports express knowledge because (i) they function as reasons for further judgements, and (ii) they are subject to evaluation and may require defence.324
Das perzeptive Wissen ist für Sellars kausal indirekt aber epistemisch direkt. (Perzeptive Überzeugungen sollen reliable sprachliche Reaktionen auf Umweltreize sein, die aber keiner weiteren Begründung bedürfen.) Sellars kombiniert den Zugangsinternalismus als epistemische These mit einem naturalistischen Begriff von Reliabilität. Daher ist es auszuschließen, dass Sellars einen Kontextualismus im Sinn hat, wie ihn Williams vertritt. Allerdings wurde in Kapitel I argumentiert, dass Sellars die metaphysische Lücke zwischen der Kausalität der Wahrnehmung und der Normativität der Gründe nicht schließen kann. Keine der im Anschluss an Sellars dargestellten Positionen konnte dies leisten. Williams’ kontextualistische DCKonzeption stellt einen therapeutischen Versuch zur Lösung dieses Problems des perzeptiven Wissens dar. Hierzu muss er, wie sich gleich zeigen wird, nicht annehmen, dass Sellars Kontextualist ist, sondern lediglich,
323 324
Vgl. Pollock 2008. Williams 2001, S. 174.
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dass man eine solche Position im Rahmen von Sellars’ Ansatz entwickeln kann. Williams behauptet zunächst wie Sellars: Observation reports are not encapsulated. Rather, they are reports (and not just responses) only because they are embedded in broader practices of judgement and inference. […] It follows that I cannot come, by observation, to know anything, unless I already know lots of things.325
Wahrnehmungsüberzeugungen (observation reports) erhalten ihre Rolle als Gründe nur im Kontext der epistemischen Praxis, so Williams. Allerdings versteht Williams die Reliabilität von Wahrnehmungsüberzeugungen, m. E. abweichend von Sellars, nicht als ‚kausal reliabel’, sondern als reliabel relativ zu einem epistemischen Kontext, in dem dann bestimmte Standards für Reliabilität gelten. D. h. ob und inwiefern Wahrnehmungsüberzeugungen adäquate Gründe sein können, hängt vom epistemischen Kontext ab. Reliabilität ist für Williams ein normativer und kein naturalistischer Begriff. Wahrnehmungsüberzeugungen gehören für Williams zu den standardmäßig gerechtfertigten Überzeugungen, d. h. zu den Überzeugungen in denen eine epistemische Person personal gerechtfertigt ist, ohne dass sie Gründe für diese Überzeugungen angeben kann. Dennoch muss die epistemische Person, so Williams, über ein Hintergrundwissen darüber verfügen, dass ihre Wahrnehmungsüberzeugungen reliabel sind. Denn, so Williams: Given a Default and Challenge conception of justification, why do we need knowledge of our reliability at all? […] Because without such knowledge we cannot recognize either properly motivated challenges to observation claims or appropriate defences of them. In this way, reliability-knowledge is conceptually presupposed by the game of giving observational evidence. But to repeat, this knowledge does not always play a justificatory role, since it is a rule of the game that observation reports do not normally need positive justification.326
Eine epistemische Person ist für Williams in ihren Wahrnehmungsüberzeugungen personal gerechtfertigt, weil diese Überzeugungen zu den Überzeugungen gehören, die ein normaler erwachsener Mensch nicht in Zweifel zieht. Personale Rechtfertigung reicht für Williams nicht für Wissen hin. Damit Wahrnehmungsüberzeugungen Kandidaten für perzeptives 325 326
Williams 2001, S. 175f. Williams 2001, S. 178.
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Wissen sind, müssen sie Williams zufolge weiterhin adäquat begründet sein. Wir haben gesehen, dass Williams unter adäquater Begründung ein nicht-naturalistisches externalistisches Konzept versteht. Der Externalismus liegt darin, dass unser perzeptives Wissen Voraussetzungen hat, die einer epistemischen Person nicht bewusst sein müssen und die daher auch keine rechtfertigende Funktion übernehmen. Einer epistemischen Person muss etwa nicht bewusst, d. h. intern zugänglich, sein, dass die Lichtverhältnisse normal sind, dass sie kein Gehirn im Tank ist, oder dass ihre Wahrnehmungsorgane normal funktionieren. Dies sind natürlich Gründe dafür, dass meine Wahrnehmungsüberzeugungen wahr sind; d. h. aber nicht, dass ich diese Gründe auch in Begründungen explizit machen muss. Der Anti-Naturalismus liegt darin, dass adäquate Gründe als Gründe artikuliert werden müssen, wenn berechtigte Einwände vorliegen. Was als adäquater Grund gilt, und wann berechtigte Einwände vorliegen, ist hierbei kontextrelativ. Kommen wir noch einmal auf das Beispiel mit dem Herd zurück. Auf die Frage, ob ich mir sicher bin, dass ich den Herd ausgemacht habe, kann ich antworten, dass ich mich zuhause vergewissert habe. Dies kann ich wiederum damit begründen, dass ich gesehen habe, dass der Herd aus ist. Erkenntnistheorien wie die von Chisholm versuchen etwa zu zeigen, dass Dinge, sofern sie uns erscheinen epistemisch primär gegenüber den kausalen Ursachen dieser Phänomene sind. Non-konzeptualistische Ansätze versuchen dagegen zu zeigen, dass es einen epistemisch direkten Weg von der physikalischen Welt zu non-kognitiven, d. h. nicht-begrifflichen, repräsentationalen Zuständen gibt. In beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass die Wahrnehmung eine epistemische Rolle spielen muss; entweder als kausaler Prozess oder als gehaltsinternalistische innere Episode. In DC hängt die personale Rechtfertigung meiner Wahrnehmungsüberzeugung, dass ich gesehen habe, dass der Herd aus ist nicht davon ab, dass die Wahrnehmung ein bestimmter kausaler Prozess oder eine besondere epistemische Quelle ist, sondern nur davon, dass Wahrnehmungsüberzeugungen in normalen Alltagskontexten zu den standardmäßig gerechtfertigten Überzeugungen gehören. Was können berechtigte Einwände gegen Wahrnehmungsüberzeugungen sein? Unter welchen Bedingungen ist eine epistemische Person nicht standardmäßig in ihren Wahrnehmungsüberzeugungen gerechtfertigt? Zu231
nächst einmal gibt es diverse skeptische Einwände. Erstens kann man das Argument von der Sinnestäuschung vorbringen, zweitens kann man skeptische Szenarien, wie das Gehirn im Tank, bemühen, und drittens kann man bestimmte wissenschaftsrealistische Einwände vorbringen. Man könnte etwa argumentieren, dass wir die Dinge farbig wahrnehmen, dass es aber unter einer streng wissenschaftlichen Perspektive Farben in diesem Sinn nicht gibt. (Unter einer streng wissenschaftlichen/physikalischen Perspektive sind Farben elektromagnetische Wellen in einer kausalen Wechselwirkung zwischen physikalischen Objekten und unseren Wahrnehmungsorganen.) Ein solcher Einwand zeigt allerdings nur, dass es eine andere mögliche Beschreibung der alltäglichen Gegenstände gibt. Dies ist kein alltagssprachlich relevanter Einwand gegen die standardmäßige Rechtfertigung unserer Wahrnehmungsüberzeugungen. Gleiches gilt für skeptische Einwände wie das Gehirn im Tank-Szenario oder das Argument von der Sinnestäuschung. Dies sind zunächst keine alltagssprachlich relevanten Einwände – d. h. keine Einwände für alltägliche epistemische Kontexte. Es ist m. E. sogar fraglich, ob sie in philosophischen Kontexten relevant werden; jedenfalls, wenn wir nicht wollen, dass sich unsere Erkenntnistheorie zu weit von unserer Alltagssprache entfernt. Ein berechtigter Einwand gegen meine Überzeugung, dass ich gesehen habe, dass der Herd aus ist, wäre etwa, dass meine Brille seit längerem kaputt ist. Berechtigte Einwände müssen, wie in diesem Fall, zeigen, dass die Normalbedingungen irgendwie außer Kraft gesetzt waren. Andere Beispiele wären etwa, dass ich unter Drogeneinfluss stand, oder dass der Knopf am Herd nicht richtig funktioniert. Solche Einwände gehören in DC aber nicht standardmäßig zum epistemischen Sprachspiel, sondern bedürfen ihrerseits einer extrinsischen Motivation; d. h. sie müssen ihrerseits begründet werden. Unter solchen Bedingungen tritt der Challenge-Fall in Kraft. D. h. die epistemische Person muss dann Gründe angeben, die die berechtigten Einwände außer Kraft setzen. Ich könnte etwa antworten, dass meine Brille mittlerweile repariert ist, dass ich sicher nicht unter Drogeneinfluss stand, oder dass die Uhr in meinem Büro eine andere Uhr ist. Freilich sind hier auch wieder Einwände möglich. Der systematisch bedeutsame Punkt an dieser Stelle ist aber, dass die epistemische Person in DC in ihren Wahrnehmungsüberzeugungen gerechtfertigt ist, auch wenn sie keine Gründe angeben kann. 232
2.3.2 In DC kann das Problem des perzeptiven Wissens therapiert werden Im Folgenden möchte ich begründen, warum ich Williams’ DCKonzeption für den attraktivsten Ansatz zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissens halte. Genau genommen sollte man freilich nicht von einer Lösung dieses Problems, sondern von einer Auflösung sprechen. Denn Williams’ DC ist ein therapeutischer Ansatz, der das Problem des perzeptiven Wissens nicht zu lösen versucht, sondern der vielmehr einen alternativen begrifflichen Rahmen anbietet, in dem dieses Problem nicht entsteht. Das Problem des perzeptiven Wissens entsteht, wenn man davon ausgeht, dass die Wahrnehmung als kausaler Prozess unser begriffliches Wissen rechtfertigen soll. Vertreter des Primats der Begründung müssen entweder, wie McDowell, die These vertreten, dass die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat, oder. wie Bonjour, dass die Wahrnehmung einen lediglich kausalen aber keinen rechtfertigenden Einfluss auf das doxastische System einer epistemischen Person hat. Naturalistische Ansätze sind dagegen mit einem anderen Problem konfrontiert: sie gehen zwar davon aus, dass die Wahrnehmung das doxastische System einer epistemischen Person mit nicht-begrifflichen Informationen versorgt, müssen daher aber plausibel machen, wie diese Informationen zu unserem begrifflichen Wissen beitragen, respektive dieses epistemisch rechtfertigen, können. In den vergangenen Kapiteln wurde argumentiert, dass beide Wege nicht zu einer Lösung des Problems des perzeptiven Wissens führen. Wie verhält sich DC zu diesem Problem? Weil DC das Primat der Begründung ablehnt, muss erstens nicht begründet werden, warum wir in unseren Wahrnehmungsüberzeugungen gerechtfertigt sind und zweitens benötigen wir nicht die schwierige These, dass Wahrnehmungen wie Gründe rechtfertigen. Wahrnehmungsüberzeugungen gehören in DC zu den standardmäßig gerechtfertigten Überzeugungen, die also keiner Rechtfertigung, durch andere Überzeugungen oder nichtdoxastische Quellen, bedürfen. Gründe müssen in DC nur für den Fall berechtigter Einwände vorgebracht werden. Dann ist die epistemische Person dazu verpflichtet, die Einwände auszuräumen; d.h. Gründe anzugeben. Was für Gründe kann eine epistemische Person hier angeben? Eine Antwort hängt davon ab, was für Einwände vorliegen. Es können etwa Einwände an den Wahrnehmungskapazitäten einer epistemischen Person er233
hoben werden. In Sidney Lumets Filmklassiker „12 angry men“ sollen zwölf Geschworene Evidenzen einer Gerichtsverhandlung abwägen und so zu einem Urteil über einen möglichen Tathergang kommen. Einer der Punkte betrifft den Augenzeugenbericht einer Zeugin, der damit in Zweifel gezogen wird, dass die Frau nachweislich vergessen hatte, ihre Brille aufzusetzen. Dies ist ein berechtigter Einwand gegen die Zuverlässigkeit der Aussage der Frau. Diese Frau könnte sich verteidigen, indem sie die Zweifel an ihren Wahrnehmungskapazitäten ausräumt; etwa indem sie nachweist, dass sie eine Augenoperation hatte, die zu einer Normalisierung ihrer Dioptrienwerte geführt hat, oder indem sie die Nachweise widerlegt, dass sie keine Brille trug. Andere Einwände beziehen sich auf die externen Bedingungen, d. h. auf die Beobachtungsbedingungen. Bei einer Sonnenfinsternis ändern sich die Farben von Gegenständen. Dass eine Sonnenfinsternis vorliegt, wäre etwa ein berechtigter Einwand gegen bestimmte Wahrnehmungsüberzeugungen, beispielsweise über Farben von Gegenständen. Hier könnte die epistemische Person erwidern, dass Farben nur schwächer aber dennoch vorhanden sind. Was führt die epistemische Person als Gründe an, wenn sie ihre Wahrnehmungsüberzeugungen gegen berechtigte Einwände verteidigt? In keinem der eben genannten Fälle führt sie Wahrnehmungen als Gründe an. Ebenso wenig verweist sie auf die Wahrnehmung als kausalen Prozess. Bei berechtigten Einwänden werden vielmehr Voraussetzungen unseres Wissens explizit gemacht, die wir ansonsten nicht thematisieren. Diese Voraussetzungen müssen dann allerdings in der Form von Gründen, d. h. von wahrheitsfähigen Aussagen, artikuliert werden. Wahrnehmungen selbst kommen hier aber nicht vor. Die Wahrnehmung, als kausaler Prozess verstanden, spielt in DC keine rechtfertigende Rolle. Man muss hierbei nicht ausschließen, dass die Wahrnehmung ein kausaler Prozess ist (natürlich ist sie das). Des Weiteren muss man nicht ausschließen, dass man eine erhellende Erklärung darüber abgeben kann, wie die Wahrnehmung als kausaler Prozess und unser propositionales Wissen zusammenspielen. DC behauptet lediglich, dass wir die Kausalität der Wahrnehmung, und wie diese Gründe produzieren kann, nicht erklären müssen, um in unseren Wahrnehmungsüberzeugungen gerechtfertigt zu sein. Es gibt daher auch kein skeptisches Problem des perzeptiven Wissens in DC. Dieses Problem entsteht unter der Voraussetzung, dass Wahrnehmungen subjektive repräsentationale Zustän234
de sind, die dann in einem epistemischen Missverhältnis zum objektiven Wissen stehen. DC verhält sich in diesem Punkt neutral. D. h. DC benötigt keine metaphysische These über die Struktur, bzw. den intentionalen Modus der Wahrnehmung. Ich möchte abschließend noch auf zwei Desiderata eingehen: Zum einen auf das Verhältnis von DC zu epistemischem Internalismus und Externalismus und zum anderen auf die Frage, wie sich DC zur Debatte um den nicht-begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung verhält. 2.4 Rechtfertigungsinternalismus und -externalismus in DC Das Primat der Begründung ist ein internalistisches Prinzip, weil es die These impliziert, dass epistemische Rechtfertigung wesentlich in der Angabe von Gründen besteht. Obwohl das Primat der Begründung in diverse Problemfelder führt, wird es doch von einer starken Intuition getragen. In Abschnitt 1.2 dieses Kapitels wurde diese Intuition mit dem Prinzip der doxastischen Autonomie in Verbindung gebracht, welches wesentlich für unsere epistemischen Bewertungen zumindest in der epistemischen Alltagspraxis ist. Wir schätzen es, wenn eine Person kritisch ihren eigenen Meinungen gegenüber ist. Eine Erkenntnistheorie, die das Primat der Gründe ersetzt, muss in einer sinnvollen Weise zu diesem Prinzip Stellung beziehen. Dies ist eine große Schwäche der naturalistisch-externalistischen erkenntnistheoretischen Ansätze. Gleichwohl kritisieren Rechtfertigungsexternalisten, wie Goldman, nicht zu Unrecht den Intellektualismus des Primats der Begründung, nach dem Wissen in dem Sinn exklusiv wird, dass nur die Personen über es verfügen, die Gründe angeben können. In einer von diesem Prinzip ausgehenden Erkenntnistheorie wird es etwa schwierig, testimoniales Wissen zu begründen. In der Konsequenz wissen Laien viele Dinge nicht. Wer weiß beispielsweise mit Gewissheit, bzw. adäquaten Gründen, wer die Experten sind? Auf andere Probleme des Primats der Gründe – vor allem die Schwierigkeiten bei der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens – wurde im Verlauf dieser Arbeit zur Genüge hingewiesen. Dennoch ist der epistemische Externalismus, in der Form der naturalisierten Erkenntnistheorie, kein Ausweg, weil in einer solchen Konzeption kein Ort für das Prinzip der doxastischen Autonomie ist. Die Intuition, dass es in irgendeiner Weise auf die epistemische Person und ih235
re Haltung zu ihren Überzeugungen ankommt, ist zu stark, um sie einfach aufzugeben. DC kann das Prinzip der doxastischen Autonomie bedienen, ohne in den Intellektualismus des Primats der Gründe abzugleiten. Auch in DC hängen die Überzeugungen einer epistemischen Person von Gründen ab, aber die epistemische Person muss diese Gründe nicht prinzipiell, sondern nur im Fall berechtigter Einwände explizit machen können. DC enthält demnach im Fall berechtigter Einwände ein internalistisches Moment, das darin liegt, dass die Person Gründe angeben können muss, die die Einwände widerlegen. Diese Gründe muss die epistemische Person aber normalerweise nicht explizit machen; dies ist das externalistische Moment in DC. Dieser Externalismus ist allerdings nicht naturalistisch, sondern pragmatistisch ausgerichtet. Gründe sind in DC adäquate Gründe relativ zu einem epistemischen Kontext, der durch praktische Interessen konstituiert ist. Gründe müssen daher prinzipiell diskursiv artikulierbar sein. Läuft aber DC auf diese Weise nicht analog zur Kohärenztheorie Gefahr, eine Konzeption von Gründen anzunehmen, in der diese nicht wahrheitsleitend sind? Eine ausführliche Antwort auf diese Frage gehört zu den Desiderata dieser Arbeit. In einer ersten Annäherung an eine Antwort kann man aber feststellen, dass praktische Interessen letztlich zwar von uns abhängen, aber nur in einer Weise, die unser Handeln reliabel mit der Welt verbindet. Wir haben, zumindest normalerweise, kein praktisches Interesse an Gründen, die uns täuschen oder in die Irre führen. Gründe sind diskursive Gegenstände. Dass sie in epistemischen Kontexten als gute Gründe gelten, bedeutet letztlich nichts anderes, als dass sie sich bewährt haben. Insofern sind Experimente in der Physik gute Gründe für bestimmte theoretische Annahmen über die Materie, ist es ein guter Grund zu glauben, dass die Sonne scheint, weil man dies sieht, oder ist es ein guter Grund zu glauben, dass man den Herd ausgemacht hat, weil man sich daran erinnert. Würde es sich hier nicht um gute Gründe handeln, könnten wir uns nicht so erfolgreich in der Welt orientieren. 2.5 DC und die Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung Wie wir in Kapitel II gesehen haben, gehen manche Philosophen davon aus, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. Dies ist 236
eine These darüber, wie die Wahrnehmung uns die Tatsachen der Welt repräsentiert. In Kapitel II wurden diverse Argumente für die These angeführt, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat. Insbesondere das Differenziertheitsargument und das Reichhaltigkeitsargument sind gute Stützen für die Annahme einer solchen nicht-begrifflichen Repräsentation von Tatsachen, Gegenständen oder Strukturen. Allerdings ist McDowells Argument, dass man ein solches nicht-begriffliches Bewusstsein epistemisch für eine Begründung unseres Alltagswissens nicht fruchtbar machen kann ebenfalls überzeugend. McDowell versucht im Anschluss daran seinen minimalen Empirismus zu etablieren, nach dem die Wahrnehmung einen begrifflichen Gehalt hat und daher Gründe für unser perzeptives Wissen liefern kann. McDowells Position wurde ebenfalls zurückgewiesen, weil sie zu viele Voraussetzungen macht, die schwer zu begründen sind. (McDowell macht freilich nicht den Versuch diese Voraussetzungen zu begründen, was ihm allerdings auch schwere Kritik eingehandelt hat, wie wir in Kapitel II gesehen haben.) Wie verhält sich DC zu der Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung? Für den Fall standardmäßiger Rechtfertigung ist die Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung irrelevant. Die standardmäßige Rechtfertigung von Überzeugungen hängt von der adäquaten Einführung in die epistemische Praxis und von kontextuellen Faktoren ab, nicht aber davon, wie uns die Wahrnehmung die Welt repräsentiert. In DC muss eine epistemische Person nur dann Gründe angeben, wenn berechtigte Einwände vorliegen. In den letzten beiden Abschnitten wurden einige Beispiele für solche Einwände diskutiert. Wenn solche Einwände vorliegen, muss die epistemische Person in der Lage sein, diese durch Gründe zu widerlegen, wobei hier diskursive Gründe gemeint sind. Kann die epistemische Person dies nicht leisten, so verliert sie ihren Status der personalen Rechtfertigung. Die Frage ist nun, was für Gründe von der epistemischen Person herangezogen werden können und ob der Gehalt der Wahrnehmung hierbei eine Rolle spielt. In den oben genannten Beispielen zieht die epistemische Person etwa die externen Bedingungen heran, wie im Fall der Sonnenfinsternis. Im Beispiel mit der Brille verweist die epistemische Person darauf, dass sie auch ohne Brille, etwa wegen einer gerade vorgenommenen Operation, gut sehen kann. In diesen Beispielen kommt aber die Wahrnehmung – bzw. die Frage, wie uns die Wahrnehmung die Welt repräsentiert – nicht vor. Es 237
scheint daher zumindest so zu sein, dass wir in DC die Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung nicht diskutieren müssen, weil DC diese Frage umgeht.
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IV SYSTEMATISCHE AUSWERTUNG Ich habe im letzten Kapitel einen an Williams’ DC-Modell epistemischer Rechtfertigung angelehnten, therapeutischen Vorschlag zur Auflösung des Problems des perzeptiven Wissens gemacht. Wer eine Lösung dieses Problems erwartet, wird hier vielleicht in gewisser Hinsicht enttäuscht sein. Denn eine Lösung würde ja darin bestehen zu zeigen, wie ein kausaler Prozess wie die Wahrnehmung zur epistemischen Rechtfertigung von Überzeugungen beitragen kann. Ich möchte hier noch einmal die Grundstruktur meiner Argumentation rückblickend zusammenfassen und danach die Frage diskutieren, ob wir uns mit einer therapeutischen Antwort auf die Frage nach der rechtfertigenden Funktion der Wahrnehmung wirklich zufrieden geben sollten.
1 Rückblick Meine heuristische Leitthese ist, dass das Problem des perzeptiven Wissens (Wie kann die Wahrnehmung unser perzeptives Wissen rechtfertigen?) unter der Voraussetzung bestimmter theoretischer Annahmen über die Begriffe ‚Wahrnehmung’ und ‚Rechtfertigung’ entsteht. Ich habe dann argumentiert, dass keine der von mir untersuchten Positionen das Problem des perzeptiven Wissens lösen kann, und dass es daher sinnvoll ist danach zu fragen, welche der Annahmen wir aufgeben sollten. In Kapitel I habe ich mich mit Sellars‘ Kritik am epistemischen Fundamentalismus und seinem eigenen Vorschlag für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens auseinandergesetzt. In Abschnitt 1 habe ich mich mit dem internalistischen epistemischen Fundamentalismus beschäftigt, wie er von Ayer und Chisholm vertreten wird. Beide gehen von einem Gehaltsinternalismus (der These, dass der Gehalt der Wahrnehmung alleine darüber bestimmt wird, wie einer Person etwas erscheint), einem Rechtfertigungsinternalismus (der These, dass nur intern zugänglich Gründe die Überzeugungen einer Person rechtfertigen) und einem epistemischen Fundamentalismus (der These, dass alles Wissen durch ein unvermitteltes Basiswissen gerechtfertigt wird) aus. Für Ayer und Chisholm nimmt das Problem des 239
perzeptiven Wissens daher die Form der Frage an, wie ein unvermitteltes Basiswissen über die eigenen phänomenalen Zustände unser Wissen über physikalische Gegenstände rechtfertigen kann. Es zeigte sich, dass Ayer und Chisholm das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen können, weil das von ihnen angenommene Basiswissen aufgrund des zu schmalen Gehaltes nichts enthält, was einen Schluss auf eine unabhängig vom Bewusstsein existierende Welt rechtfertigt. In Abschnitt 2 habe ich mit Goldmans Reliabilismus eine externalistische Alternative zum internalistischen epistemischen Fundamentalismus untersucht. Goldman ist in seinem externalistischen Ansatz nicht mit dem Problem des perzeptiven Wissens in der Form konfrontiert, Überzeugungen über physikalische Gegenstände auf der Basis von Überzeugungen über phänomenale Zustände zu rechtfertigen. Gleichwohl führt eine andere epistemologische Annahme Goldmans zum Problem des perzeptiven Wissens – die Annahme des Rechtfertigungsexternalismus. Rechtfertigungsexternalistische Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung sind grundsätzlich mit dem Problem konfrontiert, viele Fälle als Wissen zu akzeptieren, die intuitiverweise nicht unter den Wissensbegriff fallen, wie man etwa am Beispiel des unaufgeklärten ‘Chicken-Sexer’ sieht. Wir erwarten von epistemischen Personen zumindest in manchen Fällen, dass sie Gründe angeben können. Wie soll aber eine Person bei ihren Begründungen auf ihre Wahrnehmung Bezug nehmen können, wenn ihr auf diese Weise keine intern zugänglichen Gründe gegeben sind? Goldman ist also insofern mit dem Problem des perzeptiven Wissens konfrontiert, dass er erklären muss, wie eine epistemische Person ihre Überzeugungen durch ihre Wahrnehmung begründen kann. Für den Begriff der Begründung ist aber in Goldmans reliabilistischem Ansatz kein theoretischer Raum. Weil ich davon ausgehe, dass wir diesen Begriff nicht aufgeben können, ohne unsere epistemische Praxis als Ganze infrage zu stellen, möchte ich Goldmans Versuch einer Lösung des Problems des perzeptiven Wissens zurückweisen. Nach der Besprechung der fundamentalistischen Ansätze habe ich mich in den Abschnitten 3 und 4 mit Sellars’ Konzeption des perzeptiven Wissens beschäftigt. Sellars’ Erkenntnistheorie nimmt eine zentrale Stellung in dieser Arbeit ein, weil Sellars das Problem des perzeptiven Wissens als einer der ersten auf die systematischen Voraussetzungen des Empirismus (Fundamentalismus und Internalismus) zurückgeführt hat. Des Weiteren argu240
mentiert er m. E. als erster gegen den Reliabilismus. Ich habe mich Sellars’ Argumenten gegen den internalistischen und externalistischen epistemischen Fundamentalismus angeschlossen und in Abschnitt 4 nach seinem Lösungsvorschlag für das Problem des perzeptiven Wissens gesucht. Sellars geht zwar mit seinem Konzept des logischen Raums der Gründe wie Ayer und Chisholm von einem internalistischen Begriff epistemischer Rechtfertigung aus. Nur Züge im logischen Raum der Gründe, d. h. Begründungen, rechtfertigen Sellars zufolge die Überzeugungen einer epistemischen Person. Allerdings weicht er in zweierlei Hinsicht von Ayer und Chisholm ab. Erstens geht er nicht von einer fundamentalistischen Struktur des perzeptiven Wissens aus. Was Sellars selbst für eine These hinsichtlich der Struktur des perzeptiven Wissens annimmt, konnte nicht abschließend geklärt werden. M. E. ist Sellars’ Ansatz hinsichtlich dieser Frage zu dunkel, um ihn auf eine These festzulegen. Ich habe versucht zu zeigen, dass man Sellars sowohl als Kohärentisten wie auch als Kontextualisten lesen kann. Zweitens versucht Sellars ein externalistisches Moment in seinem Rechtfertigungsbegriff zu integrieren. Dies soll sicherstellen, dass die Gründe wahrheitsleitend sind. Auch hier zeigte sich allerdings, dass nicht deutlich auszumachen ist, was genau diese Rolle in Sellars’ Erkenntnistheorie spielen soll. Die von Sellars postulierten Sinneseindrücke sollen zwar einen nicht-begrifflichen Gehalt haben, dieser Gehalt ist aber internalistisch bestimmt. Außerdem wird nicht klar, wie die Sinneseindrücke zur Rechtfertigung des perzeptiven Wissens beitragen. Es wird daher nicht ganz klar, welche Position Sellars hinsichtlich der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens einnimmt. Dennoch kann man die weiteren von mir untersuchten Positionen als Fortsetzung von Sellars’ Überlegungen ansehen. Sellars löst das Problem des perzeptiven Wissens zwar nicht, schafft aber den nötigen theoretischen Raum für eine wesentlich gründlichere Diskussion dieses Problems, als dies vor seinen Arbeiten möglich war. In Abschnitt 5 wurde mit Bonjours epistemischer Kohärenztheorie ein Versuch besprochen, Sellars’ Ansatz für eine Lösung des Problems des perzeptiven Wissens fruchtbar zu machen. Bonjour definiert den Begriff der epistemischen Rechtfertigung über einen holistischen Begriff der Kohärenz. Daher bleibt ihm nur der Weg offen, Wahrnehmungen als Protoüberzeugungen einzustufen, die dann aufgrund ihrer Form zur Kohärenz eines Systems von Überzeugungen beitragen könnten. Die Überzeugungen 241
dürfen aber einerseits per definitionem keine Basisüberzeugungen sein. Auf der anderen Seite sollen sie die Wahrheitsleitung der Überzeugungen des doxastischen Systems garantieren. Letzteres ist aber klarerweise eine Funktion von Basisüberzeugungen. Die Einführung der Klasse der kognitiv-direkt gerechtfertigten Überzeugungen führt daher auch nicht zu einer Lösung des Problems des perzeptiven Wissens, ohne dass die Kohärenztheorie in einen epistemischen Fundamentalismus kollabiert. Kapitel I schließt mit dem Ergebnis, dass das Problem des perzeptiven Wissens weder in einer fundamentalistischen noch in einer kohärentistischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung gelöst werden kann. Die Frage nach einer möglichen Alternativkonzeption zur Lösung dieses Problems wird bis Kapitel III zurückgestellt. In Kapitel II wird untersucht, ob eine Antwort auf die Frage, ob die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat, etwas zur Lösung des Problems des perzeptiven Wissens beiträgt. Wie gesagt macht das Scheitern der epistemischen Kohärenztheorie bei der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens für einige Philosophen die fundamentalistische Idee wieder attraktiv, dass es einen externen, nicht-begrifflichen Einfluss auf unser Denken, bzw. eine nicht-begriffliche, d. h. nicht-doxastische Art der Rechtfertigung des perzeptiven Wissens, geben muss. Solche nonkonzeptualistischen Ansätze habe ich in den Abschnitten 1 bis 4 diskutiert. Sie möchten zeigen, dass die Wahrnehmung einen nicht-begrifflichen Gehalt hat und auf diese Weise das Problem des perzeptiven Wissens lösen. Ich habe mich zunächst mit Peacockes Konzeption auseinandergesetzt, der neben der These des nicht-begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung auch die These des Rechtfertigungsinternalismus annimmt. Die Wahrnehmung hat laut Peacocke einen nicht-begrifflichen aber protopropositional strukturierten Gehalt. Aufgrund der protopropositionalen Form sollen diese Gehalte als Gründe fungieren und damit das perzeptive Wissen rechtfertigen können. Bei Peacocke blieb jedoch unklar, wie diese protopropositionalen Gehalte das perzeptive Wissen rechtfertigen sollen, wenn sie nicht bereits die hierzu nötigen Begriffe enthalten. Weil Peacocke, zumindest in dem hier herangezogenen A Study of Concepts, keine angeborenen Begriffe annehmen möchte, kann er das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen. Anschließend habe ich mich mit Dretskes informationstheoretischem Ansatz auseinandergesetzt, bin hier jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass 242
er zu inflationär mit dem Wissensbegriff umgeht. Dretske nimmt analog kodierte Informationen als nicht-begriffliche Gehalte der Wahrnehmung an, die, so Dretskes kontroverse These, infallibler Natur sind. Das perzeptive Wissen wird von ihm dann als eine Digitalisierung der durch die Wahrnehmung analog erhaltenen Informationen beschrieben. Das Problem bei diesem Wissensbegriff ist, dass wir mit ihm rationale Tiere nicht mehr von anderen Organismen unterscheiden können. Der Zugang zu Gründen ist in Dretskes informationstheoretischem Wissensmodell jedenfalls nicht erklärbar. Weder Peacocke noch Dretske können das Problem des perzeptiven Wissens lösen. Peacockes Protopropositionen können zumindest keine rechtfertigenden Gründe für unser perzeptives Wissen sein und Dretskes Wissensexternalismus entfernt sich zu weit von unserer epistemischen Praxis. Sowohl der epistemische Fundamentalismus als auch die epistemische Kohärenztheorie stellen Versuche der Lösung des Problems des perzeptiven Wissens dar. Nun glaube ich aber durch die Besprechung der Schwierigkeiten, in die diese Positionen beim Versuch der Lösung dieses Problems geraten, gezeigt zu haben, dass man zumindest Zweifel hinsichtlich einer solchen Lösung anmelden kann. Manche Autoren glauben daher, dass man das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen, sondern nur therapieren kann. Die Grundidee einer solchen philosophischen Therapie geht auf Wittgenstein zurück und richtet sich gegen vermeintlich plausible Grundannahmen der Philosophie. Viele philosophische Probleme kann man Wittgenstein zufolge als Scheinprobleme entlarven, die verschwinden, wenn man bestimmte Annahmen aufgibt. In Abschnitt 6 aus Kapitel II habe ich mich zunächst mit McDowells therapeutischer Analyse des Problems des perzeptiven Wissens beschäftigt. Für McDowell befindet sich die zeitgenössische Erkenntnistheorie in einem Dilemma: Entweder, wir sind Fundamentalisten, dann können wir nicht erklären, wie die Wahrnehmung Gründe für unser begriffliches perzeptives Wissen liefert; oder wir sind Kohärentisten und verlieren die Idee der Wahrheitsleitung unserer Überzeugungen. Die bisherige Darstellung dieser Arbeit unterstützt diese These McDowells. Er zieht aus dieser Situation die Konsequenz, dass das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösbar ist. Er versucht es dagegen in der Hinsicht zu therapieren, dass er die begrifflichen Hintergrundannahmen seiner Konzeption so wählt, dass 243
dieses Problem nicht entstehen kann. Zum einen gibt McDowell das repräsentationalistische Modell des Bewusstseins auf, indem er Tatsachen und nicht Propositionen als Gründe annimmt. Zum anderen führt er eine disjunktive Konzeption der Wahrnehmungserfahrung ein, die in diesem infallibilistischen Modell von Begründung erklären soll, wie etwa Wahrnehmungstäuschungen möglich sind. Ich habe mich dann gegen McDowells Vorschlag zur Therapierung des Problems des perzeptiven Wissens gewandt. Denn erstens führt die metaphysische Annahme einer Tatsachenontologie zu weiteren metaphysischen Problemen, wie etwa der Frage, ob es Tatsachen gibt, die wir prinzipiell nicht wissen können, hinsichtlich derer ich skeptisch bin, ob man sie lösen kann. Zweitens teile ich Crispin Wrights Bedenken gegen McDowells Disjunktivismus. In Kapitel III habe ich schließlich mit Michael Williams’ Default and Challenge-Konzeption (DC-Konzeption) epistemischer Rechtfertigung einen weiteren therapeutischen Ansatz diskutiert. Williams gibt eine wesentliche Grundannahme auf, welche die meisten der hier diskutierten Positionen unterschreiben: das Primat der Begründung, nach dem eine Überzeugung nur dann epistemisch gerechtfertigt ist, wenn die epistemische Person Gründe angeben kann. Wenn man das Primat der Begründung annimmt, dann muss man zeigen, wie die Wahrnehmung Gründe für das perzeptive Wissen liefert. Und dann ist man auch mit solchen Fragen konfrontiert, wie etwa der, wie ein nicht-begrifflicher Gehalt ein Grund dafür sein kann, etwas zu glauben, oder wie die Wahrnehmung in einem kohärentistischen Modell epistemischer Rechtfertigung eine rechtfertigende Funktion übernehmen kann. Williams’ pragmatistisches DC-Modell epistemischer Rechtfertigung gibt die Annahme auf, dass epistemische Rechtfertigung wesentlich in der Angabe von Gründen besteht. Dies teilt dieser Ansatz mit externalistischen Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung. In DC sind sehr viele unserer Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt, ohne dass wir Gründe hierfür angeben könnten oder müssten. Zu diesen standardmäßig (by default) gerechtfertigten Überzeugungen gehören auch unsere Wahrnehmungsüberzeugungen. Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass wir keine Theorie der Wahrnehmung benötigen, um das Problem des perzeptiven Wissens zu lösen. Wahrnehmungswissen ist epistemisch gerechtfertigt, weil es eine entscheidende Rolle in unserer epistemischen Praxis spielt. Eine Rechtfertigung dieses Wissens wird nur nötig, wenn berechtigte Ein244
wände vorliegen. Was ein berechtigter Einwand ist, zeigt sich relativ zum jeweiligen epistemischen Kontext. Für mich zeigt sich daher, dass man das Problem des perzeptiven Wissens mit Williams‘ DC-Modell epistemischer Rechtfertigung erfolgreich therapieren kann. Warum sollten wir an philosophischen Theorien festhalten, die Probleme wie das des perzeptiven Wissens durch ihre theoretischen Annahmen erst möglich machen?
2 Gibt es eine Lösung für das Problem des perzeptiven Wissens? Sellars führt das Problem des perzeptiven Wissens auf die Vermischung zweier Ideen zurück: zum einen die Idee, die Wahrnehmung wissenschaftlich zu erklären und zum anderen die Idee, dass die Wahrnehmung unser Wissen rechtfertigen soll. Die Vermischung dieser beiden Ideen bezeichnet Sellars als eine Spielart des Mythos des Gegebenen. Sellars weist auf die Spannung zwischen diesen beiden Ideen hin und distanziert sich damit von der naiv-naturalistischen Perspektive, die typisch für viele philosophische Theorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Dass der Begriff der Rechtfertigung ein normativer Begriff ist, legt schon seine etymologische Nähe zu Begriffen wie ‚richtig’, ‚Recht’ oder ‚berechtigt’ nahe. Sich rechtfertigen hängt mit der Befolgung von Regeln zusammen, und die Frage, ob man diesen normativen Gehalt des Begriffs der Rechtfertigung naturalisieren kann, ist bei weitem noch nicht geklärt. Wahrnehmungen sind dagegen kausale Episoden, die in vielerlei Hinsicht naturwissenschaftlich, oder doch zumindest in einer wissenschaftsnahen Weise, beschrieben werden können. Naturalisten versuchen daher, den logischen Raum der Gründe so zu erweitern, dass eine nicht-normative, bzw. nicht-logische, Relation eine rechtfertigende Funktion übernehmen kann. Dies habe ich als doxastischdirekte Rechtfertigung bezeichnet, wie wir sie ewa bei Goldmans Reliabilismus oder Peacockes Non-Konzeptualismus finden. Ich halte es für ein wesentliches Verdienst von Sellars, den erkenntnistheoretischen Fokus auf dieses Problem der Vermittlung zwischen dem kausalen Wahrnehmungsbegriff und dem normativen Rechtfertigungsbegriff hingewiesen zu haben. Das Problem des perzeptiven Wissens fügt sich in diesem Sinn in die gene245
relle Debatte um die Naturalisierung des menschlichen Geistes ein. Ich habe mehrfach betont, dass ich eine Lösung dieses Problems vor dem Hintergrund der zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Debatte nicht für möglich halte. In Williams’ DC-Modell epistemischer Rechtfertigung wird nicht versucht, das Problem des perzeptiven Wissens zu lösen. Dieses Problem wird vielmehr dadurch therapiert, dass die erkenntnistheoretische Ebene normativ betrachtet wird. Man kann zwar – gewissermaßen als façon de parler – auch in DC darüber sprechen, dass die Wahrnehmung Überzeugungen rechtfertigt. Gemeint ist aber nicht, dass Wahrnehmungen als kausale oder innere Episoden einen nicht-normativen Beitrag leisten, sondern dass eine Person im Fall berechtigter Einwände Gründe anführen kann, die diese Einwände widerlegen. Das Sprachspiel des Begründens ist in DC durch und durch normativ in dem Sinn, dass eine epistemische Person bestimmte kontextrelative Regeln befolgen muss, wenn sie Gründe gegen berechtigte Einwände anführt. Warum eine Person einer bestimmten Regel folgen sollte, kann man hierbei nicht erklären, sondern lediglich verstehen, indem man die begrifflichen Voraussetzungen aufklärt, die in der Praxis des Begründens implizit sind. Die Idee einer verstehenden Disziplin stammt freilich aus einem ganz anderen systematischen Zusammenhang, nämlich aus Droysens und Diltheys Überlegungen zu einer Begründung der Geschichte als Wissenschaft, die dann später etwa von Max Weber unter dem Titel einer erklärend-verstehenden Wissenschaft auch in die Begründung der Soziologie einfloss. Wenn man unter Erkenntnistheorie versteht, dass man die begrifflichen Strukturen unserer Praxis expliziert, dann hat dies ein solches verstehendes Moment. Es geht in der philosophischen Erkenntnistheorie nicht darum zu erklären, dass Personen über Wissen verfügen, sondern darum, die normativen Grundmuster unserer epistemischen Praxis zu explizieren und dadurch zu verstehen. Die These, dass wir das Problem des perzeptiven Wissens nicht lösen können, kann aus einer positivistischen Perspektive provokant wirken. Dies kann vermieden werden, wenn wir hier zwischen Erklären und Verstehen unterscheiden. Wenn wir die philosophische Erkenntnistheorie als eine Reflexion auf die begrifflichen Voraussetzungen unserer epistemischen Praxis – also als eine verstehende Disziplin – einordnen, dann konfligiert sie nicht mit der These, dass man das perzeptive Wissen erklären kann. Eine 246
verstehende Perspektive bedeutet nicht, dass es nichts zu erklären gibt. Natürlich kann man sinnvoll naturwissenschaftliche Fragen im Hinblick darauf stellen, wie wir zu Wissen über die Welt kommen. Eine solche Erklärung fügt unserer Praxis aber zumindest zunächst nichts hinzu. Genau so wenig kann eine naturwissenschaftliche Einsicht in die Biologie menschlicher Wahrnehmung unsere ganze epistemische Praxis infrage stellen. All dies bedeutet nicht, dass es prinzipiell ausgeschlossen ist, dass wir irgendwann zu einem ‚Covering-Law-Modell’ des menschlichen Wissens kommen, welches keine Fragen mehr offen lässt. Vielleicht gibt es irgendwann eine Wissenschaft, die den Bereich des Normativen als ein kausales Produkt des Bereichs der physikalischen Tatsachen erklären kann. Dies ist aber Science Fiction. Eine solche Wissenschaft steht uns nicht zur Verfügung, und wir sollten daher epistemologische Fragen wie die nach der Rechtfertigung des perzeptiven Wissens zunächst als das verstehen, was sie sind: Fragen nach unserem Selbstverständnis als soziale Wesen.
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APPENDIX: NATURALISIERTE ERKENNTNISTHEORIE
1 Quine und Goldman Ein von vielen Philosophen bevorzugter Versuch, mit den Problemen des Primats der Begründung umzugehen, besteht in einer Naturalisierung der epistemischen Grundbegriffe; d. h. in der Annahme einer naturalisierten Erkenntnistheorie. Die Grundidee geht auf Quine zurück, der in seinem klassischen Aufsatz „Epistemology Naturalized“ die Elimination der Erkenntnistheorie zugunsten einer kognitionswissenschaftlichen Psychologie vorschlägt. Die Erkenntnistheorie soll, so Quine, eine Teildisziplin der Psychologie sein und auf diese Weise als Fundamentaldisziplin der Wissenschaft dienen. Epistemology, or something like it, simply falls into place as a chapter of psychology and hence of natural science. It studies a natural phenomenon, viz., a physical human subject. This human subject is accorded a certain experimentally controlled input – certain patterns of irradiation in assorted frequencies, for instance – and in the fullness of time the subject delivers as output a description of the threedimensional external world and its history. The relation between the meager input and the torrential output is a relation that we are prompted to study for somewhat the same reasons that always prompted epistemology: namely, in order to see how evidence relates to theory, and in what ways one's theory of nature transcends any available evidence. But a conspicuous difference between old epistemology and the epistemological enterprise in this new psychological setting is that we can now make free use of empirical psychology.327
In Quines naturalistischem Verständnis des Geistes gibt es nur neuronale Inputs. Quine folgert daraus, dass die Erkenntnistheorie eine Brücke zwischen diesen anderenorts als „Reizungen der Nervenenden“328 bezeichneten Inputs und unseren wissenschaftlichen Theorien bilden soll. Quines Vorschlag ist selbst für die meisten Naturalisten zu radikal. Schon die re327 328
Quine 1969, S. 82f. In Quine 1991, S. 11.
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duktionistische Perspektive in der Philosophie des Geistes teilen die meisten Philosophen nicht. Außerdem sehen die meisten Philosophen zumindest manche der traditionellen, erkenntnistheoretischen Fragen als relevant an. Etwa die Frage danach, wie reliabel unsere Wege des Überzeugungserwerbs sind, halten selbst die meisten Naturalisten für wichtig. Daher findet Quines Vorschlag einer naturalisierten Erkenntnistheorie kaum Anhänger.329 Mit Goldmans Reliabilismus haben wir bereits eine weitere naturalistische erkenntnistheoretische Position kennen gelernt. Goldman geht nicht so weit wie Quine, sondern schlägt anstelle eines Eliminativismus eine reduktive Analyse epistemologischer Termini vor. D. h. epistemische Termini wie ‚Grund’, ‚Rechtfertigung’ oder ‚Wissen’ sollen durch nichtepistemische nicht-normative Termini wie ‚wahr’, ‚Ursache’ oder ‚notwendig’ definiert werden und dadurch in diese analysiert werden. Bei Goldman finden wir weiterhin die These des epistemischen Zugangsexternalismus, die in dieser Arbeit bereits zurückgewiesen wurde. Beide Thesen (Naturalismus und Zugangsexternalismus) hängen zusammen. Wenn ich etwa behaupte, dass eine reliable Kausalbeziehung für Rechtfertigung hinreicht, bin ich implizit bereits auf die These des Zugangsexternalismus festgelegt. Es gibt ein Problem der naturalisierten Erkenntnistheorie, welches ich für unüberwindbar halte. Betrachten wir nochmals Goldmans Definition des Begriffs der Rechtfertigung: The justificational status of a belief is a function of the reliability of the process or processes that cause it, where (as a first approximation) reliability consists in the tendency of a process to produce beliefs that are true rather than false.330
Ich habe mich Sellars’ epistemischem Argument gegen diese Konzeption bereits angeschlossen. Es gibt allerdings einen weiteren Punkt, der gegen sie spricht. Man kann den Begriff der doxastischen Autonomie nicht in ihr unterbringen. Der Naturalist kann sich hier natürlich mit dem Einwand verteidigen, dass er diesen Begriff als obsoletes Erbe einer internalistischen cartesischen Erkenntnistheorie betrachtet. Hierbei setzt er jedoch voraus, dass der Begriff der doxastischen Autonomie nur in dieser internalistischen 329
Für eine kritische Auseinandersetzung mit Quines naturalisierter Erkenntnistheorie siehe etwa Fumerton 1994 oder Foley 1994. 330 Goldman 2000, S. 345.
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Weise expliziert werden kann. Gegen diese Voraussetzung werde ich gleich argumentieren. Des Weiteren gehe ich hier von der These aus, dass wir den Begriff der epistemischen Autonomie nicht einfach aufgeben können – genauso wenig, wie uns die Möglichkeit eines deterministisch geschlossenen Universums dazu bringt, unseren Begriff eines freien Willens einfach aufzugeben.
2 Dretske über epistemische Rechte und Pflichten In seinem Aufsatz „Entitlement: Epistemic Rights Without Epistemic Duties?“ stellt Dretske eine weitere naturalistische Überlegung an. Zu Beginn schreibt er: The debate between externalists and internalists in epistemology can be viewed as a disagreement about whether there are epistemic rights (to believe) without corresponding duties or obligations (to justify what is believed). Taking an epistemic right to believe P as an authorization to not only accept P as true but to use P as a positive reason for accepting other propositions, the debate is about whether there are unjustified justifiers. […] I take externalists to be people who believe there are such unjustified justifiers and internalists to be those who deny it. Externalists hold that we are entitled to believe some things for which we have no justification.331
Dretske verwendet die Begriffe ‚Internalismus’ und ‚Externalismus’ hier in einer eher heterodoxen Weise. Internalisten sind für Dretske Philosophen, die keine epistemischen Rechte ohne Pflichten zulassen. Mit epistemischen Pflichten sind Begründungen gemeint. Internalisten in Dretskes Sinn sind also Vertreter des Primats der Begründung. Externalisten sind dagegen für Dretske Philosophen, die epistemische Rechte auch ohne Gründe verleihen. Man muss an dieser Stelle kurz auf Dretskes Motivation für diese Überlegungen eingehen. Erstens teilt Dretske die typischen naturalistischen Bedenken gegenüber deontologischen Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung. Denn wenn Wissen notwendig von Begründungen abhängt, scheinen kleine Kinder und Tiere ausgeschlossen zu sein. Dretske betont 331
Dretske 2000, S. 591.
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dagegen: „I think animals and children enjoy the same epistemic right we do.”332 Zweitens geht Dretske davon aus, dass deontologische Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung nicht die rechtfertigende Funktion der Wahrnehmung erklären können. Ich möchte diese beiden Voraussetzungen hier nicht problematisieren und stattdessen Dretskes Vorschlag darstellen. Dretske behauptet, wie gesagt, dass es epistemische Rechte ohne epistemische Pflichten gibt. Um den Status der epistemischen Person, sich epistemisch richtig zu verhalten vom Begriff des Grundes zu trennen, unterscheidet Dretske epistemische Rechtfertigung und epistemische Berechtigung (entitlement).333 Der Begriff der epistemischen Rechtfertigung ist für Dretske logisch vom Primat der Begründung abhängig – also internalistisch. Epistemische Berechtigungen könne man jedoch auch ohne die Angabe von Gründen erwerben. Den Begriff der epistemischen Berechtigung führt er zunächst folgendermaßen ein: The source of epistemic entitlements is the belief-generating process. It is the reliability of the process having the belief that P as its product, not the agent’s subjective grounds for believing P, that secures the required connection to truth and gives the believer the right to accept P as true without justification.334
Eine epistemische Person erwirbt demnach das Recht zu glauben, dass p, wenn ihre Überzeugung durch einen reliablen Prozess erzeugt wird; die Angabe von Gründen sei dagegen nicht nötig. Dies klingt zunächst stark nach Goldmans reliabilistischer Konzeption epistemischer Rechtfertigung. Dretske trennt allerdings die Begriffe ‚epistemische Rechtfertigung’ und ‚epistemische Berechtigung’ voneinander. Unter dem Begriff der epistemischen Rechtfertigung versteht Dretske klassisch evidentielle Rechtfertigung. In der eben genannten Stelle scheint Dretske eine reliabilistische Analyse des Begriffs der epistemischen Berechtigung anzubieten. Versteht Dretske also unter einer epistemischen Berechtigung, was Goldman unter einer reliabilistischen Analyse des Rechtfertigungsbegriffs versteht? In folgender Stelle wird deutlich, dass dies nicht der Fall ist.
332
Dretske 2000, S. 596. Diesen Punkt macht ebenfalls Tyler Burge (1993). Ich beschränke mich hier aber auf Dretskes Überlegungen. 334 Dretske 2000, S. 595. 333
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An extreme form of this view – I will call it Mad Dog Reliabilism – holds that if one relies on what is, in point of fact, a (sufficiently) reliable process, one is entitled (hence, has the right) to accept its deliverances despite being justified in rejecting them. […] As an externalist about knowledge, and one who holds that knowledge gives one the right to believe, I am attracted to Mad Dog Reliabilism. But only in broad outlines. For I also have powerful internalist intuitions about when one has an epistemic right to accept P as true, and these intuitions do not comport with such crude, uncompromising, reliabilism. I start to lose my grip on what an entitlement, a right to believe, is supposed to be if (as with Mad Dog Reliabilism) it can survive a fully rational and completely justified rejection […] of what one is entitled to accept as true.335
Die von Dretske hier als ‘Mad Dog Reliabilism’ bezeichnete Position zielt auf die These, dass es für epistemische Berechtigung bereits hinreicht, wenn eine Überzeugung durch einen reliablen Prozess erzeugt wird; selbst dann, wenn man darin evidentiell gerechtfertigt ist, die Überzeugung aufzugeben. Dretske äußert vor dem Hintergrund seines Wissensexternalismus zwar Sympathien für den ‚Mad Dog Reliabilism’, kann aber nicht sehen, dass man den Begriff der epistemischen Berechtigung externalistisch definieren kann. Die in dem Zitat angesprochenen internalistischen Intuitionen bringt Dretske mit einem Gedankenexperiment zum Ausdruck. I can imagine some benighted soul – a brain in a vat will do – whose beliefs are false but whose total evidence – both the evidence he has and the evidence he can, by assiduous effort, obtain – is the same as mine. If his beliefs are false and mine true, it nonetheless strikes me that he has the right to believe whatever I have the right to believe […]. In light of the fact that his mistake is inextricable and that he, therefore, has no way of finding out his belief is false, the fact that it is false should not count against his right to believe. He is unlucky, a victim of circumstances, and I am not. But if I am entitled to my beliefs, he is entitled to his.336
Das berühmte Gehirn im Tank kann Dretske zufolge die gleichen Gründe (evidence) für seine Überzeugungen haben wie er. Allerdings, so Dretske, sind seine Überzeugungen wahr, die des Gehirns im Tank aber falsch. Gleichwohl sei es kontraintuitiv anzunehmen, dass das Gehirn im Tank nicht in seinen Überzeugungen berechtigt ist. Dretske folgert nun: Wenn das Gehirn im Tank in seinen nicht-reliablen Überzeugungen berechtigt ist, dann können epistemische Berechtigungen im Allgemeinen nicht in einer 335 336
Dretske 2000, S. 595. Dretske 2000, S. 595 f.
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reliablen Kausalbeziehung zwischen Überzeugungen und Tatsachen bestehen. Und daher gelte: „The entitlement I enjoy when I have such knowledge must, therefore, come from somewhere else.”337 Weil Dretske Tieren und kleinen Kindern den Status der epistemischen Berechtigung zusprechen will, kann epistemische Berechtigung nicht notwendig von Gründen (epistemischer Rechtfertigung) abhängen, obwohl Dretske zugesteht, dass epistemische Rechtfertigung eine Art und Weise ist, epistemische Rechte zu erwerben. Dretske gibt uns fünf Bedingungen dafür an, wann eine epistemische Berechtigung bestehen soll:338 (1) Epistemische Berechtigungen erfordern keine Gründe. (2) Gleichwohl erwirbt man mit einer epistemischen Berechtigung dafür, p zu glauben auch das Recht, p zu glauben. (3) Wissen, dass p verleiht die epistemische Berechtigung, p zu glauben. (4) Man kann berechtigt sein p zu glauben, ohne dass man weiß, dass p oder darin gerechtfertigt ist zu glauben, dass p. (5) Epistemische Berechtigungen supervenieren über Tatsachen, derer sich die epistemische Person bewusst ist (oder bewusst sein kann). Die Bedingungen (1) und (2) grenzen den Begriff der epistemischen Berechtigung von dem der epistemischen Rechtfertigung ab. Die Bedingungen (3) und (4) sind externalistische Bedingungen für epistemische Berechtigung, während Bedingung (5) eine internalistische Bedingung darstellt. Dretske erläutert diese Bedingungen selbst nicht genauer, sondern versucht am Beispiel von Wahrnehmungsüberzeugungen zu zeigen, wie sie angewendet werden.339 Das hervorstechende Merkmal perzeptiver Überzeugungen ist nach Dretske deren psychologische Unvermitteltheit. Der kausale Prozess, durch den sie hervorgebracht werden, lasse keinen Raum für Inferenzen; sie seien somit unvermeidbar. Es gibt hier einen möglichen, von Dretske aber antizipierten Einwand. Kann man ein Recht auf etwas haben, was unvermeidlich ist? Dretske behauptet ‚ja’, wenn man von Freiheitsrechten ausgeht, 337
Dretske 2000, S. 596. Dretske 2000, S. 596. 339 Dretske 2000, S. 598ff. 338
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also von Rechten, mit denen keine Pflichten korrespondieren. Sein Beispiel ist das Recht, sein Auto vor dem Haus zu parken. Ich habe das Recht dies zu tun; aber ich muss es eben nicht. Diese Rechte kann man also auch ohne willentliche Zustimmung haben. Wenn epistemische Rechte in diesem Sinn verstanden werden, können sie uns auch ohne epistemische Pflichten, d. h. ohne Begründungen, einen epistemischen Status, nämlich den, epistemisch berechtigt zu sein, verleihen. Wenn man sieht, dass eine Person, in Dretskes Beispiel seine Frau, auf dem Sofa sitzt, so hat man keine andere Möglichkeit als zu glauben, dass diese Person auf dem Sofa sitzt. Wohlgemerkt ist hier der epistemische Gebrauch des Verbs ‚sehen’ gemeint, bei dem ‚sehen, dass p’ impliziert, dass man glaubt, dass p. Dretske behauptet: At the time I see her I cannot prevent myself from believing she is there and, before I see her, there is nothing I could have done […] that would have prevented me from being caused […] to believe she was there. […] And if there is nothing an epistemically responsible agent could have done to avoid believing P, that agent has the right to believe P. […] He is entitled to the belief.340
Dretske behauptet also: Wenn eine epistemische Person nicht verhindern kann, in einer bestimmten Weise zu ihren Überzeugungen zu kommen, dann ist sie auch zu diesen Überzeugungen berechtigt. Das Gehirn im Tank kann nicht verhindern, zu seinen Überzeugungen zu kommen und ist daher epistemisch berechtigt zu diesen Überzeugungen. Epistemische Berechtigung würde somit nicht von der Reliabilität meiner Überzeugungen abhängen, sondern davon, ob man mir einen Vorwurf daraus machen kann, wie ich zu diesen Überzeugungen gekommen bin. Gleichwohl sind epistemische Berechtigungen in einer merkwürdigen Weise epistemisch irrelevant. Wir erinnern uns: Für Dretske impliziert wissen, dass p nicht, dass eine epistemische Person darin epistemisch berechtigt ist, p zu glauben.341 Es hat den Anschein, als ob Dretske sich selbst nicht ganz zwischen seinen widerstreitenden externalistischen und internalistischen Intuitionen entscheiden kann – und dann einfach beide in verschiedene systematische Lager einteilt. Nun haben wir aber erstens Dretskes externalistischen Wis340
Dretske 2000, S. Dretske 2000, S. 600f. Wissen, dass p ist für Dretske hinreichend dafür, epistemisch berechtigt in der Überzeugung, dass p zu sein. Aber epistemische Berechtigung einer Überzeugung, dass p ist für ihn weder notwendig noch hinreichend dafür zu wissen, dass p.
341
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sensbegriff bereits zurückgewiesen, weil er für unsere Praxis wesentliche Unterscheidungen nicht mehr erlaubt.342 Zweitens ist es zumindest verdächtig, einerseits zuzugestehen, dass man in einer verantwortlichen Weise zu seinen Überzeugungen kommen kann, dass dies andererseits aber unabhängig von unseren epistemischen Kapazitäten ist. Allerdings weist Dretske auf einen Aspekt hin, den wir in der bisherigen Darstellung lediglich gestreift haben. Es handelt sich um die Idee, dass man in einer verantwortlichen Weise, aber ohne Gründe angeben zu können, zu seinen Überzeugungen kommen kann. Diesen Punkt greift Michael Williams in seinem Aufsatz „Dretske on Epistemic Entitlement“ auf, kritisiert aber Dretskes Unterscheidung zwischen Berechtigung und Rechtfertigung.343 Für Williams gibt es ebenfalls epistemische Rechte ohne epistemische Pflichten. Allerdings sieht er den Begriff der personalen Rechtfertigung als Grundbegriff, während epistemische Pflichten, etwa evidentielle Rechtfertigung, nur in bestimmten Fällen nötig seien. Williams nennt seine eigene Konzeption Default and Challenge-Konzeption epistemischer Rechtfertigung, weil gerechtfertigt sein, ohne Gründe angeben zu können, der Normalzustand sein soll, während evidentielle Rechtfertigungen nur für den Fall berechtigter Einwände nötig seien. Hier soll vor allem ein Punkt hervorgehoben werden: Personale Rechtfertigung – der normative Status einer epistemischen Person, in ihren Überzeugungen gerechtfertigt zu sein – ist für Williams im Normalfall nicht von der Angabe von Gründen abhängig. Trotzdem ist dieser Status abhängig davon, dass diese Person ein ‚voll sozialisiertes’ Wesen ist, d. h. dass sie qua Erziehung in die Sprache und damit in die epistemische Praxis eingeführt worden ist. Sich epistemisch verantwortlich zu verhalten, bedeutet für Williams daher, dass man glaubt, was ein in die epistemische Praxis einsozialisierter Mensch glaubt. Williams kann auf diese Weise ebenfalls den Begriff der doxastischen Autonomie erfassen; allerdings schließt er kleine Kinder und Tiere als epistemische Personen aus, weil diese keine Teilnehmer der epistemischen Praxis sind, bzw. es noch nicht sind.
342 343
Vgl. Kapitel II dieser Arbeit. Zum Folgenden vgl. Williams 2000, S. 607-610.
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REGISTER Adverbialanalyse, s. Wahrnehmung, Adverbialanalyse der Alston, William 10, 94, 111ff. Aristoteles 23f. Armstrong, David M. 64ff. Autonomie, doxastische 205ff. Ayer, A. J. 25, 29-50, 56, 82, 82-88, 135, 239 Behaviorismus, analytischer 98 Behaviorismus, methodologischer 98ff. Begründung, adäquate, adequate grounding 198-223 Begründung, Primat der 197-235, 244, 251 Begründung, Rechtfertigung durch 13ff., 78, 84, 110, 122, 141, 179, 206, 223, 237 Begründung, Regress, Trilemma 14, 110, 228 Berechtigung, epistemische, s. Epistemische Rechte und Pflichten Berkeley, George 25, 41 Bonjour, Laurence 20, 67, 117-28, 241 Brandom, Robert 94f., 212 Burge, Tyler 18, 251 Chisholm, Roderick M. 30, 52-62, 74, 89ff., 106, 119, 239 Common Sense 9, 34, 42, 181, 188, 194 Davidson, Donald 171ff. Default and Challenge 22, 197-230, 244 Descartes, cartes. Konzeption des Mentalen 9, 25, 54, 81, 97, 178, 207 Disjunktivismus. der Wahrnehmungserfahrung 37, 187-193, 244 Dretske, Fred 138ff., 153, 154-168, 213, 243, 250-55 Entitlements, s. Epistemische Rechte und Pflichten Epistemischer Fundamentalismus, s. Rechtfertigung fundamentalistische Erkenntnistheorie, Epistemologie 42, 69, 96, 116, 169, 201, 243, 246 Erkenntnistheorie, naturalisierte69, 165, 206, 227, 248-49 Erkenntnistheorie, verstehende 246
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Epistemische Rechte und Pflichten 250ff. Evans, Gareth 133ff., 142, 147, 149f. Empirismus 25, 26f., 30ff., 172, 240 Empirismus, minimaler 176ff. Fogelin, Robert 198 Gedanken 18, 54, 80, 98-107, 169-194 Gehalt der Wahrnehmung, begrifflich 176ff., 236f. Gehalt der Wahrnehmung, externalistisch 17f., 148, 157, 180 Gehalt der Wahrnehmung, internalistisch 17f., 25, 33ff., 239 Gehalt der Wahrnehmung, nichtbegrifflich 15f., 56, 130-67, 244 Gehalt der Wahrnehmung, protopropositional 143ff., 242 Gehalt der Wahrnehmung, Szenario 143ff. Goldman, Alvin 63ff., 93ff., 180, 240 Grice, H. P. 49 Gründe, logischer Raum der 83ff., 120, 181 Highest-Common-Factor 36, 190 Hume, David 25, 31 Information, Informationsgehalt 157-67 Informationstheorie des Wissens, s. Wissen Informationstheorie des Intentionalität, des Mentalen 96ff., 154, 178ff. Jackson, Frank 61 James, William 206ff. Kant, Immanuel 16,26, 170, 176f. Kodierung, analog und digital 142, 15767, 243 Kontextualismus, epistemischer 219ff. Konzeptualismus 20f., 149, 169ff. Locke, John 25, 30 Logischer Raum der Gründe, s. Gründe, logischer Raum der McDowell, John 20, 27, 36, 114f., 132-39, 149ff., 169-196, 203, 209, 237, 243 Mythos des Gegebenen 77ff., 114ff., 141, 149, 169, 245 Natur, erste und zweite 186f. Non-Konzeptualismus 17, 19, 129-69, 174, 245 Non-Konzeptualismus, Kontinuitätsargument 130 Non-Konzeptualismus, Passivität der Wahrnehmung 133f.
Non-Konzeptualismus, Diskriminierung, fine-grain-Argument 134ff. Non-Konzeptualismus, Reichhaltigkeit 138 ff. Offenheit des Mentalen, Openness 181ff. Peacocke, Christopher 130, 143-53, 174, 242 Philosophia Perennis 23, 77 Plantinga, Alvin 124 Platon 24, 152, 219 Pollock, John 7, 229 Proposition 16, 74, 85, 151, 207 Putnam, Hilary 18 Quine, W.v.O. 248ff. Rechtfertigung, doxastisch-direkte 31ff., 82ff., 115, 143ff. Rechtfertigung, epistemischevgl. FN 9 auf S. 12 Rechtfertigung, evidentielle 197ff., 251 Rechtfertigung, fundamentalistische 13ff., 29-96, 108ff., 147, 170, 177, 203, 210, 222, 239 Rechtfertigung, kohärentistisch 13ff., 19, 117-29, 177, 203, 222 Rechtfertigung, personale197ff., 213, 218, 222, 230, 255 Rechtfertigung, Externalismus 12ff., 75ff., 235, 240 Rechtfertigung, Internalismus 12ff., 33ff., 105, 127, 162, 194, 199, 235 Rechtfertigung, Selbstrechtfertigung 14, 31, 51ff., 89 Rechtfertigung, ‚sich rechtfertigen‘ vs. ‚gerechtfertigt sein‘ 111ff. Rechtfertigung, standardmäßige 218, 224, 228, 234 Reliabilismus 63-76, 93, 105, 111, 115, 140, 179, 240, 249 Repräsentation, mentale 146, 157- 166, 237 Rorty, Richard 24 Russell, Bertrand 25, 30, 41, 109 Ryle, Gilbert 98 Sellars, Wilfrid 20ff., 43, 77-117, 119, 124, 150, 161, 172, 174, 176, 177, 178, 186, 202, 220, 228ff., 240ff. Sinnesdaten, sense-data 14, 26, 30-50, 63, 77-89, 102, 141, 147, 150
Sinneseindrücke, sense-impressions 101ff., 114ff., 241 Skeptische Szenarien, skeptische Einwände9, 49, 193, 225, 232, 202 Strawson, Peter 49, 91, 195 Therapie, therapeutischer Ansatz 21, 130, 169, 176, 194, 233ff., 243 Wahrnehmung, Adverbialanalyse der 52ff. Wahrnehmung, begrifflicher Gehalt der, s. Konzeptualismus Wahrnehmung, Gehaltsexternalismus der 17ff., 148, 157, 180 Wahrnehmung, Gehaltsinternalismus der 17ff., 25, 33, 40, 239 nichtbegrifflicher Gehalt der, s. NonKonzeptualismus Voluntarismus, doxastischer 201ff., 227 Willaschek, Marcus 185, 225 Williams, Bernard 54 Williams, Michael 21, 197—233, 244, 255 Wissen, Analyse des 10ff, 162, 163, 189, 199, 200 Wissen, Wissensexternalismus 153ff, 141 Wissen, Informationstheorie des 154-167 Wissen, komparatives und nichtkomparatives 89 Wissen, perzeptives 7, 30, 41, 51, 56, 89, 96, 105, 124, 149, 162, 169, 206, 228 Wissen, propositionales 20, 82, 108, 234 Unbegrenztheit, begriffliche 177ff., 195 Wittgenstein 21, 87, 110, 187ff., 206ff., 214, 220, 243 Wright, Crispin 182, 192ff. Zufall, epistemischer 11, 202f., 211 Zweite Natur, s. Natur, erste und zweite
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